Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Heute vor 46 Jahren begann die Erhebung gegen das
stalinistische Herrschaftssystem in der DDR mit einer
Demonstration der Bauarbeiter in der Ostberliner Stalinallee, die sich bald zu einem allgemeinen Volksaufstand
mit dem Ziel freier Wahlen, mit der Forderung nach
einem Rücktritt der Regierung ausweitete. Die spontane
Erhebung zeigte die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der DDR, die sich in Protestzügen, in Protestversammlungen und in dem Marsch von 12 000
Hennigsdorfer Arbeitern entlud.
Nach dem Eingreifen der sowjetischen Streitkräfte,
die mit Panzern gegen die Aufständischen vorgingen,
brach die Volkserhebung zusammen. Die Zahl der Todesopfer ist niemals genau bekanntgeworden. Eine große Zahl von Beteiligten wurde inhaftiert und zu hohen
Freiheitsstrafen verurteilt.
Im Jahre 1989, 36 Jahre nach dem Volksaufstand,
ließen erneute friedliche Demonstrationen der Bevölkerung in der DDR den SED-Staat in sich zusammenbrechen. Wir gedenken heute an dieser Stelle der Opfer des
Volksaufstandes und erinnern uns mit Stolz an die mutigen Bürger, die sich 1953 und 1989 unbewaffnet der
Diktatur entgegenstellten.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern:
ZP1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({0})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienstund Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1999
({1}) - Drucksache 14/1088 -
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des
Arzneimittelgesetzes - Drucksache 14/1161 ZP2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Situation der Flüchtlinge
nach Beendigung der Kampfhandlungen im Kosovo
ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({2})
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Keine weitere Unterstützung der Atomkraftwerke
Khmelnitski 2 und Rovno 4 in der Ukraine
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Dr.
Klaus W. Lippold ({3}), Cajus Julius Caesar, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Festhalten an den Zusagen zum Bau von sichereren Er-
satzreaktoren in der Ukraine
- zu dem Antrag der Abgeordneten Angela Marquardt, Eva-
Maria Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion
der PDS
Investitionen der Europäischen Bank für Wiederauf-
bau und Entwicklung in Khmelnitski 2 und Rovno 4
- Drucksachen 14/795, 14/819, 14/708, 14/1143 -
ZP4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian
Ruck, Hans-Peter Repnik, Ilse Aigner, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU: Hilfsmaßnahmenn
der Bundesregierung anläßlich der Hochwasserkata-
strophe Pfingsten 1999 in Süddeutschland - Drucksache
14/1144 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger,
Hildebrecht Braun ({4}), Ernst Burgbacher, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung anläßlich der Hochwasserkatastrophe in Süddeutschland - Drucksache 14/1152 Nachträgliche Ausschußüberweisung
Der in der 19. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Abgeordneten Erika Reinhardt, Dr. Norbert Blüm,
Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Gegen den Mißbrauch von Kindern als
Soldaten - Drucksache 14/310 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({5})
Auswärtiger Ausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Außerdem sollen der Tagesordnungspunkt 6 - es
handelt sich um die Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch -, der Tagesordnungspunkt 7 - Änderung
des Arzneimittelgesetzes - sowie der ohne Debatte vorgesehene Tagesordnungspunkt 14 p - Nationale Verkehrssicherheitskampagne - abgesetzt werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarbericht 1999
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der
Bundesregierung
- Drucksachen 14/347, 14/348 ({6}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
({7})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Tourismus
Haushaltsausschuß
Es liegen Entschließungsanträge der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, der Fraktion
der CDU/CSU, der Fraktion der F.D.P. sowie der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Gerald Thalheim.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die heutige Debatte über den Agrarbericht 1999 wird von der belgischen Dioxin-Affäre überschattet, über die wir hier in den letzten Tagen schon
mehrfach diskutiert haben.
Die Dioxin-Affäre ist auch auf Grund des deutschen
Drängens auf dem letzten Agrarrat am 14. und 15. Juni
in Luxemburg beraten worden. Der Rat hat keinen Zweifel daran gelassen, daß wirksame Konsequenzen gezogen werden müssen, insbesondere im Hinblick auf die
effektive Durchsetzung der EU-Frühwarnsysteme sowie
die Prüfung der Kennzeichnung von Futtermitteln. Der
Rat hat dabei die Verantwortlichkeit der Futtermittelhersteller für die Produktsicherheit besonders betont. Vielleicht brauchen wir auf diesem Gebiet auch so etwas wie
ein deutsches Reinheitsgebot.
In der gemeinsamen Erklärung wurde gefordert - ich
zitiere -, „durch ausreichende Kontrollen die umfassende Einhaltung des EU-Rechts sicherzustellen, damit der
Schutz der Gesundheit der Verbraucher gewährleistet
wird“.
Der Dioxin-Skandal zeigt einmal mehr die Notwendigkeit einer Neuorientierung der Agrarpolitik in Richtung auf eine stärkere Berücksichtigung der Verbraucherinteressen sowie eine größere Eigenverantwortung
und Eigeninitiative der landwirtschaftlichen Unternehmen am Markt. Diese Zielvorgaben sind bereits mit unserer Koalitionsvereinbarung niedergelegt worden.
Auch im Agrarbericht 1999 wird deutlich, daß die
rotgrüne Koalition angetreten ist, unsere Landwirtschaft
auf die künftigen Anforderungen vorzubereiten und die
Weichen für eine umweltverträgliche, gesellschaftlich
akzeptierte Agrarproduktion zu stellen. Wir haben die
deutsche Präsidentschaft genutzt, um diese Neuorientierung in der Agrarpolitik einzuleiten.
({0})
Gerade auf dem letzten Agrarrat wurden dazu zukunftsweisende Entscheidungen getroffen. Insbesondere
ist es Bundeslandwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke
gelungen, eine Legehennenhaltungsverordnung zu verabschieden. Damit wurde eine fast 20jährige Diskussion
zu diesem Thema abgeschlossen. Wir haben eine europaweite Regelung erreicht, die künftig mehr Tierschutz
für die Legehennen bedeuten wird.
({1})
Ein zweiter wichtiger Erfolg auf dem letzten Agrarrat
war die Verabschiedung der Ökoverordnung im tierischen Bereich. Ich halte gerade die EU-Ökoverordnung
für ein wichtiges Signal in der jetzigen Situation, um
Verbrauchervertrauen wiederzugewinnen. Wichtig ist,
daß dieses Signal von der Verarbeitungsindustrie, vom
Handel und von den Verbrauchern anerkannt wird. Die
Marktbeteiligten müssen sich entscheiden, ob künftig
Qualität und Sicherheit oder nach wie vor immer niedrigere Preise im Vordergrund stehen sollen.
Die größte Herausforderung für die deutsche Präsidentschaft bestand zweifellos darin, die von der KohlRegierung ausgebremsten Agenda-Verhandlungen wieder in Schwung zu bringen.
({2})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen genau,
wovon ich rede.
({3})
Durch Ihr Nein zum Landwirtschaftsteil hat sich
Deutschland in eine Position manövriert, bei der alle anderen Staaten anderer Auffassung waren. Es war das Verhandlungsgeschick von Karl-Heinz Funke, das Deutschland hier aus der Sackgasse herausgeführt hat
({4})
und am Ende einen tragfähigen Kompromiß herbeigeführt hat, der in den wichtigsten Teilen den Interessen
der deutschen Landwirtschaft Rechnung trägt.
Die Botschaft des Berliner Kompromisses ist: weg
von der Intervention hin zu mehr Marktorientierung. Für
diese schwierige Umorientierung wird es umfangreiche
Beihilfen geben. Darauf können sich die Bauern bis zum
Präsident Wolfgang Thierse
Jahre 2006 - so lange ist der Finanzzeitraum - verlassen.
({5})
- Hören Sie doch bitte einmal zu! - Ihre Einkommensentwicklung wird aber davon abhängen, wieviel Geld
am Markt verdient wird. Das ist weniger eine Frage der
Einflußmöglichkeit der Politik. Die Frage wird vielmehr
sein: Wie effizient wird künftig die Verarbeitungsindustrie gestaltet, und wie wird die Verhandlungsposition
der Verarbeitungsindustrie gegenüber dem Lebensmitteleinzelhandel sein?
Zusätzlich wird im Agrarbericht deutlich, daß die
Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern vermehrte
Anstrengungen unternimmt, die Lebensverhältnisse der
Menschen auf dem Lande zu verbessern. Mit der Agenda 2000 bestehen gute Voraussetzungen dafür; denn der
Ausbau der Politik für den ländlichen Raum gehört zu
einem zentralen Element der Agenda-Beschlüsse. Es
wurde als sogenannte zweite Säule mit der Agenda 2000
neu geschaffen.
Die Bundesregierung hat für ihre zielstrebige Verhandlungsführung von den europäischen Partnern große
Anerkennung erfahren. Ich konnte mich erst jüngst auf
dem Agrarministertreffen in Dresden persönlich davon
überzeugen. Hier ging es nicht nur um Höflichkeitsfloskeln gegenüber Bundeslandwirtschaftsminister Funke;
die deutsche Präsidentschaft hat auf diesem Gebiet eine
große Anerkennung erfahren.
({6})
Aus diesem Grunde, meine Damen und Herren von
der Opposition, geht Ihre Kritik hier eindeutig ins Leere.
Im Gegenteil: Es gehört eine gehörige Portion Heuchelei
dazu, wenn Sie hier die Bundesregierung für die
Beschlüsse kritisieren. Tatsache ist, daß die AgendaBeschlüsse die logische Konsequenz aus der Agrarreform von 1992 sind, die bekanntlich Ignaz Kiechle
und die alte Bundesregierung zu verantworten haben.
Sie werden auch zugeben müssen, daß die UruguayRunde - im übrigen ebenfalls in Ihrer Regierungszeit
zustande gekommen - eine unumkehrbare Entwicklung
in Richtung Markt und Wettbewerb forciert hat. Die
Agenda 2000 folgt genau dieser Entwicklung. Meine
Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß der
Verlust der Mehrheit häufig mit dem Verlust des Gedächtnisses verbunden ist.
({7})
Zu Ihren Zwischenrufen muß man sich nur einmal die
Beschlüsse der Uruguay-Runde und ihre Konsequenzen
für die Agrarpolitik vor Augen führen.
Herr Kollege Thalheim, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Michels?
Aber bitte.
Herr Staatssekretär,
Sie haben eben gesagt, Sie seien angetreten, um die Lebensverhältnisse der Menschen auf dem Land zu verbessern. Sind Sie der Meinung, daß es dazu paßt, innerhalb
eines guten halben Jahres die Mehrwertsteuerverrechnung um einen Prozentpunkt zu senken, Ökosteuern einzuführen, Kürzungen bei der Unfallversicherung vorzunehmen und jetzt 900 Millionen DM bei der Dieselkraftstoffrückvergütung zu streichen? Hinzu kommt noch die
Agenda 2000. Meinen Sie, daß dies alles der Landwirtschaft im Lande dient?
Kollege Michels, Sie vermischen schon bei Ihrer
Frage, das, was gegenwärtig in der Diskussion ist, und
das, was beschlossen wurde.
Zu dem, was beschlossen wurde: Sie wissen, daß mit
dem Steuerreformgesetz eine deutliche Entlastung der
unteren Einkommen zustande gekommen ist, sowohl
was den Grundfreibetrag anbelangt, als auch was den
Steuertarif anbelangt. Auch bei Ihren Vorschlägen zur
Steuerreform war eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage vorgesehen. Wenn Sie sich noch einmal mit
dem Petersberg-Papier auseinandersetzen würden, würden Sie sehen: Alles, was wir beschlossen haben, steht
bereits in Ihren Vorschlägen aufgeführt.
Was die künftigen Sparmaßnahmen anbelangt, so
reicht ein Blick auf die Entwicklung der Verschuldung.
Von rund 400 Milliarden DM, die bei Antritt Ihrer Regierung 1982 übernommen wurden, sind wir heute immerhin bei einer Verschuldung von 1,5 Billionen DM
angelangt. Wer angesichts dieser Tatsache leugnet, daß
Sparmaßnahmen notwendig sind, geht an den Realitäten
vorbei.
Aber zurück zur Agenda 2000: Die Bundesregierung
wird ihren Kurs der agrarpolitischen Neuorientierung
fortsetzen. Wir kümmern uns momentan intensiv um die
noch offenen Teile der nationalen Ausgestaltung der
Agenda-Beschlüsse, damit möglichst noch im Juni alle
grundsätzlichen Entscheidungen fallen können. Hierbei
werden in der kommenden Woche mit den Länderagrarministern die einzelnen Themen beraten.
Hierzu gehört ebenfalls das nach wie vor strittige
Milchthema. Auch hier haben wir es mit einer schweren
Erblast zu tun. Von allen wird gefordert, die aktiven
Milcherzeuger zu entlasten, nicht zusätzliche Bürokratie
einzuführen, aber auf der anderen Seite auch den notwendigen Strukturwandel zu flankieren. Dies sind drei
Ziele, die kaum miteinander in Übereinstimmung zu
bringen sind. Es stellt sich damit die Frage, ob wir nicht
so schnell wie möglich aus diesem System aussteigen
müssen, um hier tatsächlich für die aktiven Milcherzeuger zu einer Entlastung zu kommen.
({0})
Zumindest hat es die deutsche Präsidentschaft erreicht, daß die Flächenbindung aufgehoben wird und
damit wichtige Voraussetzungen geschaffen worden
sind, um hier zu einer Verbesserung zu kommen.
({1})
Natürlich werden bei der nationalen Umsetzung auch
die finanziellen Erwägungen eine Rolle spielen. In der
Zwischenfrage bin ich darauf ja schon angesprochen
worden. Ich habe begründet, weshalb auch im Agrarhaushalt gespart werden muß. Wir haben uns allerdings
hinsichtlich der Sparbeschlüsse die Ziele gesetzt, daß
erstens der Strukturwandel in der Landwirtschaft nach
wie vor vom Staat abgefedert wird, daß zweitens die
Wettbewerbsfähigkeit der Agrarwirtschaft und die Entwicklung der ländlichen Räume gestärkt werden und daß
drittens, soweit Eingriffe in die Leistungen der Agrarsozialpolitik unabdingbar sind, die Symmetrie mit den
Sozialversicherungssystemen erhalten bleibt.
Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden im Herbst noch ausreichend Gelegenheit haben, das
zu diskutieren. Ich bin aber zuversichtlich, daß wir Beschlüsse hinbekommen, die der von mir vorgetragenen
Zielsetzung für eine ordentliche Perspektive der deutschen Landwirtschaft dienen werden.
Vielen Dank.
({2})
Für die CDU/CSUFraktion hat nun der Kollege Albert Deß das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wie wir erfahren haben, ist
Herr Minister Funke krank. Ich darf ihm von hier aus
beste Genesungswünsche überbringen.
({0})
Wir hätten uns natürlich gefreut, wenn er heute hier anwesend gewesen wäre.
Welche Wertschätzung die Regierungskoalition der
Landwirtschaft entgegenbringt, sieht man auch daran,
daß nicht ein Minister auf der Regierungsbank Platz genommen hat.
({1})
Im Gegensatz dazu ist die Opposition mit dem Parteivorsitzenden der CDU, mit dem stellvertretenden Parteivorsitzenden der CSU und mit dem Parteivorsitzenden
der F.D.P. vertreten.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herrn, die Rahmenbedingungen für unsere Bäuerinnen und Bauern
waren schon immer Veränderungen unterworfen. Ich
kann mich jedoch an keine Zeit erinnern, in der sich die
Situation für unsere Bäuerinnen und Bauern so gravierend verändert hat wie seit der Regierungsübernahme
durch Rotgrün.
({3})
Im vergangenen Jahr betrugen die Betriebsaufgaben
1,9 Prozent - die geringste Zahl seit mehr als 20 Jahren.
Daran sieht man, daß die bisherige Bundesregierung
durchaus Erfolge in der Agrarpolitik zu verzeichnen
hatte, ist eine geringe Zahl von Betriebsaufgaben doch
Ausdruck des Erfolgs der Agrarpolitik.
Agrarpolitik ist eingebunden in aktuelle Entwicklungen, die nicht spurlos an uns vorübergehen. Die Landwirtschaft pflegt unsere Kulturlandschaft und versorgt
unsere Bevölkerung mit frischen und gesunden Nahrungsmitteln. Die Versorgung mit gesunden Nahrungsmitteln gerät durch Skandale immer wieder in Mißkredit. Ich bin davon überzeugt, daß diese Skandale - ich
sage über alle Parteigrenzen hinweg: es werden nicht die
letzten sein - Ergebnis einer vom Ansatz her falschen
Agrarpolitik in Europa sind.
({4})
Eine Agrarpolitik, die ohne Rücksicht auf unsere Umwelt nur auf Kostendruck setzt, ist mitverantwortlich für
Skandale wie BSE und Dioxin.
({5})
In diesem harten Wettbewerb gibt es auch keine Rücksicht auf unterschiedliche Produktionsbedingungen und
soziale Standards.
Interessant dazu ist eine Aussage von Jacques Santer, über die wir nachdenken sollten. Nach Auffassung
Santers bestehen erhebliche Zweifel, ob die BSE-Krise
wirklich ein Unfall der Natur ist. Er sagte vor mehr als
einem Jahr - ich zitiere -: Ist die BSE-Geschichte nicht
vielmehr die Folge eines Landwirtschaftsmodells, das
auf Produktivität um jeden Preis ausgerichtet ist? Die
Konsequenzen dieser Produktionsweise zu minimalen
Kosten setze die Grundgesetze der Natur außer Kraft
und führe letztendlich zu höheren Belastungen der Gesellschaft.
({6})
Ich muß dem noch amtierenden Kommissionspräsidenten vorwerfen, daß er zwar die verfehlte EUAgrarpolitik erkannt, aber nichts daraus gelernt hat.
Unter seiner Präsidentschaft durfte ein Agrarkommissar
Fischler diesen agrarpolitischen Irrweg weiter perfektionieren.
Und was hat Herr Minister Funke getan, um diesen
Irrweg zu verlassen? Außer großen Sprüchen nichts.
({7})
In einer Presseerklärung vom 18. Juli 1997 hat er noch
erklärt
({8})
- jetzt hören Sie einmal zu, was der Minister vor zwei
Jahren gesagt hat -:
Die Agenda-2000-Vorschläge sind eine Kampfansage an den ländlichen Raum.
({9})
Und was hat er in seiner Verantwortung als Bundesminister getan, um diese Kampfansage an unsere Bäuerinnen und Bauern zu verhindern? Wieder nichts.
({10})
Im Gegenteil, er ist als agrarpolitischer Zwillingsbruder
Fischlers aufgetreten. Mit einer dilettantischen Verhandlungsstrategie
({11})
hat er gemeinsam mit dem Bundeskanzler die Interessen
unserer Bäuerinnen und Bauern, aber auch unserer
Steuerzahler verraten und verkauft.
({12})
Empfehlenswert ist ein Blick in die Rede von Herrn
Funke, die er als niedersächsischer Landwirtschaftsminister vor drei Jahren auf einem Bauerntag in Leipzig
gehalten hat. Dort stellte er sein Konzept zur „Europäischen Agrarpolitik 2000“ vor. Von den damaligen Vorstellungen sind die jetzigen Agenda-2000-Beschlüsse
meilenweit entfernt. Wer so schnell seine Überzeugungen ändert wie Herr Minister Funke, kann nur als agrarpolitischer Wendehals bezeichnet werden.
({13})
Ich habe doch in Leipzig miterlebt, wie er vor 1 000
Wiedereinrichtern eine degressive Gestaltung der Flächenausgleichszahlungen gefordert hat und wie er von
Obergrenzen, von weniger Bürokratie für unsere Bauern
und von Instrumenten gesprochen hat, mit denen unter
anderem ökologischem und sozialem Dumping entgegengewirkt werden kann.
Was davon hat er in der Agenda 2000 durchgesetzt?
({14})
Übriggeblieben sind mehr Bürokratie und mehr Ungerechtigkeit in Europa. Das englische Königshaus hat
nach Presseberichten vor diesem Agenda-2000-Abschluß 9,8 Millionen DM Ausgleichszahlungen aus
Brüssel erhalten. Nach diesem Abschluß wird das englische Königshaus weit über 10 Millionen DM erhalten.
Das ist die neue soziale Gerechtigkeit, die dieser Bundesminister mit zu verantworten hat.
Minister Funke hat nach dem Agenda-2000-Abschluß
die deutschen Bauern aufgefordert, schlagkräftiger zu
werden. Wer den „Focus“ von vor drei Wochen gelesen
hat, der weiß, daß er von Schlägen einiges versteht. Er
könnte auf seinem Hof Kurse abhalten, wie man schlagkräftiger wird.
Und wie ist es mit seinen Aussagen zur Milchquote?
Wir Landwirte sind schon sehr gespannt, was er von
seinen Ankündigungen umsetzt. Wahrscheinlich bleiben
wieder nur Sprüche, Schall und Rauch.
Genausoviel ist auch von der Ankündigung des
Bundeskanzlers übriggeblieben. Auch er hat vor der
Wahl gefordert, daß im Zusammenhang mit der Finanzierung der europäischen Agrarpolitik ein Kofinanzierungssystem - wie es die CSU schon lange gefordert hat
- eingeführt wird. Auch auf dem Parteitag in Saarbrükken hat er sich in einer ähnlichen Richtung geäußert. Ich
zitiere aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 9. Dezember 1998:
In der Agrarpolitik, welche die EU das meiste Geld
kostet, forderte Schröder, wieder zu einer nationalen Finanzierung zurückzukehren.
Das Ergebnis auch hier: totale Fehlanzeige, was die Umsetzung der Ziele betrifft, die die Bundesregierung selbst
vorgegeben hat.
({15})
Es wurde weder mehr Beitragsgerechtigkeit noch eine
eiserne Haushaltsdisziplin durchgesetzt. Zusätzliche Milliardenbeträge wurden auf dem Berliner Gipfel verteilt,
für die der deutsche Steuerzahler aufkommen muß.
Der „Spiegel“, unverdächtig, der Union nahezustehen,
({16})
schreibt mit Recht:
Die EU-Ratspräsidentschaft von Gerhard Schröder
endet, wie sie begonnen hat: mit großen Sprüchen.
Wo der „Spiegel“ recht hat, hat er recht.
({17})
Nicht nur dem „Spiegel“ sind die leeren Phrasen aufgefallen. Auch die Wählerinnen und Wähler in unserem
Land haben diese Sprücheklopferei durchschaut. Das
Ergebnis der Europawahl am vergangenen Sonntag war
mehr als eindeutig. Auch die Bauern haben bei dieser
Wahl auf das Chaos reagiert, das hier in Bonn regiert.
Dieses rotgrüne Chaos zerstört die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft.
In Deutschland werden die Landwirte durch die rotgrünen Steuerbeschlüsse in einem Ausmaß belastet, wie
es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
noch nie der Fall war.
({18})
Im Vergleich dazu werden in Österreich die Landwirte
gerade im steuerlichen Bereich entlastet. Es bleibt das
Geheimnis des Landwirtschaftsministers Funke, wie
durch diese Politik unsere Bauern wettbewerbsfähiger
gegenüber ihren europäischen Kollegen werden sollen.
In keiner Rede vor dem Deutschen Bundestag - darum bedauere ich auch, daß er heute nicht hier ist - hat er
sich bisher mit den Zukunftsängsten unserer Bäuerinnen
und Bauern auseinandergesetzt. Mit kabarettreifen Auftritten, mit Bibelzitaten und höhnischen Bemerkungen
wird er seiner Verantwortung als Bundeslandwirtschaftsminister nicht gerecht.
({19})
Ehrlich gesagt, ich habe dies von ihm auch nicht erwartet. Von jemandem, der während seiner Amtszeit als
Minister in Hannover eine Halbierung des niedersächsischen Agrarhaushaltes mitgetragen hat,
({20})
können die bundesdeutschen Bauern nicht erwarten, daß
er ihre Interessen hier in Bonn vertritt.
Ich fordere aber auch die Verbraucher auf, daß sie gerade im Angesicht der Skandale, die wir erleben, kritischer einkaufen. Auch die Lebensmittelkonzerne sind
aufgefordert, endlich mit dem brutalen Preisdruck gegenüber den Erzeugern der Land- und Ernährungswirtschaft aufzuhören.
({21})
Der Handel hat nichts davon, wenn das Vertrauen der
Verbraucher in die angebotenen Lebensmittel schwindet. Wenn die Handelsunternehmen gezielt Qualitätsprodukte einkaufen und ihrerseits dazu beitragen, bei
den Kundinnen und Kunden Qualitäts- und Herkunftsbewußtsein zu schärfen, ist das zum Nutzen aller.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die
CDU/CSU-Fraktion wird auch in Zukunft die Interessen
der bäuerlichen Landwirtschaft mit Nachdruck vertreten.
Daß die Bauern wissen, daß deren Interessen bei uns
besser aufgehoben sind, haben sie auch bei der Wahl am
vergangenen Sonntag zum Ausdruck gebracht. Ich
komme aus einer Gemeinde, in der überwiegend Landwirte - vor allem solche im Nebenerwerb - wohnen.
Dort betrug das Wahlergebnis am vergangenen Sonntag
für die CSU 94 Prozent,
({22})
alle anderen Parteien sind an der 5-Prozent-Hürde gescheitert.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({23})
Für die SPDFraktion hat nun das Wort die Kollegin Waltraud Wolff.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Deß! Ihre Angriffe auf den Bundesminister Karl-Heinz Funke und die Aussagen über
ihn, das sei wohl lächerlich und er habe nichts geschafft,
will ich kurz aufgreifen. Ich will verdeutlichen, daß das
nicht der Fall ist. Außerdem möchte ich folgende kleine
Bemerkung machen: Wenn Sie hier von Wendehälsen
reden, dann sollten Sie vielleicht erst einmal in Ihre
eigene Partei schauen. Im Osten Deutschlands gibt es
nämlich dort die meisten Wendehälse.
({0})
Aber jetzt zum Agrarbericht.
({1})
Wenn man den Agrarbericht 1999 liest, ist ein roter Faden klar erkennbar: die Agenda 2000. Die Verhandlungen waren langwierig, hart, und sie bewegen auch heute
noch die Bauern. Aber sie waren erfolgreich. Mit der
Einigung auf das Agenda-2000-Paket am 25. März gibt
es jetzt Planungssicherheit für alle Bauern in Nord und
Süd, in Ost und West, und das bis in das Jahr 2006.
({2})
Die Interessen der Bauern sind weitgehend berücksichtigt worden.
Ich will Ihnen die Ergebnisse für die neuen Bundesländer verdeutlichen. Dank der Verhandlungsführung
von Bundesminister Funke sind wichtige Belange der
Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen durchgesetzt worden: Erstens ist die größenabhängige zeitliche Degression der Ausgleichszahlung verhindert worden, zweitens
braucht die 90-Tiere-Grenze nicht eingeführt zu werden,
und drittens sind die 150 000-Hektar-Grundflächen dauerhaft zugewiesen.
({3})
Die Bundesregierung wird keine Modulation der
Ausgleichszahlungen vornehmen, und sie wird auch
nicht die 90-Tiere-Grenze einführen. Das heißt, es gibt
eine Chancengleichheit für die landwirtschaftlichen Betriebe in Mitteldeutschland.
({4})
- Sie brauchen gar nicht zu lachen. - Auch für die hier
typischen Großbetriebe sind die europäischen Direktzahlungen gesichert.
Die neuen Bundesländer bleiben Ziel-1-Gebiet
und erhalten insgesamt 20 Millionen Euro, das sind
2,85 Milliarden Euro jährlich - ich hatte mich bei den
20 Millionen Euro versprochen, aber kein Mensch hat
dazwischengerufen, es sind 20 Milliarden Euro - und
zirka 350 Millionen Euro pro Jahr mehr als bisher. Ostberlin wird als ausscheidendes Ziel-1-Gebiet eine Übergangsunterstützung in Höhe von 729 Millionen Euro erhalten. Das ist ein großer Erfolg! Nun müssen diese guten Voraussetzungen in den nächsten Jahren zielstrebig
umgesetzt werden.
({5})
Die Verordnung des Europäischen Ausrichtungs- und
Garantiefonds für die Landwirtschaft bildet den inhaltlichen Rahmen für die ländliche Entwicklung insgesamt,
also auch für die Ziel-1-Gebiete. Mittel in Höhe von zirka 4,35 Milliarden Euro stehen über die Abteilungen
Garantie und Ausrichtung zur Verfügung.
In den neuen Bundesländern werden diese Mittel für
die flankierenden Maßnahmen und die Ausgleichszahlungen verwendet. Die Fördermöglichkeiten wurden
deutlich ausgebaut und eigenständige Förderung der
ländlichen Entwicklung in die Zuständigkeit der Agrarressorts gegeben.
Es steht zweifellos fest, daß es in Zukunft mehr Risiken, aber auch mehr unternehmerische Freiheit geben
wird. Ich denke, daß unsere Landwirte, die seit der
Wende zehn Jahre lang viele Dinge meistern mußten,
auch diesen Übergang bewältigen werden.
({6})
Viele Landwirte sagten mir bei Veranstaltungen in
Sachsen-Anhalt, daß es nach dem Beschluß zum Agenda-2000-Paket zwar gilt, den Gürtel enger zu schnallen,
aber sie könnten doch sicher in die Zukunft planen.
Deshalb, denke ich, muß endlich Schluß sein mit der
Schwarzmalerei, wie Sie, Herr Deß, sie gerade betrieben
haben.
({7})
Es muß Schluß damit sein, daß Sie ständig den Bauern
ein schlechtes Gewissen einreden und Schwarzmalerei
betreiben.
({8})
- Nein, überhaupt nicht. - Sie müssen damit aufhören,
zu sagen, die Landwirtschaft steht am Abgrund. Das
stimmt nicht.
Ich möchte an dieser Stelle den Staatsminister für
Umwelt und Landwirtschaft des Landes Sachsen, Herrn
Dr. Jähnichen, zitieren. Er hat nach der Agrarministerkonferenz in Ludwigsburg am 12. März, auf der es keine
Einigung gegeben hat, am 23. März einen Brief an Bundesminister Funke geschrieben, in dem steht:
Ich danke Ihnen ausdrücklich für die Lösung existentiell wichtiger Probleme der ostdeutschen
Landwirtschaft, für die ich mich in der Vergangenheit mit ganzer Kraft eingesetzt habe, und kann
Ihnen versichern, daß ich bei der Umsetzung der
Vorschläge jederzeit zu einer engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit bereit bin.
Das sagt ein sächsischer Staatsminister.
({9})
Mit der konsequenten Haltung unseres Bundesministers bei den Beschlüssen des Reformpakets sind die
Weichen für die deutsche Landwirtschaft zum Positiven
gestellt, und gleichermaßen ist Kompromißfähigkeit
bewiesen worden. Die Bauern im Lande - ich denke,
alle Bauern - und durch die Bank, behaupte ich, alle
Agrarpolitiker wußten, daß nicht alles beim alten bleiben kann.
Ich verstehe die Europäische Gemeinschaft als eine
Solidargemeinschaft. Ich denke, daß der Solidargedanke des Agendawerks auch von uns Zugeständnisse erforderlich macht. Vertritt jedes Land eigennützig nur
seine eigenen Interessen, dann brauchen wir uns meiner
Meinung nach nicht an einen gemeinsamen Tisch Europa zu setzen.
({10})
Politik erfordert Kompromißbereitschaft, und dazu müssen auch wir unseren Beitrag leisten.
Nachdem wichtige ostdeutsche Belange Berücksichtigung gefunden haben, liegt es an den Betrieben selbst,
diese guten Voraussetzungen zu nutzen und so zur modernsten Landwirtschaft Europas zu werden.
Lassen Sie mich jetzt noch einmal kurz den Solidargedanken aufgreifen. Ich habe zu den Ergebnissen der
Europawahl vom vergangenen Wochenende eine ganz
andere Meinung als die bisher geäußerte. Die geringe
Wahlbeteiligung ist für mich sehr erschreckend gewesen. Wir als Politikerinnen und Politiker stehen in der
gesellschaftlichen Verantwortung, hier europäische
Politik transparent zu machen und unsere Bevölkerung
einzubeziehen.
Vielen Dank.
({11})
Dies war die erste
Rede der Kollegin Wolff im Bundestag. Unsere herzliche Gratulation!
({0})
Nun hat für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Ulrich
Heinrich das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der Broschüre „Land
und Forstwirtschaft in Deutschland - Daten und Fakten“
sind unter anderem auch die Ziele der Agrarpolitik der
Bundesregierung dargestellt. Ich zitiere aus dieser Broschüre:
… die Entwicklung einer wettbewerbsfähigen und
umweltverträglichen Land- und Forstwirtschaft und
Ernährungswirtschaft voranbringen zu wollen.
Dieses agrarpolitische Ziel ist auch unser Ziel. Zwar
werden die Probleme der Landwirtschaft in dieser Broschüre hervorragend aufbereitet. Sie ist deshalb sehr gut
auch für Nichtlandwirte geeignet, die sich informieren
wollen. Deshalb möchte ich mich besonders bei den Personen bedanken, die diese Broschüre erarbeitet haben.
Mit ihr kann man wirklich etwas anfangen.
Waltraud Wolff ({0})
Der Anspruch aber, der in dieser Broschüre postuliert wird, und die Wirklichkeit klaffen meilenweit
auseinander. Deshalb möchte ich den von mir eben
zitierten Halbsatz etwas genauer analysieren und etwas
tiefer in die konkrete Agrarpolitik einsteigen. Ich
möchte mit der Agenda 2000 anfangen. Als Ratsvorsitzender und als Mitglied der Bundesregierung hatte
Herr Funke natürlich das Interesse, das ursprüngliche
Paket, das im Rahmen der Agenda 2000 geschnürt
worden ist, vom Tisch zu bekommen. Das hat er auch
geschafft. Aber der Beschluß ist dennoch eher bescheiden ausgefallen. Wer diesen bescheidenen Beschluß
auch noch lobt und so tut, als würde er der deutschen
Landwirtschaft eine Perspektive eröffnen, mit der sie
auch in der Zukunft erfolgreich auf den Märkten sein
könnte, der sollte sich zuerst einmal die eigenen Zahlen
verinnerlichen.
({1})
Der Herr Staatssekretär hat das gerade eben getan. Er
hat den Abschluß der Agenda 2000 als brauchbare
Grundlage für die Zukunft bezeichnet.
({2})
Ich sage dagegen, daß dieser Abschluß keine brauchbare
Grundlage ist. Ich erkläre Ihnen auch, warum. Selbstverständlich brauchen wir eine Agrarreform. Auch wir
konnten und wollten nicht so weitermachen wie bisher.
Es mußte eine Reform eingeleitet werden, allein schon
auf Grund der WTO-Runde, die Ende dieses Jahres beginnt. Aber die Reform, die letztendlich beschlossen
worden ist, sollte nach unserer Auffassung eigentlich
Perspektiven für unsere Bauern eröffnen. Wir Freien
Demokraten lehnen eine Politik ab, die teurer für den
Steuerzahler wird, die die Probleme der WTO nicht angeht und die schließlich - das ist das besonders Bedauerliche an den Ergebnissen - den landwirtschaftlichen Betrieben keine Chancen am Markt eröffnet, sondern die Entwicklung der landwirtschaftlichen Einkommen in weiten Bereichen ausschließlich von politischen
Entscheidungen abhängig macht.
({3})
Welches Selbstverständnis hat eigentlich diese Regierung, wenn sie die Agenda 2000 lobt, weil mit ihr angeblich das freie Unternehmertum in die Landwirtschaft
Einzug hält?
({4})
- Wenn Sie, Herr von Larcher, nichts davon verstehen,
sollten Sie nicht so laut dazwischenrufen.
({5})
Wissenschaftler, die Sie selber zu Ihren eigenen Anhörungen eingeladen haben, haben Ihnen bestätigt, daß
die deutsche Landwirtschaft in den Bereichen Milch
und Rindfleisch auf Dauer auf Transferzahlungen angewiesen sein wird und auf Grund der Agenda 2000
nicht in der Lage sein wird, ihr Einkommen auf den
Märkten selber zu erwirtschaften. Genau dieser Fall ist
eingetreten. Das kann für uns überhaupt keine Zukunft
bedeuten.
({6})
Meine Damen und Herren, Landwirte sind Unternehmer und wollen nicht am Tropf der Steuerzahler
hängen und in ihrer erfolgreichen Bewirtschaftung ihrer
landwirtschaftlichen Betriebe nicht von politischen Entscheidungen in Brüssel oder sonstwo abhängig sein.
Ich übertrage die Wettbewerbsfähigkeit, die anfänglich so gut klingend in der Broschüre dargestellt
worden ist, noch einmal auf die nationale Agrarpolitik.
Lassen Sie mich nur einige Punkte herausnehmen. Der
erste ist die Gasölverbilligung. Wir sind heute schon auf
Grund bestehender Gesetze im Wettbewerb gegenüber
Frankreich im Nachteil. Das macht sich bei einem
50-Hektar-Betrieb schon bemerkbar. Wissen Sie, wieviel das Ganze ausmacht? Nach heutiger Regelung
macht das bei einem 50-Hektar-Betrieb im Schnitt sage
und schreibe 2 400 DM aus. Jetzt nehmen Sie die Verbilligung einmal weg, dann haben Sie genau das Doppelte. Dann belasten Sie diesen Betrieb im Wettbewerb
mit Frankreich - nicht mit außereuropäischen Ländern mit sage und schreibe 5 000 DM.
Es kommt noch dazu, daß unser Pflanzenschutzgesetz
natürlich das strengste ist. Wenn wir von Wettbewerbsfähigkeit reden, müssen wir auch dies berücksichtigen.
Wir belasten unsere deutschen Landwirte - gehen wir
von genau diesem 50-Hektar-Betrieb aus, der 20 Hektar
Mais anbaut - mit zusätzlich über 2 000 DM. Das sind
round about schon 7 000 DM.
Dann haben Sie Ihre glorreiche Ökosteuer eingerichtet. Wenn Sie die Petersberger Beschlüsse zitieren, Herr
Staatssekretär, dann vergessen Sie immer den einen Teil
total, nämlich den der Steuersenkung. Wir hatten keine
Ökosteuer in dieser Form in den Petersberger Beschlüssen drin. Die Petersberger Beschlüsse belasten diesen
Betrieb natürlich auch noch einmal mit 1 000 DM.
Es geht weiter bei der Umsatzsteuer. Willkürlich haben sie 1 Prozent bei der Umsatzsteuer weggenommen.
Einem Betrieb - das Beispiel eines 50-Hektar-Betriebs
ist nicht von ungefähr, es entspricht in etwa meinem
Betrieb zu Hause -, der etwa einen Umsatz von einer
halben Million DM hat, nehmen Sie durch das Streichen
des 1 Prozent der Umsatzsteuer noch einmal 5 000 DM
weg.
Meine Damen und Herren, jetzt sind wir schon bei
über 10 000 DM, die den Wettbewerb zu Lasten der
deutschen Bauern innerhalb Europas verzerren. Im Gegensatz dazu steht die Überschrift in dieser Broschüre.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen meilenweit auseinander.
({7})
Wir lehnen es ab, im Haushalt weitere Kürzungen
hinzunehmen. Wir haben einen Haushalt, der zu über
zwei Drittel aus Sozialem besteht, und das nicht, weil
der einzelne Landwirt zuviel Geld bekommt, sondern
weil der Einzelplan 10 den Strukturwandel finanzieren
muß, den die Landwirtschaft durchmacht. Das müssen
wir doch einmal erkennen. Die 900 Millionen DM für
die Berufsgenossenschaft rühren doch aus der „alten
Last“. Die Defizithaftung des Bundes bei der Alterssicherung der Landwirte betrifft im Haushalt den Einzelplan 10, nicht den Sozialhaushalt. Wer dann anfängt,
im sozialen Bereich streichen zu wollen, der muß einmal
begründen, wieso er so vorgehen will. Ich sage Ihnen
eines: Wir machen dieses Spielchen nicht mit.
({8})
Wenn Sie jetzt die Beiträge zur Berufsgenossenschaft
abermals absenken wollen - man weiß ja noch nicht,
was kommen wird, wie man so schön sagt; wir sind sehr
gespannt -, dann belasten Sie die aktiven Landwirte im
Wettbewerb innerhalb Europas noch einmal. Das können und wollen wir auf keinen Fall akzeptieren.
Lassen Sie mich noch einmal auf die aktuelle Situation eingehen. Herr Staatssekretär, ich war schon erstaunt,
daß Sie Dioxin mit der Agrarpolitik in Zusammenhang
gebracht haben. Entweder habe ich es völlig falsch verstanden, oder ich bin auf dem falschen Dampfer.
({9})
Hier geht es um ein verbrecherisches Unternehmen: Es
wurden hochgiftige Öle, die normalerweise auf eine Sondermülldeponie gehören, nicht aus Versehen, sondern
bewußt und absichtlich eingemischt. Wer nun aber diesen
Vorfall zum Anlaß nimmt, Dioxin mit der Agrarpolitik in
Zusammenhang zu bringen, der verunsichert erst recht die
Bürger und Verbraucher. Meine Damen und Herren, was
hier gemacht wird, ist unverantwortlich.
({10})
Sprechen Sie doch statt dessen von dem verbrecherischen Tun einiger Weniger, denen wir auf die Finger
hauen müssen.
Dann geht es noch um die Informationspflicht der
Staaten gegenüber der Europäischen Union. Auch den
Regierungen müssen wir auf die Finger klopfen, seien es
nun Freunde oder nicht so enge Freunde. Hier darf
nichts unter den Teppich gekehrt werden, hier muß
wirklich Klartext gesprochen werden; denn es geht um
die Gefährdung der Gesundheit unserer Mitbürgerinnen
und Mitbürger.
({11})
Herr Staatssekretär, ich hätte mir eigentlich gewünscht,
daß Sie hier sagen, die logische Konsequenz aus dem
Dioxin-Skandal sei, auf regionale Produkte, auf deutsche Produkte zurückzugreifen. Dann hätten die Menschen Gewißheit, mit solchen Dingen nicht konfrontiert
zu werden.
({12})
- Lieber Herr Vorsitzender Gerhardt, der Werbeblock
geht weiter, um Informationen zu transportieren, die
wichtig sind und über die die Menschen leider Gottes
immer weniger verfügen.
Auch was Coca-Cola angeht, ist einiges nicht in Ordnung. Wenn die Softdrinks so in Verruf kommen, dann
müssen wir uns doch fragen, was denn die Ernährungsindustrie unserer Bevölkerung auf den Tisch stellt.
({13})
- Verbraucherschutz wird in meiner Fraktion sehr groß
geschrieben, und ich wundere mich, daß Sie von der
SPD-Fraktion hier über meine Aussagen lästern. Ich
wundere mich wirklich über die SPD-Fraktion, die, als
sie in der Opposition saß, den Verbraucherschutz selbst
in Bereichen hochgehalten hat, die mit Verbraucherschutz gar nichts mehr zu tun hatten. Aber hier, wo wir
definitiv Aussagen zum Verbraucherschutz machen
können, begleiten Sie sie mit Hohngelächter.
Die Konsequenz der Vorfälle bei Coca-Cola kann
sein, auf Apfelsaft auszuweichen. Sie kann aber auch
eine bessere Kontrolle sein. Hier sind wirklich Kontrollen angesagt. Einen Dioxinskandal können Sie mit
Kontrollen nicht vermeiden. Aber bei dieser Form der
Gefährdung unserer Lebensmittel wäre mit Kontrollen
sehr viel zu erreichen.
Lassen Sie mich zum Schluß - der Herr Präsident
signalisiert mir, daß meine Redezeit zu Ende ist - eindeutig und klar feststellen: Die F.D.P. steht auf der Seite
der Landwirtschaft.
({14})
Sie steht auf der Seite der unternehmerischen Landwirtschaft, die ihr Einkommen am Markt erwirtschaften und
nicht von Gottes Gnaden, von der Politik abhängig sein
will.
Herzlichen Dank.
({15})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat nun Kollegin Ulrike Höfken
das Wort.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn Herr Heinrich behauptet hat, die F.D.P. stehe
auf der Seite der Landwirtschaft, dann ist es sicherlich
an der Zeit, einmal Bilanz zu ziehen.
Herr Deß, Sie haben sich darüber beklagt, daß hier
Minister fehlen. Aber wo waren Sie denn gestern während der Ausschußsitzung?
({0})
Zwei Abgeordnete der CDU/CSU haben da gesessen, als
die Agenda 2000 das Thema von 17 geladenen Experten
war. Das war das große Interesse der CDU/CSU!
({1})
Auch wenn es nicht direkt zum Agrarbericht gehört,
möchte ich darauf hinweisen, daß dies jetzt meine Abschiedsrede von Bonn sein wird. Ich bin schon ein bißchen traurig, daß wir eine grüne Stadt am Rhein, ein
volksnahes Parlament verlassen. Zum Abschied winkt
uns allerdings der Schürmann-Bau als Hinterlassenschaft der Wirtschaftspartei F.D.P.
({2})
Nichts gegen Berlin; Berlin ist auch schön. Aber „dat
kost“. Als Abgeordnete der nächsten Generation darf ich
sicherlich auf die 20 Milliarden DM hinweisen, die für
den Berlin-Umzug ausgegeben werden. Alle Einsparvorschläge unserer Fraktion sind hartnäckig mißachtet
worden. Wer die Musik bestellt, der muß auch bezahlen.
Nun steht das Orchester auf der Bühne, und die Rechnungen sind - wie viele andere - noch offen.
Wie Staatssekretär Thalheim schon gesagt hat, ist
unter der alten Bundesregierung die Verschuldung in
einem enormen Ausmaß gestiegen: Von 340 Milliarden
DM 1982 auf 1,5 Billionen DM - eine unglaubliche
Zahl. Kann sich das jemand vorstellen? Unsere Steuerzahler müssen jede vierte Mark nicht für die Tilgung,
sondern für die Zinsen ausgeben. Herr Ulrich Heinrich,
es sollte wohl offensichtlich sein, daß Handlungsbedarf
besteht.
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren besonders von der
CDU/CSU und der F.D.P., in den Agrarbereich sind diese Milliarden jedenfalls nicht geflossen, ganz im Gegenteil. Der Agrarhaushalt wurde in der Regierungszeit
der alten Bundesregierung gerupft und gerupft: seit 1991
minus 16,8 Prozent. Besonders wurde die GA - die
Gemeinschaftsaufgabe - geplündert. Sie war die einzige Möglichkeit, investiv zu unterstützen, Wirtschaftsspielräume und neue Handlungsspielräume zu eröffnen.
Zu Lasten der Landwirtschaft und zu Lasten der ländlichen Räume wurden Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe von 2,6 Milliarden DM 1983 auf 1,7 Milliarden
DM 1998 gekürzt. Die Kürzung lag also bei fast 1 Milliarde DM.
Gleichzeitig gingen die Komplementärmittel verloren. Wenn man das anspricht, entgegnen Sie immer sofort: Die Bundesländer wollen ja nicht usw., usf. Aber
das ist doch nicht das Problem. Sie haben ihnen die
Komplementärmittel genommen und damit im übrigen
auch die Möglichkeiten, auf EU-Mittel zuzugreifen. Es
handelt sich um Komplementärmittel von über 1,2 Milliarden DM. So sieht Ihre Bilanz aus. Darauf sollten Sie
wahrhaftig nicht stolz sein.
({4})
Die Ergebnisse dieser Agrarpolitik lassen sich auch
im Agrarbericht oder in den Situationsberichten des
Bauernverbandes ohne weiteres nachlesen: Arbeitsplatzvernichtung in einem hohen Ausmaß - über eine
halbe Million Arbeitsplätze sind in der Landwirtschaft
verlorengegangen, eine große Zahl von Betrieben mußte
aufgeben. Herr Deß, darauf sind Sie doch nicht etwa
auch noch stolz? Sie haben den Bauern und ebenfalls
dem ländlichen Raum die Perspektive genommen.
({5})
Es ist nun Aufgabe der neuen Regierung, eine neue
Weichenstellung vorzunehmen. Mit der Kritik an der
Agenda 2000 übertünchen Sie doch nur Ihre eigene Unfähigkeit, diese Fehlentwicklungen aufzuhalten. Die
Agenda ist in der ersten Säule ganz klar die Fortsetzung
Ihrer Politik der Agrarreform von 1992, nämlich eine
Politik der Preissenkung und des staatlichen Ausgleichs.
In der zweiten Säule, die wir und im übrigen auch die
Kommission unterstützt haben, hat die Agenda 2000
durch Ihre Bundesregierung und durch Ihren Minister
überhaupt keinen Rückhalt erfahren. Sie haben auf ein
„Weiter so“ gesetzt. Sie haben sehenden Auges das
Schiff an den Eisberg gefahren. Minister Funke hat
einen Kompromiß geschaffen, er hat die Situation entschärft, und dafür ist er zu unterstützen.
({6})
Was Sie hier machen, ist reiner Populismus und
Wählertäuschung. Auf Dauer trägt auch diese Strategie
nicht. Die Agenda 2000 ist nicht die Ursache, sondern
das Ergebnis einer falschen Agrarpolitik der letzten
Jahrzehnte. Was wir machen, ist der Ansatz der Korrektur und eine Erneuerung.
Das ist auch das Ergebnis der Anhörung gestern.
Auch Ihre eigenen Experten haben deutlich gemacht,
was es in den letzten Jahrzehnten und insbesondere in
den letzten Jahren Ihrer Bundesregierung für einen Reformstau gegeben hat. Selbstverständlich habt ihr jetzt
eine komfortable Rolle. Wir müssen die Suppe auslöffeln, die ihr uns eingebrockt habt. Wir müssen den
Schmutz wegräumen, den Sie gemacht haben; aber dafür
müssen Sie die Verantwortung übernehmen.
({7})
Die alte Bundesregierung, die abgelöste Firmenleitung,
hätte Konkurs anmelden müssen.
Zum Agrarbericht. Die noch gestern getroffene Bewertung hinsichtlich der Subventionspolitik ist doch interessant. Nach wie vor kommen allenfalls 50 Prozent,
eher noch 40 Prozent der Subventionen in der Landwirtschaft an. Herr Professor Wolffram hat das „Diebstahl“
genannt. Es handelt sich um Geldverschwendungs- bzw.
Geldvernichtungspolitik zu Lasten der Steuerzahler. Es ist
doch nicht die Aufgabe, eine solche Politik weiterzuführen, sondern vielmehr, etwas ganz anderes zu tun, nämlich dafür zu sorgen, daß neue Rahmenbedingungen geschaffen werden, die nicht auf einer solchen Art von staatlichen Leistungen oder eben Nichtleistungen bestehen.
Kollegin Höfken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Ja.
Verehrte Frau Kollegin
Höfken, Sie haben gerade eben Professor Wolffram zitiert. In der Tat, die Zitate waren richtig. Aber würden
Sie bitte zur Kenntnis nehmen und bestätigen wollen,
daß sich diese Aussagen auf die verabschiedete Agenda
2000 und auf ihre Wirkung bezogen haben?
Das
war alles?
({0})
Ich will nur sagen, daß genau diese Agenda 2000 das
ist, was Sie politisch letztendlich immer gewollt haben.
1992 haben Sie die Grundlagen geschaffen; das ist die
Fortsetzung, und es hat kein einziges Konzept und keinen Gegenvorschlag dieser Bundesregierung gegeben.
Das ist nichts anderes als die reine Wahrheit. Nichts anderes haben Sie gewollt, sondern Sie haben auf ein
„Weiter so“ gesetzt.
({1})
Für die Zukunft kommt es nun darauf an, die Akzente
neu zu setzen und die Rahmenbedingungen für die zukunftsfähigen Wirtschaftsweisen neu zu gestalten.
Kollegin Höfken,
Herr Kollege Heinrich will noch einmal nachfragen.
({0})
Ja.
Frau Kollegin Höfken, es
geht heute auch um die Bewertung der Agenda 2000.
Herr Staatssekretär hat sie als eine brauchbare Grundlage bezeichnet und hat sie gelobt. Sie gehen jetzt sehr,
sehr kritisch mit der Agenda 2000 um, bzw. Sie teilen
die Kritik der Professoren an der Agenda 2000. Die
Agenda 2000 wurde in Berlin unter der Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet.
Teilen Sie die Auffassung der Bundesregierung, oder
teilen Sie die Auffassung der Bundesregierung nicht?
Es
ist ein Unsinn, hier zu erzählen, die Agenda 2000 sei ein
Kind dieser rotgrünen Bundesregierung. Es war nur die
Aufgabe und auch nur die Möglichkeit dieser Bundesregierung, hier korrigierend und unterstützend in die
zweite Säule, wo es positive Ansätze gibt, hineinzuwirken, und nicht, die Politik fortzusetzen, die in der ersten
Säule angelegt worden ist. Das war einzig und allein
Ihre Politik.
({0})
Es geht jetzt darum, daß es gesunde und rückstandsfreie Nahrungsmittel gibt, das heißt, die Nachfrage der
Verbraucher und die Anforderungen der Gesellschaft zu
erfüllen. Die Skandale kosten doch mehr Geld, als durch
Subventionen je ausgeglichen werden kann. Nicht die
Bauern sind dabei die Hauptschuldigen - damit diese
Unterstellung nicht wieder kommt -, sondern diese Art
von Agrarpolitik, die zum Beispiel in den Futtermehlskandalen ihren Höhepunkt findet.
Wir werden alles daran setzen, die Ökologisierung
der Produktion und die regionale Produktion durch die
Herkunftskennzeichnung, die immer noch nicht umgesetzt wird, durch die Förderung von regionaler Verarbeitung und Vermarktung, durch eine Förderung der
ökologischen Landwirtschaft, die Stärkung der Agrarumweltprogramme und eine entsprechende Absicherung
der Gemeinschaftsaufgabe zu unterstützen, die wir nicht
so rupfen werden, wie Sie das getan haben.
Zum zweiten geht es darum, die Umwelt zu erhalten.
Gesellschaftliche Leistungen müssen honoriert werden.
Auch hier haben wir einen Ansatz geliefert. Ich meine
wirkliche, nachvollziehbare Leistungen; es dürfen nicht
nur scheinbare Leistungen sein. Wir werden dazu die
Agenda 2000 und die Gemeinschaftsaufgabe nutzen.
Das Förderprogramm für erneuerbare Energien ist ein
Ansatzpunkt, hier Einkommenswirkungen zu erzielen,
Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen und auch die Natur
und die Umwelt zu schützen.
({1})
Zum dritten geht es um die artgerechte Tierhaltung.
Auch das ist eine Nachfrage dieser Gesellschaft, die
nicht ausreichend befriedigt wurde. Auch hier werden
wir die Abschaffung der Käfighaltung anstreben, die
Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung unterstützen und durch eine Verbesserung der Haltungsverordnung endlich die große Nachfrage nach tiergerechten
Produktionen befriedigen. Das ist eine Nachfrage, die
auch bezahlt wird. Die bisherige Agrarpolitik und die
Strategie des Bauernverbandes haben diese kaufkräftige
Nachfrage niemals befriedigt.
Ich will nur einen Satz zum Thema Wettbewerbsfähigkeit sagen. Es geht um die Milchpolitik. Diese Bundesregierung wird jetzt regelrecht mit Drohungen erpreßt, es werde geklagt werden, wenn man etwa den
Eigentumswert der Quote unterlaufen wolle. Dieser
Eigentumswert - das muß man sagen - wurde einmal
durch eine staatliche Zuteilung geschaffen. Auf diese
Seite schlagen Sie sich jetzt. Das nennen Sie auch noch
Marktmodell. Da müßte der F.D.P. doch eigentlich die
Zunge im Mund gebrechen! Was man damit will, ist, ein
durch staatliche Zuteilung erfolgtes Privileg zu verteidigen. Nur das läßt sich zu den Punkten Wettbewerb und
Kostenreduzierung sagen.
Man kann den Hund nicht zum Jagen tragen, und man
kann die Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen. Aber
nichtsdestotrotz muß man feststellen: Wenn ein Erfolg
unserer Koalition auf diesem Gebiet nicht möglich ist,
dann haben die Bauern das Ihnen und dem Bauernverband zu verdanken, der nicht bereit ist, eine Reform anzugehen, sondern der in puncto Wettbewerbsfähigkeit
und Belastungen der Bauern alles so lassen will, wie es
ist.
({2})
Wir werden uns weiterhin dafür einsetzen, daß es zu
einer realen Stärkung der aktiven Betriebe kommt. Falls
das von uns Geplante nicht zustande kommen sollte,
dann liegt das in Ihrer Verantwortung.
Vielen Dank.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Gerald Thalheim.
Vielen Dank, Herr
Präsident! Herr Kollege Heinrich, Sie haben mir den
Vorwurf gemacht, daß ich in meiner Rede einen
Zusammenhang zwischen dem Dioxinskandal und der
Agrarpolitik hergestellt habe. Diesen Vorwurf möchte
ich ausdrücklich zurückweisen.
Erstens. Wenn Sie richtig zugehört hätten, dann hätten Sie erkennen können, daß der Kollege Deß die gleiche These vertreten hat.
({0})
Wenn ich mich richtig erinnere, haben alle durch Beifall
zugestimmt.
Zweitens. Ihr Vorwurf stimmt auch in der Sache
nicht. Natürlich gibt es diesen Zusammenhang. Wir haben im Bereich der landwirtschaftlichen Produkte einen
fast ruinösen Preiswettbewerb, der am Ende natürlich zu
solchen Skandalen, wie wir sie gegenwärtig in Belgien
erleben, führt.
({1})
Wenn Sie, Herr Kollege Heinrich, meine Rede richtig
verfolgt hätten, dann hätten Sie in Erinnerung behalten,
daß ich ausgeführt hatte: Die Marktbeteiligten müssen
sich entscheiden, ob künftig Qualität und Sicherheit oder
ob weiterhin niedrige Preise im Vordergrund stehen
sollen.
({2})
Ich denke, Sie haben das gleiche gesagt. Wir werden das
Ziel, daß Qualität und Sicherheit im Vordergrund stehen, nur erreichen, wenn wir gemeinsam dafür eintreten
und nicht versuchen, mit billiger Polemik Punkte zu machen.
({3})
Herr Kollege Heinrich, wollen Sie reagieren? - Bitte.
Herr Staatssekretär, ich
hätte mich gefreut, wenn ich mich verhört hätte. Dann
hätte ich alles zurückgenommen. Dann wäre die Sache
erledigt gewesen.
Da Sie aber den Dioxinskandal mit der Höhe der Lebensmittelpreise bzw. mit der in der Landwirtschaft bestehenden Situation eines starken Preisdrucks in Zusammenhang bringen, war meine Aussage richtig, daß
das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Selbstverständlich beklagen wir alle die bestehende Preisdrucksituation. Das ist doch gar keine Frage. Das tun wir von
morgens bis abends, und wir versuchen, dagegen anzugehen.
Das aber, was in Belgien stattgefunden hat, betraf die
Beseitigung von Sondermüll, was normalerweise 2 000
DM pro Tonne kostet. Wenn ich diesen Sondermüll dem
Futtermittel beigebe, dann habe ich sogar noch einen
Vorteil. Das war die eigentliche Ursache, und dies hat
mit der Preisdrucksituation überhaupt nichts zu tun.
({0})
Für die PDSFraktion erteile ich das Wort der Kollegin Kersten
Naumann.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Berichte und Unterrichtungen der Bundesregierung werden vorgelegt, um
sich mit der Politik kritisch auseinanderzusetzen. Ich
hätte deshalb von meinen Vorrednern aus der CDU/CSU
und der F.D.P. eine selbstkritische Einschätzung bezüglich der Agrarpolitik erwartet.
({0})
Zur Bilanz des Agrarberichtes gehört, daß in der
deutschen Landwirtschaft der langjährige Trend der Stagnation, ja sogar des sogenannten negativen Wachstums
anhält. Deutlicher Ausdruck dafür ist die rückläufige
Entwicklung der Nettowertschöpfung von 3,6 Prozent.
Ein Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion wäre
durchaus möglich. Dazu müßte allerdings eine Entwicklung gefördert werden, die zum Beispiel zur Ablösung der Futtermittelimporte durch Eigenproduktion
führt. Damit könnte zugleich ein wirkungsvoller Beitrag
zur Bekämpfung des Hungers auf der Welt geleistet
werden.
({1})
Wachstum wäre auch durch die Förderung regionaler
Märkte und des Marketings für ökologisch erzeugte
Produkte möglich. Und schließlich ließe sich eine Stärkung des Binnenmarktes durch den weiteren Anbau von
nachwachsenden Rohstoffen und von regenerativen
Energieträgern erreichen.
Ergebnis der Politik der abgewählten Regierung ist,
daß ein weiteres Mal die gesetzliche Verpflichtung des
Landwirtschaftsgesetzes verfehlt wird, den Landwirten
vergleichbare Einkommen zu sichern. In über 80 Prozent der Haupterwerbsbetriebe liegt das Einkommen
unter dem Vergleichseinkommen anderer Berufsgruppen. In etwa der Hälfte der Betriebe verringert sich das
Eigenkapital. Diese Landwirte, meine Damen und Herren, leben von der Substanz. Das sollte einmal dem
Wirtschafts- und Finanzkapital passieren!
Es ist nicht zu erkennen, was die neue Bundesregierung unternimmt, um dem Gewinnrückgang in den
Haupterwerbsbetrieben von 2 bis 6 Prozent im laufenden
Wirtschaftsjahr entgegenzutreten. Sie setzt vielmehr auf
Verdrängungswettbewerb. Außerdem hofft sie auf die
„Leidensfähigkeit der Bauern“, auf die Bereitschaft, den
Gürtel noch enger zu schnallen und auf ein höheres Einkommen zu verzichten.
Eines der gravierendsten Probleme ist - wie man im
Agrarbericht lesen kann - die rückläufige Beschäftigung. Gegenüber 1995 sank in Ost und West die Zahl
der Beschäftigten und die Gesamtarbeitsleistung auf
89 Prozent. Laut Agrarbericht will die Bundesregierung
die Förderung von „alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten in den ländlichen Räumen“ vor allem durch
„die einzel- und überbetriebliche investive Förderung“
erreichen. Dabei läßt sich doch überall beobachten, daß
Investitionen vor allem der Rationalisierung dienen und
damit Arbeitsplätze vernichten.
Zu den Prozessen, die die Agrarentwicklung bestimmen, gehört die weitere Öffnung der Preisschere. Während die Preise für Nahrungsgüter seit 1991 auf 109 Prozent und die für Betriebsmittel auf 107 Prozent gestiegen sind, fielen die Erzeugerpreise auf 92 Prozent.
Hauptursache für diesen Preisverfall ist die marktbeherrschende Stellung der hochmonopolisierten Handelsketten und Verarbeitungsbetriebe. Der von der neuen
Bundesregierung verfolgte Kurs der weiteren Liberalisierung heizt diesen Prozeß des Preisdiktates und des
ruinösen Konkurrenzkampfes weiter an.
Im Ergebnis der deutschen Einheit sind zwei sehr
unterschiedliche Landwirtschaften aufeinandergetroffen.
Dieser Konflikt ist nicht vorrangig ein Ost-WestKonflikt, sondern wird zunehmend ein Konflikt zwischen den wettbewerbsfähigen und den nicht wettbewerbsfähigen Agrarunternehmen. Auch die neue Bundesregierung besitzt kein Konzept zur Überwindung dieser wachsenden Konflikte. Sie setzt auf die wettbewerbsfähigen Betriebe und überläßt die anderen ihrem
Schicksal. Der Agrarbericht macht deutlich, daß die
Bauern mit der neuen Bundesregierung vom Regen in
die Traufe gekommen sind. Mit der Agenda 2000 hat
sich die Regierung zum Strukturwandel, zur Wettbewerbsfähigkeit, zu Weltmarktpreisen und somit - auf
gut deutsch - zum Arbeitsplatzabbau, zum Höfesterben
und zum Abbau des sozialen Sicherungssystems in der
Landwirtschaft bekannt.
({2})
Fast eine halbe Milliarde DM sollen laut Minister
Funke im Agrarhaushalt im Jahr 2000 und 1,4 Milliarden DM im Jahr 2003 eingespart werden. Das ist ein
weiterer Beweis dafür, daß die Landwirtschaft dem
Profitsystem untergeordnet wird. Unter diesen Bedingungen werden sich Ihre Sprüche vom „Leitbild nachhaltig wirtschaftender Betriebe“, von der Herstellung
„möglichst geschlossener Stoffkreisläufe“ und von der
„Erzielung angemessener Einkommen“ als das erweisen, was sie wirklich sind - als bunt schillernde Seifenblasen.
Im Gegensatz zur Bundesregierung stehen wir, die
PDS, zu regionalen Wirtschaftskonzepten und zum
ökologischen Landbau und nicht nur zu „unseren
Strukturen“, wie Herr Minister Funke in seiner Rede am
Freitag behauptet hat. Erstens sind es auch seine Strukturen, denn er ist Landwirtschaftsminister von Gesamtdeutschland, und zweitens vertreten wir ein sozialorientiertes Agrarkonzept, das sehr wohl die kleinbäuerliche
Struktur einbezieht.
({3})
Denn diese Familienbetriebe leisten ebenso ihren Beitrag zur Nettowertschöpfung, zur Kulturlandschaftspflege und zum Erhalt der ländlichen Räume.
({4})
Mit der Logik des Ministers - die PDS würde nur die
großen Betriebe und Agrargenossenschaften vertreten ignoriert er die Familien der Wieder- und Neueinrichter
in den neuen Bundesländern; denn er weiß genauso gut
wie ich, daß selbst diese sich größere Betriebsstrukturen
als Familienbetriebe im Westen aufgebaut haben, um
überleben zu können. Außerdem ist eine Zusammenführung von Ökonomie und Ökologie gut möglich - unabhängig von Betriebsgrößen -, wenn es politisch und gesellschaftlich nur gewollt ist und entsprechende Rahmenbedingungen gesetzt werden.
({5})
Es dürfte auch ihm nicht entgangen sein, daß ökologische Landbaubetriebe gerade in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg Flächen in Größenordnungen
von unter 100 Hektar bis über 1 000 Hektar bewirtschaften.
Meine Damen und Herren, die PDS hat sich in ihrem
Entschließungsantrag für eine Änderung der Agrarpolitik ausgesprochen, erwartet aber eine Qualifizierung
des Berichtes. Dazu gehört für uns, die Vergleichbarkeit
von Daten über einen längeren Zeitraum zu sichern, zum
Beispiel in der Einkommensentwicklung, die differenzierte Entwicklung in der Landwirtschaft in Ost und
West weiterhin zu dokumentieren und die Entwicklung
der Eigentumsformen, der Betriebsgrößen und Strukturen detailliert darzustellen.
Auch wenn Ihnen, Herr Kollege Schönfeld von der
SPD, beim Lesen der ersten drei Sätze unseres Entschließungsantrags schlecht geworden ist, wie Sie mir
gestern ja unbedingt mitteilen mußten,
({6})
hätten Sie unseren Antrag ruhig zu Ende lesen können.
Denn in ihm steht zum großen Teil das, was Sie in Ihren
Wahlkämpfen den Wählerinnen und Wählern vor der
Wahl vermittelt haben.
({7})
Deshalb dürfte es Ihnen und Ihrer Fraktion nicht schwerfallen, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.
Danke schön.
({8})
Für die SPDFraktion spricht unser Kollege Gustav Herzog.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Dioxinskandal in unserem
Nachbarland Belgien hat viele Leidtragende. Dazu gehören unsere Landwirte sowie die vor- und nachgelagerten
Betriebe der Lebensmittelindustrie und des Handels, die
sich völlig unschuldig mit Nachfragerückgängen der
Verbraucher herumärgern müssen. Wie so oft bei Lebensmittelskandalen: der ökologische Landbau und der
Naturkosthandel sowie - und das hat nichts mit Öko zu
tun - die regionalen Erzeugungsinitiativen mit nachvollziehbaren Warenströmen sind in der Gunst der Verbraucher gestiegen.
({0})
Aber auch vor diesem Skandal gab es eindeutige
Hinweise für den weiter wachsenden Erfolg der ökologischen Erzeugung. Von einem boomenden Absatz bei
Bioprodukten im britischen Einzelhandel berichtete der
Absatzförderungsfonds im Mai dieses Jahres, nachzulesen in der regelmäßigen Berichterstattung der ZMP im
Mai 1999. Die Prognosen für das Wachstum im Jahr
2000 gegenüber 1997 scheinen schwindelerregend: über
800 Prozent bei Schweinen und immerhin 150 Prozent
bei Milchprodukten. Begrenzend hierfür, so sagen die
Marktforscher, seien nur die Lieferschwierigkeiten,
({1})
weil die inländische britische Erzeugung gar nicht so
schnell von konventioneller Wirtschaftsweise auf ökologische Erzeugung umstellen könne.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn es nicht
hierhergehört, will ich, weil es meiner persönlichen
Überzeugung entspricht, hinzufügen: In den britischen
Regalen bleiben die gentechnisch veränderten Produkte
stehen. Das sind Ladenhüter, die vom Handel wieder zurückgenommen werden.
({2})
Das Geschäft in Großbritannien allerdings wollen vor
allem die Dänen machen. In den nächsten fünf Jahren
sollen mit Hilfe eines großen Aktionsplans im Auftrag
des Landwirtschaftsministeriums 10 Prozent der gesamten dänischen Nutzfläche umgestellt werden. Dann
wollen die Dänen vor allem auch deutsche Supermärkte
mit Bioprodukten beliefern. Das, meine Damen und
Herren, wäre ausgesprochen ärgerlich. Tatsache ist aber:
Deutschland ist längst nicht mehr Europas großer Ökovorreiter.
Der Grund dafür: In Deutschland ist unter der alten
Regierung die Entwicklung auf dem Sektor ökologische
Erzeugung verschlafen worden. Die Phrase von der
„kleinen Marktnische“, aus der der Ökolandbau ohnehin
niemals herauskommen werde, haben wir uns viele Jahre lang fast gebetsmühlenhaft anhören müssen.
({3})
Alle parlamentarischen Initiativen, die aus den Reihen der SPD-Bundestagsfraktion und von Bündnis 90/
Die Grünen immer wieder in Richtung einer Ökologisierung des Landbaus eingebracht worden sind, sind von
der damaligen Regierung abgeschmettert worden. Die
Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen, die sich kritisch mit den Folgewirkungen des
Pflanzenschutzes auseinandersetzten, sowie die von uns
in Anträgen aufgegriffenen Warnungen vor den zunehmenden bakteriellen Resistenzen auch durch antibiotische Leistungsförderer und vieles andere mehr verschwanden in den Schubladen der alten Bundesregierung.
({4})
Forschungsmittel des BML waren lange Zeit Fehlanzeige.
Durch diese Politik von gestern haben unsere Landwirte erhebliche Marktanteile auf dem Biomarkt nicht erobern können. Das haben andere für sie erledigt. Wenn
einmal Förderungsmittel bewilligt wurden, dann gingen
sie immer nur in die Erzeugung. Daran, die Förderung der
Vermarktung voranzutreiben, haben Sie nicht gedacht.
Österreich hat bereits 30 Prozent seiner Fläche auf ökologische Bewirtschaftung umgestellt; in Deutschland sind es
weniger als 3 Prozent.
Auch wenn wir in Deutschland wie beschrieben hinterherhinken: Der wirkliche Durchbruch für Ökoprodukte kann kommen, wenn die Verbraucher größeres
Vertrauen in die Ökokennzeichnung haben. In einer
CMA-Umfrage haben kürzlich noch zwei Drittel der Befragten Skepsis geäußert, ob „Bio“ drin ist, wo „Bio“
draufsteht. Nach Jahren des Verhandelns haben sich
CMA und die Anbauverbände des ökologischen Landbaus endlich auf ein gemeinsames Zeichen geeinigt. Es
wird neue Absatzwege eröffnen und für den Verbraucher hoffentlich Licht in den Kennzeichnungsdschungel
bringen.
({5})
In der gestrigen Anhörung zu den Folgen der Agenda
2000 haben die Experten in schriftlichen Ausführungen
fast ausnahmslos steigende Absätze für den ökologischen Landbau vorhergesagt.
({6})
Meine Damen und Herren, der Agrarbericht weist
wieder einmal aus, wie schwierig die EinkommensverKersten Naumann
hältnisse der landwirtschaftlichen Betriebe sind. Das
gilt auch für die ökologische Landwirtschaft. Sie ist insbesondere gefordert, ein hohes Maß an Kreativität und
Risikobereitschaft sowie die Fähigkeit zu zeigen, neue
Wege zu erkennen und Partner dafür zu finden, sie begehbar zu machen. Das heißt auch für die Ökolandwirte,
daß sie sich zusammenschließen müssen, um größere
Partien zu erstellen und um den Markt mit Ökoprodukten zu beliefern. Hierzu müssen eine Reihe von Durchführungsverordnungen verändert werden. Hiervon wird
die gesamte Landwirtschaft profitieren.
({7})
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Dies war die erste
Rede des Kollegen Gustav Herzog im Bundestag. Dazu
unsere herzliche Gratulation.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Carstensen, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zuerst ein Wort zu Albert Deß. Lieber Kollege Deß, ich
kann mir gut vorstellen, daß du sehr stolz auf das Wahlergebnis in deiner Gemeinde bist. Ich darf dir sagen, daß
die CDU in Nordfriesland ähnliche Ergebnisse erreicht
hat.
({0})
- Nun hört doch einmal zu und freut euch mit mir! - In
meiner Gemeinde Elisabeth-Sophien-Koog hat die CDU
mehr als 94 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von weit
über 60 Prozent erreicht.
({1})
In meiner Gemeinde haben wir nur ein kleines Problem: Ein Einwohner hat Grün gewählt, und wir wissen
nicht, wer das unter den 29 Wahlberechtigten ist.
({2})
Aber bei nur 29 Wahlberechtigten finden wir ihn heraus.
({3})
- Nein, diese Vermutung kam zwar auf, aber ich war es
nicht. Das Wahllokal ist nämlich das Wohnzimmer meines Bruders, der der Bürgermeister ist. Wer richtig
wählt, bekommt von ihm ein Frühstück. Deswegen haben wir immer eine ganz gute Übersicht.
({4})
Meine Damen und Herren, der Agrarbericht ist ein
Spiegelbild für die Agrarpolitik der letzten Jahre. Lieber
Herr Staatssekretär Thalheim, in all den Jahren, in denen
ich im Deutschen Bundestag bin, habe ich es noch nie
erlebt, daß ein Agrarbericht so kümmerlich vorgetragen
worden ist wie heute. Sie sind nicht auf eine Zahl eingegangen, die im Agrarbericht enthalten ist. Ich kann dies
natürlich verstehen: Sie hätten über eine Ernte sprechen
müssen, für deren Aussaat und Pflege Sie die Verantwortung nicht zu übernehmen brauchten, weil Jochen
Borchert und der Bundeskanzler in den letzten Jahren
dies für die Landwirtschaft getan haben. Deswegen haben Sie sich gescheut, die Zahlen über diese gute Arbeit
aus dem Agrarbericht vorzutragen.
Wenn im Agrarbericht die Aussage enthalten ist, daß
wir einen Strukturwandel von weniger als 2 Prozent haben, dann bin ich einmal gespannt, wie sich in den nächsten Jahren der Strukturwandel nach Ihrer Agrarpolitik
darstellen wird.
({5})
Es hat sich etwas in der Agrarpolitik geändert. Das
war auch die Meinung des Staatssekretärs Wille auf der
Grünen Woche. Er hat nämlich gesagt: Die Agrarpolitik hat bei der jetzigen Bundesregierung einen anderen
- einen niederen - Stellenwert.
({6})
Wenn man sich einmal mit Beamten des Ministeriums
und mit Beamten, die in den letzten Jahren mit Agrarpolitik zu tun gehabt haben, unterhält, dann hört man
von ihnen: Die alte Regierung hat uns aufgefordert, Begründungen zu finden, um den Bauern Geld zu geben,
wie zum Beispiel im Fall der Vorsteuerpauschale, des
Währungsausgleichs und ähnlicher Dinge. Heute werden
wir aufgefordert, Begründungen zu suchen, um bei den
Bauern Geld einsparen zu können. - Das ist eine fundamental andere Agrarpolitik und Einstellung, Herr Kollege Weisheit. Ich staune darüber - darauf komme ich
gleich noch zu sprechen -, wie ihr in der Arbeitsgruppe,
wie ihr in der Fraktion da noch mitmacht.
Meine Damen und Herren, die Neuentwicklung der
Agrarpolitik wird von drei Punkten geprägt sein. Sie
wird geprägt sein von der Agenda 2000, die vollzogen
ist, aber in einigen Punkten noch ausgefüllt werden soll.
Sie wird geprägt sein von WTO-Verhandlungen. Sie
wird davon geprägt sein, wie die Bundesregierung mit
diesen beiden Punkten umgeht. Bei allen drei Punkten
verheißt es für die Bauern nichts Gutes.
Ein paar Worte zur Agenda 2000. Wir haben gestern
die Anhörung gehabt. Wie die SPD in einer Pressemitteilung behaupten kann, daß der eingeschlagene Kurs
bestätigt worden ist, kann ich nach der Anhörung - ich
bin die ganze Zeit dabeigewesen - überhaupt nicht
nachvollziehen. Frau Wolff, Sie haben von Planungssicherheit gesprochen. Die ersten Sachverständigen haben alle gesagt, Planungssicherheit sei überhaupt nicht
mehr gegeben. Nun verzeihen wir Ihnen das; in die erste
Rede kann man so etwas einmal hineinbringen. Aber
dadurch wird es nicht richtiger. Planungssicherheit ist
überhaupt nicht mehr vorhanden.
Es ist bei dieser Anhörung auch nichts schöngeredet
worden. Wenn die Nordrhein-Westfalen, die wirklich
nicht in Verdacht stehen, in ihrer Politik CDUfreundlich zu sein, gestern über die Agenda 2000 gesagt
haben, das seien Kompromisse gewesen, die niemanden
zufriedenstellen, dann können Sie doch nicht sagen, das
sei ein spitzenmäßiges Ergebnis. Karl-Heinz Funke ist
doch nicht hier für eine Büttenrede. Insofern brauchen
wir das nicht zu wiederholen. Die Leute wissen doch,
was Sie mit der Agenda gemacht haben. Die Quittung
habt ihr doch am letzten Sonntag gekriegt.
({7})
- Aber natürlich habt ihr sie gekriegt. Nun erzählt mir
noch, daß das ein Wahlsieg von euch war; dann werde
ich aber verrückt.
Wenn Mecklenburg-Vorpommern erzählt, Matthias
Weisheit - es ist ja auch kein CDU-Minister, der da
sitzt; ich sehe Herrn Backhaus gerade hier; schön, daß
zwei Länderminister hier sind -, daß es in seinem Land
wahrscheinlich zu Verlusten in Höhe von 180 DM pro
Hektar kommen wird, wobei der Bauernverband von geringeren Verlusten spricht - er spricht von 1,5 Milliarden DM Verlusten in der deutschen Landwirtschaft -,
dann können Sie doch nicht sagen, daß das ein spitzenmäßiges Ergebnis ist.
Wenn die Länder sagen: „Leute, ihr bringt uns einen
bürokratischen Aufwand, der überhaupt nicht mehr zu
finanzieren ist, mit Anlastungsgefahren und ähnlichen
Dingen,“ - wenn ich es richtig im Ohr habe, Kollege
Ronsöhr, hat Niedersachsen gesagt, daß 150 Beamte
mehr notwendig sind, um das zu vollziehen - „mit riesigen Kosten, mit mehreren 100 Millionen DM an Verwaltungskosten in Deutschland“, dann muß man das
doch ernst nehmen, wenn jemand sagt, es werde schwer
werden, den Bauern zu erzählen: Paßt mal auf, wir haben einen höheren Verwaltungsaufwand für das, was wir
euch dann weniger geben. - Da kann man sich doch
nicht hierhinstellen und sagen, das sei ein Erfolg mit der
Agenda 2000 gewesen.
Der Verwaltungsaufwand wird riesengroß. Herr Minister Buß, Klaus, ich habe gehört, daß es in Nordfriesland schon eine Initiative gibt. Da wollen die Leute von
der Bullenmast runter. Sie wollen in den Betrieben jetzt
Känguruhs züchten, und zwar nicht wegen des besseren
Fleisches, sondern weil sie in ihren Beuteln die Formulare tragen können, die gebraucht werden, um die Anträge zu stellen.
({8})
Das zeigt doch, daß diese Agrarpolitik wirklich in die
Hose geht.
Ich zitiere einmal, was der Minister vor wenigen
Tagen beim Raiffeisenverband in Lübeck gesagt hat:
Die deutsche und europäische Ernährungswirtschaft
muß von den sich abzeichnenden Chancen auf dem
Weltmarkt profitieren können. Dazu muß ihre
Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden.
Jetzt geht es los mit der Wettbewerbsverschärfung.
Wenn man den Wettbewerb stärken will, dann muß man
in der Agrarpolitik doch auch einmal ein paar Ziele sehen können. Haben Sie, meine Damen und Herren, bei
irgendeiner Rede des Ministers schon einmal Ziele formuliert bekommen und gehört?
({9})
- Ja? Dann kennt ihr diese Rede. - Es ist ja so, daß manches, was in dieser Regierung an neuen Perspektiven
formuliert wird, nicht in Deutschland gesagt wird. Der
Herr Schröder macht das mit Blair zusammen in London, und Karl-Heinz Funke nennt die Ziele bei der
SPÖ in Österreich. Da finde ich in einer Rede, die er im
März in Österreich gehalten hat:
Die amtierende Bundesregierung hat sich insbesondere folgende Ziele in der Agrarpolitik gesetzt und
wird diese nicht nur national, sondern auch auf
europäischer Ebene verfolgen:
Erstens die Landwirtschaft muß umweltverträglicher werden. Die Flächennutzung muß künftig
natur- und landschaftsverträglich gestaltet werden.
({10})
Da möge man mir bitte einmal sagen, ob das vorher
eigentlich nicht der Fall gewesen ist.
({11})
- Das ist vorher nicht gewesen? Herr Weisheit, dann erzählen Sie das bitte auch vor den Bauern, daß sie vorher
keine natur- und landschaftsverträgliche Landwirtschaft
gemacht haben. Dann stellen Sie sich hier hin und sagen: Ihr habt in den letzten Jahren keine naturverträgliche Landwirtschaft gemacht.
Ich fahre aus der Rede des Ministers fort:
Zweitens ist ein großflächiges Biotopverbundsystem mit 10 Prozent der Landesfläche zu schaffen.
Seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen?
({12})
Glaubt ihr, daß das die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft nach der Agenda und nach der WTO stärkt? Nein,
ganz im Gegenteil. Man müßte dort andere Punkte sehen. Man muß dort andere Punkte anpacken, um etwas
zu erreichen.
Nun könnte man fragen: Was machen die Jungs
denn? Was bekommen sie hin? Was tun sie denn? Läßt
sich hier nicht etwas finden, das die Position der Landwirtschaft am Weltmarkt stärkt?
Kollege Carstensen,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?
Aber natürlich.
Herr
Carstensen, zum Thema eines Biotopverbundsystems
möchte ich auf die FFH-Richtlinie zu sprechen kommen.
Ist es nicht reine Heuchelei, zu sagen, es sei ein Unding,
die Naturata 2000 sowie Natur- und Umweltschutz zu
unterstützen, und das noch als gegen die Bauern gerichPeter H. Carstensen ({0})
tet zu begreifen, wenn gleichzeitig die alte Bundesregierung 1992 die FFH-Richtlinie mit allen Konsequenzen
unterschrieben hat
({1})
und Sie nun plötzlich, gerade Sie aus SchleswigHolstein, einen Kampf um sogenannte Enteignung führen?
Das ist ein Politikverständnis, das jenseits der guten
Sitten liegt und das ignoriert, daß die Landwirtschaft,
die Bauern mit der Honorierung gesellschaftlicher Leistungen im Natur- und Landschaftsschutz Einkommensmöglichkeiten haben, die akzeptiert sind, die die
Gesellschaft unterstützen möchte und die auch diese
Bundesregierung unterstützen möchte.
Ich
habe gar nichts dagegen, wenn Leistungen in der Natur
wie Biotopverbesserungen und ähnliche Dinge gemacht
und dann auch finanziert werden, Frau Kollegin Höfken.
({0})
Sie wissen, daß die Diskussion bei der FFHRichtlinie über die Entschädigung ging. Wir haben eines
der wenigen klaren Worte, die von Karl-Heinz Funke im
Ausschuß gekommen sind, gehört, indem er gesagt hat:
Wer Auflagen macht, die über die ordnungsgemäße
Landwirtschaft hinausgehen, muß sie auch finanzieren.
({1})
Da haben wir gesagt: Das kennen wir doch, das haben
wir doch im letzten Jahr diskutiert. Er hat dann gesagt:
Nein, euer Vorschlag war ein anderer. Ihr habt immer
gesagt, die Länder müssen das finanzieren, und ich sage,
jeder der die Auflagen macht, muß das finanzieren. Legen Sie das doch bitte einmal auf den Tisch! Legen
Sie einen Antrag vor! Wir werden ihn unterstützen.
Zur Ihrer Frage zu den von mir diskutierten Punkten,
Frau Kollegin Höfken: Sie können doch nicht erwarten,
daß die Bauern, die Sie im Moment in tieferes Wasser
schicken, denen Sie schwerere Bedingungen für ihr
Wirtschaften auferlegen - es ist unbestritten, daß es so
ist -, denen Sie ohne Schwimmweste noch zusätzliche
Belastungen ans Bein binden, dann besser schwimmen.
Das kann ich nicht begreifen.
Ich kann nicht begreifen, daß Sie über eine bessere
Wettbewerbsfähigkeit für die Landwirte sprechen, daß
Sie davon sprechen, daß Sie die Landwirte in den Markt
stellen wollen, und dann mit Maßnahmen kommen, wie
Sie sie in den letzten Wochen ergriffen haben. Die gegenwärtige Haushalts- und Steuerpolitik führt zu Einkommensverlusten, und ihr macht das mit. Die Absenkung der Vorsteuerpauschale bringt für die Landwirtschaft eine Belastung von 400 Millionen DM mit sich,
und ihr macht das mit. Die Streichung und Absenkung
von Freibeträgen machen für die Landwirtschaft 350
Millionen DM aus, und ihr macht das mit. Der Abbau
der allgemeinen Regelungen im Steuerrecht bedeutet
noch einmal 500 Millionen DM Einbußen, und ihr
macht das mit, ohne daß hier von euch Protest kommt.
Die Ökosteuer bedeutet 350 Millionen DM Belastung
für die Landwirtschaft. Ihr macht das mit, ohne daß
Protest kommt.
Ihr sagt, das ist richtig, und ihr sagt, es ist richtig, daß
sich die Landwirte in den Markt stellen. Ihr sagt, es ist
richtig, daß man den Landwirten Klötze ans Bein bindet.
Matthias, ihr habt in der Fraktion die neuen Schweinereien schon mitgemacht, die offensichtlich noch
kommen: Da haben wir den Abbau von Vergünstigungen wie der Dieselkraftstoffrückvergütung, die berechtigt gewesen sind, sowie einen Prozentpunkt weniger bei
der Vorsteuerpauschale. Die Österreicher erhöhen die
Vorsteuerpauschale, und ihr senkt die Vorsteuerpauschale. Wenn ihr da einen weiteren Prozentpunkt heruntergeht, wißt ihr genau, daß die Vorsteuerpauschale
damit gestorben ist. Dann braucht ihr sie überhaupt nicht
mehr. Dann müßt ihr das den Bauern aber mal ehrlich
sagen.
Nein, meine Damen und Herren, nur andersherum
kann das etwas werden: Wir brauchen die Mittel, die für
die Gemeinschaftsaufgabe zur Verfügung stehen, für die
wirtschaftenden Betriebe. Ich sehe, daß die mir verbleibende Redezeit schon auf Null ist, aber ich will noch das
eine sagen: Klaus Buß, bei aller Freundschaft, das, was
in Schleswig-Holstein gemacht wird - daß in den letzten Jahren, von 1996 an, nahezu 30 Millionen DM Bundesmittel nicht ausgegeben worden sind, damit 49 Millionen DM Zuschuß nicht an Bauern gingen und dadurch mehr als 200 Millionen DM Investitionen in der
Landwirtschaft nicht getätigt worden sind -, kann nicht
angehen.
Ich habe natürlich gesagt: Wenn Klaus Buß im Amt
ist, wird sich das ändern. An den Zahlen des letzten Jahres konnte man erkennen, daß nicht noch mehr zurückgeführt wurde. Aber ihr macht einen schönen Trick: Ihr
ruft weniger ab. Dann wird natürlich auch nichts mehr
zurückgegeben. Hier habe ich die Zahlen: Für Schleswig-Holstein waren im Rahmenplan 93,6 Millionen DM
bewilligt, und davon wurden nur 87,6 Millionen DM
abgerufen. So kann man das natürlich auch machen, um
die Bilanz zu schönen.
Nein, das Geld, das zur Verfügung steht, muß in die
wirtschaftenden Betriebe fließen. Darüber hinaus muß
- auch das ist gestern bei der Anhörung deutlich geworden - der Abbau von Restriktionen in Angriff genommen werden. Ihr in den Ländern habt doch die „schwarze Liste“ der Wettbewerbsverzerrungen zwischen den
einzelnen Bundesländern. Wir können doch nicht auf
der einen Seite Wettbewerbsverzerrungen zwischen den
Bundesländern zulassen und auf der anderen Seite das
Ziel verfolgen, unsere Bauern wettbewerbsfähiger zu
machen. Leute, es ist doch genügend zu tun. Aber dann
müßt ihr, Matthias Weisheit, die ihr in der Fraktion etwas von Landwirtschaft versteht, auch einmal aufschreien, wenn euer Finanzminister solche Sachen vorhat.
Das, was im Moment passiert - mehr Wettbewerbsfähigkeit zu fordern, aber dann zusätzlichen Belastungen
zuzustimmen -, geht nicht. Das ist ein Knoten, den auch
ihr nicht auflösen könnt. Wir werden uns wundern, wie
die Agrarberichte in den nächsten Jahren aussehen. Ein
weiterer Strukturwandel wird dazu führen, daß die Bauern ersaufen, weil sie angesichts dieser Belastungen
nämlich nicht mehr schwimmen können.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun Kollegin Steffi
Lemke.
Herr
Präsident! Werte Kollegen und Kolleginnen! Der Agrarbericht 1999 ist der erste Agrarbericht der rotgrünen
Bundesregierung. Ihm liegen allerdings vorwiegend die
Daten des letzten Wirtschaftsjahres zugrunde. Insofern
handelt es sich im Feststellungsteil um eine Dokumentation des Zustandes der deutschen Landwirtschaft im
Zeitraum vor dem Regierungswechsel. Herr Carstensen,
Sie haben sich als bisher einziger Redner der Opposition
bemüht, sich wenigstens mit dem Agrarbericht auseinanderzusetzen.
({0})
Sie hätten aber nicht selektiv nur die positiven Zahlen
herausziehen sollen, sondern hätten eine Gesamtbetrachtung der positiven und der negativen Aussagen anstellen müssen. Dann könnten Sie, Herr Carstensen,
nicht ausblenden, daß Sie uns mit Ihrer Politik ein
strukturelles Haushaltsdefizit von 30 Milliarden DM
hinterlassen haben.
({1})
Glauben Sie, mir macht die Politik, die wir jetzt hier zu
vertreten haben, in allen Punkten Spaß? Auch ich würde
lieber die Gasölbeihilfe aufstocken oder die Vorsteuerpauschale für bestimmte Betriebe auf ihrem Niveau belassen bzw. erhöhen. Aber das Haushaltsdefizit, das Sie
zu verantworten haben und das abzutragen die rotgrüne
Bundesregierung sich zum Ziel gesetzt hat, lastet auf
meiner und den nachfolgenden Generationen. Dafür tragen Sie die Verantwortung.
({2})
Der Agrarbericht 1999 dokumentiert die neue
Schwerpunktsetzung in der Agrarpolitik der Koalition.
Er stellt deshalb die Ziele der Bundesregierung an zentraler Stelle des Berichtes, nämlich am Anfang, dar und
thematisiert erstmals und ausdrücklich die Wechselwirkung mit anderen Politikbereichen. Die Bundesregierung hebt mit diesem Agrarbericht auch die zentrale
Rolle des Verbraucherschutzes für die Zukunft der
landwirtschaftlichen Betriebe hervor und wird darin leider durch den aktuellen Dioxinskandal bestätigt. Im
Agrarbericht heißt es:
Die Bundesregierung wird den vorsorgenden gesundheitlichen Verbraucherschutz und den Schutz
vor Täuschung stärken sowie die Verbraucherinformation verbessern.
({3})
Diesem Ziel messen wir allerhöchste Priorität bei.
({4})
Die Herstellung und der Vertrieb gesundheitsgefährdender Lebensmittel - sei die Gefährdung nun durch
Schlamperei oder durch kriminelle Energie verursacht -,
sind kein Kavaliersdelikt. Hier geht es nicht nur darum,
die akute Gefährdung von Personen abzuwehren, sondern es geht gleichermaßen um die wirtschaftliche Existenz der Betriebe. Denn auch wenn die deutsche Landwirtschaft für den aktuellen Dioxinskandal nicht die
Verantwortung trägt - das will ich deutlich sagen -,
({5})
so sitzt sie doch mit der europäischen Landwirtschaft in
diesem Punkt in einem Boot.
Verehrter Kollege Heinrich - ({6})
- Er ist weg? - Gut, macht nichts. - Was er hier dargestellt hat, hat nichts mit Landwirtschaftspolitik zu tun.
Genau diese Art von „Augen zu und durch“ ist es, welche die Verbraucher immer wieder in Verunsicherung
stürzt und von bestimmten Produkten Abstand nehmen
läßt. Der belgische Dioxinskandal stellt nur einen Höhepunkt in der langen Liste von Lebensmittelskandalen
dar. Wir sollten deren Auswirkungen auf das Verbraucherverhalten und vor allem auf das damit verbundene
Marktgeschehen nicht unterschätzen.
Die Bundesregierung hat im Dioxinfall umgehend
reagiert, und die zuständigen Landesbehörden haben
sämtliche verdächtige Ware überprüft. Was wir aber
brauchen, ist ein viel umfassenderer Vorsorgeansatz zur
Vermeidung derartiger Entwicklungen. Dazu hat die
Bundesregierung erstens im Dezember im Agrarministerrat das Verbot für antibiotisch wirksame Futtermittelzusatzstoffe, die in der Humanmedizin sehr stark
eingesetzt werden, durchgesetzt, eine Entwicklung, die
Sie längst hätten vorantreiben müssen, wenn es Ihnen
mit dem Verbraucherschutz so ernst wäre, wie Sie es
heute dargestellt haben.
({7})
Die Bundesregierung wird zweitens entgegen der
WTO-Entscheidung der Aufrechterhaltung des Importverbots für Hormonfleisch aus den USA höchste Priorität beimessen, und sie wird sich ebenso massiv für die
Aufrechterhaltung des Exportverbots für britisches
Rindfleisch einsetzen, solange ein wissenschaftlicher
Nachweis für die Minimierung des BSE-Risikos nicht
vorliegt.
Ein dritter Punkt in diesem Sinne ist der Beschluß des
Agrarministerrates vom vergangenen Dienstag zur Abschaffung der Käfigbatteriehaltung von Legehennen.
Auch wenn mir dieser Schritt nicht weit genug geht, so
Peter H. Carstensen ({8})
ist er doch ein deutliches Signal, daß aus diesem Haltungsverfahren ausgestiegen wird, so daß mit dieser Käfighaltung in Zukunft Schluß sein wird.
({9})
Damit wird übrigens ein Wirtschaftszweig für die landwirtschaftliche Produktion zurückgewonnen, der für
Bauern in der Vergangenheit doch weitgehend verloren
war.
({10})
Als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern will
ich hier noch einmal die positiven Entwicklungen der
Agenda 2000, die für die neuen Bundesländer erreicht
worden sind, herausstellen, denn das haben selbst die
ostdeutschen Oppositionsabgeordneten bisher nicht fertiggebracht.
Die vorgesehene Degression der Ausgleichszahlungen ab einer bestimmten Betriebsgröße wurde ersatzlos
fallengelassen. Damit wurde einer großen Anzahl von
wirtschaftlichen Betrieben Planungs- und Investitionssicherheit gegeben. Die 90-Tiere-Förderobergrenze bei
den Rinderprämien wird zugunsten der ostdeutschen
Landwirte nicht eingeführt. Außerdem konnten im Interesse der neuen Bundesländer die 150 000 Hektar Grundflächen gesichert werden.
Ich denke, daß diese positiven Entwicklungen eine
Ursache in den Verhandlungen der Bundesregierung
haben,
({11})
weil vor dem Regierungswechsel klar war, daß
CDU/CSU und F.D.P. keineswegs bereit gewesen wären, sich in diesem Sinne für die neuen Bundesländer
einzusetzen.
Herr Carstensen, Sie haben die Entwicklung der
Agenda 2000 heftig kritisiert, Sie haben die Steuerentscheidungen der rotgrünen Bundesregierung heftig kritisiert,
({12})
Sie haben die Entscheidungen zur Ökosteuer heftig kritisiert, und Sie haben immer wieder auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Betriebe abgehoben. Ich darf
darauf hinweisen - das ist auch gestern in der Anhörung
gefallen -, daß die Steuerbelastung in europäischen
Vergleichsstaaten um 25 000 DM pro Betrieb höher
liegt. Ich bitte Sie, das in die Wettbewerbsdiskussion mit
einzubeziehen.
({13})
Ich komme zum Schluß. Nur dann, wenn es die deutschen Betriebe schaffen, den Anforderungen der Verbraucher an saubere und gesunde Lebensmittel aus der
Region gerecht zu werden, bleiben sie wettbewerbsfähig
und haben sie die Möglichkeit, ihre Marktstellung in
Zukunft noch zu verbessern. Vor dieser Aufgabe steht
die Landwirtschaft. Die Bundesregierung wird sie bei
der Bewältigung dieser Aufgabe tatkräftig unterstützen.
Danke.
({14})
Das Wort hat nun
der Minister für ländliche Räume, Landwirtschaft, Ernährung und Tourismus des Landes Schleswig-Holstein,
Klaus Buß.
Klaus Buß, Minister ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist
in den letzten Jahren zu einer guten Tradition geworden,
daß sich Landesminister an der Debatte zum Agrarbericht beteiligen. Auch auf diese Weise wird die notwendige Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der
Weiterentwicklung und Durchführung der Agrarpolitik
auch hier im Bundestag dokumentiert.
Nach meinem Amtsantritt vor einem Jahr war die
Sonderkonferenz der deutschen Agrarminister zur
Agenda 2000 für mich ein herausragendes Ereignis und
eine wichtige Erfahrung; eine wichtige Erfahrung deshalb, weil die Agrarminister über Parteigrenzen hinweg
erfolgreich um eine gemeinsame Haltung gerungen haben. Ich war und bin davon überzeugt, daß wir nur so
günstige politische Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft und die ländlichen Räume schaffen können.
Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, möglichst vielen
Landwirten die Chance zu geben, die vielfältigen Funktionen der Landwirtschaft für die Gesellschaft und insbesondere die ländlichen Räume wirtschaftlich erfolgreich zu erfüllen.
({1})
Wenn Herr Abgeordneter Carstensen hier derartig
negativ im Hinblick auf die Landwirtschaft allgemein
spricht, dann, lieber Peter Harry, wundere ich mich ein
bißchen und frage mich: Was hat eigentlich die vorige
Bundesregierung getan?
({2})
Der Agrarbericht ist im Laufe der Jahre zu einer Informationsquelle von ungewöhnlicher Qualität geworden. Er hat in diesem Jahr durch die Aufnahme des Kapitels „Agrarpolitische Aspekte anderer Politikbereiche“
noch an Wert gewonnen. Politischen Signalcharakter hat
sicherlich auch die stärkere Gewichtung des Abschnittes
„Verbraucherorientierte Agrar- und Ernährungspolitik“.
Der aktuelle Dioxinskandal in Belgien, der hier ja auch
schon erwähnt worden ist, zeigt ganz deutlich: Wenn sie
nicht gesunde Nahrungsmittel von hoher Qualität
bereitstellt, kann sich die Landwirtschaft die schwer
erkämpfte finanzielle Solidarität der Gesellschaft
abschminken. Auch hier gilt es im Interesse unserer
Bauern zusammenzustehen, um die Schäden nicht vermeidbarer krimineller Handlungen so gering wie möglich zu halten.
Viele Landwirte stehen wirtschaftlich mit dem Rükken zur Wand. Der Agrarbericht zeigt im einzelnen eine
große Bandbreite zwischen erfolgreichen und weniger
erfolgreichen Betrieben. Bei 39,4 Prozent der Betriebe
war im eigentlich nicht schlechten Wirtschaftsjahr
1997/98 die bereinigte Eigenkapitalbildung negativ. Das
heißt im Klartext - das ist hier schon einmal gesagt
worden -: Diese Betriebe haben von der Substanz
gelebt. Man braucht dies gar nicht als Kritik an der alten
Bundesregierung zu interpretieren. Vielmehr zeigt es
schlicht, daß die Grenzen der klassischen Agrarpolitik
erreicht sind.
Der Strukturwandel läßt sich schon lange nicht
mehr aufhalten. Ich füge hinzu: Wir sollten es auch gar
nicht versuchen. Der Agrarbericht zeigt: Es gibt in allen
Regionen eine wettbewerbsstarke Gruppe landwirtschaftlicher Betriebe, die sich in der Regel durch eine
wachsende Faktorausstattung und eine hervorragende
Betriebsführung auszeichnen. Im Zeichen der Marktorientierung, wie sie in der Agenda 2000 vorgesehen ist,
kommt es darauf an, durch eine entsprechende nationale
Agrarpolitik die wettbewerbsstarke Gruppe durch möglichst viele Betriebe zu vergrößern. Hierfür gibt es kein
Leitbild von der Stange. Die Agrarpolitik darf einzelne
Betriebs- und Rechtsformen nicht benachteiligen.
Wenn der Abgeordnete Carstensen vorhin ein Beispiel aus Nordfriesland brachte, wo angeblich ein bestimmtes Beuteltier gezüchtet wird, dann mag man darüber lachen, aber man kann bei ihm nie völlig ausschließen, daß auch etwas Ernstes dahintersteckt. Das Verhalten des betreffenden Bauern zeigt, daß er sich offensichtlich marktwirtschaftlich verhält; er produziert nämlich das, was er am Markt am besten losschlagen kann.
Das ist das Ziel.
({3})
In Schleswig-Holstein haben wir den höchsten Anteil
an Vollerwerbsbetrieben; sie bewirtschaften 87 Prozent
der landwirtschaftlich genutzten Fläche und haben
Schleswig-Holstein zu einer Spitzenregion gemacht. Das
gilt sowohl im Hinblick auf die Agrarstruktur als auch
im Hinblick auf die Produktivität und die Gewinne in
der Landwirtschaft. In Schleswig-Holstein haben die
Landwirte im letzten Wirtschaftsjahr einen Rekordgewinn erzielt. Es ist Ihnen vielleicht nicht unbekannt, daß
dort nicht die CDU regiert.
Ministerpräsidentin Simonis hat kürzlich in Molfsee
bei Kiel die Ausstellung über das schleswigholsteinische Expo-Projekt „Sicherung der Welternährung“ eröffnet. Sie hat dabei zu Recht herausgestellt,
daß nur die moderne nachhaltige Landwirtschaft eine
globale Ernährungssicherheit gewährleisten kann. Auf
der Expo 2000 zeigen wir Schleswig-Holsteiner, wie es
geht.
Ein entscheidender Punkt ist aus meiner Sicht die
hohe Ausbildungsleistung und der hohe Ausbildungsstand in der Landwirtschaft. Vor diesem Hintergrund
muß ich sagen, daß in der Landwirtschaft etwas sehr gut
klappt, was uns in der mittelständischen Wirtschaft sonst
einige Sorgen bereitet, nämlich der Technologietransfer. Hierzu trägt auch ein hochwertiges Netz landwirtschaftlicher Berater bei. Solche Aspekte sind es, die
meinen Optimismus in die Zukunftsfähigkeit der Landwirtschaft begründen.
({4})
Der agrarpolitische Kompromiß bei der Agenda 2000
bestärkt meine Zuversicht.
Ich möchte an dieser Stelle Bundesminister KarlHeinz Funke, der heute leider nicht hier sein kann,
ausdrücklich für seine umsichtige und erfolgreiche
Verhandlungsführung danken.
({5})
Dazu möchte ich einige Argumente nennen:
Als erstes sollten wir alle froh sein, daß die monatelange Diskussion endlich abgeschlossen ist. Es ist ein
unerträglicher Zustand, wenn das Politikrisiko größer ist
als das Marktrisiko. Jetzt sind die Eckpunkte bis zum
Jahre 2005 festgeklopft.
Als zweites möchte ich anerkennen, daß die europäischen Haushaltsmittel für den Agrarbereich gesichert
worden sind. Die vereinbarten Ausgleichszahlungen
sind jetzt planungsfest und damit betriebswirtschaftlich
besonders wertvoll.
Als drittes ist wichtig, daß die Marktanpassung mit
ihren Preissenkungen in zeitlich gestreckter Form erfolgt. Wir haben jetzt die Chance eines Gleitflugs in die
richtige Richtung. Diese Richtung heißt Marktorientierung, Vorbereitung auf die Osterweiterung und Aufbau
einer zweiten Säule der europäischen Agrarpolitik.
({6})
Zu dieser Richtung gibt es keine ernstzunehmende politische Alternative, Herr Carstensen.
({7})
Das haben die Diskussionen der vergangenen Monate
auch mit Ihnen deutlich gezeigt.
({8})
- Wir haben noch nie Probleme gehabt.
({9})
Auch der Deutsche Bauernverband hat seine Blokkadehaltung dankenswerterweise aufgegeben. Der Berufsstand erkennt nun an, daß die Berliner Beschlüsse
kein vorzeitiges Einknicken, sondern im Gegenteil eine
gute Ausgangsposition für die anstehenden WTOVerhandlungen sind, die es gemeinsam zu verteidigen
gilt. Die Haltung von Herrn Sonnleitner ist in den eigeMinister Klaus Buß ({10})
nen Veröffentlichungen nachlesbar. Diese sollte man
natürlich hin und wieder lesen.
Lassen Sie mich noch etwas zur sogenannten zweiten
Säule der europäischen Agrarpolitik sagen. Hiermit ist
die neue Verordnung zur Entwicklung der ländlichen
Räume gemeint. Sie ermöglicht eine integrierte Förderung, die die multifunktionale Rolle der Land- und
Forstwirtschaft in den Mittelpunkt stellt.
Für die Länder heißt das konkret: Wir können auch in
Zukunft unsere bewährten Förderprogramme mit europäischer Unterstützung fortsetzen.
({11})
Ich denke zum Beispiel an die einzelbetriebliche Investitionsförderung, die Agrarumweltprogramme und die
Förderung des ökologischen Landbaus. Zusätzlich können wir auch Neuland betreten, etwa bei der Fortschreibung unserer Dorfentwicklungsmaßnahmen oder bei der
Verbesserung der Infrastruktur für den ländlichen Tourismus.
Kollege Buß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schindler?
Klaus Buß, Minister ({0}): Ich bin
knapp dran, aber bitte.
({1})
Herr Minister, im
Parlament wird immer - man kommt sich fast mißbraucht vor - der Deutsche Bauernverband zitiert. Das
ist vorhin schon einmal passiert, jetzt wieder. Es wird
gesagt, daß der Deutsche Bauernverband - so wird es
herausgestellt - die Beschlüsse von Berlin lobt. Das hat
auch der Fraktionsvorsitzende der Grünen bereits getan.
Wenn man herausstellt, daß der Vorschlag von Herrn
Funke im ersten Agrarkompromiß noch einmal auf
Druck der Franzosen nachgebessert wurde und wir nur
noch 2,5 Milliarden DM Verluste haben, und wenn das
dann so umgemünzt wird, daß es heißt, wir begrüßen
das, dann halte ich das für eine unverschämte Fehlinterpretation.
Haben wir als Deutscher Bauernverband - das ist
meine nächste Frage - je begrüßt, daß man jetzt im
Haushalt bis zu 1 Milliarde DM für die agrarische Unterstützung streichen will? Hat das die CDU/CSUFraktion je begrüßt? Haben wir je das Zurücknehmen
der Bundeszuschüsse für die Berufsgenossenschaft begrüßt? Haben wir die Verluste in Höhe von über 2 Milliarden DM bei der Steuerbelastungsreform begrüßt?
Herr Minister, ist es fair, so immer wieder als Zeuge
in Anspruch genommen zu werden?
Klaus Buß, Minister ({0}): Ich weiß
nicht, so lange habe ich gar nicht zu diesem Punkt geredet. Ich habe lediglich Herrn Sonnleitner sinngemäß
zitiert, der vor einiger Zeit gesagt hat, daß er die Berliner Beschlüsse für eine gute Grundlage hält, um in die
WTO-Verhandlungen zu gehen. Nicht mehr und nicht
weniger habe ich gesagt, und das ist nachlesbar.
({1})
Leider ist die zweite Säule von ihrer Finanzausstattung her noch ein zartes Pflänzchen. Um so wichtiger ist
es, so meine ich, sorgsam mit ihr umzugehen und für ein
gutes Gedeihen zu sorgen. Die Agrarminister der Länder
werden sich am nächsten Dienstag mit Bundesminister
Funke treffen - ich hoffe, daß er dann wieder gesund ist
- und über die Hausaufgaben reden, die nach dem
Agendabeschluß umgesetzt werden müssen.
Obenan steht natürlich die Ausgestaltung der Milchquotenregelung. Die Milchbeschlüsse in der Agenda
wirken auf den ersten Blick positiv für die Landwirte.
Die Reform ist auf das Jahr 2005 verschoben worden,
erst dann sollen die Marktordnungspreise in drei Schritten gesenkt werden. Aber die Kehrseite der Medaille ist:
Auf diese Weise ist die Quotenregelung bis 2008 verlängert worden. Das ist für die Planungen gerade der
Jungbauern, die investieren wollen, schlecht. Ich bin mir
sehr sicher, daß wir eine Regelung finden werden, die
nicht Schall und Rauch ist, Herr Deß, sondern sehr vernünftig sein wird. Die Mehrzahl der Länder wird eindeutig für eine möglichst unbürokratische und marktwirtschaftliche Lösung eintreten. Wir müssen für unsere
Bauern so schnell wie möglich Klarheit erzielen.
Lassen Sie mich zum Schluß einen Punkt aufgreifen,
auf den Sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages
unmittelbar Einfluß haben - er ist hier auch schon angesprochen worden - und der aus meiner Sicht für die
Umsetzung der Agenda 2000 in Deutschland von entscheidender Bedeutung ist. Ich meine damit die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ in Verbindung mit der
schon erwähnten zweiten Säule der europäischen Agrarpolitik. Es ist wohl nicht übertrieben, diese Gemeinschaftsaufgabe als Vorbild für die zweite Säule der europäischen Agrarpolitik zu bezeichnen, und zwar sowohl
hinsichtlich der Inhalte als auch hinsichtlich der charakteristischen Mischfinanzierung. Aus meiner Sicht ist die
Gemeinschaftsaufgabe das zentrale Instrument für eine
erfolgreiche Etablierung der zweiten Säule in Deutschland. Die meisten Länder können ohne die Gemeinschaftsaufgabe keine zweite Säule aufbauen, weil die
Landesmittel allein schlicht nicht zur Kofinanzierung
der EU-Gelder ausreichen.
Herr Carstensen hat natürlich recht, wenn er darauf
hinweist, daß Schleswig-Holstein nicht alle Mittel abgerufen hat. Wir haben nur die Mittel abgerufen, die wir
abrufen konnten. Das werden wir auch weiterhin tun.
Ich hoffe zwar, daß es mehr wird. Aber dieses Geld fehlt
natürlich nicht nur im Bereich der Agrarwirtschaft, sondern auch im Bereich des Küstenschutzes, besonders für
die Ostsee. Das muß man deutlich sehen.
Zweifellos müssen wir die Gemeinschaftsaufgabe inhaltlich verschlanken und weiterentwickeln. Zentrale
Ansatzpunkte sind im Koalitionsvertrag genannt. Aber
unzweifelhaft ist auch, daß der Finanzrahmen der GeMinister Klaus Buß ({2})
meinschaftsaufgabe erhalten bleiben muß. Nur so kann
der Bund seine koordinierende Funktion bei der Förderung der ländlichen Räume behalten. Ich weiß, daß
Bundesminister Funke das ganz genauso sieht. Er hat es
mir erst vor kurzem gesagt. Ich bitte Sie alle sehr herzlich, ihn in diesem Punkt besonders bei den Haushaltsberatungen intensiv zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen
Sie auch mich zunächst auf meine Vorredner eingehen.
Als erstes hat der Parlamentarische Staatssekretär
Gerald Thalheim hier festgestellt, daß er weiß, was er
weiß. Das will ich Ihnen gar nicht bestreiten. Aber hoffentlich wissen Sie, Herr Thalheim, immer, was Sie tun.
Ich habe hier einen Zeitungsartikel vorliegen, den ich
Ihnen nachher gerne geben kann. Dieser Artikel ist nicht
vor irgendeiner Wahl erschienen, wenn man die Hessenwahl außer acht läßt. In diesem Artikel wird Herr
Thalheim mit dem Satz zitiert, daß die Gasölbeihilfe
und die Berufsgenossenschaftsmittel in vollem Umfang gerettet seien. Er hat dies auch hier im Parlament
gesagt. Was gilt denn jetzt eigentlich? Der hier vorliegende Zeitungsartikel stammt vom 16. Februar dieses
Jahres.
({0})
Kurze Zeit später, nach den hessischen Landtagswahlen,
werden die Mittel für die Berufsgenossenschaften gekürzt, obwohl Herr Thalheim hier dafür eingetreten ist,
daß die Berufsgenossenschaftsmittel nach der Agenda
2000 - in einer ganz schwierigen Situation für die
Landwirtschaft - unbedingt erhalten werden müssen.
({1})
Was ist aus der Gasölbeihilfe geworden? Ich habe
heute keine Aussage - komischerweise auch nicht von
Ihnen, Herr Buß - über die Gasölbeihilfe gehört. Wenn
Sie hier schon über die Interessen der schleswigholsteinischen Landwirtschaft referieren - das erachte
ich für sehr sinnvoll -, muß ich fragen, warum Sie nicht
ein Wort zur Gasölbeihilfe gesagt haben. Wird hier
der nächste Anschlag auf die deutsche Landwirtschaft
geplant?
Zur Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft habe ich von Ihnen, Herr Thalheim, eine ganz interessante
Aussage gehört, nämlich daß wir angeblich in unserer
Wettbewerbsposition ungeheuer gestärkt worden seien.
Gestern haben die Professoren etwas ganz anderes dazu
gesagt. Diese Professoren sind hier schon zitiert worden.
Ich möchte Frau Ulrike Höfken nur raten, etwas vorsichtiger zu sein, wenn sie sich auf Herrn Wolfram
bezieht. Ich bin der Meinung, daß ihr dann, wenn ihr
davon ausgeht, daß sich die bisherigen Tendenzen fortsetzen, nicht der Agenda 2000 hättet zustimmen und sie
verabschieden dürfen.
Im übrigen - das sage ich einmal ganz klar -: Wenn
man die Kritik aufnähme, gäbe es in Deutschland keine
Landwirtschaft mehr.
({2})
Ich dachte immer noch, daß wir das in diesem Hause
gemeinsam verhindern wollten.
Sie haben zur Gasölbeihilfe nichts gesagt. Was ist da
denn schon wieder geplant? Warum hört man hier von
keinem Koalitionsredner etwas? Vielleicht wird ja der
Koalitionsredner, der nach mir spricht, noch etwas dazu
sagen.
({3})
Ich muß wohl gestern auch auf einer anderen Veranstaltung gewesen sein.
({4})
Peter Harry Carstensen hat das hier schon ausgedrückt.
Selbst die sozialdemokratisch regierten Länder haben
dort ausgeführt, daß die Agenda 2000 im Bereich Rindfleisch kaum zu administrieren ist. Sie haben von dem
Anlastungsrisiko für die Länder und für die einzelnen
Betriebe gesprochen, das in dem Bereich herrscht. Herr
Backhaus, Sie waren selbst da. Ich glaube, Sie haben es
sogar mit gesagt. Das Ganze wird so kompliziert gestaltet, daß alleine die Einrichtung eines EDV-Programms
in Bayern 18 Millionen DM kosten wird.
Ich sage Ihnen schon heute, da werden auch Mittel
für eine aktive Gestaltung der Agrarpolitik entzogen;
manchmal hat man ja den Eindruck, daß es heute in der
Agrarpolitik darum geht. Mir hat neulich einmal ein
Landwirt gesagt: Mein Vater war Bauer, ich bin Landwirt, und mein Sohn hat höchstens noch eine Chance,
Agrarbürokrat zu werden. Wenn das die Perspektiven
sind, die Sie hier vermitteln, dann sind es schlimme Perspektiven für die deutsche Landwirtschaft.
({5})
Herr Kollege Ronsöhr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Heinrich?
Bitte,
gerne, dann kann ich solange trinken.
Lieber Herr Kollege Ronsöhr, Sie haben gerade Professor Wolfram zitiert bzw.
die Aussage gegenüber seiner Person gemacht: Wenn
das die Agrarpolitik wäre, gäbe es heute keine Landwirtschaft mehr. Frage: Sind Sie nicht mit mir der Meinung,
daß es Aufgabe der Wissenschaft ist, Fehlentwicklungen
Minister Klaus Buß ({0})
der Politik aufzudecken und ihre negativen Auswirkungen bei Anhörungen schonungslos darzustellen?
Selbstverständlich ist das eine Aufgabe der Wissenschaft.
Aber alle anderen Wissenschaftler haben ausgesagt, daß
die Landwirtschaft in Deutschland auf keinen Fall unter
Weltmarktbedingungen existieren kann.
({0})
Wenn ich das mit den Ausgleichszahlungen so kritisiere: Wir sind hier dafür eingetreten, daß die Landwirte
vor allem über Marktpreise ihr Einkommen erzielen.
Das ist aber bei der Agenda 2000 von dieser Bundesregierung nicht durchgesetzt worden.
Nun halte ich zwar diese Politik, die Bundesminister
Funke dort gefahren ist, für sehr katastrophal, aber ich
muß doch heute die Realitäten erkennen. Ich muß erkennen, daß wir in der Politik jetzt leider mit dieser
Agenda 2000 umgehen müssen.
({1})
- Nein, ich habe eine Zwischenfrage gestattet. Ich bitte,
jetzt keine zweite mehr zu stellen.
Ich muß doch feststellen, daß es kaum Alternativen
gibt. Wenn ich dem Landwirt jetzt die unzureichenden
Ausgleichszahlungen auch noch nehme, wie können wir
dann überhaupt noch Existenzsicherung betreiben? Natürlich müssen wir die Landwirtschaft wettbewerbsfähiger machen. Das ist von vielen Rednern zum Ausdruck
gekommen. Deswegen wirkt eine Kürzung oder Streichung der Gasölbeihilfe so verheerend. Sie wirkt doch
wirklich verheerend; denn die Franzosen bezahlen überhaupt keine Mineralölsteuer. Unsere Landwirte werden
unter dieser Koalition ständig mit Mineralölsteuererhöhungen konfrontiert. Sie bekommen dann nicht einmal
mehr die Gasölbeihilfe, die sie vorher immer bekommen
haben.
({2})
Ich kann nur unterstützen, was Herr Thalheim hier
gesagt hat. Ich kann es Ihnen vorlesen. Herr Thalheim
ist für die Beibehaltung der Gasölbeihilfe und für die
vollständige Beibehaltung der Berufsgenossenschaftsmittel eingetreten. Setzen Sie es doch bitte um, Sie bekommen von uns dann Rückenstärkung! Wir sind gerne
bereit, Sie zu stärken.
Was ist denn bei der Agenda 2000 zitiert? Herr Buß,
Sie haben hier davon gesprochen, daß Sie einen gemeinsamen Beschluß zwischen Bund und Ländern geschaffen haben. Nur, wer ist denn von dieser Gemeinsamkeit
abgerückt? - Diese Bundesregierung, Herr Thalheim
und Herr Minister Funke.
Herr Minister Funke hat damals davon gesprochen,
daß es, wenn die Agenda 2000 auch nur teilweise umgesetzt werde, einen Kahlschlag im ländlichen Raum gebe.
({3})
Ich kann ihm da folgen. Nur, wer ist jetzt eigentlich der
Holzfäller? Das ist Karl-Heinz Funke neben Fischler
und einigen anderen; das muß hier doch einmal ganz
deutlich gesagt werden.
({4})
Meine Damen und Herren, wo bleiben denn nun die
Perspektiven, die diese Bundesregierung den Bauern
aufzeigt? Ich bedaure ja sehr, daß Karl-Heinz Funke
heute nicht anwesend ist. Ich will das nicht kritisieren.
({5})
- Ich habe ihn nicht kritisiert, und ich wollte ihn auch
nicht kritisieren. Ich bitte Sie, einmal zuzuhören.
Wenn Herr Minister Funke hier das Wort ergriffen
hat, dann hat er weder darüber gesprochen, wie die Zielsetzung seiner Agrarpolitik aussieht, noch darüber, wie
sich die Agrarpolitik in Deutschland und in Europa
weiterzuentwickeln hat. Es geht doch jetzt auch um die
konkrete Ausgestaltung der Agenda 2000, um das innere
Regime dieser Agenda 2000. Wir möchten wissen, was
eigentlich mit dem passiert, was in Berlin festgelegt
worden ist. Zuvor hat man in Brüssel unter der Regie
von Karl-Heinz Funke beschlossen, daß es beim Rindfleisch keine Interventionen mehr geben soll. In Berlin
hat man dagegen von Ad-hoc-Interventionen gesprochen. Gibt es sie, oder gibt es sie nicht? Wie wird denn
jetzt intern ausgestaltet?
Zur internen Ausgestaltung des Milchquotenregimes
ist faktisch gar nichts gesagt worden. Jeden Tag wird der
Bauer in Deutschland mit einer neuen internen Ausgestaltung des Milchquotenregimes durcheinandergebracht. Bei uns in Niedersachsen - ich sage das jetzt für
Niedersachsen, weil ich es für andere Teile Deutschlands nicht nachvollziehen kann - steigen die Quotenpreise deswegen ganz extrem. Die Bauern werden ständig verunsichert; sie wollen jetzt aber endlich Sicherheit
haben. Dazu sagt die Regierung kein Wort.
Zwar hat es auch früher Unsicherheiten gegeben.
Allerdings war die Agenda 2000 die einzige Chance, in
diesen Bereich wieder Sicherheit hineinzubringen und
Fehlentwicklungen bei der Milchquote abzubauen. Dies
haben Sie ständig angekündigt. Aber Sie haben sich
schon bei den Verhandlungen nicht durchgesetzt, und
heute ist von der Koalition nichts dazu gesagt worden.
Es geht hier doch um Fragen, die wir zu stellen und
gemeinsam zu beantworten haben.
Der Bauernverband, den Sie immer zitieren, hat ein
Modell vorgelegt. Wo bleibt das Modell dieser Bundesregierung? Wo bleibt eine gewisse Planungssicherheit
für die Landwirte? Frau Wolff, ich rufe Ihnen in Erinnerung, daß gestern bei der Anhörung überhaupt nicht über
Planungssicherheit gesprochen wurde. Die meisten Beschlüsse im Rahmen der Agenda 2000 laufen im Jahre
2006 aus. Wie kann ich angesichts dessen von PlanungsUlrich Heinrich
sicherheit sprechen, wenn ich in meinen landwirtschaftlichen Betrieb investieren will? Ich glaubte immer, daß
ich Investitionen für einen längeren Zeitraum und nicht
für einen Zeitraum von nur fünf oder sechs Jahren tätige.
Planungssicherheit ist hier doch nicht gegeben.
({6})
Hinzu kommt dann noch eine hausgemachte Verunsicherung. Früher haben wir auf den bäuerlichen Betrieben mit vom Eingemachten gelebt. Heute geht es bei
Rotgrün nicht mehr nur an das Eingemachte, sondern
ganz massiv an die Substanz der Bauern. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die Vorsteuerpauschale:
Ihr habt sie vor der Wahl gemeinsam mit uns auf
10 Prozent erhöht, Gerald Thalheim. Nach der Wahl
wird sie auf 9 Prozent, jetzt möglicherweise auf 8 Prozent gesenkt. Hätten wir das gemacht, hättest du von
dieser Stelle aus von Wahlbetrug gesprochen. Ich tue
dies nicht; aber ihr solltet euch einmal überlegen, was
ihr dort tut. Es wird immer weiter gekürzt. Das bringt
doch keine Sicherheit in den Wettbewerb, dem sich die
bäuerlichen Betriebe zu stellen haben.
Jetzt wird deutlich, daß die Agenda 2000 offenbar
nicht reicht. Ich habe hier eine Pressemitteilung, die
über das berichtet, was Karl-Heinz Funke vor dem Mälzerbund gesagt hat. Nach diesem Bericht geht er davon
aus, daß die Preise für landwirtschaftliche Rohstoffe
noch weiter sinken würden. Ich hatte sogar den Eindruck, daß er die Auffassung vertrat, sie müßten weiter
sinken, weil die Mälzer möglichst günstig an Rohstoffe
herankommen wollen. Er hat natürlich gewußt, vor wem
er dort spricht. Nur, ob das der Interessenlage der deutschen Bauern entspricht, wagen wir wohl alle zu bezweifeln, wenn wir mit den Bauern in diesem Lande
noch ehrlich umgehen.
({7})
Ich kann nur sagen: Führt die Agrarpolitik endlich
einmal aus der Flickschusterei heraus. Ihr reißt Löcher
im Haushalt auf, und die deutschen Bauern müssen
dafür geradestehen.
({8})
Lest doch einmal den Bundesbankbericht: Ihr habt die
30 Milliarden DM doch ausgegeben, über die ihr hier
gesprochen habt. Jetzt müssen die Bauern dafür geradestehen. Das kann nicht sein.
In einer Zeit, in der ihr diese Bauern mit großen Belastungen durch die Agenda 2000 konfrontiert, wäre es
wichtig, daß sich die Bauern zumindest national wieder
auf eine zuverlässige Politik verlassen können. Aber
offenbar sind sie bei Rotgrün nur verlassen, weil die jetzige Bundesregierung zumindest im agrarpolitischen
Bereich unzuverlässig ist
({9})
und weil sich die Agrarpolitik von Minister Funke nur
darauf beschränkt, Rabattgeber für die agrarpolitische
Unvernunft der grünen und der roten Fraktion zu sein.
Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben. Herr
Schwanhold, auch Ihnen vielen Dank. Es mußte Ihnen
einmal gesagt werden, was für eine Politik Sie betreiben.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Heino Wiese. Wie ich gehört
habe, ist es seine erste Rede.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon etwas
Besonderes, das erste Mal im Deutschen Bundestag zu
reden. Ich finde das sehr spannend, und ich bin ein bißchen aufgeregt. Dennoch sollte ich ein bißchen ruhiger
als Herr Ronsöhr reden,
({0})
weil ich diese Temperamentsausbrüche nicht nachvollziehen kann. Es ist mir immer wieder ein Rätsel, wie
man sich über eine Politik, die in großen Teilen schon
von der alten Regierung in die Wege geleitet worden ist,
so erregen kann.
Was die Planungssicherheit betrifft, Herr Ronsöhr:
Diese Planungssicherheit ist zumindest im letzten Jahr
deutlich größer geworden, auch wenn sie vielleicht noch
nicht optimal ist.
({1})
Wollen Sie
gleich eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ronsöhr
beantworten?
Ich möchte in meiner ersten Rede keine Zwischenfragen beantworten. Das
bringt mich nur durcheinander.
({0})
Ich möchte mich in meinem Beitrag zum Agrarbericht der Bundesregierung mit der Entwicklung des
ländlichen Raumes beschäftigen. Der Strukturwandel
in der Landwirtschaft vollzieht sich schrittweise im
Zuge des Generationenwechsels. Die gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit führt zu einem immer geringeren Beschäftigungsgrad in der Landwirtschaft, und zwar nicht
erst seitdem wir an der Regierung sind, sondern schon
etwas länger. Von 1960 bis 1998 sind 3,6 Millionen
Arbeitsplätze weggefallen, und über 1 Million Betriebe
wurden aufgegeben. Heute sind nur noch etwa 2 Prozent
der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft
tätig. Die Zahl, über die wir hier reden, ist also gar nicht
so groß. Auch im Agrarsektor ist Rationalisierung eine
Folge des immer stärkeren Wettbewerbes. Unsere
Landwirte machen eine hervorragende Arbeit mit außerordentlichen Produktivitätssteigerungen.
({1})
Man könnte in diesem Zusammenhang vielleicht sogar
sagen: Vielleicht arbeiten sie sogar ein wenig zu gut.
Ökonomische Nachhaltigkeit durch wettbewerbsfähige Betriebe ist unter regionalpolitischen Gesichtspunkten nur die eine Seite der Medaille. Die Landwirtschaft hat ohne Zweifel als erste Aufgabe, möglichst
kostengünstig und umweltverträglich Nahrungsmittel zu
produzieren.
({2})
- Das tut sie an vielen Stellen.
Ein nicht hoch genug zu bewertender Beitrag der
Landwirtschaft für die Gesellschaft ist aber auch in der
Erhaltung der historisch gewachsenen Kulturlandschaft
zu sehen. Das abwechslungsreiche Nebeneinander von
Ackerflächen, Wald, Bauernhöfen und Weiden ist das
Spiegelbild der Lebensbedingungen unserer Vorfahren.
Dies soll auch so bleiben.
Die Entwicklung ländlicher Räume soll zu einer
zweiten Säule der gemeinsamen Agrarpolitik werden.
Das ist in der Agenda 2000 festgelegt worden. Über
8 Milliarden DM jährlich werden von der EU in den
nächsten sieben Jahren für die Entwicklung der ländlichen Räume ausgegeben. Natürlich ist das nicht hinreichend, aber auf der anderen Seite kann man damit auch
schon eine ganze Menge bewegen.
Die Leitlinien einer neuen ländlichen Entwicklungspolitik sind Dezentralisierung und Flexibilisierung. Die Länder sind aufgefordert, ihre Vorschläge für
Entwicklungsprogramme für den ländlichen Raum vorzulegen.
({3})
- Das will ich gar nicht bestreiten. - Sie können dabei
aus dem Menü, das die neue Verordnung zur ländlichen
Entwicklung anbietet, entsprechend ihren Bedürfnissen
auswählen. Dabei ist es eine deutliche Vereinfachung,
daß die bisher neun Verordnungen zu einer einzigen
Verordnung zusammengefaßt wurden. Zu den geförderten Maßnahmen gehören zum einen Investitionen
für landwirtschaftliche Betriebe zur Verbesserung der
Betriebsführung, Investitionen zur Verbesserung der
Hygiene und des Tierschutzes, alternative Vermarktungsformen von Agrarprodukten, Weiterbildungsmaßnahmen und Niederlassungsbeihilfen für Jungbauern.
Daneben können auch Vorruhestandsregelungen, Unterstützung von Dorferneuerungsprogrammen sowie Maßnahmen des Natur- und Umweltschutzes gefördert werden.
({4})
- Es hätte mich gewundert, wenn ich heute keinen Zwischenruf von Ihnen gehört hätte, Herr Hornung. Als junger Abgeordneter liest man ja zur Vorbereitung, was im
vergangenen Jahr zum Agrarbericht gesagt worden ist.
Ich habe in der damaligen Debatte 29 Zwischenrufe des
Kollegen Hornung zählen können.
({5})
Es waren aber nicht unbedingt Zurufe, aus denen ich
etwas lernen konnte.
({6})
Grundsätzlich sollen die Fördermaßnahmen der
zweiten Säule künftig nicht ausschließlich auf die
Landwirtschaft fokussiert werden, sondern die gesamte
wirtschaftliche und soziale Dimension der ländlichen
Räume berücksichtigen.
Im übrigen gab es in der 70er Jahren während der
Ölkrise in Frankreich den Spruch: On n'a pas de petrol,
mais on a des idées. Das heißt soviel wie: Wir haben
zwar keinen Sprit, aber wir haben gute Ideen. Dies sollte
man in den Zeiten der knappen Kassen berücksichtigen.
Gute Ideen sind immer in der Lage, fehlende Subventionen zu ersetzen.
An dieser Stelle muß ich sagen, daß ich immer sehr
erstaunt bin, wenn Herr Heinrich über Wettbewerb und
Wettbewerbsfähigkeit redet, aber dabei eigentlich die
Erhöhung von Steuersubventionen meint.
({7})
Ich denke, daß wir gute Ideen brauchen. Deshalb begrüße ich sehr, daß das Landwirtschaftsministerium ein
Expoprojekt aufgelegt hat, in dem zwölf ausgewählte
deutsche Dörfer ihre Ideen zum idealen Dorf 2000 zusammengetragen haben. Gute Beispiele sind immer der
erfolgreichste Weg zur Verbesserung der Verhältnisse.
Ich möchte zum Abschluß noch ein paar Dinge zu
Herrn Carstensen sagen. Er ist nicht mehr hier.
({8})
Herr Carstensen, von Ihnen habe ich heute und auch gestern schon eine Menge gelernt. Zum einen haben wir
eine Vorstellung von der nordfriesischen Demokratie
bekommen: Die 4 Prozent, die ihn noch nicht wählen,
bekommen wir auch noch heraus. Zum anderen hat er
mir gestern erzählt, daß man als Landwirt eines lernen
müsse: jammern ohne zu leiden. Das beherrschen so
manche Landwirte doch sehr gut.
({9})
Deshalb ist es dann weniger glaubwürdig, wenn diejenigen, die wirklich leiden, ihre Argumente vorbringen.
Zum Abschluß eine kleine Geschichte, die mir aufgefallen ist.
Herr Kollege,
auch bei ganz großzügiger Auslegung Ihrer Redezeit:
Eine ganze Geschichte dürfen Sie jetzt nicht mehr
erzählen.
({0})
Es ist ein ganz kurzes Zitat, das ich Ihnen aus einer Debatte der 13. WahlHeino Wiese ({0})
periode vorlesen möchte. Da sagte Herr Carstensen, von
dem ich immer dachte, er sei ein Mann, der zu seinem
Wort steht:
Schröder hat bei der Vorstellung seiner Kernmannschaft nicht einmal Andeutungen über die Besetzung eines eigenständigen Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten gemacht. Ich
verwette mein volles Haupthaar, daß wir im Herbst
dieses Jahres keinen SPD-Landwirtschaftsminister
haben werden.
Ich sehe nicht, daß er sein Haupthaar geopfert hat.
Danke schön.
({1})
Herr Kollege,
der Beifall hat Ihnen schon gezeigt, daß Ihnen das ganze
Haus zu Ihrer ersten Rede gratuliert.
({0})
Ich weiß aus eigener Erfahrung: In Agrardebatten gibt es
nicht nur besonders viele Zurufe, sondern da wird auch
besonders viel geduzt.
({1})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/347 und 14/348 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen
14/1155, 14/1156 und 14/1158 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 sowie Zusatzpunkt 5
auf:
5. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Michael Luther, Dr. Angela Merkel, Ulrich
Adam, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der beruflichen Rehabilitation der Opfer politischer Verfolgung im
Beitrittsgebiet ({2})
- Drucksache 14/1001 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
({3})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
ZP5 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze
- Drucksache 14/1165 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Dr. Michael
Luther.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute ist der
17. Juni 1999. Vor 46 Jahren, am 17. Juni 1953, forderten Arbeiter, Angestellte, Bauern und auch Studenten
in der damaligen DDR Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und soziale Gerechtigkeit. Warum ist dieser 17. Juni für
uns noch heute von so großer Bedeutung? Der 17. Juni
war Höhepunkt und Ende des ersten Versuches, das
SED-Regime im Osten Deutschlands zu beseitigen.
Erinnern wir uns: Vorausgegangen war der Tod Stalins am 5. März 1953. Hierdurch geriet das politische
System der damaligen DDR in Bewegung. Es kursierten
Gerüchte, daß Walter Ulbricht abgelöst werden soll. Die
innenpolitische Situation der DDR war durch schlechte
Versorgung mit Lebensmitteln, staatlichen Terror und
willkürliche Verhaftungen geprägt. Hinzu kam eine vom
Ministerrat Ende Mai 1953 beschlossene allgemeine Erhöhung der Arbeitsnormen, was erhebliche Unruhen
hervorrief und die Fluchtbewegung aus der DDR verstärkte.
Auch wenn ein neuer Kurs und wirtschaftliche Zugeständnisse verkündet wurden: Am 16. Juni 1953 streikten und demonstrierten Bauarbeiter in der Ostberliner
Stalinallee, dem Vorzeigeobjekt in Berlin. Daraus entwickelte sich dann am 17. Juni der Arbeiteraufstand in
der gesamten DDR, in dessen Verlauf es in mehr als 250
Orten - darunter in allen Industriezentren - zu Streiks
und Demonstrationen kam. Rund 10 Prozent der Arbeiter haben sich damals an diesem Aufstand beteiligt.
Die SED war der innenpolitischen Situation nicht
mehr Herr und hat deshalb die sowjetischen Truppen
aufgefordert, diesen Aufstand niederzuschlagen, was
diese dann auch getan haben. Der Aufstand forderte
viele Todesopfer. Hiernach erfolgte eine Verhaftungswelle. Rund 1 200 Menschen wurden verhaftet.
Meine Damen und Herren, nach dem Selbstverständnis der DDR verkörperte sich im Staat die Herrschaft
des Volkes. Kritik und Opposition richteten sich demnach gegen das Volk und mußten entsprechend verfolgt
werden. Auf diese Weise wurde Opposition kriminalisiert. Nicht nur der politischen Opfer des 17. Juni ist
heute zu gedenken, sondern es ist an die politischen Opfer des DDR-Regimes insgesamt zu erinnern. Denn die
Betrachtungsweise, daß Opposition kriminell ist, zieht
sich durch die gesamte Zeit der SED-Herrschaft. Sie
prägte das politische und gesellschaftliche Verständnis
der Mitglieder der SED.
Für Oppositionelle, auch wenn sie sich nur in einem
ganz geringen Maße gegen das Regime wandten und es
in nur geringem Maße kritisierten, war das mit verheerenden Folgen verbunden: Sie wurden politisch verfolgt
und inhaftiert. Ihre Lebensbiographie war von Diskriminierung und Ausgrenzung gekennzeichnet. Das waren
Heino Wiese ({0})
nicht wenige. Wir wissen heute, daß weit über 100 000
Menschen in der DDR politisch verfolgt wurden. Deshalb haben wir in der Vergangenheit das Strafrechtliche-,
das Berufsrechtliche- und das Verwaltungsrechtliche
Rehabilitierungsgesetz beschlossen. Diese drei Gesetze
bringen zum Ausdruck, welch vielfältige Nachteile Oppositionelle im Zuge politischer Verfolgung in der DDR
hinnehmen mußten.
Ich gestehe ein: Die bisherigen Rehabilitierungsgesetze können nicht alle Probleme lösen. Deshalb ist es
richtig, daß wir über Nachbesserungen nachdenken. Ich
freue mich darüber - das sage ich an dieser Stelle unverblümt -, daß sich die jetzige Bundesregierung vorgenommen hat, auch hier etwas zu tun und zum Beispiel
eine Haftentschädigung in Höhe von 600 DM für alle
einzuführen.
({1})
Was mich allerdings wundert, ist - diese Bemerkung
sei an dieser Stelle gestattet -: Es gab zur ersten Sitzung
des Bundestages in Berlin im umgebauten Reichstagsgebäude eine Regierungserklärung. Heute gibt es wieder
nur einen Antrag; der Gesetzentwurf liegt noch immer
nicht vor. Darauf warten wir noch. Wir werden, wenn
der Gesetzentwurf vorgelegt wird, diesen Überlegungen
nicht entgegenstehen und konstruktiv mitarbeiten.
Ich will aber auf folgenden Punkt aufmerksam machen: Ein zentrales Problem von Opfern politischer Verfolgung lösen wir mit den Überlegungen der Bundesregierung nicht. Das Strafrechtliche-, das Verwaltungsrechtliche- und das Berufsrechtliche Rehabilitierungsgesetz versuchen jeweils, einzelne Benachteiligungen auszugleichen. So versuchen wir zum Beispiel seit Jahren,
dem Problem der Anerkennung von gesundheitlichen
Haftschäden Herr zu werden. Es ist aber schwierig,
dramatische psychologische Haftschäden zu fassen.
Wie können wir zum Beispiel benachteiligte Lebensschicksale von verfolgten Schülern ausgleichen?
Wir gleichen Rentenzeiten für den Zeitpunkt der Verfolgung aus und versetzen die Opfer in den Stand, als wären sie beruflich nicht zurückgesetzt worden. Aber was
gerade bei verfolgten Schülern besonders deutlich wird,
ist, daß man keine hypothetischen Lebensbiographien
zeichnen kann. So geht es Schülern, die damals politisch
verfolgt wurden, heute schlechter, als hätten sie sich
unter freiheitlich-demokratischen Verhältnissen entwikkeln können.
Hinzu kommt: Wer einmal als politisch Verfolgter
stigmatisiert war, war für sein ganzes Leben gekennzeichnet. Er hatte es schwer, Arbeit zu finden. Es war
für ihn schier unmöglich, eine qualifizierte Ausbildung
zu bekommen oder abzuschließen. Damit sind sowohl
die Rentenbiographien - wenn ich beim Thema Rente
bleiben darf - als auch das Einkommen derjenigen, die
heute noch keine Rentner sind, wesentlich schlechter als
die derjenigen, die sich systemkonform verhalten haben.
Weder das Strafrechtliche- noch das Verwaltungsrechtliche-, noch das Berufliche Rehabilitierungsgesetz
konnten dieses Problem bislang umfänglich lösen.
Vergleicht man aber auf der anderen Seite die Situation der Täter, dann zeigt sich, daß diese durch ihre besondere Systemnähe in der DDR ein hohes Einkommen
hatten, was heute in der Regel zu einer guten Rente
führt. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem
Punkt jüngst noch einmal nachgebessert und festgestellt,
daß es sich hierbei um ein schützenswertes Eigentum
nach Art. 14 GG handelt. Das heißt, der Rentenanspruch
von Verantwortlichen, von Systemkonformen ist hoch,
der Rentenanspruch derjenigen, die politisch verfolgt
wurden, ist niedrig. Deshalb ist dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts für die politisch Verfolgten ein
besonderer Schlag ins Gesicht.
({2})
Gerade vor dem Hintergrund dieser Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes muß etwas für die Opfer
getan werden. Da hilft der Ansatz der jetzigen Koalition
nicht. Die Forderungen der Opferverbände nach einer
Ehrenrente werden gerade vor dem Hintergrund dieses
Verfassungsgerichtsurteils lauter - aus meiner Sicht zu
Recht.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat das Problem
der Nichtausgleichbarkeit von Lebensbiographien schon
in der letzten Legislaturperiode erkannt. Deshalb haben
wir § 8 des Berufsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes
geändert. Danach bekommen Opfer zusätzliches Einkommen, wenn es ihnen besonders schlechtgeht. Auch
wenn momentan eine Einkommensgrenze für diesen
Anspruch besteht, ist vom Grundansatz her dem Anliegen Rechnung getragen: Denjenigen, die politisch verfolgt worden sind, muß, weil es ihnen heute oftmals besonders schlechtgeht, ein zusätzliches Einkommen gewährt werden. Vor dem Hintergrund des jüngsten Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das den deutschen
Steuerzahler sehr viel Geld kosten wird, fordere ich deshalb diesen Anspruch für alle.
Ich glaube, daß der Ansatz, den die CDU/CSUBundestagsfraktion gewählt hat, einen Schritt in die
richtige Richtung darstellt. Es ist ein moderater Schritt,
und er ist bezahlbar. Es ist keine überhöhte Forderung.
Ich verstehe auch die andere Seite, die Opferverbände,
die unseren Gesetzentwurf kritisieren und sagen, die
Höhe der Ehrenrente - oder wie auch immer man das
bezeichnet - ist mit 200 oder 300 DM viel zu niedrig.
Aber das können wir in der parlamentarischen Beratung
noch besprechen, und vielleicht kommen wir zu einem
besseren Ergebnis.
Meine Damen und Herren, wir haben heute den
17. Juni 1999. Ich erinnere mich, Herr Hacker, an Ihre
Worte anläßlich eines Gespräches mit politischen Opfern in Ihrer Heimatstadt Schwerin. Sie sagten damals,
daß diese Koalition jetzt ein Abschlußgesetz in den
Bundestag einbringen will. Ich glaube, wir sollten dieses
Signal nicht aussenden. Es wird den 17. Juni nicht nur
1999, sondern auch 2000, 2001 und in den folgenden
Jahren geben. Ich meine, es ist mehr als notwendig, diesen Tag im Gedächtnis des deutschen Volkes zu bewahren.
({3})
Wir sollten an diesem Tag immer wieder daran erinnern, daß es eine Diktatur im Osten Deutschlands gab,
und wir sollten daran erinnern, daß es dafür Verantwortliche gibt. Die Menschen sind Erinnerungsoptimisten;
sie verfallen manchmal in DDR-Nostalgie. Aber bei allem Erinnerungswerten: Die DDR war eine Diktatur mit
einem Unterdrückungsapparat, die viele Menschen in
Stasi-Gefängnisse gebracht hat. Das gehört zur Wahrheit, und daran müssen wir erinnern.
({4})
Ich würde mir wünschen, daß wir jedes Jahr am
17. Juni im Deutschen Bundestag eine Debatte zu diesem Thema führen. Der 17. Juni hat gezeigt, daß des
Menschen hohes Gut Frieden und Freiheit sind. Die
politischen Opfer vom 17. Juni 1953, aber auch aus der
ganzen DDR-Zeit haben dafür gestritten. Sie waren
Kristallisationspunkt für die Wende vor zehn Jahren.
Diese Wende, die uns diese Debatte im Deutschen
Bundestag überhaupt erst ermöglicht, hat vor zehn Jahren - auch daran möchte ich erinnern - in Ungarn, in
Sopron, begonnen. Dort wurde das Loch in den Zaun
geschnitten.
Wir alle profitieren heute von der Lebensleistung dieser Menschen, die sich für Frieden und Freiheit eingesetzt haben. Deshalb ist es mir am heutigen Tage ein besonderes Anliegen, ihnen einen besonderen Dank zu sagen.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hacker.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute, am 17. Juni,
kann die Debatte im Plenum zu dem Gesetzentwurf der
CDU/CSU nicht geführt werden, ohne den historischen
Bezug zum 17. Juni 1953 herzustellen - ein Datum in
der deutschen Geschichte, das für Widerstand gegen
Diktatur und Gewalt und für Freiheit, Demokratie und
deutsche Einheit steht.
Am 17. Juni 1953 unterdrückten sowjetische Panzer
in Ostberlin und an anderen Orten der DDR den Volksaufstand gegen das Ulbricht-Regime. Erst im Herbst
1989 konnte erreicht werden, was am 17. Juni 1953 mit
Waffengewalt verhindert wurde. Das Scheitern des
SED-Regimes war die logische Konsequenz, weil es
sich von Anfang an auf Unfreiheit und Mißachtung der
bürgerlichen Rechte gründete.
Der Untergang der DDR war sicherlich auch das Ende einer Illusion - vor allen Dingen bei einigen Westdeutschen -, daß es mit der DDR vielleicht doch die
bessere Bundesrepublik Deutschland geben könnte.
Herr Luther, in der Bewertung der historischen Bedeutung des 17. Juni 1953 sind wir uns sicherlich einig.
Die Schlußfolgerungen, die wir ziehen, sind aber andere.
Wir sind dafür, daß wir jetzt handeln, daß wir schnell
handeln und daß wir denen, die sich um die Werte Freiheit, Demokratie, deutsche Einheit verdient gemacht haben, jetzt Hilfe anbieten.
({0})
Gegenüber den Opfern politischer Verfolgung in der
DDR haben wir die Pflicht, ihr Schicksal zu würdigen
und alles Mögliche zu tun, um ihre heutige Lebenssituation zu verbessern. Rehabilitierung und materielle Ausgleichsleistungen können nicht die Jahre der politischen
Haft, den Tod an der Berliner Mauer, die Schäden an der
Gesundheit und die beruflichen Benachteiligungen mildern oder ungeschehen machen. Die Opfer bzw. ihre
Angehörigen fordern jedoch zu Recht, daß die offensichtlichen Defizite in der Rehabilitierungsgesetzgebung
endlich beseitigt werden. Dies - das sage ich hier wie
auch in Schwerin - wird die jetzige Bundesregierung
leisten. Die Koalitionsfraktionen haben sich über den
Handlungsrahmen, der dazu notwendig ist, abgestimmt.
Wir werden alsbald einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einbringen; unser Antrag ist dafür die
Grundlage.
Ich möchte Sie, Herr Dr. Luther, daran erinnern, daß
Sie bis 1994 gebraucht haben, um die Anstöße, die die
letzte Volkskammer, wie Sie wissen, noch im September
1990 mit dem Rehabilitierungsgesetz gegeben hatte, im
Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz umzusetzen.
Ungefähr sieben Monate nach der Bundestagswahl streben wir an, Ihren Zeitplan deutlich zu unterschreiten.
Das kann ich Ihnen versprechen.
Wir alle tragen die moralische und geschichtliche
Verantwortung gegenüber dem Schicksal der Opfer des
SED-Regimes und halten die Zusagen ein, die die SPD
und insbesondere Bundeskanzler Gerhard Schröder den
Opfergruppen vor und nach der Wahl gegeben haben.
Wenn sich Diktatur - in welcher Form auch immer in Deutschland nicht wiederholen soll, ist dafür nicht
zuletzt die Auseinandersetzung mit dem Unrecht des
SED-Systems notwendig. Wenn sich bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland das Bewußtsein stärken
soll, daß es richtig ist, sich für Demokratie und Recht
einzusetzen, dann muß für die Opfer der politischen
Verfolgung in der SBZ und DDR Gerechtigkeit geschaffen werden. Diese Menschen haben sich nicht gebeugt und sind trotz Druck aufrecht geblieben. Sie haben
dafür in Tausenden Fällen in Haft gesessen - in Bautzen, Hoheneck, Brandenburg, Bützow und anderswo.
An der Berliner Mauer, die nach dem Willen der SED
noch hundert Jahre stehen sollte, an der innerdeutschen
Grenze und auf der Ostsee haben Hunderte Menschen
ihr Leben verloren, nur weil sie in die Freiheit wollten.
Für sie alle stehen die Namen Peter Fechter und Chris
Gueffroy. Wir werden ihr Schicksal und das ihrer Familien nicht vergessen.
({1})
Bevor ich zu Inhalten der notwendigen gesetzlichen
Regelungen und zu den Vorschlägen der CDU/CSU
komme, möchte ich unterstreichen, daß bei aller Kritik
an der Inkonsequenz der früheren Bundesregierung in
der Rehabilitierungsgesetzgebung der Deutsche Bundestag mit der Ehrenerklärung vom 17. Juni 1992 ein
deutliches Zeichen gesetzt hat. Ich bedaure zugleich, daß
diese Ehrenerklärung für alle Verfolgtengruppen in
der Öffentlichkeit Deutschlands kaum wahrgenommen
wurde.
({2})
Deshalb rege ich an, in den Rehabilitierungsbehörden
der Länder diese Bundestagserklärung in geeigneter
Form für jedermann sichtbar darzustellen.
({3})
Das wäre ein weiteres öffentliches Bekenntnis, daß sich
Gesetzgeber und Landesbehörden der Verantwortung
gegenüber den Opfern bewußt sind. Ich appelliere an
die zuständigen Landesminister und Behördenleiter, diesen Gedanken aufzugreifen und umzusetzen. Das kostet
wahrlich nicht viel - weder Arbeitszeit noch Geld.
Ich möchte jetzt auf den vorliegenden Gesetzentwurf
der CDU/CSU kurz eingehen. Auch dieser Gesetzentwurf wird den Erfordernissen und meines Erachtens den
berechtigten Erwartungen der Opfer nicht gerecht. Er
enthält im wesentlichen zwei Vorschläge: Leistungsverbesserungen für verfolgte Schüler und zusätzliche finanzielle Ausgleichsleistungen bei mindestens drei Jahren
Verfolgungszeit, also eine Art Opferrente. Diese Vorschläge, Herr Dr. Luther, die wir in den Berichterstattergesprächen ausführlich erörtern werden, bleiben unzureichend und enthalten Widersprüche in sich. Ich meine,
es gibt insbesondere Widersprüche hinsichtlich der Zugangsvoraussetzung drei Jahre Verfolgungszeit. Aber
darüber werden wir sprechen.
Was mich besonders irritiert, ist die Tatsache, daß die
CDU/CSU die Notwendigkeit schnellstmöglicher Verbesserungen - ich zitiere jetzt aus Ihrer Begründung der Situation der Opfer des SED-Regimes mit den
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom
28. April 1999 in einen rechtsstaatlich nicht haltbaren
Zusammenhang bringt.
({4})
Herr Kollege Dr. Luther, ich denke auch, Ihre heutigen Ausführungen waren nicht hilfreich. Wir haben hier
im Plenum des Deutschen Bundestages immer wieder
Nebeldebatten um Stasi-Renten, um Renten aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen geführt. Dies
hat mit unserer Gesetzgebung zum Rehabilitierungsrecht
formaljuristisch nichts zu tun.
({5})
Die Begründung dafür, daß wir die Defizite in der Rehabilitierungsgesetzgebung jetzt ausgleichen wollen,
brauchen wir nicht aus Stasi-Renten abzuleiten. Wir
leiten sie aus einer Verantwortung gegenüber den Opfern ab. Ich denke, da ist ein grundsätzlicher Unterschied in der Betrachtungsweise.
({6})
Wo liegt bei der CDU/CSU die Logik, frage ich Sie,
wenn Sie die Gerechtigkeit gegenüber den Opfern des
SED-Systems abhängig machen von der Gestaltung der
Rentenansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und
Sonderversorgungssystemen der DDR? Wo liegt da die
Logik? Es gibt keine Logik.
({7})
Sie bleiben sich also treu: Weder in der Regierungsverantwortung noch in der Oppositionsrolle bringen Sie
bei der Rehabilitierungsgesetzgebung Entscheidendes
auf den Weg, um Gerechtigkeit zu schaffen. Auch dieser
Gesetzentwurf bleibt Stückwerk. Er wird von den Opferverbänden nicht ernst genommen werden, weil die
Defizite der beiden SED-Unrechtsbereinigungsgesetze
und der unvollkommenen Novellierungen entweder
nicht erkannt oder ignoriert werden.
Die Schwachstellen Ihrer Gesetzgebung sind bekannt.
Wir haben sie Ihnen in den Berichterstattergesprächen,
in den Beratungen im Rechtsausschuß und auch im Plenum aufgezeigt.
Die Defizite der bisherigen Gesetzgebung und die
daraus resultierende Enttäuschung bei den Opfern und
ihren Angehörigen ergeben sich daraus, daß Sie wegen
Ihres fiskalisch bestimmten Ansatzes den Blick für die
Situation der Opfer verloren haben.
Mit dem Gesetzentwurf vom 19. März 1996 haben
wir Ihnen den Mängelkatalog Ihres Handelns aufgezeigt.
Wir haben noch in der letzten Runde der Beratungen zu
Ihrem damaligen Gesetzentwurf mit Änderungsanträgen
in der Drucksache 13/7502 versucht, die entscheidenden
Probleme zu lösen. Sie haben damals blockiert; das muß
man auch heute so deutlich sagen. Mit dem von Ihnen
vorgelegten Gesetzentwurf gewinnen Sie keine Glaubwürdigkeit zurück.
({8})
Ich rufe noch einmal die Punkte in Erinnerung, die
aus der Sicht der SPD von besonderer Bedeutung sind
und mit dem Koalitionspartner abgestimmt sind und die
in einen Gesetzentwurf und dann in ein Gesetz für die
Betroffenen Eingang finden werden.
Es ist dies die einheitliche Kapitalentschädigung in
Höhe von 600 DM pro angefangenen Haftmonat. Es
sind Verbesserungen bei der Anerkennung von haftbedingten Gesundheitsschäden und bessere Leistungen für
die Verschleppten jenseits von Oder und Neiße.
Warum sind das für uns die entscheidenden Regelungspunkte? Sie sind es, weil ein Jahr Haft in Bautzen
für alle Betroffenen die gleiche Wirkung hatte, egal ob
der Betroffene später in der DDR blieb, in die Bundesrepublik Deutschland flüchtete oder freigekauft wurde.
Sie sind es zum anderen deshalb, weil seit den schädigenden Ereignissen Jahrzehnte vergangen sind und
heute der Kausalzusammenhang zwischen der politischen Haft und den Schädigungsfolgen, den menschenunwürdigen Haftbedingungen und den heutigen Gesundheitsschäden schwer nachweisbar ist und das
Schicksal der Verschleppten aus Gebieten jenseits von
Oder und Neiße - es handelt sich um etwa 80 000 Menschen, vor allem Frauen und Mädchen - nun endlich im
Rehabilitierungsgesetz Berücksichtigung finden muß.
Ich will an dieser Stelle auch zum Ausdruck bringen,
daß ich die Bemühungen aller Mitglieder des Rechtsausschusses, die sich in Vorbereitung auf die Ausschußreise
vor wenigen Wochen nach Moskau mit diesem Thema
befaßt und sich in den offiziellen Gesprächen in Moskau
für die Rehabilitierung der Verschleppten eingesetzt haben, als hilfreich empfinde.
Nicht zuletzt kommt es uns darauf an, endlich eine
gesetzliche Regelung über Ansprüche derjenigen zu
schaffen, die ihre Angehörigen in politischer Haft verloren haben oder deren Angehörige an der Mauer zu Tode
gekommen sind.
Dies, meine Damen und Herren, sind Regelungsvorschläge, die von den Betroffenen erwartet werden und
die wir, die SPD-Fraktion und die Fraktion Bündnis
90/Die Grünen, einfordern. Unser Antrag auf Drucksache 14/1165 greift genau diese Fragen auf.
Herr Dr. Luther, ich habe schon gesagt, daß wir auch
bereit sind, alle weiteren Fragen, die insbesondere von
Opferverbänden vorgetragen werden, auch jene, die Sie
vortragen werden, im Kreise der Berichterstatter gründlich zu beraten und uns ihnen nicht zu verschließen.
Auch wir wissen, daß Gesetzentwürfe, die Fraktionen
in den Deutschen Bundestag einbringen, das Haus nicht
so verlassen, wie sie ursprünglich geschrieben waren. In
diesem Sinne lade ich Sie alle ein, sich in die Diskussion
zu der vielleicht doch abschließenden Regelung in der
Rehabilitierungsgesetzgebung einzubringen, Ihre Vorschläge vorzulegen und einen Weg zu finden, nunmehr
eine tragfähige und gerechte Regelung zur Rehabilitierung und Wiedergutmachung für die Opfer der kommunistischen Diktatur in der SBZ/DDR zu schaffen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Auch in der 14. Legislaturperiode
müssen wir uns mit dem gesellschaftlichen Trümmerhaufen, den uns die DDR hinterlassen hat, beschäftigen.
Der Einsatz vieler Bürger der DDR für Freiheit und
Demokratie hat regelmäßig zu persönlichen Nachteilen
bei denjenigen geführt, die sich auf ihr Menschenrecht
der Meinungsfreiheit berufen haben, und das nicht nur
am 17. Juni, sondern die ganzen Jahre über. Die Unterdrückungsmittel der SED-Diktatur waren dabei vielfältig. Wir haben lange gebraucht, auch hier im Bundestag, um diese vielfältigen Repressionsarten überhaupt
auflisten zu können.
Das wiedervereinigte Deutschland hat in den letzten
Legislaturperioden auch im Bereich der beruflichen
Rehabilitierung, über den wir heute im wesentlichen
sprechen, vieles erreicht. Aber die vielfältigen und unterschiedlichen Behinderungen, mit denen sich die Bürger und Bürgerinnen konfrontiert sahen, werden - hier
sollte der Gesetzgeber auch keine falschen Hoffnungen
machen - nie vollständig durch Rehabilitationsvorschriften wiedergutgemacht werden können.
({0})
Wir werden als Gesetzgeber auch nie alles Furchtbare, das Bürgern der DDR im Berufsleben widerfahren
ist, gesetzlich aufgreifen können. Auch heute noch sehen
wir Auswirkungen von Maßnahmen gegenüber Bürgern,
die in ihrem beruflichen Fortkommen behindert worden
sind, ohne daß sie überhaupt eine Entschädigung bekommen haben.
Allerdings müssen wir auch ehrlich zugeben, daß es
noch keiner Gesellschaft gelungen ist, alles Unrecht, das
in der Vergangenheit geschehen ist, wieder gutzumachen. Dasselbe gilt zum Beispiel für die „alte“ Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, was das Unrecht gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern betrifft,
das die Nazidiktatur über uns gebracht hat.
Dabei ist auch die geldliche Entschädigung, die
finanzielle Entschädigung letztlich keine Wiedergutmachung im engeren Sinne, sondern nur der Tropfen auf
den heißen Stein, der das erlittene Unrecht im nachhinein ein wenig erträglicher macht.
({1})
Deshalb darf neben der Verbesserung der materiellen
Entschädigung der Opfer nicht vergessen werden, daß
der Vorgang der Rehabilitierung im Rechtsstaat wesensnotwendig auch eine immaterielle, nämlich eine symbolische Seite hat oder, wie es Professor Schmidt-Jortzig
einmal formulierte, das für alle sichtbare Wieder-insRecht-Setzen der Opfer bedeutet.
({2})
Diese Symoblik, diese Wirkung nach außen ist ganz
wichtig.
Ich begrüße es daher, daß die CDU/CSU einen Gesetzentwurf zur Verbesserung der beruflichen Rehabilitation der SED-Opfer vorlegt. In allerletzter Minute haben nun auch die Koalitionsfraktionen einen - wenn
auch wenig präzisen - Antrag mit Absichtserklärungen
eingebracht. Wir werden den Antrag bzw., wenn er als
Gesetzentwurf eingebracht wird, gemeinsam mit dem
der CDU/CSU intensiv im Rechtsausschuß beraten müssen. Ich nehme Ihre Anregung, Herr Hacker, auf: Wir
werden gemeinsam mit den Berichterstattern im Rechtsausschuß, aber auch in den anderen Ausschüssen intensiv daran zu arbeiten haben, zunächst einmal das „fact
finding“ vorzunehmen, also festzustellen, wo noch Fälle
zu regeln sind, was an Unrecht geschehen ist, und dann
festzulegen, wie dies finanziell einigermaßen angemessen entschädigt werden kann. Ich weiß aus der Vergangenheit, wie schwierig es ist, die vielfältigen Repressionsmittel überhaupt zu erfassen. Wir sollten uns im
Rechtsausschuß und in den anderen Ausschüssen aber
große Mühe geben, hier zu einem vernünftigen Ergebnis
zu kommen. Dazu werden wir sicherlich mit beitragen.
Schon beim Abschluß der Arbeit der EnqueteKommission waren alle der Ansicht, daß noch einige
Lücken zu schließen sind. Der Gesetzentwurf der
CDU/CSU ist schließlich ein Teil der Umsetzung der
Handlungsempfehlungen, und auch der Antrag der Koalitionsfraktionen findet sich fast wortwörtlich in dem
Abschlußbericht wieder, was um so mehr die gute Arbeit der Kommission - das sollte man auch hier noch
einmal erwähnen - aufzeigt.
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU wird hoffentlich
auch von denjenigen Kollegen aus der CDU/CSU, die
ich hier nicht sehe, unterstützt, die jene Forderungen, die
die Fraktion jetzt erhebt, noch in der letzten Legislaturperiode aus finanzpolitischen Gründen abgelehnt haben.
({3})
Beispielsweise die Mitarbeit von Herrn Waigel möchte
ich gerne einfordern.
Die F.D.P. wird jedenfalls alle notwendigen und
finanzierbaren Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Betroffenen unterstützen; denn gerade die
Rehabilitierung ist eine essentielle Notwendigkeit für
das Einfinden der von der SED-Diktatur Verfolgten in
die Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschlands.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich gehöre
zu denen hier im Deutschen Bundestag, für die der
17. Juni ein Tag gewesen ist, an dem feierliche Reden
gehalten wurden, die immer den Eindruck hatten, daß
viele aus dem Westen Deutschlands den 17. Juni, das
Engagement und den Kampf der Menschen im Ostteil
Deutschlands für ihre politischen Zwecke zu mißbrauchen versucht haben, und die deshalb an den Feierlichkeiten zum 17. Juni entweder gar nicht teilgenommen
oder diesen Reden mit einem sehr unguten Gefühl zugehört haben.
({0})
Es ist sicherlich richtiger und besser, daß sich der
Deutsche Bundestag am 17. Juni 1999 mit denjenigen in
der ehemaligen SBZ - zunächst hieß sie ja so - und
dann in der DDR befaßt, die tatsächlich gekämpft und
gelitten haben und Nachteile erdulden mußten. Dem tragen die beiden heute vorgelegten Papiere Rechnung, der
von der CDU/CSU vorgelegte Gesetzentwurf und der
von der Koalition vorgelegte Antrag. Hier kann es nicht
darum gehen, den Menschen eine Wiedergutmachung zu
verschaffen. Es ist sicherlich mit materiellen Zahlungen
- und seien sie noch so hoch - nicht möglich, ihnen die
in den Gefängnissen verbrachten Jahre, die Bildungsund Berufschancen, die ihnen auf Grund politischer Verfolgung genommen wurden, zurückzugeben. Es kann
nur darum gehen, ein Signal zu setzen und auch durch
Zahlungen anzuerkennen, was sie erduldet und erlitten
haben, und ihnen damit eine angemessene Entschädigung zuteil werden zu lassen.
Wir kommen damit auch einer Forderung des Einigungsvertrages nach. Art. 17 des Einigungsvertrages
erlegt der Bundesrepublik Deutschland - jetzt der gesamten Bundesrepublik Deutschland - die Verpflichtung
auf, eine angemessene Entschädigung zu leisten. Das
wollen wir nun tun, auch wenn inzwischen viele Jahre
vergangen sind.
Der Antrag von CDU und CSU ist ein Antrag, den
wir eigentlich vor vier oder fünf Jahren erwartet hätten,
als diese Parteien die Möglichkeiten hatten, hier im
Deutschen Bundestag Gesetze zu verabschieden, Zahlungen zu bewilligen und das zu tun, was sie jetzt fordern. Dieser Antrag entspricht in wesentlichen Teilen
einem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vom November 1995. Die Forderung ist deshalb nicht falsch; sie ist
und bleibt richtig. Es ist nur traurig, daß Sie sich in der
Zeit, als Sie die Möglichkeit hatten, diese Zahlungen zu
bewilligen und zu leisten, unseren Forderungen nicht
angeschlossen haben und jetzt, wo Sie in der Minderheit
sind, wo Sie nicht mehr die Verantwortung für den
Haushalt tragen, alle möglichen Zahlungen verlangen
und aufsatteln.
Wir haben in unserem Antrag das berücksichtigt, was
an der bisherigen Rehabilitations- und Entschädigungsregelung eigentlich das Offensichtlichste an Ungerechtigkeit ist. Ich als Rechtsanwalt, der immer auch mit Inhaftierten in der Bundesrepublik zu tun hatte, habe nie
begriffen und konnte nie nachvollziehen, wieso ein Monat, von einem Gefangenen in einem Gefängnis in der
DDR unschuldig verbracht, nur die Hälfte von dem wert
sein sollte, was ein Lebensmonat für einen Menschen,
der unschuldig in einem Gefängnis in der Bundesrepublik Deutschland in Haft gewesen ist, wert war. Ein Inhaftierter in der Bundesrepublik bekam 20 DM pro Tag,
ein Inhaftierter in der ehemaligen DDR bekam 10 DM
pro Tag als Entschädigung. Das ist nicht nachzuvollziehen. Das ist sogar am Rande der Diskriminierung derer,
die lange Zeit in DDR-Gefängnissen unter den dort viel
dramatischeren und viel schlechteren Bedingungen inhaftiert waren.
Wir sehen nun mit der Regelung, wie wir sie auch in
vielen Gesprächen - deshalb dauert das auch so lange mit den Opferverbänden besprochen haben, eine Zahlung von 600 DM pro Monat vor. Damit wird die Entschädigung für DDR-Häftlinge der Entschädigung, die
im Westen für unschuldig erlittene Haft gezahlt wurde,
angeglichen. Ich denke, das ist richtig und angemessen.
Es ist an der Zeit, daß diese Regelung endlich Gesetzeskraft erlangt und daß die Zahlungen geleistet werden.
Wir versuchen weiterhin, denen zu helfen, denen bald
nicht mehr zu helfen ist, weil sie dann nicht mehr leben.
Das sind die Menschen aus den Gebieten jenseits der
Oder und Neiße, die in die UdSSR verschleppt worden
sind. Es sind alte Menschen, sehr häufig alte Frauen.
Wir müssen jetzt - wenn nicht jetzt, wann denn dann? -,
so viele Jahre nach dem Krieg und nach der Verschleppung, endlich dafür sorgen, daß diese Menschen wenigstens einen Teil der materiellen Entschädigung bekommen.
Wir versuchen, denen zu helfen - daß dies nicht geschah, war immer schwer nachvollziehbar und einsehbar
für mich -, die Angehörige verloren haben. Es ist hier
beklagt worden, daß Menschen an der Mauer erschossen
worden sind, daß Menschen, auch während der Ereignisse vom 17. Juni 1953, gestorben sind und daß die Hinterbliebenen dieser Menschen keine Entschädigung, jedenfalls keine angemessene Entschädigung, erhalten haben. Ich denke, es ist auch hier an der Zeit zu helfen.
Das sind die am heftigsten Betroffenen, bei denen überhaupt nicht einzusehen ist, warum eine Entschädigung
angemessener Art bis heute verweigert wird. Auch für
sie wollen wir endlich eine Regelung schaffen. Auch das
wird von den Opferverbänden gefordert; es ist in den
Gesprächen immer wieder ganz nachdrücklich verlangt
worden.
Zu diesen drei Punkten haben wir eine gesetzliche
Regelung vor. Ich gehe davon aus, daß diese gesetzliche
Regelung noch dieses Jahr in Kraft treten kann.
Zu guter Letzt ist daran zu denken, daß wir es den
Menschen nicht vorwerfen können, wenn sie die Antragsfristen, die in den Gesetzen vorgesehen waren,
nicht eingehalten haben. Viele Menschen erinnern sich
überhaupt erst dann, wenn sie in das Rentenalter kommen und ihre Renten beantragen, daran, daß es die
Möglichkeit gibt, zusätzliche Leistungen zu erhalten. Sie
wollen dann Anträge stellen, aber die Fristen sind abgelaufen. Deshalb ist es dringend erforderlich, die Fristen,
wie es ja auch in der Vergangenheit geschehen ist, immer wieder zu verlängern. Es kann nicht sein, daß wegen Fristablaufs einer Person, die in den Gefängnissen
der DDR gelitten hat oder die in der DDR durch Verfolgung staatlicher Organe nächste Angehörige verloren
hat, die angemessene Entschädigung nicht gezahlt wird.
Deshalb muß auch hier eine großzügige Verlängerung
der Fristen in das Gesetz aufgenommen werden, damit
die Unsicherheit beseitigt wird und Gerechtigkeit hergestellt wird.
Wir denken, wir sind mit diesem Gesetz, das in Arbeit ist, auf einem guten Weg. Es gab viele Gespräche.
Es gab eine weitgehende Übereinstimmung mit den
Vertretern der Opferverbände. Wir wollen dieses Gesetz
nunmehr im Deutschen Bundestag einbringen; wir wollen es verabschieden, und wir wollen erreichen, daß es
noch in diesem Jahr zu Zahlungen auf Grund der veränderten gesetzlichen Lage kommt.
Damit können wir für die Verfolgten ein wirkliches
Signal setzen, daß die rotgrüne Regierung die Versprechen einlöst, die gerade diejenigen der Bündnisgrünen,
die vom Bündnis 90 her kommen, immer wieder gemacht haben. Wir haben im Wahlkampf diese Versprechen gemacht. Ich denke, dabei handelt es sich durchaus
um eine Verbesserung, die sich sehen lassen kann, wenn
die Menschen, die in DDR-Gefängnissen gelitten haben,
nun mit einer Verdoppelung der Beträge rechnen können, die ihnen von der vorherigen Bundesregierung, von
den vorherigen Koalitionsparteien zugebilligt wurden.
Wir lösen damit ein Versprechen aus dem Wahlkampf
ein; wir lösen damit ein Versprechen ein, das die neue
Regierung beim Regierungsantritt durch den Kanzler
persönlich gegeben hat. Ich denke, das ist zum 17. Juni
1999 das richtige Zeichen, das dieser Bundestag setzen
kann.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerhard Jüttemann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS hat sich dem Gedanken
und der Forderung der Rehabilitierung von Menschen,
die in der DDR Unrecht erlitten haben, nie entzogen, im
Gegenteil: Auch wir haben das immer für eine notwendige Voraussetzung für die Herstellung der inneren
Einheit Deutschlands und für die Grundlage der Herstellung des Rechtsfriedens in unserem Land gehalten.
({0})
Darum haben wir im Mai 1997 dem seinerzeitigen Entwurf der SPD zur Gesetzesverbesserung zugestimmt,
den Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
ablehnten.
Damals wie heute verkennen wir nicht, daß für die
einzelnen Betroffenen gerechte Lösungen nötig sind und das nicht nur im Interesse des Rechtsfriedens im
Lande, sondern auch und vor allem, um diesen Menschen ganz individuell späte Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen.
Im besonderen Maße ergibt sich diese Forderung natürlich für jene, die auf Grund staatlichen Unrechts in
der DDR ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten oder
ihre Ausbildung aufgeben mußten, womit die Grundlage
ihrer späteren Existenz gefährdet wurde. Wie viele Menschen das betrifft, vermag ich nicht zu sagen.
Daß die für die Entschädigung vorgesehenen Mittel
bisher nicht ausgeschöpft wurden, hat gewiß viele
Gründe, denen man sorgfältig nachgehen muß. Offensichtlich ist, daß es sich als Thema für politische Propaganda nicht eignet.
({1})
Ich möchte Sie auf ein weiteres Problem aufmerksam
machen: Das geltende Recht ermöglicht es, auch Straftäter, die nach damals gültigem DDR-Recht, also rechtmäßig, verurteilt worden sind, heute zu rehabilitieren
und zu entschädigen. Das hat zum Beispiel dazu geführt,
daß die frühere KZ-Aufseherin Margot Kunz für eine in
der DDR wegen ihrer Verbrechen im faschistischen
Deutschland verbüßten Haftstrafe im Jahre 1994 64 000
DM Entschädigung erhalten hat.
({2})
Zu solchen Ergebnissen kann es kommen, wenn die
notwendige Rehabilitierung zu Unrecht politisch Verfolgter zu einer Generalabrechnung mit dem besiegten
politischen Gegner mißbraucht wird.
({3})
Leider wird der vorliegende CDU/CSU-Gesetzentwurf nicht seinem im Titel genannten Anliegen gerecht. Es geht Ihnen nicht vorrangig um die Opferentschädigung, sondern um eine Abrechnung mit der DDR
als Unrechtsstaat. Die Verfasser unterscheiden offenbar
nur noch zwischen SED-Mitgliedern als Tätern auf der
einen Seite und Opfern auf der anderen Seite. Diese Opfer wiederum werden unterteilt in allgemein Benachteiligte und in - als politisch Verfolgte besonders - Benachteiligte.
({4})
Ein zweiter problematischer Punkt ist ein Teil der
unter „A. Problem“ gemachten Ausführungen im CDU/
CSU-Gesetzentwurf. Darin heißt es:
Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vom 28. April 1999 zu Fragen der Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR in
die gesetzliche Rentenversicherung des wiedervereinigten Deutschland
verändern die bisherige Situation erheblich. - Die Aussage an sich geht in Ordnung. Rentenkürzungen als
Strafmaßnahmen sind Unrecht und können so nicht
weiter praktiziert werden. Das ist das, was dahintersteht.
Inwiefern das jedoch die Besserstellung von Opfern politischer Verfolgung in der DDR nach sich ziehen muß,
bleibt unklar. Logisch ist der Schluß jedenfalls nicht. Im
Grunde kritisieren Sie mehr oder weniger unverhohlen
ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das heißt, Sie
suchen sich aus, wann Ihnen der Rechtsstaat paßt und
wann nicht. Wahrscheinlich steht jedoch der Gedanke
einer Gleichstellung bzw. Nichtschlechterstellung dahinter.
Auch wenn es hier nicht zum Thema paßt, möchte ich
Sie daran erinnern, daß Sie sich dem Grundsatz der
Gleichbehandlung der Bergleute in Ost und West in
Sachen sozialer Leistungen seit Jahren verweigern,
({5})
und zwar zu Lasten der ostdeutschen Bergleute. Hier
findet tatsächlich eine allgemeine Benachteiligung statt.
({6})
- Das stimmt ja nicht! Wir können noch öfter darüber
streiten, und wir werden noch darüber streiten. Ich sage
Ihnen: In Berlin werde ich dieses Thema weiter vorantreiben.
({7})
Aber zurück zum Thema: Eine Gleichstellung ist
noch in anderer Hinsicht geboten. Es ist nicht einzusehen, warum die Opfer politischer Verfolgung in der
Bundesrepublik Deutschland - das sind zwischen
1952 und 1968 immerhin 8 000 bis 10 000 Personen weiterhin von Rehabilitierung und Entschädigung ausgeschlossen bleiben sollen.
({8})
Ebenso müßten Tausende Opfer der vom Europäischen
Gerichtshof für völkerrechtswidrig erklärten Berufsverbotspraxis auf der Basis des sogenannten Radikalenerlasses von 1972 rehabilitiert und entschädigt werden,
({9})
ganz zu schweigen davon, daß auch heute noch viele
Opfer des deutschen Faschismus vergeblich auf Rehabilitierung und Entschädigung warten.
({10})
Solange wir nicht auch für diese Personengruppen tragfähige Lösungen erarbeiten, werden wir mit der Gegenwart und Zukunft vor allem im Hinblick auf die Herstellung der deutschen Einheit große Probleme haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat
jetzt Staatsminister Rolf Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Jüttemann, zu Ihren Redebeiträgen zu Themen
wie dem heutigen Thema fällt mir meistens nichts mehr
ein. Ich will zunächst in aller Form zurückweisen, daß es
bei der Würdigung und Rehabilitierung von politisch
Verfolgten in der Zeit der SBZ bzw. DDR in irgendeiner
Form um ein ideologisches Rehabilitierungsrecht geht.
Es geht einfach um einen Auftrag aus der deutschen
Einheit, den wir nicht diffamieren lassen dürfen, schon
gar nicht in einer solchen Debatte.
({0})
Herr Jüttemann, ich möchte in aller Ruhe feststellen:
Daß Ihre Fraktion zu diesem Thema ein besonderes
Verhältnis hat oder haben müßte, kann man - bei aller
Vorsicht - sagen. Dabei kann es nicht nur darum gehen,
Herr Jüttemann, daß Sie einem Antrag zustimmen, der
von einer Seite des Parlaments eingebracht wird. Ich
würde mir durchaus etwas mehr Tätigkeit von Ihrer
Seite wünschen, vor allem dann, wenn Sie in der
Öffentlichkeit darstellen, Sie seien die reformierte,
gewandelte politische Kraft. Ich mache Ihnen einen
Vorschlag, Herr Jüttemann: Führen Sie einen Sonderbeitrag für die Mitglieder der PDS ein! Helfen Sie finanziell mit, Wiedergutmachung zu leisten. Das wäre ein
Aufarbeitungsbeitrag.
({1})
Seit 1990 debattiert und streitet der Deutsche Bundestag über Möglichkeiten zur Verbesserung der
Situation der SED-Opfer und über Möglichkeiten zur
Verbesserung der völlig unzureichenden SEDUnrechtsbereinigungsgesetze aus der 12. und 13. Legislaturperiode. Allein die Sozialdemokraten haben in den
zurückliegenden acht Jahren fünfzehn parlamentarische
Initiativen gestartet. Bündnis 90/Die Grünen waren hier
ähnlich intensiv tätig. Diese parlamentarischen Initiativen wurden allerdings in den letzten acht Jahren von der
damaligen Mehrheit im Deutschen Bundestag entweder
verschleppt oder einfach „abgebügelt“. Auch das muß
man sich in Erinnerung rufen.
Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich die heutige Debatte; denn die Verbesserung der Regelungen für
Rehabilitierung und Wiedergutmachung ist ein zentrales
Anliegen der Bundesregierung. Dies hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung zum Stand der
deutschen Einheit am 19. April dieses Jahres in Berlin
ausdrücklich bekräftigt.
Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, daß ich in der
heutigen Debatte - neben der positiven Würdigung der
Leistungen der Bundesregierung - in einer deutlichen
Sprache auch auf den Gesetzentwurf der CDU/CSUBundestagsfraktion näher eingehe, um die Hintergründe,
die ich für wichtig halte, aufzuzeigen. Ich möchte es auf
den Punkt bringen: Den Gesetzentwurf, der heute von
der CDU/CSU-Fraktion eingebracht worden ist, halte
ich für völlig unzureichend. Ich halte ihn für inhaltlich
verfehlt und auch handwerklich für das Schlechteste,
über das wir in den letzten Jahren zu diesem Thema debattiert haben. Ich möchte meine Behauptung an fünf
Punkten festmachen.
Daß hier handwerklich schlechte Arbeit geleistet
worden ist, kann man schon am Titel des Gesetzentwurfs sehen. Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß es hier um
„Rehabilitierung“ und nicht um „Rehabilitation“ geht?
({2})
Ist Ihnen das wirklich nicht aufgefallen? Ist der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht aufgefallen, daß es
bei der Wiedergutmachung um Rehabilitierung und
nicht um Rehabilitation, um gesundheitliche Wiederherstellung geht, etwa nach Abnahme eines Beines, nach
einem Autounfall? Ist Ihnen das allen Ernstes entgangen?
({3})
Soll Wiedergutmachung künftig zu einer Unterabteilung
des Kur- und Reha-Wesens werden? Oder was haben
Sie sich unter dem Begriff „Rehabilitation“ vorgestellt?
Das möchte ich gern einmal wissen. - Herr Luther, ich
bin sehr enttäuscht. Ich registriere, daß Sie das nicht
ernst nehmen. Ich unterstelle, daß Ihnen hier ein Mißgeschick unterlaufen ist.
({4})
Der Begriff „Rehabilitation“ steht schon in der Überschrift des Gesetzentwurfs, die ja das Aushängeschild
eines Gesetzes ist, Herr Luther. Ich möchte hier keine
Absicht unterstellen; vielmehr gehe ich von einem Mißgeschick aus. Aber Sie sollten diesen peinlichen Ausrutscher im parlamentarischen Verfahren aus der Welt
schaffen. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie zum Beispiel einen Änderungsantrag stellen und daß sich die
Fraktionen der Opposition diesem Änderungsantrag
nicht verschließen werden. Diese Peinlichkeit in Ihrem
Gesetzentwurf muß dringendst korrigiert werden.
Zweitens. Ich möchte mir den Hinweis erlauben, daß
Sie acht Jahre Zeit hatten, um im Deutschen Bundestag
Verbesserungen durchzusetzen. Ich erinnere mich noch
an die Debatte, die wir 1996 geführt haben. Damals hat
die SPD-Bundestagsfraktion ihren Entwurf zu einem
Verbesserungsgesetz eingebracht. Diesen Entwurf haben
Sie ein Jahr lang im parlamentarischen Verfahren - in
den Ausschüssen - hängenlassen und verschleppt. Anschließend haben Sie einen eigenen, aber ganz dünnen
Gesetzentwurf unter der Überschrift unseres Gesetzentwurfes hier präsentiert. Sie haben jeglichen Kredit bei
den Opferverbänden verspielt. Daran wird auch Ihre
jetzige parlamentarische Initiative überhaupt nichts ändern.
({5})
Drittens. Sie bedienen sich eines perfiden Kunstgriffes - der ist vom Kollegen Hacker auch schon angesprochen worden -, nämlich der Verknüpfung des Themas
der Rehabilitierung und Wiedergutmachung mit der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die
Renten aus den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen. In Ihrem Gesetzentwurf - ich will das einmal
zitieren - heißt es:
Die aufgrund dieser Entscheidung
- gemeint ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts notwendig werdende Verbesserung der rentenrechtlichen Ansprüche der Staats- und Systemnahen des SED-Regimes macht es zwingend, auch die
Situation der Opfer des SED-Regimes schnellstmöglich zu verbessern.
({6})
Meine Damen und Herren, welch eine Heuchelei, und
das am 17. Juni! Als ob die Situation der Opfer vor diesem Urteil eine bessere gewesen wäre.
({7})
Was sollen denn die Opferverbände, die seit Jahren
gegen Ihre Gesetze Sturm laufen, denken, wenn sie so
etwas in Ihrem jüngsten Gesetzentwurf lesen? Die müssen sich doch vorkommen, als hätten sie gegen etwas
geklagt, wofür es überhaupt keine moralische Legitimation gibt. Das ist wirklich pure Heuchelei!
Außerdem - auch das muß in dieser Runde gesagt
werden; ich gehe etwas weiter als Kollege Hacker in
seiner freundlichen Zurückhaltung - muß an dieser
Stelle noch einmal etwas über die Motivlage gesagt
werden. Sie verwischen mit dieser Kombination zwei
Dinge: Sie decken erstens ganz bewußt Ihr eigenes unzureichendes Handeln gegenüber den Opfern des SEDRegimes zu,
({8})
und Sie verknüpfen es zum zweiten mit einer verfassungsrechtlich höchst fragwürdigen Rentenentscheidung, die Sie selber herbeigeführt haben.
({9})
Ich erinnere mich noch an die lebhaften Debatten hier
im Deutschen Bundestag über die verfassungsrechtlichen Risiken bei den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen. Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie nichts
gewußt! Ich kann mir sogar vorstellen, daß es eine
Motivlage gab, das Ganze so zu machen, weil für die
Seite der Opfer nichts geschehen war. Nun stellen Sie
sich hin und tun so, als sei der Urteilsspruch aus Karlsruhe wie ein Naturereignis über uns hereingebrochen.
Meine Damen und Herren, das ist Heuchelei! Das muß
man an der Stelle öffentlich deutlich ansprechen.
({10})
Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Sie wissen
- das macht die Sache ganz besonders bitter - um die
Sensibilität der Opferverbände - Herr Luther, liebe
Kolleginnen und Kollegen, wir debattieren diese Fragen
seit Jahren - bezüglich der Situation der Opfer auf der
einen und der Renten für die Staatsnahen auf der anderen Seite. Sie wissen, wie sensibel dieses Thema ist. Sie
scheuen nicht davor zurück, diese Dinge in einem Gesetzentwurf miteinander zu verknüpfen. Sie spielen mit
der Frustration und mit den Enttäuschungen der Opferverbände. Es geht Ihnen nicht um eine sachliche Verbesserung der Situation, sondern es geht Ihnen darum,
etwas politisch zu instrumentalisieren. Das ist einfach
unwürdig, meine Damen und Herren.
({11})
Viertens: Man muß ansprechen, daß Ihr Gesetzentwurf ganz handfeste inhaltliche Mängel hat. Wenigstens
ein paar will ich noch erwähnen: Es gibt bei Ihnen keine
Bereitschaft, in Kernbereiche der Defizite des Ersten
und Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes hineinzugehen. Der Schwerpunkt Ihrer Novelle ist die berufliche Rehabilitierung. Nicht bei der strafrechtlichen Rehabilitierung - wo der größte Defizitbereich bei den
Leuten ist, die aus politischen Gründen „gesessen“ haben - soll etwas verbessert werden, sondern bei der beruflichen Rehabilitierung. Da bieten Sie eine Verbesserung an. Sie sind nicht bereit, in den wirklichen Kernbereich hineinzugehen. Allein das ist inhaltlich eine völlige Fehlleistung, gemessen an den Defiziten, über die wir
eigentlich zu reden haben.
({12})
Meine Damen und Herren, die Botschaft, die aus Ihrem Gesetzentwurf spricht - ich will es deutlich ansprechen -, ist ganz klar: Noch immer ist Ihnen die eigene
politische Selbstrechtfertigung - bezogen auf das, was
Sie in den zurückliegenden acht Jahren gemacht oder
nicht gemacht haben - wichtiger, als wirklich einen
Schritt zur Beseitigung von zentralen inhaltlichen Defiziten bei diesem Thema zu tun. Deswegen definieren Sie
den Anlaß neu. Deswegen ist der Anlaß für Sie nicht das
Defizit, sondern der Spruch aus Karlsruhe. Deswegen
gehen Sie auch nicht in den Kernbereich hinein, nämlich
in den Bereich der Rehabilitierung von Haftopfern. Sie
sprechen hier vielmehr von der Frage der beruflichen
Rehabilitierung.
Zum fünften will ich noch etwas zum Krebsschaden
der Regelung sagen, die Sie vorgelegt haben, nämlich
zur Ungleichbehandlung und zur Spaltung der Opfer.
Bei dem zentralen Entschädigungsinstrument, der Kapitalentschädigung, wird überhaupt nichts geändert. Das
haben Sie gar nicht angesprochen. Statt dessen führen
Sie eine neue Spaltung ein, indem Sie zum Beispiel
- Herr Hacker hat es angesprochen - Ausgleichsleistungen bei der beruflichen Rehabilitierung künftig erst dann
ermöglichen wollen, wenn eine Verfolgung mehr als
drei Jahre angedauert hat. Wie kommen Sie denn darauf,
ein solches Entscheidungskriterium zu definieren? Soll
der Student, der aus politischen Gründen drei Jahre in
die Produktion geschickt worden ist, für diese Zeit politischer Verfolgung künftig eine verbesserte Ausgleichsleistung bekommen, derjenige aber, der eineinhalb Jahre
aus politischen Gründen im Knast war und dann vielleicht durch Freikauf in die alte Bundesrepublik kam,
wegen seiner geringeren Verfolgungszeit außen vor
bleiben? Hier fügt man dem alten Unrecht eine neue
Ungleichbehandlung hinzu, und das kann nicht sein.
({13})
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, den
Sie vorgelegt haben, wird - dessen bin ich mir sicher parlamentarisch sorgfältig beraten werden. Wir werden
unseren Gesetzentwurf einbringen, sobald er im Rahmen
der Länderkoordinierung von allen Ländern gesichtet
und bewertet worden ist. Wir wollen eine Verabschiedung unseres Gesetzentwurfs noch in diesem Herbst erreichen.
Ich bin sehr dankbar dafür, daß die beiden Koalitionsfraktionen mit ihrem Antrag genau die vier zentralen Punkte markieren, an die wir uns nach meiner
festen Überzeugung heranbegeben müssen. Das kostet
natürlich Geld, das ist klar. Aber wir müssen uns doch
wenigstens dem Anspruch unterwerfen, daß der Gesetzgeber und die Bundesregierung es ernst damit meinen,
die zentralen Defizite zu beseitigen. Deswegen auch von
meiner Seite die Bestätigung: Wir werden die KapitalStaatsminister Rolf Schwanitz
entschädigung einheitlich auf 600 DM festlegen. Wir
werden das Thema der Hinterbliebenenregelung für die
am schwersten Verfolgten, nämlich für die zu Tode Gekommenen, für die Maueropfer, aufgreifen. Wir werden
die Frage der östlich von Oder und Neiße Verschleppten, die bisher völlig außen vor geblieben sind, zum
politischen Thema machen und in unsere Novelle aufnehmen. Schließlich werden wir auch die Anerkennung
der gesundheitlichen Haftschäden, zu denen Sie in
Ihrem Entwurf überhaupt nichts gesagt haben, auf die
politische Tagesordnung setzen. Darauf können sich die
Opferverbände verlassen.
Herzlichen Dank.
({14})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Jüttemann das Wort.
Herr Kollege Schwanitz, Sie haben mich angegriffen und gesagt, ich hätte zu
scharf formuliert und übertrieben. Ich habe zu DDRZeiten als Katholik im Eichsfeld keine Karriere gemacht. Ich bin nicht der SED beigetreten, ich habe keiner Kampfgruppe angehört, und ich habe bei der Musterung verweigert, an der Grenze zu dienen. Aber ich habe
bereits zu DDR-Zeiten den Mut gehabt, das kritisch zu
sagen, was kritisch gesagt werden muß. Das tue ich auch
heute; denn vieles ist kritikbedürftig. Im Handbuch ist
mir jedoch aufgefallen, daß Sie als Diplomjurist zu
DDR-Zeiten eine gewisse Karriere gemacht haben. Was
haben Sie in der Zeit getan, um sich für die Opfer einzusetzen?
({0})
Herr Staatsminister, Sie können darauf antworten.
Herr Jüttemann, Sie erwarten von mir hoffentlich jetzt
nicht, daß wir Biographien diskutieren. Ich habe überhaupt keinen Grund, mich hier persönlich angegriffen zu
fühlen. Aber ich kenne Ihre Strategie. Immer, wenn ein
Argument unbequem ist, dann wendet man es gegen
denjenigen, der es vorbringt. Das kennen wir; das kenne
ich übrigens auch schon aus DDR-Zeiten. Insofern hat
sich nichts geändert.
Das zentrale Problem ist nicht Ihre Kritik. Ich kann
mit Kritik leben; Kritik gehört zum Parlament. Das zentrale Problem ist - das habe ich deutlich zu machen versucht -, daß immer dann, wenn es im Deutschen Bundestag um Rehabilitierungsfragen geht, Ihre Fraktion
- früher waren Sie eine Gruppe - andere Defizitbereiche
nennt und es ihr um die eigentliche Frage überhaupt
nicht geht. Sie reden von ganz anderen Dingen.
({0})
Herr Jüttemann, das geschieht in der Situation, in der
Sie sich befinden.
Ich kann Ihnen nur sagen: Solange es Ihrer Fraktion
und auch Ihrer Partei nicht gelingt, wirklich deutlich zu
machen, daß sie diesen Schritt durch einen außerordentlichen persönlichen Akt selber tut, durch einen Akt, den
eine andere Partei einfach nicht erbringen kann, weil
keine der Fraktionen im Deutschen Bundestag hinsichtlich dieses Themas eine Vergangenheit hat wie Ihre
Partei, werden Sie sich solchen kritischen Bemerkungen
nicht entziehen können.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Günter Nooke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Staatsminister Schwanitz, Sie haben den Mund sehr voll genommen; allerdings haben Sie nichts zum 17. Juni gesagt. Für die Vertreter der Bundesregierung, die heute
sprechen, ist das vielleicht nicht notwendig. Im übrigen,
ich gebe zu, Sie haben recht: Es muß „Rehabilitierung“
und nicht „Rehabilitation“ heißen; 1 : 0 für Sie. Auf
meinem Zettel steht es aber richtig. Sie können also sicher sein, daß wir das beherrschen.
Zu einem anderen Punkt sage ich für alle Anwesenden: Wer erst am gestrigen Abend seinen Antrag eingebracht hat, der hat gar nicht gemerkt, daß unser Gesetzentwurf am 17. Juni hier auf der Tagesordnung steht, der
hat überhaupt nicht daran gedacht, daß der heutige Tag
eigentlich ein Tag ist, an dem dieses Thema in die öffentliche Debatte gehört.
({0})
Zu dem entscheidenden Punkt, der hier mehrfach kritisiert wurde: Berufliche Rehabilitierung hat sehr wohl
mit dem zu tun, was an Renten aus Sonder- und Zusatzrentensystemen gezahlt wird; insofern hat sie durchaus
mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu tun.
Wir können sehr wohl sagen, daß wir darüber politisch
streiten dürfen. Wir sind nämlich der Deutsche Bundestag und nicht das Verfassungsgericht. - Herr Staatsminister, vielleicht hören Sie einmal zehn Minuten zu, um
zu verstehen, wie die Dinge zusammenhängen.
Letzten Freitag sagte der Direktor der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Klaus Michaelis, in
einem dpa-Gespräch zu den Nachzahlungen für „Staatsund Systemnahe des SED-Regimes“ auf Grund des
Karlsruher Rentenurteils:
Im Interesse der Betroffenen sollten bald Entscheidungen getroffen werden.
In der Pressemitteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 28. April 1999 heißt es:
Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts führen
nach Auffassung der Bundesregierung die notwendige Klärung herbei und tragen zum Rechtsfrieden bei.
Viele sorgen sich in Deutschland um den inneren
Frieden. Aber leider hat es in Deutschland auch eine
gewisse Tradition, daß den Mächtigen der Friede mit
den Tätern politisch wichtiger erscheint als der Friede
mit den Opfern. Zu einem Zeitpunkt, in dem den Opfern
der SED-Diktatur wenigstens Genugtuung widerfahren
sollte, sind Täter, Profiteure und Mitläufer dieser zweiten Diktatur in Deutschland bereits ins Recht gesetzt,
Herr Funke. Sie sprachen an, daß heute die SED-Opfer
ins Recht zu setzen sind. Ich will nur deutlich machen:
Das ist für Täter, Profiteure und Mitläufer bereits seit
langem geschehen.
Ich bin weit davon entfernt, diese etwa 500 000 vom
Karlsruher Urteilsspruch betroffenen Personen alle als
Täter oder auch nur als „Staats- oder Systemnahe“ zu
bezeichnen. Dazu kenne ich all die Gruppen viel zu genau. Aber angesichts dieses Urteils des Bundesverfassungsgerichts ist eine schnelle und unbürokratische Lösung für die Verfolgten des SED-Regimes unausweichlich geworden. Wer jetzt nicht handelt, der will den
Frieden mit den Tätern. Wer jetzt nicht handelt, der trägt
die Verantwortung, wenn Menschen nur funktionieren
- gleich, ob in Rechts- oder Unrechtssystemen - und
wenn demokratische Gesinnung, Freiheitsstreben und
Engagement für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit
in Deutschland wenig gelten.
Die nicht angemessene Entschädigung der Opfer
der zweiten Diktatur in Deutschland, wie sie in den
Jahren seit der Wiedervereinigung geregelt oder eben
nicht geregelt wurde, ist beschämend. Die alte Bundesregierung aus CDU/CSU und F.D.P. hat hier große Versäumnisse einzugestehen. Offensichtlich wurde schon
früher manchmal weniger politisch als vielmehr nach
Kassenlage entschieden.
Eine im allgemeinen großartige Erfolgsbilanz der
deutschen Einheit wird gerade jenen Menschen persönlich vorenthalten, die nicht an die Ewigkeit des Sozialismus, sondern an die Freiheit des Westens glaubten.
Diejenigen, die sich gegen das SED-Regime einsetzten,
die deshalb zu DDR-Zeiten politisch verfolgt wurden
und Nachteile in Kauf nehmen mußten, sind heute vielfach enttäuscht, nicht selten resigniert und manchmal
sogar sozial am Ende. Ihnen ist - anders als den Beziehern von Renten aus Sonder- und Zusatzrentensystemen - bisher nicht Gerechtigkeit widerfahren. Nicht
einmal hinreichende öffentliche Anerkennung wurde ihnen zuteil.
Heute ist der 17. Juni. Der Bundespräsident hat der
Opfer und Kämpfer dieser Junitage von 1953 kurz gedacht, wofür ich ihm danke. Es ist ja inzwischen schon
etwas wert, wenn wir diesen Tag im Tagesgeschäft nicht
völlig vergessen. Übrigens wäre es meines Erachtens in
vielerlei Hinsicht sogar sinnvoller - vielleicht sollten wir
darüber hier einmal gemeinsam nachdenken -, diesen
Tag der deutschen Einheit und nicht das Verwaltungsdatum 3. Oktober zu feiern.
({1})
Es geht uns mit unserem Gesetzentwurf zuerst um diese Menschen, um Menschen, deren berufliche Entwicklung in der DDR abgeschnitten wurde und die im vereinten Deutschland für eine zweite oder dritte Karriere schon
zu alt waren. Es geht, meine sehr verehrten Damen und
Herren, vor allem und zuerst um die politischen Häftlinge,
die unter unmenschlichen Bedingungen in Bautzen, Berlin-Hohenschönhausen oder Cottbus oft jahrelange Haftstrafen abbüßten - für erfundene und konstruierte Straftaten, auf die die Schubladenparagraphen der SEDDiktatur paßten. Kein Rechtsstaat hätte sie je verurteilt.
Aber so manche Scheinjuristen von damals sind heute
verbeamtet, und so mancher, der die gegebenen Handlungs- und Entscheidungsfreiräume bewußt und eifernd
zum Nachteil der politisch Angeklagten nutzte, bezieht
heute als Anwalt der Täter oder als Richter eines Rechtsstaates gutes Gehalt und hohe Pension.
({2})
Uns, meine sehr verehrten Damen und Herren, geht
es um die Menschen, die zum Beispiel völlig unschuldig
in NKWD-Lager kamen und zu DDR-Zeiten nicht einmal darüber reden durften, Herr Jüttemann. Deshalb
müssen wir genau hinschauen und hinhören, wie unser
Umgang hier im Deutschen Bundestag mit 40 Jahren
SED-Diktatur bei diesen Opfern ankommt.
Die Forderungen der Opferverbände sehen ganz
anders aus. Sie fordern nicht nur, die Entschädigung der
im Antrag der Koalitionsfraktionen angesprochenen
Problemfälle oder auch die Entschädigung für geleistete
Zwangsarbeit zu verbessern. Die Opferverbände fragen
auch nach einer Verfolgtenrente, die sich in der Höhe an
den VdN-Renten für die Verfolgten des Naziregimes
orientiert.
({3})
Diese wurden mit dem Einigungsvertrag übernommen
und 1992 einheitlich auf 1 400 DM festgesetzt.
({4})
- Hören Sie erst einmal zu, Herr Meckel. - Gerade deshalb kann uns nicht billiger Opportunismus vorgeworfen
werden. Wir haben mit einer Rente für die Opfer des
SED-Sozialismus von lediglich 300 DM monatlich
einen Vorschlag gemacht, den fast alle anderen Fraktionen des Hohen Hauses noch um den gleichen Betrag
aufbessern können, ehe wir zum Beispiel diese 1 400
DM erreichen. Wir erheben keinen Prioritätsanspruch
und wollen auch nicht die Autorenschaft für dieses Gesetz. Wir wollen wirklich die Lage der Betroffenen verbessern, und deshalb spreche ich hier. Es könnte sein,
Herr Schwanitz, daß Ihre Verhandlungsposition auch in
bezug auf das Geld dadurch verbessert wird.
Um diese Forderung angesichts der knappen Kassen
der Finanzminister von Bund und Ländern ins rechte
Licht zu rücken, lassen Sie mich auf das Rentenurteil des
Bundesverfassungsgerichts zurückkommen. Zum Vergleich: Seit der Wiedervereinigung hat die Bundesrepublik Deutschland für die Opfer des Nationalsozialismus
insgesamt etwa 1 Milliarde DM ausgegeben. Für die Opfer des SED-Regimes ginge es, selbst wenn wir die von
den Opferverbänden geforderten Monatsrenten von 1 400
DM ins Auge faßten, um weniger als 1 Milliarde DM
jährlich. Aber: Allein bei den Nachzahlungen aus den
Sonder- und Zusatzversorgungssystemen, allein für diejenigen unter den 500 000 vom Bundesverfassungsgerichtsurteil Betroffenen, die SED-Kader, Mitarbeiter des
MfS und anderer bewaffneter Organe waren, und diejenigen, die als sogenannte Gesellschaftswissenschaftler
Marxismus-Leninismus oder sozialistisches Recht lehrten
und exekutierten, geht es schon um zweistellige Milliardenbeträge. Und in Zukunft bekommen Tausende, die
keine Not leiden, nicht 300 DM mehr im Monat, sondern
einige tausend Mark. Der Ausgleich der durch die politische Verfolgung bedingten Minderanwartschaften bei
SED-Opfern ist im Vergleich zur Regelung der Sonderrenten geradezu lächerlich.
({5})
Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was heißt hier eigentlich Rechtsfrieden? Herr Staatsminister, was meinen Sie,
was in diesem Kontext „soziale Gerechtigkeit“ bedeutet? Der ehrenwerte Urologe Professor Mebel hat vor
dem Bundesverfassungsgericht geklagt und recht bekommen. Der Staat und die Partei, für die er 18 Jahre als
Kandidat bzw. Mitglied im Zentralkomitee saß, haben
ihm nur dieses halbe Leben soziale Sicherheit bieten
können. Die Renten in der DDR waren keineswegs
sicher. Nach Kassenlage war 1989 Schluß. All das, was
der Rechtsstaat heute zahlt, ist Geld, das in einem anderen System erwirtschaftet wurde, das die meisten der
SED-staatsnahen Bediensteten bekämpften und das für
sie historisch zum Untergang verurteilt war.
({6})
Aber auch eine andere Ungeheuerlichkeit muß hier
benannt werden. Es steht einem Bundestagsabgeordneten an dieser Stelle nicht zu, das Bundesverfassungsgericht zu kritisieren.
({7})
Aber ich habe Fragen zum Rentenurteil vom 28. April
1999. Ich kann das sehr wohl auseinanderhalten. Denn
angesichts der dargestellten Spannungen zwischen DeLuxe-Zahlungen für Täter, zu denen wir - rechtsstaatlich akzeptabel - verpflichtet wurden, und schäbigen
Almosen für Opfer, für die kein Geld vorhanden ist, darf
ich folgende Fragen schon stellen:
({8})
Reichen für uns hier in der politischen Debatte rechtspositivistische Positionen bei hochbrisanten politischen
Urteilen aus, wenn der Sache wirklich gedient werden
und das Recht nicht zum Selbstzweck verkommen soll?
Natürlich weiß ich, daß es nicht um das Gute und schon
gar nicht um das Gutgemeinte geht. Aber ist es wirklich
gut, wenn es nur noch um das Rechte, um das Paragraphenmäßige geht?
Sollen wir dieses Rentenurteil wirklich so verstehen,
daß damit in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat jedes Raubgut einer Diktatur durch Art. 14 des
Grundgesetzes, dem Schutz des Eigentums, unantastbar
geworden ist?
Herr Kollege
Nooke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Seifert?
Am Ende meiner Rede,
bitte. Ich bin gleich fertig.
Geht hier diese „Verrechtsstaatlichung im nachhinein“, die selbst die „FAZ“ als „grotesk“ bezeichnete,
nicht entschieden zu weit? Welchen Dienst am Grundgesetz leisten wir wirklich, wenn diejenigen, die an das
Recht einer Diktatur nicht glaubten, jetzt vom demokratischen Rechtsstaat vorgeführt werden und zu den Verlierern gehören?
Jene aber, die den freiheitlichen Rechtsstaat mit allen,
selbst mit staatsterroristischen Mitteln bekämpften und
zu bekämpfen bereit waren, können mit dem politischen
Scheinrecht aus DDR-Zeiten ihren neuen Reichtum im
freiheitlichen Westen begründen? Werden dadurch bei
den Staatsbürgern Eigenverantwortung sowie politisches, rechtsstaatliches und demokratisches Bewußtsein
gestärkt? Woher wissen wir eigentlich, daß wir das zukünftig nicht mehr brauchen werden? Wenn wir es brauchen, darf auch ein Urteil unseres höchsten Gerichtes
diese Werte nicht mit Füßen treten.
Aber ich will unserem höchsten Gericht - das ist der
entscheidende Punkt - auch bei diesem Urteil gerne
einen verantwortlichen Abwägungsprozeß zugestehen.
Es steht zwar nicht im Urteil des Bundesverfassungsgerichts; aber es kann kein Zweifel daran bestehen, daß
nach einer unangemessenen Entscheidung für viele
Mitläufer und Täter wenigstens eine angemessene Entschädigung der Opfer folgen muß. Je länger und je öfter
ich darüber nachdenke, um so deutlicher wird mir, daß
eine Entschädigung eher bei 1 400 DM als bei den von
uns vorgeschlagenen 300 DM liegen muß.
({0})
Herr Kollege
Nooke, leider ist Ihre Redezeit jetzt weit überschritten.
Bitte kommen Sie zum Schluß.
Ich bin fast fertig. Verehrter Herr Staatsminister, angesichts Ihres Vorschlages, Opfergruppen besserzustellen, möchte ich Ihnen versichern, daß wir Sie unterstützen werden. Aber
ich möchte Sie auffordern, unseren Vorschlag der Opferrente aufzugreifen. Noch haben Sie die Chance, für
die SED-Opfer mehr zu erreichen als die Vorgängerregierung. Unser Entwurf ermöglicht ein schnelles und
unbürokratisches Handeln. Ich würde mich freuen, wenn
Sie Ihre Ankündigungen beenden und begreifen würden,
daß für die Opfer die Zeit drängt.
Danke.
({0})
Dann kommen
wir jetzt zur Nachfrage des Kollegen Seifert. - Bitte.
Herr Kollege Nooke, Sie
sprachen sehr oft davon, daß der Rechtsstaat geschützt
werden muß. Glauben Sie nicht auch, daß dazu gehört,
die Biographie von einzelnen Menschen nicht zu verunglimpfen? Glauben Sie nicht auch, daß die Tatsache, daß
Sie einen Mann wie Professor Moritz Mebel, der ein
weltweit geachteter Nierenspezialist ist, der viele Menschen aus der Bundesrepublik Deutschland operiert hat,
der ihnen geholfen bzw. ihr Leben gerettet hat, als jemanden darstellen, der sich unverdienterweise Westgeld
unter den Nagel reißen will, weit über das hinausgeht,
was unter Persönlichkeitsschutz zu verstehen ist?
({0})
Das ist eben der Irrtum,
den Sie begehen. Ich habe deutlich gemacht, daß ich die
DDR nicht für ein rechtsstaatliches und freiheitlichdemokratisches System im Sinne der Bundesrepublik
Deutschland halte.
({0})
Man muß damit leben, daß nicht alles, was man zum
Beispiel als ZK-Mitglied für diesen Staat, der dann untergegangen ist, erreichen wollte, von einem anderen
Staat übernommen wird. Wenn es Ihnen wirklich um
Freiheit und Demokratie ginge, dann müßten Sie sich für
die Opferrenten genauso einsetzen wie für die Renten
der anderen.
({1})
Seit dem Urteil müssen wir über ganz andere Summen reden, damit der Rentenausgleich auch für die Opfer gewährleistet ist.
({2})
Wir können in diesem Bereich keinen Unterschied zulassen. Wenn Sie sich nicht dafür einsetzen, dann sind
Sie nichts weiter als eine Lobbyorganisation der Täter.
Das kommt bei Ihnen immer mehr oder weniger durch.
({3})
- Es geht darum, daß Sie zwischen dem, was Rentensicherheit zu DDR-Zeiten bedeutet hat - nur politisch
Privilegierte waren in diesem System -, und dem, was
sichere Renten heute bedeuten, einen Unterschied machen müssen. Darüber reden wir noch.
Danke.
({4})
Herr Kollege
Seifert, es geht nicht, daß Sie dazwischensprechen.
Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen, dann müssen Sie
die Antwort so nehmen, wie sie kommt.
({0})
Ich möchte im Namen des Hauses Herrn Günter Nooke
zu seiner ersten Rede in diesem Plenum gratulieren
({1})
und schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz-
entwurfes auf Drucksache 14/1001 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Federführung soll beim Ausschuß für Angelegenheiten
der neuen Länder liegen. Der Antrag der Koalitions-
fraktionen auf Drucksache 14/1165 soll an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen
werden. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu einer ganzen Reihe von Ab-
stimmungen und zu einigen persönlichen Erklärungen.
Ich rufe zunächst die Tagesordnungspunkte 14a bis
14o und 14q bis 14r sowie die Zusatzpunkte 1a und 1b
auf:
14. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Zusatzprotokoll vom 26. März 1998 zum
Übereinkommen vom 18. August 1948 über
die Regelung der Schiffahrt auf der Donau
({2})
- Drucksache 14/1007 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({3})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Abkommen vom 20. April 1998 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und Japan über Soziale Sicherheit
- Drucksache 14/1018 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4})
Ausschuß für Gesundheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Abkommen vom 2. Mai 1998 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn über Soziale Sicherheit
- Drucksache 14/1019 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({5})
Ausschuß für Gesundheit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 4. Mai 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Republik Armenien über den Luftverkehr
- Drucksache 14/1020 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({6})
Finanzausschuß
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Protokoll vom 15. Juni 1998 zur Er-
gänzung des Luftverkehrsabkommens vom
2. März 1994 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und den Vereinigten Arabi-
schen Emiraten
- Drucksache 14/1021 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Protokoll vom 12. November 1997 zur
Ergänzung des Abkommensvom 2. No-
vember 1987 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und Neuseeland über den
Luftverkehr
- Drucksache 14/1022 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 10. März 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Republik Südafrika über den
Luftverkehr
- Drucksache 14/1023 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({7})
Finanzausschuß
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 29. Mai 1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Mongolei über den Fluglinienverkehr
- Drucksache 14/1024 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({8})
Finanzausschuß
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 23. April 1998
zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der
Tschechischen Republik über den Luftverkehr
- Drucksache 14/1025 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({9})
Finanzausschuß
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Abkommen vom 3. Dezember 1997
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Republik Belarus über den Luftverkehr
- Drucksache 14/1026 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({10})
Finanzausschuß
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Übereinkommen vom 5. September
1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, der Regierung des
Königreichs Dänemark und der Regierung
der Republik Polen über das Multinationale Korps Nordost
- Drucksache 14/1103 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({11})
Verteidigungsausschuß
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
- Drucksache 14/864 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({12})
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
m) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Erleichterung der Verwaltungsreform in
den Ländern ({13})
- Drucksache 14/640 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({14})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
n) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - ({15})
- Drucksache 14/872 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({16})
Innenausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Kultur und Medien
o) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen des Bundes
- Drucksache 14/1147 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({17})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun ({18}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu den Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik China
- Drucksache 14/661 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
({19})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
r) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Michael Luther, Andrea Astrid Voßhoff und
der Fraktion der CDU/CSU
Entschädigungspflicht nach dem Vermögensgesetz bei Einziehung von beweglichen
Sachen regeln
- Drucksache 14/1003 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({20})
Finanzausschuß
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuß
ZP1 a) Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
({21})
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 1999
({22})
- Drucksache 14/1088 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({23})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Neunten Ge-
setzes zur Änderung des Arzneimittelgeset-
zes
- Drucksache 14/1161 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Das Bundesbesoldungs- und -versorgungs-
anpassungsgesetz 1999 auf Drucksache 14/1088 - Zu-
satzpunkt 1a - soll zusätzlich an den Haushaltsausschuß
zur Mitberatung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a bis 15j auf:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 17. Januar 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Unabhängigen Staat Papua-Neuguinea zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 14/486 ({24})
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({25})
- Drucksache 14/880 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Detlev von Larcher
Heinz Seiffert
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 8. Dezember 1997 über wirtschaftliche
Partnerschaft, politische Koordinierung
und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den Vereinigten Mexikanischen Staaten andererseits
- Drucksache 14/684 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
({26})
- Drucksache 14/1167 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Dezember 1995 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik
Finnland und des Königreichs Schweden
zu dem Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von
Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen
- Drucksachen 14/748, 14/984 ({27})
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({28})
- Drucksache 14/1153 Berichterstattung:
Abgeordneter Hansgeorg Hauser ({29})
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Übereinkommens vom 4. August 1963 zur
Errichtung der Afrikanischen Entwicklungsbank
- Drucksache 14/907 ({30})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ({31})
- Drucksache 14/1154 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. R. Werner Schuster
Dr. Christian Ruck
Carsten Hübner
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie ({32}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Hans Martin Bury, Ernst
Schwanhold, Klaus Barthel ({33}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Werner Schulz
({34}), Margareta Wolf ({35}) und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Förderung der Luftfahrttechnologie
- Drucksachen 14/395, 14/686 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Max Straubinger
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen ({36}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Christine Ostrows-
ki, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf, Dr.
Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Fortführung des Wohnraum-Modernisie-
rungsprogramms der Kreditanstalt für
Wiederaufbau bis zum Jahr 2000
- Drucksachen 14/126, 14/652 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig
g) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bauund Wohnungswesen ({37}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Christine Ostrows-
ki, Dr. Ilja Seifert, Dr. Winfried Wolf und der
Fraktion der PDS
Verbesserte Förderung der Wohnungsmo-
dernisierung im Altbaubestand und bei
Wohnhochhäusern nach dem Investitions-
zulagengesetz 1999
- Drucksachen 14/127, 14/767 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Christine Lucyga
h) Beratung der Beschlußempfehlung des
Rechtsausschusses ({38})
Übersicht 1
über die dem Deutschen Bundestag zuge-
leiteten Streitsachen vor dem Bundesver-
fassungsgericht
- Drucksache 14/842 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
i) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Haushaltsausschusses ({39}) zu der Unterrichtung durch den Bun-
desrechnungshof
Bericht des Bundesrechnungshofes gemäß
§ 99 BHO über die Aufgabenwahrneh-
mung in ausgewählten Servicebereichen
der Bundesverwaltung
- Drucksachen 14/220, 14/305 Nr. 1.2,
14/846 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Werner Hoyer
Gunter Weißgerber
Carl-Detlev Frhr. von Hammerstein
Oswald Metzger
Dr. Christa Luft
j) Beratung der Beschlußempfehlung und des
Berichts des Haushaltsausschusses ({40}) zu dem Antrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie
Rechnungslegung über das Sondervermögen des Bundes „Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes“ für das
Wirtschaftsjahr 1997
- Drucksachen 14/258, 14/847 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Hampel
Antje Hermenau
Dr. Werner Hoyer
Dr. Christa Luft
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15 a. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/880, den
Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich
zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen
worden.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 15 b. Es
bestehen Wünsche zur Abgabe einer persönlichen Erklärung, zunächst von der Abgeordneten Ulla Lötzer.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Ich lehne den Gesetzentwurf ab, weil die
Verhandlungen zwischen der EU und Mexiko noch nicht
abgeschlossen sind, zentrale Fragen noch nicht geklärt
wurden und deshalb zu diesem Zeitpunkt keine Notwendigkeit der unmittelbaren Ratifizierung besteht.
Ich lehne ab, weil das gesamte Verfahren in hohem
Maße nicht transparent war und eine kritische Diskussion in den Parlamenten und mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren in der EU und in Mexiko verhindert
hat.
Ich lehne ab, da die Durchsetzung und Überwachung
der Menschenrechts- und Demokratisierungsklausel
nicht konkretisiert ist und keine Sanktionsfähigkeit bei
Verstößen vorgesehen ist.
Ich lehne ab, da die in Art. 4 bis 6 getroffenen Vereinbarungen zum Handel keine Sozialklauseln beinhalten und keine Sanktionsfähigkeit hinsichtlich der Durchsetzung und Überwachung, wie sie beispielsweise im
Handelsvertrag zwischen den USA und Guatemala festgelegt sind.
Ich lehne ab, weil die in Art. 8 und 9 geforderte Liberalisierung und Deregulierung des Kapitalverkehrs der
notwendigen Regulierung der Finanzmärkte zuwiderläuft und die Gefahr von zukünftigen Finanzmarktkrisen
erhöht - und das, obwohl Mexiko bereits zweimal eine
solche leidvolle Erfahrung gemacht hat.
Ich lehne ab, weil in Art. 11 eine Wettbewerbsordnung vorgesehen ist, die den Schutz ausländischer Direktinvestitionen in der Weise erhöht, daß eine „Positivdiskriminierung“ mexikanischer Unternehmen nicht
mehr möglich sein wird und damit zentrale Instrumente
einer nationalen und regionalen Wirtschaftspolitik abgeschafft werden, die insbesondere dem Schutz der Landwirtschaft dienen, nachdem den durch die NAFTA hervorgerufenen Krisen nicht Rechnung getragen wird.
Ich lehne ab, da in Art. 10 die zuvor geschilderte Intention der Wettbewerbsordnung auch noch auf den öffentlichen Bereich ausgedehnt wird und damit der gesamte mexikanische öffentliche Sektor bei der Auftragsvergabe der Konkurrenz überlegener Anbieter aus den
EU-Staaten unterworfen wird.
Ich lehne ab, da die Vereinbarung zwischen der EU
und Mexiko wesentliche Elemente des zur Zeit unterbrochenen MAI-Prozesses beinhaltet, sie auf bilateraler
Ebene festschreibt und somit die darüber zu führende
kritische Diskussion umgeht.
Ich lehne vor allem deshalb ab, weil insbesondere die
Ignoranz gegenüber den Bedenken und Forderungen von
48 Menschenrechtsorganisationen - unter ihnen die
mexikanischen Gewerkschaften, Kleinunternehmer und
Bauern - und ihren dringenden Aufforderungen an die
EU-Parlamentarier, diesen Vertrag nicht zu ratifizieren,
eines demokratischen Miteinanders der Völker unwürdig
ist.
Danke.
({0})
Eine weitere
persönliche Erklärung des Abgeordneten Carsten Hüb-
ner wird zu Protokoll gegeben.*) Sind Sie damit einverstanden?
({0})
- Dann können wir jetzt abstimmen.
Zur Abstimmung über den von der Bundesregierung
eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen über
wirtschaftliche Partnerschaft, politische Koordinierung
und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen
Gemeinschaft und den Vereinigten Mexikanischen
Staaten, Drucksache 14/684. Der Ausschuß für Wirt-
schaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache
14/1167 unter Ziffer 1, den Gesetzentwurf unverändert
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS
angenommen worden.**)
Der Ausschuß für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt unter Ziffer 2 seiner Beschlußempfehlung auf
Drucksache 14/1167 die Annahme einer Entschließung.
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS
angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 c, Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu
dem Übereinkommen über den Beitritt der Republik
Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs
Schweden zu dem Übereinkommen über die Beseitigung
der Doppelbesteuerung. Das sind die Drucksachen
14/748 und 14/984. Der Finanzausschuß empfiehlt auf
Drucksache 14/1153, den Gesetzentwurf unverändert
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gibt es Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 d, Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Übereinkommens zur Errichtung der
Afrikanischen Entwicklungsbank. Das ist die Drucksa-
che 14/907. Der Ausschuß für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung empfiehlt auf Drucksache
14/1154, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei
einigen Enthaltungen aus der Fraktion der PDS ange-
nommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 e, Beschlußempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem
------------
**) Anlage 2
**) Siehe hierzu Anlage 3
Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Förderung der Luftfahrttechnologie, Drucksache 14/686. Der Ausschuß empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/395 anzunehmen. Wer
stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU,
F.D.P. und einige Stimmen aus der PDS sowie Enthaltungen aus der PDS angenommen worden.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15 f. Auch hier
liegt der Wunsch nach einer persönlichen Erklärung vor.
Diese Erklärung wird von der Abgeordneten Christine
Ostrowski abgegeben.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich auch
den zweiten Antrag, der gleich zur Abstimmung ansteht,
in diese Erklärung mit einbeziehe.
Der erste Antrag beschäftigt sich mit der Fortführung
des Modernisierungsprogrammes der Kreditanstalt für
Wiederaufbau; der zweite Antrag beschäftigt sich mit
der Gleichstellung der Investitionszulage im Wohnungsbestand Ostdeutschlands mit der Investitionszulage für
den Neubau. Ich werde aus folgenden Gründen für beide
Anträge stimmen:
Erstens. Diese Anträge sind vor allem deshalb notwendig, weil die konkrete Situation des ostdeutschen
Wohnungsmarktes und der Wohnungswirtschaft ein entsprechendes Handeln dringend erfordert. Zirka 40 Prozent des dortigen Wohnungsbestandes müssen noch
saniert werden. Darunter sind Häuser des Althausbestandes und Hochhäuser mit vorwiegend hohem Investitionsaufwand, demzufolge hohen Investitionskosten und
damit hohen Mieten nach der Modernisierung. Schon
unter den momentanen Bedingungen, das heißt unter
Nutzung beider Instrumente, klettern die Kaltmieten
nach der Modernisierung auf 10 bis 11 DM pro Quadratmeter und sind damit analog den Miethöhen im frei
finanzierten Wohnungsbau. Modernisierung und Sanierung sind in den neuen Ländern der Preistreiber Nummer eins.
Zweitens. Wenn die Investitionszulage im Rahmen
des Modernisierungsprogramms nicht erhöht wird, werden für einen großen Teil der Mieter bezahlbare Wohnungen zu einem echten Problem, auch und gerade weil
die Mieter auf dem Wohnungsmarkt nicht mehr auf eine
preiswertere Wohnung ausweichen können. Die Anzahl
dieser Wohnungen sinkt zunehmend durch Sanierung
und Modernisierung.
Drittens. Auch die Notwendigkeit, die staatliche Förderung auf den Wohnungsbestand und nicht auf den
Neubau zu konzentrieren - dies ist erklärtes Ziel der
Koalitionsvereinbarung -, spricht für die Annahme unserer Anträge.
Nicht zuletzt verweise ich auf den Beschäftigungseffekt und auf den positiven finanziellen, steuerpolitischen
Effekt für Bund, Länder und Kommunen, die die Fortsetzung des Modernisierungsprogramms und die Gleichsetzung der Investitionszulage für den Altbau mit sich
bringen würden. Diese Effekte entgehen aber dem Bund,
den Ländern und den Kommunen, wenn unsere Anträge
nicht angenommen werden.
Im übrigen greifen beide Anträge Forderungen der
ostdeutschen Landesregierungen - unabhängig, von
welcher Partei sie gestellt werden -, der Kommunen, der
Verbände von Mieterinnen und Mietern und der Verbände von Vermieterinnen und Vermietern auf.
Zum Schluß möchte ich noch deutlich machen, daß
sich Positionen ändern, wenn man an der Regierung ist.
Die Koalitionsparteien hatten, als sie noch in der Opposition waren, analoge Forderungen an die damalige
Bundesregierung gestellt. Diese Forderungen sind, so
scheint es, heute vergessen.
Danke.
({0})
Wir kommen
nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
dem Antrag der Fraktion der PDS zur Fortführung des
Wohnraum-Modernisierungsprogramms der Kreditanstalt für Wiederaufbau bis zum Jahr 2000, Drucksache
14/652. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/126 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 g, Beschlußempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
dem Antrag der Fraktion der PDS zur verbesserten
Förderung der Wohnungsmodernisierung im Altbaubestand und bei Wohnhochhäusern nach dem
Investitionszulagengesetz 1999. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/127 abzulehnen.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 h, Beschlußempfehlung des
Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht, Drucksache 14/842. Das ist die Übersicht 1. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 i, Beschlußempfehlung des
Haushaltsausschusses zu dem Bericht des Bundesrechnungshofs über die Aufgabenwahrnehmung in ausgewählten Servicebereichen der Bundesverwaltung,
Drucksachen 14/220 und 14/846. Wer stimmt für diese
Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 15 j, Beschlußempfehlung des
Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie zu der RechVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
nungslegung über das Sondervermögen des Bundes
„Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes“ für das Wirtschaftsjahr 1997, Drucksachen 14/258
und 14/847. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist damit ebenfalls einstimmig angenommen
worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Situation der Flüchtlinge nach Beendigung der
Kampfhandlungen im Kosovo
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 9. Juni wurde zwischen der serbischen
Führung und den NATO-Kommandeuren das Abkommen zum Abzug der serbischen Militärs, Paramilitärs
und Polizeieinheiten aus dem Kosovo unterzeichnet.
Damit wurde das barbarische Morden auf dem Kosovo
endlich beendet.
Wer hat nicht in den vergangenen Monaten mit Bangen darauf geschaut, ob es gelingen würde, der archaischen Gewalt im Kosovo Einhalt zu gebieten? Wer hat
nicht das Entsetzen geteilt, daß man nur ahnen konnte,
welchen gnadenlosen Torturen die eingeschlossenen
Menschen und auch die Flüchtlinge, die rausgegangen
sind, ausgeliefert waren? Hin- und hergeschoben die
Eingeschlossenen als Flüchtlingstrecks im Land von
einer unbarmherzigen Soldateska, ohne Versorgung mit
Lebensmitteln und, was vielleicht das Dramatischste
war, ohne Kontakt nach außen.
Ich bin mir in den vergangenen Wochen nicht immer
sicher gewesen, ob NATO und UNO in der Lage sein
würden, den Menschen wirklich die Rückkehr in ihr
Heimatland vor dem Wintereinbruch zu ermöglichen.
Wie gut ist es, nun zu sehen, daß der Abzug der jugoslawischen Einheiten nach Plan verläuft und daß die
KFOR-Truppen als Schutzmacht für die Menschen ins
Land einziehen konnten.
Der UNHCR ist seit Sonntag mit mehreren Teams
wieder im Kosovo vertreten. Das Büro des UNHCR in
Prizren soll schnellstmöglich wieder eröffnet werden.
Von dort aus sollen Hilfskonvois die Dörfer im Südwesten des Kosovo anfahren und die Menschen mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen, die zum Teil
seit zweieinhalb Monaten von jeder Versorgung abgeschnitten waren.
Doch die Situation im Kosovo selbst ist nach wie vor
labil. Es entladen sich jetzt lang angestauter Haß und
Wut der albanischen Bevölkerung gegenüber den abziehenden serbischen Militärs, aber auch gegen die serbische Zivilbevölkerung, die nun selber zu Flüchtlingen
wird und zu Tausenden das Kosovo in Richtung Montenegro und Serbien verläßt.
Wenn es nicht gelingt, auch der serbischen Bevölkerung glaubhaft zu machen, daß die KFOR-Truppen auch
für sie da sind, wird es wieder eine ethnische Trennung
geben und der Geist des Milosevic wird unter der Hand
wieder ein Stück gesiegt haben. Das wäre ein Drama.
({0})
Die UCK-Kämpfer versuchen, das Machtvakuum,
das durch die abziehenden serbischen Truppenverbände
entsteht, zu nutzen. Die Gefahr, von Heckenschützen
beschossen zu werden, ist weiterhin gegeben, und vor
allem besteht Minengefahr. Es gibt erste Nachricht von
zurückkehrenden Flüchtlingen, die auf den Feldern von
Minen getötet worden sind.
Nahezu alle Hilfsorganisationen warnen daher davor,
daß die Kosovo-Flüchtlinge zu schnell in ihr Land zurückkehren. Bis zum vollständigen Abzug der Truppenverbände sollten die Flüchtlinge in den Anrainerstaaten
verbleiben, weil es ansonsten sehr schwer wird, für ihre
Sicherheit zu garantieren. Dennoch drängen schon viele
Flüchtlinge jetzt zurück; wir alle sehen die Bilder in den
Medien. Sie können es kaum erwarten, Haus und Hof
oder das, was davon übriggeblieben ist, zu besichtigen
und mit dem großen Aufräumen zu beginnen.
Den Berichten des Auswärtigen Amtes ist zu entnehmen, daß Malteser, Deutsches Rotes Kreuz, Caritas,
THW und GTZ sich vornehmlich an Standorten des
deutschen KFOR-Kontingents betätigen werden. Ich
glaube, eine der besten Ideen ist, dort Bauhöfe einzurichten, damit mit dem Wiederaufbau auch durch die
Kosovaren selbst schnell begonnen werden kann.
({1})
Aber niemand hat bisher einen Überblick über das
Ausmaß der Zerstörung, und niemand weiß, ob die Lager in Albanien und Mazedonien überhaupt bis zum
Winter geleert werden können. 800 000 Menschen zurückzuführen ist eine gigantisch große Aufgabe.
Deswegen finde ich es absolut daneben, jetzt in
Deutschland eine Rückkehrdebatte loszutreten, hier in
Deutschland, wo wir 15 000 Menschen aufgenommen
haben und wo wir als reiches Land uns wirklich Zeit lassen können, mit der Rückführung zu beginnen. Wenn
ein Land wie Bosnien-Herzegowina, selbst noch vom
Krieg gezeichnet, es sich leisten kann, 70 000 Kosovaren als Flüchtlinge aufzunehmen,
({2})
dann haben wir noch einige Monate Zeit, um mit der
Rückführung der Kosovaren aus Deutschland zu beginnen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ich möchte die Worte des Bosnien-Beauftragten,
Herrn Koschnik, aufnehmen, der sagt: Wir müssen uns
sogar darauf vorbereiten, daß möglicherweise noch einmal eine vorübergehende Notaufnahme von Flüchtlingen hier notwendig ist, wenn die Lager im Winter nicht
befestigt sein können und bis dahin die Rückkehr nicht
gelingt.
Die Hilfsorganisationen weisen darauf hin, daß sie
nach wie vor dringend auf Spenden, auch private Spenden, angewiesen sind. Ich möchte von diesem Platz aus
alle Menschen noch einmal auffordern, nicht nachzulassen mit der Großzügigkeit, die es in unserer Bevölkerung in ganz bewundernswerter Weise gegeben hat.
Schönen Dank.
({3})
Ich gebe jetzt
der Kollegin Lietz das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Der Krieg im Kosovo ist aus - das ist gut -, aber es
herrscht noch kein Frieden. Wir befinden uns in einem
Schwebezustand, und die Zukunft der Menschen im Kosovo und damit auch die Zukunft des ganzen Balkans
wird davon abhängen, wie wir jetzt handeln und welche
Entscheidungen wir jetzt treffen. Deshalb wollen diese
Entscheidungen gut überlegt sein.
Es beginnt ein schwerer Teil unserer Aufgabe, der
uns noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Neben
der militärischen Sicherung eines von beiden Konfliktparteien akzeptierten Friedens gilt es jetzt, humanitäre und medizinische Hilfe für geschundene und vielfach entwurzelte Menschen zu gewähren. Wir alle haben
noch sehr deutlich die Bilder vor Augen, wie Hunderttausende von Flüchtlingen über die Grenzen in die
Nachbarländer drängten, um unter schwierigsten Bedingungen in riesigen Flüchtlingslagern untergebracht zu
werden. Sie alle kommen jetzt zurück. Sie kommen zurück, weil wir ihnen die Rückkehr versprochen haben.
Sie zählen auf uns, und sie müssen wissen, daß sie auf
uns zählen können, meine Damen und Herren.
Was zu befürchten steht, ist allerdings, daß dieser
Rückzug nicht ganz so kontrolliert ablaufen wird, wie
wir uns das vielleicht wünschen. Diese Menschen haben
zum Teil keinen Nachweis für ihren Besitz. Sie haben
Angst um ihren Besitz, und sie werden zurückkommen,
wenn sie es für richtig halten, und nicht dann, wenn wir
es ihnen sagen.
Am wichtigsten ist es, die Flüchtlinge zunächst einmal mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen, ihre
Grundbedürfnisse zu befriedigen. Hilfe vor Ort muß zunächst heißen, ihnen Nahrungsmittel zur Verfügung
stellen. Sie sind Hunderte von Kilometern gegangen, um
dieses Land zu verlassen; sie kommen Hunderte von
Kilometern zurück. Sie sind entkräftet. Sie brauchen unsere Hilfe.
Wir haben hier im Deutschen Bundestag entsprechende Beschlüsse gefaßt, wie den Einsatz von AFOR
zur humanitären Hilfe in Albanien und die Hilfe der
Bundeswehr beim Aufbau von Zeltstädten und der humanitären und medizinischen Versorgung der Lager in
Mazedonien. Gerade auf Grund dieser Hilfe für die
Flüchtlinge ist das Ansehen der Bundeswehr auf der albanischen Seite sehr hoch. Wir haben bewiesen, daß wir
helfen können.
({0})
Wir brauchen aber vermehrt auch die Hilfe ziviler Organisationen wie THW, Care, Rotes Kreuz und „Cap
Anamur“. Und ich wünschte mir, daß wir auch auf
„Ärzte ohne Grenzen“ und andere „non government organizations“ zählen können, um für die Koordination
der Flüchtlingshilfe sorgen.
({1})
Wir brauchen außerdem - das hat Staatssekretär Kolbow gestern schon kurz in der Fragestunde angedeutet Material und Gerät, damit diese Flüchtlinge vor Ort ihre
Häuser wieder aufbauen und sie winterfest machen können, um sich im Winter dann selber zu schützen. Wir
brauchen Material, damit sie Schulen bauen und ihren
Kindern möglichst bald wieder Unterricht erteilen können. Wir brauchen landwirtschaftliche Hilfen wie Saatgut, damit sie, nachdem die Minen geräumt sind, wieder
den Boden bearbeiten können.
Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Finanzierung
der humanitären Hilfe sagen. Tatsache ist, daß
Deutschland den Wiederaufbau nicht alleine bewältigen kann. Wer das leichtsinnig verspricht, weckt
Erwartungen, die wir nicht halten können. Wir müssen
dieses Land zusammen mit den Amerikanern und
den anderen Europäern wiederaufbauen, wobei ich
sicher bin, daß auf die Europäische Union eine ganz
besondere Verantwortung zukommt. Wir, die anderen
europäischen Länder und die Amerikaner werden
uns nicht auseinanderdividieren lassen. Der Druck, den
wir über fast drei Monate in Jugoslawien gemeinsam aufrechterhalten haben, wird auch nötig sein, um
die zivile Wiederaufbauhilfe gemeinsam durchzuführen.
Jetzt dürfen nicht nur Ankündigungen, nicht nur leere
Worte folgen, wie das im Zusammenhang mit Europapolitik in diesem Plenum so oft der Fall war, jetzt müssen Taten folgen. Ich fordere die Regierung und Herrn
Nutzen Sie die letzten Tage Ihrer Ratspräsidentschaft, um eine solidarische europäische Finanzierung des Wiederaufbaus zu verhandeln
und zu beschließen!
({0})
Diese Menschen glauben an uns, sie brauchen unsere
Hilfe. Es ist auf alle Fälle besser, jetzt zu investieren,
jetzt Geld in den Kosovo zu geben, als nach weiteren
ungeschickten Vorgehensweisen eine erneute, womöglich bewaffnete Auseinandersetzung zu riskieren, die
dann wiederum von uns finanziert werden muß. Das
Geld ist anders besser angelegt.
Marieluise Beck ({1})
Unbedingt erhalten bleiben muß eine zufriedenstellende medizinische Versorgung unserer eigenen Truppe, aber auch der Bevölkerung. Wenn ich höre, daß mit
den serbischen Truppen und den insgesamt 40 000 Serben, die ins restliche Jugoslawien zurückkehren, auch
das gesamte serbische medizinische Personal aus den
Krankenhäusern abgezogen wird, dann wird mir angst
und bange. Denn ich bin der Meinung, daß wir zum jetzigen Zeitpunkt die medizinische Versorgung der Bevölkerung nicht garantieren können. Deshalb muß geprüft werden, inwieweit Ärzte aus den Nachbarländern
dazu überredet werden können, neben den NGOs und
dem Roten Kreuz vorübergehend in den Kosovo zu
kommen, um dort zusammen mit den Soldaten der
KFOR die medizinische Versorgung sicherzustellen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit! Wir sind in einer Aktuellen Stunde.
Ich bin sofort am Ende. Lassen Sie mich zum Schluß noch das eine sagen: Wenn
wir die Sanitätstruppen, die wir jetzt drüben haben,
weiter bereitstellen wollen, dann müssen wir uns darüber unterhalten, wie wir die Versorgung hier vor Ort
sicherstellen wollen. Die Soldaten hier in Deutschland
müssen schon jetzt mit 20 Prozent weniger Personal versorgt werden.
Ich glaube, daß wir diesen Einsatz im Kosovo auch
als eine Chance sehen müssen, neu über unser Sanitätspersonal und die personelle Ausstattung nachzudenken
im Sinne unserer Bundeswehr als der Armee unserer
Söhne und Töchter mitten in der Gesellschaft, die sich
gerade im Kosovo bewähren.
Vielen Dank.
({0})
Es spricht jetzt für
die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Walter Kolbow.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst herzlichen Dank, daß
ich an dieser Stelle sprechen darf, weil ich um 14.15 Uhr
zurück nach Mazedonien möchte, aber doch in dieser
Debatte einige Punkte aus der Sicht des von der Bundesregierung mit der Koordinierung der humanitären Hilfe
Beauftragten machen möchte.
Es ist zweifelsohne so, daß die Lage der Flüchtlinge
in Mazedonien, aber auch in Albanien und selbstverständlich im Kosovo selbst durch die jüngsten Entwicklungen im Kosovo neue Aktualität gewonnen hat. Während es sich bisher darum drehte, die humanitäre Situation außerhalb des Kosovo zu meistern, wird es nun
- das ist beredt angesprochen worden - vorrangig darum
gehen, im Rahmen unserer Möglichkeiten ein unkontrolliertes Zurückfluten der Flüchtlinge, Vertriebenen
und Deportierten in ihre Heimat zu vermeiden.
Aus eigenem Erleben verfüge ich über ein detailliertes Bild von der Lage der Flüchtlinge, die sich wie
folgt beschreiben läßt. Die Lebensverhältnisse, gerade
in Mazedonien, haben sich durch die politischen Ereignisse der vergangenen Woche nicht grundlegend verändert. Allerdings hat sich die psychologische Situation signifikant gewandelt. Deutlich sind Aufbruchstimmung und Unruhe spürbar. Dies äußert sich
vehement vor allem in politischen Diskussionen in den
Lagern. Die Menschen in den Camps sind verständlicherweise ungeduldig und suchen ständig nach sicheren Nachrichten aus der Heimat. So sind bereits am
13. Juni mehrere hundert Familienväter zu ersten Lagefeststellungen in den Kosovo aufgebrochen. Heute sind
etwa 8 000 über den Ort Blace aus Mazedonien in
Richtung Kosovo unterwegs. Deshalb kommt einer
umfassenden, verläßlichen und allen Vertriebenen zugänglichen Informationspolitik durch die Hilfsorganisationen eine ganz besondere Bedeutung zu. Wir können sie vor Ort auch leisten.
Die Zahl der Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus
Albanien und Mazedonien wird derzeit mit zirka 8 000
angegeben. Es ist bereits jetzt erkennbar, daß es ohne
eine die mazedonische Regierung unterstützende Organisation - das gleiche gilt für die albanische Seite - an
den Grenzübergängen zu chaotischen Verhältnissen
kommen kann. Denn in den Lagern in Mazedonien befinden sich derzeit noch immer zirka 105 000 Flüchtlinge. 120 000 Vertriebene halten sich in diesem Land in
Gastfamilien auf. In Albanien sind die Zahlen weit höher, wie Sie wissen. Wir sprechen hier von etwa 450 000
bis 500 000 Vertriebenen.
Mit einer Ausnahme sind die Camps frei zugänglich.
Von den gerade erwähnten 105 000 in mazedonischen
Lagern untergebrachten Personen sind etwa 80 000
Menschen in den drei Massenlagern Cegrane, Stenkovac I und II untergebracht, was ungeheure Probleme in
der sanitären und der hygienischen Versorgung gebracht
hat, die wir mit der tatkräftigen Hilfe insbesondere, Herr
Bundesinnenminister, des THWs, aber auch der GTZ
und in der anfänglichen Notsituation mit Hilfe unserer
Soldatinnen und Soldaten einigermaßen haben bewältigen können. Aber es ist gerade in diesen Lagern noch
immer viel zu tun.
Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist durch die
Angebote an den Verkaufsständen örtlicher Händler sichergestellt. Auch das World Food Program hilft zusehends. Die Wasserversorgung und die sanitären Einrichtungen - ich spreche es noch einmal an - entsprechen zwar noch immer nicht dem Standard des UNHCR,
sind aber inzwischen deutlich verbessert. Die medizinische Versorgung ist sichergestellt. Es gibt nun in jedem
Lager Einrichtungen für Vorschulkinder, Frauen- und
Mütterberatungsstellen sowie Informationsstände. Wo
immer möglich, werden nun auch in der Nähe der Lager
in ortsansässigen Schulen Klassenräume und Lehrkräfte
zur Verfügung gestellt.
Die soziale und wirtschaftliche Lage der zirka
120 000 Flüchtlinge in Mazedonien, die in den Gastfamilien Aufnahme gefunden haben, ist äußerst angespannt. Dies gilt vor allen Dingen auch für die Gastfamilien selbst, die durch ihre Aufnahme- und Hilfsbereitschaft vielfach unter die Armutsgrenze gerutscht sind.
Inzwischen haben die Regierungen in Mazedonien und
auch in Albanien die Unterstützung der Gastfamilien
leider eingestellt. Die Hilfsorganisationen, von unserer
Seite insbesondere ADRA, Caritas, Arbeiter-SamariterBund, Kinderberg und Rotes Kreuz, versuchen mit großem Einsatz, guter Organisation und in enger Kooperation mit der albanischen Hilfsorganisation El Hilal zumindest den Grundbedarf an Lebens- und Hygienemitteln, aber auch an Bekleidung zu decken. Ich gehe davon
aus, daß auch aus den Spenden, die für das Kosovo vorbehalten sind, nunmehr wesentliche Mittel gerade von
den Hilfsorganisationen zur Verfügung gestellt werden.
Der UNHCR, der mit unseren Kräften vor Ort in enger Kooperation steht, mißt einer weiteren Unterstützung der Gastfamilien auch deswegen höchste Bedeutung zu, weil sonst - je nach zeitlicher Streckung der
Rückkehr aller Flüchtlinge in ihre Heimat - Ausgaben in
erheblichem Umfang für das Herstellen der Winterfestigkeit zumindest einiger Lager entstehen könnten.
Diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort waren, Besuche gemacht haben, die sich durch Inaugenscheinnahme informiert haben, wissen, wie kompliziert
es sein wird, in den Lagern Winterfestigkeit herzustellen. Es könnte sein, daß wir auf feste Gebäude ausweichen müssen, die aber auch erst gefunden werden müßten.
Der UNHCR hat zur finanziellen Unterstützung der
Gastfamilien ein Programm in einer Größenordnung von
mittlerweile 2,5 Millionen US-Dollar aufgelegt, aus dem
in erster Linie Ausgaben für Wasser und Strom gedeckt
werden sollen. Da sich die Flüchtlinge in den Gastfamilien vorwiegend in den Ballungszentren des Landes aufhalten - in Skopje zum Beispiel 40 000, in Tetovo zirka
50 000, in Gostivar 20 000 oder in Kumanovo 10 000
Menschen -, erhöht sich durch die beginnende Verelendung das bevölkerungspolitische Konfliktpotential, das
zu innerstädtischer Polarisierung und natürlich auch zu
Unruhen führen kann und auch schon geführt hat.
Seit dem 12. Juni ist die Flüchtlingswelle aus dem
Kosovo faktisch zum Erliegen gekommen. Wir haben
bisher zirka 14 000 Flüchtlinge nach Deutschland aus
humanitären Gründen evakuiert und stehen damit im
Vergleich mit anderen Ländern, bezogen sowohl auf
den Gesamtumfang als auch auf die Quotenerfüllung,
in der Spitze. Dies ist in Mazedonien und in der Region
bekannt und wird als Beweis unserer Verbundenheit
und Verläßlichkeit gewertet. Vor dem Hintergrund der
trotz aller Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft bedrückenden Lebensverhältnisse der
Flüchtlinge ist deren Bereitschaft zur Rückkehr in das
Kosovo grundsätzlich ungebrochen. Es kann davon
ausgegangen werden, daß die Rückkehr jetzt schnell
erfolgen wird. Dabei wird sicher eine organisatorische
Unterstützung durch die Hilfsorganisationen gerne angenommen.
Zusammenfassend ist nach diesen ersten Erkenntnissen über die veränderte Lage festzustellen, daß die allgemeine Lage im Kosovo, auch was die Schadensfeststellung angeht, unterschiedlich ist. Sie ist in Teilen von
Städten besser als in der Fläche. Wir mußten auch auf
Grund der Erkenntnisse unserer Aufklärung per Drohnen feststellen, daß bis zu 300 Ortschaften nach der
Methode „Im Untergeschoß eine Gasflasche, im Obergeschoß eine brennende Kerze“ in die Luft gesprengt
worden sind. Dabei sind natürlich die Dächer wegkatapultiert worden.
Neben der rein humanitären Hilfe kommt der Schaffung eines sicheren Umfeldes große Bedeutung zu. Dabei wird der Einsatz von Streitkräften zumindest in einer
länger andauernden Anfangsphase zum großen Teil auch
humanitäre Aufgaben beinhalten. In Mazedonien und
Albanien wird es zunächst darauf ankommen, in enger
Zusammenarbeit mit den verantwortlichen Organisationen im Kosovo eine annähernd geordnete Rückkehr zu
organisieren.
Ebenso dringlich ist es, möglichst bald Klarheit darüber herbeizuführen, welche und wie viele Flüchtlinge
in Mazedonien und Albanien während des Winters bleiben müssen. Die Bereitschaft beider Regierungen, dies
zu unterstützen, wird um so größer sein, je sichtbarer der
Wille der Staatengemeinschaft und besonders der Europäischen Union ist, zur Herstellung von Stabilität in der
Region die notwendigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und gesamtpolitischen Maßnahmen auf den Weg
zu bringen. Hier gilt es, jetzt gemeinsam die richtigen
Zeichen zu setzen.
Ich danke den vielen Mitgliedern aller Fraktionen
dieses Hauses, die mich und meine Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter nicht nur vor Ort besucht, sondern auch tatkräftige Ratschläge erteilt haben. Ich danke den Spenderinnen und Spendern in Deutschland, die die NGO in die
Lage versetzt haben, kompetent und ihrem Leistungsprofil entsprechend zu helfen.
Ich danke den Soldatinnen und Soldaten und den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Technischem
Hilfswerk und GTZ für ihre Hilfe in höchster Not für die
Vertriebenen.
Ich danke für die Geduld.
({0})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Knapp eine Woche nach dem politischen Durchbruch in New York ist die Rückkehr der
Vertriebenen und Flüchtlinge in den Kosovo in vollem
Gange. Dies zeigt eines: Es herrscht Vertrauen in die
politischen und militärischen Rahmenbedingungen. Das
ist eine gute Nachricht.
({0})
Es ist sehr bedauerlich, daß sich offensichtlich Zehntausende gegen den Rat von Experten und Hilfsorganisationen voreilig in Gang gesetzt haben, weil sie sich
dadurch selbst gefährden. Es wäre tragisch, wenn diejenigen, die Vertreibung und Flucht überlebt haben, jetzt
bei der Rückkehr in die Heimat noch durch explodierende Minen, durch Heckenschützen usw. zu Schaden kämen. Wir wünschen, daß die Flüchtlinge, die zurückkehren wollen, dies unbeschadet an Leib und Leben tun
können.
Für uns alle ist klar, daß Europa eine umfassende Anschubhilfe für den Wiederaufbau im Kosovo leisten
muß. Gerade wir Deutsche, die wir unseren Weg zurück
nach Europa durch den Marshallplan erlebt haben, stehen in besonderer Verantwortung.
Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung mit den
Vorarbeiten für die Eröffnung eines deutschen Koordinierungsbüros für die zivile Aufbauhilfe im Kosovo in
Prizren bereits begonnen hat. Das Büro muß alsbald seine Arbeit aufnehmen können.
Ebenso wichtig ist die Eröffnung eines zentralen Koordinierungsstabs für den Wiederaufbau des Kosovo.
Wir bitten die Bundesregierung, die verbleibende Zeit
ihrer EU-Präsidentschaft dafür zu nutzen, eine Initiative
zu ergreifen, um die möglichst baldige Benennung eines
Sonderbeauftragten der UNO für das Kosovo zu bewirken. Die schlechten Erfahrungen in dieser Hinsicht aus
Bosnien-Herzegowina haben gezeigt, daß eine enge Koordinierung der internationalen Hilfe die erste Voraussetzung für einen Erfolg ist.
Meine Damen und Herren, es ist sicher richtig, daß es
vorrangige Aufgabe ist, die Häuser im Kosovo wieder
bewohnbar zu machen. Zugleich muß dafür gesorgt
werden, daß diejenigen, die vor Einbruch des Winters
nicht in den Kosovo zurückkehren können, winterfeste
Quartiere in ihren Lagern vorfinden.
Empfinden Sie es bitte nicht als kleinlich, wenn ich in
diesem Zusammenhang sage, wir sollten als Deutsche
darauf achten, daß deutsche Anbieter in ausreichendem
Maß berücksichtigt werden, wenn es um die Durchführung von Aufträgen geht. Das ist nicht kleinlich. Es geht
nämlich nicht an, daß hier erneut nach dem Motto verfahren wird: Die Deutschen zahlen, und die anderen führen durch.
({1})
Auf jeden Fall muß verhindert werden, daß die Hilfe,
die zu leisten ist, mittelbar oder unmittelbar dem
Kriegsverbrecher in Belgrad zugeschrieben wird. Es wäre unerträglich, wenn sich Milosevic jetzt als Friedensfürst und Verteiler der internationalen Hilfsgelder aufspielen könnte und damit seiner eigenen Bevölkerung
gegenüber die eigenen Greueltaten vergessen machen
könnte.
Ich betonte aber zugleich, daß die Aufbauhilfe im
Kosovo nicht nur den vertriebenen Albanern zugute
kommen darf. In gleichem Maße müssen auch die Serben im Kosovo von dieser Hilfe erfaßt werden. Ich empfinde es als geradezu schrecklich, daß jetzt so viele Serben aus Angst vor Racheakten der zurückkehrenden Albaner ihr Land, das auch ihre Heimat ist, verlassen. Es
wäre wirklich schön - das ist nur eine vage Hoffnung -,
wenn es doch noch ein multiethnisches Zusammenleben
im Kosovo geben könnte.
({2})
Die politischen und militärischen Voraussetzungen dafür
sind gegeben. Wir können jetzt nur an die Menschlichkeit aller dort lebenden Menschen appellieren, daß sie
wirklich alles in ihren Kräften Stehende tun, um die
Aussöhnung zu suchen und sie auch zu finden.
Für uns Europäer ist ganz entscheidend, daß wir ein
internationales Konzept für die zukünftige politische
Ordnung auf dem Balkan entwerfen. Wir fordern eine
überregionale Südosteuropa-Konferenz, auf der die
OSZE eine entscheidende Rolle spielen muß. Es müssen
dauerhafte Voraussetzungen für Demokratie, Minderheitenschutz und regionale Zusammenarbeit geschaffen
werden. Allen Ländern der Region muß jetzt konkret in
Aussicht gestellt werden, daß sie in Europa willkommen
sind. Es muß sich auszahlen und sichtbar werden, daß
anständiges, zivilisiertes menschliches Verhalten von
der Staatengemeinschaft auch honoriert wird. Wir halten
es daher für dringend angezeigt, daß jetzt alsbald den
Ländern Albanien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina
und Kroatien Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union angeboten werden. Das wird eine der
wichtigsten politischen Aufgaben der näheren Zukunft
sein.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluß sagen, daß wir selbstverständlich auch Restjugoslawien, also auch Serbien,
die Tür nach Europa nicht endgültig versperren dürfen.
Voraussetzung dafür ist, daß in diesem Land demokratische Zustände eintreten. Es liegt im eigenen Interesse
der Serben, sich dafür einzusetzen; denn dann werden
auch sie bei uns in Europa willkommen sein.
Ich danke Ihnen.
({4})
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Eberhard Brecht, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es gibt unter den Paradigmen, die wir für die westliche Balkanpolitik definiert haben, zwei, die besonders
herausragen. Das eine Prinzip ist, daß wir keine neuen
Grenzen auf dem Balkan akzeptieren. Das andere Prinzip ist, daß wir eine ethnische Säuberung auch nachträglich nicht akzeptieren. Das sind, glaube ich, Grundprinzipien, die bisher in diesem Hause unstreitig waren.
Aber schon der Krisenfall Bosnien-Herzegowina hat gezeigt, wie schwierig es ist, diese Prinzipien durchzuhalten. Trotz des Dayton-Vertrages ist die ethnische Teilung in Bosnien-Herzegowina - jedenfalls in Teilen Realität. Die Rückkehr von etwa 100 000 kroatischen
und muslimischen Bürgern in die Republika Srpska gestaltet sich außerordentlich schwierig.
Ich möchte auch noch an ein totgeschwiegenes Problem erinnern. Noch immer warten 40 000 KrajinaSerben auf die Rückkehr in ihre Heimat. Die Öffentlichkeit schweigt zu diesem Skandal.
({0})
Wir sehen uns jetzt auf ähnliche Weise mit einem anderen Konflikt konfrontiert, nämlich daß die Serben
- von uns nicht gewollt - aus dem Kosovo abziehen,
und zwar nicht nur die Militärkräfte und diejenigen Serben, die sich irgendwelcher Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, sondern auch ganz normale serbische Familien, die nun Angst um ihr Leben
haben. Natürlich bleibt uns nichts anderes übrig, als zu
akzeptieren, daß sich Menschen entscheiden, nicht mehr
mit ihren Nachbarn zusammenzuleben. Aber wir stehen
in der Verantwortung, für die Sicherheit derjenigen zu
garantieren, die sich entscheiden, in ihrer Heimat zu
bleiben. Genauso sind wir auch dafür verantwortlich,
daß diese Menschen in die Hilfe einbezogen werden, die
wir allen Menschen im Kosovo gewähren.
Meine Damen und Herren, wir stehen gleichzeitig
natürlich in der Pflicht, dafür zu sorgen, daß nun endlich
geklärt wird, welchen Status die UCK bekommen kann.
Der Begriff „Entmilitarisierung“ ist etwas vage. Derzeit
scheint sich eine Entwicklung abzuzeichnen, bei der die
UCK quasi zur Polizei im Lande wird. Es muß sichergestellt werden, daß wir zu einer Polizeistruktur kommen,
die weit über das hinausgeht, was wir IPTF in BosnienHerzegowina zugestanden haben: Die internationale
Gemeinschaft muß der Garant für die Sicherheit der dort
lebenden Menschen sein. Wir können die Sicherheit im
Kosovo nicht alleine in die Hand nur einer Konfliktpartei legen.
({1})
Dazu gehört ebenfalls, meine Damen und Herren, daß
die in Bosnien-Herzegowina etwas unterbeschäftigten
ECCM-Monitore tatsächlich schwerpunktmäßig im Kosovo präsent sind.
Es gibt auch eine ganze Reihe anderer Erfahrungen,
die wir aus Bosnien-Herzegowina übernehmen können.
Bei meinem Besuch im März in Bosnien-Herzegowina
hörte ich überall dieselbe Klage. Es tummeln sich eine
Vielzahl von Nichtregierungsorganisationen im Lande.
Jede dieser Nichtregierungsorganisationen moniert, es
gäbe praktisch keine Koordination, hingegen einen brutalen Wettbewerb. Dies heißt, es fehlt eigentlich an einer
koordinierenden Hand. Ich glaube, hier und im Kosovo
sind die westlichen Staaten gefordert, ein Stückchen regulierend einzugreifen, damit die von Menschen freiwillig gespendeten Mittel auch richtig plaziert und Doppelausgaben vermieden werden können.
Umgekehrt sind die NGO mit einem Problem konfrontiert, was ihre eigene Arbeit betrifft. Immer wieder
stoßen engagierte Aufbauhelfer in Bosnien-Herzegowina bei der Bewilligung von EU-Projekten auf Probleme. Wenn sie dann schließlich bewilligt sind, fließt der
Finanzstrom so spärlich, daß diese NGO im Prinzip zwischenzeitlich gar nicht mehr arbeitsfähig sind.
Bilaterale Projekte dagegen arbeiten relativ unbürokratisch. Die alte Bundesregierung hat dieses Problem
aufgegriffen. 1998 wurde auf deutsches Betreiben hin
die EU-Wiederaufbauverordnung geändert, um eine Beschleunigung der Mittelabgabe zu ermöglichen und
gleichzeitig den Verwaltungsaufwand zu minimieren.
Zur gleichen Zeit wurde eine EU-Präsenz vor Ort geschaffen, nämlich in Sarajevo, wogegen die EU-Juristen
gleich wieder Einwände vorgebracht haben.
Ich will damit nur etwas zur Übertragung auf den Fall
Kosovo sagen: Wir brauchen eine seriöse, aber gleichzeitig auch schnelle Mittelvergabe, damit wir dem Ziel,
ziviles Leben im Kosovo noch vor dem Winter wieder
zu ermöglichen, möglichst rasch näherkommen.
Ich glaube, daß eine spezielle Aufgabe des Nachfolgers von Herrn van den Broek sein sollte, für einen raschen Mittelabfluß zu sorgen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Der letzte Satz.
Kollege Irmer hat gerade auf eine Notwendigkeit
hingewiesen, die ich aus meiner Sicht nur unterstützen
kann. Alle Anstrengungen für eine langfristige Befriedung des Kosovo werden erfolglos bleiben, wenn es
nicht gelingt, in Belgrad eine demokratische Regierung
zu installieren. Ich glaube, an dieser Stelle sind wir mit
in der Verantwortung.
Ich bedanke mich.
({0})
Für die PDSFraktion spricht jetzt Kollege Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! So erleichtert wir und mit
Sicherheit eine Mehrheit der Menschen waren, daß endlich die Waffen im Kosovokrieg schweigen, war uns
dennoch klar, daß es nicht Friede ist, der erreicht wurde.
Ob aus dem Zustand des Nichtkrieges Friede wird oder
ob heute die Keime für neue Kriege gelegt werden,
hängt aus meiner Sicht auch davon ab, wie mit der Resolution des UN-Sicherheitsrates umgegangen wird. Wir
sollten darauf bestehen, daß sie nach Geist und Buchstabe erfüllt wird.
Uns sollte klar sein, daß Unrecht nicht mit neuem Unrecht beantwortet werden kann. Massenflucht und Vertreibung der nichtalbanischen Bevölkerung des Kosovo
dürfen nicht die Antwort auf Massenflucht und Vertreibung der Kosovo-Albaner sein. Unrecht kann man nicht
gegeneinander aufrechnen. Aber ich befürchte, daß geDr. Eberhard Brecht
nau das passieren wird: daß mit der Auf- und Abrechnung begonnen wird.
Eine gesicherte Rückkehr von Flüchtlingen in den
Kosovo erfordert aus meiner Sicht neben humanitärem
Engagement vor allen Dingen eine rasche Behebung der
Kriegsschäden und berechenbare politische Entscheidungen. An berechenbaren politischen Entscheidungen
mangelt es nach wie vor. Zur Berechenbarkeit gehört
auch, unsere Bevölkerung über die Kosten des Krieges
aufzuklären. Wir müssen sagen, was wir gemeinsam
aufbringen wollen, wenn wir uns engagieren, und dürfen
nicht weiterhin dazu schweigen. So überzeugt man
Menschen nicht.
({0})
Ich möchte über politische Berechenbarkeit als Bedingung auch für die Rückkehr der Flüchtlinge laut
nachdenken: Im Bundestag ist immer wieder betont
worden, welch großes Verdienst Rußland an der Resolution des UN-Sicherheitsrates zukommt. Mit Danksagungen ist Rußland von dieser Stelle aus förmlich überschüttet worden. So weit, so gut. Aber jetzt, da es um die
Regelung der Nachkriegsordnung im Kosovo geht, wird
Rußland erneut ausgegrenzt und gedemütigt.
({1})
Für das Ende des Krieges brauchte man Rußland, für
den Frieden offenbar nicht.
Das Argument, kein einziger Flüchtling werde in
einen Sektor gehen, der unter russischer Kontrolle steht,
und überhaupt sei ein solcher Sektor im nachhinein ein
Sieg Milosevics, stempelt Rußland nachträglich zu
einem Komplizen Milosevics und zeigt, daß Vertrauensbildung in nur eine Richtung betrieben wird.
({2})
Nötig ist aber - auch für eine gesicherte Rückkehr der
Flüchtlinge und für die Verhinderung von neuer Massenflucht - die Sicherheit, gemeinsam mit Rußland den
Wiederaufbau gestalten zu wollen. Wir sollten den Menschen klar sagen, der Friede werde nur tragfähig sein,
wenn er von Rußland mitgetragen wird. Dies sollte auch
der Deutsche Bundestag klar und deutlich sagen.
({3})
Ebenso muß gesichert werden, daß die UCK entmilitarisiert und entwaffnet wird. Die UCK marschiert derzeit wie eine siegreiche Armee in den Kosovo ein. Die
Antworten, die man erhält, wenn man jemanden auf diese Tatsache anspricht, sind in der Politik doppeldeutig.
Die Bundesregierung sagt, man sei mit der UCK im Gespräch. Wenn man in der Lage war, den Abzug der serbischen und jugoslawischen Einheiten verbindlich zu
regeln, sollte man auch die Demilitarisierung der UCK
verbindlich durchsetzen. Das hat ebenfalls mit der gesicherten Rückkehr der Flüchtlinge zu tun.
Ein weiteres Problem, das auch ich sehe, ist von den
Kollegen Irmer und Brecht angesprochen worden. Allerdings ziehe ich aus diesem Problem eine ganz andere
Schlußfolgerung als sie. In den letzten Wochen wurde
immer wieder lanciert, daß Hilfen für den Wiederaufbau
im jugoslawischen Staatsgebiet an die Bedingung geknüpft würden, daß Milosevic verschwindet. Auch ich
kann mir Demokraten besser als Regierungschefs vorstellen; ich wünsche mir Demokraten. Aber darüber
wird das jugoslawische Volk, werden die Serben selbst
entscheiden müssen; das kann nicht von hier aus dekretiert werden. Die Wiederaufbauhilfen an den Rücktritt
Milosevics zu binden halte ich aus mehreren Gründen
für fatal und katastrophal.
({4})
Lassen Sie mich Ihnen zunächst die rechtliche Dimension vorstellen. Man will im Kosovo, in Montenegro
und in der Vojvodina Wiederaufbauhilfe leisten. Gleichzeitig haben wir uns verpflichtet, die territoriale Integrität Jugoslawiens nicht anzutasten. Nun gehören aber der
Kosovo, Montenegro und die Vojvodina zu Jugoslawien. Mit wem wollen Sie also die Aufbauhilfe vereinbaren? Es widerspricht der Festlegung des UNSicherheitsrates, daß die territoriale Integrität Jugoslawiens nicht angetastet wird, wenn diese Integrität hintenherum über das Instrument der Wiederaufbauhilfe
aufgelöst wird. So legt man den Keim für neue Auseinandersetzungen, die später ausgetragen werden.
Ich halte es auch moralisch für bedenklich. Die Menschen in Jugoslawien haben unter dem Krieg gelitten.
Wer wird ihnen helfen? Wer macht die Donau wieder
schiffbar, beseitigt die ökologischen Schäden, baut
Wohnungen, Brücken usw.? Sind Leiden und Wiederaufbau denn politisch teilbar? Oder soll mit dem Wiederaufbau der Krieg mit anderen Mitteln fortgesetzt
werden?
Letztlich fördert Isolation Nationalismus. Armut fördert nicht gerade demokratisches Verhalten. Wer Nationalismus auch in Serbien überwinden will, muß Serbien
aus der Isolation heraushelfen. Dazu sollten wir die
Hand reichen. Wir dürfen aber nicht durch eine abenteuerliche Politik der Ausgrenzung neue Gräben aufreißen, wenn alte noch nicht zugeschüttet worden sind.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die
Kollegin Ulrike Merten, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Ich habe gestern etwas gelesen, das mir gut
gefallen hat, weil es das, was die NATO in den vergangenen Wochen getan hat, in den richtigen Zusammenhang stellt: „Die Gewinner sind die Menschen in Jugoslawien und die Menschen im Kosovo“, sagte der EUBeauftragte Martti Ahtisaari, als er nach den Siegern des
Kosovo-Konfliktes gefragt wurde. Die Menschen in Jugoslawien hätten nun eine Chance, in Zukunft in einer
demokratischen Gesellschaft zu leben.
Nach all den bedrückenden Wochen des Krieges auf
dem Balkan ist der Frieden zwar noch lange nicht erWolfgang Gehrcke
reicht - ich glaube, darüber sind wir uns alle im klaren -;
denn Frieden bedeutet viel mehr als die Abwesenheit
von Gewalt. Ob wirklich Frieden entsteht, hängt nicht
zuletzt von der Bereitschaft der Menschen ab, den Weg
der Aussöhnung zu gehen, zu vergeben, ohne die Erinnerung zu verdrängen und Demokratie als unabdingbare
Voraussetzung für Menschenrechte und Menschenwürde
zu begreifen.
({0})
Ob Demokratie entsteht und der Frieden damit wahrscheinlicher wird, hängt natürlich auch von den Rahmenbedingungen ab, bei denen wir helfen können.
Letztlich hängt es aber von dem Willen und dem Wollen
der Menschen ab, ihre politische Zukunft selbst in die
Hand zu nehmen. Das können und wollen wir ihnen
nicht abnehmen.
Was wir tun können, ist, den Prozeß der Demokratisierung und des Wiederaufbaus zu begleiten und abzusichern. Erste Aufgabe wird es sein, Sicherheit zu schaffen. Wir tun das durch die deutsche Beteiligung an der
militärischen Absicherung der Friedensregelung für den
Kosovo. 8 500 Soldaten der Bundeswehr werden es
letzten Endes sein, die mithelfen, das Erreichte zu sichern und das Aufflackern neuer Gewalt zu verhindern.
Nur so wird es möglich sein, allen Vertriebenen und
Flüchtlingen eine sichere und freie Rückkehr in ihre
Heimat zu gewährleisten und den humanitären Hilfsorganisationen den ungehinderten Zugang - das ist besonders wichtig - in den Kosovo zu verschaffen.
Hilfe ist dringender denn je nötig. Wir haben das
eben schon gehört. Etwa 580 000 Albanerinnen und Albaner irren seit Monaten im Kosovo herum. Sie sind
überwiegend in Bergen und Wäldern versteckt. Man
spricht von Ansammlungen von mehreren 10 000 Personen. Dort herrschen katastrophale Bedingungen: Die
Menschen haben keine Nahrungsmittel, kein Wasser und
keine ärztliche Versorgung - das alles bei sengenden
Temperaturen.
Der UNHCR und die Caritas sind inzwischen - das
ist gut so - von Mazedonien aufgebrochen, um erste
Hilfsgüter über die Straßen nach Pristina in den Kosovo
zu transportieren. Wir haben es der Bundeswehr zu verdanken, daß die Transportstraßen von Minen geräumt
wurden. Es gibt nur Vermutungen, wo sich die Flüchtlinge im Kosovo aufhalten; aber es bleibt zu hoffen, daß
sie schnell gefunden werden, damit ihnen die Hilfe zuteil werden kann.
Außer den Vertriebenen im Kosovo warten in den
Lagern oder bei den aufnahmebereiten Gastfamilien
noch über 900 000 Vertriebene darauf, endlich zurückzukehren, in ein Land, in dem die Felder brachliegen,
das Vieh verendet ist, Häuser und Ställe zerstört sind.
Das bedeutet, daß etwa 1,5 Millionen Menschen über
mehrere Monate mit Lebensmitteln und allen anderen
Gütern versorgt werden müssen. Der geschätzte Bedarf
pro Tag liegt bei 1 000 Tonnen Lebensmitteln.
Dies ist eine unglaubliche logistische Herausforderung, die auf die Bundeswehr und die internationalen
Hilfsorganisationen wartet. Wir wissen, daß dies nur gelingen kann, wenn die Zusammenarbeit zwischen der
Bundeswehr und den Hilfsorganisationen weiterhin so
hervorragend klappt, wie dies in den letzten Monaten
gelungen ist.
({1})
An dieser Stelle ist es mir wichtig, auf den großen
Anteil der Bundeswehr an der humanitären Hilfe hinzuweisen: Cegrane in Mazedonien und Quatrum in Albanien sind das Synonym für die tatkräftige Hilfe beim
Aufbau von Lagern, die die Größe von Kleinstädten haben - mit all den Erfordernissen im Hinblick auf die Infrastruktur. Es bleibt zu hoffen, daß auch in Zukunft die
Hilfe so gut organisiert und geleistet werden kann, wie
es in der Vergangenheit war, als nämlich Albanien und
Mazedonien der innere Kollaps drohte, weil sie aus
eigener Kraft die Flüchtlingsströme nicht mehr bewältigen konnten. Der Bundestag hat damals beschlossen, zusätzlich 1 000 Soldaten im Rahmen der Aktion „Allied
Harbour“ zu entsenden.
Damit ist damals ein wesentlicher Beitrag geleistet
worden, die bedrohliche Situation in den Aufnahmeländern zu stabilisieren. Seit dem Beginn des humanitären
Einsatzes der Bundeswehr im März 1999 sind bis Anfang Mai nahezu 2 550 Tonnen Güter, bestehend aus
Lebensmitteln, Medikamenten, Decken und Zeltmaterial, in mehr als 250 Flügen nach Albanien und Mazedonien gebracht worden.
Es sind 96 Millionen DM an humanitärer Hilfe geleistet worden, die aber - abgesehen von der sehr großen
persönlichen Spendenbereitschaft vieler Menschen hier
in Deutschland - nur deshalb umgesetzt werden konnte,
weil die Bundeswehr mit ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten mit den Organisationen zusammengearbeitet
hat.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das zum
Schluß noch einmal sagen: Aus vielen persönlichen Gesprächen in den letzten Wochen mit Soldaten der deutschen Bundeswehr habe ich erfahren, daß sie besonders
motiviert und gut vorbereitet sind und daß gerade dieser
humanitäre Einsatz ihr Selbstbewußtsein erheblich gestärkt hat, waren sie doch in besonderer Weise von der
Sinnhaftigkeit dieser Einsätze überzeugt.
({2})
Frau Kollegin Merten, denken Sie bitte an Ihre Redezeit?
Ja, danke schön.
({0})
- Für den Hinweis danke schön.
Es ist die erste Rede
der Kollegin Merten, deshalb bin ich etwas großzügiger.
Ich glaube, wir sind uns darüber einig, daß alle unsere guten Wünsche die Soldaten
der Bundeswehr begleiten. Wir hoffen, daß sie unversehrt wieder nach Hause zurückkehren. Ich möchte den
Soldaten der Bundeswehr an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich für ihren großartigen Einsatz danken.
({0})
Wie bereits angemerkt, Frau Kollegin Merten, das war Ihre erste Rede
hier im Deutschen Bundestag. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen möchte ich Sie dazu beglückwünschen.
({0})
Für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt Kollege
Christian Schwarz-Schilling das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Hölle, nämlich Mord und Vertreibung von Zivilisten durch staatliche und parastaatliche Stellen, ist
vorüber. Wir kommen jetzt in die gefährliche Übergangsphase, in der Ungesetzlichkeit, Ausschreitungen
und persönliche Racheakte eine Landschaft überziehen
können, und wir sind gefordert, damit dies nicht geschieht.
Wir waren gerade mit dem Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe vor einigen Tagen in Tirana
und in Skopje, und wir haben uns dort wirklich überzeugen können, mit welchem Einsatz die Bundeswehr auch
gerade diese humanitären Fragen beachtet und sich bemüht, sie zu lösen, natürlich auch die Nichtregierungsorganisationen und das Büro des Beauftragten des Verteidigungsministeriums.
Meine Damen und Herren, ein Vergleich mit der Situation in Bosnien legt aber nahe, daß wir einen Fehler
nicht wieder machen dürfen. Die Voraussetzung für
Rückkehr und Lebensqualität von Flüchtlingen ist deren
persönliche Sicherheit an den Orten, an die sie zurückkehren. Da wir das im Dayton-Vertrag nicht beachtet
hatten, sondern nur für militärische Sicherheit Vereinbarungen getroffen hatten und dann zivilen Aufbau ohne
Sicherheit glaubten voranbringen zu können, ist hier die
erste Schlußfolgerung zu ziehen. Ich meine, es wird entscheidend sein, dieses Sicherheitsvakuum dort nicht entstehen zu lassen.
({0})
Insofern hat dieser russische Handstreich eine von
uns gar nicht vorausgesehene gute Seite. Die NATO ist
nämlich schneller einmarschiert, als es vorgesehen war,
um ja nicht den Russen das Feld zu überlassen.
({1})
Aus diesem Grunde sind vielleicht viele Menschen nicht
umgekommen, keine Plünderungen erfolgt und Massengräber nicht verwischt worden. - Die List der Geschichte ist manchmal unerforschlich.
({2})
Das, was wir bisher von General Harff und dem obersten NATO-Kommandierenden, Michael Jackson, zu
diesen Fragen gehört haben, ist ermutigend. Es ist gut,
daß Sie sich auch um den entsprechenden Schutz der
Bevölkerung kümmern. Im übrigen war im Antrag der
Bundesregierung nicht ganz klar - das habe ich dem
Kollegen Verheugen schon gesagt -, daß dieser Schutz
auch für die dortige Bevölkerung und nicht nur für die
dort hingehenden eigenen Truppen bzw. zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gilt.
Jetzt kommt es darauf an, die Flüchtlingsfrage rational und humanitär zu lösen:
Der erste wichtige Punkt ist dabei die Rückkehr der
Flüchtlinge innerhalb des Kosovo. Sie halten sich in den
Bergen auf, sind verschollen und irren umher. Das sind
die ersten, denen geholfen werden muß.
Ein zweiter Punkt ist die Stabilisierung der Region.
Es muß eine Rückkehr der Vertriebenen aus den umliegenden Nachbarstaaten erfolgen. Denn wenn man von
„vollen Schiffen“ spricht, dann sollte man dort hingehen
und sich das einmal anschauen. Ich nenne das Beispiel
Mazedonien: Von den insgesamt 830 000 bis 850 000
Flüchtlingen befinden sich dort 280 000. Die Bevölkerungszahl beträgt 2 Millionen. In dieses Land sind
plötzlich, also innerhalb von vier Monaten, 14 Prozent
der eigenen Bevölkerung - in Deutschland wären das
11,3 Millionen Flüchtlinge - hinzugekommen. - Das
sage ich, damit man einmal eine Vorstellung hat, um
was es geht.
Wir müssen also dafür sorgen, daß diese Schiffe dort
nicht noch nachträglich absaufen. Denn das wäre für die
Stabilisierung dieser Region das Schlimmste.
Flüchtlinge aus den umliegenden Nachbarstaaten
werden - darüber müssen wir uns im klaren sein schneller zurückkehren, als wir wollen. Aber es werden
auch Flüchtlinge dort bleiben, die noch gar nicht zurückgehen können. Das heißt, wir müssen mit einer
Vielzahl von Fällen aller Art rechnen. Diejenigen, die
schnell zurückkehren, werden wir davon nicht abhalten
können. Das ist eine Art Naturgewalt. Da müssen wir
begleitend Hilfe leisten, so sehr es geht. Das betrifft die
Entminung und den Schutz der Bevölkerung sowie die
Verhinderung von persönlichen Racheakten aller Art.
Denjenigen, die dort bleiben, müssen wir ihre Überlebensfähigkeit garantieren. Die Läger sind nicht winterfest. Daher muß geklärt werden, ob diejenigen, die dort
bleiben, in Privatfamilien untergebracht werden. Oder
richten wir dort winterfeste Läger her? Machen wir sie
transportabel, daß sie später auch in das Kosovo umgesetzt werden können? Das sind Fragen, die noch offen
sind.
Wie viele Menschen in der Nachbarstaaten bleiben,
weiß man noch nicht. Bezüglich derjenigen, die jetzt
privat untergebracht sind - das ist fast die Hälfte -, ist
festzustellen, daß die Ressourcen dieser Familien am
Ende sind. Sie können nicht mehr das Notwendige kaufen, was sie zum Leben brauchen, weil sie das Dreifache
bis Fünffache der Zahl ihrer eigenen Familienangehörigen in zwei oder drei Räumen aufgenommen haben.
Ein dritter Punkt ist, daß der Druck auf die Flüchtlinge zur Rückkehr aus den Drittstaaten nicht so stark ausgeübt wird, daß er für die betroffene Region destabilisierend wirken würde. Aber wir dürfen diejenigen, die jetzt
freiwillig gehen wollen, davon nicht abhalten. Ich glaube, das wäre genauso falsch. Es wird in Deutschland, in
den Niederlanden, in Schweden und in anderen Staaten
eine Menge Menschen geben, die sagen: Jetzt ist der
Zeitpunkt gekommen; ich gehe wieder zurück bzw.
schicke meine Söhne vor. Dann dürfen wir nicht sagen:
Ihr seid noch nicht an der Reihe. - Hier müssen diese
persönlichen Schicksale, aber auch in umgekehrter Hinsicht die Tatsache, daß jemand noch nicht zurückkehren
kann, stärker beachtet werden, als dies bisher der Fall
ist.
Herr Kollege
Schwarz-Schilling, denken auch Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich
komme sofort zum Ende.
Herr Kollege Verheugen, ich hoffe, daß das, was
heute in der Münchener „AZ“ über die deutsche Botschaft, die Hilfe für Menschen, die ausgeflogen werden
mußten und die nach Rom umgeleitet wurden, verweigert hat, erschienen ist, nicht wahr ist. Ich weiß, wie es
in der dortigen Botschaft zugeht.
({0})
- Tirana. Es wurden in diesem Zusammenhang mehrere
Fälle genannt. Das Internationale Rote Kreuz spricht
sonst wenig über solche Fälle. Von daher gesehen halte
ich es für außerordentlich wichtig, sich um diese Frage
in Tirana zu kümmern.
Mein Eindruck, was die Botschaft in Tirana angeht,
ist, daß so etwas möglich ist. Daher möchte ich Sie bitten, sich auch darum zu kümmern.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und
Kollegen! Zu Beginn meiner Ausführungen, die sich mit
einem etwas anderen Aspekt der hier vorgetragenen
Themen befassen, komme ich auf den Kollegen Kolbow
zurück, der von psychologischer Aufbruchstimmung gesprochen hat. Ich möchte davor warnen, daß man im
Rahmen dieser psychologischen Aufbruchstimmung, die
im Moment herrscht, über die langfristigen Schäden
hinwegsieht, die durch die extremen Traumatisierungen
entstanden sind.
Die Hilfsmaßnahmen für die Flüchtlinge aus Kosovo
konzentrieren sich bislang vorrangig auf die Sicherstellung des physischen Überlebens, darauf, daß die Flüchtlinge ein Dach über dem Kopf haben - sei es im winterfesten Lager außerhalb des Kosovo oder im Kosovo selber. Die Traumatisierungen durch Vertreibung, Folter
Vergewaltigung und Demütigungen aller Art bedürfen
aber besonderer Aufarbeitung, insbesondere durch psychosoziale Betreuung, durch Beratungsangebote und
durch Langzeittherapien. Besonders sensibel müssen wir
an die Lage von Frauen, Mädchen und Kindern herangehen, die über ihre Erfahrungen nicht mit jedem sprechen werden.
In diesem Zusammenhang begrüße ich es, daß vom
Bundesinnenministerium, vom Kollegen Schily ein Sofortprogramm auf den Weg gebracht worden ist, das
insbesondere in diesem Rahmen wirksam werden soll.
Dieses Sofortprogramm greift nicht nur bei den Flüchtlingen, die hier bei uns vor Ort untergebracht werden,
sondern in der Folge auch dort, wo sie - nachdem sie im
nächsten Jahr bzw. schon vorher dorthin zurückgeführt
worden sind - vor Ort ihre familiären Zusammenhänge
wiederaufbauen müssen.
Vorgesehene Schritte in diesem Sofortprogramm, in
diesem Hilfsangebot, das über die Wohlfahrtsverbände in
Zusammenarbeit mit den psychosozialen Zentren in der
Bundesrepublik Deutschland organisiert werden soll, sind
die Inanspruchnahme von Kompetenzen in bezug auf die
speziellen Behandlungsmethoden im Umgang mit traumatisierten Personen aus Kriegsgebieten und Bürgerkriegsgebieten, die von schweren Menschenrechtsverletzungen betroffen waren. Hier ist insbesondere das Zentrum für Folteropfer in Ulm zu nennen, das in diesem Zusammenhang Handlungsbedarf skizziert hat. Ich bin aus
Baden-Württemberg darüber informiert worden, daß mobile Teams gebildet werden sollen, die interdisziplinär besetzt sind und die in den Aufnahmeeinrichtungen tätig
werden sollen. Außerdem sind Schulungen für Personal
geplant. Das Generalsekretariat des Deutschen Roten
Kreuzes hat diese Aufgabe übernommen.
Ich möchte an alle Kolleginnen und Kollegen dringend appellieren, daß vor Ort - sowohl in den Kommunen als auch in den Regionen, wie auch in den Regierungsbezirken - darauf hingewirkt wird, daß diese
Teams aufgestockt werden, unter Umständen auch durch
die Koordination von freiwilligen Leistungen. Denn im
Moment reicht die personelle Ausstattung einfach nicht
aus, um den Anforderungen Genüge zu leisten.
Über das Sofortprogramm hinaus, das hier zunächst
greift, möchte ich vorstellen, was nicht allgemein bekannt ist, was aber im Rahmen des Stabilitätspaktes für
Südosteuropa wichtig werden wird: Ich möchte die
Mittel und Programme vorstellen, die zur Verfügung gestellt werden und die von seiten des Bundesministeriums
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
angesetzt werden. In dem Aktionsplan zur Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen soll die Unterstützung gerade
von Kosovo-Flüchtlingen ins Auge gefaßt werden. Es
wurden aus den Mitteln des BMZ 1,9 Millionen DM für
die psychologische Betreuung insbesondere von traumatisierten Frauen und Kindern aus dem Kosovo bereitgestellt. Diese Maßnahme wird zusammen mit der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit und dem Kölner Verein Medica Mondiale durchgeführt. Inzwischen
findet die Aufbauarbeit dieses Dienstes vor allem in Albanien statt, aber sie muß natürlich auf Mazedonien und
auch auf Kosova selber erweitert werden.
Ich denke, in diesem Zusammenhang ist es auch noch
wichtig, zu erwähnen, daß wir über den militärischen
Erfolgen, sage ich einmal, die wir dadurch erzielt haben,
daß die Flüchtlinge jetzt wieder in der Lage sind zurückzukehren, nicht vergessen dürfen, welche Langzeitwirkungen auch für den Wiederaufbau durch die Folgeschäden der Vertreibung zu erwarten sind. Ebenfalls
wichtig ist es, darauf hinzuweisen, daß wir, wenn überhaupt eine Stabilisierung der Region erreicht werden
soll, diesen Aspekten keine zu geringe Bedeutung geben
dürfen. In diesen Zusammenhang ist auch das einzuordnen, was wir mit einem zivilen Friedensdienst versuchen, der die verschiedenen Bevölkerungsgruppen miteinander versöhnen soll - auch nach solchen Auseinandersetzungen.
Es ist hier vorhin beklagt worden, daß jetzt die serbische Bevölkerung - auch diejenigen, die sich nicht an
Übergriffen beteiligt haben - aus Kosova flieht, weil sie
Angst vor Racheakten hat. Das zeigt nur, in welch verzweifelter Situation sich die Bevölkerung insgesamt dort
befindet. Aus den Erfahrungen früherer Bürgerkriege
- nicht nur in Europa - können wir ganz klar die Schlußfolgerung ziehen: Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, ist
auch keine Versöhnung möglich.
({0})
Das bedeutet in diesem Zusammenhang natürlich, daß
diejenigen, die sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben zuschulden kommen lassen, auch vor Gericht
gestellt und abgeurteilt werden müssen, daß es also nicht
angeht, daß mit Kriegsverbrechern jetzt Verträge geschlossen werden
Frau Kollegin, Sie
müssen jetzt zum Schluß kommen.
- ich komme zum Schluß -, sondern daß
hier auch darauf geachtet werden muß, daß sie sich nicht
die Lorbeeren anstecken können, die Stabilisierung der
Region herbeigeführt zu haben. Deswegen müssen wir
für die Demokratisierung, aber auch für die innere Aussöhnung der Bevölkerung in diesem Rahmen arbeiten.
Danke.
({0})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dietmar Schlee.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Beitrag
des Kollegen Kolbow hat deutlich gemacht, welch herausragende Arbeit von vielen, vielen Helferinnen und
Helfern von Organisationen jeder nur denkbaren Art in
den letzten Monaten geleistet worden ist, natürlich auch
von unseren Soldaten. Dies verdient Dank und Anerkennung, und diesen Dank und diese Anerkennung
möchte ich in dieser Stunde aussprechen.
({0})
Meine Damen und Herren, je größer die Notlage ist,
desto konkreter müssen die Dinge angesprochen werden.
Ich meine auch, daß wir die Dinge an all dem messen
müssen, was sich in Bosnien ereignet hat. Wir müssen
auch aus dem zu lernen versuchen, was in Bosnien
falsch gemacht wurde. Was muß jetzt ganz konkret geschehen?
Erster Punkt: Auf die Binnenvertriebenen im Kosovo
und auf ihre aktuellen Probleme haben Sie, Frau Beck,
hingewiesen. Das können die humanitären Organisationen leisten, wenn wir sie entsprechend unterstützen.
Der zweite Punkt: Es werden - Sie haben das ja in
den letzten 48 Stunden erlebt - jetzt immer mehr
Flüchtlinge aus Mazedonien, aus Albanien und aus
Montenegro zurückkehren. Wir werden das nicht steuern
können, das ist meine feste Überzeugung. Ich möchte
einmal wissen, wie wir das machen sollen. Deshalb muß
den Leuten geholfen werden. Ich habe gestern gesagt:
mit Startpaketen, Folien, Essen, Handwerkszeug - wenn
sie mit Traktoren kommen, kann man ihnen auch Baustoffe mitgeben -, damit sie ganz konkret etwas bewegen können.
Dritter Punkt: Wir müssen so rasch wie möglich
- Herr Irmer hat das angesprochen - dafür Sorge tragen - ich wende mich in diesem Punkt natürlich auch an
die Mitglieder der Regierung -, daß die Serben zurückkehren können. Je schneller, desto besser. Je länger es
dauert, desto größer wird das Problem. Das ist meine
feste Überzeugung.
({1})
Der nächste Punkt: Wir brauchen sofort - das muß
die Bundeswehr und damit die militärische Seite überhaupt federführend in die Hand nehmen - Programme
zur Minenbeseitigung, zur Wiederherstellung der
Stromversorgung und zur Lösung der Wasserprobleme,
sonst werden wir - trotz unserer Bemühungen - nicht
schnell genug vorankommen. Zu den Sofortmaßnahmen
gehört auch, daß die Bundeswehr und die CIMIC vergleichbaren Organisationen ander Armeen unverzüglich
beginnen, sich ein Bild davon zu machen, wo was wann
getan werden muß. Danach müssen die Projekte koordiniert und so rasch wie möglich umgesetzt werden.
Wenn wir die Probleme lösen wollen, dann ist es
dringend notwendig, daß wir auf internationaler Ebene
zu anderen Lösungen kommen, als wir sie in Bosnien
hatten. Das gilt zunächst einmal für die EU. Es kann
nicht sein, daß Anträge in Brüssel gestellt werden und
der Bescheid monatelang auf sich warten läßt. Eine
Lösung dieses Problems wäre die Schaffung eines Beauftragten des Präsidenten der Europäischen Kommission oder einer Agentur vor Ort. Diese Agentur muß
aber entscheiden können. Herr Dr. Brecht hat schon
darauf hingewiesen, daß die EU in Sarajevo eine
Außenstelle hatte; diese aber hat überhaupt nicht funktioniert, weil sie keine Zuständigkeiten hatte. Es muß
also in Zukunft mit einem Beauftragten oder mit einer
Agentur gearbeitet werden, die ein Budget und Entscheidungsbefugnis haben, um einzelne Projekte sofort
umsetzen zu können. Ansonsten können wir keinen
Fortschritt erreichen.
Entsprechende Maßnahmen kann man mit dem Europäischen Rechnungshof verabreden. Vom Präsidenten
und den Mitgliedern des Europäischen Rechnungshofes
hören wir, daß sie entsprechende Maßnahmen in diesem
Ausnahmefall akzeptieren würden. Wir sollten uns jetzt
diesbezüglich politisch durchsetzen.
Ich will noch darauf hinweisen, daß in Bosnien die
Zusammenarbeit mit der Weltbank, mit der EBRD und
der EIB in Luxemburg in der Anfangsphase - später war
es anders - alles andere als ideal verlief. Als die Probleme den Menschen besonders auf den Nägeln gebrannt haben, sind die entsprechenden Vorhaben über
Monate nicht rund gelaufen.
Zur Rolle eines nationalen Beauftragten: Sie kennen
die Arbeit von Hans Koschnick. Ich glaube, daß ich vor
ihm schon einen Beitrag leisten konnte, der zeigte, daß
die Einsetzung eines Beauftragten im nationalen Bereich
unerläßlich ist. Ich möchte in diesem Zusammenhang
darauf hinweisen, daß das Anbinden an ein Ressort, das
für mich schon im Sommer 1997 eine große Rolle gespielt hat, völlig falsch ist. Auch Herr Koschnick hält
dieses Vorgehen für völlig falsch. Der Beauftragte muß
mit allen Ressorts in etwa auf gleicher Ebene Verabredungen treffen können. Vor allem muß er ein ständiger
Ansprechpartner für die Bundesländer sein. Senator
Wrocklage ist anwesend; er kann dies gut bestätigen.
Wenn die Maßnahmen zwischen Bund und Ländern
nicht koordiniert werden, werden wir nie eine vernünftige Regelung erreichen.
Abschließend noch zwei kurze Bemerkungen. Lieber
Herr Kollege Schily, wir müssen sicherlich noch einmal
über den unkontrollierten Zustrom von KosovoAlbanern sprechen. Im Augenblick schlägt die Diskussion darüber in der Schweiz hohe Wellen. Wir haben
genaue Zahlen darüber, wie viele Menschen Tag für Tag
unkontrolliert ins Land hereinkommen. In diesem Zusammenhang spielt natürlich die Problematik der Verteilung auf die Bundesländer eine große Rolle.
Meine letzte Bemerkung - im Sinne eines Ceterum
censeo -: Das Problem Kosovo zeigt, lieber Herr Kollege Schily, daß es ganz dringend notwendig ist, zu einer
europäischen Flüchtlingskonzeption zu kommen. Sie
brauchen sich nur die entsprechenden Zahlen anzusehen,
Herr Kollege, ich
bitte Sie, nicht noch einen neuen Gedanken anzufangen.
- und zwar die Zahlen
derjenigen, die zum Flüchtlingskontingent gehören, aber
auch derer, die illegal ins Land gekommen sind. Deshalb
meine Bitte an die Regierung, in diesem Bereich zu versuchen, die Probleme zu lösen.
Wenn die Bevölkerung bei uns den Eindruck gewinnt, sie hilft, während die anderen über die Hilfe nur
reden, dann wird das zu einer ganz schwierigen politischen Situation führen. Das kann niemand wollen.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Staatsminister im Auswärtigen
Amt, Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Ich freue mich, feststellen zu können, daß
hier im Hause sowie zwischen diesem Hause und der
Bundesregierung in der Beurteilung der Situation und
der Notwendigkeiten eine große Übereinstimmung besteht. Ich kann mich nahezu allem anschließen, was hier
gesagt worden ist.
({0})
- Nahezu. Sie, Herr Gehrcke, beziehe ich ausdrücklich
nicht ein.
Ich möchte zunächst eine Feststellung treffen: Wir
sind noch nicht am Ziel unserer Kosovo-Politik. Das
Ziel ist erst dann erreicht, wenn die Menschen zurückgekehrt sind und dort dauerhaft in Frieden und in Sicherheit leben können.
Sie werden dort nur dann dauerhaft in Frieden und in
Sicherheit leben können, wenn es uns gelingt, nicht nur
im Kosovo selbst, sondern in der gesamten Region die
Strukturen zu schaffen, die es uns erlauben, die Region
an die Europäische Union heran- und in die Europäische
Union hineinzuführen.
Dieses Angebot gilt - dies betone ich - für die gesamte Bundesrepublik Jugoslawien. Wir haben immer
gesagt, wir führen keinen Krieg gegen das serbische
Volk oder gegen die Serben. Europa muß sich öffnen,
auch für die Bundesrepublik Jugoslawien einschließlich
Serbien. Für sie gelten dieselben Regeln wie für alle anderen auch. Es gibt die Kopenhagener Kriterien. Es gibt
die Normen, die Prinzipien und die Standards. Wer sich
an die Standards hält, wer bereit ist, sich auf den Weg zu
machen, diese Standards zu erfüllen, der darf mit unserer Hilfe rechnen.
({1})
Wer es aber nicht tut, der darf doch nicht im Ernst
erwarten, daß wir auch noch die Stabilisierung seines
Unrechtsregimes finanzieren! Das wäre nun wirklich
etwas zuviel verlangt.
({2})
Bei dem, was hier zu tun ist, stehen drei Aspekte im
Vordergrund. Erste Priorität hat die Herstellung von
Sicherheit im Lande. Hierzu muß ein Wort an die
Adresse der UCK gesagt werden. Die UCK hat in Rambouillet die Verpflichtung zur Demilitarisierung unterschrieben. Diese Verpflichtung gilt. Die Demilitarisierung muß in dem Augenblick energisch beginnen, in
dem die internationale Friedenstruppe vollständig im
Kosovo präsent ist und ihre Aufgaben wahrnehmen
kann. Es kann nicht sein, daß die UCK ihre künftige
Rolle so versteht, daß sie eine militärische oder paramilitärische Ordnungsmacht im Kosovo wird. Dann wird
Sicherheit für alle Menschen, die dort leben, nicht herzustellen sein. „Sicherheit für alle“ bezieht ausdrücklich
den serbischen Bevölkerungsteil im Kosovo mit ein.
({3})
Von der UCK muß erwartet werden - wir haben dies
in einer Reihe von Gesprächen zum Ausdruck gebracht -,
daß sie sich in eine politische Bewegung transformiert,
die am demokratischen Aufbau im Kosovo mitwirkt. Das
ist unsere Forderung an die UCK. Als eine paramilitärische oder militärische Organisation kann sie bei der Bewältigung der Aufgaben dort keine positive Rolle spielen.
Zweiter zentraler Aspekt ist der Aufbau wirksamer
Strukturen zur Lösung der unmittelbaren Aufgaben. Es
gibt hier eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die
über große Erfahrungen verfügen und nicht vergessen
haben, was in Bosnien alles schiefgelaufen ist. Ich habe
schon mit Nachdruck gesagt: Ich unterstütze das ausdrücklich.
Die Vereinten Nationen sind mit der zivilen Implementierung der Sicherheitsratsresolution selbst befaßt.
Es hat dazu in dieser Woche in Genf bereits intensive
Beratungen gegeben. Das Schema dafür, wie die Vereinten Nationen diese Aufgabe erfüllen wollen, liegt bereits vor. Es ist ein gutes Schema. In diesem Schema
wird die Europäische Union, wird die OSZE, werden
einzelne große Organisationen ihre Aufgabe finden. Die
auf uns als Europäische Union zukommende Aufgabe
wird der Wiederaufbau sein. Dies ist der dritte Aspekt,
der für uns im Vordergrund stehen wird.
In der Tat ist es richtig, daß wir hier aus Bosnien Lehren ziehen müssen. Ich habe selber von diesem Pult aus
so oft kritisiert, daß die Europäische Union in der Bosnienfrage durch verkrustete, starre bürokratische Strukturen notwendige Entscheidungen zu lange hinausgezögert hat. Das darf diesmal nicht so sein. Darum ist die
Idee einer Agentur der Kommission, die vor Ort ist und
dort selber über die Mittel verfügt und über die Mittel
auch entscheiden kann, eine Idee, die wir unterstützen.
Was die deutsche Seite angeht, so habe ich gestern
mit den Hilfsorganisationen, den Bundesressorts und
den Ländern ein Koordinierungsgespräch geführt und
dabei den Wunsch der Bundesregierung an die Hilfsorganisationen herangetragen, soweit sie es können und
wollen - da kann kein Druck ausgeübt werden -, ihre
Maßnahmen auf den Raum Prizren zu konzentrieren.
Ich glaube, es spricht eine Menge dafür, daß wir in
dem Raum, wo die Bundeswehr die Sicherheitsfunktion übernimmt, auch die deutschen humanitären Maßnahmen konzentrieren. Wir werden in Prizren selber
sehr schnell wieder ein Zentrum für deutsche humanitäre Hilfe einrichten - das hat sich sehr bewährt - und
dann auch, sobald wir die Strukturen kennen, die die
Europäische Union und die Vereinten Nationen schaffen, die entsprechenden personellen Entscheidungen
treffen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, mittelfristig kommt es jetzt darauf an, daß wir eine weitere Lehre aus Bosnien nicht
vergessen. In Bosnien ist es sehr wohl gelungen, das
sichere Umfeld zu schaffen, in dem sich dann die zivilgesellschaftlichen Prozesse hätten entwickeln sollen.
Aber um diese zivilgesellschaftlichen Prozesse hat sich
die internationale Gemeinschaft zuwenig gekümmert.
Ich drücke es sehr vorsichtig aus.
Das darf jetzt weder in Bosnien noch in der gesamten
Region geschehen. Es ist eine Aufgabe, auch für die
politischen Parteien, die Stiftungen, die Gewerkschaften,
die Kirchen, auch alle großen gesellschaftlichen Gruppen bei uns, die vorhandenen demokratischen Potentiale
in diesem Raum anzusprechen, zu fördern und ihnen
jede nur denkbare Hilfe zu leisten. Wir brauchen demokratische Kräfte in der Region selbst. Es kann auf Dauer
nicht möglich sein, Frieden, Sicherheit und Demokratie
in einem Teil Europas durch Truppen aufrechtzuerhalten, die von auswärts kommen. Dies kann nur aus den
Gesellschaften selber kommen. Darum scheint mir das
die wichtigste und zentralste Aufgabe zu sein.
Es wird anhaltenden, stabilen Frieden in diesem Teil
Europas nur dann geben, wenn dort die Demokratie
fest und stabil verankert ist. Das halte ich für die wichtigste Aufgabe, die wir gemeinsam zu lösen haben: die
Demokratisierung des ganzen Raumes einschließlich
Serbien.
Es ist hier gefragt worden, was das im Zusammenhang mit Milosevic und dem serbischen Volk bedeutet.
Ich will Ihnen das gern sagen: Humanitäre Hilfe für leidende Menschen in Serbien ist etwas, worüber nicht diskutiert werden muß. Das versteht sich von selbst. Humanitäre Hilfe kann nicht von dem Regime abhängig
gemacht werden, unter dem die Menschen leiden. Wiederaufbauhilfe, die Einbeziehung in den Stabilitätspakt das setzt jedoch politische Veränderungen in Serbien
voraus. Wir alle sollten unsere Möglichkeiten nutzen,
den Menschen in Serbien zu verdeutlichen, daß sie uns
als europäische Partner willkommen sind und daß es
ihre Verantwortung und ihre Aufgabe ist, die politischen
Verhältnisse im eigenen Land zu ändern.
Schönen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei der
Diskussion zu den Flüchtlingen aus dem Kosovo fallen
ein paar Dinge auf, die es nicht sehr häufig in diesem
Haus gibt. Da ist zunächst die breite Übereinstimmung
in der Analyse der Situation bei der Opposition und der
Regierung, auch über die Konsequenzen, die wir als
Land daraus zu ziehen haben.
Herr Verheugen hat gerade gegenüber der PDS klargestellt, daß Demokratie eine Grundvoraussetzung für den
Wiederaufbau Serbiens ist, und deshalb kann Ihr Ansatz,
Herr Kollege Gehrcke, daß Wiederaufbauhilfe auch dann
geleistet werden sollte, wenn sich dort noch keine demokratischen Verhältnisse eingestellt haben, keine Zustimmung finden. Das muß schon klar sein: Wir können eine
Diktatur nicht unterstützen, indem wir Wiederaufbauhilfe
leisten. Da hat Herr Verheugen völlig recht: humanitäre
Hilfe - ja, aber Wiederaufbauhilfe - nein.
Ob wir als Teil Europas in der jetzigen Lage von uns
aus die Frage der Kriegsverbrecher anschneiden sollten,
muß ich mit einem Fragezeichen versehen. Denn wer
heute nach Bosnien-Herzegowina, nach Srpska schaut,
muß zugeben, daß das nicht geklappt hat: Dort sitzen
nach wie vor schwerbewaffnete Kriegsverbrecher. Offensichtlich war der freie Westen nicht in der Lage, sie
nach Den Haag zu bringen. Dabei habe ich großes Verständnis dafür, daß die Verantwortlichen ihre eigenen
Leute nicht in Gefahr bringen wollen, um solche Verbrecher zu fassen. Ich erhebe da keinen Vorwurf; ich
stelle das nur fest.
Deshalb weiß ich nicht, ob in der jetzigen Situation
Rechtspflege aufoktroyiert werden kann. Ein Rechtsstaat
muß sich im Rahmen der demokratischen Entwicklung,
die Restjugoslawien demnächst hoffentlich nehmen
wird, aus eigener Kraft bilden.
({0})
Wir können - einverstanden - alle möglichen Hilfestellungen geben. Aber ich fürchte, daß wir aufpassen müssen mit Aussagen wie denen, die ich heute gehört habe:
„Wir müssen dieses Land aufbauen.“ Meine Damen und
Herren, überheben wir uns nicht! Wir sollten alle Hilfestellungen leisten, aber letztlich muß dieses Land von
der dortigen Bevölkerung aufgebaut werden. Bei aller
gebotenen Hilfe dürfen wir nicht in unserer Bevölkerung
den Eindruck erwecken, wir müßten dort von uns aus
tätig werden. Wir können lediglich Hilfe zur Selbsthilfe
- bitte, in beliebig hohem Umfang - leisten.
Ich möchte noch das in Erinnerung rufen, was der
Kollege Schlee gesagt hat: Daß von uns eine EUAgentur gefordert wird, ist sicher richtig und konsequent. Das, was wir in den letzten Monaten aus BosnienHerzegowina gehört haben, hat bewiesen, daß sich die
EU dort verzettelt hat, daß die Zuständigkeiten ungeklärt, die bürokratischen Hemmnisse zu hoch waren.
Dies muß - das ist keine Frage - sich ändern. Nur, wir
müssen bei uns anfangen. Der Beauftragte der Bundesregierung darf eben nicht einem Ministerium zugeordnet
sein. Er muß Vollmachten gegenüber anderen Häusern
haben. Er muß ein Beauftragter in vollem Umfang sein
- wenn Sie so wollen: ein Bevollmächtiger - und nicht
nur der verlängerte Arm eines Hauses. Deswegen halte
ich den Vorschlag des Kollegen Schlee für so wichtig.
Wenn wir im eigenen Hause Ordnung geschaffen haben, gelingt es uns sicher auch, die EU dazu zu bewegen, eine mit aller Vollmacht, mit Geld und mit Entscheidungsrechten vor Ort ausgestattete Agentur zu
schaffen, um die Dinge in den Griff zu bekommen.
Ich will noch einen Satz zur Rückführung sagen. Ich
will keine Debatte darüber anstoßen, ob eine Rückführung jetzt notwendig ist. Keine Frage: Die Menschen
gehen, wenn sie es für notwendig halten. Aber wir müssen der Erfahrung Rechnung tragen, die wir in Bosnien
gewonnen haben: Wenn ganz freigestellt wird, wer
wann zurückkehrt, dann wird ein erheblicher Teil hierbleiben. Denn es ist natürlich keine so besonders schöne
Perspektive, in ein zerstörtes Land zurückzukehren. Die
Verhältnisse bei uns sind doch bei weitem besser. Deswegen, fürchte ich, werden wir irgendwann gelinden
Druck gegenüber denjenigen ausüben müssen, die bei
uns Zuflucht gefunden haben. Wir werden nicht übersehen können: Immerhin haben wir nicht nur die 15 000
Kontingentflüchtlinge, sondern einen Bestand von mehr
als 300 000 Kosovo-Albanern aus den vergangenen
Bürgerkriegen. Sie alle müssen irgendwann zurückgeführt werden. Heute aber ist nicht die Stunde, darüber zu
diskutieren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Es spricht jetzt die
Kollegin Angelika Graf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe an der
von Herrn Dr. Schwarz-Schilling schon angesprochenen
Reise in den Kosovo bzw. nach Albanien und Mazedonien vor zwei Wochen teilgenommen. Diese Reise hat
zu einem historischen Moment stattgefunden, denn es
war genau das Wochenende, an dem die Friedensverhandlungen stattgefunden haben.
Wir haben feststellen können, daß es eine überwältigende Hilfsbereitschaft unserer Mitbürger gegeben hat.
Wir haben auch feststellen können, daß diese Hilfsbereitschaft bei den Menschen, die vor Not und Vertreibung geflohen sind, gut angekommen ist. Diese Hilfsbereitschaft
hat geholfen, nicht nur das Elend der Flüchtlinge zu mindern, sondern auch die Situation in den aufnehmenden
Ländern zu verbessern. Ich danke infolgedessen allen, die
dazu beigetragen haben, daß sich die Situation dort so
entwickelt hat. Ich danke insbesondere den vielen NGOs,
die in dem Bereich tätig sind, und der Bundeswehr, die
geholfen hat, die großen Lager aufzubauen.
({0})
Denn es sind für uns unvorstellbare Mengen von
Flüchtlingen, die unterwegs sind und die in die Armenhäuser Europas geströmt sind. Deswegen möchte ich
Ihnen, Herr Irmer, doch widersprechen, wenn Sie sagen,
wir müßten schauen, daß wir von dem Aufbaukuchen
möglichst ein Stück abschneiden. Wichtig ist meiner
Ansicht nach, daß die Wirtschaft Albaniens und Mazedoniens, die durch den Krieg so stark beschädigt worden
ist, möglichst schnell wieder auf die Füße kommt. Dazu
sollte meiner Ansicht nach auch der Wiederaufbau seinen Teil leisten.
Beim Besuch eines solchen Lagers wird einem klar,
daß diese Hunderttausende von Flüchtlingen im Endeffekt lauter Einzelschicksale sind. Jede Frau hat um ihr
Leben und das ihrer Kinder gefürchtet. Jedes Kind hat
Schreckliches gesehen, und diese schrecklichen Dinge
haben sich im Gehirn der Kinder eingebrannt wie auf
einer fotografischen Platte. Deswegen ist es, Herr
Zeitlmann, wichtig, daß wir gegen die Verbrecher, die
das herbeigeführt haben, entsprechende Konsequenzen
durchsetzen. Das kann nicht irgendwann sein, sondern
das muß möglichst schnell passieren, damit nicht der
Eindruck entsteht, daß Verbrechen hingenommen werden.
({1})
In dem Lager in der Innenstadt von Tirana haben wir
mit einem alten Ehepaar gesprochen, das sieben Kinder
hatte. Es hat durch die Umstände der Flucht nicht erfahren können, wo seine Kinder hingekommen sind. Zum
Teil sind sie im Kosovo geblieben, zum Teil sind sie
wohl auf die einzelnen Lager und die einzelnen Länder
verteilt. Wir müssen schauen, daß wir die Familien
möglichst schnell wieder zusammenführen, denn auch
das ist für den Wiederaufbau im Kosovo dringend notwendig.
All die Menschen, die wir in den Lagern gesprochen
haben, wollen möglichst schnell zurück in ihre Heimat,
denn die Unterbringung in den Zeltstädten, zumal wenn
es dort 35 Grad im Schatten sind, ist völlig indiskutabel,
und der Winter kommt bald. Deshalb muß die Rückführung schnell gehen. Dabei müssen wir auf der einen
Seite versuchen, Sicherheit herzustellen, und auf der anderen Seite helfen, die Gefahr der Minen möglichst
schnell zu beseitigen. Das ist dringend notwendig für
den Aufbau in diesem Land.
Es müssen aber auch noch andere Voraussetzungen
für die Rückführung geschaffen werden. Die Hilfspakete
sind zum Beispiel angesprochen worden. All das kann
man diskutieren. Ich glaube aber, wir sollten etwas nicht
vergessen, nämlich daß neben diesen materiellen Hilfen
auch die Hilfe für die Seele der Menschen, die dort leben, geleistet werden muß, damit diese in ein ganz normales Leben zurückkehren können, soweit das möglich
ist.
Dazu ist ein ganzheitlicher Ansatz der Hilfe erforderlich. Wir haben zum Beispiel in einem italienischen Lager, das wir gesehen haben, positiv bemerkt, daß man
nicht zwischen dem technischen Bereich und dem für
die Seele getrennt, sondern alles zusammengeführt hat.
Frauen müssen wie in Bosnien in die Lage versetzt werden, nach dem Tod ihrer Männer und Söhne selbständig
für die Familie zu sorgen und nicht auf einen anderen
Mann angewiesen zu sein. Ich halte das für ganz wichtig
und freue mich, daß das BMI und das BMZ in dieser
Hinsicht schon tätig geworden sind.
Es muß dringend zur Erarbeitung von regionalen
Konfliktlösungen kommen, die von den Betroffenen akzeptiert werden. Das ist wichtig, wenn wir nicht sehenden Auges in die nächste Katastrophe rennen wollen.
Denn solange die Großmutter den Enkeln den Haß weitergibt, wird das Thema immer und immer wieder kommen.
Wir sind dabei alle gefordert. Das Schweigen der
Waffen ist noch lange nicht der Frieden und das Ende
von Not und Krieg.
({2})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Bundesminister des Innern, Otto
Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Auch ich
freue mich, daß wir eine sehr konstruktive Debatte geführt haben, die weitgehende Übereinstimmung gezeigt
hat. Ich glaube, wir alle zusammen sind sehr glücklich,
daß die Waffen schweigen und daß nun mit dem Aufbau
begonnen werden kann. Ich erlaube mir, in dem Zusammenhang auch daran zu erinnern, daß die Voraussetzungen dafür, daß die Menschen jetzt in ihre Heimat zurückkehren können, auch dadurch positiv beeinflußt
worden sind, daß wir in der Europäischen Union und in
der internationalen Staatengemeinschaft durch die Zusammenarbeit mit dem UNO-Flüchtlingskommissar die
Grundlage dafür geschaffen haben, indem wir nämlich
das Prinzip befolgt haben, das lautet: Die Hilfe für die
Vertriebenen hat in erster Linie in den Nachbarregionen
stattzufinden; es darf keine weitgehende Evakuierung
geben. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich für
diese Zusammenarbeit bedanken.
Die Evakuierungsmaßnahmen, die es gegeben hat,
betrafen nur Mazedonien und wurden getroffen, um eine
Destabilisierung dieser Region zu vermeiden. Ich
möchte mich dafür bedanken, daß wir auch bei der Evakuierung aus diesem Nachbarland des Kosovo gut kooperiert haben.
Herr Schlee hat daran erinnert, daß wir, was den vorübergehenden Schutz für Flüchtlinge anbelangt, doch im
europäischen Rahmen zusammenarbeiten sollten und
daß hier eine stärkere Koordinierung und auch eine bessere Lastenverteilung notwendig seien. Herr Kollege
Schlee, ich weiß, daß hier bei einigen Dingen sicherlich
noch ein Ungleichgewicht herrscht. Aber ich möchte
doch die Situation, die wir damals im Falle Bosniens
hatten, mit der vergleichen, die wir jetzt haben. Ich kann
feststellen, daß sich die Situation deutlich verbessert hat.
Angelika Graf ({0})
Das ist sicherlich ein Ergebnis auch des Drucks und der
Bemühungen der deutschen Ratspräsidentschaft in den
zurückliegenden Monaten.
({1})
Wenn ich die Zahlen vergleiche, muß ich feststellen:
Wir sind sicherlich immer noch an der Spitze. Wir sind
mit gutem Beispiel vorangegangen, und wir haben das
Lob des UNO-Flüchtlingskommissars für mustergültige
Politik auf diesem Gebiet erhalten. Es ist immerhin gelungen, daß jetzt insgesamt etwas über 57 000 Vertriebene auch in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Aufnahme gefunden haben. Ich finde, wir sollten das
auch gegenüber unseren Freunden in den Mitgliedstaaten anerkennen und ihnen Dank sagen.
({2})
Da wir nun so vielen danken, möchte ich mich auch
bei meinen Länderministerkollegen - ich sage das, weil
heute auch ein Kollege aus den Ländern zugegen ist ausdrücklich bedanken, die ja in sehr konstruktiver Weise an diesen Maßnahmen mitgewirkt haben.
Was die Zukunft angeht, so möchte ich sagen, daß ich
die Auffassung aller teile, die gesagt haben: Bevor man
nun auf eine schnelle Rückkehr drängt, muß man sich
zunächst einen Überblick darüber verschaffen, wie denn
die Lage im Kosovo aussieht. Wir müssen bei der Rückführung eine Reihenfolge einhalten, von der ich glaube,
daß es notwendig ist, sie einzuhalten: Die Flüchtlinge,
die jetzt in Mazedonien und in Albanien in Zelten leben,
die also dort im Winter nicht bleiben können, müssen in
erster Linie zurückkehren können. Da, wo das nicht
möglich ist, müssen wir uns darum kümmern, daß winterfeste Quartiere hergerichtet werden. In Mazedonien
betrifft das etwa 103 000 Menschen, die dort in Zelten
leben. In Albanien sind 50 000 in Zeltlagern und
140 000 in nur notdürftig hergerichteten öffentlichen
Gebäuden.
Die Bundesregierung geht selbstverständlich davon
aus, daß, wie im Fall von Bosnien-Herzegowina, die
Mehrzahl der aus dem Kosovo Vertriebenen freiwillig in
ihre Heimat zurückkehren wird. Das heißt aber nicht
- das sage ich zum Kollegen Zeitlmann -, daß wir das
dem freien Belieben überlassen. Es ist selbstverständlich: Bürgerkriegsflüchtlinge haben bei uns ein Aufenthaltsrecht auf Zeit, und wenn man die Bereitschaft der
Bevölkerung aufrechterhalten will, Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, dann muß es bei diesem Grundsatz bleiben.
Ich gebe Herrn Zeitlmann selbstverständlich auch
recht, wenn er sagt, daß auch diejenigen, die in früherer
Zeit, noch unter der alten Bundesregierung - das sind in
der Tat beträchtliche Zahlen; ich habe die genauen Zahlen bisher noch nicht auf dem Tisch, aber manche sprechen von 180 000 ausreisepflichtigen Personen; das ist
in etwa die Zahl, die ich kenne, es können aber auch
mehr sein -, in die Bundesrepublik gekommen sind, in
ihre Heimat zurückkehren müssen.
Für die Rückkehr der Vertriebenen ist der Wiederaufbau im Kosovo wichtig. Das haben schon viele gesagt. Um ein koordiniertes und effektives Vorgehen sicherzustellen, erarbeitet die Bundesregierung derzeit ein
Gesamtkonzept für den deutschen Beitrag zum Wiederaufbau im Kosovo und zur Schaffung der Voraussetzungen für die Flüchtlingsrückkehr. Sie geht dabei von verschiedenen Zeitphasen aus, die zu berücksichtigen sein
werden.
Aus deutscher Sicht ist auch die Einsetzung eines
dem Beauftragten der Bundesregierung für die Flüchtlingsrückkehr und den rückkehrbegleitenden Wiederaufbau in Bosnien-Herzegowina entsprechenden Beauftragten überlegenswert. Das werden wir sicherlich im
Einvernehmen mit den Ländern prüfen. Auch von Länderseite ist das ins Auge gefaßt worden.
Im übrigen, Herr Kollege Schlee, kann ich nur sagen:
Der Kollege Koschnick arbeitet genauso, wie Sie es
während Ihres Mandats getan haben, sehr gut mit den
Ländern zusammen. Ich glaube, hier ist keine Mahnung
erforderlich.
Nach dem Konzept wird sich auch das Bundesinnenministerium mit seinen angegliederten Institutionen
stark engagieren. Das Engagement des Bundesinnenministeriums wird sich insbesondere auf den Wiederaufbau
zerstörter Wohnungen sowie der zerstörten Infrastruktur
durch das Technische Hilfswerk konzentrieren. Wichtig
sind Bauhofprojekte. Das Technische Hilfswerk hat dazu schon Planungen vorgenommen. So etwas haben wir
auch schon in Bosnien-Herzegowina praktiziert. In solchen Bauhöfen wird der Bevölkerung nach dem Prinzip
der Hilfe zur Selbsthilfe Baumaterial zur Verfügung gestellt.
Für den Wiederaufbau ist auch wichtig, die notwendige Sicherheit für die Menschen im Kosovo zu gewährleisten. Das kann nicht allein dem Militär überlassen bleiben, sondern für eine solche Sicherheitsstruktur
brauchen wir auch Polizeibeamte. Das Bundesinnenministerium wird sich im Einvernehmen mit den Ländern
an einer internationalen Polizei im Auftrag der UN im
Kosovo beteiligen. Bereits in den nächsten Tagen wird
das Bundesinnenministerium einen Beamten des Bundesgrenzschutzes entsenden, der gemeinsam mit den
Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung beim Aufbau ziviler Strukturen helfen soll.
Wir werden mit Vorsicht und Bedachtsamkeit zu
Werke gehen. Ich will aber bereits jetzt meinen Dank
und meine Anerkennung denjenigen aussprechen, die
sich an der sehr schwierigen und gefahrvollen Arbeit,
auch im zivilen Sektor, im Kosovo beteiligen werden.
Das gilt sowohl für die BGS-Beamten als auch für die
Polizeibeamten der Länder und ebenso für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks.
Vielen Dank.
({3})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Eckhardt Barthel, SPD.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Auch wenn wir uns unter innenpolitischen Gesichtspunkten dem heutigen Thema
nähern, merken wir trotzdem sehr schnell, daß sich die
Bilder von den Flüchtlingen im Kosovo in unseren Köpfen sehr stark eingeprägt haben. Es waren Bilder von
Frauen und Kindern, Alten und Kranken. Diese Bilder
haben gezeigt, wie die Situation in Serbien und im Kosovo während des Krieges war; wie sie auch vor der
Bombardierung war, eine Tatsache, die meines Erachtens zu häufig übersehen wird. Ich glaube, daß diese
Bilder jeden einzelnen von uns gezwungen haben, sich
für oder gegen militärisches Eingreifen zu entscheiden.
Es ist richtig, daß man bei der Entscheidung für oder
gegen den Militäreinsatz nicht fragen kann, wer schuldig
ist. Aber wenn wir uns fragen - das ist für mich die
richtige Frage -, bei welcher Entscheidung wir mehr, bei
welcher weniger schuldig geworden wären, dann rückt
natürlich sofort die Frage nach der Hilfe für Flüchtlinge
in den Mittelpunkt der Diskussion. Wenn ich diese Frage unter innenpolitischen Gesichtspunkten beantworte,
dann muß ich auf die große Spendenbereitschaft der Bevölkerung verweisen, die für mich an erster Stelle steht.
Wenn man schon vielen dankt - das ist auch richtig -,
dann sollte die Bevölkerung, die soviel gespendet hat,
bei unserer Danksagung an erster Stelle stehen.
({0})
Dies ist auch schon deshalb nötig, weil wir heute von
mehreren Rednern gehört haben, wie notwendig auch in
Zukunft Spenden sind. Vielleicht hilft unser Dank, diese
Spendenbereitschaft aufrechtzuerhalten. Deswegen danke ich noch einmal allen, die gespendet haben.
Es gibt aber nicht nur Positives zu berichten. Im Gegensatz zu der Spendenbereitschaft hat mich am Anfang
der Diskussion das Gezerre um die Frage gestört, welches europäische Land wie viele Flüchtlinge aufnimmt.
Herr Schily hat recht: Es ist besser geworden, wenn man
die Situation mit Bosnien oder mit dem Anfang des Kosovo-Konfliktes vergleicht. Aber am Anfang war es
schlimm. Die Medien waren voller Zahlen darüber, welches Land wie viele Flüchtlinge aufnimmt. Es wurde
diskutiert, daß wir zu viele Flüchtlinge aufnehmen, während andere Länder zu wenige aufnehmen. Diese Diskussion wurde den Verhältnissen im Kosovo, wo es
Flucht und Vertreibung gab, nicht gerecht.
Es zeigt sich weiterhin die Notwendigkeit koordinierten Handelns der EU-Staaten, auch wenn es inzwischen Verbesserungen gibt. Das heißt für mich, daß es
schlicht und einfach um mehr europäische Solidarität
mit Flüchtlingen geht.
({1})
Die Bundesregierung ist viel gelobt worden, wie ich
finde, zu Recht. Das Lob, über das ich mich am meisten
gefreut habe, war das, das von den Flüchtlingen selbst
kam, weil sie am besten unsere Leistung beurteilen können. Das Lob kam sowohl von Flüchtlingen in Mazedonien und Albanien als auch in Deutschland.
Ich möchte einen Punkt hervorheben, um einen Vergleich zum Bosnien-Konflikt zu ziehen. Ich war sehr
froh, daß die Bundesregierung die Fehler, die während
der Aufnahme der Bosnien-Flüchtlinge passiert sind,
nicht wiederholt hat. Ich bin sehr froh, daß sie die Bundesländer bei der Finanzierung der Aufnahme der
Flüchtlinge nicht alleine gelassen hat. Das war damals
ein ganz großes Problem. Ich freue mich besonders darüber, daß wir endlich die gesetzliche Regelung angewandt haben, die eigentlich für die jetzt zu uns kommende Gruppe von Flüchtlingen geschaffen worden ist,
nämlich den berühmten § 32 a des Ausländergesetzes.
Dieser Paragraph ist für Bürgerkriegsflüchtlinge geschaffen worden. Nun haben wir ihn endlich angewandt.
Das war insofern wichtig, als durch ihn die „Lasten“ viel
besser auf die einzelnen Länder verteilt werden konnten.
Welches Bundesland wie viele Flüchtlinge aufnimmt, ist
nicht nur eine materielle Frage, sondern auch eine Frage
der in den einzelnen Ländern existierenden Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung.
Ich werde mir allerdings nichts in die Tasche lügen:
Eine große Spendenbereitschaft ist nicht mit einer großen Aufnahmebereitschaft gleichzusetzen. Das ist wohl
wahr. Hier gibt es einen großen Unterschied, der beseitigt werden muß.
Wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland es
nicht schaffen, die Flüchtlinge auf die einzelnen Bundesländer gerecht zu verteilen - diesmal ging es ja gut;
ich hoffe, es bleibt dabei -, dann verpuffen auch unsere
Appelle an die europäischen Staaten, sich solidarisch zu
verhalten. Wir müssen schon im eigenen Land deutlich
machen, daß wir zur Aufnahme bereit sind, damit sich
alle Länder in gleicher Weise daran beteiligen, was
wichtig ist unter dem Gesichtspunkt der Kosten.
Ein Punkt, der mir auch in dieser Diskussion negativ
aufgestoßen ist: Wir haben in der Bundesrepublik
Deutschland schon von der Rückkehr von Flüchtlingen
in den Kosovo schwadroniert, als die Waffen noch nicht
geschwiegen haben. Da gab es bereits die ersten Diskussionen. Das fand ich ausgesprochen peinlich. Ich freue
mich, daß jetzt die Diskussion über die Rückkehr von
Flüchtlingen in den Kosovo in sehr sachliche Bahnen
gelenkt worden ist. Dies sollte man unterstützen.
Eines ist klar - jeder, der in der Flüchtlingspolitik tätig ist, weiß das -: Der Status eines Bürgerkriegsflüchtlings ist ein Status auf Zeit. Die Frage ist - das ist politisch zu entscheiden -: Zu welchem Zeitpunkt können
die Flüchtlinge zurück? Dafür gibt es nur ein Kriterium:
Das ist die Situation im Herkunftsland. Sie ist heute
mehrfach beschrieben worden, so daß man hier zur Zeit
nichts tun kann.
Wir sollten deutlich sagen: Die Diskussion über die
Frage der erzwungenen Rückkehr von Bürgerkriegsflüchtlingen steht frühestens im Frühjahr nächsten Jahres auf der Tagesordnung. Wir sollten uns in der Zukunft bei allen großen Problemen, die wir zu lösen haben, nicht darauf konzentrieren, über Rückkehrtermine
zu reden, sondern darauf, über den Wiederaufbau in der
Region zu sprechen. Dies ist nicht nur ein Kriterium für
die Rückkehr, sondern auch eine Frage für den Frieden
in der Region und damit in Europa.
Ich danke Ihnen.
({2})
Herr Kollege
Barthel, auch für Sie war diese Rede die erste hier im
Hohen Hause. Ich beglückwünsche Sie im Namen aller
Kolleginnen und Kollegen dazu.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
630-DM-Gesetz und Neuregelung der Scheinselbständigkeit zurücknehmen
- Drucksache 14/1005 Überweisungsvorschlag:
Auschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Innenausschuß
Sportausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin ist die
Kollegin Birgit Schnieber-Jastram für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mir das hier
anders vorgestellt. Nach dem Wahldesaster in Hessen
hat diese Regierung gelobt: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Das sollte das neue Motto nach den ersten 100
Tagen der rotgrünen Regierung Schröder sein. Der Bundeskanzler hat versprochen: Was wir politisch machen
wollen, müssen wir vorher an der Realität messen, nicht
nachher. Und jetzt? Jetzt sind alle guten Vorsätze offensichtlich vergessen. Das Chaos der Bundesregierung ist
schlimmer denn je. Politik machen Sie nicht nur ohne
die Menschen, sondern inzwischen gegen die Menschen.
({0})
Vor den Wahlen hat diese Bundesregierung vollmundig mehr Arbeitsplätze und mehr soziale Gerechtigkeit
versprochen. Sie erinnern sich hoffentlich. Wenn ich an
das Beispiel der Renten und die Diskussion darüber
denke, dann läuft es mir kalt den Rücken herunter. Das
ist der größte Wahlbetrug, der hier je stattgefunden hat.
({1})
Kommen wir wieder auf das 630-DM-Gesetz und
Scheinselbständigkeit zurück. Mit diesen Gesetzen haben Sie genau das Gegenteil von dem erreicht, was Sie
angekündigt haben. Hunderttausende von Arbeitsplätzen
werden vernichtet, Zehntausende von Existenzen zerstört.
({2})
Mit diesen Gesetzen wird eben nicht gezielt der Wildwuchs, den es unbestritten gibt, beschnitten, sondern es
wird über die ganze Gesellschaft hinweg gemäht.
({3})
Schauen Sie sich an, wen Sie treffen: Rentner und
Zeitungsausträger, Sporttrainer und Chorleiter, alleinerziehende Mütter, private Haushalte und junge Ingenieure. Millionen kleiner Leute müssen sich als Opfer fühlen. Das ist Politik paradox: Die Schaffung von Arbeitsplätzen und Jobs schlägt in ein Förderprogramm für
Schwarzarbeit um. Davon weiß am allermeisten der
Herr Momper ein Lied zu singen.
({4})
Die Sozialkassen bleiben leer, und es wird weiter
gemompert. Diese Gesetze sind gerade für die kleinen
Leute eine Ohrfeige, für die Sie sich hier einsetzen
wollten.
({5})
Getroffen wird aber auch die von Herrn Schröder umworbene neue Mitte: die Gruppe der Flexiblen, der
Mutigen, der Risikobereiten.
Zusammen mit Tony Blair fordert Herr Schröder nun
eine neue Kultur der Selbständigkeit. Gleichzeitig zertritt er wie kein anderer in diesem Land mit seinen Gesetzen unternehmerische Eigeninitiative. Unternehmerische Eigeninitiative und Mut zur Selbständigkeit werden zerstört. Die Vorschläge von Blair und Schröder
entpuppen sich als der größte Bluff aller Zeiten.
({6})
Wenn Sie das nach Manier von Schröder und Blair für
Modernität halten, dann muß ich sagen: Es kommen auf
die Menschen in diesem Lande schlimme Zeiten zu.
Dieser Kanzler hat sich zum fahrenden Raubritter
gewandelt, der auf seinen Fahrten durch Europa die neue
Mitte sucht, die ihm in der Politik leider abhanden gekommen ist. Mit oder ohne Blair, die neue Mitte glaubt
ihm nicht mehr. Ich sage Ihnen eines: Sie hat recht.
Eckhardt Barthel ({7})
Ich möchte Ihnen ein Angebot machen. Die Union
wird sich der Verantwortung als konstruktive Opposition nicht entziehen und bietet hier noch einmal die
Mitwirkung bei der Ausarbeitung zukunftsweisender
und tragfähiger Reformen im Sozialbereich an. Aber
bei der Nachbesserung von Murks machen wir nicht mit.
Die von Ihnen hier diskutierten Nachbesserungsvorschläge zur Scheinselbständigkeit - ich freue mich, daß
ich auch Sie sehe, Herr Mosdorf; Sie haben gerade gestern verkündet, daß das 630-Mark-Gesetz nachgebessert werde - führen nur zu neuem Murks.
Deswegen fordere ich Sie auf, zuzugreifen, bevor es
zu spät ist. Stimmen Sie heute unserem Antrag zu, diese
Gesetze zurückzunehmen und in Ruhe über ein neues
Gesetz nachzudenken, das auch alle anderen sozialen
Sicherungssysteme berücksichtigt! Denn wir brauchen
in diesen Bereichen tragfähige Konzepte und nicht das,
was Sie hier machen, Herr Riester, nämlich einen
Rundumschlag, der unsere Sozialsysteme zerstört und
kaputtmacht. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie unserem
Antrag zu!
({8})
Für die SPDFraktion spricht jetzt die Kollegin Leyla Onur.
Sehr verehrte Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Schnieber-Jastram, wenn dieser Antrag ein Beispiel für
kraftvolle, konstruktive Oppositionsarbeit ist, dann kann
ich Ihnen nur mein tiefempfundenes Mitleid aussprechen.
({0})
In meinen politischen Sturm- und Drangjahren - das ist
fast 30 Jahre her - hätte ich vielleicht auch einen solchen Antrag geschrieben. Damals war ich auch der Auffassung, erst einmal weg mit dem Alten, und mußte
nicht dazusagen, wofür ich bin. Aber so etwas habe ich
selbst Ihnen nicht zugetraut. Ich habe Ihnen mehr Substanz und mehr Verantwortungsbewußtsein zugetraut.
({1})
Das, was Sie mit Ihrem Antrag machen, ist ganz einfach: Sie stellen falsche und unhaltbare Behauptungen
auf, kommen dann zu dem Schluß, diese Gesetze müßten zurückgenommen werden, und schlagen vor, einen
Dialog einzuleiten, der sich wahrscheinlich bis 2050
hinziehen würde. Wir sollen also genau das tun, was Sie
in den letzten 16 Jahren getan haben: Obwohl Sie das
Problem und die Mißstände erkannt hatten - alles war
Ihnen bekannt -, haben Sie nichts zustande gebracht.
Jetzt schlagen Sie uns vor, genauso untätig zu sein. Mit
uns ist das nicht zu machen. Wir haben gehandelt, und
wir bleiben bei unserem Gesetz. Punktum, Schluß.
({2})
Mit diesem Antrag setzen Sie sich an die Spitze der
Bewegung derjenigen, die mit ihrer infamen Kampagne
Betroffene und Nichtbetroffene verunsichern.
({3})
Sie machen sich zu der Wortführerin derjenigen, die
eine Ausnahmeregelung, für die wir ja alle sind, systematisch zu Lasten der ehrlichen Beitragszahler ausgenutzt haben. Sie machen sich zur Wortführerin derjenigen, die Teil- und Vollzeitarbeitsplätze gezielt zerstükkelt haben
({4})
und darüber hinaus den Mißbrauch in einer wirklich unvorstellbaren Weise und ohne Skrupel betrieben haben.
Wir haben ja gar nicht gewußt, in welcher Form und in
welchem Umfang Mißbrauch betrieben worden ist.
({5})
Das kommt jetzt heraus.
Vielleicht hilft Ihnen ein Beispiel weiter, das zeigt,
daß die Menschen überhaupt keine Hemmungen mehr
haben, den Mißbrauch zuzugeben. Ich lese von einem
bayerischen Bestattungsunternehmer - der sich natürlich
bitterlich beklagt -, daß er ohne irgendwelches Unrechtsbewußtsein zugibt, daß der Telefondienst in seinem Unternehmen von Ehefrauen der Mitarbeiter übernommen wurde, die - jetzt hören Sie genau zu mit mehreren 630-Mark-Tätigkeiten das Familienaufkommen aufgebessert haben. Das war, ist und bleibt
Betrug.
({6})
Dieser Herr scheut sich nicht, diesen Betrug auch noch
öffentlich zuzugeben.
({7})
Dieser Herr hat nicht einmal mehr eine Hemmung verspürt, in einer Zeitung öffentlich zuzugeben, daß er die
Sozialversicherungssysteme dieses Staats betrogen hat.
Soweit sind wir dank Ihrer Untätigkeit nämlich gekommen.
({8})
Ich spreche jetzt nicht davon, daß mehrere Lohnsteuerkarten im Umlauf waren und daß Mehrarbeit
schwarz bezahlt worden ist, natürlich aus der schwarzen
Kasse.
({9})
Der Mißbrauch stinkt zum Himmel. Es ist unerträglich. Sie haben nichts getan, obwohl Sie wußten, daß
gehandelt werden muß.
Wir haben, wie wir es im Wahlprogramm angekündigt haben, mit unserem Gesetz sofort dafür gesorgt, daß
der Mißbrauch gestoppt wird, daß Wettbewerbsverzerrung
({10})
- auf Schwarzarbeit komme ich gleich zu sprechen und die Flucht aus der Sozialversicherung gestoppt werden.
Bei dieser Gelegenheit will ich einmal sagen: Wir haben der Schwarzarbeit nie das Wort geredet. Sie fordern die Menschen geradezu zur Schwarzarbeit auf. Sie
erklären die Schwarzarbeit zu einer völlig normalen
Handlung.
({11})
Wo sind wir eigentlich? Warum fordern Sie denn
nicht die Konsumenten auf, die Brötchen zu klauen,
wenn sie beim Bäcker teurer werden? Das ist doch genau dasselbe.
Ich will gar nicht darüber sprechen, was Sie noch alles in Ihrem fundamentalen Antrag aufgeschrieben haben. Eines steht fest - Sie wissen es, und wir wissen es -:
Ihre Behauptung, durch unser Gesetz würden Arbeitsplätze vernichtet, ist falsch.
({12})
Sie wissen es und wir wissen es, daß Arbeit weiterhin
geleistet werden muß und geleistet wird. Allerdings muß
Arbeit umorganisiert werden.
({13})
Darauf stellen sich auch die Unternehmer längst ein.
Einige sind schneller, und andere bestraft das Zuspätkommen. Das ist völlig klar. Es gibt namhafte Beispiele für bekannte Unternehmer, die sich rechtzeitig
darauf vorbereitet haben. Andere handeln jetzt. Ein
Beispiel ist die Real-Gruppe. Die Real-Gruppe hat alle
Untergliederungen angewiesen, ab sofort keine geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse mehr einzugehen,
weil es sich nicht mehr rechne und auch viel zu riskant
sei, da man unter Umständen bei einer Prüfung erwischt werde. Genau das wollten wir: Wir wollten
durch Kontrolle sicherstellen, daß für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden.
({14})
In dem Moment, wo die Kassen für diese Beschäftigungsverhältnisse Geld bekommen, werden sie sich genauer und besser um die Kontrolle kümmern. Das weiß
die Kaufhausgruppe Realkauf, das wissen andere. Deswegen haben wir - dafür gibt es zahlreiche Beispiele schon jetzt die Beweise dafür, daß wir unser Ziel erreichen: Aus geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen
werden versicherungspflichtige Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätze. Genau das wollten wir, und genau das erreichen wir.
({15})
- Seien Sie einmal ganz friedlich, Frau SchnieberJastram.
Zu Ihrem zweiten Spiegelstrich. Daß Sie sich nicht
schämen, die Behauptung in die Welt zu setzen, der
Verwaltungsaufwand sei gar nicht mehr zu bewerkstelligen -
Frau Kollegin Onur,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Von wem denn?
({0})
- Herr Kollege, bitte schön, Sie dürfen.
Dafür ist Ihnen der
Kollege dankbar.
Sie geben mir die Gelegenheit,
meine Redezeit beliebig zu verlängern. Dafür bin ich
dankbar.
Ich bezweifle, ob
das eine Freude für Sie ist.
Na, das wollen wir einmal sehen.
Ich habe eine Frage,
Frau Kollegin - Argumente überzeugen Sie ja nicht
sehr -: Ist Ihnen bekannt, daß 630-DM-Angestellte früher schon, also unter der alten Gesetzgebung, angemeldet werden mußten, oder ist Ihnen das nicht bekannt?
({0})
Alles, was Sie hier von Betrug usw. und so fort vortragen, bezieht sich doch auf solche Fälle, in denen Leute
an Gesetzen vorbei etwas machen.
({1})
- Aber ich bitte Sie, durch ein Gesetz können Sie doch
den Mißbrauch nicht verhindern, sondern durch ein Gesetz können Sie gesetzmäßiges Handeln vorschreiben.
Es war bereits vorgeschrieben, daß diese Jobs angemeldet werden müssen. Ist Ihnen das überhaupt bekannt?
Wenn es Ihnen bekannt wäre, dann könnten Sie diese
Rede hier nicht halten.
Sehr verehrter Kollege, selbstverständlich ist uns das immer bekannt gewesen, offensichtlich aber nicht denjenigen, die diesen Antrag geschrieben haben. - Bleiben Sie ruhig stehen, ich brauche
länger für die Antwort. - Sie haben nämlich aufgeschrieben, daß jetzt ein unerhörter zusätzlicher Verwaltungsaufwand entstehe.
({0})
Ich sage Ihnen, das ist falsch, und zwar genau mit der
Begründung, die Sie mir eben schon in den Mund gelegt
haben.
Es gab vorher schon Regeln. Es war selbstverständlich so, daß ein Unternehmer auch den geringfügig Beschäftigten bei der Krankenkasse anmelden mußte, sich
einen Sozialversicherungsausweis vorlegen lassen
mußte, die Lohnunterlagen führen und aufbewahren
mußte, für diesen geringfügig Beschäftigten beim
Finanzamt pauschal Steuern entrichten oder wenigstens
in der Lohnsteuerkarte das entsprechende Einkommen
vermerken mußte und auch die Unfallversicherungsbeiträge entrichten mußte. Nur, Herr Kollege, was Sie
offensichtlich nicht wissen: Viele, insbesondere diejenigen, die jetzt am lautesten schreien, haben Schlupflöcher
gesucht und gefunden, um dies zu umgehen. Nachweislich sind diese Regeln, weil die Kontrolle nicht ausreichend funktioniert hat, unterlaufen worden.
({1})
- Moment, ich bin noch nicht fertig, Herr Kollege. Sie
haben mir eine Frage gestellt und müssen auch bis zum
Ende der Antwort zuhören.
Es hat sich etwas bei den Privathaushalten geändert.
Das war früher etwas einfacher. Wenn Sie hier von
Schwierigkeiten sprechen, dann sage ich Ihnen aber
auch einmal ganz freundlich: Es gibt im Ausschuß bei
uns eine Kollegin, die immer behauptet, Hausfrauen seien zu dumm, ein Formular auszufüllen.
({2})
Das werde ich mit Ekel und Abscheu jederzeit von mir
weisen.
({3})
- Ich habe keine Namen genannt, Herr Niebel.
Es ist völlig klar, daß in Zukunft auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in privaten Haushalten ein Arbeitsvertrag geschlossen werden muß und die Anmeldung, so
wie bisher bei der Pauschalbesteuerung, in der gesetzlichen Unfallversicherung und natürlich auch bei der Krankenkasse erfolgen muß. Bauen Sie doch hier nicht so
einen Popanz auf! Dieses Verfahren ist so einfach, daß es
jeder ohne Schwierigkeiten bewerkstelligen kann.
({4})
Ich zeige Ihnen einmal - Sie wissen ja immer nicht, wie
die Realität aussieht ({5})
ein solches Formular. Schauen Sie sich das einmal an.
So einfach sieht ein Arbeitsvertrag aus. Da müssen Sie
einige wenige Zeilen ausfüllen. Das schaffen Sie auch,
Herr Strobl. Die Anmeldung zur Sozialversicherung ist
auch nicht viel schwieriger. Auch das ist weder Aufwand noch besonders schwierig, sondern dies kann geleistet werden.
({6})
Damit, meine Damen und Herren, erreichen wir endlich, daß alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den
ihnen im Gesetz längst zugesicherten Arbeitnehmerschutz auch bekommen. Das gab es schon längst; das
wissen wir. Aber wer hat denn diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den ihnen zustehenden Urlaub
gewährt, das Weihnachtsgeld gezahlt, im Falle von
Krankheit Lohnfortzahlung geleistet? Es ist doch alles
unterlaufen worden. Das steht jetzt expressis verbis in
den Verträgen, das muß eingehalten werden, kann jederzeit nachgeprüft werden. Auch die Sozialkassen haben
ein Interesse daran, sozusagen den Sündern, den Mißbrauchstätern auf die Spur zu kommen.
({7})
Damit erreichen wir, daß die Flucht aus dem Sozialsystem gestoppt wird - eine alte Forderung von Herrn
Blüm, von der ich glaubte, daß Sie immer dahinterstehen -, daß die Wettbewerbsverzerrung gestoppt wird,
daß wir - zugegebenermaßen schrittweise - mehr Schutz
für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und daß wir
wieder Ordnung auf dem Arbeitsmarkt erreichen, weil
wir in Zukunft weniger geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und dafür mehr sozialversicherungspflichtige Teilzeit- oder Vollzeitarbeitsplätze haben werden.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Ihr
Antrag ist als traurig zu bezeichnen.
({8})
Er ist nicht konstruktiv, er zeigt keine Richtung auf und
ist schon deshalb negativ geprägt, weil Sie selbst nichts
beizutragen haben.
({9})
Deswegen verdient Ihr Antrag nur eine einzige Behandlung: Ablehnung und anschließend ab in den
Papierkorb!
Danke schön.
({10})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen
acht Monaten haben wir etwa ein Dutzend Debatten zu
diesem Thema hier im Plenum geführt.
({0})
Ich vermute einmal, daß dies die vorletzte sein wird;
denn nun wird die Rentendebatte das Thema 630-MarkJobs ablösen.
({1})
Sie haben ja darauf spekuliert, daß nach einer Weile ein
anderes Thema im Mittelpunkt steht. Aber ich kann
Ihnen eines sagen: Die Unzufriedenheit in der BevölLeyla Onur
kerung, bei denjenigen, denen Sie ihre Möglichkeiten,
Geld zu verdienen, genommen haben, wird bestehenbleiben, und die werden Sie noch zu spüren bekommen.
({2})
Erstaunlich finde ich, daß Sie selbst das Thema für
eine Ablösungsdebatte bestimmt haben. Ausgesprochen
leichtfertig ist es, das Thema Rente zu nehmen und damit eine Bevölkerungsschicht zu verunsichern, die
eigentlich unsere gesamte Solidarität verdient hätte.
({3})
Die Rentendebatte wird genauso verlaufen - da muß
man kein großer Prophet sein, um das festzustellen wie die über die geringfügigen Arbeitsverhältnisse. Herr
Riester macht einen Entwurf. Die SPD-Fraktion verändert ihn einmal, zweimal und dreimal.
({4})
Dann kommt ein Kanzlerwort, und dann wird nachgebessert. Nur, das, was dann herauskommt, ist immer
noch falsch.
({5})
Deswegen, Herr Riester, sollten Sie nicht nur das Gesetz über die 630-Mark-Jobs und die Regelung der sogenannten Scheinselbständigkeit aufheben. Sie sollten
vielmehr Ihre verheerenden Rentenpläne zurücknehmen.
({6})
Sie verunsichern alte Menschen, und Sie erwecken den
Eindruck, als käme es Ihnen nur darauf an, diejenigen,
die zwar der SPD im September zu Ihrer Wahl, am letzten Sonntag aber der CDU zu einem Sieg verholfen
haben, mit Ihren Plänen zu bestrafen.
({7})
Deswegen möchte ich darauf hinweisen, liebe Frau
Onur, daß man hier nicht Ursache und Wirkung verwechseln sollte. Von uns kommt dieses bürokratische
Monster, das Sie in die Welt gesetzt haben, nun wirklich
nicht, sondern von Ihnen.
({8})
Es ist nicht die Aufregung wegen der Abschaffung des
Mißbrauchs. Das, was die Leute aufregt, ist, daß Sie
Leistung bestrafen. Das ist es, was den Menschen draußen wirklich gegen den Strich geht.
({9})
Ihre Regelungen zur sogenannten Scheinselbständigkeit sind auch nicht besser. Heute morgen habe ich den
Zeitungen entnommen, daß es zu Nachbesserungen
kommen soll. Von Ihnen habe ich dazu noch nichts gehört. Offensichtlich ist dieses Thema zwischen der Bundesregierung und der SPD-Bundestagsfraktion wieder
umstritten.
({10})
Die Frage, die ich mir stelle, ist, wann sich der Kanzler
einmal durchsetzt.
({11})
Ich freue mich ja, wenn die SPD dazulernt. Ich freue
mich auch, wenn die Grünen dazulernen.
({12})
Ich fürchte nur, daß die Nachbesserung durch die Einführung von Ausnahmen das Ganze so kompliziert
macht, daß keiner weiß, woran er wirklich ist, daß die
Gerichte beschäftigt werden und nichts verbessert wird.
({13})
Darüber hinaus muß das, was man über die zusätzliche Altersvorsorge hört, die anerkannt werden soll, ja
wohl geprüft werden. Das, meine Damen und Herren,
wird wieder nur eine zusätzliche Bürokratie durch
Prüfverfahren bezüglich einer angemessenen Alterssicherung in Gang setzen. Nein, das alles ist es nicht. Sie
sollten Ihr Vorhaben aufheben und es beim ursprünglichen Rechtszustand belassen. Das wäre wirklich besser.
({14})
Auch über die CDU kann man in dieser Debatte
wirklich nur staunen. Dieser Antrag stammt von der
CDU. Da muß ich leider feststellen, daß unser früherer
Koalitionspartner offensichtlich unter akutem kollektiven Gedächtnisschwund leidet.
({15})
Im Bericht des Bundestagsausschusses für Arbeit und
Sozialordnung - ich kann auch noch ein paar Sachen aus
nichtöffentlicher Sitzung zitieren; aber dies ist wirklich
öffentlich zugänglich - vom 5. März 1998 zum damaligen SPD-Entwurf zur Versicherungspflicht der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse bestätigt die CDU/
CSU ausdrücklich, daß es einen Regelungsbedarf gibt,
({16})
daß es aber leider wegen des kleinen Koalitionspartners
nicht möglich sei, etwas zu regeln.
({17})
Nun muß ich Ihnen sagen: Der kleine Koalitionspartner
agiert jetzt selbständig in der Opposition. Wieso, zum
Teufel, haben Sie dann noch nichts vorgelegt? Ich kann
es Ihnen sagen: weil Sie alles verdrängt haben und vergessen wollen, was Sie früher gesagt haben, und weil
Sie hier auf einer Welle mitreiten und dadurch wohlfeile
Wählerstimmen bekommen wollen.
({18})
Frau Kollegin
Schwaetzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Selbstverständlich.
Verehrte Frau
Kollegin Schwaetzer, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, daß Sie zu Recht zitiert haben, daß die
CDU/CSU-Fraktion in diesem Bereich, gerade was den
Mißbrauch angeht, in der Tat Handlungsbedarf gesehen
hat und auch nach wie vor sieht
({0})
und daß wir in der letzten Legislaturperiode nicht etwa
deswegen keine Regelung mehr vorgelegt haben, weil
wir uns in der Koalition nicht haben einigen können,
({1})
sondern weil uns völlig klar war, daß das eine der
schwierigsten Regelungen ist und daß eine solche Regelung nur im Zusammenhang mit einer Steuerreform
gefunden werden kann, durch die die Tarife für Arbeitnehmer und Unternehmer zurückgehen
({2})
und durch die insgesamt ein Klima geschaffen werden
kann, in dem man über diesen Bereich reden kann, weil
nämlich der Unternehmer auf der einen Seite - ({3})
- Ich bin immer noch bei der Frage, es war nur ein
Komma dazwischen.
({4})
Lieber Herr
Kollege, eine Frage muß auch einmal ein Ende finden.
Ich bin beim
letzten Weil-Satz, wenn Sie mir den noch gestatten: Ein
solches Klima muß geschaffen werden, weil dann
nämlich der Druck aus der Kiste ist und weil Unternehmer dann für ihren Bereich nicht mehr sagen müssen: Der Tarifdruck und der steuerliche Druck sind
so hoch, daß wir nicht anders können, als solche Jobs
zu machen.
({0})
Dann ist auch bei Arbeitnehmern nicht mehr der
Druck da, solche Jobs machen zu müssen.
({1})
Herr Kollege,
ich erlaube Ihnen nicht, noch länger zu reden. Sie diskutieren mit der anderen Seite des Hauses, Sie stellen aber
keine Frage an die Rednerin.
({0})
Wenn Sie diskutieren wollen, müssen Sie eine Kurzintervention beantragen. Das geht dann aber erst nach
dem Ende der Rede.
({1})
Frau Präsidentin,
das war ein so lang gedehntes Fragezeichen, weil Herr
Meckelburg versucht, sich in der Frage, warum die
CDU/CSU noch keine Antwort gefunden hat, herauszureden.
({0})
Sie wollten in der letzten Legislaturperiode nun wirklich
etwas anderes, Sie wollten nämlich die Sozialversicherungspflicht für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. Ich habe zwar nicht im Ausschuß gesessen,
aber eine ganze Reihe von Ihnen, die sich eigentlich
noch daran erinnern sollten, was Ihre Kollegen da gefordert haben, haben im Ausschuß gesessen.
({1})
Deswegen möchte ich Sie wirklich bitten, hier vielleicht
auch einmal daran zu denken, was Sie selbst früher gedacht und getan haben. Herr Meckelburg, das hatte
nichts mit Steuersenkungen zu tun.
({2})
Aber lassen Sie uns - das ist eine Bitte an das gesamte Haus - doch bitte an eine konstruktive Diskussion
in dem Bereich herangehen, wo die Lösung des Problems liegen müßte: nämlich im Bereich niedrig entlohnter Tätigkeiten Regelungen zu finden, so daß es
sich auch lohnt, diese Tätigkeiten aufzunehmen - und
zwar im ersten Arbeitsmarkt, nicht etwa im zweiten Arbeitsmarkt.
({3})
Hier gibt es eine Beschäftigungslücke von etwa 2 bis 3
Millionen Arbeitsplätzen, die von Menschen besetzt
werden könnten, die heute arbeitslos sind. Dazu müssen
die Gewerkschaften aber einmal über ihren Schatten
springen. Leider haben Sie zu viele Gewerkschafter in
Ihren Reihen.
({4})
Deswegen wird das wohl auf absehbare Zeit noch nichts.
({5})
Es müssen in dem Bereich schon einige Kriterien erfüllt werden. Ich will einmal vier Kriterien ganz plakativ
in den Raum stellen: Es muß erstens durch Leistungsanreize die Arbeitsaufnahme im ersten Arbeitsmarkt
erleichtert werden. Es muß zweitens ein angemessenes
Familieneinkommen sichergestellt werden. Es muß
drittens die Gefahr von Mitnahmeeffekten möglichst
minimiert werden. Es muß viertens die Flexibilität des
Arbeitsmarktes verbessert werden.
Das sind Dinge, die wir in unserem BürgergeldKonzept aufgegriffen haben. Als Einstieg hatte die alte
Koalition bereits die veränderte Anrechnung des eigenen
Erwerbseinkommens auf die Sozialhilfe beschlossen.
Das war damals ein mühsames Stück Arbeit mit Herrn
Seehofer. Wir haben aber eine Regelung vorgelegt.
Warum knüpfen wir da nicht wieder an? Das würde den
Menschen wirklich mehr helfen als all dieser Murks im
630-DM-Gesetz, den Sie gemacht haben.
({6})
Und lassen Sie uns einen zusätzlichen Schritt machen
- ich komme zum Schluß, Frau Präsidentin -, indem wir
Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammenlegen natürlich mit einem entsprechenden Ausgleich für die
Gemeinden! Das erfordert Pragmatismus. Aber nur so
kann man Arbeitsmarktprobleme anpacken. Deswegen
appelliere ich wirklich an alle, die Verweigerungshaltung in diesem Bereich aufzugeben. Wenn wir dieses
Thema angehen, meine Damen und Herren von der
SPD, dann - da bin ich ganz sicher - werden Sie sehen,
daß das bürokratische Monster der 630-DM-Regelung
völlig überflüssig ist.
Danke.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Margareta Wolf.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Schnieber-Jastram, ich soll die
Wahrheit sagen, und das tue ich jetzt auch.
Frau Schwaetzer hat eines gesagt, was richtig ist,
nämlich daß Sie nach 14 Jahren Nichtstun damals, im
Herbst 1996 und dann 1997, einem Vorschlag der SPDFraktion im Vermittlungsausschuß zugestimmt haben.
Dieser Vorschlag sah vor, geringfügige Nebenbeschäftigungen mit einer Hauptbeschäftigung zusammenzurechnen und somit beide sozialversicherungspflichtig zu
machen. Dieser Vorschlag unterscheidet sich in gar
nichts von unserer 630-DM-Lösung.
({0})
Verehrte Frau Schwaetzer, Sie haben gerade wieder
exemplarisch vorgeführt, in welchem Zustand sich Ihre
wunderbare Partei befindet. Auf der einen Seite docken
Sie immer noch an die wunderbaren Werbeformeln Ihres
phantastischen Generalsekretärs an, der zuerst sagte, Sie
sind die Partei der Besserverdienenden. Dann waren Sie
die Partei, die in den letzten Jahren die soziale Marktwirtschaft als Gefälligkeitsdemokratie denunziert hat.
Jetzt sind Sie in Bremen mit einem kleinen Antrag
durchgeflogen, der dazu dienen sollte, das Sozialimage
aufzupeppen, weil man genau weiß: Ein zukunftsfähiger
Staat muß die Brücke zwischen Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik bauen. Und jetzt hängen Sie sich an die
Niedriglohndebatte an, die unsere beiden Fraktionen auf
den Weg gebracht haben, um dieses kleine soziale
I-Tüpfelchen da aufzusetzen. Ich finde das nur noch
peinlich, und die Rechnung haben Sie ja auch bekommen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich frage mich in der Tat,
warum wir heute schon wieder über die 630 DM und
Scheinselbständigkeit diskutieren.
({2})
Wir haben das schon zahlreiche Male getan. Sie wissen,
daß entsprechende Kommissionen an der Arbeit sind
und Ihnen ihre Ergebnisse präsentieren werden. Dann
wird die Debatte über dieses Ergebnis doch viel spannender sein.
Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen, daß sich diese
Gesellschaft im Übergang von der Industriegesellschaft
hin zur Dienstleistungsgesellschaft befindet. In diesem
Kontext, der zugegebenermaßen ein sehr schwieriger ist,
finde ich es naheliegend, Debatten zu führen über die
Zukunft der Arbeitswelt, über die Zukunft der Sozialversicherungssysteme und über die Brückenbildung zwischen Flexibilität und Solidarität.
({3})
- Was ich sage, entscheide ich immer noch alleine, Frau
Schwaetzer, und nicht Sie.
Wir befinden uns in diesem Wandel. In diesem Wandel weiß jeder, daß es keine einfachen Antworten gibt.
Sie haben die Rahmenbedingungen für diesen Wandel in
den letzten Jahren verschlafen. Das macht es uns so
schwer.
({4})
Natürlich gibt es auch nicht immer nur richtige Antworten, vor allen Dingen dann nicht, wenn man sich
immer nur hinstellt und sagt, wie Sie das jetzt wieder
getan haben: „weg mit …“.
Ich möchte Sie mit einem wunderbaren Zitat konfrontieren. Ich habe am Wochenende ein Buch eines
Philosophen gelesen. Er lebte im 18. Jahrhundert und
hieß Montaigne. Über diesen Satz sollten Sie vielleicht
einmal nachdenken:
Welche Schande für einen Politiker, dessen Rolle
doch die Beobachtung der gesellschaftlichen Entwicklung ist, wenn er durch die Macht der Gewohnheit abgestumpfte Geister als Zeugen der
Wahrheit heranzieht!
Und das tun Sie, wenn Sie hier immer nur „weg mit …“
sagen.
({5})
Wir haben in zahlreichen Debatten in diesem Hause
dargestellt, daß wir grundsätzlich - Herr Niebel, daß Sie
immer nur schreien, aber hier keinen guten Beitrag leisten können, das wissen wir schon - an der Sozialversicherungspflicht für geringfügige Nebenbeschäftigungen festhalten wollen, und zwar unter dem Aspekt der
Gerechtigkeit. Dieser Gerechtigkeitsaspekt erfordert,
daß diejenigen, die Überstunden machen, mit denen
gleichgestellt werden müssen, die eine geringfügige Nebenbeschäftigung haben. Dieses Gerechtigkeitsproblem
können Sie nicht auflösen, wenn Sie die geringfügige
Nebenbeschäftigung aus dieser Regelung wieder herausnehmen.
({6})
Eine der größten Herausforderungen - und ich würde
mich freuen, wenn wir ihr gemeinsam gerecht werden
könnten - hier in diesem Haus ist es, zu begreifen, daß
sich eine Politik der Modernisierung am Ziel der Zusammenführung von Flexibilität und Solidarität orientieren muß. Wir sind mit einer Flexibilisierung der
Märkte als Ergebnis einer immer stärker wachsenden
Globalisierung und damit einhergehender höherer externer Anforderungen konfrontiert.
Wir müssen uns darüber verständigen, was soziale
Sicherung überhaupt bedeutet. Wir sehen: Es gibt eine
Flucht aus den sozialen Sicherungssystemen, die unmittelbar damit zusammenhängt, daß die Grenze der Belastungen auf Grund von Abgaben und Steuern bei den
Menschen erreicht ist. Wir wollen für die Wiederherstellung der Zustimmung zu den sozialen Sicherungssystemen werben.
Frau Kollegin Schwaetzer, wenn wir in den letzten
Jahren eine gesetzliche Regelung für die Beschäftigungsverhältnisse im Sektor zwischen 630 und 1 300
DM gehabt hätten, dann hätten wir die Chancen für den
Dienstleistungsmarkt wie die anderen europäischen
Länder und wie die USA nutzen können. Durch die
Nichtregelung dieses Sektors haben Sie eine Teilzeitmauer aufgebaut. Nur 66 000 Menschen sind nämlich in
diesem Segment beschäftigt. Sie wissen genau, daß die
Nachfrage in diesem Sektor weitaus größer ist.
Wir haben im Rahmen des Bündnisses für Arbeit
Vorschläge gemacht, Modelle zu erproben, um hier zu
neuen Beschäftigungsverhältnissen zu kommen. Es gibt
in Berlin einen Modellversuch. Diese Modellversuche
müssen aber regionalspezifische Aspekte berücksichtigen. Nach einem Jahr kann man auswerten und entscheiden, welches Modell die beste Lösung ist.
Zur Scheinselbständigkeit. Wir wissen alle, daß das
Blüm-Ministerium in den letzten Jahren fieberhaft nach
einer Regelung gesucht hat, wie mit diesem Phänomen
umgegangen werden kann. Wir wissen, daß Sie Studien
in Millionenhöhe in Auftrag gegeben haben, auf deren
Zahlen wir uns immer noch beziehen. Sie wußten auch
- deshalb haben Sie keinen entsprechenden Antrag eingebracht -, daß Sie sich mit einem Gesetz gegen die
Scheinselbständigkeit auf ein vermintes Gelände begeben und daß dieses Gesetz kein Sonntagsspaziergang
hinsichtlich der Wirkung in der Bevölkerung ist. Deshalb haben Sie kein entsprechendes Gesetz vorgelegt.
Jetzt schütten Sie aber Häme über diesen Diskussionsprozeß aus, den wir angefangen haben. Seit über einem
halben Jahr diskutieren wir mit den verschiedenen betroffenen Gruppen und den Berufsgruppen. Es wurde
eine Kommission eingerichtet, in der wir diskutieren,
um möglichst bald Vorschläge für Veränderungen vorlegen zu können.
({7})
Ich sage Ihnen, welche Veränderungen ich für notwendig halte. Wenn Sie dies interessiert, sollten Sie ein
wenig leiser sein.
({8})
- Ihr Zuruf, wir nähmen die Menschen als Versuchskaninchen, ist eine so hummelblöde Aussage, wie ich sie
selten gehört habe.
({9})
Sie haben ein Gesetz gegen die Scheinselbständigkeit
in Kraft gesetzt, das tatsächlich nicht funktionierte, weil
die Fälle bei den Gerichten gelandet sind. In diesem
Punkt sind wir uns mit allen Interessengruppen einig:
Wir wollen der Erosion der sozialen Sicherungssysteme
entgegenwirken, den offensichtlichen Mißbrauch bekämpfen, die Selbständigkeit fördern und die Rechtssicherheit wiederherstellen. Das ist ein sehr kompaktes
und ein sehr ambitioniertes Vorhaben.
({10})
- Das ist kein Feldversuch, Herr Niebel.
Liebe Herren
Kollegen von der F.D.P., mir fällt auf, daß Sie fast nach
jedem Satz dazwischenrufen.
({0})
Es ist natürlich Ihr Recht, dazwischenzurufen, aber die
Kollegin muß eine Chance haben, ein paar Sätze im Zusammenhang sprechen zu können.
({1})
Margareta Wolf ({2})
Ich bedanke mich ganz herzlich, Frau Präsidentin. Dieses Verhalten der F.D.P. kenne ich.
Ich will Ihnen sagen, worüber wir in der Kommission
nachdenken. Wir denken über den Kriterienkatalog
nach.
({0})
- Sie haben immer alles richtig gemacht. Deshalb sind
Ihre Reformen in den letzten 16 Jahren so wahnsinnig
erfolgreich gewesen; deshalb liegt dieses Land in Europa vorne. Seien Sie auch einmal ein bißchen selbstkritisch! Ich habe vorhin gesagt, daß es in dieser Situation
nicht immer einfache Lösungen gibt.
({1})
- Wenn Sie meine Ausführungen nicht interessieren,
dann brauche ich nicht mehr weiterzureden.
({2})
Wir diskutieren darüber, ob der Kriterienkatalog zeitgemäß ist und ob die Lebensversicherung als einziges
Instrument die Rentenversicherung ergänzen kann. Sie
sind überhaupt nicht an der Sache interessiert. Die Europawahl ist gelaufen. Seien Sie doch froh darüber! Jetzt
könnten Sie sich konstruktiv an der Diskussion beteiligen, damit die Wählerinnen und Wähler, die Sie aus
Protest gewählt haben, auch wirklich wissen, was Sie
auf der Pfanne haben, nämlich offensichtlich gar nichts.
({3})
Wir diskutieren, ob das Kriterium von einem Auftraggeber angesichts der Tatsache, daß wir eine wachsende IT-Branche und eine wachsende IngenieursBranche mit oft nur einem Auftraggeber haben, noch
zeitgemäß ist. Nach dem Ende der Beratungen in der
Kommission werden wir dieses Kriterium entsprechend
ändern.
Ich bin ferner der Meinung, daß wir darüber reden
müssen, ob private Altersvorsorge nicht auch heißen
kann: lange Bindungsfristen in einem Aktienfonds.
Sie können gewiß sein - die Kommission wird bald
zu Ende getagt haben -, wir werden mit Hilfe der Bundesregierung einen ordentlichen Gesetzentwurf vorlegen. Dann können Sie Ihre Alternativkonzepte hier präsentieren.
Ich bitte Sie auch im Interesse des Friedens in unserem Lande, mit dieser unsäglichen Kampagne aufzuhören. Der Europawahlkampf war ein rein nationaler 630Mark-Wahlkampf.
({4})
Dabei handelt es sich um das gleiche Gesetz, dem Sie
damals im Vermittlungsausschuß zugestimmt haben. Ich
finde, das ist fast nicht mehr zumutbar.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich hatte gedacht, daß die Kampagne, die zu dem 630-Mark-Gesetz
und zur Scheinselbständigkeit außerhalb des Parlaments
geführt wird, an Verlogenheit nicht mehr zu überbieten
ist.
({0})
Aber das, was hier heute geboten wird, steht dem in keiner Weise nach.
({1})
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, ist dafür ein beredtes Beispiel.
In der gesamten Auseinandersetzung hat sich vor
allem der Kollege Westerwelle als Bäckerbursche ausreichend lächerlich gemacht. Aber auch viele andere von
Ihnen haben sich angesichts der wirklichen Probleme
der geringfügigen Beschäftigung ordentlich blamiert.
Sie wissen so gut wie ich, daß mit den 630-Mark-Jobs in
den letzten Jahren millionenfach Mißbrauch getrieben
wurde. Wenn die Gesetze auch Mängel haben - das ist
von der PDS ausreichend kritisiert worden -, für eines
sind sie immer noch gut, nämlich den Mißbrauch zu bekämpfen
({2})
und endlich die Ausplünderung der sozialen Sicherungssysteme zu stoppen. Das findet unsere nachdrückliche
Unterstützung.
Das übrigens erklärt natürlich auch, daß nun diejenigen am lautesten schreien, die von diesem Mißbrauch in
den letzten Jahren am meisten profitiert haben:
({3})
die Funktionäre des Hotel- und Gaststättengewerbes, der
DIHT, die Zeitungsverleger, die Vertreter der Taxiunternehmen - von wegen kleine Leute, kann ich da nur
sagen. Das ist die altbekannte Lobby, die sich schon
immer auf Kosten der Solidargemeinschaft bereichert
hat.
({4})
In den Kampagnen wird mit Halb- und Falschinformationen zur geringfügigen Beschäftigung agiert. Betroffene werden verunsichert, Angst wird geschürt.
({5})
Insgesamt wird unterstellt, daß die Neuregelungen
des Gesetzes eine gigantische Kündigungs- und Jobvernichtungswelle zur Folge hätte.
({6})
Das aber ist Panikmache, liebe Kolleginnen und Kollegen; denn den Beweis bleiben Sie schuldig, im Gegensatz zum Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, der
sehr deutlich das Gegenteil belegt hat.
Geklagt wird bei Ihnen über zuviel Bürokratie.
({7})
Es geht Ihnen aber gar nicht um die Bürokratie. Darum
geht es den Unternehmern übrigens auch nicht, die sich
jetzt als Sachwalter der geringfügig Beschäftigten aufspielen. Sie ärgern sich am meisten darüber, daß sie nun
nicht mehr schummeln können oder - um es drastischer
zu sagen - betrügen können,
({8})
sondern daß endlich Licht in das Dunkel der geringfügigen Beschäftigung gebracht wird. Genau das findet auch
unsere Unterstützung.
Zusätzlich belastet werden in der Tat diejenigen, die
neben ihrem Hauptberuf einen 630-Mark-Job als Nebenjob haben. Sie müssen nun Steuern und Sozialabgaben zahlen; das ist bekannt.
({9})
Aber was ist denn anderes passiert, als daß sie mit denjenigen gleichgestellt werden, die das für Überstunden
schon immer tun mußten?
Natürlich - das weiß auch ich - sind davon auch viele
betroffen, die wirklich wenig Geld haben.
({10})
Wenn Sie sich die Einkommenssituation in Ostdeutschland anschauen, dann wissen Sie, wovon ich rede. Daß sie sauer sind, wenn sie gleichzeitig erleben,
daß die Regierung viel darüber nachdenkt, wie sie die
Besserverdienenden und Vermögenden von Steuern
entlasten kann, kann ich noch am ehesten nachvollziehen.
({11})
Schließlich wird behauptet, für die Unternehmen
rechneten sich nun die 630-Mark-Jobs nicht mehr. Das
verstehe, wer will. Ich tue es nicht; denn gerade für die
Unternehmen hat sich nun wirklich überhaupt nichts geändert, es sei denn, sie haben früher gegen die Gesetze
verstoßen und können dies nun nicht mehr so leicht tun,
wie sie es früher getan haben,
({12})
und sie müssen sich nun überlegen, auf welche andere
Art und Weise sie das Bier und die Brötchen an die Frau
und an den Mann bringen.
Erstaunlicherweise gibt es gerade bei den Unternehmen schon viel mehr Einsicht als bei Ihnen. Dort gibt es
eine Reihe von Lichtblicken, was die Umwandlung
von prekären Beschäftigungsverhältnissen in versicherungspflichtige Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätze betrifft. Aber das macht natürlich keine Schlagzeilen in der
Öffentlichkeit.
({13})
Am ärgerlichsten ist - das will ich auch noch deutlich
sagen -, daß die wirklichen Lücken des Gesetzes in der
aktuellen Auseinandersetzung überhaupt keine Rolle
mehr spielen. Wer redet denn heute noch über die
alleinerziehende Mutter, die ihren Minijob als einzige
Einnahmequelle hat und trotz der Neuregelung weder
ausreichend gegen Arbeitslosigkeit noch gegen Altersarmut gesichert ist? Kaum jemand regt sich darüber auf,
daß Ehefrauen unabhängig vom Einkommen ihrer Ehemänner bei einem 630-Mark-Job steuerfrei bleiben und
damit - das halte ich für das Fatale - in die Rolle der
Zuverdienerin abgedrängt werden. Wen kümmert es
noch, daß es bei den Scheinselbständigen um die Kellnerin und um den Transportfahrer und nicht um den Computerfachmann, die Journalisten und die Volkshochschuldozentin ging?
({14})
Es ging um diejenigen, die wirklich sozialen Schutz
brauchen. Das war das eigentliche Anliegen des Gesetzes. Genau das haben wir unterstützt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wenn Sie jetzt Korrekturen vornehmen, dann hoffe ich
sehr, daß Sie nicht vor jenen einknicken, denen die
Schutzbedürftigkeit der Menschen und der Bestand unseres Sozialsystems sowieso relativ Wurst sind.
({15})
Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P., muß ich sagen: Wenn Sie weiterhin gegen die
soziale Absicherung geringfügiger Beschäftigung so
polemisieren, dann müssen Sie sich nicht wundern,
wenn Sie auch in Zukunft ziemlich geringfügig gewählt
werden.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Peter Ramsauer.
({0})
Sehr geehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Damit es der SPD-Fraktion leichter fällt, beginne ich mit
einem Zitat aus einem Brief, den der SPD-Fraktionsvorsitzende Dr. Peter Struck - er ist auch da - mit
Datum vom 20. Mai 1999 an alle Mitglieder der SPDBundestagsfraktion gerichtet hat. Hier heißt es:
Laßt Euch nicht verunsichern durch Berichte über
eine neuerliche Änderung der 630-Mark-Regelung.
Das Gesetz bleibt unverändert. …
({0})
Im übrigen ist feststellbar, daß die Kampagne gegen dieses Gesetz schwächer wird.
({1})
Ich glaube, Sie sehen hier eine Fata Morgana, ein Trugbild, ein Wunschbild.
({2})
Dann fährt Peter Struck fort:
Es treten allmählich genau die Effekte ein, die wir
mit dem Gesetz bewirken wollten.
Wenn man sich dies vor Augen hält, erhält das Wahlergebnis der SPD vom letzten Sonntag eine völlig neue
Bedeutung.
({3})
Offensichtlich haben Sie noch nicht bemerkt, daß dieses
Wahlergebnis auch ein Aufschrei der Betroffenen war,
daß die Gesetze gegen Scheinselbständigkeit und gegen
den sogenannten Mißbrauch bei der geringfügigen Beschäftigung eine Gesetzgebung gegen den kleinen
Mann waren und gegen diejenigen, die gerade im mittelständischen Bereich mit der geringfügigen Beschäftigung versucht haben, beispielsweise saisonale Spitzen
abzubauen.
({4})
Deswegen erweisen sich diese Gesetze als regelrechte
Jobkiller, und sie sind praxisfern. Daher ist es auch
nicht verwunderlich, was wir aus der „Bild“-Zeitung
vom 17. Mai 1999 erfahren haben: „Rudolf Dreßler sein ganz persönliches 630-Mark-Problem. Betonsozi
kriegt keine Putzfrau.“ Dann spricht Kollege Dreßler
über seine Probleme und will erklären, warum er niemanden bekommt:
Verschreckt durch das Chaos bei der Neuregelung
von 630-Mark-Jobs, wollen alle Angesprochenen
statt Geld über Lohnsteuerkarte nur Bares auf die
Hand.
({5})
- Ja, aber in diesem Fall war es Dreßler.
Dazu kann ich wirklich nur sagen: Besser kann man das
Problem nicht erklären.
Es ist dann weiter zu lesen, daß der stellvertretende
Fraktionsvorsitzende der SPD Ernst Schwanhold im
„Lindenhof“, seinem Stammlokal, von der Wirtin gesagt
bekommen hat: Lieber Ernst, macht doch vor eurem
nächsten Gesetz erst einmal einen Ausflug in die Wirklichkeit.
({6})
Dem kann man wirklich nichts hinzufügen.
Sie wissen, wie viele Arbeitsplätze schon verlorengegangen sind: 300 000 bei den Gebäudereinigern,
200 000 bei Kellnern im Gaststättenbereich, 150 000 bei
Verkäufern usw.
({7})
- Herr Gilges, ich habe es eben schon gesagt: Nehmen
Sie Valium! Sie haben einen tüchtigen Fraktionsgeschäftsführer. Es lohnt nicht, sich hier so aufzuregen. Sie
sind wohl immer noch wegen Ihres katastrophalen
Wahlergebnisses vom letzten Sonntag erzürnt. Hier liegen wichtige Ursachen für den Schlamassel der SPD, in
den Sie sich selber hineingeritten haben.
({8})
Wir bekommen auch aus den Reihen von Rotgrün
ständig recht für unsere Kritik: Wolfgang Clement sieht,
wie er gesagt hat, Handlungsbedarf, um ungerechte zusätzliche Belastungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
zu korrigieren. Heide Simonis verlangt eine schnelle
Änderung der neuen Besteuerung. Kurt Beck sieht eine
bürokratische Überzeichnung bei der Neuregelung. Glogowski stößt ins gleiche Horn. Und auch Peter Struck und
Bundeskanzler Schröder haben gesagt, für bestimmte
Branchen, etwa im Medienbereich, müßten Sonderregelungen geschaffen werden. Alle sagen, es müsse sich
etwas ändern. Nur einer will nicht: Bundesarbeitsminister
Riester. Er ist genau das, was die „Bild“-Zeitung über
Dreßler geschrieben hat, ein „Beton-Sozi“.
({9})
- Liebe Frau Rennebach, das waren nicht meine Worte;
ich habe die „Bild“-Zeitung zitiert. Aber sie hat nicht so
schlecht getroffen.
Am Wahlabend des vergangenen Sonntags hat
„Ich habe die Wähler verstanden.“ Wenn sich Rotgrün jetzt weigert, diesen Gesetzespfusch zurückzunehmen, dann hat Bundeskanzler
Schröder die Wähler ganz offensichtlich nicht verstanden. Er kann sie nicht verstanden haben.
({0})
Ich begreife auch nicht, warum er die Wähler erst jetzt
versteht. Wir haben von Anfang an massiv protestiert
und auf die Risiken einer solchen gesetzlichen Regelung
hingewiesen. Wir haben das von Anfang an so gesehen,
wir haben Sie immer gewarnt. Aber Sie wollten das
Problem nicht zur Kenntnis nehmen. Nach dem Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag ist es für Sie zu spät.
Man kann das Schauspiel, das Rotgrün bei dieser Gesetzgebung aufführt, nicht besser charakterisieren als
Kurt Kister dies in dieser Woche in der „Süddeutschen
Zeitung“ getan hat. Er schrieb:
Nach Art der russischen Fallschirmjäger in Pristina
prescht ein Ministerium mit einem Entwurf vor, aus
der Fraktion gibt es Gegenfeuer, die Grünen sind
nicht informiert, Hombach interveniert auf dem kleinen Dienstweg, und wenn alles in Kraft tritt, mosern
die Länder, und eine Kommission muß die Nachteile
des bereits geltenden Gesetzes überprüfen.
Schröder hat Angst vor den Betonköpfen in Ihren
eigenen Reihen. Man muß ihm den Vorwurf machen,
daß er in solchen Fragen - zumal er sagt, er habe die
Botschaft der Wähler verstanden - nicht endlich von
seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch macht und diesen gordischen Knoten durchschlägt. Eines muß Ihnen
von Rotgrün und auch
Schröder hat angesichts dieses Gesetzesschlamassels - das bestätigt das Wahlergebnis vom letzten
Sonntag - auch die sogenannte zweite Chance, die ihm
die deutschen Medien nach dem Abgang von Lafontaine
eingeräumt haben, „vergeigt“. Eine dritte Chance wird
er nicht so ohne weiteres bekommen.
Herr Kollege
Ramsauer, die abgemachte Redezeit ist jetzt vorbei.
Ich komme zum
Schluß. - Im Schröder/Blair-Papier steht interessanterweise zu dem heutigen Thema:
Wir müssen: … Arbeitgeber durch … die Verringerung der Steuer- und Sozialabgabenlast auf geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ermutigen …
Ziel dieser Erklärung ist es, einen Anstoß zur Modernisierung zu geben. Wir laden alle Sozialdemokraten in Europa dazu ein, diese historische Chance
zur Erneuerung nicht verstreichen zu lassen.
Herr Kollege
Ramsauer, es ist nicht mehr möglich, jetzt längere Passagen vorzulesen. Ihre Redezeit ist vorbei. Bitte denken
Sie daran.
Ich kann nur sagen: Das ist ein Appell an die Fraktionen von Grün und
Rot in diesem Hause. Man kann nur der „Frankfurter
Rundschau“ folgen, die geschrieben hat: Diesen Punkt
haben CDU und CSU schon lange betont. - Schließen
Sie sich uns an und stimmen Sie für unseren Antrag!
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Dreßen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In seiner Rede am 26. April 1997
„Aufbruch ins 21. Jahrhundert“ hat Bundespräsident
Roman Herzog gefordert, durch Deutschland müsse ein
Ruck gehen. Diesen Auftrag haben wir verstanden.
({0})
Nachdem sich die alte Bundesregierung gequält hat, am
laufenden Band Ungerechtigkeiten produziert hat und
nicht in der Lage war, notwendige Reformen durchzuführen, haben wir gehandelt.
({1})
Wir haben durch eine Steuerreform und durch die Erhöhung des Kindergeldes die Familien entlastet.
({2})
In der Endphase, im Jahre 2002, sind das 50 Milliarden
DM, die Familien und Arbeitnehmer weniger zu bezahlen haben. Dazu wären Sie nie imstande gewesen.
({3})
Wir haben für 9 Millionen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer den Kündigungsschutz wiederhergestellt
({4})
und, wie im Wahlkampf versprochen, die diversen
chaotischen Zustände auf dem Arbeitsmarkt, die Sie zu
verantworten hatten, beseitigt.
({5})
- Melden Sie sich doch zu Wort, wenn Sie etwas zu sagen haben, Herr Niebel.
Thema Scheinselbständigkeit: Das Gesetz hat das
Ziel, Arbeitsverhältnisse, die, um die Sozialversicherung
zu sparen, in die Scheinselbständigkeit abgedrückt worden sind, wieder in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zurückzuführen.
Herr Kollege,
erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
({0})
Herr Kollege
Dreßen, der Bundeskanzler hat am Sonntag nach der
schlimmen Wahlniederlage der SPD die schon vom
Kollegen Ramsauer zitierten Worte gesagt: „Ich habe
verstanden.“ Was, glauben Sie, könnte er damit gemeint
haben?
({0})
Könnte er unter Umständen die 630-DM-Jobs und die
Scheinselbständigkeit gemeint haben?
({1})
Ich bin mir sicher, daß der
Bundeskanzler damit in erster Linie gemeint hat, daß
dieses Land wieder Arbeitsplätze braucht und daß wir
alles tun müssen, um in diesem Land wieder mehr Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Das war sicherlich sein wichtigstes Anliegen.
({0})
Aber ich bin natürlich nicht sein Psychologe, der irgend
etwas in seine Worte hineininterpretieren kann.
Es entspricht nicht der Wahrheit, wenn Sie, die Opposition, behaupten, wir wollten Selbständigkeit verhindern. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist verständlich,
wenn Zeitungen und andere gegen die Scheinselbständigkeit wettern, weil sie selber frei werdende Redakteurstellen an sogenannte freie Journalisten vergeben. Viele
dieser Freien oder auch „Pauschalisten“ sind voll in den
redaktionellen Ablauf eingebunden, also in Wirklichkeit
Festangestellte. Trotzdem hat die Bundesregierung unter
Vorsitz des Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts,
Herrn Dieterich, eine Kommission eingesetzt, die prüft,
ob es Verbesserungsmöglichkeiten gibt.
Nun sind heute Presseberichte erschienen, die den Eindruck erwecken, die Kommission sei schon soweit, Ergebnisse zu präsentieren. Dem ist nicht so. Tatsache ist,
daß diese Kommission zwei weitere Sitzungen im Juni
und Juli terminiert hat. Arbeitgeber und Gewerkschaften
sollen im Konsens über bestimmte Dinge reden. Sicher
werden wir dafür sorgen, daß der Umgang mit Vermutungstatbeständen in der Praxis verbessert wird.
({1})
- Das heißt, daß wir darüber nachdenken, wie man diese
Vermutungstatbestände besser formulieren kann.
({2})
Die von der Rechtsprechung entwickelte Abgrenzung
zwischen selbständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung wird durch die Neuregelung nicht verschoben. Entscheidend bleibt die Gesamtwürdigung in jedem
Einzelfall. Auch werden wir an der Rentenversicherungspflicht für arbeitnehmerähnliche Verhältnisse festhalten. Wir werden also in Ruhe abwarten, welche Vorschläge die Kommission unter Vorsitz des Bundesarbeitsgerichtspräsidenten Dieterich erarbeitet. Hektik ist
bei uns nicht angesagt.
({3})
Die SPD-Bundestagsfraktion wird für Vorschläge, die
zur Verbesserung oder Klarstellung führen, immer ein
offenes Ohr haben.
Thema 630-Mark-Jobs: Immer mehr Bürgerinnen
und Bürger, auch die betroffenen, spüren, daß wir ein
gutes, sozial gerechtes und auch überschaubares Gesetz
gemacht haben.
({4})
Mit diesem Gesetz ist Schluß mit den Wettbewerbsverzerrungen, wie sie zum Beispiel die Gebäudereinigerinnung schon immer beklagt hat.
({5})
Auch viele Unternehmer haben doch darüber geklagt,
daß sie diese unanständigen, sozial nicht abgesicherten
Arbeitsverhältnisse aus Wettbewerbsgründen schaffen
mußten. Es ist Schluß mit der Ungerechtigkeit, daß Arbeitnehmer, die Überstunden machen, dafür Steuern und
Sozialabgaben zahlen, während diejenigen mit einer geringfügigen Beschäftigung nichts zahlen. Und Schluß ist
auch mit Betrügereien derart, daß Oma oder Opa angemeldet wurde und so - rechtswidrig - sozialabgabenfrei
mehr 630-Mark-Jobs von einer Person ausgeübt werden
konnten, als sie eigentlich gedurft hätte. Die Unternehmen - das dürfen Sie sich ins Stammbuch schreiben beginnen nun mit der Umwandlung der 630-Mark-Jobs
in Teilzeitstellen - genau das, was wir wollten.
({6})
Wie war denn die Situation vorher? Sie von der jetzigen Opposition haben zugelassen, daß die Sozialversicherungsbeiträge von 1992 bis 1998 von 36,8 auf
42 Prozent gestiegen sind. Nun muß ich ehrlicherweise
die 1,7 Prozent für die Pflegeversicherung abziehen; es
verbleiben aber immer noch 40,3 Prozent, Frau
Schnieber-Jastram. Das heißt, Sie haben zugelassen,
daß Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die ordentliche
Arbeitsverhältnisse haben, der Kragen immer enger
zugeschnürt wurde,
({7})
und gleichzeitig haben Sie gepredigt: Die Lohnnebenkosten müssen herunter. Ich frage: Was ist nun
richtig? Eine Steigerung um 10 Prozent in fünf Jahren das konnte doch so nicht weitergehen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ging im selben
Zeitraum, von 1992 bis 1998, von 29,1 Millionen auf
27,2 Millionen, also um 1,9 Millionen, zurück,
({8})
während die Zahl der 630-Mark-Jobs eine jährliche
Steigerungsrate von 20 Prozent aufweist.
Probleme auszusitzen, meine Damen und Herren von
der Opposition, oder Ungerechtigkeiten zu belassen, das
ist nicht Sache der neuen Bundesregierung und der sie
tragenden Koalitionsfraktionen.
({9})
Die „Stuttgarter Zeitung“ berichtete am 22. Mai dieses
Jahres von einer Untersuchung der Landesversicherungsanstalt Württemberg, wonach 8 000 in 630-MarkJobs Beschäftigte älter als 90 Jahre sind - und makaber
genug: 2 000 solcher Beschäftigten kann man nur noch
zwei Meter unter der Erde, auf dem Friedhof, besuchen.
Das war Ihre Bilanz, und das war Ihnen bekannt, meine
Damen und Herren von der CDU. Sie haben ja selbst
schon erkannt, wie mit den 630-Mark-Jobs Mißbrauch
getrieben wurde. Ich will Ihnen daher nicht alles vorhalten. Aber Norbert Blüm beklagte in einem Interview
vom 19. Oktober 1997, daß ganze Firmengruppen eine
Strategie daraus machten, sich der Sozialversicherung zu
entziehen, und stellte fest, dies könne der Sozialstaat
nicht hinnehmen. Übrigens hat der Kollege Louven, den
ich hier nicht sehe, vor kurzem ein Interview gegeben, in
dem er genau dasselbe sagt, was Blüm 1997 gesagt hat.
({10})
Wenn ich Ihre unsachlichen Äußerungen zu diesem
Thema aus den letzten Wochen zur Kenntnis nehme,
dann werde ich das Gefühl nicht los, daß Sie uns den Erfolg nicht gönnen, dem Sie jahrelang hinterhergehechelt
sind.
({11})
Nach unseren eigenen Erhebungen wurden im übrigen in diesem Land schon über 2 Millionen Freistellungen gewährt. Also kann es ja so schlimm nicht sein.
Jetzt wollen Sie, daß dieses Gesetz, das endlich dem
Mißbrauch Einhalt gebietet, wieder zurückgenommen
wird. Das ist doch paradox. Wir haben hier doch keine
Journalistendemokratie; hier, im Parlament, wird entschieden. Aber Sie verlassen sich nur auf die Journaille.
Ich muß Ihnen sagen: Ich bin dem Bundesarbeitsminister dafür dankbar, daß er in dieser Frage standgehalten hat - und das trotz der vielen ungerechten Angriffe,
die aus Ihren Reihen und aus den Reihen der Journalisten kamen. Ich bin ihm außerordentlich dankbar, daß
er hier standgehalten und gesagt hat: Das muß beseitigt
werden.
({12})
Daß Sie, Frau Schnieber-Jastram, und Ihre Parteifreunde aus Rücksicht auf die F.D.P. in Sachen 630Mark-Jobs in Ihrer Regierungszeit nichts unternommen
haben, mag man ja noch verstehen. Doch heute sind Sie
in der Lage, von den Liberalen nicht mehr abhängig zu
sein. Angesichts der Tatsache, die ich geschildert habe,
sollten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, insbesondere Sie von der CDU, sich für die haltlosen
Vorwürfe gegen dieses Gesetz und für Ihren Vorschlag
entschuldigen, das Gesetz einzustampfen. Sie sollten,
nachdem Sie sich das Problem genauer betrachtet haben,
sagen: Sorry, es tut uns leid; die Regierung hatte recht;
wir ziehen unseren Antrag zurück. Das wäre ein Ruck
von der Art, wie ihn der Bundespräsident verlangt hat.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Riegert.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Dreßen, in mindestens einem Punkt irren Sie: Wir gönnen
Ihnen den Erfolg dieser Gesetze.
({0})
Meine Damen und Herren, gestern hat die Bundessportwartin des Deutschen Behindertensportverbandes
im Rahmen einer Anhörung zum Behindertensport zu
Ihrem 630-DM-Gesetz folgendes festgestellt: Es steht zu
befürchten, daß das ehrenamtliche Engagement - mit
allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für behinderte Spitzensportler, die auf Grund ihrer Behinderung
ohnehin einer großen personellen Betreuung bedürfen rückläufig wird. Dies ist eine Facette aus dem Bereich
des Sports. Sie ist auf andere Bereiche des Sports und
gemeinnützige Organisationen zu übertragen: Betroffen
sind Chorleiter und Dirigenten von Musik- und Gesangvereinen, Platzwarte, nebenberufliche Geschäftsstellenleiter, Haus- und Nachbarschaftshilfe und viele Bereiche
mehr. Das unsinnige Gesetz von Rotgrün ist - praxisfern - in den Köpfen von Ideologen und Bürokraten gereift und im Bewußtsein der Folgen durchgedrückt worden.
({1})
Mit diesem Gesetz kassieren Sie nicht nur bei Sportvereinen Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung
ab, Sie kassieren nicht nur bei den geringfügig Beschäftigten ab, nein, Sie zerstören gewachsene ehrenamtliche
Strukturen.
({2})
Mit diesem Gesetz hat der Bundeskanzler das von diesem Pult aus gegebene Versprechen gebrochen, Belastungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht
zu erhöhen. Ziehen Sie Ihr Gesetz sofort zurück!
({3})
Das sagen Ihnen die Sportvereine seit Monaten.
Ehrenamtliches Engagement bricht weg, wenn die
Vereine nicht mehr in der Lage sind, die zusätzlichen
Kosten aufzubringen, die Rotgrün ihnen aufgebürdet
hat. Geschröpfte Betroffene kündigen, Vereine und gemeinnützige Organisationen werden um Entlassungen
nicht herumkommen.
Von 630 DM verbleiben einem Übungsleiter mit
einem Hauptberuf gut 360 DM. Das sind fast 45 Prozent
Abzüge für eine gemeinnützige Tätigkeit, für die eh
schon nur ein geringes Entgelt gezahlt wird. Die Entlohnung hat in nicht wenigen Fällen ohnehin nur anerkennenden Charakter. Das ist soziale Gerechtigkeit à la
Rotgrün.
Das Zusammenwirken von Ehrenamt und nebenberuflicher Tätigkeit sichert die Basis des Sports, der
Musik, des Gesangs und vieler anderer Bereiche. Viele
Vereine können sich keine hauptamtlichen Geschäftsführer, keine hauptamtlichen Kassierer und keine hauptamtlichen Platz- und Jugendwarte leisten. Nein, unsere
Vereine sind auf diese geringfügigen Beschäftigungen
angewiesen.
({4})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thönnes?
Ja.
Herr Kollege, glauben Sie
nicht, daß Sie einen großen Fehler machen, wenn Sie die
Frage der geringfügigen Beschäftigung mit der sehr
wichtigen Aufgabe des Ehrenamtes in der Gesellschaft
derartig miteinander verknüpfen, daß Sie sozusagen von
einem bezahlten Ehrenamt sprechen, was selbst die ehrenamtlich Tätigen in dieser Gesellschaft nicht wollen?
({0})
Seien Sie doch so ehrlich und nennen Sie es beim
Namen. Meinen Sie nicht, daß es besser wäre, darüber
zu sprechen, daß bislang eine Aufwandsentschädigung,
({1})
die auch im Ehrenamt notwendig ist, gezahlt wurde? Sie
fiel auch schon früher unter die Grenze der Geringfügigkeit und hat durch die Steuerfreiheit mit einer Pauschale in Höhe von 200 DM im Monat auch die notwendige Anerkennung erfahren. Jetzt wäre darüber zu diskutieren, wie man das Ehrenamt fördern kann,
({2})
und nicht darüber, wie die Menschen in diesen Ämtern
entlohnt werden. Darum geht es doch!
Ich will noch eine dritte Frage hinzufügen: Bekommt
jemand bei der CDU als Ortsvereinsvorsitzender das Ehrenamt bezahlt? Das ist doch wahrhaftig nicht der Fall.
Das ist auch bei uns nicht so.
Lieber Herr Kollege,
wenn Sie die Geduld gehabt hätten, mir zuzuhören, dann
hätten Sie meinen Ausführungen entnehmen können,
daß sich in der Tat viele Vereine keine hauptamtlichen
Geschäftsführer, keine hauptamtlichen Platzwarte, keine
hauptamtlichen Jugendwarte und keine hauptamtlichen
Geschäftsstellenleiter leisten können.
({0})
Aber zur Unterstützung des Ehrenamtes, zum Beispiel
des Kassierers, des Jugendleiters und des Vereinsvorsitzenden, ist ein Nebenamt zwingend notwendig, damit
das Ehrenamt überhaupt funktionieren kann.
({1})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ich habe die Fragen von
Herrn Thönnes noch nicht beantwortet.
Entschuldigung. Sie wollen also noch weitere Ausführungen machen?
Ja.
Dann beantworten Sie in Ruhe zuerst die Fragen von Herrn Thönnes. Ich stoppe währenddessen die Zeit. Danach kann
der Kollege Koppelin seine Zwischenfrage stellen.
Es ist ungewöhnlich,
daß jemand drei Fragen stellt, sich sofort nach dem ersten Satz der Antwort wieder hinsetzt und sich nicht die
Mühe macht, im Stehen die ganze Antwort abzuwarten.
Die Anhebung der Übungsleiterpauschale, die Sie
richtigerweise angesprochen haben und über deren Höhe
wir uns gegebenenfalls verständigen können, kann kein
Ersatz für ein vermurkstes Gesetz sein. Sie schaffen
neue Ungerechtigkeiten gegenüber dem Platzwart, dem
Geschäftsstellenleiter und anderen Funktionsträgern in
den Vereinen, wenn Sie die Übungsleiter besserstellen.
Hier ist ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Vereinsförderung notwendig. Ein solches Konzept haben
wir in dieser Woche im Bundestag eingebracht.
({0})
Natürlich werden in der CDU/CSU die Vorsitzenden
der Gemeinde- und Stadtverbände genausowenig bezahlt
wie bei Ihnen. Aber wenn wir nicht die Möglichkeit
hätten, unsere Geschäftsstellen auch mit geringfügig Beschäftigten zu besetzen,
({1})
dann hätten es die ehrenamtlichen Kräfte vor Ort noch
schwerer, ihre Arbeit zu erledigen.
({2})
Bitte sehr,
Herr Kollege Koppelin.
Herr Kollege, sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Kollege Thönnes, der eben eine Zwischenfrage gestellt hat, in seinem
Wahlkreis nach einem Gespräch mit Vertretern von
Volkshochschulen erklärt hat, daß das Gesetz über die
630-Mark-Jobs dringend geändert werden müsse?
({0})
Stimmen Sie mir auch darin zu, daß dadurch, daß für
Referenten von Volkshochschulen - eventuell - eine
Änderung des 630-DM-Gesetzes angekündigt wird, die
Reinemachefrau, die die Räume der Volkshochschule
sauber macht, natürlich nicht berücksichtigt wird?
({1})
Herr Kollege, hier kann
ich Ihnen uneingeschränkt zustimmen.
({0})
Herr Riegert,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fuchs
von der PDS?
Ja.
Herr Kollege Riegert, wir
haben im Sportausschuß über die hier diskutierte Problematik lange gesprochen. Ich weiß, daß wir auch um
Verbesserungen für die Sportvereine gefochten haben.
Ich gebe Ihnen recht, daß sich nicht alle Sportvereine
hauptamtliche Mitarbeiter leisten können.
Würden Sie meine Auffassung teilen - da es sich hier
um eine gesellschaftspolitisch bedeutende Aufgabe handelt -, daß es möglich sein sollte, über eine steuerfreie
Aufwandspauschale für Sportvereine, die es auch in
anderen Bereichen gibt, zu reden? Es gibt nämlich
Übungsleiter, die steuerlich nichts abzusetzen haben.
Man sollte also den Weg einer Pauschale gehen und diese Pauschale nicht mit der Frage der 630-DMBeschäftigten verknüpfen. Man sollte vielmehr eine
Aufwandsentschädigung, die steuerfrei ist und vielleicht
eine Höhe von 630 DM hat, schaffen, die es auch schon
in anderen Bereichen gibt. Eine solche Aufwandsentschädigung sollte nicht nur für Sportvereine, sondern
zum Beispiel auch für Gesangsvereine gelten, die Sie
bereits erwähnt haben. Das wäre doch ein besserer Weg.
Frau Kollegin Fuchs,
wir haben der Koalition im Sportausschuß die Chance
gegeben, diesen Weg einzuschlagen, indem wir den Antrag gestellt haben, Sportvereine und gemeinnützige Organisationen von der Versicherungspflicht auszunehmen. Diese Chance hat die Koalition leider verpaßt.
Deshalb geben wir der Koalition mit unserem heutigen
Antrag eine erneute Chance, dies zu korrigieren.
In der Tat geht es aber bei gemeinnützigen Organisationen und Vereinen um ganz andere Dinge. Die Punkte,
die im vorhinein in Anhörungen und im Ausschuß diskutiert wurden, wurden - wider besseres Wissen - in
dem schlampigen Gesetz nicht berücksichtigt, das jetzt
durchgezogen wurde. Deshalb sind wir der Meinung,
daß dieses Gesetz zurückgezogen werden muß.
({0})
Ich möchte noch ein paar Worte zu der unerträglichen
Bürokratie sagen. Es ist keinem Bürger klarzumachen,
warum Vereine und nebenberuflich Tätige Energie für
staatlich verordnete Bürokratie verschwenden sollen:
Beantragung einer Freistellungsbescheinigung, Einholung einer Lohnsteuerkarte bei der zuständigen Behörde,
Eintragung des Datums der Bescheinigung, der Steuernummer und des ausstellenden Finanzamtes sowie des
steuerfrei ausgezahlten Arbeitsentgeltes im Lohnkonto,
Erteilung der Lohnsteuerbescheinigung auf der Freistellungsbescheinigung, Anmeldung bei der Krankenkasse. Frau Kollegin Onur, Ihr einfaches Verfahren bedeutet 20 verschiedene Fallgruppen und 57 steuerliche
Variationen.
({1})
Das alles muten Sie einem ehrenamtlichen Kassierer,
einem ehrenamtlichen Vereinsvorsitzenden zu, der dies
abwickeln muß.
({2})
Wenn er diese komplizierten Gesetze zu den 630-DMJobs und zur Scheinselbständigkeit nicht richtig anwendet, dann gibt es noch einen auf die Mütze. Wir wollen,
daß engagierte Übungsleiter junge Menschen trainieren,
ältere Menschen fit halten oder Behinderte betreuen.
Dies wollen auch die Übungsleiter. Statt dessen gibt es
Behördengänge und Formularkrieg.
Ich habe schon angeführt, daß die Koalition im
Sportausschuß den Antrag unserer Fraktion abgelehnt
hat, Sportvereine und gemeinnützige Organisationen
von der Versicherungspflicht auszunehmen. Sie haben
jetzt die Chance, diesen Fehler zu korrigieren. Nutzen
Sie diese Chance! Die Sportler, die nebenberuflich Tätigen, vor allem die ehrenamtlich tätigen Helferinnen und
Helfer werden dies zu schätzen wissen. Es bewahrt Sie
auch vor dem Ruf, Gelder in der Staatskasse seien Ihnen
lieber als millionenfach ehrenamtliches Engagement.
Ziehen Sie Ihr bürokratisches Monstrum zurück!
({3})
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt der Kollege Thönnes das Wort.
Lieber Kollege Jürgen Koppelin, du solltest die Zeitung etwas genauer lesen und
auch etwas hinterfragen und nicht nur an den Wahrheitsgehalt der Leserbriefe glauben, die du selbst
schreibst.
({0})
Diese Ausführungen, die du eben im Zusammenhang
mit mir angesprochen hast, habe ich nie gemacht, sondern ich habe mit den Volkshochschulen über die Auswirkungen des Gesetzes zur Verhinderung von Scheinselbständigkeit diskutiert. Ich habe ausdrücklich gesagt,
daß es bei dem 630-DM-Gesetz bleibt und daß man,
wenn man ernsthaft über die Förderung des Ehrenamtes nachdenken will, dies steuerlich ausgleicht und nicht
den Versuch macht, den die F.D.P. und, wie ich leider
feststellen muß, jetzt auch CDU/CSU machen, das
Ehrenamt in ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis
umzudefinieren.
({1})
Das wird den vielen hunderttausend ehrenamtlich tätigen und engagierten Menschen in dieser Gesellschaft
nicht gerecht. Sie fragen nämlich nicht in erster Linie
danach „Was bekomme ich dafür?“, sondern „Wie kann
ich etwas für diese Gesellschaft tun?“. Dies ist zu ihrer
Anerkennung zu fördern.
({2})
Im übrigen scheint bei der gesamten Argumentation
unterzugehen, daß hier immer nur für eine Gruppe plädiert wird, es aber viele Jugendgruppenleiter gibt, die
überhaupt nichts dafür bekommen. Wir arbeiten gemeinsam daran - das ist gerade sinnvoll eingeführt worden -,
eine Jugendgruppenleitercard herauszubringen, um Erleichterungen im Alltag zum Beispiel bei der Nutzung
von Verkehrsmitteln, zu ermöglichen. Auch sollte es
möglich sein, die in der Jugendarbeit erworbenen sozialen
Kompetenzen im Beruf besser anerkannt zu bekommen.
Aber im Kern geht es darum, daß wirklich endlich
Schluß gemacht wird damit, daß man dort, wo Geld verdient wird, glaubt, man könne dieses Geld an der Sozialversicherung vorbei verdienen. Wenn in unserer Verfassung steht, daß die Bundesrepublik Deutschland ein
demokratischer und sozialer Rechtsstaat ist, dann muß
man auch sagen: Der Sozialstaat ist nicht zum Nulltarif
zu haben.
({3})
({4})
Wenn der Redner der CDU/CSU gerade zum Schluß
in seiner Begründung den Vorwurf erhoben hat, hier
fließe Geld in die Staatskasse, dann zeigt das, wie weit
er vom eigentlichen Thema entfernt ist. Hier geht Geld
in die Selbstverwaltung. Hier geht Geld in die selbstverwalteten Sozialkassen hinein, die Berufstätigen ein
Stück Schutz im Alltagsleben und im Alter gewährleisten. Diesen Schutz wollen wir auch weiterhin gewährleisten, und wir werden uns durch den Sturm im Wasserglas, der gegenwärtig von der CDU/CSU und der
F.D.P. inszeniert wird, davon nicht abbringen lassen.
Niemand muß befürchten, daß wir umkippen. Aber wir
werden Sie fordern, wenn es darum geht, das Ehrenamt
zu fördern. Da werden Sie Farbe bekennen müssen.
({5})
Es ist ein bißchen
strittig, ob die angemeldeten Kurzinterventionen statthaft sind. Aber zunächst gebe ich Herrn Kollegen Koppelin Gelegenheit, auf Herrn Thönnes zu antworten.
Ich mache es auch sehr
kurz, Frau Präsidentin.
Da der Kollege Thönnes mich angesprochen hat,
stelle ich fest: Er will nach seinen eigenen Aussagen im
Bereich der Scheinselbständigen, was gerade Werkverträge mit Volkshochschulen angeht - dazu kommen
dann noch die Universitäten und Fachhochschulen, Herr
Kollege Thönnes -, etwas machen, was in SchleswigHolstein über 3 000 Jobs betrifft. Er hat zugesagt, in diesem Bereich entscheidend etwas zu tun. Das werde ich
mir ansehen; ich erinnere ihn aber daran, daß er in dem
Zeitungsartikel, auf den ich hingewiesen hatte, seine
eigene Bundesregierung auch hinsichtlich der 630Mark-Jobs kritisiert. Wenn Sie, Herr Kollege Thönnes,
diesen Artikel nicht mehr haben, stelle ich ihn gern zur
Verfügung. Ansonsten bin ich gern bereit, Ihren Beitrag
heute im Bundestag und natürlich auch meinen den Medien zur Verfügung zu stellen, die über Sie berichtet haben. Dann werden sich die Bürger ein Bild machen können, und dann wollen wir einmal sehen, was die Bürger
dazu sagen. Ich vermute, daß ich den Artikel richtig interpretiert habe.
({0})
Ich habe gerade gelernt, daß Sie eigentlich gar nicht hätten reden dürfen.
Gleichwohl haben wir alle Sie angehört.
Nun gebe ich Herrn Kollegen Riegert das Wort. Danach wird der Kollege Thomas Dörflinger das Wort zu
seinem Redebeitrag erhalten.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In der grundsätzlichen Einschätzung des Ehrenamtes trennt uns nichts. Sie müssen
nur begreifen, daß bei Vereinen, die zum Teil bis zu 150
Übungsleiter haben, die Jugendarbeit in großem Stil machen und ihre Trainer als Honorarkräfte bezahlen, Ihr
Gesetz die Auswirkung hat, daß der Verein für jeden
Übungsleiter monatlich 110 DM an Sozialabgaben zu
bezahlen hat. Genau dort liegt die Krux. Dieses Geld
muß nämlich der ehrenamtliche Vereinsvorsitzende, der
ehrenamtliche Kassierer, der ehrenamtliche Vorstand bei
Sponsoren und bei staatlichen Institutionen einfordern.
Da er diese zusätzlichen Mittel dort nicht mehr bekommt, sind Beitragserhöhungen unumgänglich - Beitragserhöhungen sind das Unsozialste, was da passieren
kann -, um die Mehrkosten Ihrer beiden Gesetze aufzufangen. Gegen diese Form der Beschädigung des Ehrenamtes habe ich mich deutlich gewandt.
({0})
Jetzt hat der Kollege
Thomas Dörflinger das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß Gesetzentwürfe der Regierungsparteien mitunter die Haltbarkeit eines Fruchtjoghurts nur geringfügig überschreiten,
ist man ja mittlerweile gewohnt.
({0})
Daß aber ausgerechnet diejenigen, die sich selbst auf die
Fahne geschrieben haben, etwas gegen Arbeitslosigkeit
zu tun, statt dessen etwas gegen Arbeitsplätze tun, ist
eine völlig neue Dimension politischen Handelns in
Deutschland.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich vermute, daß
die wenigsten von Ihnen - ich blicke nach links - in
letzter Zeit einmal eine Gaststätte besucht haben; denn
sonst wüßten Sie, daß Hotellerie, Gastronomie und Tourismuswirtschaft durch das von Ihnen beschlossene 630Mark-Gesetz vor immensen Problemen stehen. Vermutlich gehen Sie deswegen in keine Gaststätten, weil Sie
fürchten, dort auf die Politik Ihrer Regierung angesprochen zu werden. Das kann ich nachvollziehen.
({2})
Meine Damen und Herren, wie sieht die Situation in
der Praxis aus? Glauben Sie denn allen Ernstes, daß ein
Gastwirt im Bayerischen Wald eine zusätzliche Vollzeitkraft beschäftigt, weil er an 52 Wochenenden im
Jahr Besuch von Busgesellschaften aus dem Norden bekommt? Oder können Sie dem Gastwirt erklären, wie er
diese zusätzliche Kraft in der Zwischenzeit, wenn gar
keine Arbeit da ist, also von Montag bis Freitag, beschäftigen soll? Glauben Sie allen Ernstes, daß eine
Kurverwaltung an der Nordseeküste eine zusätzliche
Kraft beschäftigt, deren einzige Aufgabe darin besteht,
mit einer Reisegruppe an 52 Wochenenden im Jahr eine
geführte Wanderung im Watt zu unternehmen? Oder
glauben Sie allen Ernstes, daß ein kleines Busunternehmen im Schwarzwald eine zusätzliche Voll- oder Teilzeitkraft beschäftigt, deren einzige Aufgabe wäre, der
erwähnten Reisegruppe an den erwähnten 52 Wochenenden den erwähnten Schwarzwald zu zeigen.
({3})
Ich habe drei Beispiele genannt, deren Reihe sich beliebig fortsetzen ließe. Eines zeigt sich: Ihre Regelung der
630-Mark-Jobs ist praxisfern, vernichtet Arbeitsplätze
und bringt lediglich zweierlei, nämlich mehr Bürokratie
und mehr Schwarzarbeit.
({4})
Wirte in meinem Wahlkreis sagen mir, Sie brauchten
die Aushilfen, könnten aber kein zusätzliches Personal
beschäftigen.
({5})
Wenn die 630-Mark-Regelung so bleibt, wie sie jetzt ist,
dann gibt es eben 500 DM, und zwar schwarz. Das ist
für den Arbeitgeber 240 DM billiger, für den Arbeitnehmer 130 DM günstiger. Damit ist allen Beteiligten
- wenigstens diesen zweien - gedient. Das Resultat ist:
Wir haben mehr Schwarzarbeit. Sieht so Ihre revolutionäre Beschäftigungspolitik aus?
({6})
Ihr Gesetz ist ein Sofortprogramm für mehr Schwarzarbeit. Beredte Experten auf diesem Gebiet heißen Walter
Momper und Karl-Heinz Funke.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Onur?
Ich bitte um Verständnis, wenn ich angesichts - ({0})
- Danke schön.
Es gibt auch Lernwillige. Ich will das durchaus anerkennen. Oswald Metzger hat in der „Frankfurter Rundschau“ vom 17. Mai erklärt: Wir haben ein schlechtes
Gesetz gemacht, das eine Einladung zur Schwarzarbeit
darstellt. Er folgert daraus, das Gesetz müsse korrigiert
werden. Es bringt aber nichts, an einem Murks herumzudoktern, weil nicht nur die Tourismusbranche, sondern auch die Sportvereine, die Universitäten, die
Volkshochschulen und nicht zuletzt auch die Gemeinden
darunter leiden.
Die Konfusion Ihrer Politik zeigt sich auch an anderer
Stelle. In der Antwort auf die Große Anfrage der F.D.P.
zur Wettbewerbssituation der Tourismuswirtschaft - wir
reden noch davon - erklärt die Bundesregierung, sie wolle
die Auswirkungen der 630-Mark-Regelung auf die Tourismusbranche beobachten. Einen Absatz weiter oben findet sich die bemerkenswerte Aussage, Daten über geringfügig Beschäftigte in der Tourismuswirtschaft lägen überhaupt nicht vor. Ich frage Sie: Wie wollen Sie dann die
Auswirkungen überprüfen? Das ist doch Chaos pur. Das
Chaos in Deutschland hat mittlerweile einen oder - wir
wollen gerecht sein - zwei Namen, nämlich Walter Riester und Gerhard Schröder.
({1})
Was steht uns ins Haus? Der Deutsche Hotel- und
Gaststättenverband rechnet mit 200 000 Beschäftigten,
die - wohlgemerkt - aus eigenem Antrieb nicht mehr
weiterarbeiten wollen, weil es sich schlicht und einfach
nicht mehr lohnt. Weiter geht es: Taxigewerbe minus
10 Prozent - die sind schon weg, weitere 30 Prozent
sind auf dem Sprung -; Bäckerhandwerk minus 50 Prozent; Zeitungszusteller minus 35 Prozent.
Die heutige Debatte müßte eigentlich jedem in diesem Hause einmal mehr deutlich machen, daß diese
Ausgeburt an Bürokratie, die sich ein Gesetz schimpft,
({2})
nicht auf den Prüfstand gehört, sondern in den Reißwolf,
und das ganze schnell.
Vielen Dank.
({3})
Herr Kollege
Dörflinger, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzen
Hauses.
({0})
Damit ist die Aussprache beendet.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/1005 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ernst Burgbacher, Klaus Haupt, Jürgen Türk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Wettbewerbsbedingungen für die deutsche
Tourismuswirtschaft im Euro-Land
- Drucksachen 14/591, 14/1079 Thomas Dörflinger
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Ernst
Burgbacher, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Mit dieser Tourismusdebatte
wollen wir eine oft viel zu sehr unterschätzte Branche
ein Stück weit in den Mittelpunkt der Politik rücken.
({0})
3 Millionen Arbeitsplätze, 8 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt und geschätzt 400 000 potentielle Arbeitsplätze in den nächsten zehn Jahren - ich glaube, all
dies spricht für die Zukunft dieser Branche.
Die Branche ist weit mehr als andere von der Einführung des Euro betroffen. Die positive Botschaft muß
heute eigentlich heißen: Reisen wird billiger. Das ist
eine gute Botschaft, aber der Wettbewerb wird auch
härter werden. Manche in diesem Hause werden das bedauern; wir als Liberale begrüßen das. Wir wollen Wettbewerb, weil wir Wettbewerb als Herausforderung und
als Chance für die ganze Tourismusbranche begreifen.
Wie schön und richtig klingt doch das Vorhaben der
Bundesregierung, wie sie es in der Antwort auf unsere
Anfrage beschreibt. Ich zitiere: Sie „will den Tourismus
als Motor der Beschäftigung weiterentwickeln und
durch geeignete Rahmenbedingungen in die Lage versetzen, sich stärker am europäischen, aber auch globalen
Wachstum zu beteiligen“. Wenn aber Bekenntnis und
Handeln so weit auseinanderklaffen wie bei Rotgrün,
dann wird aus Politik ein Stück weit Heuchelei.
({1})
Das ist eine Methode, die alt ist, sehr alt. In Matthäus 23, Kapitel 1 heißt es unter der Überschrift „Gegen
Heuchelei und Verstockung“:
Sie reden nämlich nur und handeln nicht danach.
Wie wahr!
({2})
Wirtschaftsminister Müller hat auf der ITB einen reduzierten Mehrwertsteuersatz für die Hotellerie angekündigt. Am vergangenen Freitag hat die rotgrüne
Mehrheit einen Vorstoß der baden-württembergischen
Landesregierung im Bundesrat abgelehnt. Sie reden
nämlich nur und handeln nicht danach.
({3})
Der Vorsteuerabzug auf geschäftlich veranlaßte Bewirtung und Beherbergung ist abgeschafft worden. Jetzt
soll die steuerliche Abzugsfähigkeit betrieblich bedingter Bewirtungskosten gestrichen werden.
({4})
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, ob Ihnen
klar ist, was Sie hier machen. Sie werden Betriebe in
ihrer Existenz gefährden, und zwar gerade die Betriebe,
die am meisten ausbilden. Sie gefährden Ausbildung im
ganzen Bereich. Linkes Neiddenken ersetzt rationale
Politik. Das ist ein Kahlschlag, der die Tourismuswirtschaft insgesamt treffen wird.
({5})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Aber sehr gern.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Herr Kollege Burgbacher, nachdem wir gehört haben, daß der Bundesfinanzminister festlegen will, daß die Bewirtungskosten
künftig nicht mehr steuerlich geltend gemacht werden
können, darf ich Sie fragen: Was halten Sie von meinem
Vorschlag, daß - wenn das abgeschafft wird - dann
auch der Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister
zukünftig bei Einladungen die Bewirtung der Gäste aus
eigener Tasche bezahlen?
({0})
Ich kann nur sagen, daß
ich das für eine sehr gute Idee halte, Herr Kollege Koppelin.
({0})
Ich fahre fort in der Aufzählung, denn wir müssen das
heute einmal zusammenstellen. In der Antwort der Bundesregierung finden sich zur Neuregelung der 630-DMJobs keine Kenntnisse über deren Zahl vermerkt. Negative Folgen und Wettbewerbsnachteile sieht die Bundesregierung nicht.
Zur sogenannten Ökosteuer: Belastungen durch die
Ökosteuer lassen sich nicht beziffern. Es gibt keine
Stellungnahme zur DEHOGA-Aussage, daß das Gastgewerbe netto mit über 1 Milliarde DM belastet wird.
Sind das die versprochenen „geeigneten Rahmenbedingungen“? Ich sage: Sie reden nämlich nur und handeln nicht danach.
({1})
Wir haben die Bundesregierung nach Wettbewerbsvor- oder -nachteilen gegenüber den anderen EULändern gefragt. Die Antwort heißt lapidar: Solche Voroder Nachteile sind nicht bekannt. In der Praxis aber höre ich von strikten Vorgaben und deren Umsetzung im
deutschen Baurecht, von kosten- und arbeitsintensiven
Auflagen zum Beispiel im Bereich der Hygiene- und
Gesundheitsvorschriften, vom Mangel an Möglichkeiten
Vizepräsidentin Anke Fuchs
des flexiblen Arbeitseinsatzes und von der langen Bearbeitungsdauer bei Baugenehmigungen, vom Ladenschluß- und Arbeitszeitgesetz und der Wochenendproblematik. All das sind Verschlechterungen und Wettbewerbsnachteile. Nichts, aber auch gar nichts, kein Wort
davon findet sich in der Antwort der Bundesregierung.
({2})
Meine Damen und Herren, vieles wurde in den vergangenen Jahren positiv und im Konsens fertiggebracht,
vieles übrigens mit liberalen Wirtschaftsministern wie
Günter Rexrodt im Bund, Rainer Brüderle, Walter Hirche und Walter Döring in den Ländern. Konsens gab es
im Ausschuß und auch im Plenum.
Wir wollen die DZT; sie arbeitet gut. Wir sollten uns
daher über eine bessere Ausstattung der DZT unterhalten, auch über eine mehrjährige Sicherheit, damit Werbekampagnen durchgeführt werden.
({3})
Der Masterplan des Bundesverbandes der deutschen
Tourismuswirtschaft muß im Dialog zwischen Politik
und Tourismuswirtschaft umgesetzt werden. Erhöhung
des Stellenwerts der Dienstleistungen, Gleichgewicht
von Ökonomie und Ökologie, Sicherung der Mobilität
und Entwicklung regionaler Potentiale sind beispielhafte
Handlungsbereiche.
Wir wollen auch, daß die Expo 2000 gerade für die
deutsche Tourismuswirtschaft ein Erfolg wird.
({4})
Nach vielen Flops sind die Weichenstellungen jetzt ein
Stück weit richtig erfolgt.
Meine Damen und Herren, vieles ist im Konsens geschehen. Aber einen Vorwurf muß ich der Regierung
machen: Günstige Rahmenbedingungen werden im
Augenblick massiv gefährdet. Wir, die Politik, müssen
dafür sorgen, daß die Rahmenbedingungen stimmen.
Dann wird die Tourismuswirtschaft ihre Leistungen
entfalten, und dann - da habe ich überhaupt keine Sorge - wird sie sich im europäischen Wettbewerb behaupten.
({5})
Die F.D.P. fordert deshalb die Bundesregierung auf,
im Interesse des Tourismusstandortes Deutschland ihre
Fehlentscheidungen schleunigst zu revidieren und günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, statt sie zu zerstören.
({6})
Die in der Tourismuswirtschaft Beschäftigten und diejenigen, die hier künftig eine Beschäftigung finden könnten, haben mehr verdient als die vorliegende nichtssagende Antwort. In deren Interesse hoffe ich, daß wir in
der nächsten Debatte sagen können: Sie reden nicht nur,
Sie handeln sogar danach.
Danke schön.
({7})
Ich erteile dem
Kollegen Eckhard Ohl, SPD-Fraktion, das Wort.
Werte Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Abgesehen von meiner
Meinung, daß die Große Anfrage der F.D.P. mit der
Überschrift „Wettbewerbsbedingungen der deutschen
Tourismuswirtschaft im Euro-Land“ die Kriterien einer
Großen Anfrage nur unzureichend erfüllt,
({0})
weil nur reines Fachwissen abgefragt wird, freue ich
mich als neuer Abgeordneter aus den neuen Bundesländern besonders, die Beratung dieser Anfrage hinsichtlich
programmatischer Politikorientierung zu bereichern.
({1})
Grundsätzlich ist die Einführung des Euro für die
deutsche Tourismuswirtschaft positiv zu bewerten,
wenngleich hinsichtlich der Wettbewerbsbedingungen
noch abzubauende regionale Unterschiede bestehen. Der
Euro selbst präsentiert sich momentan nicht wie bei seinem von Euphorie geprägten Start. Aber ihn in seinen
Kinderschuhen bewußt schwachzureden ist wider besseres Wissen ganz sicher das falsche nationale Signal.
({2})
Der momentan starke Dollar auf der Grundlage einer
zweifelsohne florierenden US-Wirtschaft erlebte in den
vergangenen Jahrzehnten gleichfalls viele Höhen und
Tiefen dieser Art. Nicht die seit September andauernde,
zum großen Teil ironische, hämische und unsachliche
Kritik, sondern die gemeinsame Verantwortung für die
Erzeugung einer breiten gesellschaftlichen Bereitschaft
zur Annahme der Herausforderung eines neuen Jahrtausends schafft ein vereintes Europa mit einer stabilen
Währung. Davon wird auch die Tourismusbranche besonders in den neuen Bundesländern profitieren, wo das
Erblühen der Tourismuswirtschaft sehnsüchtig erwartet,
aber auch im Prozeß des Aufbaus neuer wirtschaftlicher
Strukturen erarbeitet wird.
Ausgewiesene Fachleute wie der künftige Präsident
der Bundeszentralbank, Ernst Welteke, stärken dem
Euro durch ihren Optimismus den Rücken. Die Einführung des Euro war und ist positiv zu bewerten. Ich
schließe mich hier der Meinung der Bundesregierung an.
({3})
Die Einführung des Euro ist dementsprechend auch
für die deutsche Tourismuswirtschaft nützlich und vorteilhaft. Der Euro hat keine Schwächen gezeigt. Was
seine Preisstabilität betrifft, zeigt er keinerlei inflationäre Tendenzen. Er sorgt im Wettbewerb und so auch im
Tourismus als einem wichtigen Wirtschaftsfaktor für
größere Preistransparenz.
Wenn Sie heute durch die momentan elf Euro-Staaten
reisen und in jedem Land beispielsweise 100 DM tauschen würden, hätten Sie am Ende von der Gesamtsumme des getauschten Geldes allein die Hälfte davon für
Gebühren ausgegeben. Das aber ändert sich mit der EinErnst Burgbacher
führung des Euro als Zahlungsmittel im Jahre 2002.
Umtauschgebühren entfallen. Das kommt Millionen von
Touristen zugute, die ihren Urlaub in einem Euro-Staat
verbringen - somit auch Deutschland in der Hoffnung,
daß uns mehr ausländische Gäste besuchen. Schon jetzt
entfallen in den Euro-Staaten wettbewerbsverzerrende
Wechselkursschwankungen, was unserem Tourismus
bereits aktuell hilft.
({4})
Von der politischen Verantwortung, Chancengleichheit zu garantieren, um den Wettbewerb in der Tourismusbranche auch in den neuen Bundesländern annehmen zu können, um nicht nur national, sondern auch in
Europa zu bestehen - von der EU-Osterweiterung als
neuer Herausforderung gar nicht zu sprechen -, steht in
Ihrer Anfrage, meine sehr verehrten Damen und Herren
der F.D.P., kein Wort.
({5})
Sie kehren die besondere Situation der neuen Bundesländer vollkommen unter den Tisch.
({6})
Ich finde es bedauerlich, diesen Punkt nicht vorzufinden, und bin froh, daß die aktuelle Politik der neuen
Bundesregierung dies anders sieht, praktiziert, erkennt
und berücksichtigt. Trotz aller Probleme ist die Tourismuswirtschaft in den neuen Bundesländern ein Hoffnungsträger. Wenn Preistransparenz in Europa allgemein zu einem verstärkten Wettbewerb führt - worin ich
Ihnen recht gebe -, träfe das die neuen Länder ohne die
Chance der weiteren Angleichung besonders hart.
Touristische Hauptattraktionen in den neuen Ländern
wie Thüringer Wald, Harz, Eichsfeld, Ostsee, Uckermark, Altmark oder Erzgebirge sind im Kommen. Städte
wie Sondershausen, Bad Langensalza, Mühlhausen,
({7})
Eisenach oder die Kleinstadt Schlotheim im Umkreis
meines Thüringer Wahlkreises haben in den zurückliegenden Jahren Hervorragendes zur touristischen Vermarktung geleistet.
({8})
Aber insgesamt konnten trotz aller Anstrengungen Anziehungskraft und Vermarktung noch nicht den Stand erreichen wie in gleichgelagerten Regionen in den alten
Bundesländern. Um ein Drittel müßte die Tourismuswirtschaft zunehmen, um mit dortigen Standards gleichzuziehen. Noch deutlicher: Dieses Drittel würde zirka
100 000 Arbeitsplätzen entsprechen.
Der hohen touristischen Attraktivität der neuen Bundesländer stand 1990 ein großer infrastruktureller Nachholbedarf gegenüber, der trotz guter Förderbedingungen
auch einen hohen Anteil Fremdfinanzierung bei Hochzinsniveau notwendig machte, was sich heute im preislichen Angebot zum Teil negativ niederschlägt. Diese
Umstände, gepaart mit noch zu geringer Auslastung
- was wiederum Mehreinnahmen verhindert -, werden
von steuerlichen Vorteilen und niedrigen Personalkosten
nicht kompensiert. Diese große Risikobereitschaft des
privaten Sektors braucht die finanzielle Begleitung der
öffentlichen Hand noch über Jahre. Aber genau hier
setzt die Stunde der Wahrheit ein: Staatliche Verantwortung und Begleitung und gerechtere Kostenverteilung in besonderen Situationen sind Ihnen ein Dorn im
Auge. Zur Ehre gereicht Ihnen, daß Sie keinen Hehl daraus machen.
Ein Beispiel zum Thema Ökosteuer: Am vergangenen Sonntag wurde gegen mich Wahlkampf gemacht mit
der Parole „In unserer Stadt im März Benzinpreis 1,48
DM, heute 1,67 DM - wollten Sie das?“. 1,48 DM plus
6 Pfennige sind für mich 1,54 DM. Wer kassiert unter
dem Deckmantel der Ökosteuer die restlichen 13 Pfennige, so frage ich Sie. Ich beziehe mich dabei auf den
von jedem zu beobachtenden bundesweiten Trend.
({9})
Diese Beispiele könnte ich fortsetzen - besonders aus
Sicht der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer -, über die von Ihnen mit geschaffenen Rahmenbedingungen der letzten Jahre bis hin zur Gebühren- und
Beitragsentwicklung, besonders in den neuen Ländern.
Unter gerechter Lastenverteilung verstehen Sie Steuerentlastung bei gleichzeitiger Erhöhung der Förderung
für das Großkapital. Sie vergehen sich dabei am Arbeitnehmer und am Mittelstand, selbstverständlich besonders am Dienstleistungsgewerbe und somit an der Tourismuswirtschaft. 1999, mitten in einem bisher nicht gekannten Globalisierungsprozeß des Großkapitals bei zunehmender Verabschiedung dieser Schicht von den nationalen Problemen - dies geschieht weltweit -, täuschen Sie auf einmal Interesse für die kleinen Leute und
den Mittelstand vor. Erkennen Sie diese Schieflage, wo
wir einen mühsamen Reparaturprozeß begonnen haben!
Damit leisten Sie einen großen Beitrag auch für die Wettbewerbsfähigkeit der Tourismuswirtschaft in Europa.
({10})
Die Verabschiedung der Agenda 2000 unter der
Ratspräsidentschaft Deutschlands mit dem Ergebnis der
Eingliederung der neuen Länder in die Ziel-1-Förderung
war deshalb von größter Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit der Tourismuswirtschaft. Dorferneuerung, Stadtsanierung und Ausbau der Versorgungssysteme sind für die nächsten Jahre gesichert und schaffen die Voraussetzungen für die Teilnahme an einem
fairen Wettbewerb. Beseitigung verworrener Organisationsstrukturen und falschen Konkurrenzdenkens sind
Hausaufgaben, die selbstverständlich regional erledigt
werden müssen.
({11})
Erfreulich und hilfreich ist die neue Schwerpunktsetzung der Förderung der Inlandsvermarktung durch die
neue Bundesregierung. Zugegebenermaßen gibt es auch
Negativbeispiele der Förderpolitik der letzten Jahre, beispielsweise die Spaßbad-Entwicklung in Thüringen, durch
die wertvolles Geld nicht flächendeckend wirksam wird.
({12})
Grundlagen für faire Wettbewerbsbedingungen der
Tourismuswirtschaft im Euro-Land sind mehr als einseitige Rahmenbedingungen für einen beispiellosen
Globalisierungsprozeß oder die Einführung einer einheitlichen Währung oder eine überschnelle, unbedachte
Osterweiterung nur deshalb, um einen Absatzmarkt für
80 Millionen Menschen zu bekommen. Ohne die Verantwortung für die daraus entstehenden Probleme für
uns und die Menschen der beitrittswilligen Länder zu
bedenken, würde dieser Weg in eine Sackgasse führen.
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Zeit!
Annäherung der Steuersysteme,
Tarif- und Solidarsysteme stellt eine Herausforderung
für eine erfolgreiche europäische Politik dar. Dafür waren trotz aller Unkenrufe noch nie so deutliche Zeichen
erkennbar wie unter der neuen Bundesregierung. Große
und Kleine Anfragen ohne das Ziel programmatischen
Politikwettstreits erfüllen nicht den Anspruch unserer
Bürger, die Politik als gerechten Regulator zwischen
Klassen und Schichten zu sehen und somit für faire
Wettbewerbsbedingungen zu sorgen.
Danke.
({0})
Herr Kollege Ohl,
das war die erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich
gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Klaus Brähmig,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Die heutige Diskussion über
die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage
der F.D.P.-Fraktion zum Thema „Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Tourismuswirtschaft im EuroLand“ gibt dem Parlament zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode die Möglichkeit zu einer Generaldebatte
über die Tourismus- und damit natürlich auch über die
Mittelstandspolitik der Bundesregierung.
Einleitend schließe ich mich der Meinung meines
Kollegen Burgbacher an, der in einer Pressemitteilung
vom 27. Mai sinngemäß äußerte, die vorliegende Antwort der rotgrünen Bundesregierung sei ein Zeugnis
mangelnder Branchenkenntnis. Leider äußert sich diese
mangelnde Branchenkenntnis nicht nur in der Theorie,
sondern auch in der Praxis. Kaum ein Wirtschaftssektor
hat eine solche Verschlechterung seiner Wettbewerbssituation durch die bisherigen politischen Entscheidungen der rotgrünen Bundesregierung verkraften müssen
wie die Tourismusbranche.
({0})
Ausdrücklich zu erwähnen sind hier das 630-DMGesetz, die Ökosteuer und das Jahressteuergesetz.
Gleichzeitig weist Bundeswirtschaftsminister Werner
Müller auf einer internationalen Konferenz privater Wirtschaftsunternehmen in Dresden auf die großen - aber bisher ungenutzten - Potentiale für neue Arbeitsplätze im
Bereich Tourismus hin. Dies ist nicht nur widersprüchlich, sondern auch peinlich. Wir hoffen, daß wir nächste
Woche im Ausschuß mit Wirtschaftsminister Müller
Licht ins Dunkel des Tunnels bringen werden.
Meine Damen und Herren, der Bürger hat bei den
Europa- und Kommunalwahlen ein deutliches Zeichen gesetzt. Er ist nicht mehr bereit, die wachsende
Differenz zwischen rotgrünem Reform- und Modernisierungsanspruch und der kläglichen Regierungswirklichkeit zu akzeptieren. Die im Wahlkampf von Kanzler
Schröder umworbene Neue Mitte wendet sich angewidert von der neuen Bundesregierung ab. Ein Beispiel ist
hier die DEHOGA-Demonstration vor wenigen Tagen
auf dem Münsterplatz. Dies mußte Kollegin Ulla
Schmidt ja vor zirka 5 000 Teilnehmern erfahren, als
man sich bei ihrer Rede tatsächlich abwendete.
({1})
Angesichts dieser falschen und fatalen Wirtschaftspolitik haben die Tourismuspolitiker der CDU/CSUBundestagsfraktion bereits Ende Februar 1999 die Notbremse gezogen und ein „12-Punkte-Sofortprogramm
zur Sicherung und zum Ausbau des Tourismusstandorts
Deutschland“ verabschiedet. Dieses Papier ist von den
Fachverbänden mit großem Interesse aufgenommen
worden und stellt einen Kompaß für die Verbesserung
der Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmen der
Tourismusbranche dar.
Angesichts der Kürze der Redezeit erlaube ich mir,
nur auf fünf Einzelmaßnahmen von besonderer Bedeutung einzugehen.
Erstens. Das mittelstandsfeindliche Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
der rotgrünen Regierung muß zurückgenommen werden.
Gerade im Bereich des Hotel- und Gaststättenwesens
sind viele Unternehmen in der Saison oder in Kapazitätsspitzen auf Beschäftigte aus dem Bereich der geringfügigen Beschäftigung existentiell angewiesen.
({2})
Stellen Sie sich nur im nächsten Jahr einmal die EXPO
vor, wo wir 20 Millionen Gäste und 40 Millionen Besucher dieses Geländes erwarten und natürlich auch die
Gastronomie ein wichtiger Faktor ist, und das mit dem
jetzigen Gesetz! Ich denke, das ist ein unvorstellbarer
Zustand. Die mangelnde Flexibilität auf dem deutschen
Arbeitsmarkt darf nicht durch staatliche Eingriffe noch
weiter zementiert werden.
({3})
Zweitens. Die sogenannte ökologische Steuerreform, die nachhaltig zur Mehrbelastung und Wettbewerbsbenachteiligung der deutschen Tourismus- und
Verkehrswirtschaft geführt hat, muß zurückgenommen
werden. Neben der Verteuerung von Strom und Kraftstoffen für die Anbieter touristischer Leistungen, die der
Kunde zu tragen hat, wird die Kaufkraft des Kunden
auch noch durch die erhöhten Anfahrts- und Transportkosten verringert. Die Kostenbelastung der Betriebe
liegt deutlich über der Entlastung durch die Senkung der
Lohnnebenkosten.
({4})
Viele kleine, als Familienbetriebe geführte Unternehmen profitieren nicht einmal von der Senkung der
Lohnnebenkosten.
Drittens. Die Abschaffung des Vorsteuerabzugs bei
Geschäftsessen und -reisen im Jahressteuergesetz, die
zu einer nachhaltigen Wettbewerbsverzerrung für die
Tourismusbranche geführt hat, muß zurückgenommen
werden. Weiterhin darf der angebliche Plan des Bundesfinanzministers, wonach Bewirtungsspesen nicht mehr
steuerabzugsfähig sein sollen, gar nicht erst in die Realität umgesetzt werden. Dieser Vorschlag ist ein Anschlag auf die Existenz vieler mittelständischer Unternehmen im Hotel- und Gaststättengewerbe.
({5})
Herr Finanzminister Eichel: Hände weg vom Mittelstand, der Dienstleistungs- und Tourismusbranche, im
Rahmen Ihres Sparprogramms!
({6})
Viertens. Die Bundesregierung wird aufgefordert,
sich für eine Erhöhung der finanziellen Mittel für die
Marketingarbeit der Deutschen Zentrale für Tourismus einzusetzen, um den Tourismusstandort Deutschland national und international noch effizienter zu vermarkten und einen Beitrag zur Senkung des ständig
wachsenden Defizits in der deutschen Reiseverkehrsbilanz von gegenwärtig über 50 Milliarden DM zu leisten.
Der DZT steht dieses Haushaltsjahr ein Budget von
55 Millionen DM für ihre Auslandsmarketingarbeit zur
Verfügung. Von diesem Betrag fließen wegen der hohen
infrastrukturellen Fixkosten nur rund 15 Millionen DM
in die operative Marketingarbeit. Im Vergleich dazu investiert unser europäischer Nachbar Schweiz umgerechnet 63 Millionen DM in das Auslandsmarketing, wozu
die eidgenössische Bundesregierung 41 Millionen DM
beisteuert. Irland investiert 114 Millionen DM ins Marketing - letztendlich mit Erfolg.
Fünftens. Nachdem sich die Bundesregierung trotz
der deutschen Ratspräsidentschaft auf keine Beibehaltung des innergemeinschaftlichen Duty-Free-Handels
mit den europäischen Partnern einigen konnte, werden
allein in Deutschland schätzungsweise 10 000 Arbeitsplätze ersatzlos wegfallen, davon 5 700 in strukturschwachen Regionen der norddeutschen Küstenländer.
Daher rufen wir die Bundesregierung auf, eine sechsmonatige Übergangsfrist für den Duty-Free-Handel zu
erwirken. Die gewonnene Zeit sollte von der Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern genutzt werden,
geeignete Fördermaßnahmen durch EU und Bund für die
betroffenen deutschen Ferienregionen zu koordinieren
und parallel dazu entsprechende finanzielle Mittel zur
Verfügung zu stellen.
Im großen und ganzen decken sich unsere Forderungen mit dem Entschließungsantrag der F.D.P. Unsere
Zustimmung, lieber Herr Burgbacher, können wir dem
Entschließungsantrag dennoch nicht erteilen, da wir
einen völligen Wegfall der Trinkgeldbesteuerung aus
rechtlichen Bedenken ablehnen.
Die rotgrüne Bundesregierung ist mit dem Wahlkampfversprechen angetreten, die hohe Arbeitslosigkeit
massiv zurückzuführen. Der Erfolg kann aber nur dann
eintreten, wenn personalintensive Bereiche, wie beispielsweise die Tourismusbranche, entsprechende Wettbewerbsbedingungen vorfinden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition: Lernen Sie aus den Wahlergebnissen
des letzten Wochenendes! Ein radikaler Neuansatz in
Ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik ist dringend geboten.
Unser Wunsch ist eindeutig: Entlasten Sie den Mittelstand und die deutschen Arbeitgeber von staatlicher Bevormundung und finanzieller Belastung! Sie werden es
unserer Gesellschaft mit der Sicherung und Schaffung
neuer Arbeitsplätze und Lehrstellen entlohnen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Rosel Neuhäuser, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte kurz auf den Antrag der
F.D.P.-Fraktion eingehen und danach die Zeit nutzen,
um einige Vorstellungen der PDS-Fraktion zu äußern,
wie sie sich die Tourismusentwicklung in der Europäischen Union vorstellt.
Eine Forderung in dem Antrag der F.D.P. befaßt sich
mit der Einführung eines verminderten Mehrwertsteuersatzes für die deutsche Hotellerie. Eine Wende in dieser
Politik und eine Harmonisierung der Steuern in der
Europäischen Union ist für die nächste Zeit aus meiner
Sicht sicher ein wichtiges Thema, bei dem es sichtbare
Fortschritte geben muß. Wenn aber Markt und kapitalistische Konkurrenz - Sie sprechen in Ihrem Antrag
allerdings von „verschärftem Wettbewerb“ - für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Europa das entscheidende Gestaltungsprinzip sein sollen, dann können
Sie doch nicht, wenn dieser Markt versagt, einseitig
nach einer staatlichen Lösung rufen. Sie von der F.D.P.Fraktion hätten übrigens während Ihrer Regierungszeit
Gelegenheit gehabt, diese Bedingungen zu ändern. Ich
möchte Sie auf die Richtlinien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom Juli 1994 hinweisen, in denen
in Abschnitt IX, Artikel 12 Anhang H Punkt 11 Regelungsmöglichkeiten gegeben waren.
Sie wissen sicherlich genausogut wie ich, daß aufgrund der bisherigen Steuervergünstigungen in den
letzten Jahren Hotels und Pensionen, besonders in den
neuen Bundesländern, wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burgbacher?
Ja.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Frau Kollegin Neuhäuser, würden Sie mir zustimmen, daß - so steht es auch in
unserem Antrag - jetzt die Notwendigkeit besteht, zu
einigermaßen vergleichbaren Steuersätzen, was die
Mehrwertsteuer betrifft, zu kommen? Denn wir haben
seit dem 1. Januar dieses Jahres den Euro, und der Euro
verändert den Wettbewerb fundamental, weil die Menschen jetzt Preise vergleichen können. Da die Preise
jetzt vergleichbar sind, macht es bei einem Nettopreis
von 100 Euro einen Unterschied, wenn ich in Deutschland 116 Euro und in Frankreich 105,50 Euro bezahle.
Ich kann Ihnen prinzipiell
zustimmen. Deswegen habe ich vorhin gesagt, daß eine
Gesamtharmonisierung des Steuerwesens im europäischen Rahmen notwendig ist. Es geht nicht nur um diesen Punkt allein.
Es wäre sicherlich wichtig zu prüfen, ob Ihr Antrag
genau die Lobby bedient, die die günstigen Investitionsund Abschreibungsmöglichkeiten genutzt hat, ohne zuvor den tatsächlichen Bedarf ermittelt zu haben. Sie
wollen mit Ihren Forderungen neue Steuergeschenke für
die Wirtschaft und benutzen die Schaffung von Arbeitsplätzen als Alibi für Ihren Antrag.
Ich möchte nun einige Gesichtspunkte meiner Fraktion zur Zukunft des Tourismus in Deutschland in
einem vereinten Europa aufzeigen.
Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten hat die Tourismusbranche ein sehr gutes Image, weil sie mit fest
programmierten Wachstumsraten gehandelt wird und so
die Gewähr für die Sicherung von Arbeitsplätzen bietet.
Derzeit beschäftigt die Tourismusbranche bundesweit
- das hat Herr Burgbacher vorhin schon dargelegt - fast
3 Millionen Menschen. Mit nahezu 70 000 Ausbildungsplätzen und einem Frauenanteil von zirka 60 Prozent erfüllt sie darüber hinaus eine wichtige soziale
Funktion.
Für mich und meine Fraktion steht auch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen der Mensch im Mittelpunkt aller Aktivitäten, in diesem Falle der touristischen
Aktivitäten, ob als Reisender, Beschäftigter, Auszubildender oder auch als Gastgeber, wobei zu den Gastgebern für uns nicht nur die Hoteliers und Pensionsbesitzer
zählen, sondern auch und vor allem die Bevölkerung
und die regionalen Tourismusinstitutionen, die in mühevoller ehrenamtlicher Arbeit regionaltypische Besonderheiten nutzen, um aus ihnen heraus Angebote für die
große Bandbreite der Zielgruppen zu entwickeln.
Sie alle gehören für uns, wenn es um neue konzeptionelle Überlegungen der deutschen Tourismuswirtschaft
in einem vereinten Europa geht, in die Beratungen um
eine neue Produktgestaltung und auch Produktentwicklung, in die Beratungen um ein stimmiges PreisLeistungs-Konzept und in die Beratungen um eine neue
Zielgruppenarbeit. Des weiteren muß es uns gelingen,
daß dafür die Tourismusbranche und die Politik auf
Bundes-, Landes- und Kommunalebene eine weitere
Verbesserung der Rahmenbedingungen erwirken.
Wichtige Rahmenbedingungen sind für uns - sicherlich gehen wir da, was die Forderungen der F.D.P.
betrifft, inhaltlich ein Stückchen auseinander -: der
weitere Ausbau der Tourismusbranche als Dienstleistungsunternehmen, attraktivere Arbeitsbedingungen für
die dort Beschäftigten, die Frage der Entlohnung und
damit die Regelungen im Umgang mit geringfügigen
Beschäftigungsverhältnissen - das hat vor allem die
vorhin geführte Debatte gezeigt -, flexiblere Arbeitszeiten, der vorbeugende Arbeitsschutz, die Modernisierung der touristischen Infrastruktur. Dazu gehören auch
Umgestaltungsprogramme zur Entwicklung eines nachhaltigen Tourismus, kinder-, jugend- und familienfreundliche Urlaubsangebote und Angebote für barrierefreies Reisen.
Werte Damen und Herren, in diesem Zusammenhang
sei mir gestattet, auf ein Problem der neuen Bundesländer hinzuweisen. Die Touristikinformationen, Fremdenverkehrsämter, Tourismusverbände und weitere touristische Institutionen, die ich hier nicht weiter aufzählen
will, sind in den neuen Bundesländern zu mehr als
50 Prozent mit ABM-Kräften besetzt, etwas, was in den
alten Bundesländern undenkbar ist. Eine ABM-Kraft in
diesem Bereich ist da die Ausnahme. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen können auf Dauer keine Lösung für
die Tourismusbranche sein. Dort, wo Erlebnistourismus
und eine nachhaltige Entwicklung des Tourismus angestrebt werden, sind Qualität und Kontinuität in der Beschäftigung der eingearbeiteten und ausgebildeten Personen dringend geboten. Im Rahmen einer Reform der
Kommunalfinanzen muß hier die notwendige finanzielle
Sicherheit der Kommunen und Landkreise gewährleistet
werden. Das Initiieren zeitweiliger, mehrjähriger gemeinsamer Fonds kommunaler Verwaltungen und tourismusrelevanter bzw. tourismusfördernder Zweige der
Wirtschaft, des Gewerbes und der Dienstleistungen in
den neuen Ländern zur Überwindung der unbefriedigenden ABM-Lösungen ist ein weiteres Problem, das unbedingt gelöst werden muß, um Provisorien auch in den
neuen Bundesländern schrittweise zu überwinden.
Vertreter der Fachwelt, insbesondere der Wissenschaft, warnen vor zu großer Euphorie. Der aktuelle
Aufwärtstrend ist erfreulich. Er berechtigt aber nicht zu
eindeutigen Rückschlüssen auf die Perspektive des Tourismus insgesamt.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile nun das
Wort der Kollegin Sylvia Voß, Bündnis 90/Die Grünen.
Werte
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 29 Jahre
lang hatte die F.D.P. Zeit, die Wettbewerbsbedingungen
für die deutsche Tourismuswirtschaft zu verbessern.
Man fragt sich doch, von welchem Sachverstand diese
Bemühungen getragen waren, wenn sich die F.D.P.Fraktion jetzt, acht Monate nach dem Gang in die Opposition, von der rotgrünen Bundesregierung über steuerliche, arbeitsrechtliche, bauwirtschaftliche, seuchenhygienische Wettbewerbsvor- und -nachteile der deutschen Tourismuswirtschaft informieren läßt.
({0})
Mit der Einführung des Euro - die F.D.P. möchte ja
heute über die „Tourismuswirtschaft im Euro-Land“ debattieren - hat sich die Wettbewerbssituation der europäischen und damit der deutschen Tourismuswirtschaft
verbessert. Wirtschaft und Konsumentinnen und Konsumenten profitieren gleichermaßen davon bzw. werden
zukünftig davon profitieren: erstens davon, daß die
Fremdwährungskosten - immerhin bis zu 5 Prozent
der Reisekosten - grenzüberschreitende Wechsel und
Überweisungsvorgänge und für die Absicherung von
Wechselkurs- und Zinsrisiken entfallen. Diese Kosten
entstehen bisher hauptsächlich dadurch, daß die Touristikunternehmen ihre Reisekapazitäten bereits ein bis
eineinhalb Jahre im voraus buchen und die Währungen
absichern müssen. Zweitens profitieren sie davon, daß
die Differenzen zwischen An- und Verkaufskursen der
benötigten Devisen nicht mehr anfallen, drittens davon,
daß Reisende, die oft mehrere Länder pro Urlaub besuchen, von den anfallenden Unannehmlichkeiten des Devisenumtauschs und von Wechselgebühren befreit sind,
wenn auch in Gänze erst ab Januar 2002. Das Reisen in
Europa wird einfacher, und dies kommt letztlich Urlauberinnen und Urlaubern und Anbietern gleichermaßen
zugute. Sie profitieren viertens davon, daß die EuroZone zusätzlich Investoren aus dem Nicht-Euro-Raum
anlockt, daß sie sich inzwischen zur weltweit führenden
Tourismusregion entwickelt,
({1})
empfängt doch „Euro-Land“, wie Sie es nennen, schon
heute jährlich rund 90 Millionen Besucher von außerhalb und damit fast doppelt so viele Gäste wie die USA.
Die mit dem Euro gegebene Möglichkeit zu einer
vergleichenden Reiseentscheidung wird nur langsam genutzt werden. Laut Forschungsgemeinschaft Urlaub und
Reisen läßt die Euro-Einführung die deutschen Urlauber
derzeit ganz und gar kalt.
({2})
Nur 7 Prozent aller Deutschen glauben nämlich, daß die
Möglichkeit, Preise innerhalb Europas besser zu vergleichen, ihr Urlaubsverhalten beeinflussen wird. 77 Prozent
sind der Meinung, daß diese neue Währung bei ihren
Reiseplanungen keine Rolle spielen wird.
Noch eine Anmerkung zum derzeit beliebten Kaputtreden des Euro. Es ist unverantwortlich und es
schwächt das Vertrauen in die gemeinsame europäische
Währung, das in der deutschen Bevölkerung schließlich
erst während der vergangenen Monate ziemlich langsam
und immerhin parteiübergreifend aufgebaut werden
konnte.
({3})
Der aktuelle Wechselkurs des Euro gegenüber dem
US-Dollar ist nichts so Außergewöhnliches, wie es
mancher Parteipolitiker hier glauben machen will, und
kann daher mit Gelassenheit betrachtet werden.
Claus Köhler, Ex-Direktoriumsmitglied der Deutschen Bundesbank, hat es klar ausgesprochen: Wie der
Euro war auch die deutsche Währung nach innen äußerst
stabil, schwankte aber nach außen stark. - Der Europäische Rat hat beschlossen, den Euro frei schwanken zu
lassen, und frei schwankende Währungen - wen wundert's? - schwanken halt auch. Immer wieder kommt es
zu beachtlichen Kurssteigerungen und Kurssenkungen.
Die älteren Auslandsurlauber unter Ihnen werden sich
vielleicht noch entsinnen, daß sie 1985 auf den USATrip verzichteten, als 3,47 DM für den Dollar zu zahlen
waren. Im April 1995, zehn Jahre später, bekam man
den Dollar dagegen für schlappe 1,42 DM. Tja, liebe
Kolleginnen und Kollegen, so ging es schon immer auf
und ab mit unserer schönen deutschen Mark. Wer beim
jetzigen Euro-Kurs das Flattern bekommt, sollte sich bei
den Deutsche-Bundesbank-Senioren therapieren lassen,
statt Unruhe zu stiften.
({4})
Da die direkte Vergleichbarkeit der Preise in den
Euro-Ländern mittel- bis langfristig den Konkurrenzdruck in der Tourismusbranche erhöhen wird - das
sollten die Damen und Herren der Marktliberalen aber
nicht beklagen, sondern freudig begrüßen -, setzen sich
Bündnis 90/Die Grünen für faire europäische Wettbewerbsbedingungen und die Stärkung des Tourismusstandortes Deutschland ein.
Stellen wir uns doch einmal vor, CDU/CSU und
F.D.P. hätten die Wahl 1998 gewonnen.
({5})
- Das kann ich mir vorstellen. - Was wäre denn tourismuspolitisch geschehen bzw. nicht geschehen?
Erstens. Die Zuschüsse für die DZT, jetzt immerhin
aufgestockt, wären trotz des sicherlich heroischen Widerstandes eines einzelnen CDU-Abgeordneten so wie
geplant gekürzt worden.
({6})
Zweitens. Der gastgewerbliche Mehrwertsteuersatz
bliebe, wie er ist. Die Begründung wäre die, die der damalige Parlamentarische Staatssekretär Hansgeorg Hauser, CDU/CSU, 1997 gab:
Die Umsatzsteuer ist bei den in Rede stehenden
Umsätzen nur einer von vielen preisbestimmenden
Faktoren und dürfte nicht für die Entscheidung ausschlaggebend sein, ob ein Urlaub zum Beispiel in
Spanien oder Deutschland verbracht wird.
Weiter betonte er, daß das Hauptziel der Regierung die
Haushaltskonsolidierung sei und von daher von der umsatzsteuerlichen Behandlung der Hotelumsätze nicht abgegangen werden könne. Bündnis 90/Die Grünen sind
für einheitliche Mehrwertsteuern für Europas Hotels und
Gaststätten durch europäische Harmonisierung.
Drittens. Die Lohnnebenkosten wären, wenn Sie denn
an die Macht gekommen wären, obwohl das Gejammer
weiter groß wäre, hoch wie eh und je. Erst mit der Ökosteuer wurden reale Verbesserungen in der Wettbewerbssituation arbeitsintensiver Unternehmen erzielt.
({7})
Viertens. Familien, deren steuerliche Entlastung jetzt
durch das Steuerentlastungsgesetz erreicht wurde, würden weiterhin vergeblich auf eine Verbesserung ihrer
finanziellen Situation warten. Statt dessen freuen sich
jetzt die Familien und die Tourismuswirtschaft. Letztere
sieht den Grund für die zu verzeichnende verstärkte Buchungsfreude der Familien nämlich in der Steuerentlastung mit ihrem geldwerten, aber auch psychologischen
Moment.
Wir haben also einiges auf den Weg gebracht.
({8})
Vieles von der Hinterlassenschaft der F.D.P. und der
CDU/CSU, die für die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre verantwortlich zeichneten, ist noch in Ordnung zu bringen.
Einen Satz aus Ihrem Antrag finde ich richtig gut; da
werde ich Sie noch einmal beim Wort nehmen. In ihm
wird die Bundesregierung nämlich aufgefordert,
darauf hinzuwirken, daß EU-Regelungen konsequent in das jeweilige nationale Recht umgesetzt
werden.
Sie haben das jahrelang nicht getan, zum Beispiel bei
der FFH-Richtlinie. Statt dessen haben Sie sozusagen in
Strafgelder investiert, die wir demnächst vielleicht zu
zahlen haben.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte hier
aber auch daran erinnern, daß Bundesregierung, Länderregierungen und EU lediglich die Rahmenbedingungen
für die Tourismuswirtschaft schaffen. Entscheidend sind
die unternehmerischen Aktivitäten. Hier liegt noch
sehr vieles im argen. Es kann doch zum Beispiel nicht
sein, daß massiv in mehr und mehr Hotels investiert
wird und man dann klagt, daß diese nicht ausgebucht
sind. Dafür können Sie schwerlich die Bundesregierung
in Haftung nehmen.
Abschließend einige wenige und sehr kurze Bemerkungen zur Umweltproblematik, die sich in der Anfrage
der F.D.P. nur in der Winzigkeit eines Ligusterblättchens - ich habe ein solches einmal mitgebracht; es hat
nicht einmal die Größe eines Feigenblattes - findet. Dabei ist der zentrale Ansatz für die Zukunft des Tourismus die Umweltpolitik. Intakte Landschaften zusammen
mit kultureller und biologischer Vielfalt sind nämlich
unersetzliche Ressourcen für jede touristische Aktivität,
und zwar überall in Europa.
({10})
Auch wir hier in Deutschland tragen Verantwortung
für das Verbauen und Zerstören von Küsten in Südeuropa, um bloß ein Beispiel zu nennen. Die Pflege der
Schönheit der Orte, des Brauchtums, traditioneller Gewerbe, Schutz der Natur und der Landschaft sind nämlich gleichzeitig eine Pflege der wichtigsten touristischen Angebotspotentiale. Eine direkte Förderung stadtbildbewahrender und landschaftspflegender Aktivitäten
durch den Tourismus - damit kommen wir zu dem, was
wir schon heute früh hatten: als zweites Standbein für
die Bauern, die Sie so gern vertreten wollen - ist
gleichwohl eher selten anzutreffen. Hier gibt es noch erheblichen Nachholbedarf.
Den Wechselwirkungen zwischen Tourismus und
Umwelt muß erheblich stärker als bisher Rechnung getragen werden. Das schließt eine vernünftige Lenkung
von Besucherströmen ebenso ein wie faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verkehrsmitteln. Deshalb bleibt es auch bei unserer Forderung nach Abschaffung der Kerosinsteuerbefreiung im Rahmen der Harmonisierung der europäischen Steuern.
({11})
Da die F.D.P. nun nicht im Europaparlament vertreten
ist - als öffentliches Zeichen, wie Herr Brähmig das vorhin sagte -, wäre es doch schön, wenn Sie uns mindestens
im Bundestag tatkräftig dabei unterstützen würden, den
Tourismus auch durch mehr Umwelt- und Naturschutz zu
stärken. Denn wenn wir das nicht tun, entziehen wir dem
Tourismus generell die Lebensgrundlage. Dann nutzt uns
im „Euro-Land“ auch ein Euro nichts.
({12})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Anita Schäfer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Keinem
Wirtschaftszweig in Europa kommt im Bereich Kultur
und Völkerverständigung eine größere Bedeutung zu als
dem der Tourismuswirtschaft.
({0})
Allein aus diesem Grund wären alle Anstrengungen zu
rechtfertigen, den deutschen Fremdenverkehr im europäischen Binnenmarkt konkurrenzfähig zu machen.
({1})
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, wollen unseren Beitrag
dazu leisten.
({2})
Denn der Tourismus hat zudem einen nicht unerheblichen Anteil am Bruttoinlandsprodukt. Es ist daher gerade jetzt, nach der Einführung des Euro, von eminenter
Bedeutung, daß von der Bundesregierung Rahmenbedingungen geschaffen werden, welche der deutschen
Tourismuswirtschaft faire Wettbewerbschancen bieten.
({3})
Aber gerade das Gegenteil ist der Fall.
({4})
Es ist schon reichlich kühn von der Bundesregierung,
den deutschen Beherbergungsbetrieben in der Antwort
auf die Große Anfrage der F.D.P. klipp und klar zu sagen, daß sie, um die Finanzierungslücken der Regierung
Schröder zu stopfen, Wettbewerbsnachteile in Milliardenhöhe zu erdulden haben.
({5})
Statt, wie von meiner Fraktion gefordert, die Beherbergungsumsätze nach dem geltenden Gemeinschaftsrecht
mit einem ermäßigten Steuersatz zu belegen
({6})
und damit auch für eine Angleichung der Wettbewerbsbedingungen in der europäischen Tourismuswirtschaft
zu sorgen, betreibt die Bundesregierung mit ihrer
Steuerpolitik geradezu eine protektionistische Politik,
allerdings zugunsten der Beherbergungsbetriebe in den
benachbarten EU-Ländern.
({7})
Gerade das Beispiel meiner ohnehin benachteiligten
Region, der Westpfalz, zeigt sehr deutlich, daß sich die
Gäste schon sehr gut überlegen, ob sie mit ihren Übernachtungen die Preispolitik der Bundesregierung unterstützen oder ob sie lieber ein paar Kilometer weiter ins
benachbarte Elsaß fahren, wo sie 10,5 Prozent weniger
an Steuern für die Übernachtung zu zahlen haben.
({8})
Ich habe mit den Hoteliers in meiner Heimat gesprochen. Sie weisen zu Recht auf diesen Mißstand hin. Das
macht bei einem Preis von 120 DM rund 13 DM aus,
wohlgemerkt pro Nacht.
({9})
Auch in Belgien liegt der Steuersatz mit 6 Prozent, in
Luxemburg mit 3 Prozent und in den Niederlanden mit
6 Prozent erheblich unter den Forderungen des deutschen Finanzministers.
Meine Damen und Herren von der linken Seite, sorgen Sie dafür, daß dieser Wettbewerbsnachteil beseitigt
wird!
({10})
Dem Fremdenverkehr wird damit außerdem das wirtschaftliche Entwicklungspotential genommen, das er
benötigt, um strukturschwache Regionen an einer wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben zu lassen.
Die Koalition muß sich schon sagen lassen, daß sie
mit ihrer Politik ihr möglichstes tut, um den Tourismusstandort Deutschland zu ruinieren.
({11})
- Moment, das kommt jetzt. - Deflexibilisierung der
Arbeitsverhältnisse, Ökosteuer, erhöhte Umsatzsteuer,
und als ob das noch nicht genug wäre, droht die Koalition auch noch mit der Streichung der steuerlichen Absetzbarkeit von Bewirtungsspesen.
Was haben Sie vor der Wahl versprochen, und was
tun Sie jetzt? Sie lösen auch hier nicht ein, was Sie versprochen haben.
({12})
Das alles bedeutet ganz einfach, daß die Regierung
billigend einen gravierenden Wettbewerbsnachteil für
die deutsche Tourismusbranche in Kauf nimmt, um
ihren unsoliden Haushalt zu konsolidieren.
({13})
In diesem Zusammenhang ist es schon eine seltsame
Verfahrensweise, auf einen europäischen Beschäftigungspakt hinzuweisen, während man im eigenen Land
eine arbeitsplatzvernichtende Politik betreibt.
({14})
Das heißt im Klartext, daß man von einer gemeinsamen
Arbeitsmarktpolitik im Euro-Land die Ausbügelung
eigener Unzulänglichkeiten erwartet. Wenn das Ganze
auch noch unter der Ratspräsidentschaft von Gerhard
Schröder stattfindet, heißt das, in Europa Wein zu predigen und den Menschen zu Hause Wasser einzuschenken.
Dafür haben Sie zu Recht am letzten Sonntag die Quittung bekommen.
({15})
Statt mit der Vernichtung ungezählter geringfügiger
Beschäftigungsverhältnisse den Fremdenverkehr in
Deutschland zu einem Stiefkind der wirtschaftlichen
Entwicklung werden zu lassen, stünde es der Bundesregierung besser zu Gesicht, endlich den Wettbewerbsverzerrungen entgegenzuwirken.
Meine Damen und Herren, es darf nicht soweit kommen, daß mit der Währungsunion, die allerorts als große
Chance begriffen wird, der Tourismus in Deutschland
durch die Politik der Bundesregierung schwer geschädigt wird.
Herzlichen Dank.
({16})
Frau Kollegin Schäfer, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Renate Gradistanac.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Tourismus
wird ein immer wichtigerer Wirtschaftsfaktor. Der Anteil am Bruttosozialprodukt von zirka 8 Prozent zeigt,
welch große beschäftigungs- und strukturpolitische Bedeutung er hat. Die Wettbewerbsfähigkeit der Tourismuswirtschaft ist deshalb durch qualitativ hochwertige
Angebote und günstige Rahmenbedingungen zu sichern.
({0})
Als Tourismuspolitikerin fällt mir wie auch Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, unter anderem ein: Wir könnten den Mehrwertsteuersatz senken
oder halbieren oder eine Neuregelung der Trinkgeldbesteuerung für diese Branche ins Auge fassen.
Unser Wirtschaftsminister, Herr Müller, hat - daran
habe ich mich natürlich auch erinnert - auf der Tourismusbörse in Berlin im Frühjahr das richtige Signal gesetzt.
({1})
- Ja. - Um die Wettbewerbsbedingungen zu verbessern,
hat er den Vorschlag gemacht, die Mehrwertsteuer für
das Hotel- und Gaststättengewerbe zu halbieren.
({2})
Der Vorschlag muß ernsthaft geprüft werden. Er muß
jedoch in eine Steuerreform und in eine europäische
Harmonisierung eingebettet werden. Mit unserer Unterstützung kann er jedenfalls rechnen.
({3})
Wenn wir nun einen Blick auf unsere Regelmehrwertsteuersätze werfen, stellen wir fest, daß wir im
europäischen Vergleich an zweitgünstigster Stelle liegen; nur Luxemburg hat günstigere Sätze. Die niedrigsten Steuern und - nach Herrn Brähmig - die höchsten
Subventionen im Tourismus, das ist nicht zu finanzieren.
Wenn wir etwas bei den Mehrwertsteuersätzen verändern wollen, so sehe ich drei Möglichkeiten. Die erste
Möglichkeit wäre, die Beherbungsbetriebe mit einem
ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu besteuern, wie jetzt
auch Herr Ministerpräsident Teufel vorgeschlagen hat.
Dies würde zu Steuermindereinnahmen von 1,35 Milliarden DM jährlich führen. Allerdings muß man sich
dann auch die Frage stellen, ob dies aus steuersystematischen Gründen sinnvoll ist. Andere Branchen wollen
dann womöglich auch eine solche Bevorzugung.
({4})
Die zweite Möglichkeit ist, das Hotel- und Gaststättengewerbe zusammen durch eine Halbierung des Mehrwertsteuersatzes zu entlasten. Die Steuerausfälle würden
dann bei 4 bis 5 Milliarden DM liegen. Die dritte Möglichkeit ist, den gesamten Dienstleistungsbereich in
Deutschland entsprechend zu entlasten. Dazu müßte das
Gemeinschaftsrecht geändert werden. Ein Vorschlag der
Europäischen Kommission und ein einstimmiger Beschluß des EU-Ministerrates wären hierzu nötig. Steuerausfälle - ich sage das, damit wir das einfach einmal gehört haben - in einer Größenordnung von 30 bis 40 Milliarden DM müßten veranschlagt werden. Natürlich
drängt sich nicht nur mir die Frage auf: Wie soll das gegenfinanziert werden? Nur nach dem Prinzip Hoffnung
kann man keinen seriösen Haushalt aufstellen.
({5})
Bei der kritisierten Trinkgeldbesteuerung gibt es
mehrere Wege. Ministerpräsident Teufel hat gefordert,
den Freibetrag von 2 400 DM auf 3 600 DM zu erhöhen.
Das ist eine Möglichkeit. Ich gebe aber zu bedenken,
daß er damit an der Systemgrenze in unserem Steuerrecht rüttelt. Ich denke, es gibt einen eleganteren Weg,
den wir Ihnen bei gegebenem Anlaß vorstellen werden.
({6})
- Wir müssen noch ein bißchen in petto behalten.
Ich möchte kurz daran erinnern, daß wir bei unserer
jüngsten Steuerreform den Mittelstand um zirka 5 Milliarden DM entlastet haben
({7})
und unsere geplante Umsatzsteuerreform, die von einem
maximalen Steuersatz in Höhe von 35 Prozent ausgeht,
nicht nur ein Schritt in die richtige Richtung ist, sondern
ein Sprung.
({8})
Bevor wir aber immer nur darauf schauen, wie der
Staat seine Einnahmen verringern kann, wende ich mich
den wirklichen Problemen der Tourismusbranche zu. Ich
stelle fest, daß erstens ein ruinöser Wettbewerb innerhalb der Branche stattfindet und zweitens die Preise einkommensbereinigt den niedrigsten Stand erreicht
haben. Diese haben drittens dazu geführt, daß Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter regelrecht ausgepreßt werden
und viertens die Servicebereitschaft darunter leidet.
({9})
Ich fordere daher die Branche auf, ihr Verhalten auf
dem Markt zu überprüfen. Eine weitere Abwärtsspirale
zu Lasten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist nicht
zu verantworten.
({10})
Ich möchte nun drei Schwerpunkte der Tourismus
AG in dieser Legislaturperiode ansprechen. Wir wollen
eine Qualifizierungs- und Weiterbildungsoffensive
für die Beschäftigten unterstützen. Die neue Bundesregierung hat dafür im Haushalt 5 Millionen DM zusätzlich eingestellt. Nur mit gut aus- und weitergebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern können wir
im Dienstleistungswettbewerb bestehen.
({11})
Ich wünsche mir, daß unverwechselbare Regionenprofile entstehen, die durch Regionalleitbilder Gestalt
annehmen könnten. Die Einzigartigkeit - das ist das
Zauberwort - der jeweiligen Tourismusregion, die zur
Unverwechselbarkeit führt und gleichzeitig Identität
stärkt, muß vor Ort herausgearbeitet werden. Diesen
Prozeß werden wir natürlich zusammen mit den Ländern
unterstützen.
({12})
Nur wenn ich ein stimmiges Produkt habe, kann ich
es auch erfolgreich vermarkten. Die neue Bundesregierung hat deshalb ein spezielles Standortmarketing für
Deutschland durch eine besondere Förderung der Deutschen Zentrale für Tourismus unterstützt, das neben der
gezielten Auslandsbewerbung seit Anfang 1999 ermöglicht, auch ein länderübergreifendes Inlandsmarketing zu
betreiben. Ich wünsche mir, daß sich die Opposition mit
den wirklichen Problemen der Tourismuswirtschaft auseinandersetzt,
({13})
anstatt populistische Forderungen aufzustellen, mit denen sie nur den Bundeshaushalt belastet.
({14})
Ihrem Antrag werde ich übrigens nicht zustimmen.
({15})
Frau
Kollegin Gradistanac, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch!
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Ernst Hinsken,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Koffer sind für die
schönste Zeit des Jahres gepackt. Die Reiselust ist ungebrochen, anscheinend auch bei der Bundesregierung,
weil ich festgestellt habe, daß in den ersten 50 Minuten
in dieser Debatte die Bundesregierung nur durch einen
einzigen Mann, nämlich durch Herrn Staatssekretär
Mosdorf, vertreten wurde. Zwischenzeitlich sind es zwei
Vertreter der Bundesregierung geworden.
({0})
- Sie sind eben erst gekommen. Ich habe Sie gar nicht
eingerechnet, weil Sie 55 Minuten benötigt haben, um
hierherzukommen.
Ich möchte gleich eingangs zu dem heutigen Thema,
zu dem Herr Burgbacher und andere F.D.P.-Abgeordnete eine Große Anfrage eingebracht haben, feststellen, daß inzwischen in den verschiedenen Hotels und
Gaststätten die Preise auch in Euro ausgewiesen werden. Das spricht dafür, daß unsere Gastronomie sehr
wohl weiß, worauf es ankommt, und daß sie damit der
übrigen Wirtschaft zum Teil um Meilen voraus ist. Deshalb spreche ich dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband ein großes Kompliment aus, weil er seine Mitglieder in Sachen Euro schon auf Vordermann gebracht
hat.
91,4 Milliarden DM ließen sich die Bundesbürger im
Jahre 1998 ihre Ferienreisen kosten. Das waren 3 Prozent mehr als im Jahre 1997. Für eine Reise wurden
1998 im Durchschnitt 1 441 DM ausgegeben. Das waren
wiederum 16 DM mehr als im Jahre 1997. 1999 planen
71 Prozent der Bundesbürger wieder einen Tapetenwechsel. Auch hier kann man eine Zunahme verzeichnen. Deshalb möchte ich auch im Namen vieler Kolleginnen und Kollegen, die sich der Tourismuswirtschaft
verschrieben haben, feststellen, daß allenfalls im und
nicht am Urlaub gespart wird.
Ich möchte gerade heute darauf verweisen, wie wichtig der Tourismus für die Volkswirtschaft ist. Die Tourismuswirtschaft hat insgesamt ein Volumen von
270 Milliarden DM. Das macht einen Anteil von 8 Prozent an der Bruttowertschöpfung aus. Im Tourismus gibt
es fast 2,5 Millionen Arbeitsplätze und fast 80 000 Ausbildungsplätze. Ich möchte besonders darauf verweisen,
daß diese Zahlen höher sind als zum Beispiel die der gesamten deutschen Automobilindustrie. Gerade dadurch
wird ersichtlich, welches immense Potential im Tourismus steckt.
({1})
Gerade im Bereich des Tourismus werden viele Investitionen getätigt, viele Arbeitsplätze vorgehalten und
Entwicklungspotentiale genutzt. Wenn ich hier über die
Wertschöpfungskette spreche, dann möchte ich als Beispiel die Flughäfen in der Bundesrepublik Deutschland
herausgreifen, zum Beispiel den Frankfurter Flughafen
mit 58 400 Arbeitsplätzen und den Münchner Flughafen
mit immerhin noch 17 200 Arbeitsplätzen. Es müssen
auf allen Flughäfen die Grundlagen dafür geschaffen
werden, daß 120 Millionen Mitbürger jährlich von
Deutschland weg- und wieder zurückfliegen können. Ich
möchte bei dieser Gelegenheit auch darauf verweisen,
daß insbesondere auf den deutschen Flughäfen Bauinvestitionen in der Größenordnung von -zig Milliarden DM
getätigt werden.
Die Tourismuswirtschaft ist für mich auch deshalb so
wichtig, weil es sich hier um einen Wirtschaftszweig
handelt, der weniger konjunkturellen Schwankungen als
andere Branchen unterworfen und deshalb stabil ist. Seit
den 70er Jahren gibt es in keinem anderen Wirtschaftszweig der EU eine derart starke Expansion wie gerade
im internationalen Fremdenverkehr. Tourismus in Europa - das besagen verschiedene Studien - birgt in den
nächsten zehn Jahren ein Potential von 2,2 bis 3,3 Millionen zusätzlicher Arbeitskräfte in sich. Für DeutschRenate Gradistanac
land dürfte das im gleichen Zeitraum einen Zuwachs
von 300 000 bis 450 000 Arbeitsplätzen bedeuten.
Es müssen aber die Rahmenbedingungen stimmen,
damit diese Prognosen auch eintreten. Deutschland muß
vor allen Dingen versuchen, für seine Bewohner ebenfalls als Reiseziel attraktiv zu werden, um an dieser
Entwicklung teilzuhaben; denn von den 63,4 Millionen
deutschen Urlaubern reisten 44,6 Millionen ins Ausland.
Nur 18,8 Millionen deutsche Urlauber hatten inländische
Reiseziele. Das heißt, von drei Urlaubern blieb nur einer
hier. Dabei ist doch Deutschland mit seinen Bergen, mit
seinen Seen, mit seinen Schlössern, mit seinen Burgen,
mit seinen Kulturstätten usw. so attraktiv wie selten ein
anderes Land.
({2})
Man braucht nicht unbedingt den Wahlkreis des
Kollegen Dr. Ramsauer herauszugreifen, dort, wo
Deutschland mit am schönsten ist - es ist in anderen
Teilen natürlich auch schön -, aber, es ist ein Stück
Deutschland, in dem viel Urlaub gemacht wird.
({3})
Die Deutsche Zentrale für Tourismus sagt zu
Recht: Wenn richtig angesetzt wird, dann werden wir in
den nächsten fünf Jahren 30 Prozent mehr Gäste zwischen Nordsee und Alpen erwarten können. Aber dann
dürfen keine Mittel bei der DZT gekürzt werden. Man
hört so einiges läuten, daß der Ansatz erneut gekürzt
werden soll.
Was ich hier sagen möchte, ist: Wir brauchen, um
mehr Urlauber in Deutschland haben zu können, auch
für die deutschen Mitbürger einen Aha-Effekt, nämlich
wieder zu erkennen, wie schön es ist, im eigenen Land
Urlaub zu verbringen, obwohl das nicht immer sein
muß. Aber ab und zu hier sein, um alles kennenzulernen,
ist nicht schlecht.
({4})
Viele Mitbürger kennen zum Beispiel den Grand
Canyon oder den Yellowstone Park in Amerika. Wenn
ich nach Nationalparks in der Bundesrepublik
Deutschland frage, dann wird meistens gepaßt. Dabei
haben wir nicht nur den Bayerischen Wald, sondern
eben auch die Sächsische Schweiz, das Wattenmeer
usw.
({5})
Wenn ich auch dem Kulturtourismus das Wort rede,
wer spricht denn heute - breit gesehen - davon, daß wir
im nächsten Jahr auch hier in der Bundesrepublik
Deutschland interessante Daten zu verzeichnen haben,
zum Beispiel den 250. Todestag von Johann Sebastian
Bach, den 600. Geburtstag von Johannes Gutenberg oder
die Expo in Hannover oder die Passionsspiele in Oberammergau oder in diesem Jahr die Agnes-BernauerFestspiele in Straubing? Wenn Sie noch nicht dort waren, würde ich Ihnen empfehlen, einmal dorthin zu
kommen, um zu erleben, wie Kultur im Laienspiel hier
gezeigt wird.
Ich meine aber, darauf verweisen zu müssen, daß es
vermehrten Urlaub in Deutschland nur gibt, wenn man
sich mehr auf Kundenwünsche einstellt. Da sind fünf
Punkte, die ich ansprechen möchte: Erstens: Der
Deutschlandurlaub muß billiger werden. Zweitens: Die
Dienstleistungsbereitschaft muß zunehmen. Drittens: Es
sind Angebote für Schlechtwetterphasen zu schaffen.
Viertens: Die touristischen Stärken unseres Heimatlandes müssen stärker herausgestellt werden. Fünftens:
Die Wettbewerbsbenachteiligungen und bürokratischen
Hemmnisse müssen weg.
({6})
Deutschland ist momentan vielen zu teuer und wird
leider auf Grund einer falschen Politik von Ihrer Seite
noch teurer.
({7})
Ich möchte es mir ersparen, näher auf die 630-DMRegelung einzugehen. Aber ich sage schon: Eine Frau,
die mich am Sonntagnachmittag in einem Biergarten bedient, ist mir tausendmal lieber als eine Frau, die am
Montagmorgen um halb zehn, obwohl arbeitsfähig, zum
Sozialamt geht, um sich dort die Sozialhilfe abzuholen.
({8})
Herr
Kollege Hinsken, kommen Sie bitte zum Schluß.
Es gibt eine Wortmeldung.
Herr
Kollege Hinsken, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Irber?
Selbstverständlich.
Aber
nach der Beantwortung der Zwischenfrage bitte ich Sie,
umgehend zum Schluß zu kommen.
Bitte schön.
Herr Kollege Hinsken, geben Sie mir recht, daß auch mir eine Frau, die ein Einkommen hat, lieber ist, als eine Frau, die darauf angewiesen ist, zum Sozialamt zu gehen? Aber geben Sie mir
auch darin recht, daß ein ordentliches Arbeitsverhältnis,
in dem eine Frau gut bezahlt wird und sozialversichert
ist, noch besser als ein ungeschütztes Arbeitsverhältnis
auf der Basis eines geringen Verdienstes ist?
({0})
Das kann man so und
so sehen. Für verschiedene Frauen ist eine Zuverdienstmöglichkeit, um sich selbst einen Urlaub gönnen zu
können, Frau Kollegin Irber, angebracht. Dieser wollte
ich hier das Wort reden. Deshalb habe ich mich so geäußert. Ich meine, in diesem Zusammenhang natürlich
schon sagen zu müssen, daß es insgesamt gesehen für
uns eine Aufforderung ist, die Grundlagen dafür zu
schaffen, daß es nicht zu weiteren Wettbewerbsbenachteiligungen und -verzerrungen kommt, wie dies auch auf
diesem Gebiet der Fall ist.
In diesem Zusammenhang muß ich die Frage stellen
- diese Frage, Herr Präsident, sei mir noch gestattet -,
wie es denn kommt, daß wir in einer Debatte über die
deutsche Tourismuspolitik in einem gemeinsamen Europa feststellen müssen, daß sich die deutsche Regelungswut in vielen Betrieben negativ bemerkbar macht. Wenn
zum Beispiel dem erkrankten Gast an der Hotelrezeption
keine Schmerztablette ausgehändigt werden kann -
Herr
Kollege Hinsken, ich habe Sie bereits zweimal gebeten,
zum Schluß zu kommen. Jetzt müssen Sie wirklich zum
Schluß kommen.
Jawohl, Herr Präsident.
- Ich gehe davon aus, daß gerade wir mit unseren Konzepten wissen, wo angesetzt werden muß, damit sich in
Zukunft die Tourismuswirtschaft auch in der Bundesrepublik Deutschland entfalten kann und sie nicht von
weiteren Entscheidungen der Regierung gehemmt wird.
({0})
Als
letzter Redner in dieser Aussprache hat der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal
muß ich auf das Frauenbild des Kollegen Hinsken zu
sprechen kommen. Warum sind Sie nicht damit zufrieden, wenn Sie von Männern im Biergarten bedient werden? Das wäre doch einmal etwas anderes.
({0})
Wir haben die bestqualifizierte Frauengeneration in der
Geschichte.
({1})
Gerade in der Tourismusbranche fallen mir eine ganze
Reihe interessanter sozialversicherungspflichtiger Jobs
ein, die Frauen mit Erfolg ausüben. Deshalb möchte ich
zu Beginn meiner Rede allen Frauen, die in dieser Branche arbeiten, für ihren Einsatz und die Qualität ihrer Arbeit danken.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da ich nicht nur an
den kontroversen Punkten ansetzen möchte, weise ich
zunächst darauf hin - auch im Ausschuß haben wir ein
gutes Arbeitsklima, Herr Vorsitzender -, daß wir uns in
vielen Punkten sehr einig sind. Wir sind uns zum Beispiel darin einig, daß wir in Deutschland eine Tourismuswirtschaft, eine Gastronomie, eine Hotellerie haben,
die sich weltweit sehen lassen kann, deren Dienstleistungen eine hohe Qualität aufweisen und die auf diese
Qualität stolz sein kann. Sie verdient es, daß mehr Leute
von dieser Qualität Gebrauch machen. Das muß ich am
Anfang einmal sagen, und da sind wir uns sicherlich
einig.
({3})
Hier gibt es durchaus ein Defizit: Man muß mehr auf
diese Qualität hinweisen. Wenn große Unternehmen
ihre Hauptversammlungen in Deutschland - auch am
Standort ihres Unternehmens - durchführen, dann ist es
noch viel zu wenig üblich, daß sich die Versammlungsteilnehmer um diese Tagungsorte herum erholen und
daß man an solche Versammlungen auch touristische
Veranstaltungen anhängt.
Es geht uns also um die Perlen, die wir im Tourismus
haben, und zwar nicht nur, lieber Ernst Hinsken, bei
Peter Ramsauer in Traunstein. Das ist eine schöne Gegend; aber ich hoffe, daß es keine diplomatischen Verwicklungen gibt, weil vorhin nur Traunstein erwähnt
wurde. Man muß auch den Harz, die Ostsee und die
Nordsee nennen. Wir haben so viele schöne Gebiete, auf
die wir auch international hinweisen müssen.
({4})
- Natürlich ist die Schwäbische Alb besonders wichtig,
ebenso der Spreewald. Wir müssen die Heimat Theodor
Fontanes erwähnen. Es gibt so viele Möglichkeiten, die
wir nach meiner Überzeugung noch nicht ausgeschöpft
haben. Deshalb wollen wir eine Menge tun; Sie wissen
es.
Als Bundesregierung haben wir in den ersten 200
Tagen eine Reihe von wichtigen Signalen für diese
Branche gesetzt, die eine Wachstumsbranche von hoher Bedeutung ist. Manche haben noch nicht erkannt,
daß dies eine der wichtigsten Wachstumsbranchen für
die Zukunft ist, weil sie dienstleistungsintensiv ist und
hohe Qualität verlangt.
({5})
Gerade weil wir international nicht mehr über die
klassischen Kostenvorteile verfügen, müssen wir auf die
Qualität der Dienstleistungen und auf Inhalte, auch auf
kulturelle Inhalte setzen. Da haben wir in Europa und
besonders bei uns in Deutschland eine Menge zu bieten.
Insofern setzen wir in der internationalen Präsentation
unserer Standorte andere Akzente. Ein Schwerpunkt ist
die kulturelle Präsentation von Städten und Regionen,
die touristisch etwas zu bieten haben.
Herr
Kollege Mosdorf, wie ich erkenne, erlauben Sie eine
Zwischenfrage. - Herr Seifert, bitte schön.
Herr Staatssekretär, wenn Sie
schon die vielen Qualitätskriterien hier aufzählen, dann
möchte ich wissen, warum in Ihrer Antwort auf die Große Anfrage nicht ein einziges Mal vorkommt, daß der
Ausbau aller Tourismusstandorte für Menschen mit den
verschiedensten Behinderungen ein wesentlicher Punkt
sein könnte, um neue Touristenkreise zu erschließen.
Das wäre wiederum nicht nur für den Tourismus, sondern für die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft insgesamt ein großer Schritt nach vorn.
Lieber Herr
Kollege Seifert, ich muß Ihnen zunächst sagen: Große
Anfragen funktionieren so, daß man eine Frage stellt
und die Regierung darauf antwortet. Die Fragen haben
wir alle ordentlich beantwortet - man kann über Inhalte
streiten -, und wir sind durchaus der Meinung, daß es in
diesem Bereich Ansatzpunkte gibt. Das ist völlig klar.
({0})
Nur, Sie können aus der Tatsache, daß wir bei der
Beantwortung eines Fragenkatalogs diese spezielle Frage nicht behandelt haben, nicht ableiten, daß wir diesen
Sachverhalt negativ sehen.
({1})
- Ich gebe Ihnen ja gerade eine Antwort. Wir sind der
Auffassung: Wenn man über Standorte mit Qualität
nachdenkt, dann gehören solche Fragen dazu.
({2})
Solche Fragen gehören genauso dazu wie die Tatsache,
daß wir darüber nachdenken können, wie man Familien
und auch alleinerziehende Väter oder Mütter mit ihren
Kindern - ich denke an die Kinderbetreuung - in sinnvoller Weise in touristischen Standorten besser unterbringen kann. Das sind alles neue Fragen, die sich stellen und
auf die wir gemeinsam mit der Branche Antworten geben
müssen. Ich glaube, es gibt schon gute Bemühungen. Sie
sind allerdings in den jeweiligen Bereichen von Hotellerie
und Gastronomie sehr unterschiedlich.
Ich glaube trotzdem, daß auch die aktuellen Zahlen,
die wir alle kennen, die ich aber gern noch einmal in
Erinnerung rufen möchte, zeigen, daß wir eine leistungsfähige Branche haben, daß wir auch gute Bedingungen
haben und daß die Branche gewillt ist, dieses Potential
auszuschöpfen. In den 56 000 gewerblichen Beherbergungsbetrieben wurden 1998 96,4 Millionen Gäste und
rund 295 Millionen Übernachtungen registriert. Für das
erste Quartal dieses Jahres sieht es noch etwas erfreulicher aus. Es gab 4 Millionen Übernachtungen mehr als
im gleichen Vorjahreszeitraum. Das sind mehr als
7 Prozent Zuwachs im Inland.
({3})
Es ist wichtig, daß wir - Herr Hinsken hat diese
Frage aufgeworfen - nicht immer nur ins Ausland fahren, sondern auch einmal im Inland Urlaub machen.
Dazu gibt es nämlich viele Möglichkeiten. Damit haben
sich die positiven Trends des letzten Jahres verstärkt
fortgesetzt. Wir müssen dazu beitragen, daß sie sich
weiterhin so positiv entwickeln.
Besonders erfreulich für mich ist, daß auch in den
neuen Ländern weiterhin überproportionale Anteile am
Wachstum mit fast 11 Prozent Leistungszuwachs bis
März 1999 bestehen. Herausragende Ergebnisse erzielt
zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern, das für die ersten drei Monate dieses Jahres auf mehr als 20 Prozent
Zuwachs verweisen kann.
({4})
Angesichts der ausgeprägten Saisonproblematik in
Mecklenburg-Vorpommern ist das im ersten Quartal ein
gutes Ergebnis. Im Sommer wird es möglicherweise
noch wesentlich besser sein. Ich glaube ohnedies, daß es
eine Renaissance der Nord- und der Ostsee gibt, was das
Urlaubsbegehren der Menschen angeht. Die Branche
stellt sich darauf ein.
Gerade in den auch aus europäischer Sicht strukturschwachen Regionen - ich rede von den Ziel-1-Gebieten - wird es weiterhin um einen effektiven Fördermitteleinsatz gehen. Der Tourismus partizipiert in hohem
Maße an der Regionalförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe. In den vergangenen acht Jahren
waren mehr als 17 Prozent der durch Gemeinschaftsaufgaben geförderten Unternehmen Tourismusbetriebe.
7,4 Prozent der Investitionszuschüsse entfielen auf den
Tourismus.
Bei der Infrastrukturförderung ist der Tourismusanteil
mit 16 Prozent noch höher. Ich finde, es ist berechtigt,
daß wir diesen Weg gehen, weil wir gerade in dieser
Branche diese Infrastruktur brauchen. 1998 entfielen auf
diese Branche fast die Hälfte aller Vorhaben der regionalen Wirtschaftsförderung. Damit wird auch von den
Ländern ganz klar der Vorrangigkeit des Infrastrukturausbaus Rechnung getragen. Wir haben mit der Regionalpolitik gezielt angesetzt, und wir haben gerade in
strukturschwachen Gebieten geholfen. Das wollen wir
auch in Zukunft tun.
Ich möchte auf einen Punkt zu sprechen kommen, der
in dieser Debatte mehrfach angesprochen wurde und der
auch in den Beratungen unseres Ausschusses immer
wieder eine Rolle spielt. Es geht um die Mehrwertsteuersätze. Ich glaube für das ganze Haus sprechen zu
können, wenn ich sage, daß die Situation unbefriedigend
ist und zu wirklichen Wettbewerbsverzerrungen führt, die
wir nicht akzeptieren können. Deshalb bleibe ich bei meiner Meinung: Wenn man in Europa über die Harmonisierung von Steuersätzen nachdenkt - ich finde, wir müssen
darüber nachdenken -, dann muß man gerade auch hinsichtlich Hotellerie und Gastronomie darüber nachdenken, wie es zu einer Harmonisierung der Steuersätze
kommt. Dieses Ziel sollten wir gemeinsam verfolgen.
({5})
Wenn es bisher keine Gemeinsamkeit gab, dann will
ich das nicht simpel parteipolitisch denjenigen zuschieben, die 16 Jahre dazu Zeit hatten, sondern ich will sagen: Es ist ein komplizierter Prozeß, aber wir sind in
dem Anliegen, eine Harmonisierung der Steuersätze zu
erreichen, doch wohl einig. Denn es ist ein eklatanter
Wettbewerbsnachteil, wenn man in Saarbrücken 16 Prozent Mehrwertsteuer zahlen muß und 500 Meter weiter
für ein gutes Essen nur 5 Prozent Mehrwertsteuer entrichten muß.
({6})
Deshalb sind wir für eine Harmonisierung der Steuersätze, und zwar muß es dazu nicht nur bei den oberen,
sondern auch bei den unteren Steuersätzen kommen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluß kommen. Ich glaube, daß wir gerade auch anläßlich dieser Großen Anfrage eine wichtige Diskussion
über die Bedeutung und die Zukunftschancen der Tourismusbranche geführt haben. Ich glaube, daß wir in
vielen Punkten gemeinsam der Auffassung sind, daß wir
aus dieser Branche noch mehr machen können, daß es
wirkliche Wachstumspotentiale gibt, daß Tourismus sogar eine Jobmaschine sein kann, wenn man es gescheit
macht, und wir haben es nötig, da anzusetzen.
Deshalb meine herzliche Bitte: Lassen Sie uns gemeinsam alle Anstrengungen unternehmen, um wirtschaftspolitisch der Branche zu helfen und um gleichzeitig dazu beizutragen, daß die schönsten Erlebnisse im
Jahr eben auch im Urlaub stattfinden können, auf qualitativ hohem Niveau, in einer guten Atmosphäre, damit
wir das, was wir leisten müssen, jeden Tag 16 Stunden
zu arbeiten, auch leisten können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Herr
Kollege Hinsken ist persönlich angesprochen worden
und hat sich für eine Kurzintervention gemeldet. Bitte
schön, Herr Hinsken.
Herr Präsident, ich bedanke mich, daß ich diese Kurzintervention vorbringen
kann.
Zum einen möchte ich dem Kollegen Mosdorf herzlich in meinen Wahlkreis einladen. Wir lassen uns dann
in einem schönen bayerischen Biergarten bewirten und
reden mit den 630-DM-Beschäftigten, welche Meinung
sie haben.
Zum anderen: Herr Kollege Mosdorf, Sie haben zu
Recht davon gesprochen, daß es sich bei der Tourismuswirtschaft um eine Wachstumsbranche handelt. Das
kann doppelt und dreifach unterstrichen werden. Ich habe auch sehr wohl zur Kenntnis genommen, daß man
ansetzen möchte, über die Regionalpolitik weiterhin
einen Beitrag zu leisten, damit sich die Tourismuswirtschaft entfalten kann. Aber ich darf bei dieser Gelegenheit schon darauf verweisen, daß es nicht nur um Förderungen für die Tourismuswirtschaft insgesamt geht, sondern daß wir alle gefordert sind, über Parteigrenzen
hinweg Grundlagen dafür zu schaffen, daß die Regelungswut der Deutschen ins Lot gebracht wird.
Meine Damen und Herren, ich verstehe es nicht, daß
jemand, der sich in einem Hotel aufhält und eine Aspirin- oder eine andere Schmerztablette braucht, diese an
der Hotelrezeption nicht bekommen kann, weil dies dem
Arzneimittelgesetz widerspricht. Dieses Problem müssen wir in Angriff nehmen. Es ist nicht zu verstehen,
wenn ein ausländischer Gast am Flughafen in München
ankommt, vom Hotelier abgeholt wird und dieser sich
dann größten Reglementierungen im Hinblick auf das
Transportgesetz ausgesetzt sieht. Ich verstehe es genauso nicht, wenn derjenige, der in einem Straßencafé die
Markise herunterlassen möchte, wegen der Nutzung des
Luftraumes gebührenpflichtig wird.
({0})
- Nein, nein, das sind gesetzliche Regelungen, die wir
geschaffen haben.
({1})
Deshalb möchte ich der Deregulierung das Wort reden.
- Alle haben wir das geschaffen, alle.
({2})
Deshalb muß im Sinne von Deregulierung die
Grundlage dafür geschaffen werden, daß man nicht
mehr gegängelt wird, sondern daß man der Tourismuswirtschaft nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten
entgegenkommt, damit sie sich weiterhin trotz des bestehenden Konkurrenzkampfes in Europa behaupten
kann.
Ich bedanke mich.
({3})
Herr
Kollege Mosdorf, wollen Sie erwidern?
Ja, nur
ganz kurz. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Kollege Hinsken, ich möchte die Einladung in den bayerischen Biergarten annehmen und vorschlagen, daß wir
beide dann statt der Frauen bedienen.
({0})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag
der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1159 federführend an den Ausschuß für Tourismus und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft und Technologie,
den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und den
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen
Parl. Staatssekretär Sigmar Mosdorf
Union zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
„Wort halten“ - Umsetzung der Bonn/BerlinBeschlüsse
- Drucksache 14/1004 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Ältestenrat
Finanzausschuß
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuß
Nach interfraktionellen Vereinbarungen sind für die
Aussprache drei Viertelstunden vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Norbert Hauser von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht ist es ganz
sinnig, am 17. Juni, den wir früher als Tag der deutschen
Einheit begangen haben, über das eine oder andere Problem der deutschen Einheit - wenn auch nicht über die
größten Probleme - zu sprechen.
In wenigen Tagen wird der Umzugsbeschluß des
Bundestages vom 20. Juni 1991 Realität. Einigen Mitgliedern der Bundesregierung kommen jedoch acht Jahre nach dem Beschluß und annähernd fünf Jahre nach
der Verabschiedung des Berlin/Bonn-Gesetzes vom
26. April 1994 Bedenken über Sinnhaftigkeit und
Kosten. Infolgedessen beschloß das Bundeskabinett am
16. Dezember 1998, daß die Ministerien, die ihren ersten
Dienstsitz in Bonn haben, nicht, wie ursprünglich festgelegt, 10 Prozent der Arbeitsplätze, sondern mehr in
die Bundeshauptstadt verlagern können.
Bundesumweltminister Trittin hat sich gleich 25 Prozent absegnen lassen. Wirtschaftsminister Müller will
die Außenstelle der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe nicht von Berlin nach Bonn, sondern
von Berlin nach Hannover verlagern.
({0})
Der Bundesumweltminister schickt die Außenstelle
der Bundesanstalt für Strahlenschutz nicht von Berlin
nach Bonn, sondern nach Neuherberg bei München.
({1})
Das Bundesinstitut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene soll gegebenenfalls im Bundesumweltamt aufgehen,
jedenfalls nicht nach Bonn verlagert werden.
({2})
Bundeslandwirtschaftsminister Funke reklamiert für
sich und sein Haus als ersten Dienstsitz Berlin.
Der zukünftige Chef der Bundesbank, Ernst Welteke,
schließt sich an und fordert für das Bundesaufsichtsamt
für das Kreditwesen an Stelle Bonns den Bankenplatz
Frankfurt.
Die Herren Minister, die dies fordern, sind sich offensichtlich nicht darüber im klaren, daß sie im Begriff
sind, gegen ein Gesetz zu verstoßen, nämlich gegen das
Berlin/Bonn-Gesetz, das die Umzüge bzw. die Dienstsitze der genannten Behörden und Ämter festlegt.
Meine Damen und Herren, die Bürgerinnen und Bürger der Region Bonn/Rhein-Sieg haben den Umzugsbeschluß vom 20. Juni 1991 nach dem ersten Schock gut
verdaut. Sie haben die Ärmel hochgekrempelt und den
Strukturwandel in der Region in Angriff genommen.
Diese Region hat sich aber auch auf die ihr gemachten
Zusagen verlassen - Zusagen, für die wir alle dankbar
sind.
Um so ärgerlicher ist es, wenn jetzt bei der Umsetzung Schwierigkeiten bereitet und Zweifel gesät werden.
Der Strukturwandel in dieser Region ist nur dann zu
schaffen, wenn Klarheit für die Region herrscht. Forschungseinrichtungen, Verbände und Dienstleister müssen wissen, ob die Abteilungen bestimmter Ministerien
in Bonn bleiben oder nicht, ob Bundesämter oder Institute nach Bonn ziehen oder nicht und ob es Schule
macht, Einrichtungen der UNO nach Bonn zu holen, um
im nächsten Schritt korrespondierende Abteilungen wie
zum Beispiel die Unterabteilung für Internationales des
BMU in die Bundeshauptstadt zu verlegen.
In 14 Tagen findet in diesem Plenarsaal wahrscheinlich die letzte Debatte des Deutschen Bundestages statt.
Danach werden die Mikrophone abgeschaltet, und niemand weiß, was in Zukunft mit den hiesigen Gebäuden
geschehen wird. Wir ziehen aus, und draußen an der Tür
wird ein Schild „Geschlossen“ angebracht. Wie geht
dieser Staat mit den Orten seiner demokratischen Geschichte um? Wir fordern die Bundesregierung auf,
endlich die Konzepte zu verabschieden, die unter anderem in der Inneren Kommission des Ältestenrates einstimmig verabschiedet worden sind. Es kann nicht auf
Kosten dieser Parlamentsgebäude gehen, daß keine
Einigung zwischen der Bundesregierung, dem Land
Nordrhein-Westfalen und der Stadt Bonn über die
Finanzen zu erreichen ist.
({3})
Die CDU/CSU-Fraktion will mit dem Antrag „Wort
halten“ Klarheit schaffen. Hier geht es nicht um die Frage „Bundeshauptstadt Berlin gegen Bundesstadt Bonn“.
Hier geht es darum, den Beschluß vom 20. Juni 1991,
der die Überschrift „Vollendung der Einheit Deutschlands“ trägt und dieser Region eine faire Arbeitsteilung
zusagte, in allen seinen Teilen zu verwirklichen. Letztlich geht es auch um Menschen und Familien, die man
nicht beliebig hin- und herschieben und verplanen kann.
Wir wissen, wie schwer sich der Bundeskanzler mit
der Umsetzung dieses Beschlusses tut. Schließlich
stammt von ihm das Zitat:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Das Parlament hat seine Entscheidung auf Druck
der parteiübergreifenden Bonn-Lobby gekippt.
Zwei Zentren halte ich für falsch und schädlich. Ein
demokratischer Staat braucht ein politisches Zentrum, nicht zwei, drei oder vier.
Soweit der Bundeskanzler.
Die Probleme des Bundeskanzlers mit der Umsetzung
von Beschluß und Gesetz dürfen aber nicht dazu führen,
daß der Chef des Bundeskanzleramtes, Herr Hombach,
ein Gesetz dieses Rechtsstaates lediglich als „Richtschnur“ bezeichnet, nach der man sich je nach Gusto
ausrichten wolle oder könne.
({4})
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Sofort. - Es
ist geradezu eine Schande, daß das Bundeskabinett vorsichtig formuliert - ungeniert über die Umgehung,
die Nichterfüllung eines Gesetzes, und zwar des Berlin/Bonn-Gesetzes - schärfer ausgedrückt: über Gesetzesbruch -, diskutiert. Dieses Parlament hat ein Anrecht
darauf, daß Gesetze, die es einmal verabschiedet hat,
auch eingehalten werden.
Ich danke Ihnen.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Achim Großmann von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! 1991 war die Entscheidung für
Berlin sicherlich ein Schock für die Bonner Region. Es
gab anschließend aber einen breiten politischen Konsens. Es gab den Konsens, daß es zu einer fairen Verabredung zwischen Berlin und Bonn kommen müßte. Alle
waren der Überzeugung und der Auffassung: Die Bonner Region wird nicht allein gelassen. In Bonn war man
parteiübergreifend bei den Fraktionen im Rat der Stadt
ähnlich wie in den Gremien der Region, die Bonn umgibt, in den Landkreisen, dieser Auffassung. In Bund
und Land war man ebenfalls parteiübergreifend dieser
Auffassung.
Aus dieser Zusammenarbeit und dem Willen heraus,
die Bonner Region zu stützen, erwuchs 1994 die Vereinbarung über Ausgleichsleistungen für die Region
Bonn. Die Laufzeit dieser Ausgleichsvereinbarungen
reicht bis zum 31. Dezember 2004. Der Bund sollte für
den Ausgleich der Bonner Region 2,81 Milliarden DM
zur Verfügung stellen. Heute, meine Damen und Herren,
stellen wir fest: Nach nur der Hälfte der Laufzeit dieser
Vereinbarungen sind Maßnahmen mit einem Volumen
von 2,658 Milliarden DM entschieden. Das heißt, 98
Prozent der Ausgleichsmittel sind einvernehmlich für
den Bonner Raum, für die Bonner Region entschieden.
({0})
Das ist eine herausragende Leistung und zeigt die Verläßlichkeit der Partner, die Qualität der Zusammenarbeit
und den Willen aller, die Region Bonn nach vorn zu
bringen.
Optimismus, Wille zur Gestaltung, Vertrauen in die
Zukunft: Das waren die Grundlagen für den politischen
Konsens über die Parteigrenzen hinaus. Damit wurden
in der Bonner Region Signale gesetzt. Das Signal an die
Bonnerinnen und Bonner war: Die Chancen, die daraus
erwachsen, sollen genutzt werden. Es bilden sich gute
Perspektiven, wenn alle gemeinsam an die Aufgabe herangehen, für die Zeit nach dem Umzug nach Berlin eine
Zukunft zu entwickeln. Das Signal an Unternehmer, an
nationale und internationale Behörden war: Jawohl,
Bonn ist eine optimistische Stadt mit Zukunft. Die weltoffene und gastfreundliche Stadt Bonn ist weiterhin ein
sehr guter Standort für die Wirtschaft, für nationale und
internationale Politik und für Kultur und Wissenschaft.
Die Vereinbarungen und die politische Gemeinsamkeit haben Bonn - ich wiederhole das - eine hervorragende Perspektive gegeben. Daran waren Personen und
Persönlichkeiten über die Parteigrenzen hinweg beteiligt: Bärbel Dieckmann, die Oberbürgermeisterin der
Stadt Bonn, Franz Möller, der Landrat des Rhein-SiegKreises, Ingrid Matthäus-Maier, die ich stellvertretend
für die Abgeordneten erwähne, weil sie uns als Abgeordnete bald verläßt, und natürlich das Land NordrheinWestfalen mit Wolfgang Clement, dem heutigen Ministerpräsidenten.
({1})
- Ich habe gerade gesagt, daß ich stellvertetend für die
Abgeordneten Ingrid Matthäus-Maier nenne; ich kann
gerne auch Frau Limbach erwähnen. Ich habe mehrfach
betont, daß es hier parteiübergreifende Initiativen gab,
und ich denke, das sollten Sie anerkennen.
({2})
- Die Zwischenrufe beweisen, daß das, was ich im Anschluß daran sagen wollte, zutrifft: Der breite politische Konsens hilft einer Region weiter. Wenn man
allerdings, vielleicht wegen kurzfristiger wahlpolitischer Erfolge, die man anstrebt, versucht, auf kleinem
Karo Schach zu spielen, dann ist das für die Region sicherlich nicht gut.
Es ist weitgehend aus dem Auge verloren worden,
was das für die Region Bonn bedeutet. Deshalb ist es
ganz notwendig, daß man das einfach noch einmal erwähnt. Die Insider mögen das kennen, die meisten Bürgerinnen und Bürger in Bonn, um Bonn herum und vor
Norbert Hauser ({3})
allen Dingen auch im übrigen Deutschland wissen das
meistens nicht.
Ich will einmal aufzählen, welche Ausgleichsmaßnahmen im einzelnen angeschoben und auf den Weg
gebracht worden sind:
Das ist im Ausgleichsbereich Wirtschaft die Stiftung
CAESAR, die 1998 ihre Arbeit in angemieteten Räumen
aufgenommen hat und für die eine endgültige Unterbringung in einem Neubau am Rand der Rheinaue erfolgen soll. Das ist die Fachhochschule Rhein-Sieg, die an
den Standorten Sankt Augustin und Rheinbach den Studienbeginn zum Wintersemester 1995/96 aufgenommen
hat. Die Baumaßnahmen werden im Herbst 1999 in
Rheinbach und im Frühjahr 2000 in Sankt Augustin fertiggestellt, die Bauten dann zur Verfügung stehen. Die
Fachhochschule Remagen hat den Studienbetrieb zum
Wintersemester 1998/99 aufgenommen. Die Baumaßnahme soll im Jahr 2000 fertiggestellt werden.
Ich nenne die Zentren für Europäische Integrationsund Entwicklungsforschung, Institute der Universität
Bonn, 1995 gegründet, deren Unterbringung sukzessive
mit dem Ausbau erfolgt; die Erweiterung des Wissenschaftszentrums an der Ahrstraße mit der bereits abgeschlossenen Erweiterung des DAAD-Gebäudes und mit
der ab 1998 laufenden Erweiterung des DFG-Gebäudes;
schließlich die Stiftung Begabtenförderungswerk berufliche Bildung, die seit 1995 gefördert wird.
Im Ausgleichsbereich Kultur sind es die Errichtung
des Hauses der Kultur einschließlich der Anschubfinanzierung für drei ergänzende Einrichtungen der Kulturforschung und -dokumentation seit 1996 sowie die Einrichtung des Museums für Naturgeschichte in Königswinter und die Planung der Ökologieausstellung im Museum Koenig. Das ist zur Stärkung des Kulturstandorts
Bonn die ab 1996 geförderte Biennale für zeitgenössisches europäisches Schauspiel sowie die 1997 mit dem
Museumsdepot in Meckenheim begonnene Erweiterung
des Rheinischen Landesmuseums. Und es ist schließlich
das Arp-Museum in Rolandseck, das ebenfalls aus diesen Mitteln gefördert wird.
Im Ausgleichsbereich Wirtschaftsstruktur ist es die
Stärkung der wirtschaftsnahen Infrastruktur, beispielsweise durch den Ausbau von Gewerbeflächen. Bis zum
Jahresende 1998 waren 166 Hektar Gewerbeflächen erschlossen und rund 2 600 Arbeitsplätze geschaffen worden. Mit dem Investitionsprogramm für mittelständische
Wirtschaft - dort gibt es Zinszuschüsse - sind Investitionen angestoßen worden, die bei 350 Unternehmen zu
rund 1 200 Arbeitsplätzen geführt haben. Mit dem
Technologie- und Transferzentrum Bonn, mit dem
Gründer- und Technologiezentrum Rheinbach und mit
dem Technologiezentrum für Oberflächentechnik in
Rheinbreitbach sind zukunftssichere Arbeitsplätze im
High-Tech-Bereich aufgebaut worden.
Weiterhin: Das Multimedia-Support-Center mit Sitz
in Köln und geplanter Dependance in Bonn wird - eingepaßt in die Multimedia-Initiative des Landes Nordrhein-Westfalen - seit 1997 mit Ausgleichsmitteln gefördert. Für die Förderung des Infrastrukturprogramms
zur Stärkung des Tourismus in der Region stehen Ausgleichsmittel bereit, unter anderem zur Anschubfinanzierung der Tourismus & Kongress GmbH in Bonn,
Rhein-Sieg und Ahrweiler.
Für die Förderung der Strukturförderungsgesellschaft
Bonn/Rhein-Sieg/Ahrweiler wurden zur Unterstützung
des Standortmarketings und der Imagekampagne der
Stadt Bonn Mittel bereitgestellt.
Schließlich wurde zur Stärkung des Gesundheitsstandortes ein stattlicher Betrag für den Bau des Kinderherzzentrums in Sankt Augustin bewilligt.
Es gibt den Ausgleichsbereich Verkehr mit einem
Finanzierungsabkommen mit dem Land NordrheinWestfalen und der Flughafen Köln/Bonn GmbH zur
Einbindung der Region in das nationale und internationale Verkehrsnetz. Im Zusammenhang mit Grundstücksleistungen sind Liegenschaften an die Stadt Bonn
übertragen worden.
Schließlich gibt es den Bereich der internationalen
Einrichtungen. 1996 wurde das Haus Carstanjen dem
Generalsekretär als Haus der Vereinten Nationen übergeben. Dort sind zwischenzeitlich 5 VN-Einrichtungen
der Entwicklungszusammenarbeit und des Umweltschutzes mit derzeit zirka 300 Mitarbeitern untergebracht.
Das Internationale Paralympische Komitee und die
Zentraleinheit des Berufsbildungsprojekts der UNESCO
haben zumindest den Willen geäußert, in Bonn ihren
Sitz zu nehmen.
Die Bundesregierung hat Angebote unterbreitet und
verhandelt derzeit - vielleicht wissen Sie das - mit weiteren internationalen Organisationen und ist bemüht um
die Ansiedlung des Sekretariats der Konvention zum
Schutz von Mensch und Umwelt vor gefährlichen Chemikalien. Sie ist ferner bemüht um die Ansiedlung des
europäischen Zentrums der Weltgesundheitsorganisation
WHO.
({4})
Gestern noch hat der Haushaltsausschuß weitere
Mittel für drei weitere Maßnahmen bereitgestellt, auf die
der Kollege Beucher gleich noch eingehen wird.
Noch ein Wort zu dem Schild „Ab morgen geschlossen“, das angeblich an die Tür genagelt wird. Die Innere
Kommission des Ältestenrates - der Bundestag und
nicht die Regierung entscheidet, was mit dem Plenarbereich weiter geschehen wird - hat gestern dem Ältestenrat vorgeschlagen, daß die weitere Nutzung des
Plenarbereiches des Deutschen Bundestages die Errichtung eines internationalen Kongreß- und Tagungszentrums vorsieht. Diese Lösung hat erhebliche positive
Auswirkungen für die Region Bonn. Dadurch wird beispielsweise die geeignete Weiternutzung mit der Verbesserung der Ansiedlungschancen für internationale
Organisationen verbunden. Dies gibt natürlich Impulse
für die Bonner Region. Gutachter haben uns bestätigt,
daß dieses internationale Kongreß- und Tagungszentrum
bis zu 500 neue Arbeitsplätze schafft, erhebliche Steuermehreinnahmen bringt und natürlich einen Beitrag zur
Erhaltung des weltweiten Ansehens der Stadt Bonn und
der Region leistet. Dies ist eine Verbesserung des
Standortfaktors für weitere Ansiedlungen aus dem Bereich Wirtschaft.
Der Wettbewerb unter den Investoren zur Planung
und zum Betrieb soll in der Zwischenzeit durchgeführt
werden. Die Kosten - das ist fest vereinbart - teilen sich
der Bund auf der einen Seite und das Land und die Stadt
Bonn auf der anderen Seite hälftig.
({5})
Der Plenarbereich bleibt mit Leben erfüllt. Es gibt ab
dem 1. August 1999 einen Weiterbetrieb dieses Plenarbereiches. Das heißt, er steht für spontane Besuche und
für Führungen offen. Er steht ferner für Veranstaltungen
und Kongresse offen; die Bundestagsverwaltung hat uns
gestern mitgeteilt, daß bereits entsprechend nachgefragt
worden ist. Die technischen Ressourcen werden dafür
zur Verfügung gestellt.
Herr
Kollege Großmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hauser?
Ich bin mit meiner Rede
sofort fertig. Danach kann sich der Kollege zu einer
Kurzintervention melden. Ansonsten würde meine Zeit
nicht ausreichen.
Also
keine Zwischenfrage.
Sie sehen also, meine
Damen und Herren, daß es ein herausragendes Ergebnis
bei der Umsetzung des Beschlusses gibt, die Region
Bonn und die Stadt Bonn nach dem Umzug des Bundestages nach Berlin nicht alleine zu lassen.
Ich will die wenigen verbleibenden Sätze meiner Rede dazu nutzen, mich bei der Stadt Bonn zu bedanken.
Wir haben uns hier immer sehr wohl gefühlt.
({0})
Es war auch im Hinblick auf die internationalen Besuche
nicht immer einfach mit uns. Aber die Bonner, denen man
immer rheinische Kleinbürgerlichkeit nachsagt, haben
sich als ganz weltoffene Bürgerinnen und Bürger erwiesen. Wir haben uns hier, wie gesagt, sehr wohl gefühlt.
({1})
Das eine kann ich den Bonnerinnen und Bonnern heute
versprechen: Der Bund bleibt mit einem Standbein in
Bonn. Wir werden Bonn nicht vergessen; Bonn ist nach
wie vor als Bundesstadt ein ganz wichtiger Bestandteil
der Politik in der Bundesrepublik Deutschland.
Vielen Dank.
({2})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Guido Westerwelle von der F.D.P.-Fraktion. Bitte schön.
({0})
- Ihre Meldung kommt zu spät. Ich habe bereits den
nächsten Redner aufgerufen. Ich bitte um Verständnis,
daß wir in der Debatte fortfahren müssen. Wir sind bereits zwei Stunden im Verzug.
Herr Westerwelle, bitte.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär, ich glaube, eine Sache sollten wir vorab klarstellen: Es geht nicht darum, daß parteipolitisch irgendwelche Vorteile in der Region hier gesucht werden. Es geht
nicht darum, in dieser Frage einer Bundesregierung, die
von SPD und Grünen gestellt wird, an den Karren zu
fahren. Das würde niemandem dienen, der hier in der
Bonner Region Verantwortung trägt. Es geht darum, daß
wir zu dem politischen Konsens zurückfinden. Für mich
heißt dieser Konsens: Pacta sunt servanda.
({0})
Es geht nicht darum, in dieser Diskussion die
Schlachten von gestern noch einmal zu schlagen. Die
Entscheidung ist demokratisch mit Mehrheit gefällt
worden. Ich habe dem Parlament damals noch nicht angehört. Ich hätte vermutlich anders abgestimmt als andere Kolleginnen und Kollegen. Aber das Entscheidende
ist, jetzt nicht diesen Beschluß gewissermaßen zu torpedieren. Es geht nicht darum, den Beschluß in Frage zu
stellen, sondern es geht darum - darauf haben wir Bonner auch einen Anspruch -, daß dieser Beschluß wortgetreu umgesetzt wird; denn man muß sich, wenn man
hier Verantwortung trägt, wirklich auf das verlassen
können, was beschlossen wurde.
Es heißt in diesem Umzugsbeschluß vom 20. Juni
1991, daß das Verwaltungszentrum der Bundesrepublik Deutschland in Bonn bleibt, indem insbesondere
die Bereiche in den Ministerien und die Teile der Regierung, die primär verwaltenden Charakter haben, ihren
Sitz in Bonn behalten. Wörtlich heißt es dort:
Dadurch bleibt der größte Teil der Arbeitsplätze in
Bonn erhalten.
Anschließend hat es das Berlin/Bonn-Gesetz gegeben. Darin ist festgelegt worden, daß von den Ministerien, die in Bonn ihren Sitz behalten, nur 10 Prozent der
Arbeitsplätze nach Berlin verlagert werden können.
Wenn sich jetzt Herr Trittin in einem Interview dessen rühmt, daß es ihm als Bundesumweltminister gelungen sei, diese Quote auf 25 Prozent anzuheben, dann
kann es niemanden verwundern, daß die Menschen, die
Planungssicherheit brauchen, irritiert sind.
({1})
Das ist doch ganz normal. Das hat mit Parteipolitik
nichts zu tun. Es liegt im nationalen Interesse, daß der
Deutsche Bundestag, wenn er ein Gesetz macht, darauf
achtet, daß die Regierung dieses Gesetz auch wortgetreu
einhält, egal wer die Regierung stellt.
({2})
Es macht überhaupt keinen Sinn, daß wir in den vergangenen Wochen bei zahlreichen Feierstunden eine
parteiübergreifende Einigkeit in der Bewertung der
50jährigen demokratischen Kultur, die von Bonn aus
geprägt wurde, festgestellt haben, wenn dann so ein
Prinzip Vergessen eintritt.
Die Sorge, die wir hier als Abgeordnete, als Verantwortungsträger aus Bonn und der Region haben, ist relativ einfach: aus den Augen - aus dem Sinn. - Unsere
Sorge hier ist ganz einfach auf den Punkt zu bringen:
Wenn denn die sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen erst in Berlin sind, dann läßt das Verantwortungsgefühl für Bonn, das diesem Land 50 Jahre lang wertvolle Dienste geleistet hat, nach. Das müssen wir verhindern. Ich hoffe, daß wir auch über die Region hinaus
dafür in diesem Hause überparteiliche Zustimmung finden können.
({3})
Es geht aus unserer Sicht vor allem darum, einen
Rutschbahneffekt zu verhindern - das ist das, was hinter den besorgniserregenden Äußerungen steckt -, einen
Rutschbahneffekt, der dazu führt, daß man jeden Monat
etwas mehr in Frage stellt, was doch in Gesetzesform
vereinbart worden ist. Ich glaube, es kann nicht sinnvoll
sein, wenn wir bei diesen ganzen Bonn/BerlinDiskussionen künftig augenzwinkernd auf die Salamitaktik warten: jede Woche, jeden Monat ein Scheibchen
weniger für die Region Bonn.
Ich möchte nicht, daß die Mittel, deren Einsatz dankenswerterweise von der alten Regierungskoalition beschlossen wurde und die dankenswerterweise von der
neuen Regierung so eingesetzt werden, in Frage gestellt
werden. Aber ich möchte auch nicht, daß im Grunde genommen schleichend ein Rutschbahneffekt eintritt.
Wenn Sie sagen, der Bund behält ein Standbein in Bonn,
dann möchten wir, daß dieses Standbein auch eines ist,
auf dem man stehen kann, und daß es nicht nach einigen
Jahren zu einem läppischen Spielbein verkümmert. Darauf sind wir in dieser Region angewiesen.
({4})
Das hat nichts mit irgendwelchem Bejammern oder
mit irgendwelchen resignativen Gesichtspunkten oder
mit Verärgerung zu tun. Es geht einfach darum: Wenn
man in Deutschland Arbeitsplätze schaffen will, dann
muß man auch Vertrauen in den Standort schaffen.
Wenn man in Bonn Arbeitsplätze schaffen will, dann
braucht man auch hier für die Region Vertrauen in den
Standort. Das Wichtigste für Vertrauen ist, daß man sich
an das hält, was zugesagt wurde. Darauf legen wir großen Wert.
({5})
Wir möchten, daß Bonn und die Region die Chancen
des Strukturwandels nutzen. Dafür werden alle Kräfte
hier in der Region gemeinsam kämpfen. Dazu braucht es
rheinischen Optimismus, aber eben auch preußische
Verläßlichkeit. „Wort halten“ ist deswegen sehr wohl
die richtige Devise für diese Debatte.
({6})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eichstädt-Bohlig von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Hauser, Herr Westerwelle, ich verstehe
nicht ganz, warum Sie hier so eifern müssen und die
beiden Städte Bonn und Berlin und indirekt auch die von
der Föderalismuskommission festgelegten Standorte
jetzt noch einmal gegeneinander ausspielen müssen.
({0})
Wir wissen alle, daß es ein sensibles Problem war, den
gerechten Ausgleich zu schaffen und dann auch zu halten. Bisher sind alle Beteiligten sehr umsichtig mit diesem Thema umgegangen. Ich finde es schon etwas problematisch, wenn Sie jetzt meinen, Sie müßten dem
Bonner Wahlkampf zuliebe auf einen Putz hauen, den es
gar nicht gibt.
Denn was können Sie der neuen Regierung nachweisen? Sie müssen feststellen, daß sie sehr achtsam mit
dem Berlin/Bonn-Gesetz umgeht und sehr genau darauf
achtet, daß entsprechend den Vorgaben des Gesetzes
vorgegangen wird. Da steht nichts von 10 Prozent; Sie
sollten das Gesetz einmal selber durchlesen, Herr Kollege Westerwelle.
Ich möchte Ihnen einfach nur sagen: Wie Frau
Dieckmann und die rotgrüne Stadtregierung selbstbewußt und optimistisch mit den Bonner Veränderungen
umgehen, finde ich bewundernswert: ohne verkrampftes
Schreien und Jammern. Bonn wird mit diesen Veränderungen klarkommen. Das Problem ist inzwischen praktisch gelöst: Die Bonner, die nach Berlin gehen, haben
sich inzwischen umgestellt; alle Bonner, die hier mit
Veränderungen umgehen müssen, haben das inzwischen
in einer sehr konstruktiven Weise geschafft, allen Anfangsproblemen zum Trotz; die Berliner, die nach Bonn
kommen, tun das inzwischen auch nicht mehr mit Jammern, sondern mit einer positiven Haltung.
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Westerwelle?
({0})
Ja.
Bitte
schön, Herr Westerwelle.
Ich will eine Zwischenfrage dazu stellen, weil ich glaube, daß es nicht um
Eifern geht. Es geht auch nicht darum, irgendwelche
Städte gegeneinander auszuspielen.
({0})
Ich bin der Meinung - ({1})
- Das ist meine Frage an Sie: Kann es richtig sein, daß,
wenn 10 Prozent vereinbart werden, jetzt plötzlich
25 Prozent in Interviews verkündet werden? Können Sie
sich vorstellen, daß eine Menge Dienstleister, die direkt
gar nicht vom Umzug betroffen sind, das sorgenvoll sehen? Wie erklärt es sich dann, daß ausgerechnet Herr
Metzger aus Ihrer Fraktion sagt, die Regierung müsse in
toto nach Berlin?
({2})
Können Sie sich nicht vorstellen, daß das zu Irritationen
auch hier in der Region führt?
Lassen Sie mich sagen, wie es konkret aussieht. Ich dachte, Sie hätten eigentlich genug Gelegenheit, sich zu informieren. Aber ich antworte gerne auf
Ihre Frage.
Erstens. Genau wie unter der alten Regierung vereinbart, verbleiben zwei Drittel der Beschäftigten hier in
Bonn. Das wird von der jetzigen Regierung ganz konkret umgesetzt. Ein Drittel wechselt nach Berlin.
Zweitens. Sie beachten nicht, daß es um drei Beteiligte geht: die Interessen von Bonn, die Interessen von
Berlin und - dafür sind alle Beteiligten gemeinsam verantwortlich - die Sicherstellung der Regierungsfähigkeit in Berlin. Da müssen Sie der neuen Regierung
schon zugestehen, daß sie geringfügige Veränderungen
gegenüber dem, was zu Zeiten der Kohl-Regierung als
Regierungsfähigkeit definiert wurde,
({0})
im Rahmen des Berlin/Bonn-Gesetzes vornimmt.
({1})
Lesen Sie es bitte durch, Herr Kollege Westerwelle! Ich
sage Ihnen eines: Auch ein Kanzler Kohl könnte, wenn
er gewählt worden wäre und diese Regierung führen
würde, nicht einfach die Ministerialverwaltung ad ultimum im Status quo festlegen. Auch er müßte Modifikationen vornehmen, wenn er ein Interesse daran hätte, die
Regierung zukunftsfähig zu machen. Das sind kleine
Veränderungen im Rahmen des Berlin/Bonn-Gesetzes.
Wenn Sie sich genau anschauen, was die Regierung
macht, dann werden Sie feststellen, daß sie sich sehr
wohl an die Regeln des Berlin/Bonn-Gesetzes und weitestgehend an die Vereinbarungen hält, die die alte Regierung mit den einzelnen Arbeitsbereichen und den
Mitarbeitern getroffen hat.
Das einzige, was verändert worden ist, ist folgendes:
Man hat festgestellt, daß die 10-Prozent-Formel für die
Erstdienstsitze in Bonn als Zwangskorsett nicht aufrechtzuerhalten ist, und hat den Ministerien etwas mehr
Spielraum gegeben. Nicht das Gesundheitsministerium
oder das Bildungsressort, nicht das Landwirtschaftsministerium, nicht das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern nur das Umweltministerium hat
das in Anspruch genommen, und zwar in ganz kleinem
Umfang. Es geht nur um 100 Beschäftigte mehr - wobei
teilweise andere Stellen wieder in Bonn verbleiben -, so
daß es wirklich albern ist, zu behaupten, damit werde
das Berlin/Bonn-Gesetz verletzt. Denn im Berlin/BonnGesetz ist von Politikbereichen die Rede und davon, daß
die Mehrheit der Beschäftigten in Bonn bleibt. Das alles
ist ganz eindeutig gewährleistet.
Ich finde das auch völlig richtig. Was ich nicht richtig
finde, ist, daß Sie jetzt zu zündeln anfangen
({2})
und meinen, man müsse auf Grund der Verschiebung
von Nuancen ein neues Faß aufmachen und den Bonnern erneut Ängste einreden, die überhaupt nicht angemessen sind.
Statt bei diesem Thema wieder für Verunsicherung zu
sorgen, sollte man ganz ruhig damit umgehen und die
kleinen Veränderungen, die übrigens im Einvernehmen
mit den Betroffenen, also auf freiwilliger Basis, erzielt
worden sind, akzeptieren.
({3})
- Doch, Herr Hauser, fragen Sie doch bei den entsprechenden Beteiligten nach!
({4})
Regieren kann nicht starr definiert werden, und überdies müssen auch Sie die Ziele der Regierungsfähigkeit
und des sparsamen Umgangs mit Steuermitteln akzeptieren. Denn auch dieses Problem haben wir von Ihnen geerbt: Sie sind mit den Kosten sehr, sehr großzügig umgegangen. Aber die neue Regierung hat die Verantwortung, jetzt keinen weiteren Kostenaufwuchs zuzulassen.
Auch das ist ein Grund dafür, daß die neue Regierung
jetzt nicht aufsattelt. Es geht also nicht nur um politische
Vernunft, sondern auch um Kostenbewußtsein und das
Interesse an der Fairneß der Arbeitsteilung zwischen
Bonn, Berlin und den Föderalismusstandorten.
Von daher meine dringende Bitte, jetzt nicht Wahlkampf zu machen, sondern mit dem Thema so umzugehen, wie es Frau Dieckmann in Bonn tut: optimistisch
und selbstbewußt. Insofern stimmt es, was wir zur Zeit
überall in der Stadt sehen: „Bonn gewinnt“, und zwar
mit Rotgrün.
({5})
Der
Kollege Norbert Hauser hat um eine Kurzintervention
gebeten. Ich erteile ihm das Wort, mache aber darauf
aufmerksam, daß ich mit diesem Instrument in der nächsten Zeit sehr restriktiv umgehen werde, weil wir bereits
viel Zeit verloren haben.
({0})
Herr Hauser, bitte schön.
Vielen Dank,
Herr Präsident.
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, der Kollege Westerwelle hat gerade schon darauf hingewiesen: Ihr letzter
Satz war Wahlkampf, nichts anderes.
Ich will nur eines noch einmal deutlich machen, weil
Sie das aufgeworfen haben: Hier geht es überhaupt nicht
darum, Gegensätze zwischen Berlin und Bonn zu konstruieren. Sie wissen, daß es einen Initiativkreis Berlin/Bonn gibt, der sich um die Bewältigung der Schwierigkeiten des Umzugs bemüht. Ich glaube schon, daß die
Bundeshauptstadt Berlin und die Bundesstadt Bonn in
Zukunft sehr gut zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen können und daß beide Städte eine gute
Zukunft haben werden.
Frau Kollegin, Sie haben recht, wenn Sie sagen, die
10-Prozent-Formel stehe nicht im Gesetz. Dies beruht
auf einem Kabinettsbeschluß aus dem Jahre 1994; darauf will ich mich jetzt gar nicht einlassen. Aber es geht
nicht, daß Vereinbarungen, die eindeutig im Gesetz geregelt sind, nun in Frage gestellt werden, so etwa § 7
Abs. 1 Nrn. 3, 4, 5, 9 - betreffend die Institute, die ich
eben angesprochen habe. Hierauf hat diese Region einen
Anspruch. Ihre Minister, vorneweg Herr Trittin, stellen
diesen Anspruch in Frage. Nur darum geht es.
Nicht lamentieren, Wort halten im Sinne des Gesetzes! Aber Sie sollten sich an das Gesetz halten und Gesetzesverstöße nicht auch noch im Parlament verteidigen.
({0})
Frau
Eichstädt-Bohlig, bitte zur Erwiderung.
({0})
Herr Kollege Hauser, wenn Sie wirklich ein
Interesse an den Bonnern und an einem fairen Ausgleich
haben, bitte ich Sie um eines: Sie sollten dieser Regierung sehr dankbar dafür sein, daß sie so achtsam mit den
Grundprinzipien des Berlin/Bonn-Gesetzes umgeht und
in hohem Maße daran interessiert ist, trotz der vielen
Probleme, die das für die Regierungsfähigkeit bringt,
diesen Interessenausgleich weitestgehend zu beachten
und sich nach ihm zu richten. Daß sich eine Regierung
Richtung Zukunft weiterentwickelt, sollten Sie ihr als
Politiker ein kleines bißchen zugestehen.
({0})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Petra Pau
von der PDS-Fraktion.
Ich habe wirklich sehr lange nach
dem Sinn dieses Antrages gesucht. Auch nach der Debatte ist mir eigentlich nur einer eingefallen: Wahlkampfhilfe für die Bonner Bürgermeisterwahl.
({0})
- Ja, bitte, Oberbürgermeister, noch nicht Regierender
Bürgermeister, richtig.
Ich muß Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU und auch Ihnen, Herr Westerwelle, als
Bonner, sagen: Das ist ein legitimes Anliegen, aber bitte
nicht mit uns, sondern ganz standesgemäß gegen uns.
Das heißt übrigens nicht, daß wir uns in irgendeiner
Weise gegen Bonn oder auch gegen Berlin benutzen ließen. Aber schon der moralische Duktus, mit dem dieser
Antrag daherkommt - „Wort halten“ -, baut natürlich
auf inständiges Vergessen. Denn am 20. Juni 1991 hat
der Bundestag nicht nur den Umzug beschlossen, sondern auch, binnen vier Jahren die Arbeit in Berlin aufzunehmen.
({1})
Zumindest Herr Blüm und Herr Rüttgers, die heute als
Antragsteller „Wort halten“ fordern, müßten sich doch
daran erinnern, auch wenn sie seinerzeit, wie der heutige
Umzugsminister, gegen Berlin votiert haben.
({2})
Ich sage Ihnen auch, wie die Berlinerinnen und Berliner diese Art von „Wort halten“ sehen. Sie sagen einfach: Spät kommen sie und obendrein noch ganz schön
teuer.
Wir haben in den vergangenen Jahren viele Vorschläge für einen zügigen und einen finanziell vertretbaren Umzug gemacht. Mit anderen Worten: Wenn es
schon ums Worthalten geht, dann haben wir und diejenigen, die solche Vorschläge unterbreitet haben, Wort
gehalten. Dazu brauchten wir diesen Antrag und diese
Debatte heute tatsächlich nicht.
Nun fordern Sie aber in diesem Antrag noch ein bißchen mehr. Wir sollen nämlich nachträglich alle Verträge gutheißen, die im Namen dieses Umzuges verbockt
wurden.
({3})
Da sage ich Ihnen ganz deutlich: Sie werden weder meine nachträgliche Zustimmung zu dem unsäglichen
Hauptstadtvertrag bekommen, der insbesondere Berlinerinnen und Berlinern in ihrer Stadt Nachteile bringt,
noch zu welchem Großprojekt auch immer, auch nicht
durch die Hintertür dieses Antrages.
Damit mich hier heute keiner mißversteht: Ich bin für
einen fairen Umgang mit Bonn, wie ich auch für einen
fairen Umgang mit Berlin bin. Vor allen Dingen bin ich
für einen fairen Umgang mit allen vom Umzug Betroffenen. Das sind sehr viel mehr als diejenigen, die jetzt
tatsächlich umziehen und ihren Wohnsitz verlagern. Das
sage ich ausdrücklich auch den Bonnerinnen und Bonnern, die mich hier nicht nur fair, sondern auch sehr
rheinländisch aufgenommen haben.
({4})
- Das kann ja sein.
Aber das ist nicht der Punkt dieses Antrages, sondern
es geht um die Verteilung von Lasten und Privilegien. In
diesem Fall mache ich Ihnen einen Vorschlag: Lassen
Sie doch einfach zwei der Feiertage, die die Bonner hier
haben, mit umziehen. Die Bonner werden nichts verlieren, und die Berliner werden etwas gewinnen. Bonn und
Berlin werden dadurch noch ein Stückchen mehr zusammenwachsen.
({5})
- Mir reichen auch die anderen beiden Feiertage, die ich
jüngst vorschlug.
Ein letzter Gedanke.
({6})
Heute wurde mehrfach beschworen - das steht auch
in diesem Antrag -, daß sich nichts ändern soll. In acht
Jahren kann sich sehr viel ändern. Wir werden beide
Regionen und ihr Wohl im Blick behalten. Aber glauben
Sie mir: Wir haben sehr viel mehr Erfahrung damit,
wenn Leute jahrelang den Satz vor sich hertragen: Es
soll sich nichts ändern, weil es einmal beschlossen wurde. Wir sollten uns mit dieser schlechten Erfahrung nicht
nach Berlin begeben, und wir sollten mit dieser
schlechten Erfahrung auch die Bonner nicht belasten.
Danke schön.
({7})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Siegfried
Helias von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dem Beitrag von Frau Eichstädt-Bohlig fühlte ich mich eher in
ein Wahlkampflokal versetzt und meinte, ich sei nicht
mehr im Deutschen Bundestag. Ich will versuchen, daß
wir wieder auf die Ebene einer vernünftigen Debatte zurückfinden.
Ich habe vor einiger Zeit in einer großen Wochenzeitung gelesen: „Bonn bleibt unvergessen.“ Das klang
wie ein Nachruf, nach dem Motto: Ruhe sanft. Ich
meine, das hat Bonn nun wirklich nicht verdient. Bonn
ist zweifelsohne eine Stadt mit einer großen Vergangenheit, aber ist viel zu jung und zu aktiv, um seine Bedeutung allein aus dem Geschichtsbuch zu beziehen. Bonn
hat eine sehr lebendige Gegenwart, und - mehr noch Bonn ist eine Stadt mit Zukunft.
Daß diese Zukunft Chance und Herausforderung zugleich ist, hat mein Kollege Norbert Hauser beschrieben.
Im Wettbewerb der Regionen werden vor allem die zu
den Gewinnern zählen, die auf die eigenen Kräfte vertrauen, die Ärmel hochkrempeln und die Herausforderungen der Zukunft aktiv annehmen. Dabei steht Bonn
ganz gut da. Es bleiben ja nicht nur die sechs Ministerien am Rhein; Bonn erlebt den Ausbau zum Nord-SüdZentrum, das in ein internationales Geflecht von Hilfsdiensten, Entwicklungsplanung und friedlichem Interessensausgleich eingebunden wird. Bonn entwickelt sich
zu einem Zentrum der Kommunikationstechnologie, und
Bonn kann zu einem bedeutenden Bildungs- und Kongreßzentrum werden. Zusammen mit Köln und dem
Rhein-Sieg-Kreis bildet Bonn eine starke, wettbewerbsfähige Region.
Wir haben gerade bei der Behandlung des vorigen
Tagesordnungspunktes von regionalen Leitbildern gehört. Hier bildet sich ein neues heraus. Die Konturen
werden immer schärfer. Ich denke, die anstehenden Probleme, die es zweifelsohne gibt, werden wir nur in
einem engen Zusammenspiel von Ländern und nationalen Institutionen lösen.
Wer nun in der Bonner Region glaubt, durch den
Wegzug von Parlament und Regierung einen Machtund Bedeutungsverlust hinnehmen zu müssen, dem halte
ich entgegen, daß Machtaufteilung ein Grundprinzip
unserer föderalen Ordnung ist. Insofern präsentiert sich
die Bundesrepublik Deutschland als moderner föderaler
Staat mit seiner Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn. Sie betont dabei die Zentralgewalt durch
die Stärkung der Regionen und folgt damit einer guten
Tradition.
Lassen Sie mich dafür einige wenige Beispiele nennen. So, wie wir Karlsruhe mit dem Bundesverfassungsgericht in Verbindung bringen und Nürnberg mit der
Bundesanstalt für Arbeit, werden Leipzig als künftiger
Sitz des Bundesverwaltungsgerichts und Erfurt als Sitz
des Bundesarbeitsgerichts ihre bisherige Bedeutung
steigern. Die Verlagerung staatlicher Aufgaben stärkt
also die Regionen und ermöglicht so neue Handlungsfelder und auch ein neues Selbstbewußtsein.
Und die Bonner? Sie können schon darauf vertrauen,
daß wir, die Union, Wort halten. Sie können auch den
Berlinern vertrauen. Ob sie allerdings der Bundesregierung trauen können, da bin ich mir nicht so ganz sicher.
Wer im Zeitalter eines neuen, modernen Arbeitsplatzmanagements noch nicht einmal die Pendlerfrage in den
Griff bekommt, wer noch nie etwas davon gehört hat,
daß es Zeitkonten gibt, daß es Arbeitszeitflexibilität gibt,
und wer an überkommenen wilhelminischen Traditionen
von anno Zopf in der Arbeitswelt festhält, dem kann ich
eigentlich nur zutiefst mißtrauen.
({0})
Wer kleine Dinge schon nicht in den Griff bekommt,
wird auch das Große nicht meistern können.
Zum Abschluß möchte auch ich mich als neues Mitglied des Bundestages bei den Bonnern bedanken: zum
einen persönlich für die freundliche Aufnahme, zum anderen aber auch für den Beginn einer neuen Partnerschaft in den Bereichen Wissenschaft, Kultur, Bildung
und Sport. Gerade im Sport hat es ja ein erstes ermutigendes Zeichen dafür gegeben, wie man Dinge verbinden kann.
({1})
Ich meine die Deutschlandrundfahrt der Radprofis.
({2})
- Beruhigen Sie sich einmal, Männeken.
({3})
Diese Rundfahrt hat ihren Start in Berlin und ihr Ziel in
Bonn. Wenn wir so etwas dauerhaft verankern können,
wäre das etwas Wunderbares.
Ein weiteres zartes Pflänzchen gibt es in der Kulturlandschaft. Am nächsten Wochenende wird beim großen Theatermarkt an der Deutschen Oper Berlin das
Bonner Theater am Ballsaal sein und dort das Soundprojekt „Citysongs“ vorstellen. Ich denke, umgekehrt
wird auch ein Schuh daraus, wenn die kulturelle Reise
wieder an den Rhein geht. Warum soll man nicht Inszenierungen der Bonner Bühnen in Berlin zeigen oder umgekehrt? Das spart zum einen Kosten, zum anderen
schafft es Dinge, die verbinden.
Deswegen: Trennendes sollte der Vergangenheit angehören. Partnerschaftlich werden Berlin und Bonn die
Zukunft meistern.
({4})
Herr
Kollege Helias, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede
im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch.
({0})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Friedhelm Julius Beucher, SPD-Fraktion. Bitte schön.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wort halten ist eine edle Forderung, die nicht nur in der Politik, sondern überall im
täglichen Leben Garant für fairen und vernünftigen Umgang miteinander ist. Insofern werden Sie uns immer auf
Ihrer Seite haben.
Wenn man Ihren Antrag liest, findet man vieles,
dem man zustimmen kann. Doch derjenige, der heute,
am 17. Juni 1999, Wort halten für die Umsetzung der
Bonn/Berlin-Beschlüsse einfordert, muß sich natürlich
fragen lassen, was er vor dem 27. September 1998 selbst
dazu beigetragen hat. Da bahnt sich für die heutige Opposition bereits das Dilemma an, wenn man nicht sagen
will: Es ist ganz schön keck, was Sie als ehemalige Verantwortliche für die Umsetzung der Beschlüsse von
1991 und 1994 hier fordern.
Meinen Sie wirklich, der Bürger sieht und weiß nicht,
was Sie alles der neuen Regierung ungelöst und ungeklärt hinterlassen haben?
({0})
Dazu gehört vor allen Dingen, Herr Westerwelle, auch
Ihr Zaudern und das Ihres Koalitionspartners vor der
letzten Wahl, die neue Bonn-Vereinbarung auf den
notwendigen Weg zu bringen. Sie konnten oder wollten
sich nicht gegen die Betonköpfigkeit des damaligen
Finanzministers durchsetzen.
Die Bonn-Vereinbarung, eine Finanzvereinbarung
über den Bundeszuschuß für die nächsten zehn Jahre,
haben Sie einfach liegenlassen. Sollten sich doch andere
damit herumschlagen.
({1})
Sie wissen ganz genau, daß die Stadt Bonn deshalb
große Probleme hat. Sie wissen, daß es mittel- und langfristige Verträge gibt, die eingehalten werden müssen.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, war kein Ruhmesblatt.
({2})
Die nächste peinliche Hinterlassenschaft ist die immer noch ungeklärte Nutzung des Plenarsaals. Das
Parlament zieht aus, und es gibt keine Entscheidung
darüber, was mit dem Plenarsaal passiert.
({3})
Sie waren es auch, die eine Chance vergeben haben, mit
einem attraktiven internationalen Konferenzzentrum hier
eine unmittelbare Anschlußnutzung zu garantieren. Das
kann man nicht von heute auf morgen. Es ist eine originäre Aufgabe des Bundes, sich darum zu kümmern. Sie
hätten das bereits tun müssen.
Sie haben doch auch 50 Jahre lang das Reichstagsgebäude in Berlin unterhalten. Kann mir daher jemand erSiegfried Helias
klären, wieso der Bund für diesen Plenarsaal nicht zuständig sein soll?
({4})
Wenn man inzwischen die Kurve genommen haben
sollte - wie ich es soeben dem Beitrag des Parlamentarischen Staatssekretärs entnehmen konnte -, so begrüßen
wir das natürlich; denn Weichen müssen zeitig und
richtig gestellt werden, wenn keine unübersehbaren Folgen auf einen zukommen sollen.
In diesem Zusammenhang kann ich auch nicht die unrühmliche Art und Weise verschweigen, in der Sie den
Petersberg verramschen wollten. Das Hotel Petersberg
ist ein wichtiger Ort deutscher Nachkriegsgeschichte.
Herr Kinkel, den ich als Sportler sehr schätze und der im
Sportausschuß ein ganz hervorragender Zu- und Mitarbeiter ist, hat sich in dieser Frage nicht mit Ruhm bekleckert.
({5})
Während der Bund in Berlin Regierungsgebäude der
früheren NS-Regierung und der ehemaligen DDRRegierung selbstverständlich im Eigentum behält und
wieder bezieht, wird mit dem Petersberg, einem baulichen Symbol der erfolgreichen Nachkriegsdemokratie
unseres Landes, ohne Einfühlungsvermögen der Immobilienmarkt gefüttert.
Warum haben Sie es nicht fertiggebracht, ein sinnvolles Konzept für den Petersberg zu erarbeiten? Bonn
soll doch zum Nord-Süd-Zentrum werden.
({6})
Einige UN- und andere internationale Organisationen
sind schon in Bonn oder werden noch kommen. Es geht
hier um einen fairen Ausgleich für die Region, Herr
Westerwelle. Es geht auch darum, daß Ministerien in
Bonn bleiben. Also bietet es sich an, das Gebäude auf
dem Petersberg dafür zu nutzen.
({7})
Unter Bauminister Oswald wurde schließlich der
freundliche Stillstand zur Regierungskunst erhoben. Ich
möchte deshalb etwas über den Schürmannbau sagen.
Der Schürmannbau ist ein besonderes Denkmal für die
Unfähigkeit der vergangenen Regierung. Seit 1993
dümpelte diese Bauruine vor sich hin. Erst seit mein
Kollege, Minister Müntefering, die Dinge in die Hand
genommen hat, laufen die Arbeiten dort wieder auf
Hochtouren.
({8})
- Mein Herz ist ausreichend rot. Deshalb brauche ich
Ihre Hinweise nicht. Es ist auch ganz natürlich, daß Sie
jetzt so reagieren. Es ist ein ganz natürliches menschliches Symptom, daß man dann, wenn man getroffen
wird, laut aufschreit. Ich sehe daran, daß ich getroffen
habe.
Den Liegenschaftsfonds haben Sie jahrelang blokkiert. Unter der Kohl-Regierung fand oft ein unerträgliches Gezerre zwischen der administrativen Ebene der
Bundesministerien und den Gebietskörperschaften der
Region statt. Geradezu als mutig muß ich in diesem Zusammenhang die Tatsache bezeichnen, daß sogar Ihr
Kollege Rüttgers Ihren Antrag unterschrieben hat. Der
gleiche Jürgen Rüttgers hat nichts, aber auch gar nichts
unternommen, als es darum ging, die DARA, die Deutsche Agentur für Raumfahrt, in Bonn zu halten, im Gegenteil: Er hat sie damals ohne Not aufgelöst. Gegenüber der Stadt Bonn vertrat er dann die Auffassung, daß
Bonn doch schon genug bekommen und die DARA
nicht nötig habe.
Auch das Internationale Forschungszentrum CAESAR hat unter Herrn Rüttgers Amtsführung als Forschungsminister einen schweren Rückschlag erlitten.
({9})
Der erste Gründungsrektor sprang ab. Die Suche nach
einem geeigneten Grundstück wurde mehr als dilettantisch betrieben.
({10})
Wenn ich Ihnen jetzt sage - Herr Hauser, hören Sie jetzt
gut zu -, daß der frühere Staatssekretär Stahl die Verantwortung für dieses Desaster hat - der gleiche Stahl,
der jetzt in Bonn gegen die erfolgreiche Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann als CDU-Gegenkandidat antritt -,
dann wissen wir alle, woher der Wind weht.
({11})
Damit finden wir offensichtlich den Schlüssel zu den
Motiven für Ihren Antrag. Hier geht es nicht um Bonn.
Hier geht es nur vordergründig um Wort halten; vielmehr wird hier knallhart Kommunalwahlkampf durch
die Hintertür betrieben.
Zugleich kündigt die CDU damit aus Wahlkampfinteressen den bisherigen regionalen Konsens auf. Es war
wohltuend und hat der Region Bonn mit seinen 1 Million Einwohnern sehr genutzt, daß die politischen Kräfte
- sei es im Landtag, im Bundestag, in den Kreistagen
oder in den Stadt- und Gemeinderäten - hier immer mit
einer Zunge gesprochen haben und im Konsens die Sache Bonns vertreten haben. In den Bundestags-, Landtags- oder Kommunalwahlen wurde kein Kandidat mit
der Frage konfrontiert, ob er für oder gegen Bonn gestimmt hat. Dieses Thema wurde im Wahlkampf nicht
mißbraucht. Von dieser erfolgreichen Strategie für diese
Region hat sich die CDU/CSU offensichtlich verabschiedet, es sei denn, daß Sie jetzt die Chance ergreifen
- ich hoffe, Herr Röttgen, Sie gehen darauf gleich ein -,
konstruktiv mitzuarbeiten und den Antrag, dessen Inhalte sehr wichtig sind, mit uns an die Ausschüsse zu
überweisen, um damit Stück für Stück die Bonn/BerlinVereinbarung umzusetzen und somit zu ihrer Einhaltung
beizutragen.
Den Minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
bitte ich, sich weiter intensiv, wie zum Beispiel gestern
im Haushaltsausschuß, um die Anschlußnutzungen zu
kümmern. In diesem Ausschuß wurde für weitere drei
Projekte eine Förderung von 27,5 Millionen DM aus
dem Ausgleichsfonds beschlossen. In diesem Zusammenhang will ich auch nicht die Bereitstellung des Hauses in der Dahlmannstraße - das Haus der Parlamentarischen Gesellschaft - unerwähnt lassen, in das als erster
Mieter die Willi-Daume-Stiftung einziehen wird.
({12})
Das alles sind kleine, aber sehr wichtige Schritte gegen die Haltung: Hier wird am 2. Juli dieses Jahres der
Schlüssel herumgedreht und dann nach mir die Sintflut.
Das zu verhindern ist eine gemeinsame Aufgabe im Interesse unserer Glaubwürdigkeit und im Interesse der
Menschen dieser Region.
Herzlichen Dank.
({13})
Als
letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der
Kollege Norbert Röttgen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als letzter Redner
in dieser Debatte muß ich Sie schon fragen: Warum tun
Sie sich so schwer, diesem Antrag zuzustimmen? Es ist
ein Antrag, in dem es nach seiner Überschrift, seinem
Inhalt und seinem Ziel nur darum geht, zu sagen, daß
Wort gehalten wird. Warum tun Sie sich so schwer, zu
sagen: Wir sind dafür, daß wir das, was Gesetz ist, auch
einhalten? Welche Passage, welches Wort gefällt Ihnen
in diesem Antrag nicht?
({0})
- Wir haben ein Gesetz verabschiedet. Es geht hier doch
nicht um irgendein Wort, sondern es geht um das Wort
des Parlamentes. Es geht um geltende Gesetze.
Ich kann Ihnen sagen, warum wir diesen Antrag stellen. Wir stellen diesen Antrag, weil wir begründete Anhaltspunkte dafür haben, weil es konkretes Verhalten
dieser Bundesregierung gibt, die geltende Gesetzeslage
nicht einzuhalten.
({1})
- Lieber Herr Gilges, es ist bezeichnend, daß Sie darüber noch nicht einmal informiert sind. Aber ich möchte
gerne die Gelegenheit dieser Debatte nutzen, Sie zu informieren.
Am 3. März hat der jetzt auch in der Debatte anwesende Bundesumweltminister eine Kabinettsvorlage eingebracht, die vorsieht, daß das Bundesamt für Strahlenschutz nicht von Berlin nach Bonn verlegt wird.
Obwohl es eindeutig so im Berlin/Bonn-Gesetz festgeschrieben ist, bringt er einen Antrag ein, der gegen diese
gesetzliche Festlegung gerichtet ist. Das ist Gesetzesbruch, wenn Sie das machen. Das ist Wortbruch Ihrer
Regierung.
({2})
Sie als Kölner Abgeordneter wissen es noch nicht einmal.
({3})
Sie stellen sich hier selber ein tolles Zeugnis aus.
Der auch jetzt in der Debatte anwesende Bundeswirtschaftsminister hat in derselben Kabinettssitzung eine
Vorlage eingebracht, die Berliner Außenstelle der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe von
Berlin nicht nach Bonn, sondern nach Hannover zu verlegen. Auch das steht im eindeutigen Widerspruch zum
geltenden Recht. Das ist das Handeln Ihrer Regierung.
Das ist der Grund dafür, warum wir im Parlament den
Antrag „Wort halten“ einbringen. Ihre Regierung gibt
Anlaß dazu, sie zu ermahnen, Wort zu halten.
Ich hätte mir gewünscht und habe auch erwartet, daß
zumindest die SPD-Fraktion diesem Antrag zustimmt;
denn es geht doch darum, daß auch das Parlament erwarten kann, daß sich die Regierung an geltendes Recht
hält. Liebe Frau Eichstädt-Bohlig, Sie sagen, die Region
Bonn solle dafür dankbar sein, was die Regierung tut.
Meine Damen und Herren, es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, daß sich eine Regierung an geltendes Recht
und Gesetz hält. Aber bei dieser Bundesregierung ist es
nicht selbstverständlich.
Was ich wirklich enttäuschend finde: Wir haben in
dieser Debatte auch die Gelegenheit, für Klarheit zu
sorgen. Sowohl der Staatssekretär, der eben gesprochen
hat, als auch Sie, Herr Beucher, haben nicht für diese
Klarheit gesorgt. In NRW hat es gestern Schulzeugnisse
gegeben. Lieber Herr Staatssekretär, ich muß sagen:
Thema verfehlt, ungenügend. Sie haben keine Silbe zum
Thema gesagt, zu den Fragen, zu denen Sie Unklarheit
geschaffen haben, zu dem es Regierungshandeln gibt,
das gegen die Vereinbarung und gesetzlichen Regelungen gerichtet ist. Sie haben die Chance gehabt, für Klarheit zu sorgen. Sie haben dieser Region diese Klarheit
nicht gegeben.
({4})
Es ist ein im Grunde demokratischer Skandal, daß
sich die Regierung über Gesetze hinwegsetzt. Der Bundesumweltminister sagt in Interviews: Gesetze werden
ohnehin so interpretiert, wie das der jeweiligen Interessenlage gerecht wird. Die Region Bonn, Rhein-Sieg,
Ahrweiler, die einen schwierigen Strukturwandel zu bestehen hat und ihn konzeptionell gestalten will, ist aber
auf Verläßlichkeit seitens der Bundesregierung existentiell angewiesen. Wir brauchen sie wie die Luft zum
Atmen. Darauf haben wir auch einen Anspruch, weil es
gesetzliche Grundlagen gibt. Das ist der Appell dieses
Antrages. Sie haben heute leider diese Klarheit nicht geschaffen.
Wir fordern deshalb ein, daß dem Berlin/BonnGesetz nach Buchstabe und Geist entsprochen wird. Wir
halten es mit dem Geist des Gesetzes für unvereinbar,
wenn die Unterabteilung „Internationale Zusammenarbeit“ verlegt werden soll, obwohl der Politikbereich
Umwelt, Entwicklung, internationale Organisationen für
Bonn vorgesehen ist. Wir halten es für unverständlich,
warum der deutsche Sitz des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, eine binationale Einrichtung mit einem
politischen Bildungsauftrag, in Rhöndorf - der Heimatstadt Konrad Adenauers, der 1963 den deutschfranzösischen Vertrag mit de Gaulle abgeschlossen hat -,
in Frage gestellt wird. Völlig grundlos stellen Sie den
Politik- und Behördenstandort dieser Region in Frage.
Damit schlagen Sie an die Säule, die auch in Zukunft die
Entwicklung dieser Region tragen soll.
Am Schluß dieser Debatte möchte ich die Gelegenheit nutzen, an alle, auch an die Fraktionen, die diese
Regierung tragen, zu appellieren, nicht wegzuschauen,
sondern dafür zu sorgen, daß Gesetze eingehalten werden. Wir sind es uns als Parlament schuldig, daß Gesetze
eingehalten werden und daß kein offener Gesetzesbruch
durch die Regierung betrieben wird. Wir sind dies auch
der Region Bonn schuldig, die den Deutschen Bundestag 50 Jahre lang - das war die erfolgreichste Demokratiegeschichte dieses Landes - beherbergt hat. Die Stadt
und die Region Bonn haben es verdient, daß wir verläßlich, fair und anständig mit ihnen umgehen.
Herzlichen Dank.
({5})
Frau
Kollegin Matthäus-Maier hat den Wunsch nach einer
ganz kurzen Kurzintervention, die ich zulasse.
Herr Kollege Röttgen, Sie fragen, warum wir Ihrem Antrag nicht einfach
zustimmen, sondern ihn an die Ausschüsse überweisen.
Das kann ich Ihnen sagen. In dem Antrag steht vieles,
was wir unterschreiben können. Das gilt gerade für diejenigen von uns, die aus dieser Region stammen; das ist
von Julius Beucher und auch von Achim Großmann
vorgetragen worden. Es gibt bei der Umsetzung des Gesetzes in der Tat Dinge, die uns nicht gefallen: Ich denke
etwa an die 25 Prozent bei Herrn Trittin. Aber ich weise
darauf hin, daß unsere Haushälter weniger Geld zur Verfügung gestellt und dadurch Restriktionen herbeigeführt
haben.
Wir stimmen deswegen nicht mit Ja, sondern für
Überweisung, weil uns mißfällt, daß Sie, statt die traditionelle Übereinkunft der Politiker aus dieser Region
weiterhin zu nutzen, um der Region zu helfen, offensichtlich simplen Wahlkampf machen. Das mögen wir
nicht, und das hilft der Region nicht. Wir werden gemeinsam dafür sorgen, daß die Vereinbarungen eingehalten werden. Das ist unser Ziel; darauf können Sie
sich verlassen. Machen Sie bitte mit und lassen Sie diesen simplen, vordergründigen Wahlkampf!
({0})
Herr
Röttgen zu einer Kurzantwort, bitte.
Ich möchte nur in
aller Kürze dem, was Frau Matthäus-Maier eben sagte,
entgegentreten. Wenn das Parlament die Einhaltung
geltenden Rechts einklagt, darf man das nicht als Wahlkampf diffamieren. Vielmehr sollte man mitmachen;
denn so etwas kann ein Parlament einmütig beschließen.
Zu diesem Konsens sollten wir wieder zurückfinden.
({0})
Ich
schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/1004 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich
an den Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Keine weitere Unterstützung der Atomkraftwerke Khmelnitski 2 und Rovno 4 in
der Ukraine
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter
Grill, Dr. Klaus W. Lippold ({1}), Cajus Julius Caesar, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Festhalten an den Zusagen zum Bau von sichereren Ersatzreaktoren in der Ukraine
- zu dem Antrag der Abgeordneten Angela Marquardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Investitionen der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung in Khmelnitski 2 und Rovno 4
- Drucksachen 14/795, 14/819, 14/708, 14/1143 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Kubatschka
Michaele Hustedt
Eva-Maria Bulling-Schröter
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.
vor.
Ich weise darauf hin, daß wir nach der Aussprache
eine namentliche Abstimmung durchführen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Redner hat der Kollege Horst Kubatschka von der SPDFraktion. - Herr Kubatschka, bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die G-7Entscheidung von 1995 war falsch.
({0})
Wir behandeln in diesem Parlament wieder einmal
eine Altlast der Regierung Kohl.
({1})
Im Kreis der G 7 hatte man dabei weniger die Interessen der Ukraine in den Mittelpunkt gestellt; es ging
vielmehr um die Interessen der Kernenergie-Industrie.
Für die Stillegung von Tschernobyl sollten zwei andere Kernkraftwerke fertiggestellt werden, K 2 und R 4.
Können diese beiden Kernkraftwerke ein Ersatz für
Tschernobyl sein? Diese Frage muß mit einem klaren
Nein beantwortet werden. Nach den bisherigen Vereinbarungen soll Tschernobyl im Jahre 2000 abgeschaltet
werden. Die beiden Kernkraftwerke K 2 und R 4 wären aber frühestens 2004 bis 2006 fertig. Außerdem gibt
es überhaupt keine Garantie, daß Tschernobyl wirklich
abgeschaltet wird. Ich darf daran erinnern: 1991 hat das
ukrainische Parlament beschlossen, 1993 alle Blöcke in
Tschernobyl stillzulegen. Dieser Beschluß wurde wieder
aufgehoben. Es arbeitet immer noch ein Reaktor am Unglücksstandort.
Welche Gründe sprechen dagegen, mit unserer Hilfe
K 2 und R 4 zu Ende zu bauen? Es gibt vier Argumente
gegen den Weiterbau.
Erstens: Fragen der Wirtschaftlichkeit. Laut CDU/
CSU-Antrag sind die Kernkraftwerke zu 80 bis 90 Prozent fertig. Aber der Löwenanteil der Finanzierung muß
noch geleistet werden. Für die restliche Finanzierung
sind 3,4 Milliarden DM notwendig. Wenn schon Neubauten, dann sollten GuD-Kraftwerke gebaut werden.
Diese wären wirtschaftlicher und auch sicherer. Wäre es
nicht vernünftiger, die Kohlekraftwerke zu modernisieren? Sie würden die Abhängigkeit der Ukraine von Gasund Uranimporten verringern. Wichtiger wäre es aber,
wenn die Ukraine das Problem der gigantischen Energieverschwendung durch Effizienzsteigerung bei der
Stromproduktion, beim Stromtransport und bei einer
besseren Energienutzung in den Griff bekäme.
({2})
Zweitens: Gibt es überhaupt einen Bedarf? Ich sage
auch dazu ein klares Nein. Beim Stromverbrauch im
Jahre 1997 war die Kraftwerkskapazität nur noch zu 50
Prozent ausgelastet. Der Strombedarf fällt laufend. Dazu
möchte ich einige Zahlen nennen - um unverdächtig zu
erscheinen, nenne ich Zahlen der OECD und aus der
Zeitschrift „Atomwirtschaft“ -: 1991 betrug die gesamte
Stromerzeugung in der Ukraine 298 Milliarden Kilowattstunden. 75 Milliarden Kilowattstunden kamen aus
Atomkraftwerken, 223 Milliarden Kilowattstunden
stammten aus konventionellen Kraftwerken. 1997 wurden insgesamt 168 Milliarden Kilowattstunden in der
Ukraine erzeugt. Aus Atomkraftwerken kamen 79 Milliarden Kilowattstunden, 89 Milliarden Kilowattstunden
kamen aus konventionellen Kraftwerken. Der Strombedarf ist also dramatisch zurückgegangen - um über 40
Prozent.
Es wurden aber keine Atomkraftwerke stillgelegt, wie
damals in den neuen Bundesländern; vielmehr wurden
die fossilen Kraftwerke Zug um Zug heruntergefahren.
Es besteht also eine große Reserve. Wenn es Probleme
gibt, dann gibt es sie bei der Stromverteilung.
Drittens. Der erzeugte Strom wird also nicht für die
Ukraine benötigt, sondern für den Export. Die Ukraine
hat auch bereits den EVUs Offerten vorgelegt. Ein Preis
von 1,53 Pfennig pro Kilowattstunde wird genannt. Über
eine Gleichstromkoppelung können die Netze jederzeit
verbunden werden.
Viertens: Die Frage der Sicherheit. Für mich ist diese
Frage entscheidend. Wir wissen auf Grund der Erfahrungen mit Tschernobyl: Wir können sehr schnell betroffen sein. Die neuen Reaktoren sind zwar die jüngsten
Kinder einer Reaktorlinie; sie weisen trotzdem gravierende Mängel auf. Die Vertreter der Atomindustrie
glauben, diese gravierenden Mängel durch Nachrüstungen beheben zu können. Doch die Ukraine hat gar nicht
vor, diese Mängel bereits vor Fertigstellung zu beheben.
Später, bei Abschaltzeiten, könnte dann nachgerüstet
werden, so nach der Parole: Erst verdienen wir das Geld
im Westen, und dann könnten wir vielleicht nachrüsten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht auch um
Arbeitsplätze in Deutschland. Bei diesen niedrigen
Energiepreisen würde sich ein Energieproduktionsstandort Deutschland erübrigen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({3})
Als
nächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Minister, wären Sie bereit, jetzt zu sprechen? Dann spricht als nächster Redner Herr Bundesminister
Dr. Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich darf zunächst freundlicherweise um Verständnis bitten. Ich muß die Plenarsitzung spätestens um
19.20 Uhr verlassen, weil ich eine Unterschrift als EURatspräsident im Beisein des Kanzlers und des kanadiVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
schen Premierministers leisten muß, die von der
Rechtslage her nur ich leisten kann. Deswegen muß ich
dann leider weg. Ich bitte um Verständnis und danke für
die Umstellung der Rednerliste.
Die Frage der Fertigstellung der ukrainischen Reaktoren Khmelnitski 2, K 2, und Rovno 4, R 4, ist ein Sachverhalt, der die westliche Staatengemeinschaft schon seit
einigen Jahren beschäftigt, der also von der neuen Bundesregierung im übernommenen Zustand und im Kontext weiter zu bearbeiten ist. Wenn ich von der westlichen Staatengemeinschaft spreche, dann meine ich die
EU und G 7.
Der Europäische Rat hat am 3./4. Juni in Köln zum
Thema K 2/R 4 folgende Schlußfolgerung des Vorsitzes
gezogen, die ich zitiere:
Der Europäische Rat erinnert an die Verständigung
„G 7-Ukraine“ über die Schließung des Kernkraftwerkes Tschernobyl. Er unterstreicht die Notwendigkeit, alles Mögliche für eine Abschaltung im
Jahr 2000 wie vereinbart zu tun, und fordert die internationale Gemeinschaft auf, Maßnahmen zu prüfen, um die Folgen einer Schließung des Kernkraftwerks Tschernobyl für die Ukraine erträglich
zu machen.
Das ist also der Inhalt des EU-Beschlusses, und nun bereitet die Bundesregierung das G-7-Treffen vor. Bevor
ich darauf zurückkomme, gestatten Sie mir, daß ich den
Sachverhalt K 2/R 4 kurz beschreibe, wie er sich der
Bundesregierung darstellt.
Auf der Grundlage der G-7-Ukraine-Verständigung
vom 20. Dezember 1995 sollen die damals noch betriebenen Reaktorblöcke von Tschernobyl bis zum Jahr
2000 geschlossen werden. Das ist bis heute leider noch
nicht vollständig geschehen.
Im Abschnitt II dieses Memorandum of Unterstanding, überschrieben als „Energy Investment Program“,
ist auch vorgesehen, daß zwei Kernkraftwerke mit westlicher Unterstützung zu Ende gebaut werden sollen.
Der Stand zur Zeit ist, daß die Voraussetzungen für
die vom Westen gegebene Finanzierungszusage geprüft werden. Zuständig für die Prüfung ist die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Diese
Prüfung der Kreditvoraussetzungen ist weit vorangeschritten, aber - ich sage es bewußt so - noch nicht abschließend durchgeführt. Insofern ist der Zeitpunkt noch
nicht reif, um eine absolut definitive Entscheidung zur
Fertigstellung der im Bau befindlichen Reaktoren zu
treffen, da die Frage der internationalen Finanzierung
eben noch nicht abschließend geklärt ist. Das wird bis
September erwartet.
Folglich können wir vor diesem Hintergrund auf dem
G-7-Gipfel jetzt in Köln noch keine definitive Entscheidung zur Kreditvergabe für die Fertigstellung treffen.
Aber wir können uns auch nicht in eine Position begeben, die als Absage an das Projekt verstanden werden
kann, denn was die kerntechnische Seite angeht, ist die
Prüfung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung abgeschlossen. Damit meine ich die Wirtschaftlichkeit, die Umweltverträglichkeit und insbesondere auch die nukleare Sicherheit.
All diese Voraussetzungen sieht die Europäische
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung definitiv als
gegeben an. Zu prüfen bleibt die wirtschaftliche Zuverlässigkeit, das heißt die Kreditwürdigkeit von Energoatom als Betreiber. Dazu wurde am 21. Mai dieses Jahres ein Aidemémoire abgestimmt, in dem Voraussetzungen für Kreditwürdigkeit mit der Ukraine vereinbart
wurden. Dazu gehört insbesondere, daß die Bareinnahmen des Betreibers erhöht werden müssen und daß weitere Fortschritte bei der Privatisierung der Stromverteilungsunternehmen zu erzielen sind. Die Europäische
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung wird demnächst die abschließenden Verhandlungen mit der
Ukraine zur Sicherstellung der Kreditwürdigkeit des
Kreditnehmers beginnen. Es sei - nicht ganz nebenbei
- angemerkt, daß vorherige politische Beschlüsse zur
definitiven Kreditvergabe die Positionen der Bank im
Rahmen dieser - so will ich es einmal formulieren kaufmännischen Verhandlungen natürlich erheblich
schwächen.
Generell ist festzustellen: Würde die Bundesregierung jetzt ein negatives Signal empfehlen, würde sie sich
innerhalb der G 7 isolieren müssen und von der EUWillensbildung entfernen, abgesehen von Schadwirkungen auf das gute Verhältnis zur Ukraine. Genau
diese Isolierung und solche Schäden will die Bundesregierung nicht.
({0})
Ich bitte Sie, einige nähere Angaben zur Situation
dieses ukrainischen Projektes ebenso nüchtern zu sehen
und zu werten, wie dies die Bundesregierung tun muß.
Die Reaktoren werden von der Ukraine - so unser Wissensstand - unabhängig von unserer Entscheidung so
oder so fertiggestellt, nur daß dies bei Verweigerung
westlicher Unterstützung mit russischer Technik geschehen würde und nicht mit westlicher Sicherheitstechnik, gleichgültig, ob sie von Framatome/Siemens oder
von anderen Anbietern stammt. Die Frage, ob die Reaktoren zu Ende gebaut werden, stellt sich also nicht. Es
stellt sich vielmehr die Frage, wie, sprich: wie sicher die
Reaktoren später im Betrieb sein werden.
({1})
Die Bundesregierung hat diese Beurteilung von
der Vorgängerregierung übernommen. Bundeskanzler
Schröder seinerseits hat im März dieses Jahres diesen
Sachverhalt ausführlich mit dem ukrainischen Präsidenten erörtert - mit dem Ergebnis, daß der Sachverhalt unverändert so ist.
({2})
Hernach hat das Kanzleramt am 6./7. Mai dieses Jahres
nochmals in der Ukraine zur Vorbereitung des G-7Gipfels etliche Gespräche auch mit dem Präsidenten geführt, um alternative energiewirtschaftliche Varianten
anzubieten. Aber die ukrainische Haltung ist unverändert auf den Fertigbau der Reaktoren fixiert.
Gelegentlich höre ich, diese Verhandlungen seien
nicht ernsthaft geführt worden. Ich will das hier nicht
kommentieren, da sich solche unbegründeten Vorwürfe
demnächst ohnehin von alleine erledigen. Denn Anfang
Juli dieses Jahres wird in Kiew ein deutschukrainischer Gipfel stattfinden, an dem auch die Umwelt- und Wirtschaftsressorts beider Länder teilnehmen
werden. Dabei werden wir ein weiteres Mal mit der
Ukraine über die Gesamtproblematik sehr ernsthaft beraten, und zwar mit dem nachdrücklichen Ziel, der
Ukraine eine sinnvollere Alternative zur Rekonstruktion der Energieversorgung anzubieten.
({3})
So kann ich mich als Gipfelteilnehmer persönlich davon
überzeugen, welche Haltung die Ukraine hat. Das gilt
ebenso für alle anderen Teilnehmer des Gipfels. Ich
werde Ihnen berichten, zu welchem Gesprächsergebnis
wir gekommen sind bzw. ob ich das Gesprächsziel erreicht habe. Auch das gilt selbstverständlich für alle
Teilnehmer dieses Gipfels. Die Bundesregierung fährt
zu diesem Gipfel auf der Basis einer festen freundschaftlichen Verbundenheit mit der Ukraine, die wir
pflegen und ausbauen wollen.
Die weitere Entwicklung der Ukraine liegt nicht zuletzt in unserem eigenen Interesse. Für die Ukraine ist
eine gesicherte und leistungsfähige Stromversorgung
unverzichtbare Voraussetzung. Hier liegen vitale Interessen der Ukraine für eine erfolgreiche Energiepolitik;
denn das ist der Schlüssel für wirtschaftliche und politische Selbständigkeit in diesem Land.
Vor diesem Hintergrund mag man verstehen, daß die
Ukraine eine Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen nicht will, obwohl die Erdgasverstromung eine wirtschaftlich gute und sinnvollere Alternative wäre. Ich
werde das nochmals ansprechen, habe aber auch die Absicht, die Lage des Bergbaus in der Ukraine und die
Wandlung von Kohle in Strom zu erörtern.
({4})
Die Ukraine hat große Kohlereserven und benötigt genau das, was wir in der Bundesrepublik haben: hochmoderne Bergbautechnik. Auch die Frage der Umrüstung
von Kohlekraftwerken in Richtung Einsatzmöglichkeiten ukrainischer Kohle will ich ansprechen, da dies
ebenso dem ukrainischen Autarkiedenken voll entspricht.
({5})
Ich erwähne das alles, um Ihnen zu versichern, daß
die Bundesregierung die Gespräche über die Zukunft der
ukrainischen Energieversorgung ebenso ernsthaft wie
umfassend führen will, auch eingedenk der Tatsache,
daß wir unsere deutschen Hilfen und Kredite aus rein
deutscher Sicht lieber für nichtnukleare Strategien geben
würden.
({6})
Aber eines sage ich ebenso klar: Als Alternative zur
Fertigstellung der Reaktoren kommt nur eine sachlich
tragfähige Lösung in Betracht, die sowohl die Ukraine
als auch die G-7-Partner und die EU überzeugt.
({7})
Das ist die Meßlatte für unsere Gespräche Anfang Juli.
Ich mache ich keinen Hehl daraus: Die Meßlatte ist hoch
gelegt. Wir müssen sie so hoch auflegen, denn wir müssen die bisherige feste Haltung der Ukraine zur Kenntnis
nehmen, daß Tschernobyl nur geschlossen wird, wenn
die Reaktoren mit westlicher Hilfe zu Ende gebaut werden. Wir haben auch die feste Willensbildung unserer
westlichen Partner zu respektieren.
Was die Bundesregierung in den Gesprächen erreichen will, habe ich gesagt. Was sie auf jeden Fall vermeiden will, sage ich jetzt: Erstens. Die Bundesregierung will und darf keine Verantwortung dafür übernehmen, daß Tschernobyl nicht geschlossen wird.
({8})
Zweitens. Die Bundesregierung will keinen außenpolitischen Schaden durch einseitigen Ausstieg aus einem
jahrelang im Einvernehmen mit der Bundesrepublik verfolgten Konzept der G-7-Staaten verursachen.
Soweit die heute vorliegenden Anträge der Fraktionen die Bundesregierung auffordern, den gesamten
Sachverhalt K 2/R 4 mit der Ukraine nochmals mit dem
Ziel durchzusprechen, nichtnukleare Strategien zu
empfehlen und möglichst im Gespräch durchzusetzen,
darf ich Ihnen versichern: Wir werden uns um dieses
Anliegen der Abgeordneten äußerst bemühen; denn es
ist auch das Anliegen der Bundesregierung.
({9})
Ich füge aber hinzu: Wir sollten auch damit rechnen,
daß die bevorstehenden Gespräche trotz intensivster
Bemühungen leider keine Wende bewirken. Wenn ich
Ihre Anträge in diesem Sinne verstehe, dann bitte ich
auch um Verständnis dafür, daß die außenpolitische
Handlungsfähigkeit der Bundesregierung, namentlich
auch des Herrn Bundeskanzlers, unabhängig vom Ausgang der Gespräche keinen Schaden nehmen darf.
Vielen Dank.
({10})
Der
Kollege Kurt-Dieter Grill ist jetzt anwesend. Ich erteile
ihm das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin davon ausgegangen, daß
das stattfindet, was jetzt stattgefunden hat. Ansonsten
wäre ich sicherlich im Plenarsaal gewesen. Ich hatte nur
die außerordentlich gute Gelegenheit, mir noch eine
Pressemeldung von 18.15 Uhr anzueignen, der zu entnehmen ist, daß der ukrainische Präsident Kutschma
deutlich macht, daß die Ukraine auf der Fertigstellung
der K 2/R 4-Reaktoren besteht. Damit könnte man eigentlich die Debatte abschließen; denn das, was der
Bundeswirtschaftsminister hier gesagt hat, ist eine Bestätigung für all das, was die Union bisher in der Sache
selber vorgetragen hat,
({0})
und straft diejenigen Lügen, die - wie Frau Hustedt nicht müde werden, der alten Bundesregierung in übler
Nachrede sozusagen eine Erpressung der Ukraine an den
Hals zu reden.
Wenn in dieser Debatte unter dem Strich etwas zu
konstatieren ist, dann ist es dies: Abgesehen davon, daß
Sie außenpolitischen Schaden angerichtet haben, ist diese Debatte sinnlos. Ziehen Sie den Antrag zurück; denn
eines ist klar - nach dem, was der Bundeswirtschaftsminister heute hier und gestern im Wirtschaftsausschuß gesagt hat, und nach dem, was Herr Trittin, Herr Fischer,
Herr Schröder und Herr Hombach am Montagabend besprochen haben -: Wenn die Ukraine auf der Fertigstellung der Reaktoren besteht, dann wird diese Bundesregierung die Kredite im September zugeben. Deswegen
sage ich Ihnen: Ziehen Sie den Antrag zurück! Sie haben
diesem Land Schaden zugefügt und führen uns eine
Show vor, weil es um die Innenpolitik der Grünen und
nicht um die Energiepolitik und die Außenpolitik der
Bundesregierung dieses Landes geht.
({1})
In Anbetracht dessen, was der Bundeswirtschaftsminister hier gesagt hat, kann ich nur festhalten: Entweder
sagt er die Wahrheit oder Herr Trittin. Es kann nur eines
von beiden stimmen;
({2})
denn das, was Herr Müller hier vorgetragen hat, ist in
der Sache eine ganz andere Darstellung als das, was der
Bundesumweltminister im Umweltausschuß des Bundestages vorgetragen hat.
({3})
Ich sage sehr deutlich: Sie, Frau Hustedt, haben öffentlich behauptet, die Ukraine habe immer Gaskraftwerke gewollt und sei erpreßt worden, und die Möglichkeit von Gaskraftwerken sei nie geprüft worden. Ich
sage in diesem Parlament noch einmal öffentlich: 1995
- unter dem Vorsitz der Kanadier - ist eine Least-costPlanung gemacht worden, unter Einbeziehung der Möglichkeit von Gaskraftwerken. Es hat sich herausgestellt,
daß Gaskraftwerke nicht tragfähig wären, insbesondere
unter dem Gesichtspunkt, daß die Ukraine darauf bestehen mußte, daß die Gaslieferungen mit westlichen Krediten bezahlt werden. Dies konnte keiner auf sich nehmen. Insofern kann ich nur sagen: Nach dem Theater,
das Herr Trittin am Anfang dieses Jahres mit Frankreich
und England angerichtet hat, ist er wie ein Elefant im
Porzellanladen ein weiteres Mal durch die Außenpolitik
gewandert und hat außer Schaden nichts hinterlassen.
({4})
Was hier abläuft, meine Damen und Herren, ist vor
allen Dingen auch deswegen schäbig, weil nicht nur in
der hochsensiblen Frage der Stillegung von Tschernobyl, sondern auch in der Frage, wie ich mit osteuropäischen Kernkraftwerken umgehe, die Zusammenarbeit
mit den Franzosen und insbesondere mit den Russen eine sehr wichtige Angelegenheit ist, weil wir nur mit den
Russen gemeinsam die Reaktoren, die dort noch problematisch sind, mit der richtigen Sicherheit ausstatten
können. In dem Sinne kann ich an dieser Stelle eigentlich nur festhalten: Am 30. März hat Herr Hombach,
wenn ich richtig informiert bin, den Franzosen zugesichert, daß das mit den G 7 läuft. Herr Gretschmann hat
ja in Kiew verhandelt. Sie wissen ganz genau, was die
Ukraine will; es kann kein Zweifel darüber bestehen. Insofern kann ich nur sagen: Sie haben ein Chaos angerichtet, und dafür ist der Bundeskanzler höchstpersönlich verantwortlich.
({5})
Denn es macht doch keinen Sinn, meine Damen und
Herren, daß Sie der Ukraine, daß Sie der G 7 sagen, wir
machen das, und anschließend in diesem Parlament eine
Antragslage zulassen,
({6})
von der Sie genau wissen, daß Sie sie nicht erfüllen
werden. Deswegen sage ich: Sie haben hier Mißbrauch
des Parlaments betrieben, und Sie tun der Sache selber
keinen Gefallen.
Was ich besonders schäbig finde - das will ich Ihnen
in aller Deutlichkeit sagen -, ist die Art und Weise, wie
Staatssekretär Baake sich ins „Frühstücksfernsehen“
stellt und die ukrainischen Menschen für unfähig,
dumm, faul und was weiß ich nicht alles erklärt.
({7})
In diesem Stil werden Sie doch nicht einem souveränen
Staat eine Änderung seiner Politik vorschreiben können.
Sie sollten zuerst Benehmen lernen und sich dann in die
Außenpolitik begeben.
({8})
Ich sage Ihnen mit allem Nachdruck: Sie haben die
Bürger in diesem Land hinters Licht führen wollen. Nur,
erstens haben Lügen kurze Beine. Zweitens. Die Kernkraftwerke werden auch ohne Sie fertiggebaut, dann allerdings möglicherweise nicht mit deutscher Sicherheit.
Und das dritte: Sie, meine Damen und Herren, haben das
getan, was Sie der alten Regierung im Grunde genommen vorgeworfen haben. Sie haben gedroht: Es gibt kein
Geld, wenn ihr nicht das tut, was wir wollen. Wenn es
den Vorwurf der Erpressung gibt, Frau Hustedt, dann
fällt er heute auf Sie zurück, weil mit dem Vortrag von
Herrn Müller hier deutlich wird, daß die alte Bundesregierung, die im übrigen seit 1992 dafür gekämpft hat,
daß es überhaupt zur Stillegung von Tschernobyl kommt
- was ja immer eine Ihrer Forderungen gewesen ist -,
sauber und fair mit der Ukraine umgegangen ist.
Ich kann nur hoffen, daß das gilt, was der Bundeswirtschaftsminister hier am Schluß gesagt hat: daß man
mit der Ukraine fair, freundschaftlich und im partnerschaftlichen Sinne umgeht. Kehren Sie zu diesem Stil
zurück! Ziehen Sie den Antrag zurück! Wir brauchen
ihn nicht, weil sich niemand auf dieser Bank an das halten wird, was Sie heute hier beschließen.
({9})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
für unseren Antrag eine große Unterstützung in der Bevölkerung, auch von Gruppen, die häufig nicht auf unserer Seite stehen.
({0})
Zum Beispiel hat der Bund der Steuerzahler in einer
Presseerklärung erklärt, mehrere Gutachten hätten ergeben, daß eine Fertigstellung ökonomischer Unsinn sei.
Und dann wird ausgeführt, wenn man das Projekt verhindere, spare der deutsche Steuerzahler rund 810 Millionen DM.
({1})
Ich sage eines einmal ganz deutlich: Heute steht vor
allem Ihre Politik, die Politik der alten Bundesregierung,
auf dem Prüfstand. Denn es war Ihre Politik, die dieses
Projekt so weit gebracht hat. Es war die Politik von Rexrodt, von Waigel, von Merkel und Kohl. Und jetzt
kommt eben ans Licht der Öffentlichkeit, wozu eine
ideologisch verblendete CDU und F.D.P. fähig wären.
Nur um für Siemens Absatzmärkte zu schaffen, die sie
in Westdeutschland nicht mehr haben, müssen also in
Osteuropa Kernkraftwerke gebaut werden.
Sie verteidigen sich nicht - in keinem Ausschuß und
auch hier nicht - gegen die Vorwürfe, daß die Sicherheitsstandards dieser AKWs absolut unzureichend sind,
daß diese AKWs in keinem westeuropäischen Land genehmigt würden. Sie verteidigen sich auch nicht gegen
den Vorwurf, daß Sie die Ukraine schnöde erpreßt haben.
({2})
- Herr Grill, Sie behaupten immer, das wäre gelogen.
Ich habe Ihnen die Originalquellen mitgebracht, und ich
werde sie Ihnen gleich überreichen. Unter anderem hat
Präsident Kutschma in einer Rede am 11. Mai 1998 an
die Adresse von Tony Blair gesagt: Das Vorhaben, diese
Kraftwerke fertigzustellen, wurde von den westlichen
Partnern als Alternative zu dem ukrainischen Vorhaben
eines Gas- und Dampfturbinenkraftwerks vorgeschlagen.
Mir liegen die Originalzitate vor; ich werde sie Ihnen
nachher übergeben.
Sie verteidigen sich auch nicht gegen den Vorwurf
- dazu habe ich jedenfalls bisher kein Wort von Ihnen
gehört -, daß diese AKWs ökonomisch absolut unsinnig
seien. Auch zu diesem Punkt möchte ich ein Zitat aus
einem Gutachten der EBRD von 1997 anführen, in dem
man zu dem Schluß kommt:
K2/R4 ist nicht wirtschaftlich. Die Fertigstellung
dieser Reaktoren bedeutet derzeit nicht die produktivste Verwendung von 1 Milliarde US-Dollar.
Eine erst kürzlich in die Öffentlichkeit gelangte
streng geheime Studie der Europäischen Investitionsbank besagt:
Ein erhebliches Ausmaß an Unsicherheit ist mit
mehreren Schlüsselfaktoren des Projektes verbunden. Dies führt zu einem großen finanziellen und
wirtschaftlichen Risiko, bezogen auf den Energiesektor.
Das ist Ihre Politik, die ökologisch und finanziell
nicht vertretbar ist. Sie haben die Ukraine zu diesem
Projekt gezwungen.
({3})
Das einzige Argument, das Sie zur Verteidigung Ihrer
Politik nennen, ist die Frage der außenpolitischen
Verläßlichkeit. Ich finde, diese Verläßlichkeit ist ein
hohes Gut; man muß sorgsam damit umgehen. Aber es
ist durchaus so, daß das Memorandum of Understanding
- alle Gutachten zugrunde gelegt - keine vertragliche
Verpflichtung ist, sondern lediglich eine Absichtserklärung, in der zudem auch noch steht, daß die finanziell
günstigste Lösung gesucht werden soll. Dieses sind nun
einmal nicht die Atomkraftwerke, sondern Varianten
wie Gaskraftwerke, Energieeinsparmaßnahmen oder andere Möglichkeiten.
({4})
Daher sage ich: Wir erfüllen mit unseren Vorgaben
das Memorandum of Understanding mehr als Sie mit
Ihrer Politik.
Ich halte die außenpolitische Verläßlichkeit nicht
immer für einen ausreichenden Grund, eine absolut unsinnige Politik zu machen, mit der Steuergelder für
ökologisch schädliche Projekte zum Fenster hinausgeschmissen werden. Sie sind verantwortlich dafür, daß es
überhaupt so weit gekommen ist. Wir werden versuchen
- auch wenn es fast schon zu spät ist -, dieses Projekt
noch zu ändern.
Alle Argumente, zum Beispiel das Argument, daß die
Atomkraftwerke schon zu 80 Prozent fertiggestellt seien,
sind absolut falsch. Es handelt sich vielmehr um einen
Rohbau, der seit 15 Jahren Wind und Wetter ausgesetzt
ist - vergleichbar mit dem Schürmannbau. Die Weltbank sagt eindeutig: Es ist billiger und besser, gleich neu
zu bauen, anstatt solche Projekte zu Ende zu führen.
({5})
Es ist auch falsch, zu sagen, der Weiterbau von
K2/R4 werde den Reaktor von Tschernobyl ersetzen
können. Die Fertigstellung dieser beiden Atomkraftwerke dauert vier bis sechs Jahre. Tschernobyl soll aber im
Jahre 2000 abgeschaltet werden. Das zeigt sehr deutlich,
daß diese Projekte nicht als Ersatz für Tschernobyl dienen können. Alle anderen Alternativmaßnahmen sind
aber in wesentlich kürzeren Zeiträumen zu realisieren.
({6})
Ich möchte dem sehr geschätzten Kollegen Werner
Müller widersprechen: Es ist nicht richtig, zu sagen,
Rußland baue so oder so zu Ende. Selbst die Ukraine hat
sehr deutlich gemacht, daß sie nicht damit rechnet, daß
Rußland diese AKWs zu Ende baut, wenn es kein Geld
hat. Es ist also falsch, zu sagen, die AKWs werden so
oder so gebaut.
Auch das Argument, daß die Ukraine AKWs
braucht, um von Rußland unabhängig zu sein, ist falsch.
Wenn die Ukraine Kernkraftwerke betreibt, ist sie in hohem Grade von Rußland abhängig, weil die Brennstäbe
und das Know-how aus Rußland kommen; auch die Entsorgung muß in Rußland erfolgen. Rußland hat zum
Beispiel die Preise für die Brennstäbe in der letzten Zeit
um 300 Prozent erhöht. Das zeigt, daß sich die Ukraine
in finanzieller Abhängigkeit von Rußland befindet,
wenn sie Atomkraftwerke betreibt. Besser wäre es, über
eine entsprechende Unabhängigkeit zu reden. Auf die
Kohlekraftwerke gehe ich gleich noch ein.
({7})
All Ihre Argumente zur Verteidigung Ihrer damaligen
Politik sind also absolut an den Haaren herbeigezogen.
Sie wollen damit nur verdecken, daß Sie damals der
Atomindustrie bewußt und absichtlich mit deutschen
Steuergeldern unter die Arme greifen wollten. Das war
der einzige Grund, warum Sie diese Politik betrieben
haben.
({8})
Den tollsten Vorwurf in dieser Debatte habe ich
allerdings von Frau Flach von der F.D.P. im Umweltausschuß gehört. Sie hat uns doch glatt vorgeworfen, wir
Abgeordnete hätten die Frechheit, eine andere Position
zu vertreten als die Bundesregierung. - Hört, hört! Ich
empfinde es als eine Sternstunde des Parlaments, daß die
Änderung dieser Politik von den Fraktionen dieses Parlamentes ausgegangen ist. Wir als Parlamentarier sind
im Gegensatz zu Ihnen von der F.D.P. und der
CDU/CSU durchaus selbstbewußt. Wenn Sie während
Ihrer Regierungszeit immer gekuscht haben, dann mag
das Ihrem Verständnis von Politik entsprechen. Wir
wollen, daß das Parlament Politik macht. Ich bin deswegen sehr stolz darauf, daß wir das schon ein Stück weit
erreicht haben.
({9})
Ich danke den SPD-Kollegen sehr ausdrücklich für die
konstruktive Zusammenarbeit und auch für die Ausdauer, die sie dabei mit uns zusammen an den Tag gelegt
haben.
({10})
Als ersten Zwischenerfolg werte ich es, daß es uns
gelungen ist, eine Festlegung im Abschlußdokument für
den Kölner G-8-Gipfel zu verhindern. Das eröffnet uns
jetzt den Spielraum für Verhandlungen. Die Zeit ist auf
unserer Seite. Die EBRD ist gegenüber diesem Projekt
außerordentlich skeptisch. Deswegen wollte sie eine
weitere Festlegung der G-7, denn sie wollte nicht den
Schwarzen Peter für dieses unsinnige Projekt haben. Ich
denke, daß wir durch die Absetzung dieses Punktes von
der Tagesordnung des G-7-Gipfels einen Impuls für die
internationale Debatte gegeben haben. Sie wissen, daß in
anderen Ländern - in Großbritannien, in Italien, in Slowenien, ja selbst in Frankreich - auch auf Grund der
deutschen Diskussion jetzt die Debatte über die Sinnhaftigkeit dieses Projektes beginnt. Ich denke, daß wir
mit der Absetzung dieses Punktes von der Tagesordnung
einen kleinen Zwischenerfolg auf dem Weg zu dem Ziel
erreicht haben, diese Projekte zu verhindern.
({11})
Jetzt ist es Aufgabe - das hat Dr. Werner Müller
deutlich gemacht -, mit der Ukraine zu sprechen. Wir
werden die Reise der Bundesregierung in die Ukraine
sehr sorgfältig mit vorbereiten und aufmerksam begleiten. Der ursprüngliche Wille, in der Ukraine Gaskraftwerke zu bauen, ist dafür ein Ansatzpunkt. Aber auch
die Variante, Energieeinsparung zu finanzieren, ist ein
guter Weg, um Alternativen für den Ersatz von Tschernobyl zu schaffen.
Ich möchte als letztes noch eine dritte Variante ins
Gespräch bringen, nämlich die Frage von Kohlekraftwerken. Ich habe heute mit ABB telefoniert. Sie haben
in Mannheim ein Verfahren entwickelt, um Kohlekraftwerke so zu modernisieren, daß diese nicht mehr russische Kohle verarbeiten müssen, sondern ukrainische
Kohle verarbeiten können und einen höheren Wirkungsgrad aufweisen.
Zunächst könnte man die Modernisierung von
Bushtin planen. Das ist in der Ukraine auch im Gespräch. Würde man diese Effizienzsteigerung durchsetzen, könnte man allein durch die Modernisierung dieses
einen Kohlekraftwerkes 720 Megawatt neu schaffen,
wobei man gleichzeitig einen großen Beitrag zum Klimaschutz leisten würde.
({12})
Das heißt, durch die Modernisierung von drei Kohlekraftwerken in der Ukraine würden wir den Ersatz für
Tschernobyl zustande bringen. Dieses Verfahren ist billiger, als wenn wir die Atomkraftwerke zu Ende bauten.
Auch Siemens hat für einen anderen Typ von Kohlekraftwerken, für Braunkohlekraftwerke, in der Ukraine
ein ähnliches Verfahren entwickelt und wartet auf die
Möglichkeit, dieses Projekt umzusetzen.
Sie wissen genau, daß die Ukraine große Schwierigkeiten bei der Rückzahlung der Kredite hat - deswegen
sind alle Hermes-Bürgschaften für die Ukraine zur Zeit
auf Eis gelegt - und daß daher bei einer Finanzierung von
K2/R4 alle anderen Projekte nicht finanziert werden
könnten. Das heißt, sie stehen gegeneinander, man muß
sich also entscheiden. Ich meine, das Setzen auf eine Modernisierungsstrategie bei den Kohlekraftwerken wäre
eine Alternative zur Beendigung des Baus von K2/R4,
über die man mit der Ukraine sprechen sollte. Damit ließen sich fünf Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Die erste Fliege wäre: Die Ukraine hätte ausreichend
Energie.
Die zweite Fliege wäre: Die Ukraine würde - im Gegensatz zum Bau von K2 und R4 - autarker.
Die dritte Fliege wäre: Die Betriebe in der Ukraine
müßten weniger für das aus ihrer Sicht teure Erdgas bezahlen. Damit wäre die gesamte ukrainische Schwerindustrie wettbewerbsfähiger.
Die vierte Fliege wäre: Der Westen hätte seine Zusage im Memorandum of Understanding eingehalten.
Die fünfte Fliege wäre: Das wäre auch ein nicht unbedeutsamer Beitrag zum Klimaschutz.
Ich finde es schon unverantwortlich, daß Sie solche
Varianten damals, ganz am Anfang, als der Prozeß noch
offen war, nicht diskutiert haben. Ich freue mich deswegen sehr, daß die Bundesregierung mit diesem Projekt
als Alternative in die Ukraine fährt. Ich hoffe, daß wir
die Ukraine überzeugen und ihr helfen können,
Tschernobyl abzuschalten und statt dessen sinnvolle Lösungen umzusetzen.
Vielen Dank.
({13})
Als nächste Rednerin spricht für die F.D.P.-Fraktion die Kollegin Ulrike
Flach.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Frau Kollegin Hustedt, manchmal frage ich
mich bei Ihren Reden, von welcher Regierung Sie
eigentlich sprechen. - Aber lassen Sie mich ganz ohne
Polemik sagen: Manchmal ist es in der Hektik des politischen Betriebes schon sehr nützlich, einmal einige Minuten innezuhalten und sich noch einmal zu überlegen,
warum wir heute das Ganze diskutieren und was wir erreichen wollen.
Das Ziel, das wir in der Ukraine erreichen wollen
- da, denke ich, sind wir alle hier uns einig -, ist die Abschaltung von Tschernobyl. Tschernobyl ist ein weltweites Symbol für eine Katastrophe, deren Auswirkungen die betroffenen Menschen und ihre Kinder immer
noch spüren. Frau Hustedt, nicht der Heilige Krieg gegen die Kernkraft war der Anlaß für das Memorandum
of Understanding und die Kreditzusagen der G 7 für den
Bau von Ersatzreaktoren, sondern die Abschaltung dieses Unglücksreaktors.
({0})
Meine Damen und Herren, keiner von uns kann behaupten, daß bei der Umgestaltung des Energiesektors
in der Ukraine alles richtig gemacht worden sei. Seit
der Loslösung der Ukraine von der Sowjetunion haben
sich wichtige Bedingungen geändert. Die ukrainische
Wirtschaft ist weitgehend zusammengebrochen. Der
Energieverbrauch ist dramatisch zurückgegangen. Für
Gas und andere Rohstoffe sind hohe Schulden, zum Beispiel bei Rußland, aufgelaufen, so daß eine regelmäßige
Lieferung nicht mehr stattfindet. Auch für die bestehenden Kraftwerke sind massive Erhaltungsinvestitionen
notwendig.
Meine Damen und Herren, Herr Minister Trittin hat
ernsthafte Zweifel daran geäußert, daß die Ukraine in
der Lage sei, den sicheren Betrieb der Reaktoren zu gewährleisten. - Wie wir - erstaunt - erfahren haben, sieht
Herr Müller das völlig anders. - Auch wenn es so sein
sollte, löst eine Nichtgewährung der Kredite diese
komplexen Probleme an keiner Stelle.
({1})
Sie fügt nur weitere hinzu: Sie schafft zwei zu 80 Prozent fertiggestellte Bauruinen, die keinen Strom liefern,
sie gefährdet die Abschaltung von Tschernobyl, und sie
gibt unserer Außenpolitik geradezu rambohafte Züge.
Hinzu kommt der übliche Koalitionsstreit auf der
Regierungsebene, den wir eben sogar im Plenum erlebt
haben. Herr Trittin spricht sich in der „Welt am Sonntag“ inbrünstig für Gaskraftwerke aus. Herr Hombach ist
in der gleichen Ausgabe der Meinung, daß „die Ukraine
ein Gaskraftwerk als Ersatz für K2/R4 nicht akzeptieren wird“; Herr Grill hat uns eben vorgelesen, daß Herr
Kutschma dem zustimmt. Herr Staatssekretär Baake
macht unseren osteuropäischen Nachbarn im Frühstücksfernsehen gar zu einer Bananenrepublik, während
Herr Minister Müller im Wirtschaftsausschuß und gerade eben hier vor Ihnen die Ihnen vorliegende F.D.P.Meinung vertritt und kaltschnäuzig das bekannte Schauermärchen von Kollegin Hustedt zurückweist, die
Ukraine sei von der Regierung Kohl so lange stranguliert worden, bis sie dem Bau von Kernkraftwerken zustimmte.
({2})
Kanzlerberater Gretschmann erklärt, wenn sich
Deutschland aus der Finanzierung zurückziehe, werde
die Ukraine Tschernobyl nicht vom Netz nehmen, während Trittin-Berater Renneberg meint, die neuen Kernkraftwerke seien aus Sicherheitsgründen nicht zu verantworten.
Meine Damen und Herren, ich als Oppositionspolitikerin könnte mich freuen, wenn es bei Ihnen im Kabinett, wie wir im Ruhrgebiet so schön sagen, wieder einmal wie bei Hempels unterm Sofa zugeht. Ich könnte
mich auch freuen, wenn die Fraktionen von SPD und
Grünen ihre eigene Regierung in den Regen stellen.
Aber haben Sie einmal darüber nachgedacht, wie dieses
Chaos im Ausland, bei unseren G-7-Partnern und vor
allen Dingen in der Ukraine wirkt?
({3})
Wenn Ihre Fraktionen im Gegensatz zur eigenen Regierung Signale der Europäischen Bank für Wiederaufbau haben, daß die derzeit laufende Kreditprüfung das
Projekt platzen läßt, wenn Sie Signale der Ukraine haben, daß sie den Kernkraftweg nicht mehr weitergehen
will oder kann, wenn Sie das Einverständnis der G 7 zu
einem Kurswechsel haben, dann kann der Weg doch
nicht die Sperrung von Krediten und die öffentliche
Diskreditierung der Ukraine sein, sondern dann müssen
alle beteiligten Partner an einen Tisch. Ich kann Herrn
Minister Müller zu dieser Erkenntnis, die er uns gerade
vorgetragen hat, nur gratulieren. Wenn das aber nicht
der Fall ist, wenn dies wieder nur heiße Luft ist, um in
Wahlkampfzeiten der Kernkraft zumindest im Ausland
den Garaus zu machen, dann hören Sie endlich auf, international den wilden Mann zu spielen!
({4})
Stehen Sie zu getroffenen Vereinbarungen, helfen Sie
Osteuropa bei der mehr als schwierigen Restrukturierung und stellen Sie damit vor allen Dingen eines sicher:
daß Tschernobyl abgeschaltet wird!
Ein deutscher Alleingang kann uns sehr teuer kommen und viel außenpolitisches Porzellan zerschlagen.
Das mag Herrn Trittin - wir kennen ihn ja inzwischen gleichgültig sein. Aber wenn es eines gibt, was Sie von
der Außenpolitik liberaler Außenminister lernen sollten,
dann dies: daß europäische Probleme im Konsens und
nicht im Konflikt mit den europäischen Partnern angegangen werden müssen.
({5})
Unser Änderungsantrag zum Antrag von SPD und
Grünen hält am ursprünglichen Ziel fest: Tschernobyl
muß abgeschaltet werden. Die Menschen in Ost und
West erwarten von der Politik, daß sie dieses Ziel nicht
aufgibt. Wenn der Antrag der Regierungsfraktionen hier
beschlossen wird, dann laden Sie selbst der Bundesregierung für die deutsch-ukrainischen Regierungsgespräche Anfang Juli eine sehr schwere Last auf. Und gestatten Sie mir die sehr provokante Frage - nach meinen Informationen werden die Minister Müller und Trittin an
diesen Verhandlungen teilnehmen -: Wollen Sie dort
eigentlich zwei Meinungen vertreten?
({6})
Unser Änderungsantrag eröffnet der deutschen Verhandlungsposition neue Optionen. Ihr Antrag treibt uns
weiter in die europäische Isolation.
({7})
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Eva-Maria BullingSchröter.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Kein AKW in
Brokdorf und auch nicht anderswo!“ Das war 1976 auf
einer der größten Anti-AKW-Demos in der Geschichte
der Bundesrepublik die Parole. Ein späterer saarländischer Umweltminister - seit Sonntag frischgebackener
Europaabgeordneter - rief gar dazu auf, das Land unregierbar zu machen, wenn man nicht aus der Atomkraft
aussteige.
Heute haben wir die Chance, zu zeigen, daß wir es
ernst meinen mit der Beendigung der Atomkraft.
({0})
Allerdings fangen wir dann doch erst einmal woanders
an. Doch nicht nur die Glaubwürdigkeit beim Ausstieg
steht heute auf dem Prüfstand; wir erleben hier auch ein
demokratisches Lehrstück. Die Auseinandersetzung um
die Kreditvergabe für die beiden ukrainischen Reaktoren zeigt folgendes - zunächst einmal zur Ausgangslage -: Es ist richtig, daß der Westen den MOE-Staaten
bei der Lösung ihrer Energieprobleme helfen muß. Dies
trifft insbesondere auf die Ukraine und den havarierten
Reaktor in Tschernobyl zu. Richtig ist aber auch, daß
der Westen der Ukraine die neuen Reaktoren geradezu
aufgenötigt hat und die Ukraine mangels angebotener
Alternativen keine Möglichkeit sah, den Atomkurs abzulehnen. Dies müssen wir heute bei unserer Entscheidung korrigieren. Natürlich muß Geld fließen, aber für
alternative Energien.
Staatssekretär Baake hat doch recht, wenn er vorgestern im „Morgenmagazin“ von ARD/ZDF feststellte,
die Energieprobleme der Ukraine seien weniger technischer Natur und weniger ein Mengenproblem als
vielmehr struktureller Art. Niemand klärt den Widerspruch auf, daß Tschernobyl bis Ende 2000 abgeschaltet
werden soll, K2/R4 aber frühestens 2004 ans Netz gehen
sollen. Da können die Kapazitätsprobleme so gravierend
doch wohl nicht sein. Darüber haben Sie nichts gesagt.
Nein, meine Damen und Herren, es gibt genügend Alternativvorschläge. Es ist ein Märchen, zu erzählen, die
Bundesrepublik sei durch internationale Verpflichtungen
der Vorgängerregierung auf die nukleare Option festgelegt. Es sind doch vielmehr die Profitinteressen von
Siemens und Framatome zum Beispiel, die hier tangiert
sind.
({1})
Es soll hier ja nicht nur die „schnelle Mark“ mit K 2 und
R 4 gemacht werden, sondern die langfristigen Interessen der Konzerne in anderen Ländern Osteuropas, in
China und in der Türkei sollen abgesichert werden. Die
Bosse träumen schon davon, Atomstrom zu Spottpreisen
in die Bundesrepublik zu importieren - dann allerdings
ohne westliche Sicherheitsstandards, ohne Rückstellungen usw. -, wenn hier die AKWs auslaufen oder, was
ich noch immer hoffe, durch politische Mehrheitsentscheidung vom Netz genommen werden. Im übrigen
fielen die ukrainischen Staatsanleihen in Euro in den
letzten Tagen dramatisch. Auch das beweist die Richtigkeit meiner These.
Zudem ist es doch so: Die Atomtechnik war und ist
eine politische Technik. Ob es um Autarkiebestrebungen, um die zivil-militärische Komponente oder um die
Profitmaximierung geht - immer wurden diese Prozesse
politisch gewollt und flankiert. Kein privater Investor
wäre bereit gewesen, bei noch so hoher Gewinnerwartung die Investitions- und Sicherheitsrisiken zu tragen.
Nun wird auch hinsichtlich der Ukraine mit der Herstellung und Erhöhung der Sicherheit der bestehenden
AKWs argumentiert. Das ist Ideologie reinsten Wassers.
Die Atomtechnologie ist nicht sicher. Die Störfälle in
deutschen AKWs, die Auswirkungen der Niedrigstrahlung beim sogenannten störungsfreien Betrieb und die
Beinahekatastrophe von Harrisburg beweisen dies. Es
muß nicht immer Tschernobyl bemüht werden. Die einzig sichere Alternative ist die Stillegung auch und gerade der Reaktoren in Osteuropa.
({2})
Noch ein Argument: Selbst der ukrainische Staatschef
Kutschma wird mit dem Satz zitiert: „Der Energiesektor
wird derzeit von kriminellen Elementen beherrscht.“ So
steht es in der „Frankfurter Rundschau“ vom 15. Juni.
Und in diese instabile Situation hinein - Sie sind doch
immer so für innere Sicherheit - sollen AKWs gebaut,
soll ihre Sicherheit über Jahrzehnte gewährleistet werden? Was würde Herr Beckstein dazu sagen?
({3})
Das einzige, was im Atombereich in Osteuropa und
hier bei uns noch entwickelt und finanziert werden soll
und muß, sind Programme zur Entsorgung des angefallenen Atommülls. Dafür gibt es nämlich weder hier
noch dort - Stichwort: Endlager - Konzepte.
Nun zur Frage der Demokratie: Der Herr Bundeskanzler hat sie ja bekanntlich auf die Frage von Koch
und Kellner reduziert. Damit mögen andere zufrieden
sein, wir nicht. Wir kennen und erkennen noch unterschiedliche Wirtschafts- und Gesellschaftspolitiken jenseits der Unterscheidung von „modern“ und „unmodern“. Wir waren die erste Fraktion, die einen entsprechenden Antrag in den Bundestag eingebracht hat. Am
Dienstag wurde er im Umweltausschuß mit Mehrheit
beschlossen. Wir hoffen, daß auch hier eine Mehrheit
zustande kommt. Wir meinen, die Regierung muß diesem Votum folgen - sonst ade Gewaltenteilung. Es kann
nicht angehen, daß die Exekutive der Legislative die
Politik diktiert. Wir meinen, daß auch die Koalitionsfraktionen nicht zum Abnickverein von Konzernen und
anderen Interessen verkommen sollten.
({4})
Es müßte jedes Mitglied dieses Hauses alarmieren, wenn
über die Politik nicht mehr im Parlament, sondern in den
Vorstandsetagen der Großkonzerne entschieden wird
und im Kanzleramt anschließend nur noch die Hacken
zusammengeschlagen werden.
Danke.
({5})
Ich gebe das Wort
der Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich mache mir ernsthaft Sorgen,
wenn Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von Rotgrün,
es tatsächlich durchsetzen sollten, daß die Kreditvergabe platzt. Wir kommen dann nämlich in eine äußerst bedrohliche Situation. Der ukrainische Präsident Kutschma
hat eindeutig und klar gesagt: Der Unglücksreaktor
Tschernobyl geht dann nicht mehr im Jahr 2000 vom
Netz, sondern läuft weiter. Ich frage Sie: Wollen Sie
wirklich die Verantwortung dafür tragen, daß dieser Unglücksreaktor nach 2000 noch immer in Betrieb ist?
({0})
Oder sind Sie wirklich so naiv, zu glauben, was Herr
Trittin gesagt hat? In der letzten Ausgabe der „Welt am
Sonntag“ hat der Minister auf die Frage, ob Bonn im
Falle einer Ablehnung der Kreditvergabe wortbrüchig
werde, mit einem klaren, einfachen Nein geantwortet.
Zur Begründung hat er auf das Memorandum of Understanding verwiesen. Er tut so, als ob hier überhaupt nicht
von Atomreaktoren die Rede ist.
Frau Kollegin
Wöhrl, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Hustedt?
({0})
Wenn meine Kollegen
es so für richtig halten, dann lasse ich es und fahre fort.
Ich habe mir dann das Memorandum of Understanding besorgt. Dort heißt es in Ziffer 2:
Die Ukraine und die G-7-Staaten werden zusammen mit den internationalen Finanzinstitutionen
und mit aus- und inländischen Investoren kreditfinanzierte, möglichst wirtschaftliche Lösungen
- Frau Hustedt, hören Sie bitte zu; anscheinend haben
Sie auch das nicht gewußt, als Sie Ihre Aussagen gegenüber der Presse machten zur Fertigstellung der Kernreaktoren Khmelnitski 2
und Rovno 4 erarbeiten.
Genauso heißt es in Anhang 2 zum Memorandum of
Understanding:
Sicherheitsverbesserungen und Fertigstellung von
Khmelnitski 2 und Rovno 4 sowie Errichtung von
Hochspannungsleitungen zu den Einheiten Khmelnitski und Rovno …
Frau Hustedt ging sogar noch weiter als Herr Trittin.
Sie hat sogar in der Presse gesagt, von Atomkraftwerken
sei im Memorandum überhaupt nicht die Rede. Das ist
eine glatte Lüge, wie ich eben mit Hilfe des Zitats belegt
habe. Genauso ist es eine Lüge, wenn sie vorhin in ihrer
Rede behauptet hat, daß die Unterstützung für die Kernenergie eine Modernisierung von Kohlekraftwerken
in der Ukraine ausschließen würde. Das ist eindeutig
falsch. Denn derzeit läuft ein Modernisierungsprogramm
beim Kohlekraftwerk Smiyew durch Siemens. Also ist
auch das eine glatte Lüge.
({0})
Auch das Gerede, man könne ja statt für die Fertigstellung der Atomreaktoren das Geld für Gaskraftwerke zur Verfügung stellen, ist eine Irreführung. Die
Ukraine hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß die
zwei Reaktoren, die schon zu über 80 Prozent fertiggestellt sind, fertiggebaut werden sollen. Wenn keine Kreditfinanzierung der westlichen Länder zustande kommt,
dann mit russischer Hilfe oder in Eigeninitiative. Aber
was ist dann? Dann werden diese zwei Reaktoren Sicherheitsstandards aufweisen, die nicht den westlichen
Standards entsprechen.
({1})
Dazu kommt noch, daß es dann zu einer immensen Zeitverzögerung bei der Abschaltung von Tschernobyl
kommen würde.
Die Ukraine hat immer wieder klargestellt - auch
Martynenko hat es gestern noch einmal bestätigt -, daß
sie an der Vereinbarung von 1995 festhalten will. Das ist
auch nachvollziehbar. Erdgasimporte würden eine immense wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von
Rußland bedeuten. Ich glaube, das kann auch nicht in
unserem Sinne sein.
Wie Sie wissen, hat sich bereits ein französischdeutsch-russisches Konsortium als Generalauftragnehmer für die Fertigstellung, Modernisierung und Sicherheitsverbesserung der beiden Reaktoren präqualifiziert. Auch in dieser Frage muß man weiterdenken.
Wie würden sich denn unsere künftigen Beziehungen zu
Rußland gestalten, wenn wir hier einen Rückzieher machen würden?
Eines darf man ebenfalls nicht vergessen, nämlich
daß es hier auch um Arbeitsplätze geht.
Ich fasse ganz kurz zusammen: Aus Gründen unserer
außenpolitischen Glaubwürdigkeit, der Arbeitsplatzsicherung und vor allem der nuklearen Sicherheit unseres
europäischen Kontinents darf die Kreditzusage gegenüber der Ukraine nicht in Frage gestellt werden.
Tschernobyl muß im Jahr 2000 abgeschaltet werden.
Vielen Dank.
({2})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich mache darauf aufmerksam, daß in
etwa 15 Minuten die namentliche Abstimmung beginnen
wird.
Als nächste Rednerin spricht für die SPD die Kollegin Monika Griefahn.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Eine neue Bundesregierung steht immer vor neuen Herausforderungen. Diese
Regierung hatte in ihrem ersten Halbjahr besonders viele
Präsidentschaften inne. Es waren dies die EU-Präsidentschaft, die WEU-Präsidentschaft und die G-7/G-8Präsidentschaft. Deswegen bin ich besonders froh, daß
diese Bundesregierung aktive Schritte unternimmt und
sehr viel Energie aufwendet, um das, was von der vorherigen Bundesregierung mit versursacht worden ist, in
mühsamen Gesprächen und Verhandlungen mit unseren
Partnern in den anderen G-7-Ländern, mit Rußland und
auch direkt mit der Ukraine aus dem Weg zu räumen
und neue Positionen zu erarbeiten. Ich glaube, dazu ist
ein ganz großes Engagement erforderlich. Ich danke
ganz herzlich dafür.
({0})
Herr Bundesminister Müller hat auf die Verabredungen und Festlegungen derer hingewiesen, die vor zwei,
drei oder vier Jahren getagt haben. Die Bundesregierung
hat jetzt Schritte unternommen, um das aufzudröseln;
denn sie sagt: Natürlich wollen wir eine andere Lösung.
Wir fühlen uns sicherer und wohler, wenn wir nicht ein
Atomkraftwerk durch zwei andere marode ersetzen,
sprich: ein Atomkraftwerk durch zwei russische. Trotz
aller westlichen Technik ist immer wieder deutlich geworden, daß die östlichen Reaktoren nicht nachzurüsten
sind. Sonst hätten wir doch Greifswald nicht abgestellt,
sonst hätten wir Stendal nicht weitergebaut.
({1})
Die Weltbank hat gesagt, daß sie keine Kredite für
die Nachrüstung östlicher Reaktoren vergeben wird. Die
Europäische Investitionsbank hat gesagt, sie sehe keine
Möglichkeit, dieses Projekt zu fördern, weil es nicht
wirtschaftlich und nicht sinnvoll ist. Dabei muß man beachten, daß die Europäische Investitionsbank überhaupt
nicht in dem Vedacht steht, ideologisch anti Atomkraft
zu sein. Aber sie sagt, das Projekt sei nicht wirtschaftlich, nicht machbar.
Ich möchte noch einige Punkte ansprechen, die bereits aufgelistet worden sind, die aber de facto nicht
ganz richtig sind.
Erstens. Es geht um die Frage, warum ein Gaskraftwerk im Moment nicht in Frage kommt. Wir haben immer wieder, auch in unseren letzten Gesprächen, von
Präsident Kutschma signalisiert bekommen, daß sich der
Antrag ursprünglich auf ein Gaskraftwerk bezog, daß
sich aber die westliche Staatengemeinschaft, insbesondere Frankreich, für ein Atomkraftwerk eingesetzt hat.
Dazu muß man ganz deutlich sagen: Frankreich
möchte natürlich gern weiter Atomkraftwerke exportieren und sieht darin einen östlichen Markt. Ich habe mit
den Kollegen in Frankreich gesprochen. Alle Parlamentarier sagen: Wir sind natürlich dabei, wenn es preiswerter und einfacher ist, etwas anderes zu bauen. Der
französische Präsident Chirac hat sich jedoch festgelegt.
Er hat die Federführung, und da gibt es keine Widerworte mehr. Das ist das Problem. Hier müssen wir die
Arbeit leisten. Das ist eine sehr komplizierte Angelegenheit.
Zweitens. Es wird behauptet, wenn dort ein Atomkraftwerk stünde, wäre das für die Ukraine billiger.
Auch das stimmt nicht mehr. Früher gab es einen Austausch der Brennelemente zwischen Rußland und der
Ukraine. Dieser Austausch ist beendet worden. Die
Ukraine müßte jetzt die Brennelemente und die EndlageDagmar Wöhrl
rung bezahlen. Das allein würde 230 Millionen Dollar
zusätzlich kosten.
Die Ukraine hat kein Geld. Das „Handelsblatt“ hat am
Montag berichtet: Kiews Finanzkrise verschärft sich, alle
sind zahlungsunfähig. Das kann man auch an den Stromrechnungen ablesen: Nur 5 Prozent werden direkt bezahlt,
40 Prozent werden gar nicht bezahlt und der Rest durch
Tauschgeschäfte. Daran sieht man, daß es überhaupt nicht
möglich ist, dort irgendeine Bezahlung für irgend etwas
zu erhalten. So wird es auch nicht 230 Millionen Dollar
für Brennelemente aus Rußland geben.
Insofern ist es richtig, zu sagen: Wir wollen, daß das,
was hier an Firmen-Know-how vorhanden ist, dort auch
eingesetzt wird. Es gibt dort etliche Kraftwerke, zum
Beispiel auf Kohlebasis, die weder auf- noch nachgerüstet worden sind. Wir haben in der Bundesrepublik den
Wirkungsgrad von 33 Prozent auf 40 Prozent erhöht.
Die Steinkohle ist weiter gefördert worden, damit auch
die Technik in diesem Bereich weiterentwickelt werden
kann. Wenn man in der Ukraine die bestehenden Kohlekraftwerke nachrüsten würde, hätte sie allein
330 Millionen Kilowattstunden mehr als vorher. Das
heißt, sie bekäme mehr als die 2 000 Megawatt, die die
neuen Kraftwerke, die dort entstehen sollen, liefern
würden. Das ist etwas, was wir genauso finanzieren
könnten. Dabei würde die Unabhängigkeit der Ukraine
tatsächlich bestehenbleiben.
({2})
Selbst der Direktor des Komplexes K2/R4, Sazanov, sagte noch im Februar dieses Jahres, er glaube
nicht, daß Rußland die Fertigstellung bezahlen wird. Es
besteht daher auch nicht die Gefahr, daß Rußland die
Fertigstellung bezahlt, wenn wir es nicht tun. Für die
Ukraine und Herrn Kutschma ist es wichtig, daß der
Westen zu seinem Versprechen steht, die TschernobylReaktoren abzuschalten, den Sarkophag zu bezahlen und
alternative Energieversorgung in der Ukraine aufzubauen. Bei der Durchsetzung dieses Ziels haben wir weniger
Probleme mit der Ukraine - weil wir ein gutes Verhältnis zur Ukraine haben -, sondern mehr Probleme mit
den westlichen Partnern. Wir müssen jetzt auf dem Gipfel in Köln mit unseren Partnern darüber sprechen; das
ist wichtig.
Ich wünsche der Bundesregierung sehr viel Glück.
Ich wünsche ihr, daß sie es schafft. Ich weiß, daß sie
eine schwere Aufgabe vor sich hat. Wir werden sie auf
der Ebene der Parlamentarier unterstützen. Wir werden
die Bundesregierung unterstützen, unabhängig davon,
welches Ergebnis auf dem Kölner Gipfel erzielt wird,
um Ihren Weg nicht weiter verfolgen zu müssen.
({3})
Vielen Dank.
({4})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, vor einer namentlichen Abstimmung ist
es immer etwas unruhig. Der Kollege Müller hält jetzt
seine erste Rede. Sie sollten ihm seine Jungfernrede erleichtern.
({0})
Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der
Kollege Bernward Müller.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Hustedt, wenn Herr Grill die Rede des Wirtschaftsministers gehalten hätte, dann hätte ich Ihre Ausführungen nachvollziehen können. Aber für mich ist
Ihre Rede ein Paradebeispiel für ideologische Verblendung und Unverbesserlichkeit.
({0})
Ersatz für den Energieausfall im Falle der Abschaltung der Altreaktoren in Tschernobyl zu beschaffen,
kann nicht nur mit der Beschaffung von Kilowattstunden
verglichen werden.
({1})
Eine so eindimensionale Sichtweise, wie sie von Ihnen,
meine Damen und Herren von der SPD und den Grünen,
am letzten Dienstag im Umweltausschuß an den Tag
gelegt worden ist, ist nicht weiterführend. Für die jungen
Länder auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ist
Energieversorgung eben auch eine Frage der Selbstbestimmung, der Unabhängigkeit, der Sicherheit und des
Selbstverständnisses.
({2})
Vor diesem Hintergrund war das 1995 zwischen der
Ukraine und den G-7-Staaten vereinbarte Memorandum eben kein Fehler, sondern der Startschuß für die
Beseitigung der direkten Folgeschäden der Reaktorkatastrophe von 1986. Es war auch der von allen Beteiligten
anerkannte Einstieg in eine verbesserte Energiepolitik
der Ukraine. Die Zusage der Fertigstellung von K 2 und
R 4 war das Ergebnis weiterer Verhandlungen und nicht
das Ergebnis von Erpressungen, Frau Hustedt. Das hat
Ihnen der Wirtschaftsminister gerade eben bestätigt. Sie
bezeichnen diese Vereinbarung heute als Erblast. Ich
nenne sie einen Meilenstein auf dem richtigen Weg.
({3})
Die Handlungsschwerpunkte dieser Vereinbarung
sind die Abschaltung der verbliebenen Reaktorblöcke in
Tschernobyl bis zum Jahr 2000 und die Schaffung von
Ersatzkapazitäten für die nukleare und die fossile Energieerzeugung, also für beide Arten. Es geht in der Summe um die Anhebung des Sicherheitsniveaus durch Nutzung der gesamten Bandbreite der Gestaltungsmöglichkeiten der nuklearen Energieerzeugung in der Ukraine.
Es geht also nicht nur um das Abschalten, sondern auch
um Modernisierung und Erneuerung. Hier beginnt das
Dilemma gerade für die Grünen. Wenn ich später noch
Zeit habe, werde ich darauf zurückkommen.
Bei aller Unterschiedlichkeit in den Auffassungen
war auf der Sondersitzung des Umweltausschusses am
Dienstag eines klar: Wir wollen die schnellstmögliche
Abschaltung der Tschernobyl-Reaktoren erreichen.
({4})
Dies bringt kurzfristig die entscheidende Minimierung
des Sicherheitsrisikos.
In der Tat ist die Abschaltung der sich noch im Betrieb befindlichen Reaktoren greifbar nahe. Wenn Sie
diese schnellstmögliche Abschaltung wirklich wollen,
dann müssen Sie den jetzigen Gegebenheiten in der
Ukraine und dem Zusammenwirken der G-7-Staaten
Rechnung tragen. Das, was möglich und machbar ist, ist
doch bereits geprüft worden, und zwar vom Bundeskanzleramt. Die Fakten liegen vor. Ich konnte mich
zwar des Eindrucks nicht erwehren, daß die Koalitionsfraktionen und auch der Bundesumweltminister über
diese Prüfergebnisse nicht informiert waren oder diese
Ergebnisse nicht für erforderlich hielten oder ihnen keine Beachtung schenkten. Aber das ändert doch nichts an
der Tatsache, daß die Ergebnisse vorliegen und beachtet
werden müssen.
Ich gehe davon aus, daß gerade im Wissen um die
Schwierigkeiten, die diese Entscheidung mit sich bringt,
und mit Blick auf die Befindlichkeiten in den Koalitionsfraktionen alle Alternativkonzepte, die derzeit
möglich sind, geprüft worden sind. Deswegen müssen
wir folgendem Rechnung tragen - es ist schon mehrfach
gesagt worden -: Die Ukraine stellt ihre Altreaktoren
nur ab, wenn wir K 2 und R 4 fertigstellen. Ein Gaswerk
ist nicht geplant, und die Ukraine ist an einem Gaswerk
nicht interessiert. Das hängt sicherlich mit der Abhängigkeit von Rußland zusammen. Auch die G-7-Partner
erklären nachdrücklich: Schert Deutschland aus, muß
Deutschland die Kosten für die Alternativprojekte alleine tragen.
Eines will ich Ihnen noch sagen: Sollte Ihr Antrag in
diesem Hause tatsächlich angenommen werden, dann
müssen Sie von den Grünen und der SPD sich aber über
folgendes im klaren sein: Sie werden miterleben, daß die
Reaktoren in Tschernobyl noch über das Jahr 2000 hinaus am Netz bleiben werden. Sie werden miterleben, daß
K 2 und R 4 nicht mit moderner internationaler Technik
fertiggestellt werden, sondern nach altem osteuropäischen Standard. Sie werden miterleben, daß Deutschland
seinen Einfluß bei der Modernisierung der anderen
Atomkraftwerke in der Ukraine verlieren wird. Und,
Frau Hustedt, Sie werden miterleben, wie deutsche oder
andere mitteleuropäische Energieverbraucher Billigstrom aus veralteten Atomkraftwerken beziehen.
({5})
Ich finde es schon beachtenswert - das will ich zum
Abschluß erwähnen -, daß die Regierungskoalition
einen Antrag formuliert, der ihren Kanzler im Regen
stehenläßt. Ich glaube, das ist genauso ein Novum in
diesem Hause wie das, daß der Kanzler für seinen eingeschlagenen Weg, nämlich die Kredite zur Verfügung zu
stellen, heute von der Mehrheit der Opposition Zustimmung erfährt.
Vielen Dank.
({6})
Ich gratuliere dem
Kollegen Müller im Namen des Hauses zu seiner ersten
Rede.
({0})
Ich gebe nunmehr als letztem Redner in dieser Debatte dem Kollegen Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wenn Nachrichtenagenturen
berichten, der Kanzler sei über die Koalitionsfraktionen
verärgert, dann kann ich das sehr gut verstehen; denn
wieder einmal ist es die CDU/CSU-Fraktion in diesem
Hause, auf deren Unterstützung und Verläßlichkeit die
Bundesregierung bei der Einhaltung internationaler Verpflichtungen bauen kann, während die Haltung der rotgrünen Koalitionsfraktionen dem Kanzler so hilfreich ist
wie der Strick dem zu Hängenden.
({0})
Aber was opfert diese Regierung nicht alles für eine fragile koalitionsinterne Eintracht!
Es kann auch keine Rede davon sein, daß Bundeskanzler Schröder diese, insbesondere vom Kollegen
Kubatschka ebenso genannte Erblast aus der KohlRegierung nur widerwillig, mit geballter Faust in der
Tasche übernommen hätte. Vielmehr war es die Regierung, die bei vorausgegangenen internationalen Treffen
die Einhaltung der Kreditzusagen durchaus originär
vertreten hat. Wer hat denn im März dieses Jahres aus
guten Gründen feste Absprachen mit Frankreich getroffen? Wenn das stimmt, was Frau Hustedt gesagt hat,
dann frage ich mich, wie unverantwortlich ein Kanzler
handelt, wenn er sehenden Auges solche Vereinbarungen erneuert.
({1})
Das Gerede von der Erblast ist doch eine Täuschung, um
von der eigenen Verantwortung oder, besser gesagt,
Verantwortungslosigkeit abzulenken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, erst die ablehnende
Haltung der beiden Koalitionsfraktionen hat doch diese
Bundesregierung, namentlich den Kanzler, in eine Zerreißprobe getrieben. Herr Schröder versucht nun in der
ihm eigenen alerten Art, sich aus dieser selbstgestrickten
Falle zu befreien. Die von Regierungssprecher Heye bezeichnete „respektvolle Behandlung“ - nicht etwa Respektierung - der ablehnenden Beschlüsse wird doch
wohl so aussehen, daß auf dem G-8-Gipfel eine klare
Entscheidung vermieden und die Sache vertagt wird,
obwohl sämtliche Voraussetzungen für die Vergabe
vorliegen und die endgültige Zusagereife lediglich von
Bernward Müller ({2})
der wirtschaftlichen Zuverlässigkeit des Kernkraftwerksbetreibers abhängt, wie uns Minister Müller gestern im Wirtschaftsausschuß und eben hier im Plenum
erklärt hat. Lediglich als Beruhigung für die eigenen
Fraktionen wird es im Juli ein Gespräch mit der ukrainischen Führung geben, und ich frage mich, was wir da an
neuen Erkenntnissen gewinnen wollen.
({3})
Letztlich wird aber staatsmännisch, wenn auch mit
retardierendem Moment der Kreditvergabe doch zugestimmt, um sich international nicht zu isolieren und sich
bei Verweigerung des deutschen Finanzierungsbeitrages
nicht gar noch regreßpflichtig zu machen.
Jenseits aller insbesondere von den Grünen und dort
von Frau Hustedt vorgeschobenen Sicherheitsbedenken,
die ich hier anders als die sich geradezu als Ordinaria für
Kernphysik und Atomrecht aufspielende Sprecherin der
Grünen als Abgeordneter in der Sache weder verifizieren noch falsifizieren kann, steht doch eines fest: Ohne
Einhaltung der Kreditzusage wird das Junktim, nämlich
das Abschalten des Unglücksreaktors Tschernobyl noch
im Jahre 2000, nicht erfüllt. Die beiden Reaktoren K 2
und R 4 werden auch ohne deutschen Finanzierungsbeitrag und damit leider auch ohne deutsches Know-how
auf niedrigem Sicherheitsstandard fertiggestellt. Damit,
meine Damen und Herren, entfernen wir uns von der allseits gewünschten und beabsichtigten Anhebung des
Sicherheitsniveaus dieser beiden Reaktoren - jedenfalls
mehr als bei einer deutschen Beteiligung - sowohl in
finanzieller als auch in technischer Hinsicht. So etwas
nennt man einen Treppenwitz der Geschichte.
({4})
Doch im Ergebnis wird die Politik von Rotgrün auch
zum Sicherheitsrisiko für unsere Bürger, und dann hört
der Spaß auf.
Was bleibt, ist die Angst von Rotgrün, ihre Glaubwürdigkeit oder das, was davon noch übriggeblieben ist, zu
verlieren und sich in einen Widerspruch zu manövrieren,
nämlich auf der einen Seite national aus der friedlichen
Nutzung der Kernenergie auszusteigen und auf der anderen Seite Kernkraftwerke international mit zu finanzieren.
Das ist in der Tat ein signifikanter Widerspruch. Dessen
Auflösung aber kann nicht in der Beibehaltung eines legislatorisch verordneten Ausstiegs bei uns und der Verweigerung der Kredite für Kiew liegen, sondern umgekehrt wird ein Schuh daraus: Halten Sie die internationalen Verpflichtungen ein, und verabschieden Sie sich von
einem optionslos gesetzlich oktroyierten Ausstieg!
({5})
Wenn Ihnen außer der Bundesrepublik Deutschland
die ganze Welt nicht in Ihr rotgrünes kleingestricktes
Karo paßt, so bin ich mir sicher, daß es nicht die Welt
ist, die geändert werden muß. Verabschieden Sie sich
davon, zum globalen Gralshüter des Ausstiegs aus der
Kernenergie zu werden!
({6})
Eine rhetorische Frage gestatte ich mir zum Abschluß: Warum hat eigentlich heute abend nicht der
Umweltminister Trittin, sondern Herr Müller gesprochen? Das war eine Super-Ouvertüre, und ich frage
mich, in welcher Schlachtordnung wir uns eigentlich befinden. Der unbefangene Betrachter sagt, hier bekomme
der falsche Adressat vom Falschen Applaus.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu
dem Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die
Grünen zur Einstellung der Unterstützung der Atomkraftwerke in der Ukraine, Drucksache 14/1143 Nr. 1.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.
auf Drucksache 14/1160 vor, über den wir zuerst abstimmen. Die Fraktion der F.D.P. verlangt namentliche
Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1160
bekannt: Abgegebene Stimmen 500. Mit Ja haben gestimmt 27, mit Nein haben gestimmt 472, Enthaltungen 1.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 499;
davon:
ja: 27
nein: 471
enthalten: 1
Ja
F.D.P.
Hildebrecht Braun ({0})
Rainer Brüderle
Ulrike Flach
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({1})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Klaus Kinkel
Gudrun Kopp
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto ({2})
Detlef Parr
Gerhard Schüßler
Marita Sehn
Dr. Max Stadler
Dr. Dieter Thomae
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Dr. Sabine Bergmann-Pohl
Otto Bernhardt
Hans-Dirk Bierling
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Wolfgang Börnsen
({3})
Dr. Wolfgang Bötsch
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Monika Brudlewsky
Hartmut Büttner
({4})
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({5})
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Renate Diemers
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Dr. Hans Georg Faust
Ulf Fink
Dr. Gerhard Friedrich
({6})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({7})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Kurt-Dieter Grill
Manfred Grund
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gerda Hasselfeldt
Norbert Hauser ({8})
Hansgeorg Hauser
({9})
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr. Harald Kahl
Manfred Kanther
Irmgard Karwatzki
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Manfred Kolbe
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
({10})
Dr. Paul Laufs
Karl-Josef Laumann
Peter Letzgus
Walter Link ({11})
Erwin Marschewski
Dr. Martin Mayer
({12})
Dr. Michael Meister
Hans Michelbach
Bernward Müller ({13})
Elmar Müller ({14})
Claudia Nolte
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Norbert Otto ({15})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Helmut Rauber
Peter Rauen
Christa Reichard ({16})
Klaus Riegert
Franz Romer
Hannelore Rönsch
({17})
Dr. Klaus Rose
Kurt Rossmanith
Adolf Roth ({18})
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Dr. Jürgen Rüttgers
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Christian Schmidt ({19})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({20})
Andreas Schmidt ({21})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Diethard W. Schütze ({22})
Clemens Schwalbe
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl
Michael Stübgen
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Andrea Voßhoff
Gerald Weiß ({23})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({24})
Hans-Otto Wilhelm ({25})
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({26})
Werner Wittlich
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
SPD
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({27})
Klaus Barthel ({28})
Ingrid Becker-Inglau
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({29})
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({30})
Bernhard Brinkmann
({31})
Hans-Günter Bruckmann
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({32})
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Lothar Fischer ({33})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({34})
Harald Friese
Anke Fuchs ({35})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Günter Graf ({36})
Angelika Graf ({37})
Dieter Grasedieck
Wolfgang Grotthaus
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Monika Heubaum
Uwe Hiksch
Reinhold Hiller ({38})
Stephan Hilsberg
Jelena Hoffmann ({39})
Walter Hoffmann
({40})
Frank Hofmann ({41})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Gabriele Iwersen
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Volker Jung ({42})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Hans-Peter Kemper
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Vizepräsident Rudolf Seiters
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({43})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Waltraud Lehn
Klaus Lennartz
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({44})
Christa Lörcher
Dieter Maaß ({45})
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Angelika Mertens
Dr. Jürgen Meyer ({46})
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller ({47})
Jutta Müller ({48})
Christian Müller ({49})
Andrea Nahles
Volker Neumann ({50})
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Dr. Willfried Penner
Georg Pfannenstein
Joachim Poß
Margot von Renesse
Renate Rennebach
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({51})
Birgit Roth ({52})
Gerhard Rübenkönig
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Ulla Schmidt ({53})
Silvia Schmidt ({54})
Dagmar Schmidt ({55})
Wilhelm Schmidt ({56})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({57})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Ottmar Schreiner
Dr. Mathias Schubert
Brigitte Schulte ({58})
Reinhard Schultz
({59})
Volkmar Schultz ({60})
Ilse Schumann
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Ernst Schwanhold
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({61})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({62})
Hans-Joachim Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({63})
Jürgen Wieczorek ({64})
Heino Wiese ({65})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({66})
Engelbert Wistuba
Verena Wohlleben
Waltraud Wolff ({67})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({68})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Joseph Fischer ({69})
Katrin Göring-Eckardt
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Kristin Heyne
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Klaus Wolfgang Müller
({70})
Kerstin Müller ({71})
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth ({72})
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({73})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Ludger Volmer
Helmut Wilhelm ({74})
Margareta Wolf ({75})
PDS
Maritta Böttcher
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang Gehrcke-Reymann
Dr. Klaus Grehn
Dr. Gregor Gysi
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Sabine Jünger
Dr. Evelyn Kenzler
Rolf Kutzmutz
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Petra Pau
Gustav-Adolf Schur
Enthalten
PDS
Dr. Christa Luft
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen
des Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({76})
Adam, Ulrich, CDU/CSU Behrendt, Wolfgang, SPD Dr. Böhmer, Maria, CDU/CSU Bühler ({77}),
Buwitt, Dankward, CDU/CSU Haack ({78}), Dr. Hornhues, Karl-Heinz Klaus, CDU/CSU
Jäger, Renate, SPD Karl-Hermann, SPD CDU/CSU Lintner, Eduard, CDU/CSU
Lotz, Erika, SPD Dr. Lucyga, Christine, SPD Maaß ({79}), Michels, Meinolf, CDU/CSU
Müller ({80}), Neumann ({81}), Erich, CDU/CSU Schloten, Dieter, SPD
Manfred, PDS Gerhard, SPD Schmitz ({82}), von Schmude, Michael,
Schütz ({83}), Siebert, Bernd, CDU/CSU Hans Peter, CDU/CSU CDU/CSU
Dietmar, SPD Dr. Wodarg, Wolfgang, SPD
Vizepräsident Rudolf Seiters
Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-
schlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Frak-
tionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Ein-
stellung der Unterstützung der Atomkraftwerke in der
Ukraine. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/795 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die der Beschlußempfehlung zuzustimmen wünschen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-
men der CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Be-
schlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Frak-
tion der CDU/CSU zu einem Festhalten an den Zusagen
zum Bau von sicheren Ersatzreaktoren in der Ukraine,
Drucksache 14/1143 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/819 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS
gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-
nommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Frakti-
on der PDS zu Investitionen der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung, Drucksache 14/1143
Nr. 3. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/708 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des Hau-
ses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nun die Tages-
ordnungspunkte 11a bis 11d auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Un-
abhängigkeit der Richter und Gerichte
- Drucksache 14/979 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform der Präsidialverfassung
der Gerichte
- Drucksache 14/597 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
c) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines
Gesetzes zur Förderung der außergerichtli-
chen Streitbeilegung
- Drucksache 14/980 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Einführungsgeset-
zes zum Gerichtsverfassungsgesetz
- Drucksache 14/870 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für
die Aussprache ursprünglich eine Stunde vorgesehen.
Die meisten Redner haben aber ihre Reden zu Protokoll
gegeben.*)
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Landesminister Jochen Dieckmann für Nordrhein-Westfalen das
Wort.
Jochen Dieckmann, Minister ({84}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle
Punkte und Themen, die unter Punkt 11 der heutigen
Tagesordnung zur Beratung anstehen, sind den Ländern
wichtig, da sie zur großen Thematik der Justizreform
gehören.
Der Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung, auf den ich mich hier konzentrieren möchte, ist uns von besonderer Bedeutung.
Leider ist das Anliegen dieses Gesetzentwurfes gelegentlich mißverstanden und nur als Versuch gesehen
worden, lästige Bagatellverfahren von den Gerichten
wegzudrücken und die Gerichte zu entlasten. Eine Entlastung der Justiz ist sicher notwendig. Ursache hierfür
sind in erster Linie die hohen personellen und finanziellen Belastungen der Haushalte der Landesjustizverwaltungen, die sich neuerdings durch das Betreuungsrecht
und das Verbraucherinsolvenzverfahren ergeben.
Eine Entlastung der Justiz ist aber nicht das vorrangige rechtspolitische Anliegen dieses Reformvorhabens.
Der rechtspolitisch bedeutsame Aspekt liegt vielmehr
darin, auf diesem Wege zu einer Änderung der Streitkultur in unserem Land zu kommen. Ich glaube, wir
sind ein recht streitfreudiges Volk geworden. Dabei
meine ich das zunächst nicht einmal negativ. Denn Streit
und Auseinandersetzung sind wichtige Bestandteile
einer demokratischen Gesellschaft. Aber ein Streit sollte
im Regelfall von den Beteiligten im Gespräch miteinander ausgeräumt werden.
({85})
Nur ausnahmsweise sollte es der Entscheidung durch ein
Gericht bedürfen. Ein Blick auf die Eingangszahlen un-
serer Gerichte zeigt, daß sich dieses Regel-Ausnahme-
Verhältnis inzwischen sehr in Richtung auf die gericht-
lichen Entscheidungen verschlechtert hat.
------------
*) Anlage 4
Vizepräsident Rudolf Seiters
Es gibt eine zu große Zahl von Streitigkeiten, bei denen die Entscheidung durch das Gericht erkennbar nicht
die beste Lösung ist und insbesondere nicht zu einer dauerhaften Befriedung der beteiligten Parteien führt. Beispiele hierfür sind insbesondere im Nachbarrecht und im
Bereich der Ehrenschutzklagen zu finden. Deshalb sind
diese Bereiche im vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich erfaßt. Es gibt aber noch viele andere Beispiele. In all
diesen Fällen bringt ein Verfahren, das von der Konzeption her auf Einigung und nicht auf Entscheidung angelegt
ist - wie das Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung - für alle Beteiligten große Vorteile. Zusammengefaßt und zugespitzt: Außergerichtliche Streitschlichtung
bietet vielfach die Chance zu einer selbstbestimmten Zukunftsgestaltung, während es der Zivilprozeß häufig bei
einer Vergangenheitsbewältigung bewenden lassen muß,
die letztlich für beide Parteien unbefriedigend bleibt.
Voraussetzung für den Erfolg einer außergerichtlichen Streitschlichtung ist etwas, das wir in jeder Auseinandersetzung brauchen, das aber leider immer mehr
abnimmt: die Bereitschaft, sich auf ein Gespräch mit
dem anderen einzulassen und wenigstens einmal die
Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß auch der andere
recht haben könnte. Die dafür notwendige Verhaltensänderung in der Gesellschaft bedarf eines wahrnehmbaren Anstoßes. Einen solchen Anstoß kann und
soll dieses Gesetz geben. Durch den Zwang zur außergerichtlichen Schlichtung im unteren Streitwertbereich soll
das Bewußtsein geweckt werden, daß der Weg zu Gericht das letzte Mittel in einem Streit sein sollte.
({86})
Die Erfahrung einer gut funktionierenden Streitschlichtung kann und soll dann in Zukunft dazu führen, daß
Streitschlichtung auch bei höheren Streitwerten zu einer
echten Alternative zum traditionellen Rechtsstreit wird.
Dieses Gesetz kann daher nur ein Einstieg in die
Stärkung der außergerichtlichen Streitschlichtung sein.
Weitere Maßnahmen zur Förderung insbesondere einer
fakultativen Streitschlichtung müssen folgen. Nur durch
eine breit angelegte, nicht auf die obligatorische
Schlichtung beschränkte Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung werden wir zu einer Verhaltensänderung kommen. Diese soll dann langfristig auch zu einer nachhaltigen Entlastung der Justiz führen. Mit anderen Worten: Ein zusätzliches Angebot außergerichtlicher Streitschlichtung kann und soll dazu führen, daß die
Nachfrage nach dem Produkt Zivilprozeß geringer wird.
Herzlichen Dank.
({87})
Ich darf Ihnen mitteilen, daß die Kolleginnen und Kollegen Alfred Hartenbach ({0}), Volker Kauder ({1}), HansChristian Ströbele ({2}), Rainer
Funke ({3}), der Parlamentarische Staatssekretär Dr.
Eckhart Pick, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
({4}) und Dr. Evelyn Kenzler ({5}) ihre Reden
zu Protokoll gegeben haben.*)
------------
*) Anlage 4
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird die Überweisung
der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/979,
14/597, 14/980 und 14/870 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Bevor ich den Tagesordnungspunkt 12 aufrufe,
komme ich noch einmal auf den Zusatztagesordnungspunkt 3 zurück. Frau Birgit Homburger macht uns darauf aufmerksam, daß sich die F.D.P.-Fraktion bei dem
Antrag der CDU/CSU-Fraktion der Stimme enthalten
habe und dies gern zu Protokoll gegeben wissen möchte.
Ähnliches gilt für die Fraktion der PDS: Die PDS
möchte zu Protokoll genommen haben, daß sie sich bei
der Beschlußempfehlung über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen - Keine weitere Unterstützung der Atomkraftwerke in der Ukraine für die Beschlußempfehlung aussprechen wollte.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Bundeswehr
vor Verunglimpfung
- Drucksache 14/985 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({6})
Verteidigungsausschuß
Ich dachte schon, auch jetzt gäbe es Redebeiträge zu
Protokoll. Das ist aber nicht der Fall. Es spricht als erster Dr. Wolfgang Götzer für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, den wir
heute einbringen, befaßt sich mit einem verbesserten
Schutz der Bundeswehr vor Verunglimpfung. Dabei
geht es uns zum einen um den Schutz der Soldaten und
der Bundeswehr vor Beleidigungen, zum anderen geht
es in diesem Entwurf vor allem aber auch darum, die
Funktionsfähigkeit der Bundeswehr zu schützen. Deshalb haben wir nicht eine ergänzende Formulierung zu
den Beleidigungsdelikten der §§ 185 ff. StGB gesucht,
sondern wollen mit dem neuen § 109 b StGB die Normierungen konkretisierend ergänzen, die den strafrechtlichen Schutz der Bundeswehr zum Gegenstand haben.
Den gleichen Entwurf haben wir bereits in der letzten
Legislaturperiode eingebracht, er ist jedoch der Diskontinuität verfallen.
Nach wie vor aber besteht das Anliegen, die Bundeswehr insgesamt und die Soldaten vor Verunglimpfung,
insbesondere vor dem Schmähruf „Soldaten sind Mörder“, zu schützen. Dieser Schutz ist heute sogar noch
mehr geboten als in der letzten Legislaturperiode. Zum
ersten Mal hat sich die Bundeswehr nämlich an Kampfeinsätzen im Rahmen der NATO gegen das frühere Jugoslawien beteiligt. Und wieder tauchen Plakate auf mit
der Aufschrift „Soldaten sind Mörder“.
Minister Jochen Dieckmann ({0})
Die Wehrpflichtigen, die ihren Wehrdienst leisten,
weil sie das Gesetz dazu verpflichtet, aber auch diejenigen, die den Beruf des Soldaten freiwillig ergriffen haben, empfinden diesen Ruf als Schmähruf gegen sich
selbst, gegen ihre Familien und vor allem auch gegen
die Bundeswehr insgesamt. Das Ansehen der Bundeswehr selbst steht auf dem Spiel. Das aber darf uns gerade in Zeiten nicht gleichgültig sein, in denen unsere
Truppen unter Lebensgefahr ihren Dienst für Frieden
und Menschenrechte leisten.
({1})
Ich denke, wir sind uns - wahrscheinlich mit Ausnahme
der Kommunisten ({2})
einig, daß unsere Soldaten und die Bundeswehr insgesamt den Schutz und die Achtung erfahren müssen, die
sie für die Erfüllung ihres von der Verfassung bestimmten und geforderten Auftrags brauchen.
({3})
- Vielleicht hören Sie mir erst einmal zu. Wollen Sie
sich den Schuh anziehen, Herr Kollege? Das denke ich
doch nicht. Erst zuhören!
({4})
Wenn die Kommunisten
({5})
heute eine Ehrenerklärung für die Bundeswehr abgeben,
dann soll es uns recht sein; ob sie dann glaubwürdig ist,
ist eine andere Frage.
({6})
Wir sind immer wieder offen, auch für Überraschungen.
Zwei umstrittene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben gezeigt, daß dieser Schutz
durch das geltende Recht in bestimmten Fällen nicht
ausreichend gewährleistet ist. Gemeint sind die Fälle, in
denen unter vorgeblicher Berufung auf radikalpazifistische Positionen in Wirklichkeit bewußte Ehrverletzungen begangen werden. Es muß nur behauptet werden,
daß mit den fraglichen Äußerungen nicht etwa die Bundeswehr bzw. ihre Angehörigen beleidigt werden sollten, sondern lediglich die Mißachtung des Kriegsdienstes als solchem zum Ausdruck gebracht werden sollte.
In diesem Fall überwiegt dann nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts das Recht auf freie Meinungsäußerung.
In der Praxis hat diese Rechtsprechung dazu geführt,
daß der Schutz der Ehre und der Würde von einzelnen
und der Schutz von Institutionen vor Verunglimpfung in
vielen Fällen oft nicht mehr stattfindet. Das gilt insbesondere für die Soldaten und für die Bundeswehr. Diese
Rechtsprechung führte dazu, daß es nicht mehr darauf
ankommt, wie der Adressat oder ein verständiger Dritter
eine solche Äußerung aufnimmt, sondern allein auf die
Meinung des Verunglimpfenden. Dadurch sind Polizei
und Staatsanwaltschaften verunsichert. Sie scheuen sich,
Ermittlungsverfahren überhaupt einzuleiten. Kommt es
doch zu einer Anklage, verurteilen die Richter nicht,
weil sie damit rechnen müssen, daß ihre Entscheidungen
aufgehoben werden. Damit findet aber in solchen Fällen
ein Ehrenschutz nicht mehr statt, obwohl auch der
Ehrenschutz eine konstitutive Bedeutung für unsere Verfassung hat.
Natürlich wollen wir mit unserer Gesetzesvorlage
weder die Meinungsfreiheit noch etwa die Kompetenz
des Bundesverfassungsgerichts einschränken.
({7})
Die seit dem Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 entwikkelte Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und
dem diese Meinungsfreiheit einschränkenden Gesetz
bleibt selbstverständlich bestehen. Diese Abwägung
setzt aber auch voraus, daß beides gesehen wird: der Ehrenschutz der Soldaten und damit verbunden die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr einerseits und die freie
Meinungsäußerung auf der anderen Seite.
Die jetzige Formulierung des § 185 Strafgesetzbuch
ist zu vage und deshalb oft ungeeignet, in dieser Abwägung der Bedeutung des Ehrenschutzes das erforderliche Gewicht zu verleihen. Es gibt kein Recht zur Verunglimpfung. Wir wollen deshalb mit dem neuen
§ 109 b StGB die vage Formulierung des § 185 StGB
präzisieren. Natürlich sind wir uns bewußt, daß wir damit der Bundeswehr und ihren Soldaten eine Art Sonderstellung im Strafrecht einräumen.
({8})
- Dafür gibt es gute Gründe. Ich komme gleich dazu.
Nach unserer Auffassung steht der neue § 109 b
StGB aber in einem engen Zusammenhang etwa mit
§ 90, aber vor allem mit § 90 b des Strafgesetzbuches, in
denen es um die Verunglimpfung von Verfassungsorganen geht. Diese Sonderstellung ist nach unserer Überzeugung gerechtfertigt. Denn: Wenn der Staat von seinen Soldaten notfalls den Einsatz ihres Lebens verlangt,
wie gerade jetzt im Kosovo, dann ist es im Rahmen der
Fürsorgepflicht des Gesetzgebers andererseits nur konsequent, den Soldaten einen herausgehobenen Rechtsschutz zuzubilligen.
({9})
Noch etwas möchte ich zu bedenken geben. Unsere
Soldaten leisten ihren Dienst mit der Waffe im Rahmen
ihres verfassungsgemäßen Auftrages und auf Grund entsprechender Beschlüsse des Parlaments. Wer also Soldaten als Mörder verunglimpft, der verunglimpft zugleich das Parlament.
({10})
Schließlich und nicht zuletzt möchte ich darauf hinweisen, daß Strafgesetze nicht allein der strafrechtlichen
Verfolgung dienen, sondern auch ein Unwerturteil über
ein bestimmtes Verhalten zum Ausdruck bringen. Dieser
Aspekt spielt gerade bei dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Schutze unserer Soldaten eine besondere
Rolle. Der ehemalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Georg Leber
({11})
- in der Tat ein guter Verteidigungsminister - sagte bei
einer Feierstunde des Verteidigungsausschusses:
Unsere Soldaten sind Bürger des Staates wie wir
alle. Aber sie geloben etwas, was sonst niemand in
Staat und Gesellschaft abverlangt oder zugemutet
wird, die Freiheit und das Recht mit dem Einsatz
ihres Lebens tapfer zu verteidigen.
({12})
Weil das so ist, sind Gesellschaft und Staat den
Soldaten gegenüber in der Pflicht, sich schützend
vor sie zu stellen, wenn der ihnen aufgetragene
Dienst nicht diskriminiert und ihr guter Ruf nicht
verletzt werden soll.
Dem können Sie doch wohl zustimmen!
({13})
Der evangelische Militärbischof Löwe geht noch
weiter, wenn er sagt:
Der innere Friede einer Gesellschaft ist gefährdet,
wenn die gesamte Bevölkerungsgruppe der Soldaten ungeahndet diffamiert werden darf.
Deshalb haben wir den vorliegenden Gesetzentwurf
eingebracht. Wir hoffen auf breite Zustimmung.
({14})
Als nächster Redner
spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Alfred Hartenbach.
Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau
Staatssekretärin! Sehr geehrter Herr Staatssekretär!
({0})
- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur Sache
kommen.
Mit Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie, wie Sie es andeuten, einen besseren Ehrenschutz für die Bundeswehr
und begründen dies mit den Worten, in der Vergangenheit seien Soldaten der Bundeswehr zunehmend Ehrkränkungen ausgesetzt gewesen. Eine ähnliche Initiative
hatte die CDU/CSU-Fraktion in der letzten Legislaturperiode schon einmal vorgelegt, diese aber dann in letzter
Sekunde wegen Unstimmigkeiten in den eigenen Reihen, mit dem damaligen Koalitionspartner, zurückgezogen. Das ist verschüttete Milch. Ich will nicht weiter
darauf eingehen.
Nun haben wir alle hier im Haus - die PDS vielleicht
nicht - aufgrund unserer Entscheidungen über den Einsatz der Bundeswehr zu den KFOR-Einsätzen auf dem
Balkan ein ganz neues Verhältnis zu unseren Soldaten
und ein gewandeltes Verständnis über ihre Tätigkeit.
Wir haben sehr bewußt Entscheidungen getroffen, deren
Auswirkungen wir uns vorstellen können. Sie bedeuten
eine ganz persönliche Gefahr für Leben und Gesundheit
unserer Soldaten, einen tiefen Eingriff in bis dahin sehr
geordnete Lebensabläufe und in das Leben der Angehörigen.
Wir wußten aber auch, daß wir von unseren Soldaten
zur Sicherung des Friedens, zur Absicherung der Rückkehr der Bewohner und auch zur Eigensicherung bei Gefahren den Gebrauch der Waffe und deren finalen Einsatz gefordert haben. Das verlangt von uns eine besondere Fürsorge unseren Soldaten gegenüber.
({1})
Ich gehe davon aus, daß Sie von der Union sich von diesen Gedanken haben leiten lassen, als Sie diesen Entwurf am 6. Mai erneut in das parlamentarische Verfahren gegeben haben.
({2})
Ihre Vorschläge, Herr Götzer, ehren Sie. Aber sie
dienen weder dem besseren Ehrenschutz des einzelnen
Soldaten noch dem Kollektiv Bundeswehr. Ich fürchte
eher, Ihr Entwurf isoliert die mitten in der Gesellschaft
lebenden Soldaten.
({3})
Sie führen in der Begründung Ihres Entwurfes an, in
den letzten Jahren seien in zunehmendem Maße Soldaten der Bundeswehr als Mörder oder potentielle Mörder
bezeichnet worden, ohne daß dies strafrechtlich durch
die Beleidigungsvorschriften aufgefangen werde. Sie
erwähnen auch jenes Urteil des Bundesverfassungsgerichts und legen das Urteil insoweit richtig aus, als Sie in
Ihrem eigenen Entwurf erklären, daß eine Kollektivbeleidigung von Soldaten der Bundeswehr auch bisher
schon nach § 185 StGB strafbar sei.
Ihre heutige Rede hat mir gezeigt, daß Sie das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts in keiner Weise verstanden haben. Sie entziehen Ihrem Entwurf in der eigenen
Begründung schon den Boden. Mit der Formulierung
Ihres Entwurfes zielen Sie genau auf die Kollektivbeleidigung der Institution Bundeswehr und ihrer Soldaten.
Das aber war gerade nicht Inhalt des Urteils des
Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht wertete den
sprachlichen Kontext dahin, daß es dem Angeklagten
nicht um eine Kritik am Individualverhalten einzelner
Soldaten ging, sondern um eine allgemeine Einschätzung von Kriegshandlungen, daß die Äußerung in besonders herausfordernder Form das Bewußtsein der persönlichen Verantwortung in Kriegshandlungen wecken
wollte.
Das Tucholsky-Zitat hat offensichtlich bei vielen zu
Verwirrung geführt und war rationalen Überlegungen
oft nicht mehr zugänglich. Dabei muß man wissen, daß
Tucholsky als Weltkriegsteilnehmer seine Erfahrungen
und Erlebnisse in beeindruckender Weise verarbeitet
hat.
({4})
Es gibt so eindrucksvolle Gedichte von ihm wie „Mutterns Hände“ oder anderes. Ich nenne auch die „Igel in
der Abendstunde“. Wenn Sie die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts auf Ihren Entwurf anwenden, dann
werden Sie sehen, daß sie dort auch gelten. Diese Vorschrift bringt uns also nicht weiter.
Die Soldaten wollen diesen besonderen Ehrenschutz
auch nicht, wie erst kürzlich der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes erklärt hat. Ich kann ihm da nur beipflichten.
Diese Vorschrift ist nicht mit den §§ 109 f. StGB
vergleichbar. Alle diese Vorschriften haben nämlich die
Funktionsfähigkeit der Bundeswehr als geschütztes Gut
im Sinn und nicht den Ehrenschutz. Die Vorschrift wäre
eine echte Sondernorm. Sie vergleichen ein Vollzugsorgan mit einem Verfassungsorgan. Ich halte dies nicht
für zulässig.
Dem Bild unserer Armee käme eine solche Überhöhung nicht gut zu stehen. Sie würde die Bundeswehr als
Organisation und die einzelnen Soldaten in eine Sonderrolle drängen, die die Soldaten nicht wollen und die sich
schon aus dem verfassungsmäßigen Auftrag der Bundeswehr heraus verbietet. Außerdem kommt man aus
einer Sonderstellung leicht in eine Außenseiterstellung.
Das aber darf nicht sein.
Die Bundeswehr ist ein Bestandteil dieses Staates,
und wir sind stolz, daß wir in unseren Soldaten Staatsbürger in Uniform haben.
({5})
Ich ganz persönlich war jedenfalls damals vor 30 Jahren
sehr stolz darauf, nicht Teil eines Staates im Staate zu
sein, sondern Mitglied unserer Gesellschaft. Das gilt
heute mehr denn je. Das Leitbild vom Staatsbürger in
Uniform bindet die Streitkräfte in die Gesellschaft ein.
Der Deutsche Bundestag hat in den letzten Monaten
in überzeugender Weise Verständnis und Wertschätzung
für unsere Soldaten deutlich gemacht. Ich denke, es ist
für die Berufssoldaten, die Zeitsoldatinnen und -soldaten
und die vielen jungen Wehrpflichtigen wichtiger zu wissen, daß das Parlament und die Gesellschaft sie in
schweren Krisenzeiten wie diesen in ihre besondere Obhut nehmen, als daß wir wirkungslose Sondervorschriften beschließen. Lassen Sie uns lieber dafür sorgen, daß
den Soldaten der Bundeswehr und den Einsatzkräften
auf dem Balkan aller politischer Schutz und alle persönliche Fürsorge zukommen, die sie zur Erfüllung ihrer
Aufgaben brauchen.
Vielen Dank.
({6})
Für die F.D.P.Fraktion spricht nun der Kollege Jörg van Essen.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich finde es schon erschreckend,
welche juristischen Pirouetten der Kollege Hartenbach
von der SPD-Fraktion hier dreht
({0})
um zu begründen, daß in Deutschland auch in Zukunft
unsere Soldaten, die nur einen Auftrag, den wir von der
Politik ihnen geben, ausführen, schon deswegen als
Mörder beschimpft werden können
({1})
und damit in die Ecke derjenigen gestellt werden können, die eines der schwersten Verbrechen begehen.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat in der letzten Legislaturperiode diesen Gesetzentwurf gemeinsam mit der
CDU eingebracht.
({2})
Die Fraktion hat in der Fraktionssitzung dieser Woche
mehrheitlich beschlossen, weiter hinter diesem Vorhaben zu stehen,
({3})
und wir haben gute Gründe dafür.
Art. 1 des Grundgesetzes - er ist für uns der Maßstab
bei der Betrachtung dieser Frage - sagt klar und eindeutig:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt.
Von daher gilt Art. 1 des Grundgesetzes für jedermann
und damit auch für alle unsere Soldaten. Er ist abzuwägen mit dem Recht auf Meinungsfreiheit, das wir hoch
schätzen. Art. 5 hat im Grundgesetz ein großes Gewicht.
Trotzdem haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes Art. 5 im Gegensatz zu Art. 1 nicht uneingeschränkt
gelten lassen. Art. 5 bestimmt ausdrücklich, daß das
Recht auf Meinungsfreiheit seine Grenze im Recht der
persönlichen Ehre findet.
Von daher ist eine Abwägung vorzunehmen. Das
Bundesverfassungsgericht hat dies in einer bestimmten
Weise getan. Wir haben diese Abwägung des Bundesverfassungsgerichtes ernst zu nehmen, aber wir sind
nicht an sie gebunden. Das Bundesverfassungsgericht
sagt uns immer wieder deutlich - bei jedem Gespräch
mit Richtern des Bundesverfassungsgerichtes hört man
das -: Wenn die Politik ihren Willen umsetzen will,
dann muß sie das durch Gesetzgebung tun. Ich denke,
daß das hier durch den vorgeschlagenen Paragraphen in
besonders vernünftiger Weise geschieht.
Es ist nämlich selbstverständlich nicht jede Beleidigung der Bundeswehr strafbar, sondern nur die Verunglimpfung, das heißt die grobe Ehrverletzung. Gibt es
eine gröbere Ehrverletzung, als jemand, der zum Beispiel den Auftrag der Friedenssicherung im Kosovo ausführt, als Mörder zu beschimpfen?
({4})
Herr Kollege Hartenbach, daß das kein theoretisches
Problem ist, das habe ich persönlich in der letzten Woche erleben können, als ich als Reservist der Bundeswehr in Münster in Uniform an einem Marsch teilgenommen habe. Der Kollege Nachtwei, der nach mir
sprechen wird, war auch dabei. Dort haben wir das Plakat „Soldaten sind Mörder“ gesehen. Ein junger Soldat
hat mir nach diesem Marsch gesagt: Sie geben mir doch
den „Mordauftrag“. Sie bestimmen doch, was ich als
Soldat zu tun habe. Deshalb frage ich Sie: Was tun Sie
dagegen, daß ich hier in aller Öffentlichkeit beleidigt
werde? ({5})
Ich halte die Frage dieses Soldaten für allzu berechtigt. Ich denke, daß wir alle in der Verpflichtung sind,
gerade vor dem Hintergrund des schweren Auftrages im
Kosovo, darüber nachzudenken, hier zu einer neuen Regelung zu kommen. Wir werden dazu beitragen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun
der Kollege Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Unionsfraktion stellt heute einen Antrag zur Debatte, den sie
hier vor drei Jahren wortgleich eingebracht hat. Es wäre
interessant, von Ihnen zu erfahren, warum es Ihnen damals nicht gelungen ist, Ihre parlamentarische Mehrheit
entsprechend umzusetzen.
({0})
Dazu kann vielleicht hinterher noch jemand von der
CDU Stellung nehmen.
({1})
Damals wie heute behaupten Sie, Soldaten der Bundeswehr würden zunehmend als „Mörder“, als „potentielle Mörder“ und ähnliches bezeichnet. Sie behaupten,
dadurch sei die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr, der
Einsatzwille der Soldaten und die Bereitschaft von Bürgern, Soldat zu werden, betroffen.
({2})
Das klingt dramatisch, hat aber mit der Wirklichkeit,
insbesondere der letzten drei Jahre, nichts, aber gar
nichts zu tun.
({3})
- Darauf komme ich gleich. Ein gemeinsames Erlebnis
wird natürlich zur Sprache gebracht.
In den letzten drei Jahresberichten der Wehrbeauftragten war die Beleidigung von Soldaten der Bundeswehr in der Öffentlichkeit bemerkenswerterweise kein
Thema mehr.
({4})
Das ist von der F.D.P. und von der Unionsfraktion interessanterweise nicht einmal bemängelt worden. Das Ansehen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit ist besser
denn je, genauso wie der Einsatzwille ihrer Soldaten.
Das hängt entscheidend mit den Leistungen der Bundeswehrsoldaten, seit Jahren in Bosnien, seit Monaten
und Wochen in Mazedonien, in Albanien und im Kosovo, zusammen. Neben der Flüchtlingshilfe sichern die
Soldaten den Waffenstillstand, das heißt, sie verhindern
Mord und Totschlag, statt solches zu praktizieren.
({5})
Damit unterscheiden sie sich in der Tat um 180 Grad
von dem, was zum Beispiel die Wehrmacht vor 58 Jahren auf dem Balkan getan hat.
Insofern gehen Pauschalaussagen wie „Soldaten sind
Mörder“ sichtbar an der Realität der heutigen Bundeswehr vorbei. Bundeswehrsoldaten können sich von solchen Pauschalaussagen auch tatsächlich nicht angesprochen fühlen. Sie sind eben nicht in einem Boot mit allen
Soldaten aller Länder und aller Zeiten.
({6})
Was würde aber dieser besondere sogenannte Ehrenschutz für die Soldaten bringen? Die Anhörung des
Rechtsausschusses im Oktober 1996 machte deutlich:
Die Gesetzesverschärfung hätte kaum Auswirkungen in
der Rechtswirklichkeit. Denn weiterhin gilt der bisherige
Grundsatz, daß klar gegen Bundeswehrangehörige und
gegen die Bundeswehr insgesamt gerichtete „Mörder“ Vorwürfe strafbar sind. Unverändert bliebe auch die
vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Rechtsposition,
daß die pauschale Behauptung „Soldaten sind Mörder“
vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt ist.
Absehbar wären aber andere Konsequenzen: Es gäbe
eine Zunahme von Verfahren. Es gäbe eine Auseinandersetzung um die Rolle des Militärs und der Bundeswehr in der Sicherheitspolitik, die immer mehr emotionalisiert und ideologisiert würde.
Ihr Gesetzentwurf ist unserer Auffassung nach offenkundig überflüssig - aber nicht nur überflüssig, sondern
auch deutlich kontraproduktiv.
({7})
Was also will die Union mit einem solchen Gesetzentwurf? Zum einen ist für uns die parteipolitische Absicht
durchsichtig. Sie möchte sich schlichtweg als Schutzpatron der Bundeswehr gegenüber allen vermuteten oder
realen Bedrohungen aufblasen. Zum anderen aber und
vor allem sehe ich bei Ihnen das Bemühen, eine radikalpazifistische Sichtweise von Soldatentum und Militär
unter Strafandrohung zu stellen. Sie sollten sich einmal
überlegen, ob es bei dieser Geisteshaltung nicht fast
konsequent wäre, wenn Sie als nächstes die Abschaffung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung
fordern würden,
({8})
weil auch dieser Gewissensentscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern, eine totale Absage an das Militärische zugrunde liegt.
Vor einer Woche - das hat der Kollege van Essen angesprochen - fanden in Münster in der Tat diese
„Abendmarschen“ statt, bei denen erstmals holländische und deutsche Soldaten sowie zivile Bürger, darunter wir, eine Strecke zusammen gewandert sind und bei
denen es eine kleine Gruppe von Protestierenden mit einem Transparent „Soldaten sind Mörder“ gab. Da habe
ich allerdings etwas anderes erfahren als Kollege van
Essen. - Es ist ganz gut, daß hier unterschiedliche Erfahrungen zur Sprache kommen und nicht nur eine einzelne. - Die Masse der Soldaten hat das eher schulterzukkend zur Kenntnis genommen. Sie fühlten sich dadurch
nämlich schlichtweg nicht angesprochen. Ein Oberstleutnant sagte gegenüber dem Fernsehen: Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, und in diesem Rahmen
müssen wir eben auch scharfen Protest in Kauf nehmen.
Andere Bürger sind schließlich auf die Demonstranten
zugegangen, haben mit ihnen gesprochen und es geschafft, daß der Schlagabtausch in eine gute Auseinandersetzung überging.
Ich glaube, nur diese Art des selbstbewußten politischen Meinungsstreits bringt voran. Ihr Gesetzentwurf
hingegen ist nicht nur überflüssig, sondern ein deutlicher
Schritt zurück.
Danke.
({9})
Das Wort für die
PDS hat die Kollegin Evelyn Kenzler.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! 1996 wollte die damalige Regierungskoalition mit einem Entwurf gleichen
Inhalts ihr Mißfallen gegen das couragierte Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zu dem Spruch „Soldaten
sind Mörder“ parlamentarisch ausdrücken.
({0})
Zum Glück ist dieses schon damals umstrittene Projekt
durch die Einreicher selbst wieder aufgegeben worden.
Ich hatte gehofft, daß es dabei bleibt. Nun will die
CDU/CSU es wiederbeleben, und die F.D.P. will sich
offensichtlich wiederum anschließen.
Die Bundeswehr braucht meiner Meinung nach jedoch keinen besonderen Schutz vor Verunglimpfungen.
Um ihre Ehre und die ihrer Soldaten zu schützen, sind
die §§ 185 ff. des Strafgesetzbuchs völlig ausreichend.
Das Gesetz ist deshalb schlicht überflüssig.
Offenbar ist die Bundeswehr von der ihr zugedachten
Sonderbehandlung durch ein solches Gesetz auch nicht
sehr begeistert. In der „Berliner Zeitung“ vom 3. Mai
spricht der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes,
Bernhard Gertz, davon, daß der Vorstoß der CDU/CSU
„den Soldaten keinen besonders guten Dienst“ erweise.
Dem Gesetzesantrag steht auch das Bild des Bundeswehrsoldaten als eines Staatsbürgers in Uniform
entgegen. Wenn dem so ist, warum brauchen sie dann
gegenüber anderen Berufsgruppen, zum Beispiel Richtern, Staatsanwälten, Polizisten, einen „verbesserten
Schutz“?
({1})
- Doch, Polizisten schon. - Die eigentlichen Gefahren
für Soldaten, wie Kampfeinsätze in Jugoslawien, werden
durch ein solches Gesetz nicht verhindert. Hier hat der
Bundestag unter Mißachtung des Grundgesetzes andere
Weichen gestellt.
Der weit auslegbare Tatbestand der Verunglimpfung
zielt im Kern nur auf den Bundespräsidenten, den Staat
und seine Symbole sowie seine Verfassungsorgane.
Nicht umsonst hat der Gesetzgeber diese engen Grenzen
gezogen. Mit Recht könnten bei einer weiteren Ausdehnung auch andere Berufsgruppen, die im staatlichen
Auftrag politisch brisante und zum Teil lebensgefährliche Tätigkeiten ausüben, einen solchen besonderen
strafrechtlichen Schutz beanspruchen.
Da der neue Verunglimpfungstatbestand in den
5. Abschnitt „Straftaten gegen die Landesverteidigung“
und nicht in den eigens dazu geschaffenen 14. Abschnitt
„Beleidigung“ eingefügt werden soll, geht es den Einreichern offensichtlich auch nicht so sehr um den Schutz
der Ehre, sondern mehr um die Funktionsfähigkeit und
seit dem 24. März insbesondere auch um die Kampfkraft
der Bundeswehr.
Den Bürgerinnen und Bürgern soll deutlich gemacht
werden, daß sie sich mit kritischen Werturteilen zur
Bundeswehr Zurückhaltung aufzuerlegen haben. Der
Zeitpunkt der Einreichung ist sicher nicht von ungefähr
gewählt. Das wurde hier auch deutlich gesagt. Die Bundeswehr soll angesichts ihrer Umgestaltung von einer
reinen Verteidigungsarmee zu einer nunmehr auch Interventionsstreitmacht vor prinzipieller Kritik bewahrt
werden.
({2})
Pazifisten und andere Friedensstreitkräfte werden eingeschüchtert, da sie im Falle harter Kritik mit strafrechtlichen Sanktionen bis zu empfindlichen Freiheitsstrafen
rechnen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz ist nicht
nur überflüssig, und es wird nicht nur nicht gebraucht.
Es engt auch das hohe Gut der freien Meinungsäußerung
in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise ein. Wir
werden es deshalb strikt ablehnen.
({3})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Gerd Höfer für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte von Herrn van
Essen eigentlich erwartet, daß er als Oberst der Reserve,
wenn ein junger Soldat ihm sagt: „Sie geben uns damit
den Mordauftrag“, ihm klargemacht hätte, daß ein frei
gewähltes Parlament in einer freiheitlichen Verfassung
Recht schafft und keine Mordaufträge geben kann, besonders nicht in diesem Kontext.
({0})
Das hätte man erwarten können.
Ich kann auch nicht verstehen, daß Sie meinem Kollegen Alfred Hartenbach vorwerfen, er habe juristische
Pirouetten gedreht.
({1})
Ich habe mir das Vergnügen gemacht und habe das Protokoll unserer letzten diesbezüglichen Auseinandersetzung
vor drei Jahren noch einmal gelesen. Es ist Ihnen selbst in
einer hoch emotionalisierten Debatte nicht gelungen, den
Nachweis zu erbringen, daß Soldaten besonders geschützt
werden müßten. Denn die Zitate des Bundespräsidenten
Roman Herzog und auch die Ihres Kollegen Hirsch haben
belegt, daß die Straffähigkeit bei diesem Beleidigungstatbestand sehr wohl gegeben ist.
({2})
Man hätte sozusagen der Katze nur die Schelle umhängen müssen. Denn bei dem Zapfenstreich in Bonn, als
dort „Mörder!“-Rufe zu hören waren - ich habe sie
selbst gehört -, war es dem Verteidigungsminister unbenommen, die Leute, die das gerufen haben, anzuzeigen.
Das hätte dann eine rechtliche Würdigung erfahren.
Ich komme also - allerdings heute nicht mehr so sehr
wie vor drei Jahren - zu dem Schluß, daß es sich bei
dieser Debatte um ein Ritual handelt,
({3})
um ein Ritual, das beinahe deutschnationalen Charakter
hat und dessen Botschaft lautet, daß es in diesem Hause
nur zwei Fraktionen gibt, die sich bedingungslos vor
diese Bundeswehr stellen.
({4})
Ich denke aber, daß - bis auf wenige Ausnahmen die Fraktionen in diesem Hause bewiesen haben, daß sie
zu der Bundeswehr stehen, und daß dieses Parlament es
geschafft hat, durch die einschlägige Gesetzgebung die
Soldaten mitten in der Gesellschaft zu verwurzeln und
durch das Prinzip der inneren Führung die Verwurzelung des Soldaten als Staatsbürger in Uniform auf
hervorragende Weise voranzutreiben.
Ferner denke ich, daß diese Soldaten selbstbewußte
Staatsbürger sind, die in der Ausübung ihres Dienstes
und in ihrem Selbstverständnis durch diese Dinge kaum
mehr zu beleidigen sind.
({5})
Sie haben eine ruhige Gelassenheit. Das können Sie
auch merken, wenn Sie sich die Fernsehbilder anschauen, die zeigen, wie sie unter schwierigsten Umständen
ihren Dienst tun. Die Soldaten wissen sehr wohl einzuschätzen, daß es in dieser Bevölkerung sich nur um eine
Minderheit im Promillebereich handeln kann, die der
Meinung ist, man solle die Soldaten mit diesem Ausdruck und dem verballhornten Ausdruck von Tucholsky
belegen und sie damit praktisch beleidigen. Sie sind so
gut, daß es fast gar nicht geht. Ich sage dies auch in aller
Ruhe und Gelassenheit als Reserveoffizier, weil ich in
dieser Beziehung mit den Soldaten fühle und mit ihnen
gesprochen habe.
Ein letzter Punkt, der noch teilweise auszuräumen ist,
ist: Solange es diesen Bundestag gibt, der als frei gewähltes Parlament im Rahmen einer freiheitlichen Verfassung Recht schafft, wird es in dieser Bundesrepublik
Deutschland keine Interventionsarmee geben, um das
hier einmal klar festzustellen.
({6})
Denn jeder Auftrag, den die Bundeswehr bekommt, muß
parlamentarisch abgesichert werden. Das Parlament erteilt den Auftrag.
Das von mir angesprochene Ritual wird aber noch
eine Fortsetzung finden. Es steht uns ja noch eine weitere Debatte ins Haus, die schon mehrfach verschoben
worden ist. Es geht um die Gelöbnisse in der Öffentlichkeit. Das ist auch ein Ritual.
({7})
- Ja, natürlich ist das alles sehr wohl begründet. Sie tragen sich mit der Hoffnung, daß Sie mit Argumenten der
Geschichte Rot und Grün spalten könnten. Das wird
aber nicht funktionieren, wenn ich das richtig sehe.
({8})
Ich kann abschließend feststellen, daß diese Debatte
nur den Sinn hat, die Soldaten für Ihre parteipolitischen
Zwecke zu instrumentalisieren, obwohl Sie allemal nach
außen versichern, daß sich die Soldaten der Bundeswehr
nicht eignen, parteipolitische Erwägungen einfließen zu
lassen und sie unter parteipolitisches Kuratel zu stellen.
Das war ein untauglicher Versuch an einem untauglichen Objekt.
Ich denke, die Debatte wird sich mit der Zeit wieder
beruhigen. Vielleicht ist es ja so, daß Ihnen durch weiteres Nachdenken das gleiche wie beim erstenmal passiert,
daß die rechtlichen und anderen Bedenken in irgendeiner der zwei Fraktionen so überwiegen, daß Sie auch
diesmal den Antrag der Diskontinuität zum Opfer fallen
lassen.
Herzlichen Dank.
({9})
Meine Damen und
Herren, interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/985 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Einführung einer Steuer auf spekulative Devisenumsätze ({0})
- Drucksache 14/840 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({1})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Abgeordneten Dr. Barbara Höll ({2}), Lydia
Westrich ({3}), Otto Bernhardt ({4}), Klaus
Müller ({5}), Professor Gisela Frick
({6}) und Detlev von Larcher ({7}) geben ihre Reden
zu Protokoll.*) Deswegen können wir, wie interfraktionell
vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/840 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwei-
sen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 4a und 4b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Christian Ruck, Hans-Peter Repnik, Ilse Aigner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
------------
*) Anlage 5
Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung anläßlich der Hochwasserkatastrophe Pfingsten
1999 in Süddeutschland
- Drucksache 14/1144 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({8})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Tourismus
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Hildebrecht Braun ({9}),
Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Hilfsmaßnahmen der Bundesregierung anläßlich der Hochwasserkatastophe in Süddeutschland
- Drucksache 14/1152 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({10})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Tourismus
Haushaltsausschuß
Als erstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen
Hans-Peter Repnik, CDU/CSU.
({11})
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz fortgeschrittener
Stunde und, wie ich weiß, vieler Terminverpflichtungen
am heutigen Abend möchten wir das Hohe Haus noch
mit einem Problem konfrontieren, das viele Menschen in
Bayern und Baden-Württemberg betrifft, nämlich mit
dem Hochwasser. Wir dachten, wenn Tausende von
Menschen leiden, sollten wir die Reden nicht zu Protokoll geben, sondern heute abend darüber diskutieren.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
es am Bodensee mit einem Jahrhunderthochwasser zu
tun. Seit Menschengedenken gab es keine Situation, in
der auch nur annähernd so große Schäden in dieser Region zu beklagen waren. Die Prognosen der Entwicklung - das macht das Problem nicht leichter - sind
schwierig. Wir haben am Bodensee in der Regel den
höchsten Wasserstand erst im Juli, das heißt, die
Schneeschmelze kommt noch. Wir müssen davon ausgehen, daß das Hochwasser, das wir seit Pfingsten haben, auch noch in den Monaten Juli und August in der
ganzen Region anhalten und der Tourismusverkehr darunter leiden wird. Die Saison scheint nachhaltig geschädigt zu sein.
Die Menschen in der Region sind tapfer. Sie kämpfen
und widerstehen den Problemen. Feuerwehr, THW und
auch die Bundeswehr vor Ort sowie freiwillige Hilfsorganisationen - ich konnte mich vielerorts davon überzeugen - strengen sich außergewöhnlich an.
Wie dramatisch die Situation ist, will ich an zwei,
drei Beispielen belegen. Auf der herrlichen kleinen Gemüseinsel Reichenau im Bodensee macht allein der tägliche Ausfall an Nettoumsätzen rund 265 000 DM aus.
Wir haben die herrliche Insel Mainau, die allein durch
das Ausbleiben der Touristen bis heute Ausfälle in Höhe
von über 1 Million DM hat, nicht mitgerechnet all das,
was an konkreten Schäden durch das Hochwasser vorhanden ist. Der Hotel- und Gaststättenverband aus der
Region hat in einem dringenden Appell geschrieben:
Sollte sich nicht zügig etwas an der Lage ändern,
werden wir einer bisher nicht gekannten Anzahl
von Konkursen entgegensehen …
Die Menschen haben Sorgen und erleiden Not. Sie verdienen deshalb unsere Hilfe.
({1})
Die Landwirtschaft ist ebenfalls in einem ganz besonderen Maße von dem Hochwasser tangiert. Konkret
sind über 200 Betriebe vor Ort betroffen, viele davon
existentiell. Auch ihnen muß geholfen werden. Wir
sprechen heute im Deutschen Bundestag auch deshalb
über die Hochwasserkatastrophe in Süddeutschland,
weil es sich um Betriebe der Tourismuswirtschaft, des
Gaststättengewerbes und der Landwirtschaft handelt, die
nie um staatliches Wohl oder um irgendeine andere Hilfe gebettelt haben, weil es sich um Frauen und Männer
handelt, die über Generationen hart gearbeitet haben und
die jetzt ohne eigenes Verschulden in eine existentielle
Notlage geraten sind. Deshalb müssen sie unsere Hilfe
erfahren.
({2})
Ich bin meinen fünf Fraktionskollegen aus der Arbeitsgruppe Tourismus, besonders dem Kollegen Ronsöhr, unserem landwirtschaftspolitischen Sprecher, der
auch heute abend hier ist, dankbar, daß sie die betroffene
Region besucht haben, daß sie sich mit dem Schicksal
der dort lebenden Menschen vertraut gemacht haben und
daß sie in unserer Fraktion mit dafür Sorge getragen haben, daß der Antrag, den wir gestellt haben, schlußendlich auch einstimmig angenommen wurde.
Wir wissen, die Landesregierung von Baden-Württemberg hilft. Das ist wohl wahr. Aber wir erinnern gerne an
eine Katastrophe, die vor zwei Jahren eine ganz andere
Region heimgesucht hat, nämlich die Oder-Region in
Brandenburg. Das war das Oder-Hochwasser. Die Bundesregierung hat seinerzeit unter Führung von Helmut
Kohl, der seinen Urlaub unterbrochen hat und zu den Betroffenen gefahren ist, um ihnen Mut zu machen und um
ihnen ganz konkrete Hilfe zuzusagen, die auch umgesetzt
worden ist, der Oder-Region geholfen. Wir befinden uns
jetzt in einer durchaus vergleichbaren Situation. Zusätzlich zu dem, was das Land, die Region, die Kommunen
und die Bürger leisten, sollte und muß auch der Bund helfen. Dies ist unser ganz nachhaltiger Appell.
({3})
Viele private Haushalte bedürfen der Soforthilfe, genauso wie Betriebe und Kommunen, die in diesen Wochen in einem ganz herausragenden Maße gefordert
sind. Ich bedauere, daß wir heute über die Anträge nicht
abstimmen können, weil die Koalitionsfraktionen um
Überweisung an die Ausschüsse gebeten haben. Ich
möchte dennoch an die Solidarität der Kolleginnen und
Kollegen der Koalitionsfraktionen appellieren, eine zügige Beratung in den Ausschüssen zu gewährleisten, um
den Menschen relativ schnell helfen zu können. Wir sind
gehalten, den betroffenen Menschen vor Ort Mut zu machen, nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten.
Hier ist der Bund genauso wie die anderen Ebenen gefordert.
Lassen Sie mich, Herr Präsident, zum Schluß nicht
nur einen Appell an die Kolleginnen und Kollegen im
Deutschen Bundestag, sondern auch an die Bürgerinnen
und Bürger richten, die sich in diesen Tagen entweder
mit Urlaubsgedanken tragen oder in den Urlaub fahren.
Ein Großteil der Häuser, der Betriebe, der Gaststätten
und der Hotels in der betroffenen Region sind funktionsfähig. Das Hochwasser hat die Betriebe in dieser Region
nicht außer Funktion gesetzt. Diesen Eindruck muß
niemand haben. Kommen Sie also in diese betroffene
Region! Zeigen Sie auch Solidarität mit den betroffenen
Betrieben und den Menschen in dieser Region! Ich bin
sicher, daß Sie mit einer großartigen Gastfreundschaft
und mit einer fürsorglichen Betreuung rechnen können.
Herzlichen Dank.
({4})
Als nächster Redner
spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Ludwig Stiegler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind alle miteinander in Gedanken
bei den Menschen und bei den Unternehmen in den betroffenen Regionen. Wer selber vor Ort war, der weiß,
welches Drama das Hochwasser angerichtet hat. Zwar
dauerte das Hochwasser in Bayern relativ kurz. Es ist
auch schnell wieder aus dem Blickpunkt der Medien geraten. Aber die bleibenden Schäden sind dramatisch, und
zwar in einer Art und Weise, die wir jedenfalls von den
Hochwassern an Rhein, Mosel und an der Oder - wenn
man jetzt einen Vergleich zieht - nicht kennen. Das ist
eine Erkenntnis, die wir bei Besuchen vor Ort und bei
der Bestandsaufnahme gewonnen haben. Deshalb ist es
in der Tat notwendig, daß sich der Bund an der Hilfe für
die Menschen und für die Unternehmungen beteiligt.
({0})
Die Bundesregierung hat seit Pfingsten Soforthilfe
geleistet. Sie hat THW, BGS und Bundeswehr eingesetzt. Sie hat keinen Katastrophentourismus gemacht.
Ich sage heute: Mir wäre es psychologisch lieber gewesen, wenn sie ähnlich wie die Bayerische Staatsregierung mit dem Hubschrauber vor Ort diese Hilfe gezeigt
hätte. Das ist eine Sache, die aber mit der materiellen
Hilfe als solche nichts zu tun hat. Die Bundesregierung
hat - das sage ich den Antragstellern auf der rechten
Seite des Hauses - die KfW-Programme schon geöffnet. Ich habe an Pfingsten mit dem Innenminister und
dem Finanzminister gesprochen: Die KfW-Programme
sind geöffnet; die Hilfen für Privatpersonen, Wirtschaft
und Landwirtschaft sind sichergestellt.
Herr Kollege
Stiegler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Götzer?
({0})
Auch Kredite sind Geld. Ich
komme noch dazu. Wir müssen uns wirklich um eine
sorgfältige Lösung kümmern, weil die Schäden so groß
sind, daß sie nicht mehr aus dem Bundes- oder einem
Landeshaushalt gedeckt werden können, sondern wir
brauchen eine Hilfsstruktur, die Hilfe zur Selbsthilfe
gibt, die die Menschen in die Lage versetzt, daß sie ihre
Häuser und ihre Unternehmungen wieder aufbauen und
daß die Infrastruktur wieder instand gesetzt wird. Das
muß die gemeinsame Zielsetzung sein.
Ich werde morgen und übermorgen zusammen mit
dem Chef des Bundeskanzleramtes Bodo Hombach die
bayerischen Hochwassergebiete bereisen. Es wird dann
sicher auch einen Bericht ans Kabinett geben. Wir haben mit unseren Haushältern geredet. Diese haben uns
die entsprechende Unterstützung zugesagt. Wir werden
die Hilfe organisieren. Was ich damit meine, sage ich
Ihnen.
Die KfW-Programme, die jetzt angeboten sind, werden für viele Privatpersonen wie Unternehmen noch
nicht reichen, weil die Sicherheiten fehlen, weil etwa die
Nachrangigkeit der Darlehen fehlt, weil Zinszuschüsse
zusätzlich eingeplant werden müssen; denn wenn das
Haus zerstört ist - die meisten Häuser sind wieder im
Rohbauzustand -, dann muß man nicht 100 000 DM,
sondern 150 000 oder 200 000 DM einsetzen, um wieder
auf einen bewohnbaren Zustand zu kommen. Das kann
nach den normalen Bankregeln derzeit nicht gemacht
werden. Also werden wir Bundes- und Landesbürgschaften für die Inanspruchnahme der Kredite miteinander beschließen und fordern müssen. Auch der Bund
wird sie bereitstellen.
Ich meine, bis die Menschen und die Betriebe ihre
Liquiditätskrise überwunden haben, bis sie wieder ihr
Anlage- und Umlaufvermögen aufgebaut haben, brauchen sie entsprechende Liquiditätskredite und auch Investitionskredite, damit der Aufbau geleistet werden
kann. Dafür sollten wir uns bei insgesamt begrenzten
Mitteln wirklich einsetzen.
Herr Kollege
Stiegler, ich freue mich sehr, daß Sie jetzt einen Punkt
gesetzt haben. Es war gar nicht so leicht, bei Ihnen dazwischenzukommen.
Ich hätte sie auch so dazwischengelassen.
Ich danke Ihnen. Sie
haben schon auf den Kollegen Repnik geantwortet. Gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Götzer?
Ja, immer.
Herr Kollege
Stiegler, wie stehen Sie denn dann zu der, aus meiner
Sicht an Zynismus nicht mehr zu überbietenden Äußerung des Regierungssprechers, die Bayern könnten sich
alleine helfen?
Der Regierungssprecher hat
sicher eine nicht sehr erfreuliche Bemerkung gemacht.
Wir haben ihm in aller Freundschaft gesagt, daß wir das
ungebührlich finden. Ich kann es hier im Parlament nicht
wiederholen, was wir ihm alles gesagt haben. Da sind
wir uns im Urteil völlig einig.
Ich sage eines dazu: Diese flapsige Bemerkung ist
leider Gottes auch eine Reaktion auf die Angeberei des
bayerischen Ministerpräsidenten.
({0})
Er zieht durch die Lande und sagt: Wir sind die Größten,
die Schönsten und die Besten. - Wie immer ist es dann
so: Wenn der Klassenprimus Probleme hat, dann sagen
die anderen erst einmal flapsig: Jetzt hast du es, ätsch!
Insofern muß ich dem Regierungssprecher eine Teilvergebung erteilen, weil Stoiber durch seine Art, mit anderen umzugehen, es ihnen schwermacht, mit ihm solidarisch zu sein. Auch daran sollte Stoiber erinnert werden.
({1})
- Das ist keine Unverschämtheit, sondern das ist so. Sie
sind nicht so grob wie wir mit dem Regierungssprecher
umgegangen. Ich habe überhaupt keinen Grund zu sagen: Das war keine angemessene Antwort. - Aber man
muß auch wissen, daß es derart aus dem Wald herausschallt, wenn man so komisch hineinruft, wie es der
bayerische Ministerpräsident zu tun beliebt.
({2})
Herr Kollege
Stiegler, zwei weitere Kollegen möchten ZwischenfraLudwig Stiegler
gen stellen. Wenn Sie antworten möchten, wird das
nicht auf Ihre Redezeit angerechnet.
Vergelt's Gott!
({0})
Herr Kollege Ronsöhr.
Herr
Stiegler, ich möchte zu Ihrer Aussage, daß für Kredite
Hilfen mittels Zinsverbilligung gewährt werden sollten,
eine Frage stellen. Ich habe mir vor Ort, zumindest im
Bodenseebereich, die Landwirtschaft angesehen. Wenn
ein landwirtschaftlicher Betrieb, der Selbstvermarkter
ist, erhebliche Ausfälle hat - Ausfälle in Höhe von
200 000 oder 300 000 DM -, dann weiß ich nicht, ob
ihm allein eine Überbrückung von Krediten hilft.
({0})
Daher möchte ich fragen, ob Sie bei Ihren Gesprächen
auch herausgefunden haben, ob es zumindest bei der
Prämiengewährung durch die EU Hilfen gibt. Wenn eine
Ernte ausfällt, kann an sich niemand eine Flächenprämie
erhalten. Das bedeutet für diese Betriebe zusätzliche
Verluste. Außerdem geht es darum, daß man mögliche
Stillegungsflächen in Futterflächen umwandelt, um zumindest die Futtergrundlage dieser landwirtschaftlichen
Betriebe zu sichern, oder Futterflächen, die ausgefallen
sind, in Stillegungsflächen umwandelt. Ich bitte darum,
daß die Regierung endlich auch auf diesem Gebiet handelt.
({1})
- Wissen Sie, ich habe gefragt, ob er es unterstützt. Wären Sie betroffener Landwirt, dann würden Sie sich solcher Zwischenrufe enthalten.
({2})
Herr Kollege, ich kann Ihnen versichern, daß ich das Anliegen der Landwirtschaft
unterstütze. Als Kind bin ich auf einem Einödhof aufgewachsen. Daher weiß ich, wie es den Bauern geht.
Wir haben schon vor zehn Tagen zusammen mit dem
Europa-Abgeordnetenkollegen Dr. Gerhard Schmid bei
der Kommission das gefordert, was Sie eben angeregt
haben, daß nämlich beim Flächenaustausch geholfen
werden soll. Den Agrarminister konnte ich noch nicht
persönlich ansprechen, weil er zur Zeit erkrankt ist.
Aber ich habe vor, ihn einzuladen, mit uns in die Katastrophengebiete zu gehen, sobald er wieder gesund ist.
Parallel verfolgen auch wir das Anliegen, das Sie für die
Landwirtschaft vorgetragen haben; denn die Landwirte
haben Anspruch auf genauso viel Solidarität wie Privatpersonen und gewerbliche Unternehmen. Das ist überhaupt keine Frage.
Ich habe auch bei den Vorgesprächen zu dem Besuch
von Kanzleramtsminister Bodo Hombach immer Wert
darauf gelegt, daß bei den Alternativen, die geprüft werden, die Landwirtschaft dabei ist.
Eine
weitere Zwischenfrage, bitte schön.
Herr Kollege
Stiegler, Sie haben gerade von „Angeberei“ des bayerischen Ministerpräsidenten gesprochen. Wollen Sie im
Ernst die beispiellose Hilfe der Bayerischen Staatsregierung von annähernd 300 Millionen DM eine „Angeberei“ nennen? Diese Hilfe ist in der Tat beispiellos, weil
von seiten der Bundesregierung nichts Vergleichbares
bisher getan worden ist.
Sie sind ein begabter Rabulist; zu diesem Talent muß ich Ihnen wirklich gratulieren. Ich habe gesagt, die Reaktion des Regierungssprechers auf die Probleme in Bayern seien eine Reaktion
darauf, daß Herr Stoiber schon lange vor dem Hochwasser durch Deutschland gezogen ist und gesagt hat, er sei
der Größte, alle anderen seien nur Deppen. Ich habe also
an der Hilfe, die die Bayerische Staatsregierung bisher
geleistet hat, überhaupt nichts auszusetzen. Da ist eine
Menge getan worden.
Ich habe nur versucht, psychologisch zu erklären, wie
ein Mensch, der nicht gerade der CSU angehört, auf die
Idee kommen kann, zu sagen, Herr Stoiber könne sich
selber helfen, weil er ja vor Kraft kaum gehen kann.
Jetzt versuchen Sie nicht in rabulistischer Weise, mir das
Wort im Munde herumzudrehen. Das gelingt Ihnen
nicht.
({0})
- Noch ist es hell. Das gelingt dir mit mir nicht. Aber
probieren darfst du es; das ist schon okay.
Herr
Kollege Stiegler, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ja, selbstverständlich.
Ich bitte
die Kollegen, dann mit Zwischenfragen zum Ende zu
kommen, denn die Zeit ist schon sehr fortgeschritten.
Ich wäre dankbar, wenn es
noch ein paar mehr gäbe; denn die Redezeit ist so kurz,
daß man Zwischenfragen gut nutzen kann.
Ich gehe davon
aus, daß der Kollege Stiegler sehr kurz antworten kann.
Vizepräsident Rudolf Seiters
Sind Sie mit mir einig, daß der bayerische Ministerpräsident Stoiber niemanden - schon gar nicht Angehörige anderer Parteien - Deppen nennt?
Das hat er sogar gegenüber
CSU-Kollegen gemacht.
Zum zweiten,
Herr Kollege Stiegler, möchte ich Sie fragen, ob Sie mit
mir einig sind, daß es hier um Menschen geht - Handwerker, Bauern, Familien und Mittelständler -, die
durch eine Naturkatastrophe immensen Schaden - nicht
nur materiell - erlitten haben. Es geht hier nicht darum,
der Bayerischen Staatsregierung eins auszuwischen.
Ich habe Ihnen am Anfang
gesagt, daß wir diese flapsige Bemerkung genauso verurteilt haben. Ich erinnere an Renate Schmidt, die es an
Deutlichkeit nicht zu wünschen übriggelassen hat. Aber
wie wir als Juristen wissen, muß ein gerechter Richter
auch die entlastenden Momente immer wieder erforschen. Ein entlastendes Element ist, daß die normalen
Menschen, wenn sie einem so vollkommenen Menschen
wie dem bayerischen Ministerpräsidenten gegenüberstehen, gelegentlich sagen, diese hohen Vollkommenheiten
würden mit sich selbst zurechtkommen. Ich selbst kenne
CSU-Kollegen, die dieser Auffassung nur widersprechen, wenn Stoiber in der Nähe steht.
({0})
Ich war auf dieses Zwischenspiel eingerichtet. Es gehört
zu Bayern.
({1})
- Herr Kollege, dann sagen Sie es doch Ihren Kollegen,
die diese Zwischenfragen stellen. Schieben Sie es doch
nicht auf mich! Ich habe das mit keinem Wort erwähnt.
Ich habe Wert darauf gelegt, daß wir miteinander eine
Lösung finden müssen, die es möglich macht, bei begrenzten Mitteln optimal zu helfen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe. Wir werden sie miteinander erfüllen, und zwar schnell.
({2})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Birgit Homburger von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Seit Wochen dauert dieses Jahrhunderthochwasser in Bayern und in Baden-Württemberg
an. Insbesondere in Baden-Württemberg hat es die Region um den Bodensee schwer getroffen. Trotzdem stehen diese Geschehnisse nicht im Mittelpunkt des nationalen Interesses. In der Tat, formal ist die Bewältigung
des Hochwassers erst einmal Sache der Länder. Ich kann
dazu nur sagen: Die Kommunen auf der einen Seite und
die Länder Bayern und Baden-Württemberg auf der anderen Seite haben gehandelt und Programme aufgelegt.
Aber dieses Hochwasser hat zwischenzeitlich eine
Dimension erreicht, die von den Ländern nicht mehr allein bewältigt werden kann. Die vorläufige Schätzung
geht von einem dreistelligen Millionenbetrag aus. Deswegen sind wir der Auffassung, daß es bei diesem Vorgang auch einer Flankierung der Ländermaßnahmen
durch den Bund bedarf.
({0})
Wir möchten nichts mehr und nichts weniger, als daß
dieses Hochwasser in Süddeutschland, das eine Riesendimension erreicht hat, von der Bundesregierung genauso behandelt wird, wie es seinerzeit beim OderHochwasser der Fall war. Ich denke, das ist angemessen.
({1})
Ich möchte folgende Bemerkung am Rande machen:
Der entstandene Schaden und die Verzweiflung derer,
die vom Hochwasser betroffen sind, richten sich nicht
danach, wie geschickt ein solches Ereignis national
vermarktet wird.
Die Insel Reichenau ist vom Kollegen Repnik bereits als Beispiel genannt worden. Um die Dimensionen
noch einmal deutlich zu machen, möchte ich eines hinzufügen - Herr Repnik hat die Höhe des täglichen Schadens genannt, die vom Verkehrsverein geschätzt wird -:
Inwischen sind es 21 Tage, daß diese Insel vollkommen
abgeschnitten ist und mit dem Auto nicht mehr erreicht
werden kann. Allein für die Insel Reichenau bedeuten
die Ausfälle im Tourismus während dieser 21 Tage einen Verlust von 5,5 Millionen DM. Das ist nur die Zahl,
die für eine kleine betroffene Gemeinde gilt. Insgesamt
kommen Riesenbeträge zusammen.
Auf der anderen Seite ist auch die Landwirtschaft
hart getroffen. Beispielsweise liegen die Erstschäden
allein auf der Höri in Millionenhöhe. Dabei ist noch
nicht berücksichtigt, daß ein zweites Mal nicht ausgesät
werden kann. Deswegen geht es nicht nur darum, hier
finanzielle Hilfen zu leisten, sondern auch darum, daß
sich die Bundesregierung bei der EU dafür einsetzt, unbürokratische Lösungen im landwirtschaftlichen Bereich
zu finden. Die F.D.P. fordert von der EU, in diesem
Ausnahmefall zuzulassen, daß stillgelegte Ackerflächen
ohne Rückforderung der Direktzahlungen mit überfluteten Flächen getauscht und abgeerntet werden dürfen.
({2})
Ich denke, daß eine solche Maßnahme, die eigentlich
eine Verwaltungsmaßnahme ist, ganz schnell durchgeführt werden kann, und ich bitte die Bundesregierung
dringend, jetzt auch bei der EU zu einem Ergebnis zu
kommen.
({3})
Aber natürlich hat es auch den gewerblichen Bereich
getroffen - vielleicht nicht im gleichen Ausmaß wie den
Tourismus, vielleicht nicht im gleichen Ausmaß wie die
Landwirtschaft, aber es gibt auch hier Betriebe, die dadurch Existenzsorgen haben. Deswegen sage ich es ganz
deutlich, Herr Stiegler: Kredite allein reichen bei dieser
Dimension nicht mehr aus.
({4})
Deswegen möchten wir, daß die Bundesregierung genau wie beim Oder-Hochwasser - ich habe den Bericht
dabei, in dem man das nachlesen kann - Übergangsund Soforthilfen gewährt.
({5})
Es geht um Zuschüsse, die wirklich denen helfen, die
durch dieses Hochwasser in Existenznot geraten sind.
({6})
Ich möchte an dieser Stelle noch die Gelegenheit nutzen, all jenen vor allem auch ehrenamtlichen Helfern
vom THW, von der Feuerwehr, aber auch von der Bundeswehr einen Dank auszusprechen, die dort in den
letzten Wochen sehr geholfen haben.
({7})
Zum Abschluß möchte ich die Hoffnung zum Ausdruck bringen, lieber Kollege Stiegler, meine Damen
und Herren Kolleginnen und Kollegen von den anderen
Fraktionen, daß wir es schaffen mögen, die Anträge in
die Ausschüsse zu überweisen, in der nächsten Woche
zu beraten und dann auch zu einer Beschlußfassung zu
kommen. Bei dieser Angelegenheit ist Eile angesagt,
denn von diesem Hochwasser sind Menschen betroffen,
die in stark beschädigten Häusern leben; es sind Gewerbebetriebe betroffen, es sind Arbeitsplätze davon abhängig. Deswegen denke ich, daß die Politik dringend gefordert ist, schnell zu handeln.
Vielen Dank.
({8})
Als
nächster Redner hat Kollege Albert Schmidt vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eines zunächst vorweg: Die ersten Äußerungen des Regierungssprechers der Bundesregierung zum
Thema Hochwasserschäden in Bayern waren unangemessen und ärgerlich.
Natürlich ist Bayern wirtschaftlich leistungsstärker
als zum Beispiel Brandenburg, und natürlich kann sich
Bayern in mancher Hinsicht schneller und leichter helfen als andere. Aber angesichts des tatsächlichen Ausmaßes der Schäden, die dreimal so hoch sind, wie es die
Schäden durch das Hochwasser im Oderbruch waren,
nutzt eine solche Aussage den Menschen gar nichts, die
konkret mit ihrer Wohnung, ihrem Haus, ihrem Betrieb
betroffen sind und denen das Wasser buchstäblich bis
zum Hals stand.
({0})
Hier wurde in Richtung der Bayern der falsche Ton
angeschlagen, und bekanntlich macht sehr oft der Ton
die Musik. Der falsche Ton kann sehr viel an Kooperation und Zusammenarbeit zerstören, die wir spätestens
jetzt brauchen. Ohne öffentliche und solidarische Hilfe
werden die Betroffenen mit den Folgen dieser Katastrophe allein nicht fertig werden, und auf diese öffentliche
Hilfe haben sie Anspruch.
Angemessen wäre es daher gewesen, man hätte dieses
zuallererst einmal anerkannt und dann auch öffentlich
gesagt, wie der Bund seinen Anteil an dieser Hilfe gestaltet und zu gestalten gedenkt, denn in Wirklichkeit
haben ja die Einrichtungen des Bundes, und zwar von
Anfang an und intensiv und tatkräftig, wenn auch nicht
sehr medienbewußt, an dieser Soforthilfe mitgewirkt durch die unbürokratische Hilfe der Bundeswehr, durch
das Technische Hilfswerk, durch den Bundesgrenzschutz. Diese Hilfen haben selbstverständlich stattgefunden, bevor irgend jemand einen Bundestagsantrag
gestellt hat.
({1})
Zusätzlich wurde - auch das ist angesprochen worden das Kreditprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau
geöffnet - für Privatgeschädigte, für geschädigte Unternehmen und für die Landwirte.
Die steuerlichen Erleichterungen, die Bundesgesetze für solche Fälle vorsehen, werden selbstverständlich
auch hier Anwendung finden. Dennoch bleibt einiges
noch zu tun.
Wenn sich Herr Staatsminister Hombach demnächst
vor Ort einen persönlichen Eindruck von der Schadenssituation verschaffen wird,
({2})
so denke ich, daß er verstehen wird - spät, aber es ist
hoffentlich nicht zu spät -, weshalb wir Parlamentarier
der Koalitionsfraktionen uns nachhaltig dafür einsetzen,
daß die Rahmenbedingungen für das KfW-Programm
weiter verbessert werden, daß auch fiskalische Konsequenzen in Erwägung gezogen werden, insbesondere
verbesserte steuerliche Absetzungsmöglichkeiten für
Wiederaufbaukosten, insbesondere zusätzliche Hilfen
für die Landwirtschaft inklusive dieses Flächentausches,
den schon mehrere Redner angesprochen haben.
Der Maßstab für das Ausmaß der Hilfe des Bundes
sollte sich meines Erachtens, wenn er sich schon nicht
an der Hilfe für die Opfer des Brandenburger Hochwassers orientiert, an solchen Hilfen orientieren, die in der
Vergangenheit betroffene Bundesländer am Rhein erfahren haben.
Allerdings sollte sich diese Debatte - das ist das
eigentlich Unzulängliche an den vorliegenden Anträgen nicht ganz auf das Geld beschränken, so notwendig diese finanzielle Hilfe jetzt ist. Wir müssen die erneute
Überschwemmungskatastrophe zum Anlaß nehmen, um
endlich selbstkritisch ökologische Fehler und Versäumnisse zu analysieren, die ursächlich immer wieder solche
Schäden mit verursachen, und müssen daraus politische
Konsequenzen zur künftigen Prävention ableiten.
({3})
Es war die Direktion der Münchener Rückversicherung, die eine „drastische Zunahme der Katastrophenschäden“ mit einem Anstieg der Schadensbelastung um
das 14fache innerhalb von nur drei Jahrzehnten festgestellt hat. Ihre Erkenntnis - ich zitiere -: Man kommt
heute nicht an den immer zahlreicheren Indizien für
einen zunehmenden Einfluß klimatischer und anderer
Umweltveränderungen vorbei.
Die Konsequenz: Energie- und Wirtschaftspolitik
sind künftig viel stärker als bisher an den Erfordernissen
eines nachhaltigen Klimaschutzes auszurichten, um die
Folgen des Treibhauseffektes und die damit verbundene
hohe Zahl extremer Wetterereignisse zu minimieren.
Dazu gehört übrigens auch die Einrichtung eines Elementarschadenfonds, um künftig Betroffenen schnell
und unbürokratisch helfen zu können.
({4})
Vor allem aber müssen wir - gestatten Sie mir, daß
ich dies als Verkehrspolitiker selbstkritisch sage - auch
in der Verkehrspolitik umdenken. Selbst Helmut Kohl
hatte anläßlich des Hochwassers im Oderbruch gesagt:
Laßt den Flüssen ihren Lauf. Ich habe es nicht überhört.
({5})
Deswegen brauchen wir ein ökologisches Hochwasserschutzprogramm in gemeinsamer Anstrengung verschiedener Ressorts aus Bund und Ländern, um schrittweise wiederherzustellen, was in den letzten Jahrzehnten
verlorengegangen ist und was uns heute fehlt: wertvolle Auwälder als Überschwemmungspuffer, unbebaute
Retentionsräume und freifließende Flußläufe anstatt
begradigter und kanalisierter Durchlaufrinnen, in denen
sich das Hochwasser aufschaukelt und um so schneller
die Städte erreicht.
({6})
Deswegen sind wir ja für eine freifließende Donau und
gegen einen weiteren Main-Ausbau. Das muß die Konsequenz aus solchen Erlebnissen und Erfahrungen sein.
({7})
Bebauungspläne und Regionalpläne - dies ist auch
eine Aufgabe der kommunalen Ebene - müssen künftig
viel kritischer gesichtet und verändert werden, um Retentionsräume freizuhalten und um das irrsinnige Tempo
der Versiegelung zu bremsen. Versiegelung, Begradigung, zügellose Bebauung - das sind die strukturpolitischen Sünden, die sich über kurz oder lang rächen.
Hier müssen wir umsteuern. Sie können sicher sein: Wir
werden uns sehr dafür einsetzen.
({8})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der PDS das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Natur gerät aus
den Fugen“, so ist ein Artikel der „Frankfurter Rundschau“ vom 31. Mai 1999 überschrieben, in dem dann
ausgeführt wird, daß das Jahr 1998 die schwersten Naturkatastrophen seit Menschengedenken hervorgebracht
hat. Ich möchte an El Niño, aber auch an die verheerenden Folgen des Hurrikan „Mitch“ erinnern.
Ich spreche jetzt über die Hochwasserkatastrophe, die
auch in meinem Wahlkreis ganz schön gewütet hat.
({0})
- Mein Wahlkreis ist ganz Bayern, der direkte ist Ingolstadt; - nur zur Information.
({1})
Ich war am letzten Samstag in Neustadt an der Donau
- ich selbst wohne an der Donau - und habe mir die
Situation angeschaut. Natürlich muß der Bund den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern helfen. In diesem
Punkt unterstützen wir die Anträge der CDU/CSU und
der F.D.P.
Doch es ist festzuhalten, daß wir durch den Treibhauseffekt, durch die fortschreitende Unterwerfung der
Natur und in diesem Falle durch Flächenversiegelung,
Flußbegradigung und Kanalisierung all diese Katastrophen mit verursachen.
({2})
Wenn man darauf hinweist, wie ich es zum Beispiel in
der Debatte am 28. September 1995 getan habe - da war
nämlich die Rede von einem Stopp des weiteren Ausbaus der Donau -, dann erntet man Hohn und Spott von
den Menschen, die jetzt hier Anträge auf Hilfeleistungen
des Bundes stellen unter dem Motto: immer schön an
den Symptomen herumdoktern.
({3})
Das müssen Sie sich einfach einmal sagen lassen. Ich
war damals eben auch schon hier.
Noch etwas ist mir beim Durchlesen des Antrages der
Union aufgefallen: Da ist ein gewisser anti-ostdeutscher
Zungenschlag spürbar, so, als sei die Hilfe beim OderAlbert Schmidt ({4})
Hochwasser geradezu erschlichen worden, weshalb man
jetzt doch wenigstens eine Gleichbehandlung erwarten
könne.
({5})
Das liegt auf der gleichen Ebene, als wenn ich sagen
würde: In Ordnung, wir helfen Bayern und BadenWürttemberg, wenn sie zukünftig nicht mehr am Länderfinanzausgleich herummäkeln. Wir unterstützen ja
diese Förderung.
({6})
Zur Frage der Renaturierung und was alles bezahlt
werden könnte, hat mein Kollege Albert Schmidt schon
einiges genannt: Fließwässer- und Auwaldprogramm,
eine ökologische Wende im Wasserbau und bei der
Raumordnung, keine Bereitstellung von Flächen für
Straßen- und Gewerbegebiete, kein Kiesabbau in Talräumen und Überschwemmungsgebieten; denn nur so
kommen wir zu mehr Retentionsflächen.
({7})
- Das können wir ja später einmal diskutieren. Das
sollten wir wieder auf die Tagesordnung nehmen. Das
ist wahrscheinlich schon so lange her, daß es alle in diesem Raum wieder vergessen haben.
Zum Schluß möchte ich noch meine Hochachtung vor
allem vor den freiwilligen Helferinnen und Helfern aussprechen, denn ohne sie wären die Schäden des Hochwassers weit größer geworden. Ich muß natürlich sagen:
Der Einsatz der Bundeswehr bei Hochwassern ist mir
hundertmal lieber als der Einsatz, in dem sie in letzter
Zeit tätig war und noch immer tätig ist.
Danke.
({8})
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Kubatschka von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beginnen
möchte ich mit einem Dank an die zahlreichen Helferinnen und Helfer. Sie packten an, als es galt, der Katastrophe Einhalt zu gebieten und den Opfern zu helfen.
({0})
Sie kamen aus den verschiedensten Organisationen. Als
Bundespolitiker möchte ich allen Helfern des THW und
den Angehörigen des Bundesgrenzschutzes und der
Bundeswehr danken. Beispielhaft für die anderen Helfer
möchte ich den Feuerwehrkommandanten Franz Brosinger und den DLRG-Chef Erich Kirchner, beide aus
Weltenburg, nennen, die gegen die Fluten ankämpften,
während in ihre eigenen Häuser das Hochwasser eindrang. An sie und alle anderen Helfer richte ich noch
einmal einen Dank.
({1})
Es gab aber auch wieder die Gaffer. Sie standen herum
und behinderten die Arbeit. Sie hätten besser helfen
sollen. Die Hilfe des Bundes kam sofort: Bundeswehr,
THW und Bundesgrenzschutz waren im Einsatz.
Um aber auch die Verantwortlichkeiten klar festzustellen: Hochwasserschutz und Katastrophenhilfe sind
Ländersache. Das Hochwasser wütete am meisten dort,
wo es die Menschen überraschte, also dort, wo es zu
Dammbrüchen kam, zum Beispiel in Neustadt an der
Donau: 20 Quadratkilometer wurden dort vom Hochwasser überschwemmt. Die Katastrophe trat ein, weil
der Damm überspült wurde und es an dieser Stelle zum
Dammbruch kam. Dies konnte die Verantwortlichen
nicht überraschen: Die Pegelstände waren bekannt, die
Schwachstelle war bekannt; denn in diesem Bereich, der
späteren Bruchstelle, trat vermehrt Wasser aus. Zur Gefahrenabwehr konnte man nicht mehr an die Gefahrenstelle fahren, um den Damm zu sichern. Ein Hubschraubereinsatz war nicht mehr möglich. Die Verantwortung
ist also klar: Der Freistaat Bayern hat nicht ausreichend
Hochwasserschutz betrieben; die Deiche waren nicht
ausreichend. Deswegen gibt es schwere Vorwürfe an die
Behörden. Schadenersatzforderungen von 400 Millionen
DM werden bereits geprüft.
Kritisch zu hinterfragen ist aber auch, warum es am
Oberrhein nicht zu einer solchen Katastrophe gekommen ist. Am Pegel Karlsruhe wurden die höchsten Wasserstände sei Beginn der Messungen - das ist über
100 Jahre her - registriert. Die Verantwortung liegt also
klar in Bayern. Um von dieser Verantwortung abzulenken, werden Bagatellen hochgezogen - man hat das ja
vorhin gesehen. Sie zitieren immer wieder eine unglückliche Formulierung des Regierungssprechers. Aber
auch ich kann Ihnen mit solchen unglücklichen Äußerungen dienen.
({2})
In der „Mittelbayerischen Zeitung“ vom 25. Mai - das
war zur selben Zeit, zu der sich Heye geäußert hat steht:
Soforthilfe der Bayerischen Staatsregierung für die
Hochwasseropfer gibt es nicht, so Umweltstaatssekretärin Christa Stewens.
Die öffentliche Haushaltslage sei angespannt, der Staat
könne nur einspringen, wenn der einzelne überfordert
sei.
Oder eine andere Aussage, die des CSU-Bürgermeisters Gigl aus Neustadt. Dort brach der Damm. Er
sagte wenige Wochen vor dem Dammbruch auf einer
Bürgerversammlung im Ortsteil Wöhr, in diesem Bereich sei mit keinem Hochwasser zu rechnen.
Herr
Kollege Kubatschka, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Homburger?
Ja, natürlich.
Bitte
schön.
Herr Kollege Kubatschka, es mag ja sein, daß sich der eine oder andere
ungeschickt geäußert hat, auf welcher Seite auch immer.
Aber stimmen Sie mir zu, daß es ein Unterschied ist, daß
die Bundesregierung es bisher nicht für erforderlich gehalten hat, Mittel zur Verfügung zu stellen, während die
Landesregierung von Bayern 200 Millionen DM für allgemeine Hilfen und 40 Millionen DM für Deichbaumaßnahmen und einen Teil davon auch für direkte Hilfen, also in Form von Auszahlungen und nicht nur von
Kreditprogrammen, zur Verfügung gestellt hat? Meinen
Sie nicht, daß das ein Unterschied ist?
({0})
Frau Kollegin, da fällt
mir zum Beispiel folgendes ein. Wir haben ja gestern im
Tourismusausschuß das Programm diskutiert. Dabei
wurde klar gesagt: Baden-Württemberg hat noch kein
Programm aufgelegt. Da ist also zum Beispiel nicht geholfen worden.
({0})
- Das ist gestern so berichtet worden.
({1})
- Jetzt geht es um die Frage. Ich habe vorhin klar gesagt: Der Katastrophenschutz und die Hilfe sind Ländersache, und dies muß es auch bleiben. Es ist vorhin ja
schon gesagt worden - und auch ich sage es -: Es wird
im gleichen Maße geholfen, wie in den alten Bundesländern an Rhein und Mosel bei vergleichbarem Hochwasser geholfen wurde. Das war eine Aussage, die direkt
gegeben wurde, weil selbstverständlich auch wir uns sofort an Herrn Eichel gewendet haben. Und dann kam
diese Zusage: Es gibt eine Gleichbehandlung.
({2})
Herr
Kollege Kubatschka, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Aigner?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Kubatschka,
ich hatte gestern im Tourismusausschuß schon eine konkrete Frage gestellt, die noch nicht beantwortet ist; deshalb frage ich heute noch einmal, weil es hier ja auch
um die Frage der Zuständigkeiten geht. Wie ist es, wenn
eine Bundesstraße durch das Hochwasser beschädigt
worden ist? Muß das künftig auch aus den Globalmitteln
gedeckt werden, die den Ländern zur Verfügung gestellt
werden, oder fällt das unter Katastrophenhilfe? Wird das
dann in diesem konkreten Fall vom Bund übernommen
oder nicht?
Nachdem es eine Bundesstraße ist, wird sie selbstverständlich vom Bund instandgesetzt. Darüber braucht doch nicht geredet zu
werden.
Darf ich noch eine konkrete Nachfrage stellen?
Ja, bitte
schön.
Die Mittel sind nicht da.
Die Aussage des Straßenbauamtes ist, daß das normalerweise aus den Globalmitteln gedeckt werden muß.
Darüber hinaus wird vom Bund momentan noch keine
Zusage gegeben. Ich will jetzt eine konkrete Antwort auf
die konkrete Frage: Gibt es zu den Globalmitteln für
solche konkrete Aufgaben eine zusätzliche Hilfe?
Und ich gebe Ihnen die
konkrete Antwort, die als Zwischenruf erfolgte: An der
Straße wird schon gearbeitet. Sie wird hergerichtet. Mir
ist es im Grunde genommen im Augenblick wurscht,
woher das Geld kommt, Hauptsache, die Straße wird
hergerichtet. Und das Land Bayern würde das gleiche
bei seinen Landesstraßen machen.
({0})
Herr
Kubatschka, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage
des Kollegen Repnik?
Ja, bitte.
Herr Kollege
Kubatschka, ich bin etwas betroffen über die Art, wie
Sie jetzt dieses Thema angehen. Ich finde, daß sowohl
Ihr Kollege Stiegler als auch der Kollege Schmidt von
den Grünen doch den Ball aufgenommen haben. Wir
haben es hier mit einem außergewöhnlich schwierigen
Sachverhalt zu tun. Tausende von Menschen leiden.
Was Sie bisher beigetragen haben, war ausschließlich
der Versuch einer Schuldzuweisung, welche staatliche
Ebene möglicherweise schneller, anders oder konkreter
hätte helfen können.
({0})
Es geht darum: Wie können wir den Menschen jetzt und
nicht erst in sechs Wochen helfen? Deshalb meine konkrete Frage an Sie: Sind Sie bereit, Herr Kubatschka
({1})
- auch die Menschen in dem Wahlkreis, in dem Sie kandidieren, nämlich in Landshut, interessiert doch, ob man
ihnen hilft, und nicht, ob möglicherweise wer auch immer sonst einen Fehler gemacht hat -, die Hand, die uns
der Herr Kollege Stiegler und der Herr Kollege Schmidt
vorhin im Hinblick auf unsere Antragstellung in ihren
Beiträgen gereicht haben, ebenfalls zu ergreifen und in
dem Ausschuß, in dem Sie Mitverantwortung tragen,
nämlich im Tourismusausschuß, auch für eine Lösung
Sorge zu tragen, die den Menschen hilft, unabhängig
davon, wer wo wann welche Zuständigkeit hat?
Der Bund hat sofort geholfen; das habe ich bereits gesagt. Ich werde im Laufe
meiner Rede noch klar sagen, daß es für mich selbstverständlich ist, daß der Bund helfen muß. Man muß diese
Hilfe aber im Vergleich zu anderen Fällen sehen. Ich bin
jederzeit bereit - das haben wir so verabredet -, alles zu
tun, damit den Menschen in dieser Region materiell geholfen werden kann.
Was aber in letzter Zeit in den Medien abgelaufen ist
- ich habe viele Zeitungsberichte dazu gelesen -, war
das Kaschieren der Verantwortung. Man ist auf dem Zitat von Heye herumgeritten; man hat die Entschuldigung
überhaupt nicht wahrgenommen. Man hat ferner immer
wieder darauf hingewiesen, daß der Bund überhaupt
nicht geholfen habe. Der Bund hat aber im Rahmen seiner Verantwortung sofort geholfen. Ich habe ebenfalls
gesagt: Finanzminister Eichel hat zugesagt, daß es die
gleichen Hilfen wie am Rhein und an der Mosel gibt.
({0})
Wenn es möglich ist, mehr zu helfen, werden wir diese
Hilfe selbstverständlich leisten.
Eine
weitere Zwischenfrage von Herrn Repnik.
Herr Kubatschka,
ich weiß bisher von keinerlei Zusage des Finanzministers in dieser Frage. Mir ist auch kein Regierungsmitglied bekannt, das das Katastrophengebiet, sei es in
Bayern oder am Bodensee, bisher besucht hat. Vielleicht
können Sie mir diese Zusage des Herrn Bundesfinanzministers zugänglich machen. Dafür wäre ich außerordentlich dankbar. Vielleicht kann aber auch Herr Diller,
der als der zuständige Parlamentarische Staatssekretär
gleich das Wort hat, diese Zusage geben. Das wäre mir
noch lieber, weil verbindlicher.
Zu dem Besuch von Katastrophengebieten: Ich fahre dann in diese Gebiete,
wenn ich das Ausmaß der Katastrophe beurteilen kann.
Das Ausmaß kann ich aber erst dann beurteilen, wenn
das Hochwasser abgelaufen ist. Erst dann kann man in
die Häuser gehen und das Elend beurteilen.
({0})
Wir sind rechtzeitig zu den Stellen gefahren, wo wir
feststellen konnten, welche Schäden vorliegen. Es ist
etwas anderes, ob Sie in ein Katastrophengebiet eingeflogen werden und von der Höhe aus das Land unter sehen. Sie werden aber viel betroffener sein und den
Schaden besser feststellen können, wenn Sie in die Häuser und in die Gärten gehen und wenn Sie mit den Menschen sprechen, die nicht mehr in ihren Häusern wohnen
können und die deshalb in Garagen übernachten müssen.
Das ist ein größerer Ausdruck von Betroffenheit.
Ich halte es also für richtiger, daß man erst dann in
ein Katastrophengebiet fährt, wenn man die Auswirkungen richtig beurteilen kann. Das ist jetzt der Fall. Deswegen wird am Freitag Bundesminister Hombach nach
Neustadt fahren und sich dort die Situation anschauen.
Aus seiner Erkenntnis werden wir die nötige Hilfe ableiten.
Herr
Kollege Kubatschka, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Diller?
Ja.
Herr
Diller, bitte.
Herr Kollege Kubatschka, können
Sie sich vorstellen, daß die Kolleginnen und Kollegen aus
der CDU/CSU-Fraktion nicht wissen, daß Professor Dr.
Kurt Faltlhauser, bayerischer Staatsminister der
Finanzen, am 28. Mai 1999 dem Bundesminister der Finanzen, Herrn Hans Eichel, geschrieben hat und in seinem
Brief ausdrücklich folgendes formulierte - ich zitiere -:
Tausende von Kräften, darunter eine Vielzahl von
Beamten, Soldaten und Mitarbeitern von Einrichtungen des Bundes, sind im Einsatz und helfen,
Schlimmeres zu verhüten. Auch ist die bundeseigene Kreditanstalt für Wiederaufbau zur Hilfe bei der
Schadensbewältigung bereit. Diese wertvollen
Hilfen des Bundes zur Schadensbegrenzung und
Behebung verdienen Anerkennung.
({0})
Ist Ihnen ferner bekannt, daß ich für den Bundesminister der Finanzen geantwortet habe, daß die Bundesregierung selbstverständlich bereit war und ist,
({1})
den betroffenen Mitbürgern in gleichem Maße Unterstützung zukommen zu lassen, wie sie dies in
bisher vom Hochwasser heimgesuchten Regionen
an Rhein und Mosel getan hat.?
({2})
Wie in diesen Fällen haben sowohl die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk als auch die Bundeswehr unverzüglich und mit erheblichem und engagiertem Einsatz vor Ort Hilfe geleistet. Bisher sind
nach vorläufigen Schätzungen allein von der Bundeswehr Kräfte mit über 5 600 Manntagen eingesetzt worden.
Dem, was Herr Faltlhauser bezüglich der bundeseigenen Kreditanstalt für Wiederaufbau gesagt hat, kann
ich hinzufügen: Die KfW hat mittlerweile einen Kreditrahmen von 200 Millionen DM für Private - bis hin
zu den betrieblich geschädigten Landwirten - geöffnet.
Herr Staatssekretär, das,
was Sie ausgeführt haben, ist mir bekannt. Das wurde
mir auch zugesichert. Wir haben es auch in Presseerklärungen geschrieben. Es stand in Zeitungen. Wenn man
guten Willens gewesen wäre, dann hätte man das lesen
können. Man hätte wissen können, daß der Bund hilft.
Aber es gab eben politische Kräfte, die von ihrem Versagen ablenken wollten. Deswegen hat man diese Zusagen des Bundes nicht wahrnehmen wollen.
({0})
Herr
Kubatschka, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Aigner? Das ist jetzt aber wirklich die letzte Zwischenfrage. Dann machen wir mit den Fragen Schluß.
Ja.
Frau
Kollegin Aigner.
Herr Kollege, sie ist dafür
um so kürzer. Können Sie mir erklären, warum Sie immer von den gleichen Hilfen wie an Rhein und Mosel
und nicht von den gleichen Hilfen wie beim Oderhochwasser sprechen und worin da genau der Unterschied besteht?
({0})
Zunächst einmal wissen
wir noch nicht, wie hoch die Schäden sind. Sie müssen
doch auch zugestehen, daß man einem armen Land wie
Brandenburg, also einem neuen Bundesland, eher hilft
als einem alten Bundesland.
({0})
Meiner Meinung nach können Sie nur die alten Bundesländer und auch nur die neuen Bundesländer untereinander vergleichen.
({1})
Wenn Sie das nicht sehen wollen, dann darf ich Ihnen
mit einem Zitat eines starken Mannes helfen, Frau Kollegin, der - wie man bei uns sagt - vor Kraft nicht laufen kann.
({2})
- Hören Sie doch einmal zu, damit Sie wissen, was Ihr
Staatsminister 1997 gesagt hat. - Staatsminister Thomas
Goppel lädt seinen Kollegen aus Brandenburg, Matthias
Platzeck, ein, damit er sich in Bayern über das Deichbauprogramm an der Donau informieren kann. Dann
heißt es weiter:
Über 40 Jahre Versäumnisse durch den DDRSozialismus haben sich auch an den Oder-Deichen
als verhängnisvoll erwiesen. Bayern ist gerne bereit, bei der Sanierung mitzuhelfen.
({3})
Ich muß sagen: Hochmut kommt vor dem Fall.
Etwas anderes ist auch noch zu sagen: Brandenburg hat
Hilfe angeboten. Sie ist von Bayern abgelehnt worden.
Herr
Kollege Kubatschka, Sie haben jetzt noch zwei Minuten
Redezeit. Ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu.
({0})
Liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich habe vorhin schon gesagt: Man kann
Katastrophen nur dann beurteilen, wenn man sich die
Sache vor Ort ansieht, nachdem das Wasser abgelaufen
ist. Nur dann kann man das beurteilen. Dann wird man
feststellen, daß Fertighäuser unbrauchbar geworden sind
und daß andere Häuser völlig saniert werden müssen.
Das gesamte Ausmaß kann man also erst dann abschätzen, wenn das Hochwasser abgelaufen ist.
Der Bund hat sofort geholfen, und er wird auch weiterhin helfen. Es gab sofortige Zusagen bezüglich KfWKrediten. Der Staatssekretär hat es gerade noch einmal
bestätigt. Es gab aber auch Zusagen, Bayern genauso zu
helfen wie anderen alten Bundesländern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluß noch
ein Hinweis. Ich bitte darum, daß das Land Bayern
rechtzeitig Maßnahmen
({0})
zur Bekämpfung der Mückenplage ergreift. Wenn da
nichts geschieht, werden die jetzigen Opfer der Katastrophe zusätzlich noch von der Mückenplage heimgesucht.
({1})
Was viel schlimmer ist: Dort, wo das Hochwasser
aufgetreten ist - ({2})
- Sie haben wirklich eine billige Rhetorik. Wie Sie sich
über die Opfer lustig machen, finde ich im Grunde
genommen beschämend. Vorhin reklamieren Sie den
Besuch von Hombach und beklagen, daß er nicht
gekommen ist, und jetzt sagen Sie, er wird die Mücken
bekämpfen. Ich finde, wie Sie argumentieren, ist lächerlich und dieses Hauses eigentlich unwürdig.
({3})
Ich möchte auch sagen: Die Bekämpfung der Mükkenplage ist notwendig, damit der Tourismus entlang
den Flüssen aufrechterhalten werden kann; denn anderenfalls wird dieser Tourismus zurückgehen.
Ganz zum Schluß: Ich bitte die Medien, vor allem das
Fernsehen, über das Ausmaß der Katastrophe, über das
Ausmaß des Elends zu berichten. Dann könnten mehr
Spenden fließen, mit denen den Opfern unbürokratisch
geholfen werden kann.
Ich danke.
({4})
Die Frau
Kollegin Homburger hat eine Kurzintervention beantragt. Ich bitte aber, diese wirklich sehr kurz zu halten.
Herr Kollege Kubatschka, ich habe mich gemeldet, weil Sie hier ausgeführt haben, daß Sie die alten Länder nur mit den alten
Ländern und die neuen Länder nur mit den neuen Ländern vergleichen wollen und entsprechend die Finanzhilfen ausrichten wollen. Ich bin der Auffassung, daß man
die Hilfen nach dem Ausmaß der Schäden bemessen
muß.
({0})
Natürlich gebe ich Ihnen recht: Man kann das Ausmaß noch nicht voll ermessen. Aber man kann schon
heute sehen, daß die Summe der Schäden, die das
Hochwasser in Süddeutschland und insbesondere am
Bodensee auch wegen seines langen Andauerns angerichtet hat, im dreistelligen Millionenbereich liegen
wird. So hoch lag sie im übrigen auch beim Oderhochwasser. Deswegen bin ich der Meinung: Sie müssen das
vergleichen, was vergleichbar ist, nämlich das Ausmaß
der Schäden, und dementsprechend helfen, anstatt sich
hier herauszureden.
({1})
Herr
Kubatschka, wollen Sie erwidern? - Nein.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Gerd Müller von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Stiegler, Herr Kubatschka,
Ihre Reden waren peinlich.
({0})
Wenn sich die betroffenen Menschen das hätten anhören
müssen! Gott sei Dank mußten sie es nicht.
({1})
Zu Pfingsten kam das größte Hochwasser, das Süddeutschland in den letzten 100 Jahren erlebt hat und derzeit noch am Bodensee erleben muß. Die Folge sind fünf
Tote, 20 000 beschädigte Anwesen, über 100 000 geschädigte Anwohner und nach der bisherigen Schadensbilanz - nicht Schätzungen oder Vermutungen, sondern
Schadensanmeldungen durch die Kommunen und Behörden - über 2 Milliarden DM Sachschaden. Die in
Brandenburg bei der Oderkatastrophe festgestellte Schadenssumme lag bei 650 Millionen DM. Ich will Katastrophen nicht gegeneinander aufrechnen. Aber schon an
diesen Zahlen sehen Sie: Es geht nicht um eine - so
möchte ich fast sagen - jahreszeitlich übliche Hochwasserkatastrophe, sondern wirklich um ein Jahrhunderthochwasser, das es so in den letzten hundert Jahren
in den betroffenen Regionen nicht gegeben hat.
({2})
Dies ist der qualitative Unterschied. Ich will nicht erklären, warum und weshalb, sondern zu ein paar weiteren Punkten kommen.
Die Bayerische Staatsregierung und die Landesregierung von Baden-Württemberg haben mit umfassenden
Soforthilfen reagiert. Den Menschen ist nicht mit Ankündigungen oder mit einem Bundesminister geholfen,
der sich drei Wochen später in der Region umschauen
will. Sie, Herr Kubatschka, haben Angst, daß er von den
Mücken zerstochen wird. Dann soll er zu Hause in seiner Wohnung oder in seinem Büro bleiben.
Herr
Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Brähmig?
Ja, bitte schön.
Bitte
schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Müller,
ich kenne Sie als sach- und fachkompetenten Kollegen.
Ich frage Sie ganz einfach, ob Sie mit mir einer Meinung
sind, daß man eine Naturkatastrophe, wie sie im AugenHorst Kubatschka
blick im Freistaat Bayern und am Bodensee in BadenWürttemberg stattfindet, nicht allein diesen Bundesländern zuordnen kann, sondern letztendlich als eine nationale Aufgabe ansehen muß.
Dies sage ich vor allem vor dem Hintergrund, daß
sich unsere Arbeitsgruppe vor wenigen Tagen vor Ort
sachkundig gemacht hat. Ich persönlich war erschüttert;
denn das, was über die Medien dargestellt wird, ist in
keinerlei Weise deckungsgleich mit der Realität. Wir
haben gesehen, welche Auswirkungen ein Pegel von
1,50 Metern über Normal bei strahlend blauem Himmel
am Bodensee hat.
Eine zweite Frage: Sind Sie mit mir einer Meinung,
daß Kanzleramtsminister Bodo Hombach bei seinem Besuch nicht nur schöne Worte, sondern auch ganz konkrete
Hilfsangebote an die Menschen in den betroffenen Regionen in Bayern und Baden-Württemberg machen muß?
({0})
Herr Brähmig, ich bin
Ihnen für diese Frage sehr dankbar. Neben aller Polemik, die die Kollegen der SPD hier eingeführt haben,
müssen wir uns, glaube ich, auch an anderer Stelle noch
einmal über diese Grundsatzfrage unterhalten: Wie kann
der Staat über das hinaus, was natürlich jeder Betroffene
selber durch eigene Leistung an Schaden bewältigen
muß, Hilfe leisten? Niemand wird den Menschen versprechen können, daß alle Schäden, die eingetreten sind,
von staatlichen Behörden bzw. von staatlichen Stellen
ausgeglichen werden können.
Aber darüber hinaus muß bei Jahrhundertkatastrophen wie der Oder-Katastrophe oder der, die sich vor
kurzem in Süddeutschland ereignete, die Solidarität des
Gesamtstaates erfolgen. Wir müssen hier neue Wege
gehen. Solidarität ist hier keine Einbahnstraße. Sie muß
überall in gleichem Umfang und gleich schnell geleistet
werden, da die Menschen in Brandenburg und in Bayern
für den Staat gleich viel wert sind!
({0})
Deshalb war die Reaktion des Regierungssprechers
Heye so skandalös, der sagte: Bayern ist ein starkes
Land, die können das ganz alleine. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, zwar sind die Menschen und das
Land stark. Herr Heye aber ist zynisch und unverschämt.
Seine Äußerung ist dumm. Ich bin der Meinung, Bundeskanzler Schröder sollte sich für ihn entschuldigen
und ihn entlassen.
({1})
Herr Staatssekretär Diller, Sie haben soeben einige
Sätze gesagt. Ich kenne Ihren Brief. Vierzehn Tage haben Sie für Ihre Antwort gebraucht - seit der Katastrophe sind nun drei Wochen vergangen -, um einen substanzlosen eineinhalbseitigen Brief zu schreiben, in dem
Sie keine konkreten Zusagen machen, die über die angesprochenen KfW-Kredithilfen hinausgehen. Damit werden Sie der Katastrophe, den Menschen, dem Leid und
den Problemen nicht gerecht.
({2})
In dieser Debatte erwarten die Menschen und die Betroffenen in den entsprechenden Landesteilen eine Stellungnahme der Bundesregierung, welche konkreten Hilfen Sie anbieten. Wir wollen Hilfe in vergleichbarer Weise und Höhe wie beim Oderhochwasser. Sagen Sie, warum sich der Bund in Bayern oder in Baden-Württemberg
prozentual nicht vergleichbar an den Soforthilfeprogrammen des Landes beteiligen will. Warum nicht?
Herr Diller, Sie konnten nun drei Wochen darüber
nachdenken, was Sie den Menschen und den Betroffenen in dieser Debatte anbieten können: Soforthilfen,
eine Unterstützung bei der Soforthilfe, die Beteiligung
am Gesamthilfsprogramm der Länder, Hilfen für die
Landwirtschaft, Zusatzmittel für den Bundesstraßenbau
oder die Nutzung des Aufwuchses von Stillegungsflächen für Futterzwecke? Ich könnte diese Liste noch
weiterführen. Zu keinem dieser Punkte haben Sie sich
heute klar und deutlich geäußert. Ich fordere Sie auf,
sich dazu zu bekennen.
Nun komme ich zu einem substantiell wichtigen
Punkt. Wir alle anerkennen die Soforthilfen der Bundeswehr und des THW. Auch in diesem Fall waren die
Soforthilfen glänzend und hervorragend. Herzlichen
Dank an die örtlichen Kräfte!
({3})
Aber - ich habe dies in einem Schreiben an Bundesminister Scharping vorgetragen; dieser Brief blieb allerdings unbeantwortet - wir haben das Problem - wie dies
beim Oderhochwasser der Fall war -, daß die Bundeswehrkräfte - so ist auch jetzt die Maßgabe - nur für den
Katastrophenfall ausrücken. Jetzt rücken sie wieder in
die Kasernen ein. Nun besteht das Problem der Schadensbewältigung und der Schadensbeseitigung an den
Wildbächen. Aus dem Bodensee müssen wir Hunderte
von Kubikmetern Treibholz herausholen und vieles
mehr. Ich bitte die Bundesregierung, durch den Bundesverteidigungsminister den kostenfreien Einsatz zur
Schadensbewältigung auch in den nächsten Wochen
zweifelsfrei sicherzustellen.
({4})
In der Not erkennt man seine Freunde. Herr Albert
Schmidt, dies stelle ich mit Freude und Genugtuung fest:
Solche Themen eignen sich nicht, um für sich da oder
dort parteipolitisch eine Schlagzeile herauszuholen.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Regierungskoalition und Vertreter der Bundesregierung,
wir können nicht hinnehmen, daß Sie bei der heutigen
Debatte keinen einzigen konkreten Punkt genannt haben,
wie die Bundesregierung helfen will. Es gibt keinen
Grund, daß Sie, wenn Sie, wie Sie es in Ihren Reden
zum Teil angekündigt haben, Solidarität üben wollen,
unserem Antrag jetzt nicht zustimmen. Wenn Sie dies
nicht tun, ist das ein Schlag in das Gesicht der betroffenen Menschen.
Danke schön.
({6})
Ich
schließe die Aussprache.
({0})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/1144 und 14/1152 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen beschlossen.
Wir sind damit am Schluß der Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 23. Juni 1999, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.