Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Die heutige Sitzung habe ich gemäß Art. 39 Abs. 3
des Grundgesetzes in Verbindung mit § 21 Abs. 2 der
Geschäftsordnung auf Verlangen des Bundeskanzlers
einberufen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1a und b auf:
1.a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-
deskanzlers
Ergebnisse des Europäischen Rates am 3. und
4. Juni 1999 in Köln und zum Stand der Frie-
densbemühungen im Kosovo-Konflikt
b) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Deutsche Beteiligung an einer internationalen
Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung einer Friedensregelung für das Kosovo
- Drucksache 14/1111 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({0})
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuß
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Herr Bundeskanzler, Gerhard Schröder.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Europäische Rat in Köln hat in der vergangenen Woche Beschlüsse gefaßt, die ihn als wichtigen Gipfel in Erinnerung behalten lassen werden.
Am vergangenen Donnerstag überbrachte
Die jugoslawische
Führung und das serbische Parlament haben dem von
ihm und Viktor Tschernomyrdin vorgelegten Petersberger Friedensplan zu einer Beilegung des Konfliktes
ohne Einschränkung zugestimmt. Damit ist die Tür zum
Frieden geöffnet. Wir haben Grund zu Optimismus, aber
Vorsicht ist weiterhin angebracht. Die Belgrader Führung - das hat sich in den letzten Tagen gezeigt - versucht weiter, einzelne, auch wesentliche Bestimmungen
des Petersberger Dokumentes zu umgehen. Dies war
zu erwarten, dies kann aber nicht zugelassen werden.
Wir werden fest bleiben und auf der genauen Umsetzung jeder einzelnen Bestimmung des Dokumentes bestehen.
({0})
Belgrad muß jetzt einem detaillierten Abzugsplan für die
jugoslawischen Sicherheitskräfte zustimmen. Ansonsten
werden die Flüchtlinge nicht in Sicherheit und ohne
Furcht in ihre Heimat zurückkehren können. Erst wenn
ein vollständiger Abzug begonnen hat, können die Luftschläge der NATO gegen Jugoslawien ausgesetzt werden.
Meine Damen und Herren, der EU-Beauftragte Ahtisaari, der russische Sonderbeauftragte Tschernomyrdin
und der stellvertretende US-Außenminister Talbott haben in der letzten Woche eine, wie wir alle hoffen, entscheidende Dynamik in Gang gebracht. Ihnen gebührt
größter Dank für ihren Einsatz, ihre Beharrlichkeit und
ihr diplomatisches Geschick.
({1})
Ich bin sicher, daß ich diese Dankbarkeit auch im Namen des Deutschen Bundestages und der gesamten Bevölkerung unseres Landes aussprechen darf. Respekt
gebührt vor allem aber auch Präsident Jelzin, ohne des3484
sen Vertrauen Viktor Tschernomyrdin seine Aufgabe
nicht hätte bewältigen können.
({2})
Die Arbeit von Ahtisaari und Tschernomyrdin zeigt:
Frieden können wir in Europa nur schaffen und bewahren, wenn wir gemeinsam, das heißt mit Rußland mit
den Vereinigten Staaten, agieren. Heute können wir mit
Fug und Recht sagen: Die Politik der Bundesregierung
in der Kosovo-Krise hat sich als richtig erwiesen - militärische Festigkeit einerseits, gleichzeitig aber die Entschlossenheit, eine breite internationale Plattform zu
schaffen, von der aus die Zustimmung der Belgrader
Führung zu einer politischen Lösung erreicht werden
kann und erreicht werden konnte.
({3})
Wir haben in den vergangenen Wochen nicht nur die
Einheit innerhalb der NATO bewahrt. Die deutsche Präsidentschaft hat diese Einheit auch in der Europäischen
Union maßgeblich gestaltet und erhalten, also auch unter
denjenigen europäischen Staaten, die der NATO nicht
angehören. Über die G 8 und die Beauftragung von Präsident Ahtisaari hat sie erreicht - das ist insbesondere
ein Verdienst des Bundesaußenministers -, daß sich
Rußland dem internationalen Konsens angeschlossen
hat.
({4})
Europa hat unter deutscher Präsidentschaft in der KosovoKrise politische Führungskraft bewiesen.
Der von Belgrad akzeptierte Friedensplan beinhaltet
die folgenden Elemente: ein sofortiges Ende der Gewalt
und Unterdrückung im Kosovo; Abzug aller - ich betone: aller - jugoslawischen Sicherheitskräfte, das heißt:
Militär, Sonderpolizei und paramilitärische Einheiten;
Stationierung einer internationalen Friedenstruppe mit
einem NATO-Kern und einer erheblichen Beteiligung
russischer Truppen und Truppen anderer Nicht-NATOStaaten - alles unter dem Dach der Vereinten Nationen -;
die Rückkehr aller Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre
Heimat unter Überwachung des UNHCR; Beginn eines
politischen Prozesses mit dem Ziel, eine substantielle
Autonomie für das Kosovo im Rahmen der Souveränität
und der territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien zu erreichen.
Die Meldungen und Entwicklungen seit dem Wochenende haben aber eines gezeigt: Schon die nächsten
Tage und Wochen werden eine kritische Phase auf dem
Weg zu einer tragfähigen, stabilen Situation im Kosovo
sein. Die internationalen Friedenstruppen müssen unmittelbar hinter den abziehenden jugoslawischen Sicherheitskräften in das Kosovo einrücken, um kein Sicherheitsvakuum entstehen zu lassen. Der Einzug einer
robusten internationalen Friedenstruppe mit 50 000 Soldaten wird schwierig sein und gewiß nicht ohne Risiko.
Wir kennen noch nicht das volle Ausmaß der Zerstörungen. Es wird Gefahren durch Minen geben. Widerstand durch unkontrollierte serbische Einheiten ist denkbar. Sodann müssen sich die Kämpfer der UCK demobilisieren, und sie müssen ihre Waffen abgeben.
({5})
Auch wenn sie nicht auf den Widerstand der einen oder
anderen Seite trifft, wird die Friedenstruppe bei ihrem
Einzug und ihrer Stationierung vor wirklich schwierige
Herausforderungen gestellt sein. Sodann muß die Rückkehr von einer Million Flüchtlingen und Vertriebenen
ins Werk gesetzt werden. Die Menschen sollen noch vor
Einbruch des Winters in ihre Städte, Dörfer und Häuser
zurückkehren können.
Dem UNHCR wird hierbei eine führende Rolle zukommen. Aber - wir haben es erfahren - er kann die
Probleme nicht alleine lösen. Wohnhäuser und lebenswichtige Infrastruktur sind zerstört. Durch den Ausfall
der landwirtschaftlichen Produktion mangelt es an Nahrung. Hier werden eine Reihe von internationalen Organisationen, vor allem aber die Soldaten der Friedenstruppen anpacken und helfen müssen.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr hat sich
in den vergangenen Wochen nicht nur an den militärischen NATO-Operationen im Rahmen unserer Bündnissolidarität, sondern auch in vorbildlicher Weise an der
Hilfe für Hunderttausende von Flüchtlingen in Mazedonien und Albanien beteiligt. Sie hat sich hierdurch großen Respekt und den Dank bei den Menschen in der Region, aber auch bei den vielen internationalen zivilen
Helfern erworben. Dafür möchte ich den Soldaten der
Bundeswehr noch einmal herzlich danken und ihnen
meine und, so denke ich, unser aller Anerkennung aussprechen.
({6})
Die Bundeswehr wird ihre Tätigkeit im Dienst für
den Frieden im Kosovo gemäß den Beschlüssen dieses
Hohen Hauses fortsetzen. Sie soll ihre Erfahrung von
Anfang an in der internationalen Friedenstruppe nutzbar
machen und so für ein stabiles und sicheres Umfeld für
die zurückkehrenden Flüchtlinge sorgen. Ich habe keinen Zweifel daran, daß die Bundeswehr bestens auf die
ihr bevorstehenden Aufgaben vorbereitet ist.
Die Bundesregierung hat gestern unter Bezugnahme
auf vorherige Beschlüsse und vorbehaltlich der Zustimmung des Deutschen Bundestages die Teilnahme der
Bundeswehr an der Friedensmission im Kosovo beschlossen. Ich bitte Sie, dem Beschlußvorschlag Ihre
Unterstützung zu geben, sobald die Voraussetzungen
vorliegen und der Sicherheitsrat mit der Entsendung der
Friedenstruppe befaßt ist. Ich hoffe sehr, daß dies in
ganz kurzer Zeit - noch heute oder spätestens morgen der Fall sein wird.
Zu Beginn der Luftschläge der NATO habe ich am
24. März vom Berliner Gipfel aus erklärt, daß wir im
Kosovo gemeinsam mit allen Bündnispartnern die
grundlegenden Werte von Freiheit, von Demokratie und
von Menschenrechten verteidigen. Ich habe gesagt, daß
wir nicht zulassen dürfen, daß diese Werte nur eine
Flugstunde von uns entfernt buchstäblich mit Füßen getreten werden. Die Belgrader Führung habe ich aufgefordert, die Kämpfe im Kosovo sofort zu beenden und
sich für den Frieden zu entscheiden. Wir alle haben damals gehofft, daß sich die Vernunft in Belgrad schnell
durchsetzen würde. Wir sind in diesen Hoffnungen enttäuscht worden. Statt dessen hat die Belgrader Führung
die Vertreibung und das Morden auf grausamste Weise
intensiviert. Die im Kosovo begangenen Verbrechen
werden nicht dadurch rückgängig gemacht, daß die
Menschen - hoffentlich bald - in ihre Heimat zurückkehren. Die Kosovaren haben einen Anspruch auf Gerechtigkeit. Die Verantwortung für das Leid, das ihnen
zugefügt wurde, muß festgestellt und strafrechtlich geahndet werden.
({7})
Der Strafgerichtshof in Den Haag hat am 27. Mai
Anklage gegen den jugoslawischen Präsidenten Milosevic und gegen weitere Mitglieder der Belgrader Führung
wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben.
Die Bundesregierung hat die Arbeit dieses Tribunals in
der Vergangenheit vorbehaltlos unterstützt und wird es
auch in Zukunft tun. Ohne Gerechtigkeit kann es keine
dauerhafte Stabilisierung und keine wirkliche Demokratisierung in Jugoslawien geben.
Lassen Sie mich an dieser Stelle aber auch ein Wort
über die Opfer und über das Leiden der serbischen Zivilbevölkerung sagen. Wir haben gemeinsam mit den
NATO-Partnern von Anfang an klargestellt, daß sich die
Militäraktionen nicht gegen das serbische Volk richten
und daß wir alles tun werden, Verluste unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Aber doch - gleichsam ohne
die Möglichkeit, dies zu verhindern - hat es unschuldige
Opfer gegeben. Ich bedaure dies zutiefst und bin mir
bewußt, daß es für die Opfer und ihre Familienangehörigen keine zufriedenstellende Erklärung sein kann, wenn
ich darauf hinweise, daß die Belgrader Führung die volle
Verantwortung für die Konsequenzen der militärischen
Auseinandersetzung zu tragen hat.
Für mich gibt es keinen Zweifel, daß die NATOIntervention im Kosovo zwingend notwendig war. Dabei
will ich einräumen, daß die Verteidigung der Menschenrechte von Regierenden Maßnahmen verlangt, durch die
der Handelnde auch Schuld auf sich lädt. Doch auch der,
der nicht handelt, würde in dieser Situation Schuld auf
sich laden. Ich bin sicher: Nicht gehandelt zu haben
hätte zu noch größerer Schuld geführt, nämlich der
Schuld unterlassener Hilfeleistung für bedrängte und
gequälte Menschen.
({8})
Die Kosovo-Krise führt uns eindringlich vor Augen,
daß Europa sein Engagement auf dem Balkan nicht auf
das Management periodisch immer wieder auftretender
Krisen beschränken kann und darf. Es kann in Südosteuropa kein Nebeneinander von Stabilitätsinseln und Krisenherden geben. Wir müssen uns auf eine regionale
Konfliktprävention konzentrieren. Deshalb hat die
deutsche Präsidentschaft noch während des Fortgangs
der Kosovo-Krise beschlossen, eine umfassende Hilfsstrategie für die Länder dieser Region auf den Weg zu
bringen. Am 10. Juni werden die Außenminister der Europäischen Union, der Staaten der Region, der USA,
Rußlands und der Türkei sowie die EU-Kommission und
die wichtigsten internationalen Organisationen einschließlich der Finanzorganisationen in Köln zusammentreffen, um einen Stabilitätspakt für Südosteuropa zu verabschieden.
Ziel dieses Stabilitätspaktes ist die Entwicklung einer
Perspektive von Frieden, Wohlstand und damit Stabilität. Wir wollen gewaltsame Konflikte gar nicht erst zum
Ausbruch kommen lassen; wir wollen sie verhindern.
Dazu müssen wir dauerhafte Voraussetzungen für Demokratie, Marktwirtschaft, regionale Zusammenarbeit
und gutnachbarliche Beziehungen schaffen sowie die
betreffenden Staaten nachhaltig, wenn auch Schritt für
Schritt, in Europa verankern.
({9})
Beim Kölner Gipfel haben wir beschlossen, daß die
Europäische Union eine führende Rolle beim Stabilitätspakt und beim wirtschaftlichen Wiederaufbau der
Region spielen soll. Der Europäische Rat hat auch seine
Bereitschaft erklärt, die Länder der Region enger an die
Union heranzuführen, mit der Perspektive einer vollen
Integration in ihre Strukturen. Die Kommission hat hierzu eine neue Form vertraglicher Beziehungen vorgeschlagen. In Köln hat die Union weiterhin beschlossen,
beim Wiederaufbau und bei der Übergangsverwaltung
im Kosovo eine zentrale Rolle zu übernehmen.
Wir alle wissen, daß Jugoslawien eine Schlüsselrolle
für die Stabilität auf dem Balkan zukommt. Das Land
muß so schnell als möglich ein voller, ein gleichberechtigter Partner im Stabilitätspakt sein.
({10})
Aber - auch das gilt es hinzuzufügen - es ist kaum
denkbar, daß ein Jugoslawien mit seiner derzeitigen
Führung ein vertrauenswürdiger Partner in der Region
und in Europa sein kann.
({11})
Der Präsident von Montenegro und der serbische Oppositionsführer Djindjic haben kürzlich zu Recht festgestellt, daß nur ein demokratisches Jugoslawien Stabilität
auf dem Balkan auf Dauer gewährleisten kann.
({12})
Sie haben erklärt, daß die Kosovo-Krise die Chance
bietet, mit internationaler Hilfe einen Neuanfang für Jugoslawien zu schaffen. Ich hoffe, daß das Land und seine Menschen diese Chance so schnell wie möglich erBundeskanzler Gerhard Schröder
greifen. Europa jedenfalls ist zur Hilfe bei der Demokratisierung bereit.
({13})
Meine Damen und Herren, die Europäische Union hat
beim Gipfel in Berlin zu Beginn der NATO-Operation
große Geschlossenheit bewiesen, und sie hat diese Geschlossenheit bis zum Europäischen Rat in Köln bewahrt. Am Ende der deutschen Präsidentschaft in der
Europäischen Union blicken wir auf ein ungemein arbeitsintensives Halbjahr zurück. Schon heute besteht
Anlaß, mit dem Ergebnis von Köln eine erste Bilanz der
deutschen Präsidentschaft zu ziehen.
Wir haben die Präsidentschaft in einer für Europa und
die Europäische Union gewiß schwierigen Zeit übernommen. Wir waren wie noch keine Präsidentschaft vor
uns mit einer Bündelung von Herausforderungen konfrontiert: Agenda 2000, Rücktritt der Kommission,
Krieg im Kosovo. Wir haben in diesem Halbjahr viel, ja
sehr viel erreicht.
({14})
Schon beim Sondertreffen des Europäischen Rates im
März 1999 konnte die deutsche Präsidentschaft in zwei
ganz wichtigen Bereichen grundsätzliche und richtungsweisende Entscheidungen erreichen. In Berlin gab
es - das hatte niemand erwartet - eine Einigung über die
Agenda 2000.
({15})
- Ich erinnere mich an Ihre aufgeregten Stellungnahmen, wir sollten den Gipfel in Berlin besser verschieben.
Das haben Sie doch ständig erklärt. Erinnern Sie sich
dessen nicht mehr?
({16})
- Es waren gar nicht Sie, Herr Schäuble. Es war Ihr
ehemaliger Kanzlerkandidat Stoiber, der immer von der
Verschiebung geredet hat.
({17})
Und in Berlin hat sich der Europäische Rat auf meinen Vorschlag hin darauf verständigt, den früheren italienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi als neuen
Präsidenten der Kommission vorzuschlagen.
({18})
Die überragende Zustimmung durch das Europäische
Parlament ist der beste Beweis dafür, daß Romano Prodi
eine gute Wahl ist.
({19})
Auch der Europäische Rat in Köln stand natürlich im
Zeichen der aktuellen Entwicklungen in der KosovoKrise. Dennoch hat dieser Europäische Rat - der erste
nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags - erneut
die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union unter deutscher Präsidentschaft unter
Beweis gestellt. Entscheidende und bedeutende europapolitische Vorhaben sind auf den Weg gebracht worden.
Europa hat deutlich gemacht, daß es gewillt ist, die neuen Möglichkeiten, die es mit dem Amsterdamer Vertrag
gewonnen hat, entschlossen zu nutzen. Bester Ausdruck
hierfür ist, daß sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union rasch und in großem Einvernehmen auf den
jetzigen NATO-Generalsekretär Solana als künftigen
Hohen Beauftragten für die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik der Europäischen Union verständigt haben. Auch das war ein Vorschlag der Präsidentschaft.
({20})
Ich denke, einen besseren und profilierteren Kandidaten hätten wir nicht finden können. Solana wird der
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik die Stimme
verleihen, die ihr bisher so sehr fehlte. Damit wird Europa international erheblich an Gewicht gewinnen.
({21})
Europa wird außenpolitisch mit einer Stimme sprechen,
und es wird weltweit mehr als je zuvor Gehör finden.
Vom Europäischen Rat in Köln gehen darüber hinaus
wichtige Impulse und Orientierungen für die Fortentwicklung Europas aus. Wir haben in einigen wesentlichen Bereichen Ergebnisse erzielt, die weit über die
deutsche Präsidentschaft hinausweisen und die für die
kommenden Arbeiten in Europa eine Art Fahrplan bis
Ende 2000 skizzieren:
Erstens. Wir haben einen Europäischen Beschäftigungspakt beschlossen. Ziel ist, nationale Anstrengungen zur Schaffung von mehr Beschäftigung auf europäischer Ebene zu begleiten und zu unterstützen.
({22})
Flankierend dazu haben wir eine europäische Investitionsinitiative auf den Weg gebracht.
Zweitens. Vor dem Hintergrund der Kosovo-Krise
haben wir in Köln einen Fahrplan für die Ausgestaltung
einer eigenständigen europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik verabschiedet. Europa braucht
mehr denn je eigene Kapazitäten zum Krisenmanagement.
({23})
Dabei steht fest: Dies soll keine Alternative zur
NATO sein. Dies wird das Atlantische Bündnis und das
europäische Gewicht in der NATO stärken. Eine stärkere Rolle Europas in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird Europa wie auch der NATO nützen. Deshalb wollen wir die im Amsterdamer Vertrag formulierten Perspektiven möglichst bald im Rahmen der euroBundeskanzler Gerhard Schröder
päischen Integration umsetzen. Bis Ende des Jahres
2000 sollen unter französischer Präsidentschaft die dafür
erforderlichen rechtsförmlichen Beschlüsse gefaßt werden.
Drittens. Der Europäische Rat in Köln hat eine gemeinsame Strategie für Rußland beschlossen. Von ihr
gehen wichtige Signale aus: Zum einen ist sie Beweis
dafür, daß sich Europa zu mehr außenpolitischer Gemeinsamkeit zusammenfindet, und zum anderen dafür,
daß es seine Politik gegenüber wichtigen Partnern bündeln und koordinieren will. Daß sich die erste gemeinsame Strategie der EU auf Rußland richtet, ist Beweis
dafür, welch außerordentliches Gewicht wir Europäer
einer engen und partnerschaftlichen Kooperation mit
Rußland auf ökonomischem - aber nicht nur auf ökonomischem - Gebiet beimessen.
({24})
Wir Europäer wollen diese Partnerschaft ausbauen und
Rußland auf seinem Weg der Reformen und der Demokratisierung weiter mit aller Kraft unterstützen.
Viertens. Ferner haben wir uns in Köln auf das weitere Vorgehen bei der Lösung der seinerzeit in Amsterdam
offengebliebenen institutionellen Fragen verständigt.
Anfang des Jahres 2000 wird eine Regierungskonferenz
einberufen werden, um auch auf diesem Felde die EU
erweiterungsfähig zu machen. Europa steht zu seinen
Zusagen. Wir wollen die mittel- und osteuropäischen
Länder sobald als möglich in die Europäische Union
aufnehmen. Dafür haben wir in Berlin mit der Verabschiedung der Agenda 2000 wesentliche Grundlagen
gelegt.
({25})
Die letzten Hindernisse für die Erweiterung werden wir
mit dem Abschluß der in Köln beschlossenen Regierungskonferenz zu den institutionellen Reformen bis
Ende 2000 aus dem Weg geräumt haben.
Die Bilanz der deutschen Präsidentschaft ist ein Beweis für unser Engagement zugunsten der Erweiterung
der Union. Das wird in den ost- und mitteleuropäischen
Staaten durchaus so gesehen.
({26})
Wir haben damit den Weg für schnelle Fortschritte in
diesem Prozeß frei gemacht. Jetzt sind in erster Linie die
Beitrittsländer selbst gefordert. Sie müssen ihre konsequente Reformpolitik fortsetzen. Erfolge in diesem Bereich werden letztlich über konkrete Beitrittstermine
entscheiden. Die Fortschrittsberichte, die die Kommission regelmäßig vorzulegen hat, und die Tatsache, daß sie
über den Stand der Verhandlungen zu berichten hat, sind
ein Beweis dafür.
Fünftens. Schließlich haben wir in Köln ein weiteres
zukunftsweisendes Projekt angestoßen. Wir haben uns
darauf verständigt, daß unter der kommenden finnischen
Präsidentschaft eine Art Konvent aus nationalen Parlamentariern, Europaparlamentariern, Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten und Vertretern der Kommission unter Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen
einberufen wird, die eine Grundrechtscharta der Europäischen Union erarbeiten soll.
({27})
Dieses politische Grundsatzdokument wollen wir - so
sehen es die Festlegungen vor - beim Europäischen Rat
im Dezember 2000 unter französischer Präsidentschaft
verabschieden. Europäische Grundrechte sind aber unmittelbar Angelegenheit der europäischen Bürger. Wir
wollen eben nicht nur einen Vertrag zwischen Regierungen, sondern eine intensive öffentliche Diskussion, in
der die Europäer selbst über ihre Grundrechte befinden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch einen Punkt erwähnen, der mir am Herzen
liegt und bei dem der deutsche Vorsitz in Köln leider
keinen Erfolg erzielen konnte. Ich meine die Fortentwicklung der Beziehungen zwischen der Europäischen
Union und der Türkei. Es war mein Ziel, bei diesem
Europäischen Rat das Verhältnis der Europäischen Union zur Türkei neu zu ordnen. Wir wollten einen klaren
Zeitplan für die Heranführung an die Union vereinbaren.
Nachdem sich Ministerpräsident Ecevit mir gegenüber
zu den Kopenhagener Kriterien und den Bestimmungen
des Art. 6 des EU-Vertrages bekannt hat, sollte auch die
Türkei als Kandidat gleichberechtigt in den Beitrittsprozeß einbezogen werden. Hierzu konnten wir in Köln
trotz der Unterstützung der meisten Mitgliedstaaten auf
Grund der Bedenken einiger weniger Partner noch keine
Einigung erzielen.
Die Türkei - das bleibt aber festzustellen - ist für Europa und die Region ein ganz gewichtiger und damit
wichtiger Partner.
({28})
Wir alle müssen darum ein Interesse daran haben, die
Demokraten in der Türkei zu stärken, sie für Europa, für
unsere Politik und unsere gemeinsamen Werte zu gewinnen. Dazu wäre ein deutliches Signal in Köln der
richtige Weg gewesen. Daß dies nicht gelungen ist, bedaure ich, aber ich werde mich davon unbeeindruckt
weiterhin um Fortschritte im Verhältnis zur Türkei, und
das heißt: um die Konkretisierung ihrer Beitrittsperspektive bemühen.
({29})
Meine Damen und Herren, diese Tage werden für die
Lösung der Kosovo-Krise entscheidend sein. Ich sage
das deshalb, weil vielleicht schon heute ein entscheidender Tag sein wird. Ich jedenfalls wünsche dem Außenminister, der gleich erneut zu dem Treffen der G-8Staaten fahren wird, dabei alles Glück dieser Welt.
({30})
Ich habe die Hoffnung, daß der Konflikt jetzt zu einem Ende kommt. Er hat auch zu Spannungen in unserer
eigenen Gesellschaft geführt. Ich möchte niemandem
meinen Respekt versagen, der das Engagement der
NATO aus ethischen Gründen und Überzeugungen
nicht mittragen konnte. In diesem Zusammenhang
möchte ich Ihnen, den Abgeordneten des Deutschen
Bundestages, und zwar allen, Dank sagen, daß Sie in Ihrer überwältigenden Mehrheit die Kosovo-Politik der
Bundesregierung mitgetragen haben.
Ich glaube, daß uns in den vergangenen Wochen bei
allen auch kontroversen und oft emotional geführten
Diskussionen hier im Bundestag wie in der Bevölkerung
ein Grundkonsens verbunden hat, nämlich der, daß
Europa unteilbar ist. Seine Werte und seine demokratischen Errungenschaften dürfen - das hat uns verbunden
- eben nicht an den Grenzen der Europäischen Union
haltmachen, sondern beanspruchen universelle Geltung.
({31})
Ich erteile das Wort
dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, dem Kollegen Wolfgang Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr
Bundeskanzler, den Grundkonsens, von dem Sie im Zusammenhang mit Europas Rolle, Auftrag und Verständnis und der Unteilbarkeit unseres Auftrags über die
Grenzen der Europäischen Union hinaus zuletzt gesprochen haben, teilen wir in der Tat. Alle Menschen in unserem Lande teilen die Hoffnung, daß das Morden und
die Vertreibung im Kosovo bald ein Ende finden. Jeder
Tag früher, an dem Morden und Vertreibung im Kosovo
beendet werden, ist um so besser. Jeder Tag früher, an
dem militärische Maßnahmen der NATO unter Beteiligung der Bundeswehr nicht mehr notwendig sein werden, ist um so besser.
({0})
Ich will noch einmal hervorheben, was wir schon
während Ihrer Rede zum Ausdruck gebracht haben: Wir
teilen den Dank an den finnischen Staatspräsidenten
Ahtisaari, an Herrn Tschernomyrdin und an Herrn Talbott für ihre Bemühungen, endlich ein Ende der Gewalt
im Kosovo und im ehemaligen Jugoslawien herbeizuführen.
Die militärische Entschlossenheit der NATO hat
einen entscheidenden Beitrag zur Annäherung an eine
politische Lösung geleistet. Die Debatte in diesem Haus
und in unserer Bevölkerung war schwierig. Die Bundesregierung hat sich in dieser Debatte im Rahmen unserer
Beschlußfassung auf die Unterstützung der CDU/CSU,
wie ich es Ihnen vorhergesagt habe, immer verlassen
können, teilweise mehr als auf die Unterstützung in
Ihren eigenen Reihen.
({1})
Weil der militärische Einsatz von NATO und Bundeswehr unausweichlich geworden war, um eine politische Lösung zu erreichen, will ich auch in dieser Stunde
noch einmal den Soldaten der Bundeswehr und den Soldaten der Streitkräfte aller Verbündeten unseren Dank
für ihren gefährlichen, mutigen und entschlossenen
Dienst aussprechen.
({2})
Es war immer klar: Wir brauchen eine politische Lösung. Wir haben immer auch gesagt: Die Vorstellungen,
nach denen manches ein bißchen unklar war - auch sie
hat es da und dort im Bündnis gegeben; selbst innerhalb
der Bundesregierung mußten sie gelegentlich dementiert
werden, weil der eine oder andere hohe Beamte vielleicht nicht richtig verstanden worden ist oder etwas
falsch ausgedrückt hat -, daß man notfalls auch mit
Kampftruppen am Boden in Jugoslawien einmarschiert
und nach Belgrad zieht, um, wenn es nicht anders geht,
mit ausschließlich militärischen Mitteln ein Ende der
Auseinandersetzung herbeizuführen, haben wir immer
abgelehnt. Das haben wir stets klar gesagt. Es ist gut,
daß inzwischen auch im Bündnis darüber Klarheit
herrscht. Dieser Weg hat sich zu jedem Zeitpunkt als
nicht gangbar erwiesen. Das muß auch heute gesagt
werden; denn wir brauchen eine politische Lösung. Wir
teilen die Wünsche, daß das Treffen der Außenminister
der G-8-Staaten in Köln das Ergebnis des Kriegsendes
in diesen Tagen bringt.
Wenn eines bei Milosevic und der serbischen Führung sicher ist, dann ist es, daß man ihr nicht trauen
kann und sehr vorsichtig sein muß. Herr Bundeskanzler,
mein Rat lautet, aus Erfahrung klug zu werden: Der
Jubel in Köln war zu früh und zu laut.
({3})
Wir hätten gerne eingestimmt, wenn die Grundlagen dafür gegeben wären.
({4})
Ich will Ihnen sagen, warum der Jubel falsch war.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie einen
Moment nachdenken, dann stellen Sie fest: Es liegt noch
ein schwerer, risikoreicher und gefährlicher Weg vor
allen Dingen vor den Soldaten der Bundeswehr und all
denjenigen, die in den Kosovo gehen müssen. Lassen
Sie uns einen Moment darüber nachdenken, was alles
falsch war.
({5})
Es war falsch, Herrn Primakow in Bonn so zu behandeln, wie er behandelt worden ist.
({6})
Vielleicht hat es Herr Tschernomyrdin heute in Moskau
leichter.
Als ich den Jubel in Köln letzte Woche sah, habe ich
einen Moment gedacht: Wie mag das auf unsere amerikanischen Freunde wirken? Man muß wirklich immer
und immer wieder sagen: Wir haben die Amerikaner gerufen; die Amerikaner haben sich nicht auf den Balkan
gedrängt. Ein paar Jahre lang haben sie gesagt: Das sollen die Europäer einmal selber machen. Die Europäer
haben es nicht gekonnt; vielmehr haben wir Europäer
unsere amerikanischen Freunde gebeten. Es war sehr
unklug, den Eindruck zu erwecken, den Krieg machten
die Amerikaner und den Frieden die Europäer. Gegenüber den Amerikanern war dies nicht nur rücksichtslos,
sondern im Sinne unserer langfristigen Zukunftsinteressen auch falsch.
({7})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie einen
Moment über die Schwierigkeiten in der russischen Innenpolitik nachdenken, die mit Händen zu greifen waren, dann werden Sie das, was ich zu Primakow gesagt
habe, vielleicht doch anders beurteilen. Vor allen Dingen werden Sie sich fragen, ob das Ausmaß des Jubels
in Köln und der Kontrast zu dem Empfang von Herrn
Tschernomyrdin auf dem Flughafen in Moskau nicht
wiederum die Lage in Moskau eher erschwert als erleichtert hat.
({8})
Mir geht es darum, daß wir den Weg gemeinsam erfolgreich zu Ende gehen.
({9})
Weil das einige, wie es die Zwischenrufe zeigen, immer noch nicht begreifen wolle, will ich eine dritte Frage stellen: Hat der Jubel in Köln nicht möglicherweise
bei der serbischen Führung in Belgrad, bei Milosevic
und anderen, den Eindruck erweckt, daß diejenigen, die
jetzt so sichtbar Erleichterung zeigen, vorher furchtbar
unsicher gewesen sein müssen,
({10})
und die Entscheidung erleichtert, es noch einmal zu versuchen und die Zugeständnisse, nachdem man sie mühsam akzeptiert hat, gleich zu Anfang, noch ehe der
Rückzug begonnen hat, sofort wieder zurückzunehmen?
Darüber mag man auch nachdenken.
({11})
Wir haben die Auseinandersetzung hierüber in diesen
schwierigen Monaten bisher nicht sehr polemisch und
kritisch geführt, aber es sind sehr viele atmosphärische
Fehler gemacht worden. Dieser Bundestag, der heute
über einen Antrag der Bundesregierung, dem er zustimmen muß, berät, steht vor einer der schwierigsten
und weittragendsten Entscheidung, die er je zu treffen
hatte. Die Dimension dieser Entscheidung ist so weitreichend wie die Entscheidung zur Beteiligung an den
Luftangriffen, die wir im März zur Kenntnis nehmen
mußten. Jedermann weiß - welche Absprachen auch
immer in den nächsten Tagen getroffen werden -, daß es
sich um einen ungeheuer schwierigen, gefahrvollen und
risikoreichen Auftrag handelt, der sich über Jahre erstreckt. Je besser es gelingt, die Lage in Belgrad oder in
Moskau nicht weiter anzuheizen, indem man hier, aus
welchen Gründen auch immer - und sei es nur, daß man
nicht genügend darüber nachdenkt und ausreichend das
Ende bedenkt -, die Dinge provoziert, und die Lage ruhig zu halten,
({12})
desto geringer ist das Risiko für die Soldaten der Bundeswehr und der anderen Streitkräfte der Nationen, die
diesen gefährlichen Dienst leisten müssen.
({13})
Der Antrag der Bundesregierung bedarf noch einer
Veränderung, vermutlich einer Neufassung, denn die
Bundesregierung sieht nach dem, was sie heute nacht
den Fraktionen mitgeteilt hat, eine andere Rechtsgrundlage für die Beschlußfassung durch den Bundestag vor,
als sie im Antrag steht. Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung anstrebt, ein Mandat des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen zur Grundlage zu haben, was
in dem vorliegenden Antrag so nicht enthalten ist. Wir
werden das ebenso gründlich prüfen, wie wir auch keinerlei Verzögerung bei den Beratungen hinnehmen.
Auch das sage ich Ihnen noch einmal zu. Es ist natürlich
richtig, daß, wenn der Rückzug beginnt, möglichst
schnell Streitkräfte in das Kosovo einrücken müssen, um
dort eine Sicherheitspräsenz herzustellen. Deswegen
sind wir zu einer zügigen Beratung bereit, werden daran
mitwirken und mithelfen.
Genauso klar sage ich aber auch, damit es daran keinen Zweifel gibt: Die Verantwortung, die jedes Mitglied
dieses Hauses bei der Zustimmung zu diesem Antrag auf
sich nimmt, ist außergewöhnlich hoch. Täuschen Sie
sich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
sozialdemokratischen Fraktion, darüber nicht! Deswegen werden wir zügige Beratung mit gründlicher Prüfung verbinden. Vielleicht, Herr Bundeskanzler, ist es
eine ganz vernünftige Arbeitsteilung, die auch gemäß
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in
der Notwendigkeit konstitutiver Zustimmung des Bundestages angelegt ist, daß diejenigen, die von der verständlichen, notwendigen und unvermeidlichen Hektik
dieser sich jagenden Gespräche und Verhandlungen auf
europäischer Ebene, im Rahmen der G 8, in der UNO
oder wo auch immer betroffen sind, mit anderen Argumenten austauschen und diese von denen prüfen lassen
müssen, die von dieser Hektik nicht betroffen sind und
mit ein wenig mehr Atem und weniger Atemlosigkeit
prüfen können, was wir unter welchen Voraussetzungen
verantworten und den Soldaten der Bundeswehr zumuten können.
({14})
Es ist der gefährlichste Einsatz in der Geschichte der
Bundeswehr.
Hierzu möchte ich eine weitere Bemerkung anfügen:
Herr Bundeskanzler, Herr Bundesfinanzminister, Sie
wollen uns in den nächsten Wochen mit allen möglichen
Entscheidungen zur Finanz- und Haushaltspolitik
überraschen. Da Herr Eichel angekündigt hat, er habe
praktisch alles zusammen, wäre es mir lieber, wenn er es
in dieser Woche sagen würde. Dann muß man nicht
nach der Wahl am kommenden Sonntag feststellen:
Hätte man es vor der Wahl gewußt, wäre vielleicht manDr. Wolfgang Schäuble
ches anders gelaufen. Ein wenig Klarheit vor der Wahl
würde überhaupt nicht schaden.
({15})
- Wenn Sie zu tollen Ergebnissen gekommen wären,
würden Sie es ganz bestimmt vor der Wahl sagen, so
wie ich Sie kenne. Sie haben sich nie durch einen Mangel an Zurückhaltung ausgezeichnet. Das kann man Ihnen nicht vorwerfen.
({16})
In diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen,
daß wir vor der Situation stehen, daß 10 000 Soldaten wenn man alles zusammenrechnet, sind es über 10 000
Soldaten - für einen langen Zeitraum im ehemaligen Jugoslawien, vor allem im Kosovo, aber auch in Bosnien
Dienst tun sollen. Das wird die Bundeswehr bis an die
Grenzen ihrer Belastbarkeit fordern. Wir alle verweisen
hier darauf, daß im Kosovo nur Soldaten zum Einsatz
kommen, die sich dafür auch freiwillig gemeldet haben.
Jeder, der sich als Zeitsoldat verpflichtet hat, hat sich
damit freiwillig bereit erklärt, dort Dienst zu tun. Dieser
Einsatz wird eine ungeheure Belastung und Herausforderung für die Bundeswehr sein. Angesichts dieser Verhältnisse und der finanziellen Auswirkungen, die dieser
Einsatz auf die Bundeswehr haben wird, halte ich es für
völlig unvorstellbar, daß die Bundesregierung ihre Zusage, nicht in die mittelfristige Finanzplanung der Bundeswehr einzugreifen, nicht einhalten wird. Das muß
man auch in diesem Zusammenhang sagen. Etwas anderes könnte man der Bundeswehr nicht zumuten.
({17})
Wenn Sie, Herr Kollege, erlauben, möchte ich ein
paar Bemerkungen über die deutsche Präsidentschaft
in der Europäischen Union machen. Ich möchte auch
hier mit dem beginnen, worin wir übereinstimmen: Wir
haben schon im März darauf hingewiesen - ich wiederhole das -: Die Entscheidung, Romano Prodi als künftigen Präsidenten der Europäischen Kommission zu benennen, ist gut. Daß das Europäische Parlament der Ernennung von Romano Prodi mit übergroßer Mehrheit
zugestimmt hat, hat die Richtigkeit dieser Entscheidung
bestätigt. Auch die Entscheidung für Solana als künftigen Repräsentanten einer Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik der Europäischen Union ist eine gute
Entscheidung, die wir begrüßen und unterstützen. Auch
die Absprachen und die Ergebnisse von Köln bezüglich
der Integration der Westeuropäischen Union in die
Europäische Union und der Stärkung der Handlungsfähigkeit sowie der verteidigungs- und sicherheitspolitischen Identität der Europäischen Union finden unsere
Zustimmung und unsere Unterstützung.
({18})
Darüber hinaus sind aber keine Ergebnisse während
der deutschen Präsidentschaft in der Europäischen
Union erzielt worden.
({19})
Ich habe zuerst daran gedacht, von mageren Ergebnissen
zu sprechen. Aber auch bei magerem Fleisch gibt es
immer noch Knochen. Hier gibt es noch nicht einmal
Knochen, denn es sind keine Ergebnisse erzielt worden.
Die Agenda 2000, die in Berlin verabschiedet wurde,
ist gescheitert. Herr Bundeskanzler, es ist doch ganz einfach: Als Sie an einem Freitag morgen in Bonn nach
einer langen Nacht der Verhandlungen in Berlin angekommen sind, haben wir Verständnis dafür gehabt, daß
Sie uns nicht direkt sagen konnten, wie sich die Ergebnisse des Berliner Gipfels auf die Beitragslast der Bundesrepublik Deutschland auswirken würden. Aber inzwischen sind drei Monate vergangen. Trotzdem erklärt
sich die Bundesregierung bis auf den heutigen Tag außerstande, dem Hohen Hause mitzuteilen, ob Deutschland nach dem Berliner Gipfel nun mehr oder weniger in
die EU zahlen muß.
({20})
Sie müssen doch inzwischen wissen, was Sie beschlossen haben. Ich weiß, warum Sie die Zahlen nicht vorlegen. Wenn Sie das nämlich täten, dann würde deutlich,
daß die Belastung durch den Berliner Gipfel für den
Haushalt der Bundesrepublik Deutschland nicht gesunken, sondern gestiegen ist. Das ist die Wahrheit.
({21})
Ihr bisheriges Verhalten steht in einem merkwürdigen
Widerspruch zu Ihren wirklich verantwortungslosen
Ankündigungen im Januar. Sie haben damals gesagt, die
Zeiten seien vorbei, in denen in Brüssel das Geld der
deutschen Steuerzahler verbraten werde, die Engländer,
die Franzosen und die Spanier sollten jetzt endlich einmal mehr zahlen, damit wir in Deutschland weniger bezahlen müssen. Nichts davon haben Sie erreicht. Sie
konnten es auch gar nicht erreichen; denn wenn man
einstimmige Ergebnisse erzielen will, dann stellt man
mit solchen Erklärungen von vornherein nur das eigene
Scheitern sicher. Das haben Sie auch erreicht. Aber von
dem, was Sie angekündigt hatten, haben Sie nichts erreicht.
({22})
Die Agenda 2000 hat zu keiner grundlegenden Reform der Agrar- und Strukturpolitik, zu keiner grundlegenden Reform der europäischen Finanzpolitik geführt
und auch nicht die Europäische Union auf die Riesenaufgabe der Osterweiterung mit den Beitrittsanwärtern
Polen, Tschechien und Ungarn in der ersten Reihe vorbereitet. Diese Reformen werden angesichts der Notwendigkeit, jetzt ein noch größeres Aufbauwerk auf dem
Balkan zu bewältigen, zu einem noch viel größeren DeDr. Wolfgang Schäuble
saster führen. In keiner Weise ist Europa durch den Berliner Gipfel auf die Riesenaufgabe eines Stabilitätspaktes für den Balkan vorbereitet worden. Darin besteht das
Scheitern Ihrer Arbeit.
({23})
Vor dem Kölner Gipfel haben Sie groß von Beschäftigungspakt und von Beschäftigungsprogrammen geredet. Man konnte richtig Angst bekommen, das klang
nach einer Drohung. Europäische Beschäftigungsprogramme werden die Arbeitslosigkeit in Europa nicht
verändern. Es wäre viel gescheiter, Europa würde das
machen, was auf dem Luxemburger Gipfel mit dem Beschäftigungskapitel im Amsterdamer Vertrag vereinbart
worden ist, nämlich daß jedes Mitgliedsland seine nationale Wirtschafts-, Finanz-, Steuer-, Haushalts- und Sozialpolitik an dem Ziel ausrichtet, mehr Arbeitsplätze zu
schaffen. Aber genau vor dieser Herausforderung versagt Ihre Regierung kläglich.
({24})
Jetzt ist in Brüssel nichts herausgekommen außer
noch so einer Art Bündnisrunde auf europäischer Ebene.
Da Sie uns in diesen Tagen gezeigt haben, was Sie unter
„Bündnis für Arbeit“ verstehen, will ich an dieser Stelle
meine Warnung vorbringen. Sie haben jetzt ein kleines
„Bündnis für Arbeit“ abgeschlossen. Wissen Sie, was
das kleine „Bündnis für Arbeit“ hinsichtlich der
Schlechtwettergeldregelung bedeutet? Es bedeutet, die
Arbeitnehmer zahlen ein bißchen weniger, die Arbeitgeber zahlen auch ein bißchen weniger, und die Gemeinschaft der sozialversicherungsbeitragspflichtigen Arbeitnehmer und Arbeitgeber insgesamt zahlt ein bißchen
mehr - ein Vertrag zu Lasten der Allgemeinheit.
({25})
Wenn das ein kleines „Bündnis für Arbeit“ ist, dann
kann man bei der Vorstellung, was erst ein großes
„Bündnis für Arbeit“ bringen würde, nur Alpträume bekommen. Das brauchen wir auf europäischer Ebene
ganz gewiß nicht.
({26})
Dann will ich Ihnen noch folgendes sagen: Ihre Politik der Steuererhöhungen besteht ausschließlich darin,
selbstgemachte Fehler teilweise zu korrigieren. Anfang
des Jahres haben Sie die Steuern für Wirtschaft und
Mittelstand erhöht und angekündigt, Sie würden sie in
ein, zwei Jahren korrigieren. Davon ist gar nicht mehr
die Rede. Jetzt wird nur noch gesagt, man hoffe, vielleicht ohne Steuererhöhungen auszukommen.
Außerdem herrscht bei Ihnen ein Durcheinander in
der Gesundheitspolitik und in der Rentenpolitik. Uns
haben Sie Vorwürfe gemacht, als wir in der Rentenversicherung einen demographischen Faktor eingeführt haben, durch den das Wachstum der Renten weiterhin gesichert, aber verstetigt bzw. verlangsamt worden ist.
Jetzt machen Sie Rentenpolitik nach Kassenlage: jeden
Tag eine neue Ankündigung, zwei Jahre Aussetzung der
Rentenanpassung oder Halbierung oder was auch immer. Renten nach Kassenlage, das ist nicht das, was wir
uns bei der gesetzlichen Rentenversicherung vorgestellt
haben.
({27})
Die Folge von alldem ist - wir reden von Beschäftigung in Europa, und die muß man zu Hause machen -:
Das Wachstum in Deutschland im ersten Quartal 1999
- gerade habe ich die Meldung auf den Tisch bekommen
- beträgt noch 0,7 Prozent. Das heißt, nach dem OECDBericht sind wir in der Wachstumsentwicklung inzwischen unter den Schlußlichtern in Europa. Die Ursache
dafür liegt nicht in Brasilien oder sonstwo, sondern in
Deutschland, in Ihrer falschen Politik.
({28})
Deswegen geht die Arbeitslosigkeit, seit Sie Kanzler
sind, saisonbereinigt nicht mehr zurück, während sie im
vergangenen Jahr zurückgegangen ist.
({29})
Auch die wirtschaftliche Entwicklung und die Investitionen gehen zurück.
({30})
- Aber liebe Kollegen, lassen Sie sich doch nicht ablenken, die wollen doch nur stören.
Lassen Sie mich ganz ruhig sagen: Es zeigt doch das
gesunkene Vertrauen in die Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung in Europa
unter der deutschen Präsidentschaft als Folge insbesondere der schlechten Entwicklung in Deutschland, daß
der Wechselkurs zwischen Euro und Dollar von 1,18 zu
Beginn Ihrer Amtszeit auf unter 1,03 am gestrigen Tage
gesunken ist - ein Menetekel. So haben wir nicht gewettet, als wir den Euro eingeführt haben. Einen stabilen
Euro, so stabil wie die D-Mark, haben wir alle miteinander versprochen. Jetzt machen Sie in Deutschland, dem
größten Teilnehmerland der Europäischen Währungsunion, eine Politik, die die Wachstumskräfte und die
Stabilitätserwartungen schwächt. Das schafft an den Finanzmärkten eine Vertrauenskrise bezüglich des Euro.
({31})
Wir hatten einen Stabilitätspakt verabredet - ein
großes Verdienst von Theo Waigel. Danach sollten sich
alle dazu verpflichten, ihre Neuverschuldung auch nach
Erreichen der Kriterien 1999, 2000 und 2001 schrittweise stetig zu senken. Ausnahmen würden nur in äußersten
Notfällen von der Europäischen Union genehmigt werden. Die erste Ausnahme ist bereits genehmigt worden.
Sie als Ratspräsident haben aber zugesichert, es würde
eine einmalige Ausnahme bleiben, in Zukunft gäbe es
keine weitere.
({32})
Herr Bundeskanzler Schröder, jemandem, der ewige
Treue schwört, aber bei der ersten Versuchung dieser
nachgibt, um anschließend zu erklären, einmal sei keinmal, dem glaubt man nicht. Deswegen zerstören Sie mit
dieser Politik Vertrauen.
({33})
Ich lese in einer Agenturmeldung: Blair und Schröder
rufen zu Kurswechsel auf. - Wenn Sie den Kurs Ihrer
Politik korrigieren, dann kann ich Sie nur unterstützen.
({34})
Wechseln Sie endlich den chaotischen Kurs der Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik der Bundesregierung! Dazu brauchen Sie aber nicht Tony Blair; das
müssen Sie nicht in Londoner Zeitungen verkünden, Sie
müssen vielmehr hier in Deutschland handeln. Da sind
Sie schwach. Nur mit Aufrufen in der Presse sind Sie
stark.
({35})
Bemerkenswert ist - das muß man einmal sagen -:
Der Aufruf soll sich vor allem an die sozialdemokratischen Regierungen in Europa richten. Dazu haben Sie
allen Grund: Fordern Sie sich selber auf! In diesem Aufruf sprechen sich - hören Sie einmal zu! - Blair und
Schröder für drastische Maßnahmen zur Sanierung der
öffentlichen Finanzen aus. Außerdem fordern sie Reformen des Sozialstaats, flexiblere Arbeitsmärkte und
eine allgemein unternehmerfreundlichere Politik. - Meine Damen und Herren: herzlichen Glückwunsch!
({36})
Ich will Ihnen noch einmal sagen: Von Ihren Medienauftritten haben wir genügend gehabt. Ich schlage vor,
daß Sie oder Ihr zuständiger Minister in dieser Woche wir haben noch eine Bundestagssitzung - an dieses Pult
gehen und sagen, was Sie vorhaben. Sie müssen vor den
Wahlen Klarheit schaffen, damit wir nicht nach der
Wahl sagen müssen: Sie haben die Leute vor der Wahl
angelogen. Wir wollen bei den Renten, bei den Kürzungen und bei den Steuern keinen Wahlbetrug.
({37})
Die schrecklichen Erfahrungen im Kosovo lehren:
Wir brauchen politisch, sicherheitspolitisch und wirtschaftspolitisch ein starkes Europa. Aber ein starkes Europa geht nur nach dem Prinzip der Dezentralisierung
und nicht dadurch, daß wir noch mehr Bürokratie nach
Brüssel schieben. Ein starkes Europa wird nur gelingen,
wenn jeder in Europa seiner Verantwortung nachkommt.
Deswegen fängt ein starkes Europa, wenn man Europa
richtig machen will, zu Hause an.
({38})
Darin versagt diese Regierung.
({39})
Für die SPDFraktion erteile ich das Wort Bundesminister Rudolf
Scharping.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bevor ich zu den Fragen komme, die mit der
Entwicklung im Kosovo zu tun haben, einige kurze Bemerkungen, die Sie sich, Herr Kollege Schäuble, einmal
vor Augen führen sollten: Die Bundesregierung hat im
letzten November nach eingehender Beratung entschieden, daß in Deutschland insbesondere denjenigen jungen
Menschen geholfen werden soll, die schlechtere Chancen hatten und keine ordentliche Ausbildung erreichen
konnten, und hat deswegen beschlossen, daß 100 000
Plätze für berufsqualifizierende Maßnahmen zu finanzieren seien.
Wir hatten zunächst eine gewisse Sorge, daß die vorgesehene Zahl von 100 000 Plätzen zu hoch sein könnte.
Denn der öffentliche Eindruck war ja, daß die meisten
Jugendlichen eigentlich gar keinen Ausbildungsplatz
haben wollten und kein Interesse an ihrer Zukunft hätten. Das hat sich im öffentlichen Eindruck ebenso verfestigt, wie es sich in der Realität als falsch herausgestellt
hat: Ende April dieses Jahres befanden sich 117 000 Jugendliche in solchen berufsqualifizierenden Maßnahmen. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Zu einer fairen
Bilanz, die nicht allein durch den kommenden Wahlsonntag motiviert ist, gehört, daß wir in Deutschland
stolz auf unsere Jugend und auf die Tatsache sein können, daß jetzt 117 000 Jugendliche weniger arbeitslos
sind.
({0})
Falls Sie sich die Entwicklung der europäischen
Währung betrachten, rate ich Ihnen sehr dazu, die
außerordentlich niedrige Inflationsrate, die wir Gott sei
Dank immer noch haben, in die Bewertung mit einzubeziehen und sich im übrigen an der Gelassenheit der exportorientierten Wirtschaft angesichts der Entwicklung
des Euro-Kurses im Verhältnis zu dem des Dollar zu
orientieren.
Ihre Äußerungen zur Arbeitslosigkeit sind, so glaube
ich, in wenigen Minuten dementiert. Denn die Arbeitslosenstatistik vom Mai dieses Jahres, die man sich in
Ruhe anschauen muß, wird heute bekanntgegeben.
Ich will damit folgendes sagen - ohne auf weiteres
einzugehen -:
({1})
Wenn Sie als Mitglied einer Partei, die 16 Jahre lang
hier regiert hat, sagen, daß man die Menschen vor der
Wahl ein bißchen hinter die Fichte führen wolle, dann
ist das doch nichts anderes als die Spekulation darüber,
daß sich die Menschen an die von Ihnen 16 Jahre lang
geprägten Verhaltensweisen erinnern und sie auf die jetzige Koalition übertragen.
({2})
Ich wollte Ihnen das nur kurz - denn ich habe anderes zu
tun, und Sie bekommen auch von anderen Antworten
auf Ihr Vorgehen - in einem gewissen Rückfall in alte
parlamentarische Sitten mit auf den Weg geben.
({3})
- Hören Sie auf, von Wahlkampflügen zu sprechen. Sie
haben gesagt, daß Sie die Mehrwertsteuer und die Mineralölsteuer nicht erhöhen werden. Sie haben sie erhöht.
Sie haben den Menschen stabiles Geld versprochen. Sie
haben uns einen Schuldenberg hinterlassen, wie das
noch nie zuvor eine Regierung getan hat. Sie haben gesagt, Sie würden den Menschen mit einem Bündnis für
Arbeit helfen. Sie haben es zerstört.
({4})
Dazu könnte ich Ihnen noch viel sagen. Aber das wird ja
im Laufe der weiteren Debatte noch von anderen aufgegriffen werden.
({5})
Ich möchte Ihnen nun etwas zur aktuellen Entwicklung im Kosovo sagen: Man kann seit dem 2. oder 3.
Juni eine gewisse Hoffnung darauf haben, daß die dortigen Auseinandersetzungen bald beendet sind. Ich füge
hinzu: Es wird dann ein Krieg zu Ende gehen, den die
Bundesrepublik Jugoslawien und ihre verbrecherische
Führung gegen die Kosovo-Albaner geführt haben. Es
wird ein Krieg zu Ende gehen, der sich gegen menschliche Identität, menschliche Würde und menschliche
Rechte gerichtet hatte. Es wird ein Krieg zu Ende gehen,
den die jugoslawische Führung mit ihrem Militär gegen
europäische Werte und gegen europäische Zivilisation
geführt hat.
Es besteht kein Grund zur Freude - auch nicht mit
Blick auf den hoffentlich bald erreichten Abschluß dieser Auseinandersetzung. Es besteht aller Grund zu einer
weiterhin realistischen Betrachtung. Denn dies ist der
vierte Krieg auf dem Balkan. Diese Kriege haben
schrecklich vielen Menschen das Leben gekostet. Es gab
im Zusammenhang mit diesen Kriegen über 73 Resolutionen des Weltsicherheitsrates. Lediglich eine ist beachtet worden. Es gab allein in Bosnien-Herzegowina 18
Waffenstillstände. Mancher dauerte weniger als fünf
Minuten, mancher weit weniger als einen ganzen Tag,
aber keiner länger als einen Tag.
Das heißt, daß man angesichts dieser Situation und
der Erfahrungen in jeder Hinsicht Festigkeit braucht:
hinsichtlich der politischen Bemühungen ebenso wie
hinsichtlich der militärischen Maßnahmen und auch hinsichtlich der humanitären Hilfe.
Die Bundesregierung hat heute beantragt, ein Mandat
gewissermaßen als Ergänzung und Ersatz für bestehende
Mandate zur Verfügung zu stellen, um dieser dreifachen
Strategie nicht nur zum Erfolg zu verhelfen, sondern
auch bei der Garantie dieses Erfolges, wenn er denn erreicht wird, mitzuwirken.
Ich will Sie darüber informieren, daß unabhängig von
den Beratungen der Außenminister der G 8 auch die
Militärs gestern nacht und auch heute wieder, wenn dafür Zeit und Möglichkeit besteht, zusammensitzen, um
jenes militärtechnische Abkommen infolge des Petersberg-Dokumentes zum Abschluß zu bringen, und zwar
so, daß es praktische und sehr überprüfbare militärische
Regelungen gibt.
Dahinter steckt das vom Bundeskanzler angesprochene Prinzip, das Inhalt des Ahtisaari-TschernomyrdinVorschlages ist, den Milosevic und das serbische Parlament gebilligt hatten, daß nämlich alle serbischen Sicherheitskräfte und Streitkräfte vollständig in einem
überprüfbaren, kurzen Zeitraum abgezogen werden, und
zwar so, daß die Flüchtlinge und Vertriebenen mit dem
nötigen Vertrauen auf Sicherheit in ihre Heimat zurückkehren können. Das war unser Ziel, das bleibt unser
Ziel, und es wird auch in Zukunft die wirklich große
Aufgabe werden.
Die Geschlossenheit und auch die Entschlossenheit
des westlichen Bündnisses war eine Voraussetzung dafür, daß es eine erfolgreiche Friedensregelung geben
kann, wobei ich hinzufüge: Wenn wir den Beschluß des
Weltsicherheitsrates, wenn wir das militärtechnische
Agreement, wenn wir den Abzug der Truppen, wenn wir
das Einrücken der internationalen Truppen haben, dann
sollten wir uns auch mit Blick auf die Erfahrungen in
Bosnien darüber klar sein, daß es dann - hoffentlich das Ende der Gewalt ist. Es ist noch lange nicht der
Frieden, den wir uns wünschen und der nur in dauerhafter Stabilität auf ebenso dauerhafter ökonomischer
und stabiler Grundlage - übrigens auch auf gegenseitigem Respekt vor unterschiedlicher Abstammung, Kultur, Sprache oder anderem - gewährleistet werden kann.
Die Bundesregierung tritt dafür ein - das ist gesagt
worden -, daß sich der Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen unverzüglich mit diesen Fragen beschäftigt
und auch einen Beschluß faßt. Das heißt, daß man sich
rasch und umfassend hier zu Hause wie international auf
die Umsetzung einer Friedensvereinbarung vorbereiten
muß.
Ich will erläutern, warum aus unserer Sicht das Wort
vom raschen Vorbereiten mehr ist als eine gewissermaßen innerbetriebliche Hektik. Es darf im Kosovo kein
Sicherheitsvakuum entstehen. Der Abzug der serbischen, jugoslawischen Truppen, Paramilitärs und Mörderbanden muß nicht nur in einem engen Zeitplan und
überprüfbar vorgenommen werden, sondern er muß auch
strikt mit dem Einrücken der internationalen Friedenssicherung koordiniert sein. Ansonsten besteht mit Blick
auf - man weiß es nicht so genau - Marodeure, Tschetniks und unkontrollierbare UCK-Gruppen und mit dem
Bedürfnis nach Rache und Vergeltung ein erhebliches
Risiko im Kosovo.
Wir hoffen, daß wir bald - vielleicht sogar heute über die Substanz einer Resolution des Weltsicherheitsrates Klarheit haben. Über den Zeitpunkt ihrer Verabschiedung kann man nichts sagen; denn die G 8, selbst
wenn sie großen Einfluß haben, werden nicht nur aus
politischen und diplomatischen Gründen den Eindruck
vermeiden, als wollten sie Punkt für Punkt, Buchstabe
für Buchstabe und Wort für Wort dem Weltsicherheitsrat und seinen 15 Mitgliedern eine Resolution hinlegen,
die dort nur noch mit einem Nicken zu quittieren wäre.
Es besteht Grund zu der Vermutung, daß auch die
militärisch-technischen Vereinbarungen in einem engen
zeitlichen und politischen Zusammenhang mit dieser
Entwicklung auf der Ebene der Vereinten Nationen und
der G 8 gesehen werden. Das wird dann bedeuten - darüber wird die Bundesregierung morgen reden -, daß die
Ziffer 6 - Sie verzeihen mir, wenn ich diesen praktischen Hinweis gebe - bezüglich der Befassung des
Weltsicherheitsrates möglicherweise verändert wird und
daß dies dann zu einer in dieser und nur in dieser Hinsicht veränderten Beschlußgrundlage gemacht wird. Die
Bundesregierung wird sich im Licht der Ergebnisse des
G-8-Treffens, wenn sie denn erreicht sind, darüber noch
verständigen. Im Kreise der Fraktionsvorsitzenden wurde ja auch eine entsprechende Verständigung gefunden.
Wichtig für die Rolle der Bundeswehr bei der Sicherung dieses hoffentlich bald eingeläuteten Friedensprozesses ist, daß die Bundeswehr auch in dieser Frage den
Rückhalt der gesamten deutschen Bevölkerung und die
Zustimmung des Deutschen Bundestages und dessen
Rückhalt erfährt. Ich will Ihnen das erläutern. Am 26.
Mai ist der entsprechende Operationsplan vorbereitet
worden, bis in die letzten Tage wurde er weiterentwikkelt. Er sieht vor, daß 50 000 Soldaten zur Friedenssicherung im Kosovo zur Verfügung stehen. Die Bundesregierung wie die NATO streben eine Beteiligung möglichst vieler anderer Staaten an. Beispielsweise werden
wir mit einiger Sicherheit mit den Niederlanden, wahrscheinlich auch mit Österreich und anderen neutralen
Staaten zusammenarbeiten. Wir streben insbesondere an,
daß sich Rußland so früh und so umfangreich wie möglich an dieser Friedenssicherung beteiligt.
Wenn Hindernisse dabei auftauchen, tauchen sie
nicht bei der NATO auf und beruhen nicht auf mangelndem politischen Willen der westlichen Staaten. Wenn
man sich die Erfahrungen aus Bosnien vor Augen hält,
kann man sich unschwer vorstellen, daß im Zusammenhang mit der Verwirklichung des politischen Willens
einer Beteiligung Rußlands noch andere Probleme auftauchen werden.
Ich habe schon vor längerer Zeit angeordnet, die
Obergrenzen der jetzt bestehenden Mandate auszuschöpfen. Ich will Ihnen kurz erläutern, warum sich im Antrag
der Bundesregierung die Zahl 8 500 findet. In dieses
Mandat werden die Kräfte überführt, die bei den NATOLuftoperationen, bei der Drohnenüberwachung und für
das Herausziehen der OSZE-Beobachter zur Verfügung
standen, sowie jene, die für die bisher gedachte militärische Umsetzung der Garantien eines jetzt nicht mehr zur
Debatte stehenden Rambouillet-Abkommens eingesetzt werden sollten. Das bedeutet, daß diejenigen Kräfte, die in Bosnien und im Rahmen des humanitären
Mandates in Mazedonien und Albanien eingesetzt sind,
in dieser Zahl von 8 500 nicht enthalten sind.
Wir brauchen im Bereich der Luft- und Marineunterstützung deutlich mehr Kräfte für den Einsatz im
Kosovo - wir weisen das auch völlig offen aus -, und
zwar deshalb, weil das Thema Sicherheit wesentlich
ernster ist, als wir bei der Diskussion um ein Rambouillet-Abkommen vermutet hatten, und weil die humanitäre
Lage es erfordert. Zudem dürfen - jedenfalls am Anfang
- Fragen, die mit der Dokumentation und der Beweissicherung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit zu tun haben, nicht außer acht gelassen werden. Ich will ausdrücklich anbieten, in den Ausschüssen darüber im einzelnen und präzise mit Zahlen
zu informieren.
Ich kündige Ihnen hier gleichzeitig an: Die Tatsache,
daß mindestens 12 000 Soldaten der Bundeswehr über
lange Zeit auf dem Balkan engagiert sein werden, nämlich 8 500 im Kosovo im Rahmen des humanitären
Mandates, 1 000 in Mazedonien und Albanien, mindestens 2 500 in Bosnien und Herzegowina - mit hoffentlich bald abnehmender Tendenz -, wird Konsequenzen
für die Anpassung der Zahl der Krisenreaktionskräfte
haben. Denn in bestimmten Bereichen sind durch dieses
Engagement mittlerweile nicht nur Engpässe aufgeworfen, sondern drohen die Fähigkeiten der Bundeswehr
überfordert zu werden.
Ich sage das auch deshalb, weil nach meinem Empfinden die Angehörigen der Bundeswehr, die militärische Führung, der militärische Sachverstand ein
Höchstmaß an Anerkennung verdient haben - für die
Umsicht, die Klarheit, die Konsequenz, mit der solche
Einsätze im Interesse der Sicherheit der Soldaten bisher
vorbereitet und durchgeführt worden sind.
({6})
Wir im Deutschen Bundestag, wir als Bundesrepublik
Deutschland und als Bürgerinnen und Bürger dieses
Landes sollten stolz sein auf eine Bundeswehr, die ihren Auftrag nicht aus einem traditionellen Verständnis
eng gedachter militärischer Sicherheit heraus ausübt. In
Segrane, in Neprosteno und in anderen Flüchtlingslagern
kann man sehen, daß die Soldatinnen und Soldaten unglaublich engagiert sind. Nicht nur unter Einsatz ihrer
Zeit, sondern zum Teil auch unter Einsatz ihres selbstverdienten Geldes sorgen sie dafür, daß Kinder Spielplätze oder Bolzplätze haben, daß sie in die Schule gehen können, daß Mütter versorgt werden und vieles
mehr. Ich finde, das verdient ein Höchstmaß an Anerkennung und soll auch hier ausgesprochen werden.
({7})
Mir macht das Mut, weil die vor uns liegenden Aufgaben nicht nur groß, sondern zum Teil außerordentlich
gefährlich sind. Die Herstellung eines sicheren Umfeldes, umfangreiche humanitäre Hilfsleistungen für BinBundesminister Rudolf Scharping
nenflüchtlinge und zurückkehrende Vertriebene - jedenfalls anfangs -, die Vorbereitung der notwendigen zivilen und militärischen Zusammenarbeit und die Fortsetzung der humanitären Hilfe außerhalb des Kosovo, das
macht den Umfang der Aufgabe deutlich, in einem
Landstrich, der rücksichtslos zerstört und weitgehend
entvölkert ist, in dem öffentliche Ordnung und Verwaltung, die medizinische Versorgung und anderes völlig
zusammengebrochen sind.
Wir müssen damit rechnen, daß wir allein im Kosovo
nicht nur 500 zerstörte Dörfer und Siedlungen vorfinden, sondern 550 000 Binnenflüchtlinge, deren Zustand
heute niemand genau kennt, von denen wir aber wissen,
daß sie unverzüglich versorgt werden müssen, ebenso
wie die zurückkehrenden Flüchtlinge und Vertriebenen,
die Nahrung, Kleidung, Medikamente und vieles andere
brauchen.
Das Land selbst muß von Minen und Sprengfallen geräumt, die Sicherheit der eigenen Leute und die Sicherheit der zurückkehrenden Vertriebenen müssen gewährleistet werden. Das heißt, wir haben es mit einer sehr
komplizierten Mischung aus Sicherheitsaufgaben, originären militärischen Aufgaben, humanitären Aufgaben
und Aufgaben der zivil-militärischen Zusammenarbeit
zu tun. Wenn wir in diesem Umfeld neue Gewalt verhindern, die Demilitarisierung des Kosovo einschließlich der Entwaffnung der UCK, die Überwachung von
Grenzen und anderes gewährleisten sollen, dann brauchen wir eine enge internationale Kooperation und ein
entsprechend ausgerüstetes und ausgebildetes Kontingent. Davon kann man im Zusammenhang mit der Bundeswehr mit Gewißheit reden. Über die Einsatzdauer,
über den militärischen Beitrag der Bundesrepublik
Deutschland, über anderes wird im einzelnen zu reden
sein.
Ich will auf einen abschließenden Punkt zu sprechen
kommen. Meine Damen und Herren, wenn, was wir alle
hoffen, in dieser Woche die Voraussetzungen für eine
politische Lösung, für den Abzug des serbischen Militärs, für das Einrücken der internationalen Friedenstruppen - das alles sind die Voraussetzungen für eine sichere
Rückkehr der über 900 000 Flüchtlinge und Vertriebenen - geschaffen sind, dann steht der Bundeswehr nicht
nur der größte Auslandseinsatz, sondern auch der mit
den größten Risiken behaftete Auslandseinsatz ihrer Geschichte bevor. Das macht deutlich, daß man mit großer
Sorgfalt und Klarheit entscheiden muß, was zu entscheiden ist, nicht nur mit der nötigen Gründlichkeit hinsichtlich der Planung, sondern auch, was die Verantwortung selbst angeht, mit aller Konsequenz.
Danach beginnt die noch langwierigere, in meinen
Augen faszinierendere und schwierigere Aufgabe. Es ist
ausdrücklich zu begrüßen, daß die Bundesregierung die
langfristige Perspektive nie aus dem Auge verloren hat.
Das Stichwort ist etwas technokratisch. Es heißt Stabilitätspakt, meint aber eine langfristige Bemühung um die
Sicherheit, um die Stabilisierung des Balkans auf der
Grundlage der Erfahrungen, die wir in Europa bei seiner
Integration und bei seiner Friedenssicherung ebenso
gemacht haben wie beispielsweise in dem Helsinki-Prozeß.
Ich will ausdrücklich insbesondere dem Bundeskanzler und dem Außenminister sagen: Nicht nur der
Versuch, die drei Maßnahmenbündel für ein gemeinsames Ziel, nämlich politische Bemühungen, militärische
Maßnahmen, humanitäre Hilfe, in einer Balance zu halten und das jeden Tag bei den Entscheidungen zu beachten, war wichtig. Wichtig war auch, die kurzfristigen,
mit Blick auf das Ende von Vertreibung, Mord und Gewalt orientierten Maßnahmen, einschließlich der militärischen, immer in einer angemessenen Balance mit der
langfristigen Perspektive zu halten und zu wissen, daß
das Ende der Gewalt der Beginn, aber nicht die Verwirklichung von Frieden ist.
Deshalb war es richtig, daß die Bundesregierung, daß
die Bundesrepublik Deutschland vielleicht mit einem
leisen Blick aus manchen skeptischen Augen, ob das
denn gelingen könnte, erfolgreich dazu beigetragen hat,
daß es bei allen Aktivitäten des Westens und der internationalen Staatengemeinschaft nie eine Verkürzung auf
militärische Maßnahmen gegeben hat.
({8})
Sie hat aber auch nie die Illusion verbreitet, man könne
angesichts der Erfahrungen mit Milosevic davon ausgehen, daß nur das Argument und nur der gute Wille zum
Erfolg führen würden. Es mußte beides zusammengehalten werden. Das ist mit großer Verantwortung und
Weitsicht getan worden.
Ich füge hinzu: Dabei haben viele mitgeholfen. Ich
sage das ausdrücklich auch an die Adresse der
CDU/CSU und F.D.P.: Es war für die Bundesregierung
gut, zu wissen, daß man sich auf die uneingeschränkte
Unterstützung der Koalition verlassen kann. Ich füge
durchaus mit Anerkennung hinzu: Es ist in solchen Situationen ganz wichtig - auch für die außenpolitische
Berechenbarkeit und Verläßlichkeit unseres Landes -,
daß man sich auf diese Art von Konsens verlassen kann.
Wir sollten das auch in Zukunft tun.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, Vorsitzender der
F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In solchen sehr bedeutsamen
Fragen gibt es natürlich zum Teil Grundkonsens und
Gemeinsamkeiten, aber zum Teil auch andere Erwartungen und Einschätzungen. Wenn die Bundesregierung die
Debatte ehrlich führen will, muß sie zugeben, daß das
Bild in den Medien vom Kölner Gipfel schon heute im
Kontrast zur rauhen Wirklichkeit der Ereignisse steht.
Der Kölner Gipfel hat ein anderes Bild gezeigt, als es
sich jetzt auf Grund der Verhandlungen im Zelt von
Kumanovo, die die alte Politik und Verzögerungstaktik
deutlich machen, darstellt.
({0})
Der Kölner Gipfel hat auch im Hinblick auf Ihre Ankündigungen, Herr Bundeskanzler, ein Bild gezeigt, das
der Wirklichkeit nicht entspricht. Ich nenne in diesem
Zusammenhang den Beschäftigungspakt und den makroökonomischen Dialog zwischen Finanzpolitik,
Geldpolitik und Lohnpolitik. Dieser neue Policy-Mix
soll zu einem Beschäftigungsimpuls auf europäischer
Ebene führen. Herr Bundeskanzler, dieser Beschäftigungsimpuls ist eine beschäftigungspolitische Maus. Sie
werden auf europäischer Ebene solche Luftnummern
wiederholen, wenn Sie nicht Ihre Hausaufgaben in der
Bundesrepublik Deutschland machen. Es handelt sich
um einen erkennbaren Verschiebebahnhof.
({1})
Je länger und gewundener die Sätze werden und je
mehr Fremdworte beigemischt werden, desto deutlicher
wird, daß Sie eine Luftbuchung vornehmen. Ein runder
Tisch ersetzt keinen klaren Kopf. Wenn Sie in Deutschland nicht die Flexibilität am Arbeitsmarkt herstellen,
die Steuern nicht senken und die sozialen Sicherungssysteme nicht reformieren, sondern sich nur in englischen
Zeitungen äußern, dann zerstören Sie hier Beschäftigung
und dürfen sich in Europa nicht für einen Beschäftigungspakt einsetzen.
({2})
Hier liegt der Grund für die Kontroverse: Die Opposition kann nicht akzeptieren, daß Sie, eingebettet in die
Kosovo-Problematik, im Rahmen eines großen Verschiebebahnhofs beschäftigungspolitische Mißerfolge
von Deutschland nach Europa transportieren. Wir können ferner nicht akzeptieren, daß Sie auf Pressekonferenzen verkünden, daß Sie auf europäischer Ebene Impulse setzen. Sie müssen die Impulse hinsichtlich der
Berechenbarkeit, die für die Wirtschaft in Deutschland
wichtig ist, in diesem Haus setzen und nicht durch ein
gemeinsames Interview mit Tony Blair für Zeitungen in
Großbritannien. Das ist Ihre Aufgabe.
({3})
Wir können heute die Kosovo-Debatte ohne große
Emotionen und Erregung führen. Aber einige Punkte
will ich dennoch ansprechen. Ich vermute, daß Sie sich
den Tag für Ihre Regierungserklärung anders vorgestellt
haben. Sie wollten wahrscheinlich hier erklären, es sei
alles in trockenen Tüchern, die G-8-Resolution liege vor,
die militärische Implementierung sei klar, der Sicherheitsrat werde zu einem bestimmten Zeitpunkt tagen. Sie
wollten wahrscheinlich den Bundestag bitten, nach einer
Unterbrechung für Ausschußsitzungen zu beschließen.
({4})
- Es ist überhaupt kein Wahlkampfthema. Ich schildere
hier nur die Wirklichkeit, verbunden mit einem Dank an
die Verhandlungsführer Tschernomyrdin und Ahtisaari
und mit einem Dank an die deutschen Soldaten.
Wir befinden uns heute in einer Situation, in der einige Fragen noch nicht beantwortet wurden. Diese Fragen
müssen wir im Rahmen der Beratungen ansprechen. Das
gehört zur Arbeit des Parlaments und beeinträchtigt
nicht die Gemeinsamkeiten.
({5})
Wir können seit zwei Tagen beobachten, daß in dem
Zelt bei Kumanovo das alte Spiel von Milosevic wieder
beginnt: Interpretieren, Verschieben, Verzögern, Ausdenken von Finessen, Hakenschlagen und Hinhalten.
Wir stellen gleichzeitig fest - wir wünschen alle, daß
dies behoben wird -, daß sich in den letzten Tagen Unsicherheiten auch in Rußland ergeben haben. Jelzin steht
zu seinem Wort und zeigt dadurch, daß er ein verläßlicher Partner ist. Gleichzeitig aber wird diese Haltung
durch die alte Vorstellung von einer bipolaren Welt
überwuchert, was zeigt, daß sich Rußland in seinem politischen Denken immer noch nicht auf die neue Lage
eingestellt hat.
Herr Kollege Schäuble hat mit seiner Meinung recht
- ich wiederhole sie -: Der kurze und kühle Empfang
von Primakow war eine Fehlleistung deutscher Diplomatie.
({6})
Man kann nicht sagen: Das war nur ein Ereignis. Nein,
das war eine Fehlleistung, ein falsches Signal. Zur Diplomatie gehören auch nahezu symbolhafte Handlungen,
viel Psychologie und nicht nur der abrupte Kommentar,
das reiche nicht aus.
Wir haben noch keinen Abschluß der G-8-Verhandlungen. Möglicherweise kommt man heute zu einem
Abschluß. Das heißt aber, daß die Ausschußberatungen
bedeutsam sind. Wenn man zu einem Abschluß kommt,
muß die Bundesregierung den Ausschüssen eine neue
Vorlage zuleiten. Denn die Vorlage, die wir jetzt haben,
enthält durchaus eine Zweiwegestrategie: Für den Fall,
daß es nicht zu einer Sicherheitsratsresolution kommt,
ist man zu einer Implementierung bei Zustimmung der
jugoslawischen Regierung und Beteiligung Rußlands bereit.
Herr Bundeskanzler, eine solche strategische Überlegung kann man anstellen. Ich will Ihnen aber auch nach
den Informationsgesprächen, die wir hatten, einen Haken klar benennen: Ich finde, daß der Deutsche Bundestag darauf achten sollte, daß deutsche Soldaten, die
ein Mandat haben, auf keinen Fall von einem Dritten
abhängig sind, der in einer solchen Situation das Sagen
hätte. Deshalb sollte der Bundestag einer Resolution des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen für den Einsatz deutscher Soldaten eindeutig die Priorität geben.
({7})
Ich sage das deshalb, weil wir auf eindeutige Mandatierung Wert legen. Dieser Weg zum Sicherheitsrat kann
auch nicht nur Befassung sein, wie ich hier in Ausführungen höre. Für mich ist für die Entsendung deutscher
Soldaten nicht nur eine Befassung, sondern eine Entscheidung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
erforderlich, das heißt eine Resolution, die die G-8Staaten vorbereiten sollten.
({8})
Deshalb sage ich gleich zu Beginn der Beratung:
Meines Erachtens kann es heute nicht zu einem abschließenden Beschluß des Bundestages kommen.
({9})
Die Abgeordneten, die mit der Regierung in großen
Zielen im Konsens stehen, müssen sich das Recht vorbehalten, die Vorlage zu prüfen, in den Ausschußberatungen nachzufragen und auch zu klären, ob es eine eindeutige Kommandostruktur beim Einsatz deutscher Soldaten gibt - ein ganz wesentlicher Sicherheitsaspekt in
der Verifizierung der Implementierung, von der im übrigen auch die Bundesregierung immer gesprochen hat.
Ich rede hier nicht über die großen Meinungsunterschiede hinsichtlich der Kombination von militärischem
Druck und politischer Problemlösung. Ich rede über die
Wirklichkeit der nächsten Tage, wenn es zu einer Mandatierung durch den Deutschen Bundestag kommt. Für
die Fraktion der F.D.P. erkläre ich ganz unumwunden
und ganz klar: Wir halten es - wie es auch die Bundesregierung früher erklärt und beschlossen hat - für wichtig, daß wir zum Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zurückkommen, daß wir den Einsatz deutscher
Soldaten nicht von der Deutungshegemonie des Herrn
Milosevic in einem Dreierpaket, sondern ganz eindeutig
von einer Entscheidung der Vereinten Nationen abhängig machen. Das ist dann der souveränste Einsatz der
Implementierung und von niemandem abhängig, dessen
Vertragsbrüche, dessen Hindernisse, dessen Wegdrükken und dessen Finessen wir aus der Geschichte kennen.
Das sind wir den deutschen Soldaten schuldig. Darüber
reden wir in aller Klarheit.
({10})
Ich stimme Herrn Scharping zu: Eine Implementierung mit Sicherheitsratsbeschluß wäre erst der Anfang.
Dann stehen wir erst vor der eigentlichen Aufgabe; wir
müssen uns darauf einstellen, daß es einige Jahre dauern
wird, sie zu erfüllen. Wir sind gerne bereit, uns darauf
einzustellen. Wir wissen, daß wir nur dann Stabilität für
die eigene Zukunft gewinnen, wenn auch andere Stabilität gewinnen, wenn sie ökonomischen und demokratischen Erfolg spüren, wenn sie dadurch Frieden ausstrahlen und wenn die Politik aufhört, sich immer nur
ethnisch selbst zu vergewissern, wenn Internationalität
spürbar wird und vieles andere mehr.
Da das aber Jahre dauert, sage ich der Bundesregierung mit aller Klarheit auch: Wir werden nicht akzeptieren, daß Sie die deutsche Öffentlichkeit vor dem Wahltag im unklaren lassen, welche Steuererhöhungspolitik
Sie zu betreiben beabsichtigen, und nach dem Wahltag
auf die Idee kommen, Steuererhöhungen an den Kosovo-Einsatz zu binden. Das sage ich ganz klar: Eine
Mandatierung deutscher Soldaten ohne eine Auskunft
der Bundesregierung zu den finanziellen Konsequenzen
und eine Auskunft nach dem Wahltag, man müsse stetig
die Mineralölsteuer erhöhen, gegebenenfalls noch die
Mehrwertsteuer, kommt für die Fraktion der F.D.P. nicht
in Frage.
({11})
Diesen Policy-Mix müssen Sie unterlassen.
Das heißt: Grundkonsens ja, aber hinters Licht führen
lassen wir uns nicht. Wir sind für ein klares Mandat, wir
tragen mit Ihnen gemeinsam die Verantwortung. Ich sage sogar: Die Opposition war in diesem Prozeß stabiler
als die Koalitionsparteien.
({12})
Deshalb ist die Bundesregierung aber auch verpflichtet,
der Opposition in den Beratungen dieser Woche Klarheit
über Kommandostruktur, Resolution, Timetable, Abläufe und Mandat zu geben. Dann sind wir bereit zu entscheiden; nur dann und nicht vorher. Es liegt jetzt an Ihnen, Klarheit in die Beratungen zu bringen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Nun spricht Staatsminister Ludger Volmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die
Bundesrepublik die EU-Präsidentschaft übernahm, war
sie mit einer doppelten, schwierigen Aufgabe konfrontiert: Zunächst mußte sie die Erweiterung und Vertiefung der europäischen Strukturen voranbringen, gleichzeitig mußte sie sich an der Bewältigung der schwierigsten Krise beteiligen, die Europa nach dem Ende des
zweiten Weltkriegs erlebt hat.
Kurz vor Ende der Präsidentschaft können wir heute
schon das Fazit ziehen, daß die Bundesregierung diese
doppelte Aufgabe gelöst hat. Die EU ist erweiterungsfähig geworden. Ihre politische Handlungsfähigkeit ist gestärkt worden. Gleichzeitig hat Europa in den vergangenen Monaten unter schwierigsten Rahmenbedingungen
nachgewiesen, daß es in der Lage ist, geschlossen zu
handeln und Gestaltungskraft zu beweisen.
({0})
Ich verstehe, daß die Opposition, die aus guten Gründen und alternativlos die Bundesregierung in der Kosovo-Politik unterstützt, nun, um eigenes Profil in der Außenpolitik nachzuweisen und zu demonstrieren, insbesondere in der Europapolitik, in der Politik der Europäischen Union, ein Haar in der Suppe sucht. Ich denke allerdings, daß diese Kritik fehlgeht; denn die Bundesregierung hat all das getan, was getan werden mußte, um
dem strategisch entscheidenden Ziel, der Osterweiterung
der Europäischen Union, das entsprechende institutionelle Fundament zu geben.
({1})
Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß die
Osterweiterung der Europäischen Union keine
Pflichtaufgabe ist, die aus vertraglichen Festlegungen
erwächst. Vielmehr muß es ein Hauptinteresse der deutschen Politik sein, alle Unsicherheiten, die nach dem
Zerfall der Sowjetunion theoretisch in dem großen
Raum der Transformation östlich von uns entstehen
könnten, dadurch aufzufangen, daß ein Export der europäischen Strukturen vorgenommen wird, sozusagen ein
Stabilitätsexport.
({2})
Jeder Europapolitiker weiß, daß die Osterweiterung
nur gelingen kann, wenn vorher die Strukturen der jetzigen Europäischen Union fundamental verändert werden.
Dazu hat die Bundesregierung einen ganz entscheidenden Beitrag geleistet.
({3})
So haben wir es geschafft, bei der Agenda 2000 einige
wichtige Kapitel entscheidend weiterzuentwickeln. Das
sind Kapitel, von denen vorher angenommen wurde, daß
ihre Problematik möglicherweise überhaupt nicht lösbar
sei und wegen der Unlösbarkeit dieser Fragen der europäische Erweiterungsprozeß sogar scheitern könnte. Es
gab gerade in der CSU Stimmen, die sagten: Angesichts
der Nichtmachbarkeit und angesichts der großen Probleme, die der Agenda-Prozeß mit sich bringt, verzichten wir lieber auf die Osterweiterung, igeln uns in Westeuropa ein und pflegen hier die Gemütlichkeit.
({4})
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, kritisieren, daß die Finanzpolitik schwierig zu
managen sei. Das liegt doch wohl nicht zuletzt daran,
daß wir ein extrem schwieriges Erbe übernommen haben.
({5})
Erst in den letzten Wochen ist doch dadurch, daß der
Finanzminister der jetzigen Regierung eine offene Politik betreibt, deutlich geworden, daß wir mit einem
strukturellen Defizit von 30 Milliarden DM zu kämpfen
haben, das doch nicht wir angerichtet haben, sondern
das Sie uns hinterlassen haben.
({6})
Wenn man einen solchen Schuldenberg angehäuft hat,
dann ist man nicht unbedingt berufen, finanzpolitische
Ratschläge zu geben.
Wenn man schon kritisiert, muß man zumindest die
eigenen Maßstäbe klarstellen. Da sagt Herr Schäuble auf
der einen Seite, man müsse mehr Geld in den europäischen Erweiterungsprozeß investieren - dem stimme ich
zu -, und auf der anderen Seite, die Bundesregierung sei
zu kritisieren, weil sie nicht genügend für den bundesdeutschen Haushalt einspare. Ich möchte wissen: Was
ist der Maßstab Ihrer Kritik? Wollen Sie mehr Geld für
Europa, oder wollen Sie mehr Geld für Deutschland? Es
gibt einzelne Vertreter in der Union, für die sich der Widerspruch mittlerweile so weit zugespitzt hat, daß sie
sich nicht mehr für Europa und nicht mehr für Deutschland, sondern für Bayern entscheiden. Das hat Herr
Stoiber gestern getan. Das ist gut für Europa, das ist gut
für Deutschland, das ist für Bayern allerdings eine fragwürdige Entscheidung.
({7})
Wir haben es geschafft, daß mittelfristig die Ausgabenstabilität im europäischen Rahmen beibehalten wird
und die Beitragslasten für den deutschen Haushalt
gleichzeitig sinken werden - selbstverständlich nicht so,
daß wir der deutschen Bevölkerung sagen könnten, unsere Europapolitik bestehe darin, auf Kosten der anderen
Europäer zu sparen, aber doch so, daß Deutschland nicht
mehr in der Situation ist, der Zahler für alle Reformprojekte zu sein. Die Reformen, die wir im europäischen
Rahmen umgesetzt haben, sind im wesentlichen Strukturreformen, die helfen, Geld zu sparen.
Wir haben auch das auf den Weg gebracht, was in institutioneller Hinsicht sonst noch erreicht werden muß,
damit die nächsten EU-Beitritte bis zum Jahre 2002 Herr Haussmann, nun haben Sie Ihre Zahl - stattfinden
können. Wir haben die Verhandlungen in Gang gesetzt
über die Erweiterung der Kommission, die Anzahl der
Kommissare, die Stimmengewichtung im Rat und die
Möglichkeit, auch mit Mehrheitsentscheidungen zum
Ziel zu kommen. Darüber wird auf der nächsten Regierungskonferenz verhandelt werden. Diese Weichenstellungen haben wir vorgenommen; wir haben das auf den
Weg gebracht. Deshalb denke ich, daß wir die Verpflichtungen, die uns aus dem europäischen Integrations- und Erweiterungsprozeß erwachsen sind, mehr als
gut erfüllt haben.
({8})
Hinzu kommt, daß die Europäische Union mit dem
Stabilitätspakt für Südosteuropa eine Aufgabe geschultert hat, deren Dimensionen sich erst abzuzeichnen
beginnen. Wir freuen uns darüber, daß der Stabilitätspakt für Südosteuropa auch als ein Element der
UNO-Politik in den Konfliktlösungsansatz bezüglich des
Kosovo aufgenommen worden ist. Die Völkergemeinschaft und die europäischen Staaten holen damit etwas
nach, was sie eigentlich schon vor zehn Jahren, zu Beginn der Jugoslawien-Krise, hätten machen müssen. Bereits damals - Mitglieder der grünen Fraktion im Bundestag haben dies seinerzeit mehrmals gefordert - hätte
es für alle Nachfolgestaaten des zerfallenen Jugoslawien
eine Einladung nach Europa geben müssen, so daß die
Völker dieser Staaten eine positive Entwicklungsperspektive gehabt hätten. Statt dessen wurde damals eine
Eindämmungspolitik betrieben. Europa und insbesondere seine einzelnen Nationalstaaten wollten dieses Problem möglichst von sich wegdrücken, es einkapseln
in der Hoffnung, daß es sich von selbst löst. Das war ein
Irrtum, der viele Menschenleben gekostet hat und der
enorm viel Geld kostet.
Nun wird mit zehn Jahren Verspätung - allerdings
nicht zu spät - das getan, was damals versäumt wurde:
Der Stabilitätspakt für Südosteuropa wird in Angriff genommen. Das ist eine Aufgabe, die die Europäische
Union in Zusammenarbeit mit der OSZE und mit den
Finanzinstitutionen IWF und Weltbank zu schultern hat
und die in ihren Dimensionen überhaupt nicht zu überschätzen ist. Angesichts der Tatsache, daß sich durch
diese Prozesse das europäische Gesicht und auch das
europäische Gewicht verändern werden, finde ich manche Kritik aus den Reihen der Opposition reichlich
kleinkariert.
({9})
Im Stabilitätspakt für Südosteuropa kulminiert eine
Politik, mit der die Bundesregierung wie auch die anderen westlichen Staaten versucht haben, dem Völkermord
im Kosovo ein Ende zu bereiten. Heute, nachdem die
NATO-Bombardierungen viel Kritik auf sich gezogen
haben, nachdem es viele zivile Opfer zu beklagen gibt,
stellt sich mancher die Frage, ob es nicht eine Alternative gegeben hätte. Eine Alternative gab es möglicherweise vor zehn Jahren: die, die ich gerade skizziert habe.
Doch erinnern wir uns an die Diskussion im Herbst
letzten Jahres. Jeder wußte, daß die internationale Staatengemeinschaft eingreifen muß, um dem beginnenden
Völkermord ein Ende zu bereiten. Jeder hätte einen Verhandlungsfrieden bevorzugt. Aber jeder hier im Hause
wußte auch, daß Milosevic nur unter militärischem
Druck zu verhandeln bereit war.
({10})
Daher wurde hier am 16. Oktober die grundlegende Entscheidung getroffen.
So ist es nun einmal bei Ultimaten: Sie binden beide
Seiten. Nachdem Milosevic die Verabredungen mit Holbrooke gebrochen und schon damals den Verhandlungsprozeß torpediert hatte, standen wir wieder vor der Frage: Wollen wir nun grünes Licht für die Bombardierung
geben, oder gibt es noch eine Möglichkeit zu verhandeln? Dies war der Zeitpunkt, an dem die Bundesregierung und insbesondere auch das grün-geführte Außenministerium darauf gedrungen haben, in den Verhandlungsprozeß von Rambouillet einzutreten, um zu einer
friedlichen Lösung zu kommen. Sie alle wissen, wie die
Dinge weitergegangen sind.
Wir knüpfen große Hoffnungen an den Verhandlungsprozeß, bei dem es durch das Treffen von Ahtisaari
und Tschernomyrdin letzte Woche in Belgrad zu einem
Durchbruch gekommen ist. Wir als Bundesregierung erkennen die großen Verdienste an, die unsere Partner im
Zusammenhang mit der Konfliktlösung haben. Wir erkennen an, daß Ahtisaaris Verhandlungsgeschick dazu
geführt hat, daß die unterschiedlichen Optionen, die
auch auf der westlichen Seite und innerhalb der G 8
vorhanden waren, auf einen Punkt hin fokussiert wurden
und dieser so formuliert wurde, daß Belgrad einlenken
konnte. Wir erkennen die großen Leistungen an, die
Rußland erbracht hat. Wir wissen schließlich, mit welchen Fragen sich Rußland gequält hat.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Stichwort Primakow zurückkommen: Wer hätte nicht gewollt, daß Primakow vor zwei, drei Monaten mit der Lösung aus Belgrad nach Bonn gekommen wäre? Wenn
das Treffen mit Primakow in Bonn weniger herzlich
war, als sich dies mancher gewünscht hätte, dann liegt
das nicht daran, daß - wie behauptet - die Bundesregierung unhöflich gewesen ist; es lag schlicht daran, daß
Herr Primakow mit leeren Händen kam. Niemand hat
mehr darunter gelitten als Primakow selber. Niemand
hat mehr darunter gelitten als zum Beispiel auch Jelzin.
Wer die Hintergründe kennt, der weiß, daß unter anderem diese Ereignisse dazu geführt haben, daß es zum
politischen Wechsel in Moskau gekommen ist. Wir
gratulieren Präsident Jelzin dazu, daß er die Verve und
die Energie hatte, Tschernomyrdin als Beauftragten für
den Kosovo einzusetzen. Wir gratulieren Tschernomyrdin genauso wie Ahtisaari zu den großartigen
Verhandlungserfolgen.
({11})
Wir wollen auch den Dritten im Bunde nennen: unseren amerikanischen Partner und Freund Strobe Talbott,
der für die Macht, die den größten militärischen Anteil
an der Bewältigung dieser Krise getragen hat, in die
Verhandlungen eingetreten ist. Die Amerikaner haben
einen großen Beitrag zur Lösung eines europäischen
Problems geleistet. Wir Europäer waren nicht in der Lage, dieses Problem im Zentrum unseres Kontinents allein zu lösen. Wir waren auf die Vereinigten Staaten angewiesen. Auch wenn man so manches Detail der
NATO-Politik kritisieren mag: Wir Europäer sind den
Amerikanern gegenüber zu Dank verpflichtet.
({12})
Wenn man aber deutlich macht, wer an der sich nun
abzeichnenden Krisenlösung Anteil hat, dann darf man
auch erwähnen, daß es insbesondere die Bundesregierung und das grün-geführte Außenministerium waren,
({13})
die es nach monatelangen Bemühungen - spätestens
nachdem deutlich wurde, daß die NATO-Bombardierungen nicht bewirken würden, Milosevic schnell an den
Verhandlungstisch zurückzubekommen - geschafft haben, mit eigenen Vorschlägen den Verhandlungsstrang
zu stärken und Friedensvorschläge zu machen, die von
allen Großorganisationen, von der EU, von der NATO
und von der UNO, akzeptiert wurden und die den Verhandlungen nun zugrunde liegen.
({14})
Die Europäer haben es geschafft, Fehler der Vergangenheit, als man nationale Interessen auf den Balkan
projizierte, auszubügeln und zu einer gemeinsamen
Haltung zu kommen. Europa hat damit den Weg für die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geebnet, die
zuletzt Thema beim Europäischen Rat war.
Wenn beim Europäischen Rat eine Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäer nicht nur ins Auge gefaßt wurde, sondern auch institutionell weiterentwickelt wurde, so wird damit darauf
reflektiert, daß die Europäer in einem Maße auf amerikanische Unterstützung angewiesen sind, die wir selber
so nicht mehr wollen. Wir wissen, daß wir in der Verantwortung stehen, europäische Probleme weitestgehend
selber zu lösen. Deshalb ist der Aufbau einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik unabdingbar. Ich sage aber auch: Die GASP, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, beginnt nicht mit der
Militärpolitik, sondern damit, daß zunächst gemeinsame
Interessen formuliert werden und daß man sich gemeinsam an die Weiterentwicklung und die Stärkung der zivilen Großorganisationen macht, insbesondere der Europäischen Union. In diesem Zusammenhang kommt der
Osterweiterung der Europäischen Union ein entscheidender strategischer Stellenwert zu.
({15})
Es ist zu früh, endgültige Schlußfolgerungen aus dem
Kosovo-Konflikt zu ziehen; einige Dinge hierzu kann
man aber schon jetzt ansprechen.
Wie ich vorhin schon sagte, wird Europa trotz großer
Eigenanstrengung auch weiterhin ohne die USA nicht
auskommen können. Ich möchte betonen, daß wir ohne
die USA auch nicht auskommen wollen. Bei allem Bemühen, die europäischen Strukturen zu stärken, wollen
wir gleichzeitig die transatlantischen Beziehungen ausbauen und fundieren. Wir wollen den Konnex mit unseren Partnern und Freunden jenseits des Atlantiks als
Säule unserer Außenpolitik aufrechterhalten.
({16})
Wir wissen gleichzeitig - das zeigen uns auch der
Kosovo-Konflikt und dessen Bewältigung -, daß Europa
ohne ein demokratisches, ohne ein sich entwickelndes
und ohne ein sich auf Westeuropa orientierendes Rußland langfristig nicht gut existieren kann. Deshalb war es
eine der wesentlichsten Aufgaben der Diplomatie der
Bundesregierung, im Prozeß der Konfliktlösung im Kosovo Rußland für die westliche Strategie zu gewinnen
und es in der G 8 an den Westen zu binden, um so zu einer Lösung zu kommen, die von der UNO und damit
von nahezu der gesamten Völkergemeinschaft legitimiert wird. Es war der Dreiklang zwischen den Partnern
jenseits des Atlantiks, in Westeuropa und Rußland,
durch den es gelungen ist, der Lösung dieser schlimmsten Krise auf dem europäischen Kontinent zumindest
einen Schritt näher zu kommen.
Wir warnen jedoch davor, in Euphorie auszubrechen,
wie wir auch am letzten Freitag davor gewarnt haben,
nachdem der politische Rahmen existent war, in dem der
konkrete Lösungsprozeß zu einem guten Ende hätte gebracht werden können. Wir haben davor gewarnt, indem
wir darauf hingewiesen haben, daß es wiederum nur eine
Finte von Milosevic sein könnte. Nachdem die Gespräche über das militärisch-technische Abkommen unterbrochen wurden, wurde auch sofort die Frage gestellt,
ob dies eine der üblichen Finten war, die wir zur Genüge
kannten, oder ob es gute Chancen gab, trotz dieser Erschwernisse weiterzumachen.
Der Bundesaußenminister und die gesamte Bundesregierung waren wie auch die anderen europäischen
Partner, wie die Amerikaner und die Russen der Meinung: Nun, wo völlig offensichtlich ist, daß in Belgrad
ein mutmaßlicher Schwerstverbrecher an der Macht ist
und das serbische Volk nur dann eine Chance auf einen
Wiederaufbau und auf die Teilnahme an einem Prozeß
der Annäherung an Europa hat, wenn es eine andere
politische Führung in Belgrad gibt, muß auch der letzte
Schritt vollzogen werden, um zu einem Ende des
Mordens zu kommen. Dazu muß eine Überwachungsmission für den Kosovo auf den Weg gebracht werden,
die in der Lage ist, die mittlerweile über 1 Million Vertriebenen sicher zurückzubringen. Dieser Verantwortung
hat sich die internationale Staatengemeinschaft gestellt
und hat alle Probleme, die auch untereinander bestanden, überwunden, um - vielleicht sogar schon heute - zu
einem Ergebnis zu kommen.
Nur glauben wir nicht, daß dann Anlaß zur Euphorie
besteht, wenn der angestrebte Beschluß des UNOSicherheitsrates gefaßt wird. Die Aufgaben, die dann vor
uns liegen, sind mindestens genauso enorm: Die Dörfer
sind verwüstet, die Häuser sind verbrannt, die Felder
sind zerstört, das Vieh ist abgeschlachtet, die Infrastruktur ist kaputt. Dies, Herr Gysi, ist nicht in erster Linie eine Folge der Bombardierungen durch die NATO,
sondern der völkermörderischen Politik und der Mordbrennerei, die Milosevic dort betrieben hat.
({17})
Ich kann verstehen, daß es viele kritische Bemerkungen zur Politik der Bundesregierung gibt. Ich kann verstehen, wenn gefragt wird, warum die Bombardierungen
durch die NATO so viele zivile Opfer gekostet haben.
Ich kann die Frage nach der völkerrechtlichen Legitimation verstehen. Ich kann die Aussagen der ethischen Pazifisten verstehen, für die unter keinen Umständen in irgendeiner Situation Waffengewalt in Frage kommt.
Aber den Antrag, den Sie, Herr Gysi, heute hier vorgelegt haben, kann ich nicht verstehen. Sie fordern nicht
nur, daß keine neuen deutschen Truppenkontingente in
die Region geschickt werden, sondern Sie fordern sogar,
daß die dort stationierten nun abgezogen werden.
({18})
Ich frage mich mittlerweile, welches Ziel Sie denn
eigentlich noch verfolgen. Es kann nur reiner Irrsinn
sein, wenn eine Partei in dem Moment, wo ein beiderseitiger Waffenstillstand zum Greifen nahe ist, immer
noch den einseitigen fordert. Schön; im schlimmsten
Falle blamieren Sie sich damit. Ich kann aber absolut
nicht verstehen, warum sich die Bundesrepublik, die alles unternommen hat, um mit der bekannten DoppelStaatsminister Dr. Ludger Volmer
strategie den Völkermord zu stoppen, und die durch ihre
diplomatischen Initiativen alles unternommen hat, um
eine perspektivlose militärische Eskalation zu verhindern, jetzt nicht auf der Basis eines UNO-Mandates daran beteiligen soll, den Frieden zu sichern. Warum fordern Sie den Rückzug aller Truppen? Das ist mir völlig
unerklärlich. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß
damit überhaupt ein konstruktiver Gedanke verbunden
ist. Sie befördern damit nicht den Friedensprozeß, sondern sabotieren den Friedensprozeß in einem Moment,
wo er vor einem guten Ende steht.
({19})
Lassen Sie mich auf einen letzten Punkt zu sprechen
kommen. Der ganze Kosovo-Konflikt zeigt, daß in den
letzten Jahren vor allem im Bereich der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktbeilegung ein Defizit
herrschte. Möglicherweise war die Diskussion darüber
bis zum Ende der 80er Jahre zu akademisch und hatte
deshalb noch keinen hinreichenden Einfluß auf die offizielle Politik der Regierungen gehabt. Aber spätestens
der Kosovo-Konflikt muß doch jedem die Augen dafür
öffnen, daß wir eine effektive Politik zur Krisenprävention brauchen. Wir brauchen Frühwarnsysteme und vor
allen Dingen Handlungsansätze, die uns in die Lage versetzen, auf Warnmeldungen effektiv zu reagieren.
({20})
In diesen Zusammenhang der Krisenprävention gehört eine gründliche Reform der UNO und des Sicherheitsrates sowie die Weiterentwicklung des Völkerrechtes. In diesen Zusammenhang gehört eine bestimmte
Ausgestaltung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union; sie muß ihre Aufgabe insbesondere in der Krisenprävention sehen. In diesem Bereich müssen aber auch in die deutsche Außenund Sicherheitspolitik neue Elemente eingeführt werden.
Wir haben großen Respekt vor dem, was die Soldaten
auf dem Balkan leisten. Aber wir haben auch großen
Respekt vor dem, was die Diplomaten geleistet haben
und leisten. Wir haben großen Respekt vor dem, was die
Verifikateure der OSZE leisten mußten, obwohl die
Voraussetzungen für ihre Arbeit alles andere als günstig
waren. Die Bundesregierung zieht daraus die Konsequenz, daß der gesamte Ansatz der Krisenprävention,
der Konfliktfrüherkennung und der frühen Handlungsfähigkeit gestärkt werden muß.
Wir im Auswärtigen Amt werden zu diesem Zweck
eine Reserve von professionell arbeitendem Personal
schaffen, das auf der Basis von Mandaten der OSZE
oder der UNO in Konfliktregionen geschickt werden
kann, und zwar zu einem so frühen Zeitpunkt, daß noch
auf zivile Art und Weise versucht werden kann, die Zuspitzung von Krisen zu bewaffneten Konflikten zu verhindern. Eine solche Personalreserve bereitzustellen ist
eine der wichtigsten Konsequenzen, die wir aus dem
Kosovo-Konflikt ziehen müssen. Die Bundesregierung
wird hieran mit großem Nachdruck arbeiten.
({21})
Ich gebe das Wort
für die PDS dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gerhardt hat in einem Punkt
recht, nämlich daß der Bundeskanzler, als er sich für den
Termin für die heutige Debatte entschieden hat, darauf
gehofft hat, daß das Wesentliche der Verhandlungen
über den Friedensprozeß in Jugoslawien unter Dach und
Fach ist, so daß man von einem anderen Ausgangspunkt
als jetzt erstens über den Antrag hätte beraten können
und zweitens auch Wahlkampf für die Europawahlen
hätte machen können. Nun hat sich die Lage anders
entwickelt, weil sich die Verhandlungen als schwieriger
dargestellt haben, so daß vieles von dem, was heute gesagt worden ist, im vagen geblieben ist. Dennoch hoffen
auch wir, daß es ein baldiges Ende des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges ebenso wie ein Ende von Vertreibung, Mord und anderen Repressionen im Kosovo
geben wird. Das sind die Voraussetzungen, um dort zu
einem dauerhaften Frieden zu gelangen.
({0})
Wenn Sie nach dem Sinn unseres Antrages fragen,
dann möchte ich darauf hinweisen, daß er zwei verschiedene Aspekte beinhaltet. Das eine ist die sofortige
Beendigung der Bombardierungen. Darauf muß die
Bundesregierung im Rahmen der NATO entsprechend
hinwirken. Das andere betrifft die Beendigung der Beteiligung der Bundeswehr an den Kriegshandlungen der
NATO.
Für unsere Forderung nach Abzug der deutschen
Truppen aus Jugoslawien gibt es einen einfachen Grund:
Wir haben immer darauf hingewiesen, daß diejenigen,
die aktiv an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien beteiligt waren, hinterher nicht als
Friedensengel in den Kosovo zurückkehren sollen;
vielmehr sollen neutrale Staaten Truppen nach Jugoslawien entsenden, weil sie nicht durch einen vorherigen
aktiven Einsatz belastet sind.
({1})
Insofern haben wir eine andere Vorstellung über die Zusammensetzung des Kontingents, das nach Jugoslawien
geschickt werden soll. Unserer Meinung nach wäre die
Entsendung von Soldaten durch neutrale Staaten dem
Frieden dienlicher, weil die Vorbehalte gegen Staaten
wie Schweden, Finnland und andere viel geringer sind
als gegenüber den NATO-Staaten, die Jugoslawien über
Wochen bombardiert haben.
Wenn Sie von dem menschlichen Leid sprechen,
dann muß man das Leid der gesamten Zivilbevölkerung
in Jugoslawien in Betracht ziehen.
({2})
Selbstverständlich sind die kosovo-albanischen Kinder,
die vertrieben worden sind, traumatisiert. Das sieht man
an ihren Zeichnungen. Aber ich sage Ihnen: Traumatisiert sind auch die serbischen Kinder, die seit über 70
Tagen Nacht für Nacht in Luftschutzkellern zubringen
müssen. Darüber ist hier so gut wie noch nie gesprochen
worden. Genau deshalb unterscheiden wir bei der Hilfe
nicht.
({3})
Ich finde es auch völlig falsch, schon jetzt anzukündigen, daß man der serbischen Bevölkerung erst dann
Hilfe zukommen läßt, wenn dort die Leute regieren, die
man sich wünscht. Ich finde das absurd. Es geht doch
nicht um einen Diktator oder einen Präsidenten, sondern
um Menschen, deren Infrastruktur völlig zerstört worden
ist und die dringend der Hilfe bedürfen.
({4})
Herr Staatsminister, ich verstehe überhaupt nicht,
weshalb die NATO nach den Zugeständnissen Belgrads
- auch gegenüber dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen - nicht wenigstens jetzt mit den Bombardierungen aufhört. Sie können doch das tägliche und nächtliche Bombardement nicht als eine Art Alltagspflicht behandeln, der man sich auf gar keinen Fall entziehen darf,
bevor es nicht eine Unterschrift gibt.
({5})
Es gab übrigens in jedem Krieg auch Nächte, in denen
nicht bombardiert worden ist. Das ist also überhaupt
nicht nachvollziehbar.
Wenn dann gesagt wird, man müsse weitermachen,
weil man Milosevic mißtraue oder weil der militärische
Druck nicht nachlassen dürfe: Militärischen Druck gäbe
es doch auch, wenn Sie jetzt aufhören würden zu bombardieren. Die Soldaten, die Flugzeuge und die Raketen
sind doch noch alle da. Sie könnten - leider - theoretisch jeden Tag wieder anfangen. Das heißt, der militärische Druck bliebe doch.
Was hindert Sie denn eigentlich daran, einfach zu sagen „Wir hören jetzt auf, das Ganze ist auf einem Weg,
zum Ende zu kommen, und wir werden uns nicht an
einer Verlängerung des Krieges durch tägliche Bombardements beteiligen“? Auch letzte Nacht hat es wieder
zivile Opfer gegeben, zumindest wenn die Informationen stimmen, die wir heute dazu bekommen haben.
({6})
Ich sage Ihnen: Die ganzen Ziele dieses Krieges haben Sie allein schon durch die Art der Bombardements
in Frage gestellt. Wasserwerke, Düngemittelfabriken,
Elektrizitätswerke, Heizkraftwerke, das waren nie militärische Objekte, und die Bombardements richteten sich
auch nie gegen Milosevic, sondern trafen immer nur die
Zivilbevölkerung. Ich bin überhaupt sehr mißtrauisch,
gerade was die Angriffe gegen den Mann an der Spitze
betrifft. Denn war es im Golfkrieg nicht auch so, daß
immer gesagt wurde, der Krieg richte sich nur gegen
Saddam Hussein, aber nicht gegen die Zivilbevölkerung? Tatsache ist: Es gibt im Irak inzwischen 100 000
tote Kinder, aber Saddam Hussein sitzt immer noch sicher im Sattel. Das ist die Wahrheit, die sich nach Jahren herausstellt.
({7})
Natürlich ist das Ergebnis, das bei dem G-8-Gipfel
beschlossen worden ist, nicht identisch mit den Beschlüssen von Rambouillet, gerade im militärischen
Teil. Es gibt zwei gravierende Unterschiede. Damals
ging es nämlich um die Hoheit der NATO über ganz Jugoslawien, jetzt geht es „nur“ um den Kosovo. Damals
war von der UNO überhaupt keine Rede, während die
Hoheit heute bei der UNO liegen soll. Das sind schon
gravierende Unterschiede.
Auf der anderen Seite haben Sie vieles von Ihren
Vorstellungen durchgesetzt, was nach einem solchen
Bombardement auch zu erwarten war. Nur, wenn der
Bundeskanzler heute gesagt hat, wer nicht bombardiert
hätte, hätte die größere Schuld auf sich geladen, und
wenn er meint, daß die Politik der Bundesregierung insgesamt richtig gewesen sei, dann sage ich Ihnen: Von
allen Fehlern, die die Bundesregierung bisher begangen
hat und in dieser Legislaturperiode in Zukunft wahrscheinlich noch begehen wird, war die Beteiligung an
dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit Sicherheit der größte mit den langfristigsten Auswirkungen für
Europa und für unser Land.
({8})
Gerade Sie, Herr Volmer, aber auch Frau Müller,
Frau Beer und andere haben der Politik einen enorm
schlechten Dienst erwiesen. Sie haben, Herr Volmer,
hier heute über den 16. Oktober gesprochen. An diesem
16. Oktober haben Sie der Androhung der Bombardierung nicht zugestimmt. Sie haben sich der Stimme enthalten, genau wie Frau Beer, Frau Müller und andere.
Die Begründung, die Sie damals dazu abgegeben haben,
lautete: Sie könnten der Androhung nicht zustimmen,
weil dahinter kein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen stünde; damit wäre es völkerrechtswidrig, und Sie könnten einer völkerrechtswidrigen Androhung von Militärmaßnahmen aus Gewissensgründen
nicht zustimmen. Das war Ihre damalige Erklärung. Drei
Monate später, als die ersten Bomben fielen, hatte sich
- ich gehe nur von Ihrer Erklärung aus - an diesem
Sachverhalt nichts geändert. Es gab noch immer keinen
Sicherheitsratsbeschluß. Plötzlich haben Sie aber zugestimmt. Da ging es nicht mehr um die Androhung, sondern um das Abwerfen der Bomben. Damit haben Sie
- ganz egal, welchen Standpunkt man einnimmt - der
Politik und der Demokratie deshalb einen so schlechten
Dienst erwiesen, weil Sie nun für die Bevölkerung der
lebende Beweis dafür sind, daß man Überzeugungen
nicht nach dem Gewissen ausrichtet, sondern nach dem
Amt, das man bekleidet.
({9})
Denn der einzige Unterschied war, daß Sie inzwischen
Staatsminister und die anderen Angehörige einer Regierungsfraktion waren.
Sie wissen doch genausogut wie ich: Wenn eine Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. diesen Krieg in ihrer
Verantwortung beschlossen hätte, wären wir beide
wahrscheinlich gemeinsam auf Kundgebungen aufgetreten und hätten wilde Reden dagegen gehalten.
({10})
Das ist die Wahrheit. Damit haben Sie Politik dauerhaft
beschädigt, weil wir uns alle von den Leuten fragen lassen müssen, ob denn auf uns Verlaß wäre, wenn wir ein
anderes Amt übernähmen, oder ob wir dann auch sofort
unsere Auffassung entsprechend ändern würden. Sie haben nicht nur sich geschadet, sondern Sie haben dem
Ansehen der Politik überhaupt geschadet. Sie hätten Ihre
Meinung nicht ändern dürfen, oder Sie hätten von vornherein einen anderen Standpunkt einnehmen müssen.
({11})
Die Folgen des Krieges werden nicht unerheblich
sein. Eine der schlimmsten Folgen ist meines Erachtens
ein Hochrüstungsprogramm. Wir werden das in Rußland und in vielen anderen Staaten erleben. Diktatoren
ziehen doch nicht die Schlußfolgerung, plötzlich Demokraten zu werden. Sie werden vielmehr überlegen, wie
sie militärisch möglichst unangreifbar werden.
Rußland ist deutlichst vorgeführt worden. Die Gesten gegenüber Primakow waren diplomatisch natürlich
eine Katastrophe. Diejenigen, die dieses Verhalten hier
kritisiert haben, haben völlig recht: So geht man mit einem Ministerpräsidenten, den man für eine Politik gewinnen will, nicht um, selbst dann nicht, wenn die Ergebnisse mangelhaft sind.
({12})
Das Problem ist, daß man Rußland deutlich gemacht hat,
daß es nur dann gleichwertig mitsprechen kann, wenn
es militärisch auch wieder gleichwertig ist. Das heißt:
Ganz egal, wer Präsident wird, ganz egal, wie die Duma
zusammengesetzt sein wird, wir werden ein Hochrüstungsprogramm erleben. Das bedeutet immer die
Verelendung von Völkern; auch bei uns hat es übrigens
zu Sozial-, Kultur- und Bildungsabbau geführt.
Schon zwei Tage nach Beginn des Krieges hat der
Staatssekretär im Verteidigungsministerium gefordert,
wir bräuchten eigene Satelliten, nicht nur amerikanische.
Sie wollen die Westeuropäische Union jetzt aus- und
aufbauen. Das alles bedeutet mehr Rüstung, es bedeutet,
viel stärker auf das Militärische zu setzen.
Machen wir uns doch nichts vor: Die Amerikaner
wußten natürlich, daß diese Bombardierung auch die europäische Integration um Jahre und Jahrzehnte zurückwirft und sie einen gleichwertigen europäischen Konkurrenten auf Jahre und Jahrzehnte auf den Weltmärkten
nicht mehr zu fürchten haben. Wenn Sie mir das nicht
glauben, dann werfen Sie doch einen Blick auf das Verhältnis von Euro und Dollar. Sie werden feststellen:
Der Euro geht in den Keller, der Dollar steigt. Alle Anleger investieren in den Dollar.
({13})
Deswegen behaupte ich: Alle sozialdemokratischen europäischen Regierungen haben sich schlicht und ergreifend über den Tisch ziehen lassen, weil sie das im Unterschied zu den Konservativen nicht mit berechnet und
berücksichtigt haben. Das ist die traurige Wahrheit.
({14})
Wenn Sie mit Politikern kleinerer Länder sprechen,
dann hören Sie plötzlich Argumente, auf die man vorher
gar nicht gekommen wäre. Zum Beispiel gibt es einen
Run auf die NATO-Mitgliedschaft, weil diese Länder
die Situation in der Türkei mit der Situation in Jugoslawien verglichen haben. Aus diesem Vergleich haben sie
die Schlußfolgerung gezogen: Wenn ich in der NATO
bin, dann kann ich mir jede Menschenrechtsverletzung
leisten. Wenn ich draußen bin, dann ist das gefährlich. Diese Logik haben Sie im Ergebnis dieses Krieges mitzuverantworten.
({15})
Herr Kollege Gysi,
ich möchte Sie bitten, jetzt zum Schluß zu kommen.
({0})
Das war nur ein Mißverständnis, so etwas kommt gelegentlich vor. - Ich möchte, was die Europapolitik der Bundesregierung betrifft,
noch auf folgende Dinge eingehen. Lassen Sie mich zunächst etwas zum Beschäftigungspakt sagen, den der
Bundeskanzler heute hier so stolz verkündet hat. Ich erinnere mich sehr gut an folgende Situation. Als Jospin
an die Macht kam, wollte er unbedingt einen Beschäftigungspakt in Europa. Altbundeskanzler Kohl wehrte
sich zusammen mit Waigel tapfer dagegen und sagte,
Arbeitsmarktpolitik müsse man im Lande machen und
nicht in Europa. Deswegen blieb es bei völlig unverbindlichen Absichtserklärungen. Die SPD tobte damals
zusammen mit uns und mit den Grünen und sagte, in Europa müsse konkrete Beschäftigungspolitik gemacht
werden. Nun haben wir einen sozialdemokratischen
Kanzler, und der sagt jetzt auf dem Gipfel: Bloß keine
konkrete europäische Beschäftigungspolitik, bitte nur
Absichtserklärungen. - So gesehen hätten wir uns den
Wechsel des Kanzlers wirklich schenken können. Der
Ansatz ist derselbe geblieben.
({0})
Auf der einen Seite gibt es Dinge, die man vom Land
nicht nach Europa wegdelegieren darf, um sich nicht aus
der Verantwortung zu stehlen. Auf der anderen Seite
gibt es aber natürlich auch Dinge, die man europäisch
angehen muß: Wir werden in Europa keine Beschäftigungspolitik ohne eine Steuerharmonisierung hinbekommen. Wir werden nicht nur in unserem Land, sondern in ganz Europa über den Abbau von Überstunden
und über Arbeitszeitverkürzungen nachdenken müssen,
wenn wir Arbeit in der Gesellschaft gerechter verteilen
wollen. Wir werden über den sogenannten Non-ProfitSektor, also den öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, in unserem Lande, aber auch in ganz Europa
nachdenken müssen. Außerdem werden wir eine neue
Struktur für Lohnnebenkosten finden müssen. All das
gehört dazu.
Wenn ich dann die Sparpläne der Bundesregierung
höre, die vor der Wahl allerdings sehr unkonkret bleiben, dann wundere ich mich auch sehr. Alles, was hier
zitiert worden ist, hätte auch die alte Regierung sagen
können. Im Dezember haben Sie die Senkung des Rentenniveaus ausgesetzt. Wir haben völlig zu Recht zugestimmt, obwohl es nicht konsequent genug war. Wir
hätten gleich die Beseitigung dieser Senkung festschreiben müssen; Sie wollten zunächst aber nur die Aussetzung. In den letzten Tagen lese ich in den Zeitungen, Ihr
Finanz- und Ihr Arbeitsminister wollten die Erhöhung
der Rente im nächsten Jahr um die Hälfte kappen. Das
soll danach so weitergehen. Dann hätten Sie die Senkung des Rentenniveaus gleich in Kraft lassen können;
das ist doch für die Rentnerinnen und Rentner faktisch
dasselbe.
({1})
Es ist nicht hinnehmbar - ich will das deutlich sagen -: Wenn Sie nicht eine andere Verteilungspolitik
betreiben und den Reichtum begrenzen - dazu gehört
Mut -, werden Sie Armut niemals wirksam bekämpfen
können. Sie haben versprochen, die Vermögensteuer
einzuführen. Wo bleibt sie denn? Es gibt nicht einmal
einen entsprechenden Antrag seitens der Regierungskoalition und diesbezüglich auch keine Bemühungen in
Europa.
Ich möchte noch andere Versprechen nennen: Die
Ausgaben für die Bildungspolitik wollten Sie verdoppeln. Jetzt sollen sie im nächsten Jahr eingeschränkt
werden, nachdem sie in diesem Jahr glücklicherweise
erhöht worden sind. Das alles, gerade was die europäische Ebene betrifft, enttäuscht bitter. Hier hätten wir uns
nicht nur einen Wechsel der Regierung, sondern auch
einen wirklichen Wechsel der Politik gewünscht. Der ist
leider ausgefallen.
Aber das Schlimmste von alledem ist und bleibt der
Krieg. Deshalb wiederhole ich meinen Appell und meine Bitte: Stellen Sie wenigstens heute nacht die Bombardierung ein! Es gibt keinen Grund mehr, weiter zu
zerstören. Eines Tages muß alles wieder aufgebaut werden. Menschen dürfen nicht länger unter diesem Krieg
leiden, egal welcher Nationalität sie sind.
({2})
Ich gebe das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion dem Abgeordneten Michael
Glos.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Falls Sie, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, es vergessen
haben sollten: Mein Vorredner ist Mitglied der Partei,
die in Mecklenburg-Vorpommern und in SachsenAnhalt Ihr Koalitionspartner ist.
({0})
Sich für ihn zu schämen nutzt allein nichts. Man muß
daraus auch Konsequenzen ziehen.
({1})
Ich bedauere, daß Herr Hombach gerade gegangen
ist. Ich wollte ihm nämlich etwas zum Stichwort „Rücktritt“ - allerdings nicht auf ihn bezogen - sagen. Ich
wollte ihm für den Bundeskanzler mit auf den Weg geben, daß es vollkommen unerträglich ist, daß hier ein
Staatsminister des Auswärtigen Amtes auftritt - egal ob
er für die Fraktion oder für die Bundesregierung spricht
- und sich in die russische Innenpolitik einmischt.
({2})
In Anbetracht der schwierigen Situation war es ein besonders dreistes Stück, von hier aus Herrn Jelzin zu
danken, daß er Herrn Tschernomyrdin geschickt hat.
({3})
Ich finde, wenn man es nicht kann, dann sollte man solche Ämter nicht einnehmen. Das zeigt, was herauskommt, wenn die Koalitionsarithmetik vor alles andere
gestellt wird.
({4})
Wir alle sind uns im Ziel einig: Wir möchten Frieden
im Kosovo. Wir wissen aber, daß dann, wenn man es
mit einem Gegner wie Milosevic zu tun hat, falsche Euphorie unangebracht ist. Deswegen hat Wolfgang
Schäuble vorhin recht gehabt, als er noch einmal die
Bilder in Erinnerung gerufen hat, die am letzten Donnerstag vom europäischen Gipfeltreffen ausgegangen
sind, wo man sich umarmt hat, wo man gefeiert hat
({5})
und wo man Champagnerkorken hat knallen lassen, ohne daß die Sache in trockenen Tüchern war. Dies ist eine
Art Aufforderung an den Diktator gewesen, neue Finten
auszuprobieren.
({6})
Deswegen werden wir über den Antrag zum Einsatz
deutscher Soldaten, der hier gestellt worden ist, sehr
sorgfältig beraten. Vor allen Dingen wollen wir genau
abklopfen, wie gefährlich dieser Einsatz für unsere Soldaten ist. Die Tatsache, daß man jetzt davon spricht, daß
eine UN-Sicherheitsratsresolution die Grundlage dafür
sein muß, ist etwas, was wir sehr begrüßen würden.
Aber wir müssen auch alles dafür tun, das Bündnis
NATO nicht zu schädigen. Wir haben zu allen Zeiten zu
diesem Bündnis gestanden. Aus diesen Gründen haben
wir - denn wir wollen auch in Zukunft Frieden und
Freiheit - die Bundesregierung auf ihrem Weg viel stärker unterstützt, als sie aus den eigenen Reihen unterstützt worden ist. Rufen Sie sich doch einmal in Erinnerung, was geschehen wäre, wenn die Gefechtslage umgekehrt gewesen wäre!
({7})
- Das ist richtig. Sie hätten nicht nur vieles in Brand gesetzt, sondern es wären auch viel mehr Farbbeutel geDr. Gregor Gysi
worfen worden als der eine bestellte oder nicht bestellte
auf Joschka Fischer,
({8})
der, nachdem der Farbbeutelwerfer von seinen Parteifreunden zugelassen worden ist, anschließend Strafantrag gestellt hat.
({9})
Ich habe dafür viel Verständnis. Ich habe aber auch damals schon für die Leute Verständnis gehabt, die Strafanzeige wegen der Gewalttätigkeiten der Leute gestellt
haben, die heute in den großen Limousinen sitzen.
({10})
Herr Kollege Glos,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Lippelt?
Ja.
Bitte schön.
Herr Glos, da der Farbbeutel nicht nur Farbe versprüht
hat, sondern auch, wie Sie überall in den Zeitungen lesen können, zu einer körperlichen Beschädigung geführt
hat, finden Sie dann nicht, daß diese letzte Unterstellung
vom bestellten Farbbeutelwerfer wirklich sehr geschmacklos war?
({0})
Ich habe gesagt: Ich
weiß nicht, ob er bestellt war oder nicht. Ich beziehe
mich auf Presseberichte, in denen steht: Sicherheitskräfte wollten den Mann nicht hereinlassen, und die
Grünen hätten ausdrücklich darauf bestanden, daß er
hereinkommt nach dem Motto: So einen freundlichen
Demonstranten schließt man nicht aus.
({0})
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich heute am Schluß
Ihrer Regierungserklärung bei den Abgeordneten des
Deutschen Bundestages bedankt, die Ihre Politik mitgetragen haben. Ich glaube, man hätte es noch ein bißchen
deutlicher ausdrücken müssen. Es wäre schon angebracht gewesen, daß man sich hier ganz speziell bei
CDU, CSU und F.D.P. bedankt hätte. Vor allen Dingen
wäre es ein Stück angebracht gewesen, sich auch bei
Edmund Stoiber zu bedanken,
({1})
der dafür gesorgt hat, daß das Verhältnis mit Rußland,
das von Ihnen beschädigt worden ist,
({2})
in einer schwierigen Zeit emotional wieder auf eine andere Basis gestellt worden ist, als auf die, auf der sich
Ihr eigener Staatsminister heute bewegt hat.
Außenminister Fischer hat erklärt, er könnte mit den
Beschlüssen seiner Partei und seiner Fraktion durchaus
leben. Ich erinnere daran, daß seine Partei anläßlich dieser Attacke, über die wir gerade geredet haben, die dort
am Rande stattgefunden hat, beschlossen hat, die Bombenangriffe sofort einzustellen. Wenn man das getan
hätte, wenn man also der Partei der Grünen gefolgt wäre, dann hätte man Milosevic nicht an den Verhandlungstisch gebracht. Dann hätten alle Verhandlungskünste des Herrn Ahtisaari, des Herrn Tschernomyrdin und
des Herrn Talbott, für die ich mich selbstverständlich
bedanke, möglicherweise nichts genutzt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Friedenssicherung erfordert es, daß wir, wenn wir NATOSoldaten und deutsche Soldaten einsetzen, alles tun, um
diesen gefährlichen Einsatz, der dann auf unsere Soldaten zukommt, mit entsprechender Ausrüstung abzusichern. Wenn ausgerechnet in dieser Zeit der Verteidigungshaushalt hart zurückgefahren werden soll, dann
ist das ein falsches Signal.
({3})
Deswegen müssen wir bei den Ausschußberatungen sehr
genau darauf achten, daß sich an der Frage des Geldes
nicht die Frage nach der Sicherheit unserer Soldaten entscheidet. Wir werden auf diesen Punkt sehr sorgfältig zu
achten haben.
Es ist sicher noch etwas anzusprechen: Viele junge
Soldaten haben im Grunde in Unkenntnis unterschrieben. Wenn man sich zwischen zehn und zwölf Monaten
entscheiden muß, dann ist es für viele junge Leute auch
eine Frage des Geldes, das man bekommt, und eine Frage der Planung: Was kann ich in zwei Monaten noch anfangen? Man bekommt für zwei Monate keine Arbeit,
daher sagt man, ich bleibe zwölf Monate. Man war sich
möglicherweise über die Gefährlichkeit des Einsatzes,
dem man dann zugestimmt hat, nicht in ausreichendem
Maße im klaren.
Herr Scharping hat sich heute in einem Teil seiner
Rede mit anderen Dingen befaßt, die weniger sein Ressort angehen. Er hätte die kurze Zeit ruhig nutzen können, um sich vor allen Dingen mit seinem Ressort zu befassen. Es geht darum, daß die Soldaten innerhalb von
vier Monaten ausgewechselt werden müssen. Wir hoffen, daß die Gefährlichkeit dann nicht mehr ganz so
hoch ist. Aber es bleibt ein gefährlicher Einsatz. Es stellt
sich die Frage: Sind denn genügend junge Leute auf diesen Einsatz sowohl innerlich als auch von ihrer Ausbildung her vorbereitet? Auch diese Fragen werden noch
zu klären sein, bevor wir über einen Antrag abstimmen.
Ich komme nun zu dem von Herrn Ahtisaari so apostrophierten Schröder-Plan. In einem Interview im
„Heute-Journal“ hat er Sie genannt, Herr Schröder, und
hat gesagt: Ob es der Kanzler mag oder nicht, ich habe
den Aufbauplan schon nach Schröder benannt. Ich war
ein bißchen ärgerlich, daß die Leute ihn schon „Marshallplan II“ nannten. Ich denke, wir sollten die RegieMichael Glos
rung und die Person, die das entworfen hat, auch würdigen.
({4})
Vor dem Würdigen einer Leistung steht aber die Frage, wer wieviel dafür bezahlt. Ich kann mir gut vorstellen, daß viele unserer Partner den Plan gerne nach der
Nation benennen, die am meisten zahlt, wenn sie dadurch billiger wegkommen. Jetzt ist die Frage: Ist dafür
ausreichend Vorsorge getroffen worden, steht dafür genügend Geld im Haushalt, und welche Vorsorge ist bei
der Haushaltsplanung der Europäischen Union getroffen
worden? Wir kommen noch darauf, wie wenig es Ihnen
gelungen ist, den deutschen Beitrag zu reduzieren. Ich
zitiere Herrn Struck, der heute nicht da ist - ({5})
- Entschuldigung, Peter. Du hast gesagt, der Krieg im
Kosovo verdecke die großartigen innenpolitischen Leistungen der Bundesregierung.
({6})
Mit den „großartigen innenpolitischen Leistungen“ ist es
nicht ganz so weit her.
({7})
Ihre Arbeit, Herr Bundeskanzler, in Sachen finanzieller
Konsolidierung und Durchsetzen deutscher Interessen
in der EU ist nicht einmal das Honorar von 630 DM im
Monat wert, auch nicht in der Form nach alter Besteuerung und Sozialversicherung. Insofern läßt sich die EUPräsidentschaft auch anhand Ihrer Regierungserklärung
bewerten. Vor dem SPD-Parteirat in Saarbrücken - zu
einer Zeit, in der ein Gerhard Schröder in Saarbrücken
noch hat machtvoll auftreten müssen, weil es damals
dort noch einen Rivalen gab - haben Sie gesagt: Wir
wollen runter mit dem Beitrag der Deutschen. Wir werden uns darüber verständigen, daß jene 22 Milliarden
DM pro Jahr, die wir mehr zahlen, als wir bekommen,
nicht noch mehr werden.
Das Ergebnis kennen wir: Der deutsche Nettobeitrag
für Europa wird von 22 Milliarden DM im Jahr 1999 auf
27 Milliarden DM im Jahr 2006 ansteigen. Deutschland
trägt damit mehr als die Hälfte der Belastungen aller
Nettozahler.
({8})
Wenn der deutsche Beitrag geringer wäre, würde es das Geld reicht ja hinten und vorne nicht - sicher auch
Herrn Eichel leichter fallen, sein Einsparziel zu erreichen. Jetzt stellt man sogar die bislang gesicherten Zahlungen an die Rentner in Frage. Ich will damit nur sagen: Letztlich hängt alles mit allem zusammen. Geld
kann man immer nur einmal ausgeben, entweder für Europa oder im deutschen Bundeshaushalt.
({9})
Sie haben davon gesprochen, daß auch in Europa
eiserne Haushaltsdisziplin herrschen müsse. Wörtlich
haben Sie damals gesagt, das heiße in der Brüsseler
Sprache „reale Ausgabenkonstanz“. Was ist das Ergebnis Ihrer Präsidentschaft? Der EU-Haushalt wird von
1999 bis 2006 um mehr als 20 Prozent wachsen, und
zwar ohne Berücksichtigung der Inflationsrate.
Darüber hinaus haben Sie versprochen, in der europäischen Agrarpolitik grundlegende Reformen durchzusetzen. Es sollte mehr Geld bei den Bauern ankommen. Für die deutschen Bauern sollten ergänzende nationale Hilfen durchgesetzt werden. Ergebnis: Die deutsche Forderung nach Kofinanzierung haben Sie frühzeitig wieder aufgeben müssen.
({10})
Folge: Die deutschen Bauern müssen massive Einkommensverluste hinnehmen.
Zur Bewertung dieser Präsidentschaft gehört vor allen
Dingen auch: Alle anderen Nationen haben im letzten
halben Jahr der deutschen Präsidentschaft ihre eigenen
Interessen abgetrotzt. Der britische Beitragsrabatt bleibt.
Die französische Landwirtschaft bleibt bei der Agrarreform weitgehend ungeschoren. Die finanziellen Hilfen
für Spanien und Portugal steigen. Der Kohäsionsfonds,
mit dem die Mitgliedstaaten für die Währungsunion fitgemacht worden sind, läuft für Euro-Länder weiter. Alle
haben ihre Ziele erreicht, nur die deutsche Präsidentschaft steht mit leeren Händen da. Man kann feststellen:
Außer Spesen nichts gewesen!
({11})
Der wirksamste Beitrag wäre allerdings gewesen,
wenn wir Deutschen bei uns im Land in nationaler Verantwortung unsere Hausaufgaben gemacht hätten, zum
Beispiel einen Kurswechsel in der Finanz- und Steuerpolitik,
({12})
nicht nur Umverteilung, sondern nachhaltiges Einsparen.
Nicht: linke Tasche, rechte Tasche, Energiesteuern rauf
und dafür ein bißchen Rentenbeitrag runter, sondern
strukturelle Reformen. Das ist das, was gebraucht und
gefordert wird. Davon wären richtige Signale ausgegangen. Oder: Kein Signal für Flexibilität am Arbeitsmarkt.
Alle internationalen Institutionen fordern, daß die Europäer, insbesondere die Deutschen, hier ihre Hausaufgaben machen. Das alles hat letztendlich Auswirkungen
auch auf den Euro-Dollar-Kurs.
Ich möchte jetzt einmal eine Zeitung zitieren, die
vollkommen unverdächtig ist, sehr stark auf seiten der
Union zu stehen. Es ist eine Hamburger Zeitung mit
Namen „Die Zeit“. Sie schreibt in ihrer letzten Ausgabe:
Schröder weiß nicht, was er will. Der deutsche
Kanzler mindert die Glaubwürdigkeit von ganz
Europa. Der Kölner EU-Gipfel steht im Zeichen
des schlappen Euro.
Der schlappe Euro, meine sehr verehrten Damen und
Herren, läßt sich nicht hochreden mit einem Gerede von
europäischen Beschäftigungspakten oder was weiß ich.
Wir haben bereits genügend Laberveranstaltungen, wo
man zusammenkommt, redet und anschließend nicht
handelt. Wir brauchen nicht noch mehr Gesprächskreise,
sondern konkretes Handeln und konkrete Durchsetzung.
({13})
Es ist schon eine ernüchternde Bilanz einer Ratspräsidentschaft, wenn die europäische Währung in dieser
Zeit um zirka 12 bis 12½ Prozent gegenüber dem Dollar
gefallen ist, aber auch gegenüber anderen wichtigen
Währungen um 7½ Prozent. Wir haben also nicht nur
eine Aufwertung des Dollar, sondern eine echte Abwertung des Euro. Diese schlechte Bewertung des Euro
ist Ausdruck des mangelnden Vertrauens in die europäische Wirtschaft, rasch Anschluß an die Wirtschafts- und
Wachstumsdynamik zum Beispiel der USA zu gewinnen. Wolfgang Schäuble hat es vorhin schon gesagt: Wir
haben jetzt unter Ihrer Führung erreicht, daß wir das
Schlußlicht im Wachstum sind.
Das im europäischen Stabilitätspakt gegebene Versprechen solider Staatsfinanzen ist brüchig geworden.
Ich kritisiere vor allen Dingen, daß die Zustimmung zur
Aufweichung der Kriterien bei den Italienern hinter dem
Rücken auch des deutschen Parlaments erfolgt ist.
({14})
Es wurde kein Ausschuß davon unterrichtet. Das sind
alles Dinge mit gewaltigen Auswirkungen, Herr Bundeskanzler. Sie haben bei Ihrer Regierungserklärung im
November gesagt: „Wir wollen nicht, daß der Euro
deutsch spricht.“ Das heißt doch, in die deutsche Sprache übersetzt: Wir wollen nicht, daß der Euro stabil ist;
denn „deutsch sprechen“ bei einer Währung bedeutet:
stabile Währung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({15})
Sie haben die Brisanz dieser Wechselkursveränderung nach wie vor nicht erkannt. Ich glaube, daß das
unterschätzt wird. Natürlich haben wir im Moment noch
niedrige Inflationsraten, aber das wird nicht lange so
bleiben, wenn die Importpreise weiter steigen. Das
schlägt dann letztendlich durch bis hin auf die Zinsentwicklung, die wir haben.
({16})
- Ja, Herr Welteke hat das bereits gesagt und angekündigt.
Ich nehme jetzt nur einmal als Vergleichsgröße das
Geldvermögen der Deutschen. Geld- und Lebensversicherungsvermögen: 5000 Milliarden DM. Eine
12½prozentige Abwertung bedeutet zumindest im Verhältnis zum Dollarraum derzeit als Momentaufnahme
einen Vermögensverlust von 625 Milliarden DM. Wenn
Sie einmal das Bruttosozialprodukt aller Euro-Länder
nehmen, dann beträgt die Summe 11 000 Milliarden
DM. Bei dem gleichen Prozentsatz sind wir als Europäer
in der Momentaufnahme im Außenverhältnis zum Dollarraum insgesamt um 1 375 Milliarden DM ärmer geworden.
Nun wissen wir, daß das Momentaufnahmen sind.
({17})
- Sie können das gerne nachrechnen.
Wir müssen alles tun, damit die Situation nicht so
bleibt und dann negativ durchschlägt. Deshalb müssen
die Hausaufgaben im jeweiligen Land, aber auch in Europa mit einer fähigen Kommission gemacht werden.
Mit Prodi ist ein vielversprechender Anfang gemacht
worden. Alle anderen Länder schicken sich an, ihre besten Köpfe in diese Kommission zu entsenden. Bei uns
soll es aber nach dem Motto gehen: Wählst du meinen
Rau, wähle ich deine Frau.
({18})
Das steckt doch letztendlich hinter dem Koppelgeschäft mit Frau Schreyer. Aber auch hier gibt es noch
eine Art letzte Gelegenheit, die Notbremse zu ziehen,
damit es mit dem Euro-Verfall nicht so weitergeht.
Es gibt noch eine Sache, um die viele Menschen in
Deutschland die Europäer beneiden: Sie sind nicht mehr
allzu lange Ratspräsident. Aber wir Deutschen befürchten, Sie noch eine Weile als Kanzler behalten zu müssen.
Vielen Dank.
({19})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 3. und 4. Juni schien ein Alptraum zu Ende zu gehen. Der Schock kam dann aber
vorgestern nacht, als die Verhandlungen über militärische Einzelheiten zunächst gescheitert und vorübergehend unterbrochen waren. Wir erkennen jetzt: Der Alptraum wird nicht wieder beginnen, aber sein Ende zögert
sich hinaus. Das erfordert von uns allen noch einmal
Geduld, Beharrlichkeit und Übersicht.
Herr Kollege Schäuble, ich finde, Sie haben sich
nicht in angemessener Weise mit der Freude und Erleichterung auseinandergesetzt, die uns alle am 3. und 4.
Juni erfaßt hat. Ich bekenne mich dazu, daß ich zu denen
gehöre, die erleichtert waren. Das war kein Jubel über
den Sieg, sondern Erleichterung über das Ende des
Krieges.
({0})
Diese Erleichterung hat keine negativen Auswirkungen
in Moskau gehabt. Dort hat man nämlich das gleiche gefühlt.
Entscheidend ist doch, ob es die Bundesregierung
schafft, auf diese Schwierigkeiten mit einer Fortsetzung
des verantwortungsvollen Handelns zu reagieren. Die
letzten Stunden zeigen, daß sie das kann. Dies ist auch
nötig, denn bei den Verhandlungen über die militärischtechnischen Fragen gibt es Schwierigkeiten: Milosevic
versucht erneut, aus den Verpflichtungen herauszukommen, zu denen er und die beiden Parlamente in Jugoslawien die Zustimmung gegeben haben, indem er
jetzt - völlig vertragswidrig - verlangt, daß 15 000, ja
sogar 25 000 Soldaten im Kosovo bleiben sollen.
In diesem Zusammenhang will ich in bezug auf Herrn
Gysi sagen, der nach seinem Redebeitrag direkt den Plenarsaal verlassen hat: Er bleibt sich treu, indem er immer noch nicht unterscheidet zwischen einer Feuerpause, die den Krieg verlängert, und einer, die dazu beiträgt,
ihn zu beenden.
({1})
In dieser Situation würde eine Feuerpause mißbraucht
werden. Diese Forderung nach einer Feuerpause würde
ebenso wie der Besuch von Herrn Gysi in Belgrad und
seine Reden im Bundestag schädlich instrumentalisiert
werden.
({2})
Ich kann nur sagen, der Verbleib von jugoslawischen
Kräften in dieser Stärke im Kosovo ist nicht verhandelbar, weil dieser Verbleib bedeuten würde, daß kein
Flüchtling zurückkehrt. Die Frage ist: Warum hat die
serbische Seite diese neue Haltung eingenommen? Wir
führen dies auch auf eine veränderte Situation in Moskau zurück, in der Milosevic sofort eine Chance gesehen
hat, eine scheinbare Uneinigkeit zwischen dem Westen
und Rußland zu nutzen. Dies zeigt uns noch einmal, wie
wichtig die russisch-westliche Gemeinsamkeit in diesem Prozeß ist, wie gefährlich eine Infragestellung dieser Gemeinsamkeit ist und wie fahrlässig die Bewertung
des Einsatzes von Tschernomyrdin im eigenen Land in
den letzten Tagen war.
Ich möchte hier aus dem Deutschen Bundestag einen
Appell an unsere Kollegen in der Staatsduma und im
Föderationsrat richten: Bitte erkennen Sie, daß sich
Wiktor Tschernomyrdin nicht nur um den Frieden im
Kosovo, sondern auch um das Ansehen Rußlands in der
Welt verdient gemacht hat!
({3})
Stellen Sie diesen Beitrag nicht in Frage, sondern setzen
Sie den konstruktiven Weg fort! Zum Glück haben wir
bei den Verhandlungen auf dem Petersberg Anzeichen,
daß dies der Fall ist.
Herr Schäuble, Herr Gerhardt und Herr Glos - Sie
alle haben es angesprochen -: Die Bewertung der Aktivitäten Tschernomyrdins ist viel wichtiger als die Frage,
mit welcher Freundlichkeit Primakow seinerzeit in Bonn
empfangen worden ist.
({4})
Der zweite Punkt bei den Militärgesprächen sind Fragen des Zeitrahmens, der Gestaltung der Pufferzone.
Hier ist es gut, daß die NATO flexibel ist, die westliche
Seite flexibel verhandelt. Daran darf doch ein endgültiges Ende des Krieges nicht scheitern.
Der entscheidende - dritte - Punkt ist aber die Rollenverteilung zwischen NATO und Vereinten Nationen. Wir wissen, Milosevic möchte gerne zu Hause sagen können - und damit den Irrsinn begründen können,
gegen die stärkste Militärmacht der Welt einen Krieg
durchhalten zu wollen -, er habe erreicht, daß nicht die
NATO im Kosovo stehe, sondern daß dort ein UNMandat gelte; er beruft sich damit auf Punkt 3 des Petersberger Friedensplans.
Diese Position zeigt, daß eine Lösung wahrscheinlich
nur möglich ist, wenn die Regelung der militärischen
Einzelheiten und der Weg zu einer Resolution des UNSicherheitsrates eng miteinander verzahnt und synchronisiert werden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
Wir haben gehört, daß es auf dem Petersberg Fortschritte gibt, daß die Chance besteht - in Köln laufen
jetzt wieder Verhandlungen -, daß bald eine Resolution
des UN-Sicherheitsrates auf dem Tisch liegt und es
heute oder noch in dieser Woche zu einem Beschluß des
UN-Sicherheitsrates kommt.
Meine Fraktion und, so denke ich, der ganze Bundestag begleiten diesen Prozeß mit großen Hoffnungen
und unterstützen ihn ohne jeden Vorbehalt.
({5})
Unser Wunschmodell ist natürlich, daß die Resolution
des UN-Sicherheitsrates und das Military Technical
Agreement parallel zustande kommen, dann die serbischen Einheiten abziehen, dann die internationalen Einheiten nachrücken, schon begleitet von den rückkehrenden Flüchtlingen.
Der Antrag der Bundesregierung ist notwendig, um
sich auf diesen Ablauf einzustellen. Er zeigt aber auch,
daß Erfahrungen eingeflossen sind, daß einkalkuliert
wird, daß ein anderer, weniger überzeugender und weniger gewünschter Ablauf möglich ist. Es ist gut und
wichtig, daß die Bundesregierung jetzt nicht auf frühere
Beschlüsse rekurriert, sondern einen neuen, konstitutiven Beschluß des Bundestags einholt. Das gibt uns die
Möglichkeit gründlicher Beratung auch der Frage der
Gefährlichkeit dieses Einsatzes.
Es ist gut und wichtig, daß die Bundesregierung auch
weiterhin eine namhafte Rolle in dem schwierigen Prozeß übernehmen will, der jetzt im Kosovo beginnt. Wir
wissen aus Bosnien-Herzegowina: Wenn die spektakulären Dinge vorbei sind, werden die Scheinwerfer schnell
ausgeschaltet. Wir wollen auch dann noch dabei sein,
wenn der Alltag beginnt, wenn die Scheinwerfer nicht
mehr angeknipst sind. Diese Bereitschaft steht in
der Tradition der besonderen Anstrengungen der Bundesregierung in den letzten Wochen, die sie für eine
politische Lösung des Kosovo-Konflikts unternommen
hat.
Ich will noch einmal daran erinnern: Es war richtig,
daß die Bundesregierung mit dem Fischer-Plan einen
Prozeß eingeleitet hat, dem nachher alle beigetreten
sind, daß ein UN-Mandat angestrebt wird, daß Rußland
einbezogen wird, daß bei der Zusammensetzung der
Friedenstruppe eine flexible Haltung gezeigt wurde, daß
eine frühzeitige Feuerpause - nicht erst nach Erfüllung
aller Bedingungen - angestrebt wird. Das war die entscheidende Weichenstellung im Friedensprozeß.
Es war richtig, daß die Bundesrepublik sich wie kein
anderes Land um die Flüchtlingsproblematik gekümmert hat. Es war gut, daß die Bundesrepublik die meisten Angebote gemacht hat, Flüchtlinge aufzunehmen.
Es ist gut, daß bei uns die meisten Flüchtlinge leben.
Viele von uns waren in den letzten Tagen und Wochen
in Albanien und in Mazedonien und wissen, welche großen Leistungen gerade auch die Bundeswehr bei dem
Aufbau der Vertriebenencamps erbracht hat. Es ist gut,
daß wir hier in der vorderen Reihe stehen.
Es war auch richtig, daß noch mitten im Krieg ein
Stabilitätspakt als ein Signal an die ganze geschädigte
Region auf den Weg gebracht worden ist. Er trägt eine
gute Handschrift.
({6})
In diesem Kontext steht der Antrag der Bundesregierung, mit einem erhöhten Einsatz von 8 500 Soldaten die
Hauptverantwortung in einem der Rückkehrsektoren zu
übernehmen. Das steht in der Linie der von mir genannten Initiativen. Wir brauchen dafür unbedingt ein
UN-Mandat und sind froh, daß die Fachminister gestern
in den Gesprächen mit den Fraktionen zugesichert haben, daß dann, wenn sich der Kontext der Verhandlungen verändert, das auch sofort seine Widerspiegelung in
dem Antrag finden wird. Ich bin sehr hoffnungsvoll, daß
wir die endgültige Entscheidung über diesen Antrag bereits auf der Basis eines dann gegebenen UN-Mandats
treffen können. Eines steht fest: Ein Einsatz der Bundeswehr ohne eine Einigung mit der serbischen Seite
kommt überhaupt nicht in Frage, für keinen von uns.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, je näher der Frieden
rückt - das hat auch der Beitrag von Staatsminister
Volmer gezeigt -, desto stärker drängen Fragen nach
den notwendigen politischen Schlußfolgerungen in den
Vordergrund. Ereignisse wie der Kosovo-Krieg finden
zweimal statt: einmal in ihrer grellen Faktizität, dann
aber noch einmal in der Interpretation für das Gedächtnis und das politische Bewußtsein.
Für uns steht fest: Der Kosovo-Krieg kann kein Modell für eine künftige Lösung von Konflikten in einer
Weltordnung zivilisierter Staaten sein.
({8})
Es gelingt jetzt offenbar, das unverzichtbare Ziel zu erreichen, daß die serbische Führung mit ihrem Vertreibungskonzept nicht erfolgreich bleibt. Der zu zahlende
Preis aber - die politischen und die ökonomischen
Schäden und die Verluste vieler unschuldiger Leben ist zu hoch, ist nicht akzeptabel.
Deswegen kann nur eine Alternative vernünftig sein.
Wir müssen jetzt eine gründliche Analyse vornehmen:
Was war vorher an unserer Politik zu schwach? Wo hat
Prävention, wo hat vorausschauende Friedenspolitik
versagt? Warum sind wir in die Situation der Alternativlosigkeit des 24. März geraten? Welche politischen Instrumente müssen wir stärken, damit uns dies nicht noch
einmal passiert?
So notwendig und richtig der Stabilitätspakt jetzt ist,
dem die Außenminister Europas in zwei Tagen konkrete
Gestalt geben sollen: Es wäre besser gewesen, er wäre
vorher als Mittel zur strukturellen Krisenprävention geschlossen worden. Jetzt kommt er als Konzept der Schadensbegrenzung, des Wiederaufbaus und der mühsamen
Wiedererkämpfung von Stabilität. Das ist teurer als jedes präventive Stabilitätskonzept.
({9})
Wir brauchen deswegen eine umfassende europäische Integrationsstrategie, und wir müssen unsere bisherigen Scheinsicherheiten bei dieser Strategie überdenken. Der Bundeskanzler hatte heute morgen recht, als er
sagte: Europa hat keine Zukunft, wenn es künftig das
Nebeneinander von Inseln der Stabilität auf der einen
Seite und Herden von sozialer Unsicherheit und politischer Instabilität auf der anderen Seite geben wird. Das ist ohne Zukunft. Dann wird es so weitergehen, wie
es der ungarische Philosoph György Konrad vor einiger
Zeit in einem lesenswerten Beitrag, den er mit dem Titel
„An den Rändern Europas kichert der Wahnsinn“ überschrieben hat, geradezu seherisch formuliert hat. Wir
brauchen in der Tat komplexe Strategien gegen den
Wahnsinn, dessen wir gewahr geworden sind. Bei aller
Konzentration auf das Nahziel, ein endgültiges Ende des
Krieges im Verhandlungsprozeß zu erreichen, sollten
wir diese Gesichtspunkte auch heute schon erwägen und
bedenken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Dr. Helmut Haussmann.
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst: Es sollte
keine Schande sein, wenn sich jemand nach über 20 Jahren Engagement im nationalen Parlament um ein Mandat im Europaparlament bewirbt. Das sollte keine
Schande sein, das sollte auch keine Kritik hervorrufen.
({0})
Es wäre vielleicht ganz gut, wenn mehr Kollegen mit
nationaler Erfahrung - ich habe mich acht Jahre lang auf
nationaler Ebene für Europa engagiert - versuchen würden, ihre Erfahrungen und ihre Überzeugungen in Straßburg oder Brüssel einzubringen.
({1})
Ich jedenfalls habe damit überhaupt kein Problem.
Die Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft, die
in Kürze zu Ende geht - ich glaube, es ist die letzte Gelegenheit, sie hier zu analysieren -, ist zweigeteilt: Alles,
was durch Außendruck erzeugt wurde, hat - das war in
der europäischen Geschichte oft so - zu Fortschritten
geführt. Der Übergang des Aufgabenbereichs der WEU
in die Zuständigkeit der Europäischen Union ist ein
Fortschritt, den ich würdigen will. Die beiden Personalentscheidungen Prodi und Solana sind ebenfalls Fortschritte. Beides will ich nicht geringschätzen. Damit ist
Ihre positive Bilanz aber erschöpft, meine Damen und
Herren.
({2})
Es ist schade für Europa - nicht nur für unser Land -,
daß alle anderen Projekte, die so groß angekündigt waren und auf die unser Land als größtes Land im Zentrum
Europas angewiesen ist, negativ vollendet wurden. Ich
will einmal mit kleinen Dingen beginnen. Seit Jahrzehnten gibt es die Diskussion um eine europäische
Aktiengesellschaft - eine wichtige Gesellschaftsform
für Zusammenschlüsse in Europa.
({3})
Die deutsche Präsidentschaft hatte die Chance, diese
Diskussion abzuschließen. Das ist auch deshalb nicht
gelungen, weil man am Anfang ein so wichtiges Land
wie Spanien falsch behandelt hat. Am Schluß war es
dann Spanien, das die Europa AG verhindert hat.
Wir bräuchten eine europäische Energiebesteuerung und keinen nationalen Alleingang.
({4})
Was ist aus der europäischen Energiebesteuerung geworden? Nichts! Mehr Steuergerechtigkeit: Kein einziger Punkt konnte im Benehmen mit unseren europäischen Partnern zu Ende gebracht werden. Agenda 2000:
Wir hören jetzt, der Steigungswinkel der deutschen
Ausgaben werde nicht mehr so steil ansteigen wie bisher. Man kann es auch deutlich sagen: Es wird nach wie
vor teuer. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, ob es für
uns teurer wird. Vielmehr hat das schlechte Ergebnis keine Agrarreform, keine Reform der Finanzinstitutionen - drei große Nachteile.
Erstens. Wir sind für die Osterweiterung nicht gerüstet. Was von Herrn Volmer gesagt wurde, war einfach
falsch. Die Stimmung in Osteuropa ist negativ; die Osteuropäer haben sich von ihrem Anwalt Deutschland viel
mehr erwartet,
({5})
und zwar zunächst einmal Reformen bei der Agenda
2000. Denn nur durch Reformen schaffen wir den
Finanzspielraum, um wichtige Länder wie Polen aufzunehmen.
Zweitens. Wir sind mit dieser Art Agenda 2000 bei
den nächsten WTO-Verhandlungen nicht verhandlungsfähig. Wir werden uns wundern über das Verhältnis
von Europa und Amerika nach der Kosovokrise. Die
Europäer machen jetzt den Frieden; die Amerikaner haben vorher die militärische Last getragen. Das Klima der
Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika wird sich verhärten - zum Schaden unserer Außenwirtschaft und zum Schaden unserer Landwirte. Das
werden wir sehr schnell spüren.
({6})
Drittens. Die Agenda 2000 hätte auf den BalkanWiederaufbauplan Rücksicht nehmen müssen. Jetzt stehen die Finanzierung der Osterweiterung und der Stabilitätsplan für den Balkan im Wettbewerb. In der europäischen wie auch in der deutschen Finanzierung gibt es
keinerlei Reserven. Komme die Regierung bitte nicht
mit einer sogenannten Friedenssteuer für den Balkan
oder für die Osterweiterung in Form einer Mehrwertsteuererhöhung!
({7})
Dafür ist die Mehrwertsteuererhöhung nicht gedacht.
Was die Osterweiterung angeht, so ist nur eine
pünktliche Erweiterung um die ersten Reformstaaten ein
entscheidender Stabilitätsexport. Es geht doch nicht an,
daß die Reformpolitiker in Ungarn, Slowenien und
Polen sagen, sie hätten nach zehn Jahren der Transformationspolitik ihre Hausaufgaben gemacht und würden
im Jahre 2002 aufnahmefähig sein, die westeuropäische
Union ihnen dann aber antworten muß, sie habe ihre
Hausaufgaben nicht gemacht; deshalb komme das alles
auf die lange Bank. Die Bundesregierung hat es heute
erneut vermieden, einen konkreten Zeitpunkt anzugeben.
Herr Volmer, wenn das so ist, wie der Bundeskanzler
gesagt hat, nämlich daß die institutionellen Reformen
Ende 2000 abgeschlossen sind, was spricht denn dann
gegen einen Beitritt im Jahre 2002? Wissen Sie aus der
europäischen Geschichte denn nicht, wie wichtig Zeitdaten für Fortschritte sind? Wir hätten heute noch nicht
den Binnenmarkt, wir hätten heute noch nicht die Europäische Währungsunion, wenn wir nicht ehrgeizig und
unbeirrt an Zeitdaten festgehalten hätten. Diese Erfahrung haben wir bei der europäischen Integration gemacht.
({8})
Euro-Schwäche als Ergebnis - das hätte niemand
gedacht. Ich fühle mich da wirklich mißbraucht. Wir haben in Deutschland für eine Mehrheit für den Euro gekämpft. Wir haben versprochen: Der Euro wird so stabil
sein wie die D-Mark. Wir haben uns gegen eine Mehrheit durchgesetzt. Wir hatten nach der Euro-Einführung
mit 1,18 Dollar zunächst eine Mehrheit für den Euro in
Deutschland. Inzwischen gibt es wieder eine Mehrheit
gegen den Euro. Die antieuropäischen Kräfte in Großbritannien und in der Schweiz sind gestärkt, weil ebendiese Länder, die für die Europäische Union so wichtig
wären, den Eindruck haben, daß die Stabilität den sozialistischen Regierungen in Italien, Frankreich und
Deutschland nicht so wichtig ist.
({9})
Ich als Ökonom kann nur sagen: Aus einer Außenschwäche wird auf Dauer eine Innenschwäche.
({10})
Der erste Punkt waren die Angriffe von Herrn Lafontaine gegen die Unabhängigkeit der Europäischen
Zentralbank.
({11})
Der Wechselkurs des Euro sank in der Folge von 1,18
Dollar auf 1,08 Dollar.
Der zweite Punkt war - unter Zustimmung von Herrn
Eichel - die Erhöhung der Verschuldungsgrenze entgegen den Vereinbarungen des Stabilitätspaktes. Davon
profitiert zunächst Italien. Deutschland wird der nächste
EU-Staat sein, der diese höhere Verschuldungsgrenze
ebenfalls in Anspruch nehmen muß; denn wir sind im
Moment mit das wachstumsschwächste Land in Europa.
Unter der alten Bundesregierung hatten wir noch eine
Wachstumserwartung von 2,8 Prozent. Im ersten Quartal
dieses Jahres sind wir bei 0,7 Prozent angekommen. Das
heißt: weniger Dynamik, weniger Steuereinnahmen, saisonbereinigt mehr Arbeitslose, höhere Verschuldung.
Das schlägt sich im Euro-Kurs nieder. Es wäre falsch, zu
sagen, Ursache für den derzeitigen Euro-Kurs sei die
Stärke der Amerikaner. In der Weltwirtschaft gibt es
kein stark oder schwach. Da gibt es Länder, die ihre
Hausaufgaben machen, die dynamisch sind, die ein klares Steuersystem haben, die Dienstleistungen schätzen,
die Flexibilität erlauben - ich verweise auf die Beratungen zum 630-DM-Gesetz und zur Scheinselbständigkeit -: Diese Länder haben eine starke Währung und
eine hohe Kaufkraft. Und dann gibt es Länder wie
Deutschland, das innerhalb von acht Monaten abgestürzt
ist.
({12})
Wir sind das absolute Schlußlicht bei der Dynamik in
Europa. Das muß sich ändern. Dazu wird auch die
Wahlentscheidung beitragen.
({13})
Ich möchte zum Schluß sagen: Der Beschäftigungspakt ist eine riesige Luftnummer. Über 90 Beamte werden sich versammeln. Zwei entscheidende Gruppen sind
gar nicht vorgesehen: einmal der Mittelstand und zum
zweiten das Europäische Parlament. Ein solcher Beschäftigungspakt bringt weder mehr Beschäftigung noch
mehr europäisches Bewußtsein. Insofern ist die Bilanz
der deutschen Ratspräsidentschaft, vom außenpolitischen Bereich abgesehen, leider äußerst dürftig.
({14})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz der
Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit muß ich
noch einige Polemik loswerden. Herr Gysi ist nun leider
wieder nicht da. Ich hätte ihm sonst gern gesagt, daß er
völlig recht damit hat: Es soll nicht mehr gebombt werden. Nur, warum bemerkt er nicht, daß in Serbien seit
drei Tagen, bis auf die letzte Nacht, ja wirklich nicht
mehr gebombt worden ist, daß aber die schweren serbischen Waffen die Dörfer im Kosovo weiter beschossen
und daß sie auch bis nach Albanien hinein geschossen
haben. Militärische Implementierungsverhandlungen
sind Waffenstillstandsverhandlungen. Wir haben keinen
Waffenstillstand. Wir brauchen den Waffenstillstand.
Ich hoffe, er kommt bald. Aber das liegt an der serbischen Seite. Ich habe mir gerade noch eine Nachricht
von heute über den Beschuß von Dörfern in Nordalbanien herausgezogen.
Zweiter Punkt: Herr Glos, Sie haben dem Kollegen
Volmer Einmischung in russische Politik vorgeworfen. Nichteinmischung sollte aber nicht so weit gehen,
daß sie zu Ignoranz wird.
({0})
Daß es in Rußland einen scharfen Kampf zweier Linien
gibt, daß die Duma die eine Linie sehr deutlich vertritt
und das Rückwirkungen auf die Implementierungsverhandlungen hat, die zur Zeit in Mazedonien stattfinden,
muß man schon sehen.
({1})
- Nur, wenn man das selber diskutiert, darf man es nicht
einem anderen zum Vorwurf machen, der das gleiche
getan hat. Tschernomyrdin ist nicht der Vertreter Rußlands, wie es durch die Duma repräsentiert wird. Er ist
in der Tat von Jelzin beauftragt - Herr Altbundeskanzler, das ist Ihr Verdienst -, und wir brauchen ihn dringend, obwohl in der Duma inzwischen eine Resolution
eingebracht wurde, ihn abzuberufen. Diese Zusammenhänge muß man sehen. Insofern darf man sich zum
Wechsel in der Person des Verhandlers schon eine Meinung bilden.
Damit bin ich beim dritten Punkt: Herr Glos, wenn
man sich mit einer anderen Partei auseinandersetzt,
sollte man auch da nicht ignorant sein. Die Grünen haben über den Unterschied zwischen Unterbrechung
und Stopp der NATO-Bombardierungen gestritten.
Der Unterschied ist ziemlich groß. Mit letzterem arbeitet
man Milosevic in die Hände, mit ersterem - was wir beschlossen haben - ermöglicht man Verhandlungen,
schafft ein besseres Klima dafür.
Letzter Punkt: Man soll nicht danken, bevor die Arbeit von Erfolg gekrönt ist. Trotzdem zähle ich die Initiativen deutscher Außenpolitik auf. Ich erinnere an
die Wiederaktivierung der Kontaktgruppe, an die - zwar
vergebliche - Suche nach einer politischen Lösung in
Rambouillet, ich erinnere an die Suche nach Lösungen
zum Stopp des Bombenkriegs, die gleich danach einsetzte, an den Entwurf des Friedensplans, ich erinnere an
die kreative Nutzung der G 8 als neuen Verhandlungsrahmen, an die G-8-Resolution im Rahmen der Außenministerkonferenz, ich erinnere an die „Aufstockung“
der russischen Vermittlungen zu Verhandlungen von EU
und Rußland mit Milosevic - das war ein sehr wichtiger
diplomatischer Schub -; ich erwähne nur die Initiative
zum Stabilisierungspakt, die bei Ihnen die Angst ausgelöst hat, daß es Sie bayerisches Geld kostet.
Ich möchte nun nicht die einzelnen Stationen der
Umsetzung ansprechen, aber ich möchte darauf hinweisen, daß wir im letzten halben Jahr eine erstaunlich
kreative Phase deutscher Außenpolitik erlebt haben mit
dem Versuch etwas einzudämmen, wofür die Grundlagen schon vor der Zeit dieser Koalition gelegt waren.
({2})
Wir haben allen Grund, unserem Außenminister für
seine Verhandlungen die besten Wünsche mit auf den
Weg zu geben. Die grundsätzliche Frage, die eigentlich
vertieft behandelt werden müßte, besteht darin, daß dieser Prozeß im Rahmen der G 8 vorbereitet wird. Es geht
dort nicht nur darum, für den Kosovo gute Friedensbedingungen zu schaffen. Der G-8-Gipfel hat noch weitere
Aufgaben.
Man braucht für den Bau Europas das Zusammenwirken von Europa und Rußland. Wenn auf der einen
Seite politisch geholfen wird, dann steht es uns auf der
anderen Seite sehr wohl an, im Rahmen der G 8 einen
Stabilisierungsplan, einen Restrukturierungsplan der
Altschulden zu entwickeln, der letztlich zu einem Moratorium führen muß. Das ist heute wenig angesprochen
worden.
Ich habe mir in der letzten Minute meiner Redezeit
erlaubt, der Regierung diesen Gedanken mit auf den
Weg zu geben.
({3})
Das Wort hat der
Kollege Dr. Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege
Lippelt hat eben völlig zu Recht einen Dank an die Diplomaten gerichtet. Ich bin für den Europaausschuß in
Albanien gewesen und habe vor Ort gesehen, was dort
geleistet worden ist. Ich möchte vor diesem Hintergrund
vor allen Dingen den Kräften der Bundeswehr, des
Technischen Hilfswerks und der humanitären Organisationen für ihre phantastische Arbeit vor Ort danken.
({0})
In einem Flüchtlingslager in Albanien habe ich eine
kosovarische Frau Ende 40 kennengelernt. Diese Frau
hat von serbischen Soldaten erzählt, die sie von ihrem
Bauernhof vertrieben haben. Sie hatte einen Ehemann,
einen Sohn und zwei Töchter. Während der Vertreibung
fanden die serbischen Soldaten die Töchter attraktiv und
haben sie angefaßt. Der Bruder und der Ehemann haben
sich vor sie gestellt und versucht, die Töchter zu beschützen. Daraufhin wurden vor den Augen der Frau
beide kurzerhand mit dem Messer umgebracht und die
Töchter vergewaltigt. Diese Frau steht jetzt vor einem
und erzählt einem das. Sie hat Haus und Hof verloren,
den Ehemann verloren, den Sohn verloren; und die beiden Töchter sind, wenn sie noch leben, in irgendeinem
Verlies. Das ist die Realität. Das konnte man tausendfach im Kosovo erleben. Angesichts dieses Mordens und
Vertreibens können wir alle miteinander - bis auf Herrn
Gysi - feststellen: Das, was wir gemacht haben, war
richtig und notwendig.
({1})
Diese Frau hat hinzugefügt, sie hoffe, daß die NATO
nicht auf halbem Wege stehenbleibe und der Westen die
Nerven behalte. Es war ja abzusehen, daß die Morde und
die Vertreibungen im Kosovo, die wir nicht im Fernsehen sehen konnten, weil es dort keine Kameras gibt, in
der innenpolitischen Auseinandersetzung oftmals geringer bewertet wurden als die Zivilopfer unter der serbischen Bevölkerung, die es auch gegeben hat.
({2})
- Beides ist schlimm, aber wir müssen auch Ursache
und Wirkung berücksichtigen, Herr Kollege. Wir müssen doch einsehen und anerkennen, daß keine Alternative dazu bestand - darum ging es hier jetzt vor allen
Dingen -, militärisch einzugreifen.
An allererster Stelle beklage und hinterfrage ich bei
dem jetzigen Friedensschluß, daß der eigentlich Hauptverantwortliche für das Übel auf dem Balkan weiter regiert. Herr Milosevic bleibt an der Macht. Wir haben mit
ihm diesen Frieden geschlossen. Vielleicht ist das notwendig gewesen, weil wir keine andere Möglichkeit
hatten, aber ein wenig sollten wir dieses problematisieren. Berthold Kohler schrieb jedenfalls am 4. Juni in der
„FAZ“:
Die Bekämpfung der Hauptursache für Völkermord
und Vertreibung auf dem Balkan wurde jedoch
abermals verschoben.
Wir müssen im Hinterkopf behalten, was wir hier gemacht haben. Ich jedenfalls halte fest, daß ich Herrn
Milosevic im Rahmen einer Wiederaufbauhilfe und
eines Stabilitätspaktes nicht gern deutsches Entwicklungsgeld für den Aufbau von Serbien geben möchte.
Vorher müssen die ihr Land demokratisieren.
({3})
Wir haben in der letzten Woche erlebt, wie die ersten
Lorbeerkränze geflochten wurden. Es hat an einer Stelle
Friedenseuphorie gegeben, wo sie noch nicht angebracht
war; denn das Morden und das Vertreiben, von dem ich
eben berichtet habe, hat nicht zu einem einzigen Moment aufgehört. Ich bin gerne bereit, allen möglichen
Leuten, auch der Bundesregierung, zu gratulieren, wenn
die ersten Flüchtlinge sicher in der Heimat zurück sind,
aber keine Minute früher. Das Entscheidende ist nämlich, daß sie zurückkehren. Bisher gibt es nirgendwo eine Bereitschaft hierfür. Im Gegenteil, wir hören von allen Seiten: Macht jetzt in den nächsten Tagen den Frieden so sicher, daß wir auch wirklich sicher zurückkehren
können! Wenn ich mir anschaue, was es bei den Verhandlungen in den nächsten Tagen und Wochen noch
alles zu besprechen gibt, dann kann ich daraus nur ableiten, daß wir weit davon entfernt sind, von Frieden reden zu können.
Erster Punkt: In der Hauptfrage gibt es keinen Konsens. Selbst wenn wir einen UN-Sicherheitsratsbeschluß
bekommen, bleibt festzuhalten: Die Albaner wollen kein
Kosovo als Teil der Republik Jugoslawien, während
sich die NATO darauf festgelegt hat, daß das Kosovo
integraler Bestandteil Jugoslawiens bleibt. Das heißt, in
der entscheidenden Frage gibt es Unterschiede. Herr
Bukoshi - das ist der Chef der Exilregierung der Kosovo-Albaner - sagte diese Woche im „Focus“:
Eine Autonomie ist eine Beleidigung für die Albaner, unter serbischer Oberhoheit ist das inakzeptabel.
Sie werden weiterkämpfen und nicht bereit sein, sich
von Serbien noch einmal kontrollieren zu lassen.
({4})
Zweiter Punkt: Nun sagen die Serben: Wir ziehen ab,
aber zunächst erst muß die UCK entwaffnet sein. Die
UCK-Leute sagen: Erst wenn alle bewaffneten serbischen Formationen abgezogen sind, werden wir uns
entwaffnen lassen. Allein daraus werden wochenlange
diplomatische Streitigkeiten entstehen. Herr Milosevic
hat dadurch wieder die Chance, Zeit zu gewinnen. Es
wird sehr schwierig sein, das gleichzeitig zu organisieren. Ich möchte nicht - diese Sorge habe ich; das müssen wir hier klären, bevor wir zustimmen -, daß die
deutschen und alliierten Soldaten in Kriege und militärische Konfrontationen dieser beiden Seiten hineingezogen werden. Wir müssen diese Möglichkeit zumindest
soweit wie möglich minimieren.
({5})
Dritter Punkt. Es gibt völlig unterschiedliche Auffassungen über die Kommandostrukturen. Die Russen
fordern, daß über alles die UNO die Oberhoheit haben
soll. Wir wollen, daß die UNO formal die NATO beauftragt, damit dann die NATO Schutztruppen, die unter ihrem Kommando stehen, in den Kosovo entsenden kann.
Es gibt auch unterschiedliche Einschätzungen darüber, ob sich die Russen einem NATO-Kommando unterstellen oder ein eigenes Kommando haben wollen.
Wenn die Russen ein eigenes Kommando, vielleicht sogar eine eigene Schutzzone durchsetzen, in der sie die
maßgebende Kraft sind, dann wird in diese Zone jedenfalls kein einziger Kosovo-Albaner zurückkehren. Das
würde de facto die Teilung des Kosovo und den Erfolg
der ethnischen Säuberung bedeuten. Bevor wir also
Friedensschalmeien erklingen lassen, sollten wir bis zum
letzten Moment besser ganz hart - mit kühlem Kopf und
ohne Euphorie - verhandeln.
({6})
Vierter Punkt. Barton Haxhiu, einer der führenden
Intellektuellen in Albanien, sagt: Die Flüchtlinge werden
nicht zurückkommen, wenn sie serbische Grenz- und
Polizeiposten passieren müssen. Aber wir haben in dem
Papier, über das Herr Ahtisaari und Herr Tschernomyrdin mit Belgrad verhandelt haben, festgelegt, daß
einer vereinbarten Zahl serbischer Offizieller zur Aufrechterhaltung einer Präsenz an den Grenzübergängen
die Rückkehr erlaubt wird. Wie viele von diesen Offiziellen werden zurückkehren? Wie sieht das aus? Wollen
wir wirklich den Kosovo-Albanern zumuten, in ihr Land
wieder an den serbischen Patrouillen vorbei zurückzukehren, die gerade ihr Land zerstört haben? Ich finde,
das ist eine äußerst schwierige Sache.
({7})
- Herr Kollege, wir wollen ja, daß es anders wird. - Ich
hoffe sehr, daß die Bundesregierung, die EU und die
Vertreter der G-8-Staaten, die im Moment in Köln tagen, bei ihren Bemühungen Erfolg haben werden. Im
Moment haben sie sich gerade wieder einmal vertagt
und ihre Sitzung unterbrochen. Ich möchte nur hinzufügen: Wir dürfen doch die riesigen Probleme auf dem
Weg zum Frieden und auch die Probleme für unsere
Soldaten, die zum Beispiel auch in den Minenfeldern
bestehen, nicht geringschätzen. Wir haben eine große
Verantwortung für jeden einzelnen Soldaten, den wir in
diese Region schicken. Es haben sich einige Leute zu
früh gefreut und sich zu früh gegenseitig auf die Schulter geschlagen. Das wird man hier im Deutschen Bundestag vor so wichtigen Entscheidungen noch ansprechen dürfen.
({8})
Wir lernen aus all dem, so finde ich, daß wir die Erweiterung der Europäischen Union nicht langsamer,
sondern schneller vorantreiben müssen und daß das Argument der Kosten, das wir sehr lange von Ihnen gehört
haben, vor dem Hintergrund des Jugoslawien-Krieges ad
absurdum geführt worden ist.
({9})
Ein Krieg kostet eben sehr viel mehr Geld. Deshalb ist
es sehr wichtig, die Stabilität der EU zu exportieren, bevor die Instabilität aus anderen Teilen Europas auf uns
zurückschlägt.
Ich freue mich, daß sich das offensichtlich herumgesprochen hat. Ich freue mich, daß wir jetzt einen Stabilitätspakt initiieren. Ich hoffe, daß es dabei eine sehr faire Lastenteilung geben wird und daß die Bundesrepublik
Deutschland nicht der einzige Staat sein wird, der zahlen
muß, wenn die CNN-Kameras abgeschaltet werden und
die internationale Öffentlichkeit nicht mehr an den Folgen dieses Krieges interessiert ist. Faire Lastenteilung
im Rahmen des Stabilitätspaktes ist ein ganz wichtiger
Punkt, der in den nächsten Wochen besprochen werden
muß.
Zuletzt möchte ich noch etwas zu unserer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sagen. Ich freue
mich, daß es in Umsetzung des Amsterdamer Vertrages,
den Helmut Kohl ausgehandelt hat, eine Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik geben wird. Ich freue
mich auch, daß mit Herrn Solana ein hochqualifizierter
Mann an der Spitze der GASP steht. Ich möchte nur vor
dem Unterton warnen, mit dem man anklingen läßt, daß
es gut sei, wenn die Europäer jetzt alleine über eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entscheiden
könnten; denn die Amerikaner seien ein bißchen zu sehr
für den Krieg. Die Unterscheidung, daß die Amerikaner
für den Krieg zuständig sind und die Europäer Frieden
machen, wofür sie sich feiern lassen, ist das Dümmste
und Gefährlichste, das wir machen können. Beide haben
den Krieg geführt. Beide sind auch dafür verantwortlich,
daß wir den Frieden geschaffen haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat der
Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Verheugen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In der Debatte ist in einer vielleicht ein bißchen
verfrühten Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft eine
Reihe von Fragen aufgeworfen worden, auf die ich eingehen möchte und die ich zu beantworten versuchen
will.
Wir können heute sagen, daß vier große Themen diese Präsidentschaft bestimmt haben, von denen eines
nicht vorhersehbar war, nämlich die Krisenbewältigung
nach innen und nach außen. Die anderen drei aber waren
die Aufgaben, die wir mit auf den Weg bekommen hatten, nämlich der innere Reformprozeß der Europäischen
Union, die Erweiterung und auch die Vertiefung im Sinne von mehr Gemeinsamkeit auf wichtigen Politikfeldern.
Was die Krisenbewältigung angeht, so will ich darauf hinweisen, daß die Verbindung der Präsidentschaften - Europäische Union, G 7/G 8 und Westeuropäische
Union - etwas ist, was uns zwar zugefallen war, dessen
Ausnutzung, sinnvolle Anwendung und Verbindung allerdings dazu geführt haben, daß wir in dieser Krisensituation in Europa eine wesentlich stärkere Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit Europas herstellen konnten
als in allen anderen Krisen dieser Art zuvor. Das ist eine
Leistung, die, verglichen mit der Situation in der Bosnien-Krise, wo es nicht möglich war, zu gemeinsamen
europäischen Positionen zu kommen, und wo die Krise
nur durch das Eingreifen der USA beendet werden
konnte, einen beachtlichen qualitativen Unterschied
aufweist, der in meinen Augen ein Fortschritt für Europa
ist, den man nicht kleinreden sollte.
({0})
Wir haben den politischen Prozeß, der uns dahin gebracht hat, wo wir heute stehen - ich hoffe, daß wir alle
gemeinsam glauben, daß wir nur kurz vor dem endgültigen Durchbruch stehen -, immer wieder neu in Gang
gesetzt, ihn mit immer neuen Initiativen gespeist, immer
neue Ideen eingebracht und ihn koordiniert.
Ein Beispiel ist der Stabilitätspakt, der die Frage beantwortet: Was kommt am Tag danach? Dieser Stabilitätspakt ist wahrscheinlich das größte Unternehmen, das
wir uns in Europa seit vielen Jahren vorgenommen haben. Es geht darum, eine ganze europäische Region,
Südosteuropa, an die Europäische Union so heranzuführen, daß die Ursachen für die Krisen und die Konflikte
ein für allemal beseitigt werden. Die richtige Konsequenz aus der Krise, die wir erlebt haben, ist doch die,
jetzt nicht irgend etwas zu machen, was kurzfristig die
Waffen schweigen läßt, sondern etwas zu machen, was
dafür sorgt, daß die Ursachen für die Konflikte auf lange
Sicht verschwinden. Hätten wir in Europa vor neun Jahren, als die Krise in Jugoslawien anfing, die Fähigkeit
gehabt, einen solchen Stabilitätspakt zu entwickeln,
hätten wir den Mut und die Kraft gehabt, diesen Staaten
die europäische Perspektive zu eröffnen, dann wäre uns
in Europa in den letzten Jahren vielleicht - ich sage:
vielleicht - viel erspart geblieben.
({1})
Ich möchte dem Kollegen Haussmann sehr deutlich
sagen: Es ist nicht richtig, daß die Finanzierung des Stabilitätspakts in einem Wettbewerb mit der Finanzierung
der Osterweiterung stehen wird. Einer unserer wichtigsten Punkte - und den haben wir auch durchgesetzt war, daß die für die Erweiterung vorgesehenen Mittel in
der finanziellen Vorausschau ausschließlich für die Erweiterung verwendet werden können. Das sind 80 Milliarden Euro bis 2006. Davon stehen 58 Milliarden Euro
für die Erweiterung direkt ab 2002 zur Verfügung. Das
heißt, daß wir bereit und in der Lage sind, ab 2002 die
ersten neuen Mitglieder aufzunehmen. Wir hoffen sehr und wir tun, was wir können, um diesen Ländern dabei
zu helfen -, daß den Beitrittskandidaten dies auch gelingen wird. Aber es ist heute nicht möglich, dies vorherzusagen. Ich komme gleich noch hierauf zurück.
Zum Thema Krisenbewältigung noch eines: Es stand
auch noch nie eine Präsidentschaft vor der Situation, daß
unmittelbar vor einem wichtigen Gipfel die Kommission
zurückgetreten ist. Daß daraus keine wirklich tiefe institutionelle Krise der Europäischen Union wurde, ist
dem schnellen und entschlossenen Handeln des Bundeskanzlers zu verdanken, der in der Europäischen Union
innerhalb weniger Tage in einer Frage eine Übereinstimmung herbeigeführt hat, zu deren Entscheidung
normalerweise Monate, manchmal sogar Jahre gebraucht wurden.
({2})
Was den inneren Reformprozeß angeht, so muß ich
mich ein bißchen darüber wundern, daß Herr Schäuble
heute zu Beginn der Debatte gesagt hat, es habe keine
Reformen gegeben. Ich kann vielleicht nicht von jedem
erwarten, daß er die vielen Einzelheiten der Agenda
2000 kennt. Es scheint bei der Opposition auch noch
nicht angekommen zu sein, daß die Agenda 2000 - in
Berlin politisch verabschiedet - inzwischen auch rechtlich umgesetzt worden ist. Sie brauchen sich nur einmal
die von uns zusammen mit dem Europäischen Parlament
verhandelten und dann entschiedenen Verordnungen anzusehen, um zu erkennen, daß hier eine wirklich tiefgreifende Reform der europäischen Strukturpolitik erfolgt. Wir haben Konzentration, wir haben mehr Effizienz, wir haben mehr Transparenz bei der Mittelverwendung - übrigens mit großen Vorteilen für uns selbst. Es
ist ohne jede Übertreibung die größte Reform im
Finanzbereich, den die Europäische Union jemals in
ihrer Geschichte vorgenommen hat.
({3})
Was die institutionellen Reformen angeht, standen
wir vor einer politischen Grundsatzfrage. Die Grundsatzfrage war: Versucht man jetzt - nachdem eine Regierungskonferenz gerade zu Ende gegangen und der
Vertrag, der daraus entstanden ist, vor wenigen Wochen
in Kraft getreten war -, alles das, was für Europa schön
und wünschenswert ist, in eine neue große Regierungskonferenz zu packen, die Jahre dauern würde und mit
dem Risiko des Scheiterns, behaftet ist? Man braucht
nur die Frage der Vollparlamentarisierung, die Frage der
demokratischen Kontrolle und die Frage der Finalität der
Europäischen Union anzusprechen. Jeder von Ihnen
weiß, daß es eine Reihe von Mitgliedstaaten gibt, die
heute nicht in der Lage sind, über diese Fragen überhaupt zu reden. Deswegen haben wir das Kluge getan
und haben uns den Bereich herausgesucht, der jetzt behandelt werden muß, und die Reformen, die notwendig
sind, damit die Europäische Union nach der Erweiterung
handlungs- und funktionsfähig bleibt.
Unser Auftrag in Köln hieß, die Agenda, den Fahrplan und das Verfahren für diese institutionellen Reformen festzulegen. Das ist auf Punkt und Komma erfüllt
worden. Wir werden im nächsten Jahr eine Regierungskonferenz durchführen, die sich mit ungewöhnlich
schwierigen Fragen befassen muß, die auch den Bundestag intensiv beschäftigen müssen. Zu nennen sind
hier Größe und Zusammensetzung der Kommission,
Stimmengewichtung im Rat, Frage der Ausweitung der
Mehrheitsentscheidungen, Zusammenwirken der Institutionen bis hin zu der Frage, wie man Kommissare los
wird, die ihren Aufgaben erkennbar nicht gewachsen
sind.
Das alles ist auf den Weg gebracht und dazu noch etwas, was wir seit vielen Jahren wollen: Eine Versammlung - ich möchte es einen Konvent nennen -, die im
wesentlichen aus Vertretern des Europaparlaments und
der nationalen Parlamente bestehen wird, wird eine
Grundrechtscharta entwickeln. Auch dies soll bereits im
nächsten Jahr abgeschlossen werden. Das ist ein wichtiger Beitrag zu dem Erfordernis von Bürgernähe für die
Europäische Union.
({4})
Was die Erweiterung angeht - in meinen Augen ist
dies die strategische Priorität Nummer eins -, so haben
wir eine völlig neue Lage. Bei all dem Schrecklichen,
was der Krieg im Kosovo mit sich gebracht hat, gibt es
eine Wirkung dieses Krieges, die langfristig positiv sein
kann. Die gesamteuropäische Perspektive des Integrationsprozesses ist in den letzten Jahren niemals so deutlich gewesen wie jetzt. Auf einmal ist viel klarer als früher, daß es bei Europa, so wichtig dies auch ist, nicht so
sehr um Quoten, um Subventionen und um Wettbewerbsregeln geht, sondern in erster Linie darum, daß aus
ganz Europa ein Raum der Demokratie, der Freiheit, des
Rechts und der Prosperität für die Menschen wird.
({5})
Die Erweiterungsdynamik hat ungeheuer zugenommen, und zwar in doppelter Hinsicht. Die Völker Europas suchen ihren Weg in die Europäische Union. Man
kann heute ohne Übertreibung sagen: alle Länder, wenn
ich einmal von der Schweiz, von Island und von Norwegen absehe.
({6})
Sie alle suchen ihren Weg in die Europäische Union.
Die Bereitschaft, das zu akzeptieren und ihnen diese
Perspektive zu eröffnen, ist ebenfalls vorhanden. Wir
erleben im Augenblick in einigen Hauptstädten Südosteuropas eine Art Schönheitswettbewerb darum, wer die
weitreichendsten Versprechungen macht. Ich bin gespannt, was am Ende eingehalten wird.
Für uns als Deutsche ist in diesem Zusammenhang
eines wichtig: Angesichts dessen, daß wir jetzt in den
Erweiterungsprozeß eine neue Dynamik hineingebracht
haben und dieser dadurch eine ganz neue Perspektive
bekommen hat, müssen wir daran festhalten, daß die
Eintrittsbedingungen nicht variabel sind. Es kann keinen
politischen Rabatt auf die Beitrittsbedingungen geben.
({7})
Die richtige Antwort heißt vielmehr, daß wir jetzt eine Strategie entwickeln müssen, die es den Ländern, die
die Beitrittsbedingungen bei weitem noch nicht erfüllen,
erlaubt, an deren Erfüllung heranzukommen. Das wiederum ist ein wichtiger Teil des Stabilitätspaktes, bei
dem es ja auch um Menschenrechte, um Demokratie, um
Minderheitenschutz, um wirtschaftliche Entwicklung
und um regionale Zusammenarbeit geht. Das alles sind
Elemente der Heranführung an die Europäische Union.
Der Erweiterungsprozeß hat an Tempo und Qualität
enorm zugenommen. Es hat aber keinen Sinn, die Augen
vor der Tatsache zu verschließen, daß, obwohl wir jetzt
am Ende unserer Präsidentschaft schon fast die Hälfte
aller Verhandlungskapitel - insgesamt sind es 31, wie
Sie wissen - bearbeitet haben, die erkennbar schwierigsten Kapitel noch nicht abgehandelt sind und noch anstehen.
Darum ist es in meinen Augen unverantwortlich,
heute ein Beitrittsdatum festzulegen. Die Bundesregierung hat sich mehrfach dazu geäußert. Ich wiederhole
das hier: Sobald erkennbar ist, wieviel Zeit der VerStaatsminister Günter Verheugen
handlungsprozeß wirklich noch in Anspruch nehmen
wird, sollten wir uns ein Beitrittsdatum setzen, und zwar
als Ansporn für die Beitrittskandidaten, aber auch als
Selbstverpflichtung für uns.
Ich muß jedoch darauf hinweisen, daß ein vorgezogener Beitritt aus politischen Gründen der Europaidee
nicht nützen, sondern schaden wird. Es wird uns nicht
helfen, wenn wir aus politischen Gründen Beitrittsdaten
festlegen, die sich später als falsch erweisen oder die dazu führen, daß die Probleme nicht gelöst sind und die
Menschen bei uns Angst zum Beispiel vor einem unfairen Wettbewerb um Arbeitsplätze und Unternehmensansiedlungen haben.
({8})
Wir werden - der Kollege Haussmann ruft mir das
gerade zu - am Ende möglicherweise mit Übergangsfristen arbeiten müssen. Aber diese Entscheidung trifft
man dann, wenn es soweit ist. Das braucht man heute
noch nicht zu tun.
Mein letzter Punkt: Die Vertiefung der Union ist sicherlich ebenfalls dadurch befördert worden, daß im
Bewußtsein der Krise allen klargeworden ist, daß Europa eine angemessene Antwort auf den Zustand braucht,
daß mitten in Europa, das eigentlich durch Integration,
Zusammenwachsen und Partnerschaft gekennzeichnet
ist, die schrecklichen europäischen Krankheiten wiederauferstanden waren. Die Antwort heißt: Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik sowie Bildung einer Sicherheits- und Verteidigungsunion, die uns in die Lage
versetzen, Krisenreaktion, Krisenvorsorge und Konfliktmanagement in Europa mit eigenen Mitteln und in
eigener Verantwortung zu betreiben - nicht etwa, um
unsere amerikanischen Verbündeten an den Rand zu
drängen; ich würde niemandem raten, das zu versuchen,
denn das würde kaum gelingen -, nicht etwa, um die
NATO zu schwächen oder überflüssig zu machen, sondern in sinnvoller Ergänzung dessen, was Aufgabe der
NATO und was Aufgabe unserer Partnerschaft mit den
Vereinigten Staaten von Amerika ist.
Die dazu getroffenen Entscheidungen, die Ernennung
Solanas zum Hohen Beauftragten für die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik, die erste gemeinsame
Strategie als ein Pilotprojekt und schließlich die Einbeziehung der WEU in die Europäische Union und damit
der Beginn des Aufbaus dieser Sicherheits- und Verteidigungsunion, sind das Ergebnis des Gipfels von Köln
gewesen.
({9})
Schon dies allein rechtfertigt die Aussage, daß der
Kölner Gipfel in der Geschichte der Europäischen Union
einen besonderen, einen historischen Platz einnehmen
wird.
({10})
Insgesamt bestätigt die heutige Debatte das, was mir
ein Kollege aus einem anderen europäischen Land, mit
dem ich vor wenigen Tagen am Rande des Gipfels in
Köln sprach, sagte: Du wirst wahrscheinlich erleben,
daß alle in Europa die deutsche Präsidentschaft loben
werden, nur eure Opposition nicht.
({11})
Wenn das so ist, kannst du zufrieden sein. Dann
kannst du sicher sein, daß ihr eine hervorragende Präsidentschaft hingelegt habt.
({12})
Ich gebe dem Kollegen Norbert Wieczorek, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte, nachdem der
Wahlkampf hier so manches Mal eine Rolle gespielt hat,
daran erinnern
({0})
- Helmut, darum geht es doch gar nicht -, daß wir stolz
sein sollten, daß es durch die Europäische Union und die
Integration der Bundesrepublik gelungen ist, daß bei uns
Grenzen und ethnische Minderheiten nicht zu diesen
Katastrophen führen, wie wir sie gerade auf dem Balkan
erleben. Das sollten wir den Leuten sagen, wenn sie fragen: Was ist denn die EU? Es geht hier nicht um Milchquoten und Bürokratie.
({1})
Ich finde es daher sehr gut, daß dieser Stabilitätspakt auf die Tagesordnung gekommen ist; denn nur
dadurch und durch Verhandlungen in dieser Region, die
noch nicht so weit entwickelt ist, kann die Perspektive
der Annäherung an die Europäische Union vermittelt
werden, und zwar auch im Hinblick auf die Friedenssicherung und den Wohlstand, den wir dadurch bekommen haben. Der Pakt ist insofern realistisch, weil er
nicht einfach die alten Instrumente übernimmt. Ich bin
sehr dafür und freue mich, daß vorgesehen ist, angepaßte Instrumente einzusetzen. Die Situation in Makedonien ist eine andere als in Albanien oder im Kosovo,
in Serbien oder in Montenegro. Hier muß mit angepaßten Instrumenten gearbeitet werden. Das halte ich für
einen ganz wichtigen Punkt.
Ich möchte an der Stelle zu etwas kommen, was sicher eine Rolle gespielt hat: die Agenda 2000. Im Gegensatz zu dem, was einige Kollegen von der Opposition
gesagt haben, ist es in der Agenda 2000 gelungen, eine
Stabilisierung der Gesamtausgaben bei 1,13 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts der EU für den Zeitraum bis 2006
festzulegen. Das ist die entscheidende Marge. - Wir
wissen alle noch nicht, wie hoch die Kosten für den Stabilitätspakt sein werden, aber jeder wird wohl zustimmen, daß dies billiger ist, als weiter Krieg zu führen, unabhängig von dem Horror des Krieges. Daß dies gelungen ist, halte ich für eine ganz großartige Sache.
({2})
Für die kleinen Beckmesser möchte ich noch darauf
verweisen, daß der deutsche Nettotransfer von 0,55 Prozent unseres Bruttosozialproduktes auf 0,43 in 2006
sinkt. Allerdings waren wir für die letzten sechs Jahre
nicht verantwortlich; das war die heutige Opposition.
Ich möchte auch darauf verweisen, daß unser Anteil am
Nettotransfer von 60 auf 50 Prozent gesenkt wird.
Noch einen kleinen Hinweis, auch wenn Herr
Schäuble nicht mehr da ist: Diese Papiere sind uns alle
seit April bekannt. Sie sind dem Hause zugegangen. Es
ist heute morgen der Eindruck erweckt worden, das
Haus sei nicht informiert worden. Der Europaausschuß
ist darüber informiert worden. Ich nehme an, daß es
überall so läuft wie bei uns, daß so etwas weitergegeben
wird.
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen, die Regierungskonferenz. Was hat Köln gebracht? Ich glaube,
es ist sehr vernünftig und weise, sich auf den Kern dessen zu konzentrieren, was ansteht. Wenn ich dann aber
Rufe höre wie „warum habt ihr das in Köln nicht abgeschlossen?“, dann darf ich daran erinnern, daß es beim
Amsterdamer Vertrag nach langen Verhandlungen nicht
gelungen ist, diese institutionellen Reformen festzulegen. Deswegen gibt es im Amsterdamer Vertrag das
Protokoll zu Art. J.7 des EU-Vertrages.
Gerade weil diese Bundesregierung einen anderen
Standpunkt einnimmt als die alte, in der Frage von mehr
Mehrheitsentscheidungen und damit auch mehr Rechten
für das Europäische Parlament, verbunden mit der Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips an vielen Stellen
ist jetzt die Chance für Reformen gegeben. In Amsterdam ist es unter anderem wegen dieser Probleme nicht
zu einem Ergebnis gekommen. Dem, der allerdings
meint, das sei jetzt so einfach zu verhandeln, wünsche
ich viel Vergnügen. Ich halte es für sehr ehrgeizig, dies
bis zum Herbst 2000 durchzusetzen. Unser Auftrag war
im übrigen nur festzulegen, was gemacht werden soll.
Ich möchte diejenigen, die hier so übermütig reden,
daran erinnern, was Sie in Ihrer eigenen Regierungszeit
beim Amsterdamer Vertrag nicht geschafft haben.
({3})
Ich möchte noch etwas zur Außenpolitik sagen. Die
gemeinsame Außenpolitik war erst intergouvernemental; jetzt ist sie in das Vertragswerk eingefügt worden.
Ich glaube, daß gerade die gegenwärtige Situation gezeigt hat, daß es lohnenswert ist, diesen Ansatz weiterzuentwickeln. Es geht mir jetzt gar nicht um die schon
besprochenen institutionellen Vorgaben, zum Beispiel
daß Herr Solana, den ich sehr schätze, zum Vorsitzenden der GASP berufen wurde. Das Entscheidende, was
passiert ist, ist, daß es gerade die Kontinentaleuropäer
waren - das ist der Kern der EU -, die das Ergebnis erreicht haben, daß eine Verhandlungslösung statt einem
von anderen zum Teil diskutierten Bodenkrieg in Aussicht steht. Das ist - das muß man feststellen - ein Ergebnis praktizierter gemeinsamer Außenpolitik. Ich hoffe, daß das in anderen Fällen so weitergeht.
Noch eine Bemerkung: Auch ich habe Erleichterung
empfunden, als Ahtisaari dieses Abkommen in Köln
vorgestellt hat. Die Kritik, das sei eine Vorzeigejubelfeier gewesen, ist wirklich kleinkariert.
({4})
Ich begrüße, daß jetzt dieser Grundrechte-Konvent
einberufen wird. Natürlich beachtet die EU die Grundrechte; der EuGH wacht darüber. Aber trotzdem ist ein
solches Instrument vernünftig. Ich halte es auch für sehr
vernünftig, das nicht im Wege einer Regierungskonferenz zu machen, sondern als Konvent unter Beteiligung
der Parlamente und außenstehender Gruppen. Das Ergebnis muß später in die Diskussion über den weiteren
Prozeß eingeführt werden.
Ich habe immer ein wenig Probleme damit, wenn in
der deutschen Debatte leichtfertig eine europäische Verfassung gefordert wird. Es gibt unterschiedliche Verfassungstraditionen, und bisher haben wir es immer geschafft, Schritt für Schritt mehr Integration zu schaffen.
Ich warne davor, zu meinen, man könne heute ein solches Ziel als Endstadium definieren. Mir ist weitere Integration lieber als ein solches Gebäude, das nur auf
dem Papier steht und möglicherweise dazu führt, daß
einige nicht mehr mitmachen. Diese Gefahr ist nämlich
konkret gegeben.
({5})
Ich möchte noch einen weiteren Punkt anführen, der
aus meiner Sicht zentral ist. Der Beschäftigungspakt ist
so behandelt worden, als sei das alles nichts. Ich muß
Sie daran erinnern, daß es jetzt drei Prozesse gibt, die
miteinander verbunden sind. Der erste ist der Luxemburger Prozeß. Sie haben uns vorgeworfen, diesbezüglich hätten wir nichts gemacht - ein großer Irrtum. Zunächst erinnere ich daran: Im Amsterdamer Vertrag ist
das jetzt aufgenommene Beschäftigungskapitel nur drin,
weil wir darauf bestanden haben und weil befreundete
sozialdemokratische Regierungen dafür waren, nicht
aber weil die alte Bundesregierung dafür war. Sie, Herr
Rexrodt, mußten das zum Schluß akzeptieren; daß Sie
dafür waren, kann man wahrlich nicht behaupten.
Wenn man sich den nationalen Aktionsplan, der diesem Gipfel ebenfalls vorgelegen hat, anschaut, stellt
man fest, daß er sehr viele positive Beispiele für konkrete Umsetzungen des Luxemburger Prozesses enthält.
Das deutlichste und für mich erfreulichste ist das Programm für 100 000 Jugendliche, die länger als ein halbes Jahr arbeitslos oder ohne Ausbildung sind.
({6})
Das ist die von dieser Regierung praktizierte Umsetzung
des Luxemburger Prozesses. Nehmen Sie das endlich
einmal zur Kenntnis!
Der zweite Teil ist der Cardiff-Prozeß, in dem es um
Strukturveränderungen geht. Damit Sie schön aufheulen
können, nenne ich das Reizwort: 630-Mark-Gesetz.
Was jetzt passiert, ist, den Wildwuchs, den Sie zugelassen haben, zugunsten einer vernünftigen Flexibilisierung
der Arbeitszeit mit sozialer Absicherung zu beschneiden.
({7})
- Sie werden sich noch wundern, wenn im Herbst reguläre Arbeitsverhältnisse entstanden sind, wo es vorher
nichtreguläre Beschäftigung gab. Mit diesem Instrument
wurde sehr viel Schindluder getrieben. Sie als F.D.P.
wollen auch nicht auf die Betriebe hören, die jetzt sagen:
Wir schaffen ordentliche Teilzeitarbeitsverhältnisse.
({8})
Ihnen als F.D.P. ist es lieber, daß Sie den Leuten - auch
wenn sie ausgenutzt werden - sagen können: Ihr könnt
euer Geld auch dann behalten, ohne Steuern zu zahlen,
wenn ihr noch anderes verdient.
Hier geht es genau um Strukturveränderungen in
sinnvollem Maße. Daß Sie, Herr Rexrodt, dies nicht geschafft haben, ist mir eh klar. Aber da hier Helmut
Haussmann sitzt, erinnere ich daran. Bereits Ende der
80er Jahre - schon damals waren wir im Finanzausschuß
soweit - war das mit dem Druck der Zeitungsverleger
genau das gleiche. Ihr ganzes Geschrei ist nämlich nicht
so neu.
({9})
- Unter den Bedingungen, die das Gesetz vorschreibt,
können sie sie sogar behalten, nur nicht zu ihren Bedingungen: Wenn diese Leute ein Vollarbeitsverhältnis haben, können sie natürlich nicht daneben ein zweites haben, bei dem sie keine Steuern zu zahlen haben. Das
geht natürlich nicht.
({10})
Ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal um die Realität
zu kümmern und nicht darum, womit Schindluder getrieben werden kann.
Dies ist ganz konkret Teil des Cardiff-Prozesses. Das
müssen die berühmten Europäer von der F.D.P. begreifen. Es gibt in Europa außer Deutschland kein Land,
das sich bisher ein solches Instrument wie Ihre alte
630-Mark-Regelung geleistet hat.
({11})
Aber jetzt will ich noch etwas zu dieser merkwürdigen Diskussion über den Wechselkurs sagen. Erstens
warne ich sehr davor, zu behaupten, daß der Euro weich
ist. Ziel des Vertrages und der EZB ist die Preisstabilität
und die Geldwertstabilität des Euro. Die ist wohl ohne
Zweifel - zum Glück - gegeben.
({12})
- Das wird sich möglicherweise anders entwickeln, aber
sie ist gegeben.
Es ist ausdrücklich im Vertrag festgelegt worden, daß
es kein Wechselkursziel geben soll, im Gegenteil. Da
waren wir sogar alle einer Meinung. In der vorher stattgefundenen Debatte gab es nämlich ein Land, das gerne
Wechselkursziele vorgeben wollte. Insofern kann von
Weichheit der Währung keine Rede sein. Was wir haben, ist eine Wechselkursschwäche gegenüber dem
Dollar. Das ist unbestritten.
Es gibt einen entscheidenden Punkt. Der entscheidende Punkt ist die Zinsdifferenz. Es gab ein bißchen
Verunsicherung wegen des Kosovo, ich würde sie aber
nicht so hoch bewerten.
({13})
- Entschuldigung, Michael Glos, es ist ganz hilfreich,
wenn man sich einmal die Grundkurse der Volkswirtschaftslehre hinsichtlich der Funktion der Zinssätze anschauen würde.
Der Punkt ist der, daß in Amerika der Realzins - der
Nominalzins sowieso - natürlich höher ist als bei uns.
Das hat aber damit etwas zu tun, daß das Wachstum höher ist.
({14})
Ich muß Sie jetzt erinnern: Wie lange ist es denn her,
daß der Dollar unter 1,60 DM gehen wollte? Da gab es
auch schon Wachstum. Das müssen Sie sich doch einmal angucken, Herr Merz. Schauen Sie sich doch einmal
die Wechselkursbewegungen an! Ich erinnere mich sehr
gut. Es hatte 1978 angefangen, als der Dollar plötzlich
bei 1,78 DM stand, dann waren wir bei 3,50 DM. Das ist
genau die Situation, die wir haben. Aber damit wieder
Ruhe einkehrt: Ich bin sehr dafür, daß man keine Wechselkurspolitik des „benign neglect“, also des freundlichen Wegsehens, betreibt, wie sie die Amerikaner lange betrieben haben - unter Herrn Rubin nicht mehr, bis
dahin häufiger -, weil es auf die Dauer keine Stabilität
gibt. Darin sind wir uns hoffentlich alle einig.
({15})
Wichtig ist, was Herr Eichel jetzt macht: die Konsolidierung des Haushaltes, den Sie uns hinterlassen haben.
Das ist doch der Punkt.
({16})
Man kann lange darüber streiten, ob es weise war,
Italien offiziell zu genehmigen, was sie sowieso schon
erreicht haben. Man kann auch fragen, ob es vernünftig
war, Italien im Frühjahr zu gestatten, eine Wachstumsprognose zu nennen, die nicht realistisch war. Diese
Bundesregierung hat ihre zurückgenommen. Ich sehe
mit Freude gerade eine Pressemeldung, daß die Wirtschaft davon ausgeht, daß das Wachstum über 1,5 Prozent liegt.
({17})
- Das ist dürftig genug. Aber woran hat es denn gelegen? Wer hat denn im vorigen Jahr gesagt, Asien hat
keine Auswirkungen? Das war doch die BundesregieDr. Norbert Wieczorek
rung, die Sie gestellt haben. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis!
({18})
Wer hat denn in Rußland die Geschichte nur so treiben
lassen? Wer war das denn - einschließlich Wahllkampffinanzierung für Herrn Jelzin? Darüber brauche ich jetzt
nicht weiter zu reden.
Entscheidend ist, daß wir die Konsolidierung bei uns
schaffen. Das hat sich diese Bundesregierung vorgenommen. Das zweite ist - das will ich auch sagen -:
Wenn Italien auf Grund der Wachstumsschwäche in der
Situation ist, das Haushaltsdefizit zu vergrößern, dann
ist das kein Durchbrechen der Maastricht-Kriterien. Das
ist ein großer Irrtum. Das ist ein Durchbrechen der Kriterien, die es in seinem eigenen Stabilitätsprogramm
vorgeschlagen hat. Das ist schon noch etwas anderes.
({19})
- Lieber Helmut Haussmann, nur das ist es. Es sind
nicht die Maastricht-Kriterien selber. Italien tut alles, um
hier mehr Konsolidierung zu schaffen. Ich bin da übrigens ganz sicher, denn gerade Herr Amato war es, der in
Italien überhaupt angefangen hat, Haushaltskonsolidierung zu betreiben.
Mein lieber Freund, Helmut Haussmann, du darfst
dich erinnern. Bei einer Diskussion drüben im Wasserwerk, als es um den Parlamentsvorbehalt ging, und die
kritischen Äußerungen der Bundesbank und des EWI
und nicht die Jubeläußerungen der Kommission in der
Frage der dauerhaften Haushaltskonsolidierung Italiens
anstanden, war der jetzt hier sitzende Vertreter der
F.D.P., Helmut Haussmann, der Ansicht, das dürften wir
alles nicht ernst nehmen und Italien müsse unbedingt
dabeisein. Als andere gesagt haben, hier liege ein
Schwachpunkt, waren die Töne ganz anders.
Herr
Kollege Wieczorek, ich bin sehr großzügig gewesen. Ich
bitte, zum Schluß zu kommen.
Ich komme zum
Ende.
Deswegen muß ich hier in aller Deutlichkeit sagen:
Es ist nicht schön, was da passiert ist. Es sollte dazu führen, solide Programme vorzulegen. Realitäten darf und
kann man zur Kenntnis nehmen, aber es muß anschließend gehandelt werden. Es ist unsere Sache, in der Bundesrepublik zu handeln. Wir werden in den nächsten
Wochen merken, was uns Hans Eichel hier vorlegt.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Die Fraktion der PDS hat beantragt, daß über ihren
Entschließungsantrag auf Drucksache 14/1120 jetzt abgestimmt wird. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.
Ich bitte diejenigen, die dem Entschließungsantrag
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Antrag mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSUund F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der PDSFraktion abgelehnt.
Interfraktionell wird Überweisung des Antrags auf
Drucksache 14/1111 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zu den Ankündigungen einer Mehrwertsteuererhöhung und
einer fortlaufenden Erhöhung der Mineralölsteuer durch den Bundesfinanzminister
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rainer Brüderle von der F.D.P.-Fraktion. Bitte schön,
Herr Brüderle.
({0})
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! In diese Aktuelle Stunde paßt die
heutige Meldung über die schon zitierte Erklärung des
Bundeskanzlers mit Tony Blair. In dieser Erklärung
zählt er auf, welche Maßnahmen er für erforderlich hält:
Steuerreform, Steuersenkungen, mehr Flexibilität, radikale Modernisierung des öffentlichen Sektors, mehr
Spielraum und weniger Regulierung für die Unternehmen, prosperierender Mittelstand und Reform der
Sozialversicherungssysteme. Aber genau das Gegenteil
von dem geschieht in Deutschland.
({0})
Es ist bezeichnend: Grünrot hat vor der Wahl deutliche Steuersenkungen versprochen. Diese Versprechungen erweisen sich jetzt als großer Wählerbetrug. Wir haben Mehrbelastungen: Erhöhung der Mineralölsteuer,
Einführung der Stromsteuer, Besteuerung geringfügig
Beschäftigter, Streichung steuerlicher Ausnahmetatbestände. Das sind milliardenschwere Zusatzbelastungen
statt Entlastungen, also genau das Gegenteil von dem,
was versprochen wurde.
({1})
Grünrot hat mit großem Tamtam eine Kommission
für die Unternehmensteuerreform eingesetzt. Die RückDr. Norbert Wieczorek
zugsgefechte folgten auf dem Fuß: Wenn schon Steuersenkungen, dann aufkommensneutral. - Das wird aber
nicht genügen. Wir brauchen vielmehr eine echte Nettoentlastung. Die Vorschläge aus dem Regierungslager
sind ganz simpel: Die großen Konzerne, die leicht abwandern können, will man entlasten, aber nicht den
Mittelstand; man will umverteilen. Es zeigt sich: Dies ist
ein Kanzler der Konzerne und der Bosse. Die Mittelstandspartei sind wir.
({2})
Grünrot streitet sich darum, wann welche Steuer um
wieviel erhöht wird. Es handelt sich um eine reine Abkassierpolitik. Ich verstehe, daß es Ihnen wehtut, wenn
die Wahrheit ausgesprochen wird. Aber Sie können sich
nicht einfach über die Europawahl hinwegmogeln. Sie
sollten schon den Mut haben, Ihre Absichten offen darzulegen.
Die Hilferufe aus dem Handwerk sind nicht überhörbar. Die Reduktion des Wachstums - die Prognosen des
letzten Jahres sind halbiert worden - ist die Konsequenz
aus Ihrer Politik. Die Euro-Schwäche ist eben auch ein
Ausdruck verfehlter deutscher Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({3})
Gerade die Grünen muß man fragen: Was ist denn
von Ihren hochfliegenden Plänen zur Ökosteuer übriggeblieben? Reines Abkassieren über die Mineralölsteuer.
({4})
Herr Struck spricht von einer Erhöhung um 40 Pfennig,
Herr Müller von 15 Pfennig, und andere sprechen von
einer jährlichen Erhöhung um 6 Pfennig, auch Herr Eichel möchte jedes Jahr erhöhen. Frau Fuchs hat - wie
die PDS - eine Luxussteuer vorgeschlagen; eine interessante Parallele.
({5})
Die Grünen kommen ihrem Ziel von 5 DM immer näher.
({6})
In diese Richtung geht es. Freuen Sie sich, in der Politik
wird Ihr Quatsch auch noch umgesetzt!
({7})
Was Sie zum Luxus machen, ist das Autofahren in
Deutschland. Sie strafen die Pendler, die vielen Arbeitnehmer, die darauf angewiesen sind, mit dem Auto zur
Arbeit zu fahren, damit gnadenlos ab.
Herr Eichel spricht jetzt davon, daß er kürzen und
sparen muß. Lesen Sie einmal den „Spiegel“ von gestern! Als hessischer Ministerpräsident hat er allen Kürzungsüberlegungen energisch widersprochen. Jetzt erkennt er: Es geht nicht anders. Er wird quasi vom Ausgabensaulus zum Sparpaulus. Gut, wenn die Einsicht irgendwie kommt. Das haben wir auch bei unserem früheren Koalitionspartner erfahren, der jetzt mit uns gemeinsam gegen die Veränderung bei den 630-MarkVerträgen kämpft. In der letzten Periode wollten Blüm
und seine Freunde Ähnliches wie das machen, was
Grünrot jetzt auf den Weg gebracht hat.
({8})
Aber es ist besser, wenn man dazulernt: Besser später
lernen, als überhaupt nicht lernen.
Als Vorwand für die Mehrwertsteuererhöhung werden von Ihnen das Stopfen der Haushaltslöcher und all
die anderen Überlegungen benutzt.
({9})
Jetzt ist Europa der neue Vorwand für die Steuererhöhung. Genau wie bei der Beschäftigungspolitik verschieben Sie das, was Sie nicht hinkriegen, nach Europa.
Sie schaffen es hier nicht - Europa ist zuständig.
Herr Poß, das nächste Stichwort ist die Kosovo-Krise.
Nun wird sie zum Vorwand für die längst vorbereitete
Mehrwertsteuererhöhung, weil Ihnen nichts anderes
mehr einfällt. Da liegen Sie fundamental falsch. Wir
brauchen steuerliche Entlastung, nicht Mehrbelastung.
Mit dieser Politik werden Sie die Arbeitslosigkeit nicht
beseitigen, sondern noch mehr Schwäche des Euro, noch
mehr Verunsicherung, noch mehr Investitionsschwäche
auslösen. Das ist das Gegenteil von dem, was der Kanzler im Ausland erklärt. Wenn er nur die Hälfte von dem,
was er in England ankündigt, machen würde, wäre es
schon ein deutlicher Fortschritt.
({10})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg-Otto Spiller von
der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Seit die F.D.P. im Bund
nicht mehr in der Verantwortung ist, interessiert sie sich
für öffentliche Finanzen.
({0})
Es wäre allerdings besser gewesen, Herr Kollege Rexrodt, Sie hätten das schon gemacht, als Sie Verantwortung getragen haben.
({1})
Ich will Ihnen einmal sagen, was das Ergebnis dieser
16 Jahre Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. war.
({2})
Sie haben, als Sie aus der Regierung ausgeschieden sind,
({3})
eine Verschuldung des Bundes und der Nebenhaushalte,
die Sie fälschlicherweise als „Sondervermögen“ bezeichnet haben - in Wirklichkeit waren das Sonderschulden -, von 1 450 Milliarden DM hinterlassen.
({4})
Das ist eine astronomische Zahl. Jetzt sage ich einmal,
was sie bedeutet. Interessant ist, was laufend an Verzinsung geleistet werden muß: gut 80 Milliarden DM im
Jahr, das heißt pro Kopf der Bevölkerung 1 000 DM im
Jahr.
({5})
Egal, ob es sich um einen Säugling oder um einen Greis
handelt: 1 000 DM pro Jahr nur Zinsendienst für die
Schulden, die Sie hinterlassen haben! Für eine vierköpfige Familie mit einem Durchschnittseinkommen um die
4 000 DM pro Monat heißt das: ein Monatseinkommen
nur für die Zinsen auf die Schuld, die Sie hinterlassen
haben!
({6})
Sie sollten ganz kleine Brötchen backen.
({7})
Herr Kollege Brüderle, Ihnen bescheinige ich gerne,
daß Sie sich für die öffentlichen Finanzen des Bundes
bisher überhaupt noch nicht interessiert haben. Das
merkt man Ihnen auch an.
({8})
Denn was Sie hier erzählt haben, hat mit dem, was tatsächlich beschlossen worden ist, eigentlich gar nichts zu
tun.
({9})
Aber auch Sie werden das noch mitkriegen. Sie haben ja
auch Ihren Anspruch angemeldet, in die Führungsriege
der Bundespartei vorzustoßen. Ich glaube, wenn Sie
weiter so reden, wie Sie das soeben getan haben, werden
Sie es schaffen, daß die F.D.P. bundesweit ein so tüchtiges Ergebnis wie letzten Sonntag in Bremen erreichen
wird.
({10})
Sie haben im übrigen ein nahezu wortgleiches Begehren nach einer Aktuellen Stunde im Dezember des vorigen Jahres vorgebracht.
({11})
Dabei ist genau das gleiche herausgekommen, nämlich
heiße Luft.
Eines sollten Sie sich inzwischen doch einmal hinter
die Ohren schreiben: Wenn man eine solche Verschuldungspolitik zu verantworten hat wie Sie, macht es
überhaupt keinen Sinn, laufend über neue Haushaltslöcher, über Entlastungen zu philosophieren oder zu
schwadronieren. Es kommt darauf an, daß man die öffentlichen Finanzen wieder auf ein solides Fundament
zurückführt.
({12})
Das wird diese Koalition tun. Bundesfinanzminister Eichel hat dabei unsere volle Unterstützung. Daß Sie sich
gern zurücklehnen, daß Sie schöne Sprüche machen - ({13})
- Herr Rexrodt, Sie waren doch der Subventionsminister. Sie haben immer von Liberalität gesprochen
und die marktwirtschaftliche Ordnung nie ernstgenommen. Sie haben immer nur Ihre Klientel bedient.
({14})
Sie haben Ihre Klientel mit Sonderabschreibungen für
Verlustzuweisungsgesellschaften bedient. Das war Ihr
Geschäft. Seien Sie bitte ganz vorsichtig mit irgendwelchen schönen Sprüchen!
({15})
Sie haben im Laufe Ihrer Regierungszeit ein Dutzend
Steuern erhöht. Das werden wir nicht machen.
({16})
Wir werden etwas tun, was Sie nie gemacht haben: Wir
werden kritisch an die Ausgaben des Bundes herangehen.
({17})
Sie haben nie eine ernsthafte Haushaltskonsolidierung
gewagt. Sie haben immer so getan, als wäre es Ihr Geld,
das Sie aufnehmen. Nein, es ist das Geld der Bürgerinnen und Bürger.
({18})
So zu tun, als könnten Sie künftigen Generationen weitere Schulden hinterlassen, ist unseriös.
Wir werden eine seriöse Politik machen. Wir werden
mit der kritischen Durchleuchtung der Ausgaben anfangen. Wir schaffen eine solide, korrekte und gerechte Finanzierung der öffentlichen Aufgaben.
Ich danke Ihnen.
({19})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Gerda Hasselfeldt von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Spiller, Sie hätten jetzt
die Gelegenheit gehabt, uns zu sagen, welche steuerpolitischen Vorschläge Sie in der Regierungskoalition tatsächlich haben. Sie haben nichts gesagt.
({0})
Die Konzeptionslosigkeit in Sachen Steuerpolitik dieser
Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen wird immer deutlicher.
({1})
Die Vorschläge werden täglich nicht nur absurder,
sondern auch widersprüchlicher. Es wundert nicht, daß
die Bevölkerung immer mehr verunsichert wird. Aber
bei aller Widersprüchlichkeit - Mehrwertsteuererhöhung
ja oder nein, Mineralölsteuer in ein, zwei, drei oder
mehreren Stufen erhöhen, die Verwendung der Mittel im
Haushalt oder in der Sozialversicherung - sind Sie sich
in dieser Koalition über eines im klaren: Es muß mehr
Geld her. Es muß aber nicht mehr Geld her über die Ankurbelung der Wirtschaft oder über sinnvolle Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern es
muß mehr Geld her von seiten der Bürger. Sie wollen es
direkt vom Bürger über Steuererhöhungen. So haben Sie
es bei den 630-Mark-Regelungen, bei der Scheinselbständigkeit und bei der Ökosteuer gemacht, und so wollen Sie es auch mit der Mehrwertsteuer- und Mineralölsteuererhöhung machen.
Meine Damen und Herren, Sie diskutieren doch nur
darüber, wie es die Bürger am wenigsten merken. Ich
will Ihnen das am Beispiel der Mineralölsteuer begründen. Zuerst haben Sie gesagt, die zweite und dritte Stufe
der Ökosteuerreform kommt nur in Abstimmung mit der
Europäischen Union. Das ist mittlerweile vom Tisch;
jetzt planen Sie das im Alleingang. Es geht nur noch
darum, in wieviel Stufen Sie das machen. Der Kollege
Schulz hat vor wenigen Tagen - nachlesbar in einer
Agenturmeldung - den Vorschlag gemacht, die Mineralölsteuer nicht wie geplant in zwei Stufen, sondern in
drei Stufen zu erhöhen, mit der Begründung, wichtig sei,
daß die Menschen nicht das Gefühl haben, daß man sie
abzockt. Es geht Ihnen doch nur darum, wie die Menschen am wenigsten merken, daß Sie sie abzocken.
({2})
Ich sage Ihnen: Egal, ob Sie die Steuer in einer Stufe, in
zwei oder in drei Stufen erhöhen, es bleibt die Tatsache,
daß Sie die Menschen mit dieser Mineralölsteuererhöhung abzocken;
({3})
es bleibt die Tatsache, daß Sie vor allem denen das Geld
nehmen, die es am dringendsten brauchen und die aufs
Auto angewiesen sind; es bleibt bei der Tatsache, daß
Sie vor allem denen mit mittleren und niedrigen Einkommen das Geld nehmen.
({4})
Nichts anderes ist es auch mit Ihren täglichen Äußerungen zur Mehrwertsteuererhöhung. Sie suchen doch
nur noch nach einer Begründung! Zuerst war es die Familienbesteuerung nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, dann war es die Europäische Union, jetzt
muß die Situation im Kosovo herhalten. Ihre täglichen
Dementis glaubt Ihnen niemand mehr, weil Sie Ihre
Versprechen in diesen wenigen Monaten Ihrer Regierungszeit schon zu oft nicht gehalten haben.
({5})
Ein Beispiel: Sie haben bei der Verabschiedung des
Steuerentlastungsgesetzes gesagt, die Unternehmen würden netto entlastet,
({6})
und zwar schon zum 1. Januar 2000. Auch davon sind
Sie schon abgerückt; mittlerweile haben Sie gesagt, es
könne keine Nettoentlastung geben und das alles werde
nicht zum 1. Januar 2000 kommen. Meine Damen und
Herren, Sie haben die Unternehmer verschaukelt; und
nun tun Sie das gleiche mit den Verbrauchern.
({7})
Es ist an der Zeit, daß Sie den Menschen die Wahrheit sagen, und zwar nicht erst nach der Wahl, sondern
schon vor der Wahl. Meines Erachtens besteht überhaupt keine Begründung dafür, daß Sie die Sparvorschläge in Höhe von 30 Milliarden DM, die dem Finanzminister Eichel schon vorliegen, noch geheimhalten. Sagen Sie es den Leuten doch jetzt! Wenn Sie das
schon alles haben, dann können Sie das auch sagen und
brauchen damit nicht hinter dem Berge zu halten.
Sie hätten all diese Probleme des Herumdokterns in
der Steuerpolitik nicht, wenn Sie - mit dem Ziel, die
Wirtschaft anzukurbeln - zu einer grundlegenden Steuer- und Abgabenreform, zu einer deutlichen Senkung
aller Steuersätze und zu einer Vereinfachung des Systems bereit gewesen wären.
({8})
Wenn Sie ein solchermaßen stimmiges Gesamtkonzept
vorlegen, dann sind wir auf Ihrer Seite.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus Müller von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum dritten Mal in dieser Legislaturperiode, die noch gar nicht so alt ist - Kollege
Spiller hat schon den 3. Dezember erwähnt; ich füge
noch den 24. März hinzu -, herrscht heute verkehrte
Welt: Oppositionspolitiker versuchen, uns eine Mehrwertsteuererhöhung unterzujubeln. Damals beteiligte
sich auch Herr Gysi von der PDS; es war also der große
Klang der Oppositionspolitiker.
({0})
In Wirklichkeit, Herr Koppelin, pfeifen CDU und F.D.P.
im dunklen Wald, um von ihrem eigenen peinlichen
Versagen in der Steuerpolitik abzulenken.
({1})
Reden wir doch einmal über Sie und Ihre Steuerpolitik! Hätten Sie in der letzten Legislaturperiode ein soziales Steuerkonzept ohne die Mehrwertsteuerfußnote
vorgelegt, dann wären wir vielleicht schon weiter.
({2})
Oder nehmen Sie die vermeintlich neuen Bremer Beschlüsse der F.D.P. Sie wollen die Steuersätze senken.
Dafür haben wir volle Sympathie. Wer würde das nicht
gerne tun! Sie entlasten im oberen Einkommensbereich;
das können wir nachlesen. Wenn man aber einmal genau
schaut, was bei Ihnen steht, und wenn man einmal nachrechnet, was mit einem Einkommen von 20 001 DM
passiert, dann stellt man fest, daß Ihre Steuersätze steigen. Hier sieht man ganz deutlich, was Ihre Politik ist:
die Steuern für Reiche senken und für Arme noch erhöhen. Ich finde, Sie sollten sich dafür schämen.
({3})
Während sich die CDU/CSU zu Beginn der Legislaturperiode eher auf destruktive Kritik beschränkt hat,
sind wir inzwischen etwas weiter. Ich habe mit großem
Interesse die Thesen des Kollegen Merz gelesen.
({4})
Bei vielen Punkten werden wir im Rahmen dieser Legislaturperiode sicherlich noch miteinander reden können. Das Interessante sind aber die Fußnoten. Wir haben
ja inzwischen gelernt, daß man bei CDU/CSUSteuerkonzepten auf die Fußnoten achten muß.
({5})
Ich habe die 14 Fußnoten durchgelesen und feststellen
müssen, daß Herr Merz leider noch unseriöser als Herr
Waigel ist.
({6})
Herr Waigel hatte in der Fußnote wenigstens ehrlich erklärt, wo die Gegenfinanzierung steckt. Herr Merz
schreibt nur: „Durch die Verbreiterung der steuerlichen
Bemessungsgrundlage könnten Steuermehreinnahmen
von rund 50 Milliarden DM erzielt werden.“ - Könnten!
Das ist das Prinzip Hoffnung. Das ist fahrlässig und unseriös. Sie sagen den Leuten nicht, wer die Quittung
zahlen soll. Das finde ich ausgesprochen peinlich.
({7})
Scheinheilig ist die Forderung nach einer europaweiten CO2-Abgabe. Die alte Regierung hat 16 Jahre
lang alles zur Verhinderung einer solchen Abgabe getan.
Frau Kollegin Hasselfeldt hat das gerade noch einmal
bestätigt: Sie wollen keine Ökologisierung des Steuersystems bei einer gleichzeitigen Entlastung des Faktors Arbeit. Ich finde, hier sind wir in der Diskussion
schon wesentlich weiter. Mit einer Steuerpolitik für das
21. Jahrhundert - ich nehme an, so ist die Überschrift zu
verstehen - hat Ihre Politik an der Stelle leider nichts zu
tun.
({8})
Lassen Sie mich bei der Gelegenheit noch etwas zur
Unternehmensteuerreform sagen. Wir haben eine
Kommission mit Fachkompetenz eingesetzt. Wir sind
aber nicht vorgegangen wie Ihre Regierung, die ebenfalls eine solche Kommission eingesetzt hat - Herr
Bareis war damals der Kommissionsvorsitzende -: Sie
haben die Kommissionsbeschlüsse gelesen und haben
festgestellt, daß Sie eine solche Reform nicht wollen,
weil sie Ihnen zu kompliziert ist; also ab in den Papierkorb damit. Das war Ihr Vorgehen. Zwei Jahre später
haben Sie die Kommissionsbeschlüsse wieder hervorgezogen.
Rotgrün wird das anders machen. Rotgrün wird sich
an der Stelle Gründlichkeit vor Schnelligkeit leisten;
denn sonst kämen Sie wieder an und würden sagen: Ihr
habt alles viel zu schnell gemacht, ihr müßt nachbessern.
Das ist Ihre scheinheilige Doppelstrategie. Diese werden
Sie bei der Unternehmensteuerreform nicht anwenden
können. Die Reform wird gründlich beraten, sie wird
transparent gestaltet und sie wird zum 1. Januar 2001
mit niedrigeren Steuersätzen bei einer international vergleichbaren Bemessungsgrundlage eingeführt. Auf diesem Kurs befinden wir uns im Einklang mit unseren europäischen Nachbarn. Das ist der richtige Weg.
({9})
Lassen Sie mich, da Sie ja immer darüber diskutieren
wollen, auch etwas zum Thema Mehrwertsteuererhöhungen sagen. Der Bundeshaushalt hat einen Konsolidierungsbedarf, der enorm ist. Der Grund dafür liegt
darin, daß Sie in der Vergangenheit durch Privatisierungserlöse und Tilgungsstreckungen dazu beigetragen
haben, daß wir beim Haushalt ein echtes Chaos vorgefunden haben. Dieses Chaos wollen wir beseitigen. Rotgrün wird den Haushalt konsolidieren. Jede Steuererhöhungsdebatte, so oft die F.D.P. auch danach rufen mag,
ist kontraproduktiv.
Wenn wir schon über Mehrwertsteuer diskutieren,
könnten wir auch über das Bestimmungsland- und Ursprungsprinzip oder über den Güterkanon des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes diskutieren - das wäre okay.
Nur, die Mehrwertsteuerdebatten, die Sie führen, sind
verkehrt; genauso ihre Polemik gegen eine Neuordnung
des Verhältnisses von indirekten Steuern zu direkten
Sozialabgaben. Ich erinnere mich, daß der Bundestag
dazu im vergangenen Jahr schon einmal etwas - sogar
mit großer Mehrheit - beschlossen hat. Ich glaube, das
war damals ein richtiger Schritt. Nach einer gelungenen
Ökosteuerreform und nach einer gelungenen Rentenreform können Sie das noch einmal aufs Tapet bringen.
Dann sind wir gern bereit, auch darüber zu reden.
Klaus Wolfgang Müller ({10})
Ich komme leider zum Schluß. Ich finde es bedauerlich, daß Ihnen in der Steuerdebatte nichts anderes einfällt, als uns immer wieder mit Aktuellen Stunden zu
traktieren. Das ist ausgesprochen wenig. Ich finde, daß
Sie an der Stelle ein bißchen mehr bieten könnten. Das
wäre allein im Hinblick auf das Niveau dieser Debatte
erhellend.
Vielen Dank.
({11})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Heidemarie Ehlert
von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Steuerreform der rotgrünen Regierung hatte unter anderem die Entlastung der
Arbeitnehmerinnen und der Familien zum Ziel. Doch
mit dem Wechsel des Finanzministers wurde offensichtlich auch der Kurs der SPD gewechselt. Während sich
Herr Waigel in kreativer Buchführung übte, kreiert Herr
Eichel den Sozialabbau zum Stopfen von Haushaltslöchern. Die Meldungen überbieten sich täglich. Da ist
nun von Kürzungen der Arbeitslosenhilfe und des Arbeitslosengeldes die Rede. Dabei geht es nicht nur um
die Reduzierung der vom Bund gezahlten Beiträge zur
Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung von Arbeitslosen, wodurch Arbeitslose später weniger Rente
bekommen - dies soll 4 Milliarden DM Einsparungen
bringen -, sondern auch um Streichung der Zuschläge
für Bezieher von Arbeitslosenunterstützung mit Kindern
zur Einsparung von weiteren 2,5 Milliarden DM.
Die Renten sollen 2000 und 2001 nur halb so stark
steigen, wie es nach dem Nettolohnanstieg eigentlich erforderlich ist, damit der Bund weitere 4 Milliarden DM
sparen kann. Ihnen kommt doch das Haushaltsdefizit
von 30 Milliarden DM gerade recht, um die Familien
den Familienlastenausgleich selbst finanzieren zu lassen.
Da aber die bereits genannten Maßnahmen noch immer
nicht zur Finanzierung der geplanten steuerlichen Entlastung vor allem von großen Unternehmen ausreichen,
fordert der Finanzminister jetzt eine Erhöhung der
Mehrwertsteuer und der Mineralölsteuer.
({0})
Ich halte im Gegensatz zu Herrn Loske eine regelmäßige Anhebung der Mineralölsteuer ohne Maßnahmen
des ökologischen Umbaus, ohne verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale und ohne Ausbau des
ÖPNV nicht für vernünftig und auch nicht für ökologisch.
({1})
Mit der Forderung von Mehreinnahmen in Höhe von 11
bis 12 Milliarden DM wird nicht einmal mehr der Anschein einer ökologischen Reform gewahrt. Einziges
Resultat wird sein, daß gerade den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, denen bereits bisher immer höhere
Mobilität abverlangt wurde und immer längere Arbeitswege zugemutet wurden, nun weitere Kosten auferlegt
werden, ohne ihnen überhaupt die Chance zur verstärkten Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs zu
geben. Gerade für diese Menschen vermissen wir flankierende Maßnahmen, wie den Ausbau eines bezahlten
öffentlichen Nahverkehrs.
Dafür kreieren Sie, Herr Minister Eichel, eine weitere
Doppelbelastung; denn neben der Mineralölsteuererhöhung fordern Sie auch noch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Finanzierung der geplanten Entlastung
der ertragsstarken Unternehmen. Da Ihnen der Mut zur
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und zum Abbau von steuerlichen Vergünstigungen für Unternehmen
bzw. zur Wiedererhebung der Vermögensteuer fehlt,
sollen die Haushaltslöcher durch weitere Anhebungen
von Steuern gestopft werden.
Anstatt alle Bürger gleichmäßig ihrer wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit entsprechend steuerlich heranzuziehen, wie es in § 3 der Abgabenordnung gefordert wird,
bezahlen Arbeitslose und Studierende, Sozialhilfeberechtigte, Rentnerinnen und Rentner die Steuergeschenke an Unternehmen. Statt über die Einführung einer
Schwerlastabgabe zur Verlagerung der Transporte von
der Straße auf die Schiene nachzudenken, denkt die SPD
über weitere Ausnahmen der Mineralölsteuer für das
Speditionsgewerbe nach.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zum Familienlastenausgleich nutzen Sie nicht nur für Ihre scheinheiligen Argumente, sondern auch als Mogelpackung; denn eine Erhöhung der Verbrauchsteuern ist
zutiefst sozial ungerecht, da die Zeche der Endverbraucher über die Preise zahlt. Es erhöhen sich aber nicht nur
die Preise für Luxusgüter, wie bei der von uns geforderten Einführung einer Luxussteuer, sondern alle Preise, auch die für Waren des täglichen Bedarfs, Kleidung,
Medikamente und so weiter. Menschen mit geringem
Einkommen sind davon besonders betroffen.
Hinzu kommt, daß eine Erhöhung der Verbrauchsteuern dazu beiträgt, die Kaufkraft und das Wirtschaftswachstum zu schwächen. Sie leisten damit also keinen
Beitrag zu Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung. Phantasielos fordern Sie Ihre Kolleginnen und
Kollegen zu Einsparungen auf. Den größten Tribut muß
der Sozialbereich leisten. Sie belasten damit gerade diejenigen Menschen, die noch Herr Lafontaine entlasten
wollte, nämlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Familien. Doch der neue Steuermann hat
den Kurs geändert. Das neue Ziel heißt Rotstift bei Sozialleistungen und Erhöhung der Steuern.
Machen Sie Schluß mit der Privilegierung bzw. Diskriminierung bestimmter Personengruppen. Sorgen Sie
für die Durchsetzung von Steuergerechtigkeit bei Arbeitnehmern und Unternehmern gleichermaßen, dann
können Sie nicht nur Ihre Haushaltslücke in Höhe von
30 Milliarden DM schließen, sondern auch mit unserer
Unterstützung rechnen. Steuererhöhungen werden wir
wie bisher nicht zustimmen.
Frau
Kollegin Ehlert, kommen Sie bitte zum Schluß.
Klaus Wolfgang Müller ({0})
Beenden Sie Ihren sozialpolitischen Kahlschlag. Sagen Sie den Bürgerinnen
und Bürgern endlich, was sie von Ihnen zu erwarten haben; das möglichst noch vor dem 30. Juni.
({0})
- Herr Rexrodt, Sie waren auch schon einmal besser.
Als
nächster Redner hat nun der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesfinanzminister, Karl Diller, das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst ein persönliches Wort an meinen rheinland-pfälzischen Kollegen,
den früheren Staatsminister Herrn Brüderle. Sehr geehrter Herr Brüderle, Ihre Partei ist von den bremischen
Wählerinnen und Wählern am vergangenen Sonntag
furchtbar zusammengestaucht worden.
({0})
Wenn „F.D.P.“ künftig nicht wieder für „fast drei Prozent“ stehen soll, dann sollten Sie aufhören, ständig mit
Verdächtigungen zu arbeiten, und nicht immer wieder
die Mär von einer angeblich drohenden Mehrwertsteuererhöhung ins Gespräch bringen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich sage
klipp und klar für die Bundesregierung: Wir wollen keine Mehrwertsteuererhöhung, denn wir stehen für eine
sozial gerechte, solide finanzierte und wirtschaftspolitisch vernünftige Steuerpolitik, eine Politik, die mehr
Wachstum und Beschäftigung schafft.
Richtig dagegen ist, daß die alte Bundesregierung,
bestehend aus CDU/CSU und F.D.P., uns enorme Haushaltslöcher hinterlassen hat: 1996 eine verfassungswidrige Verschuldung, 1997 wurde - nur mit Zustimmung
des Bundestages - die Verfassungsgrenze überschritten,
1998 haben Sie mit einem hohen, 20 Milliarden DM
umfassenden Privatisierungsprogramm überhaupt die
Verschuldung unter die Verfassungsgrenze drücken
können.
({2})
Am Ende von Helmut Kohl und Theo Waigel, von
Gerhardt und Kinkel müssen wir feststellen: Sie haben
die Schulden in 16 Jahren Regierungszeit vervierfacht.
Jede vierte Mark, die als Steuerzahlungen beim Bund
eingeht, ist im letzten Jahr für das Zahlen von Zinsen
draufgegangen. Wer eine solche Finanzwirtschaft hinterläßt, hat - so hat es das Bundesverfassungsgericht
festgestellt - den Bund in eine Haushaltsnotlage gewirtschaftet. Das ist das Ergebnis von 16 Jahren Finanzpolitik unter Helmut Kohl.
({3})
Das ist also der Grund für die Haushaltsnotlage des
Bundes. Wir werden die notwendige Konsolidierung nur
unter schmerzhaften Opfern vollziehen können. Ich bin
aber zuversichtlich, daß wir das schaffen, ohne die
Mehrwertsteuer zu erhöhen.
Wir setzen eine spürbare Senkung der Steuerlasten
für Arbeitnehmer, Familien und Unternehmer in die Tat
um. Die mit den Steuerreformen 1999, 2000 und 2002
verbundene Nettoentlastung umfaßt immerhin insgesamt
20 000 Millionen DM. Diese Entlastungspolitik wollen
wir mit dem Familienentlastungsgesetz und mit einer
Reform der Unternehmensbesteuerung fortsetzen. Wir
werden mit diesen Reformmaßnahmen, die wir am
30. Juni zusammen mit dem Haushalt vorstellen werden,
selbstverständlich im Rahmen haushaltspolitischer Verantwortung bleiben und deshalb für eine solide Finanzierung sorgen. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer kommt
aber auch in diesem Zusammenhang überhaupt nicht in
Frage.
({4})
Zur Erinnerung und zum Kontrast: Während der Regierungsverantwortung von CDU/CSU und F.D.P. haben diese drei Parteien wiederholt an der Mehrwertsteuerschraube gedreht: Juli 1983 von 13 auf 14 Prozent, Januar 1993 von 14 auf 15 Prozent, April 1998 von 15 auf
16 Prozent. Hätten wir Ihre Steuerpläne nicht verhindern
können, hätten die Bürgerinnen und Bürger schon seit
dem letzten Jahr statt 16 Prozent 17 Prozent Mehrwertsteuer zahlen müssen. Das ist die Wahrheit, Frau Hasselfeldt, die Sie eingefordert haben.
Nun zum Thema Mineralölsteuer. Mineralölsteuererhöhungen sind keine Erfindung der rotgrünen Koalition.
({5})
CDU/CSU und F.D.P. haben in ihrer Regierungszeit von
diesem Instrument häufig und, Frau Hasselfeldt, drastisch Gebrauch gemacht.
Die Zahlen, für die Sie verantwortlich sind, möchte
ich jetzt gerne auflisten, um sie mit unseren geplanten
Erhöhungen zu vergleichen: Von 1987 bis 1994 haben
Sie die Steuer für unverbleites Benzin von 46 Pfennig je
Liter um 52 Pfennig auf 98 Pfennig angehoben.
({6})
CDU/CSU und F.D.P. haben damit den Steuerbetrag
mehr als verdoppelt.
({7})
Zwischen dem, was während der Zeit der CDU/CSUF.D.P.-Koalition auf diesem Gebiet geschah, und den
Vorstellungen unserer Koalition gibt es jedoch deutliche
Unterschiede. Wir wollen den Betrag, der durch eine
Mineralölsteuererhöhung dem Bundeshaushalt zufließt,
den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmern
durch Senkung der Rentenversicherungsbeiträge wieder
voll zurückgeben.
({8})
In diesem Haushaltsjahr werden wir sogar mehr zurückgeben, als durch diese Anhebung in den Haushalt hineinfließt. Der Grundgedanke einer ökologischen Steuerreform besteht darin, den Umweltverbrauch maßvoll zu
besteuern und das daraus erzielte Aufkommen zur Senkung der Lohnnebenkosten zu nutzen.
Die alte Bundesregierung - auch Sie, Frau Hasselfeldt, haben das mit Ihrer Stimme mitgetragen - hat die
Mineralölsteuer erhöht, um Haushaltslöcher zu stopfen.
Parallel dazu haben Sie auch noch die Lohnnebenkosten
kräftig angehoben. Bei Ihnen mußten die Bürger doppelt
zahlen.
({9})
Sie ließen innerhalb weniger Jahre die Lohnnebenkosten von 34 Prozent auf 41 Prozent steigen. Wir wollen
eine Politik der kleinen stetigen Schritte betreiben, um
keinen zu überfordern. In der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung gab es drastische Erhöhungen. Frau Hasselfeldt, erinnern Sie sich nicht mehr daran, daß Sie im Jahre 1991 die Mineralölsteuer auf einen Schlag um
22 Pfennig je Liter - also nicht um 6 Pfennig - erhöht
haben?
({10})
Im Jahre 1994 haben Sie die Mineralölsteuer um
16 Pfennig erhöht. Auch das haben Sie, Frau Hasselfeldt, mit Ihrer Stimme mitgetragen. Wie soll man diese
Erhöhungen gegenüber den Pendlerinnen und Pendlern
bezeichnen, die dafür damals keine Entlastungen bekommen haben, sondern noch zusätzlich höhere Lohnnebenkosten bezahlen mußten?
({11})
Deshalb kann man nur feststellen: Wenn die Autofahrer durch Mineralölsteuererhöhungen schockiert worden
sind, dann damals durch Frau Hasselfeldt.
({12})
Wir wollen Planungssicherheit. Deswegen wollen wir
die Mineralölsteuer in festgelegten kleinen und stetigen
Schritten erhöhen, so wie das andere Staaten schon vor
uns praktiziert haben, zum Beispiel Großbritannien. Gestern hat die „Süddeutschen Zeitung“ berichtet, daß sich
das Schweizer Parlament für eine Lenkungsabgabe auf
nicht erneuerbare Energien entschieden hat, deren Ertrag
zur Senkung der Sozialversicherungsbeiträge dienen
soll. Die Schweiz ist auf dem gleichen Wege wie wir.
Nur Sie sind die ewig Gestrigen.
({13})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Friedrich
Merz von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Angriff ist die beste Verteidigung.
Das ist offensichtlich die Strategie, die sich die Koalition für diese Aktuelle Stunde ausgesucht hat.
({0})
Nachdem das für heute morgen geplante Festhochamt
mit Zelebration des Herrn Bundeskanzlers mehr zu einer
stillen Messe geworden ist, weil die Ereignisse nicht so
eingetreten sind, wie sie vorgesehen waren,
({1})
ist es gut, daß wir uns wieder etwas mehr mit der Innenpolitik beschäftigen.
({2})
Es hätte keinen Anlaß für diese Aktuelle Stunde gegeben, wenn der Bundesfinanzminister das eingehalten
hätte, was er sich zu Beginn seiner Amtszeit selbst auferlegt hat, nämlich zunächst einmal den Mund zu halten,
nachzudenken, Pläne zu machen und dann erst die Ergebnisse seiner Überlegungen im Parlament vorzutragen. Eine solche Ankündigung war neu für diese Bundesregierung, aber deshalb nicht falsch, im Gegenteil: Es
wäre richtig gewesen. Aber er hat die sich selbst auferlegte Schweigepflicht durchbrochen, indem er am letzten Sonntag ein Interview gegeben hat. Dieses Interview
ist der richtige und zutreffende Anlaß für diese Aktuelle
Stunde. Das einzige, was wir bisher von der Bundesregierung wissen, ist, daß in Zukunft regelmäßig jedes
Jahr Steuererhöhungen anstehen. Das ist das einzig Definitive, das bisher auch unter dem neuen Bundesfinanzminister feststeht.
({3})
Sie, Herr Diller, haben eben von kleinen Schritten gesprochen. Das ist in der Tat die richtige Karikierung
dessen, was gegenwärtig unter dieser Bundesregierung
in Deutschland stattfindet. Das wirtschaftliche Wachstum weist nur kleine, sehr kleine Schritte auf. Die Bundesregierung hat das Vertrauen internationaler Investoren und auch der nationalen Volkswirtschaft völlig verloren. Das können Sie an den Wachstumszahlen für das
erste Quartal 1999 ablesen, die gerade heute vorgelegt
worden sind. Herr Kollege Haussmann hat das eben in
anderem Zusammenhang schon erwähnt: Das Wachstum
im ersten Quartal des Jahres 1999 wird 0,7 Prozent betragen.
({4})
Seien Sie nicht ganz so vorlaut mit dem, was Sie zu
den letzten 16 Jahren hier sagen. Ich bin es langsam
wirklich leid.
({5})
- Wenn Sie ständig über die letzten 16 Jahre reden und
wenn man dieses Durcheinander in Ihrer Koalition beobachtet, dann erlaube ich mir einmal die Rückfrage:
Was haben Sie eigentlich in den letzten 16 Jahren gemacht?
({6})
Sie haben alles mögliche gemacht, aber Vorbereitung
auf Regierungsarbeit ist bei Ihnen in den letzten 16 Jahren nicht dabeigewesen.
({7})
Zur Erinnerung: Das letzte dieser „schrecklichen“
16 Jahre unter der Führung von CDU/CSU und F.D.P.
wies ein wirtschaftliches Wachstum im Jahresdurchschnitt von 2,8 Prozent auf.
({8})
Wir haben in diesem Jahr Erwartungen, die mittlerweile
unter 1,5 Prozent liegen. Es gibt Institute, bei denen sich
die Prognosen inzwischen nur noch bei 1 bis 1,2 Prozent
bewegen. Die Zahlen im ersten Quartal des Jahres 1999
zeigen - das hat mit den letzten 16 Jahren überhaupt
nichts zu tun, das sind ausschließlich Ihre Zahlen -: Das
Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland bricht
zusammen.
({9})
Wenn Sie jetzt nicht in der Steuerpolitik einen Baustein für eine Gesamtkonzeption der Wirtschaftspolitik
legen, die das Vertrauen in die dauerhafte Entwicklung
der Bundesrepublik Deutschland zurückgewinnt, dann
werden Sie die Probleme der Bundesrepublik Deutschland, mit welcher Steuerpolitik auch immer, nicht lösen.
Das ist der entscheidende Punkt, vor dem wir heute stehen.
({10})
Jetzt kommt etwas, was man bei sinkendem Außenwert der eigenen Währung eigentlich nicht erwarten
sollte. Aber die zweite vom Statistischen Bundesamt gerade heute bekanntgegebene Zahl lautet: Der Export der
Bundesrepublik Deutschland schwächt sich ab. Wir haben im ersten Quartal 1999 erstmalig seit 1993 - das
war nicht Ihre Regierungszeit, sondern unsere - rückläufige Exportzahlen. Das können Sie nun wirklich nicht
mehr auf 16 Jahre der alten Regierung schieben. Das
sind ausschließlich die Ergebnisse Ihrer Politik, die Sie
allein zu verantworten haben.
({11})
Nun will ich einen ganz unverdächtigen Zeugen heranziehen. Schauen Sie einmal in die letzte Ausgabe einer der meistgelesenen Zeitschriften im englischsprachigen Raum, nämlich in den „Economist“. Die Titelstory
der letzten Ausgabe des „Economist“ lautet: „Deutschland, der kranke Mann im Euro-Raum“. Das ist der tatsächliche Befund, über den wir in Deutschland eigentlich reden müßten. Aber Sie eiern herum, weil Sie kein
Konzept haben, weil Sie nur über Steuererhöhungen reden und weil Sie keine Ahnung davon haben, wie man
in der Bundesrepublik Deutschland ein wirtschaftliches
Wachstum verstetigt und so steigert, daß auch das Arbeitsmarktproblem gelöst wird.
({12})
Ich sage Ihnen, damit das ganz klar ist, zum Schluß:
Einen zeitlichen Ablauf, wie Sie ihn offensichtlich planen, werden wir nicht akzeptieren. Wir werden nicht
hinnehmen, daß Sie in den letzten zwei Sitzungstagen
des Deutschen Bundestages vor der Sommerpause am
Nachmittag über die Bundespressekonferenz zum besten
geben, was Sie in der Steuerpolitik machen wollen, und
wir dann anschließend alle gemeinsam fröhlich in die
Sommerpause gehen. Diese Arbeitsteilung - das sage
ich Ihnen, Herr Diller, damit Sie es gleich jetzt wissen machen wir nicht mit. Wenn Sie es nicht ermöglichen,
daß am 30. Juni, am 1. Juli oder am 2. Juli eine ausführliche Parlamentsdebatte über das stattfindet, was Sie in
der Steuer- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik
Deutschland für die Zukunft wirklich wollen, dann werden wir Sie in der Woche darauf dazu zwingen.
Vielen Dank.
({13})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Reinhard
Loske von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal, Herr Merz, zum „kranken Mann“ Europas. Wenn wir uns einmal die Bilanz anschauen, die
vor wenigen Minuten über den Ticker gegangen ist - ich
weiß nicht, ob Sie das lesen -, dann kann man schon sagen: Diese Regierung hat in Europa einen sehr wesentlichen Beitrag dazu geleistet, daß der Krieg im Kosovo
jetzt vorbei ist. Wir können froh darüber und dankbar
dafür sein. Ich glaube, daß das ein sehr wichtiger Punkt
ist.
({0})
Wir haben es hier keineswegs mit einem „kranken
Mann“ zu tun. Was der Kanzler und der Außenminister
hier geleistet haben, wird auch von anderen geschätzt,
nur nicht - das ist verständlich - von der Opposition.
Aber lassen Sie die Kirche im Dorf, und arbeiten Sie
nicht mit solchen unzulässigen Metaphern.
Jetzt zum Thema der Aktuellen Stunde. Die F.D.P.
kann es natürlich wieder einmal nicht lassen: Statt einen
sachlichen Beitrag zur Steuerdebatte und zur Sanierung
des Haushalts zu leisten, bekommen wir von ihr hier
nichts anderes vorgesetzt als plumpeste Polemik.
({1})
Kein Wort zur Lösung der Haushaltsmisere, die Sie mit
zu verantworten haben,
({2})
kein Wort zur Finanzpolitik, nur Thekensprüche, kein
Wort zum Familienleistungsausgleich! Sie haben jahrelang nichts für die Familien getan.
({3})
Dazu hätte ich mir von Ihnen wirklich ein klares Wort
erwartet. Statt dessen, wie gesagt, billigste Polemik.
Wenn man sich die F.D.P. einmal anschaut, muß man
feststellen: Sie sind auf dem Weg von einer reinen
Funktionspartei zu einer reinen Protestpartei. Wenn man
sich beispielsweise Ihre Plakate anschaut, sieht man nur
gelbe Karten, einen strahlenden Haussmann und, ich
hätte fast gesagt: Männerhintern. Was will uns die
F.D.P. damit sagen? Ist das das neue Niveau der ProtestF.D.P.? Ich fände es schöner, wenn Sie versuchen würden, hier inhaltliche Beiträge zu leisten, statt auf solch
plumpe Art und Weise zu polemisieren. Bei der Wahl in
Bremen hat es nicht zu 6 Prozent gereicht, sondern nur
zu Platz 6 hinter SPD, CDU, Grünen, PDS und DVU.
Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie auch bundesweit auf diesem Platz landen.
Ich will jetzt zum Thema Steuerpolitik und insbesondere zu den Energiesteuern kommen. Meine Damen und
Herren von der F.D.P., Sie tun so - das war heute morgen aus der Rede von Herrn Haussmann ganz klar ersichtlich -, als würden wir einen nationalen Alleingang
durchführen. Auch Frau Hasselfeldt hat diese Mär wieder kultiviert. Ich frage mich allen Ernstes: Lesen Sie
überhaupt Zeitung? Informieren Sie sich überhaupt? Ich
möchte gar nicht die Beispiele aus dem europäischen
Ausland, wie Dänemark, Holland, Schweden und Norwegen, vorführen, die jeder kennt. Sie müssen nur in die
Zeitung schauen. In der „Süddeutschen Zeitung“ von
heute - das wurde bereits gesagt - kann man lesen: In
der Schweiz wurden die Weichen für die Ökosteuerreform gestellt. „Die Welt“ vom 20.5.: Paris plant Ökosteuer. Außerdem sollten Sie den neuen Plan der Regierung des Vereinigten Königreiches, vom Department of
Trade and Industry, lesen. Dort führt man eine ökologische Steuerreform ein, die genauso aussieht wie bei uns.
Es soll nämlich eine Steuer eingeführt werden, die zu
90 Prozent zur Senkung der Lohnnebenkosten und zu
10 Prozent zur Förderung erneuerbarer Energien verwendet wird. Meine Güte, Sie können doch nicht so tun,
als würden wir auf einer Insel agieren! Es handelt sich
um ein europäisch abgestimmtes Konzept. Insofern ist
die Kritik von Herrn Haussmann völlig ohne Hand und
Fuß.
({4})
Wir liegen mit dieser Strategie im europäischen
Trend und im OECD-Trend. Ich will die Punkte noch
einmal wiederholen - mittlerweile ist es profan; man
muß das Ganze alle vierzehn Tage wiederholen, bis Sie
es kapieren. Der erste Gedanke: Weg von der Belastung
des Faktors Arbeit hin zur Belastung des Faktors Energie und Ressourcen. Der zweite Gedanke: Weg von der
sprunghaften Verteuerung von Energie hin zur Verstetigung, so daß sich Verbraucher und Unternehmen in ihren Investitionen darauf einstellen können, wenn sie
Energie sparen wollen. Drittens lautet der Trend: Weg
von überwiegend direkten Steuern hin zu überwiegend
indirekten Steuern. - Meine Damen und Herren von der
F.D.P., das alles wissen Sie ganz genau. Insofern ist es
fast schon langweilig, immer wieder das gleiche Thema
herunterzuexerzieren.
Für uns Grüne ist die ökologische Steuerreform ein
wichtiges Instrument zur ökologischen und ökonomischen Modernisierung des Staates. Wir haben klare
Leitorientierungen und klare ordnungspolitische Vorstellungen. Im Zentrum stehen die ökologische Lenkungswirkung und die Entlastung des Faktors Arbeit.
Die Ökosteuer muß einen Beitrag zur Erreichung der
Klimaschutzziele leisten und muß zur strukturellen Entlastung des Faktors Arbeit beitragen. Das ist unser Maßstab, das ist unsere Leitorientierung, und nicht das immer gleiche Lamento der F.D.P., das uns wirklich nichts
Neues zu sagen hat.
Danke schön.
({5})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter Rexrodt von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Loske, zunächst einmal darf
ich Sie fragen, was der Inhalt und die politische Botschaft Ihrer Rede war.
({0})
Sie wollen uns hier Ihre merkwürdige Ökosteuerreform
verkaufen. Über diese Reform sagt jeder Fachmann, daß
sie mit „Öko“ nichts zu tun hat und keine Lenkungswirkung entwickelt, weil die Unternehmen, die im ökologischen Bereich wirklich etwas bewirken könnten, ausgenommen sind. Diese Steuer können Sie uns nicht verkaufen. Das war alles, was Sie gesagt haben.
Wir haben diese Aktuelle Stunde mit Bezug auf einen
Kernsatz in Ihrem sogenannten europäischen Beschäftigungspakt beantragt, der lautet: Europa braucht eine
Investitionsinitiative. Was treibt die Leute von Rotgrün
um, die umherlaufen und sagen: Wir brauchen eine
Mehrwertsteuererhöhung, und gleichzeitig müssen wir
bei der Mineralölsteuer stetig Schritt für Schritt drauflegen? Wie paßt das zusammen? Das ist doch hirnrissig!
({1})
Die Menschen in Deutschland wollen ein Signal dahin gehend haben, daß die Steuern gesenkt werden, und
nicht, daß die Steuern erhöht werden. Wenn dann von
Ihrer Seite vorgetragen wird, auch wir hätten Steuern erhöht, haben Sie recht. Ich sage aber: Wir haben - mit
Ihnen und allen in Deutschland zusammen - in den
letzten zehn Jahren eine wichtige Aufgabe zu meistern
gehabt. Sie hat unser aller Beitrag erfordert. Das hat sich
auch in der Steuerpolitik niederschlagen müssen. Wenn
aber jetzt, wo es um die Globalisierung geht und darum,
die Wachstumsschwäche, die Sie erzeugt haben, zu
überwinden, Mehrwertsteuererhöhungen angekündigt
werden und die Mineralölsteuer stetig und auf Dauer
und damit nicht planbar erhöht werden soll - das haben
einige Leute angesprochen -, so ist das Gift für die
Konjunktur, die Sie ohnehin schon in den Keller gefahren haben.
({2})
Kommen Sie nicht damit, das Ganze mit dem Kosovo-Konflikt zu bemänteln. Selbst wenn die Kosten des
Kosovo-Konfliktes in diesem Jahr auf 1,2 Milliarden
DM steigen, ist festzustellen: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer bringt Einnahmen in Höhe von 15 Milliarden
DM pro Prozentpunkt. Wir lassen Ihnen eine Erhöhung
um 15 Milliarden DM wegen der Kosten von 1,2 Milliarden DM im Rahmen der Kosovo-Krise nicht durchgehen. Denn eine solche Erhöhung dient nichts anderem,
als Ihre Haushaltslöcher zu stopfen. Wenn Sie im Sozial- und Steuerbereich eine anständige Politik betreiben
würden, dann würden auf der Einnahmeseite die Steuerquellen wieder so sprudeln, daß die Kosten von 1,2 Milliarden DM überhaupt keine Rolle spielen würden.
({3})
Sie machen aber nicht nur in den letzten Tagen mit
Ihren unverantwortlichen, für die Konjunktur Gift darstellenden Äußerungen eine falsche Politik. Sie machen
schon seit Monaten, seit Anbeginn Ihrer Regierung eine
falsche Politik. Von daher hat der Kosovo-Konflikt - so
bitter das alles ist; ich unterstelle nicht, daß das in Ihrem
Interesse gewesen ist - über Ihre innenpolitische Schwäche, über Ihre Fehler, über Ihr Unvorbereitetsein und
über Ihr Chaos hinweggetäuscht bzw. dies verdeckt. Das
waren die Fakten der letzten Wochen. Sie haben von daher eine Entlastung erhalten.
({4})
Das, was Sie in der Sozialpolitik tun - ob das den
Renten- oder den Gesundheitsbereich bzw. die Rücknahme unserer Reformen betrifft -, ist nichts anderes,
als ein System zu konservieren, das sich in der alten
Bundesrepublik über Jahrzehnte bewährt hat, das aber
angesichts der demographischen Entwicklung und der
Globalisierung in dieser Form nicht mehr zu bewahren
ist. Ein Reparaturbetrieb, für den Sie Zeit schinden
wollen, indem Sie die Anpassung der Renten um ein
bzw. zwei Jahre verschieben, hilft Ihnen nicht über die
eigentliche Klippe. Sie haben vor dem Hintergrund Ihrer
Klientel keinen Mut, die Reform der Sozialsysteme anzupacken.
({5})
Wir haben dies angepackt. Sie haben das rückgängig
gemacht. Sie werden dort landen, wo wir aufgehört haben: eine Formel in das Rentensystem einzubauen, die
mehr oder weniger der unseren entspricht.
({6})
Was die Steuern angeht, sollten Sie sich von Ihrem
Geisterkurs entfernen. Sie verunsichern die Unternehmen, Sie verunsichern die europäischen Partner, und Sie
schaden dem Investitionsstandort Deutschland. Der
schwächelnde Euro ist die Bewertung der Märkte für Ihre Politik der letzten Monate. Nichts anderes ist der Fall.
({7})
Deutschland hat, was die Entwicklung des Außenwertes
des Euro angeht, eine zentrale Bedeutung, das größte
Gewicht und die meiste Verantwortung.
({8})
Der Außenwert ist schwach. Das ist das Ergebnis einer
total verfehlten Politik, die Sie im Steuer- und Sozialbereich gemacht haben, und das Ergebnis der Ihnen konzedierten Unfähigkeit, die Reformen in Deutschland in
die richtige Richtung zu treiben. Deshalb haben wir einen schwachen Euro.
({9})
Deshalb appelliere ich an Sie: Ändern Sie Ihre Steuerpolitik und Ihre Sozialpolitik!
Herr
Rexrodt, kommen Sie bitte zum Schluß.
Ein letzter Gedanke
zur Mineralölsteuer.
Herr
Rexrodt, Sie haben schon eine Minute überzogen. Sie
müssen wirklich zum Schluß kommen.
Lassen Sie diese Art
der Steuererhöhung! Wenden Sie sich einer neuen Politik zu! Dann wird in Deutschland die Arbeitslosigkeit
zurückgehen. Darauf kommt es an.
({0})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang
Grotthaus, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man hier im
Plenum zum erstenmal spricht, dann versucht man, sich
auf solch eine Rede vorzubereiten. Man sucht nach der
Begründung der F.D.P. für die heutige Aktuelle Stunde,
nämlich nach den Forderungen einer Mehrwertsteuererhöhung, die angeblich von SPD-Seite bzw. vom zuständigen Minister erhoben worden sind. Ich muß Ihnen
sagen - die F.D.P. ist ja fast nicht mehr da -:
({0})
Ich habe dazu nichts gefunden. Deshalb wäre es gut,
wenn Sie tatsächlich einmal Roß und Reiter nennen, das
heißt sagen könnten, wer eine Mehrwertsteuererhöhung
gefordert hat. Ich habe nur gehört, daß die ehemalige
Bundesministerin Nolte innerhalb des Wahlkampfes
eine Mehrwertsteuererhöhung gefordert hat, wozu wir
damals schon erklärt haben: Mit uns wird eine solche
Mehrwertsteuererhöhung nicht durchgeführt werden.
Ich habe die Vermutung, daß hier ein Popanz aufgebaut werden soll, um von einer - ich sage dies bewußt
so - erfolgreichen Politik und auch einer erfolgreichen
Steuerpolitik abzulenken.
({1})
- Genau die Reaktion habe ich erwartet. Wir wissen, daß
Ihnen das nicht paßt, Herr Merz. Sie werden sich das
trotzdem anhören müssen.
Ich will auch noch einmal darauf aufmerksam machen, daß wir ohne Ihre Zustimmung eine Nettoentlastung von über 20 Milliarden DM für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihren Familien sowie für
kleinere Unternehmen durch das Steuerentlastungsgesetz beschlossen haben.
Ich will auch daran erinnern, daß wir eine Kindergelderhöhung - das hat mich als Neumitglied in diesem
Hohen Haus sehr betroffen gemacht - ohne Ihre Zustimmung beschlossen haben. Keine 14 Tage später
kommt die Opposition aus den Büschen heraus und fordert zusätzliche Erhöhungen, ohne Gegenfinanzierungsvorschläge zu machen. Das macht dann betroffen. Wenn
man vorher in einem anderen Haus tätig war, fragt man
sich schon, wie glaubwürdig die Politik der CDU/CSU
und der F.D.P. in den letzten Jahren in diesem Haus gewesen ist.
({2})
Ich sage Ihnen mit aller Deutlichkeit: Die Senkung
der Lohnnebenkosten, die Sie oft propagiert haben, ist
von Ihnen in keinster Weise angegangen worden. Ich
will nicht auf die 16 Jahre zurückgreifen, sondern nur
auf die letzten vier Jahre. Sie haben immer die Senkung
der Lohnnebenkosten gefordert, aber erreicht wurde gar
nichts. Wir haben in unserem Wahlprogramm und in unserem Koalitionspapier sehr deutlich gemacht, welchen
Weg wir gehen werden. Diesen Weg haben wir eingehalten. Dieser Weg ist die ökologische Steuerreform, die
wir auch in den nächsten Jahren sukzessive voranbringen werden.
Wir werden ebenfalls - ich gehe davon aus, daß auch
das ohne Ihre Zustimmung geschehen wird - eine Abkehr von dem unter Ihrer Regierung, der Regierung
Kohl, eingeschlagenen Weg in die immer höhere Staatsverschuldung vornehmen, und zwar durch Einsparungen
im Bundeshaushalt und nicht durch Steuererhöhungen.
Daß Ihnen von der F.D.P. und auch von der CDU/CSU
das nicht passen wird, ist uns allen klar. Denn was haben
Sie als Erfolge in den letzten Jahren aufzuweisen? Das
sind höhere Steuern, höhere Sozialversicherungsbeiträge
und immer wieder höhere Schulden, auf die der Kollege
Spiller schon hingewiesen hat.
Meine Damen und Herren, auch das will ich hier betonen: Dafür haben Sie letztendlich die Quittung bekommen. Der Wähler hat Ihnen das am 27. September
und nachfolgend honoriert. Sie werden dies am kommenden Sonntag an unseren Zuwächsen wieder feststellen.
20 Milliarden DM Deckungslücke im Haushalt machen deutlich, wie Ihre Finanzpolitik in den letzten Jahren aussah. Wir werden den Bürgerinnen und Bürgern,
wenn das Einsparpotential vom Finanzminister vorgelegt wird, sehr deutlich machen müssen, weshalb wir
diesen Weg, der dann zu gehen ist, auch gehen werden.
Ich bin der festen Überzeugung, daß die Bürgerinnen
und Bürger diesen Weg mit uns gemeinsam gehen
werden.
Ich sage nochmals: Eine Mehrwertsteuererhöhung
steht nicht an - lassen Sie mich dies stellvertretend für
die SPD-Fraktion erklären -, auch wenn Sie sie herbeireden wollen. Wir werden darauf nicht hereinfallen.
Es ist richtig - das ist Fakt -: Wir wollen noch in dieser Legislaturperiode einen weiteren Schritt bei der
ökologischen Steuerreform machen. Dies ist nichts Neues. Dies haben wir in unserer Koalitionsvereinbarung
gesagt. Das haben die Wählerinnen und Wähler auch
gewußt. Wir haben auch sehr deutlich gemacht, daß wir
den Energieverbrauch maßvoll und unter Sicherung der
Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen belasten
und dafür die Lohnnebenkosten senken wollen. Wir sind
der Auffassung - das zeigt sich auch deutlich bei Gesprächen, die wir in den letzten Tagen mit Industrievertretern getätigt haben -, daß wir damit für die Ökologie
und die Ökonomie Gutes tun.
({3})
Ihre Reaktion zeigt mir sehr deutlich, daß Ihnen das
nicht gefällt. Alle Dinge, die wahr sind, gefallen denen
nicht, die mit der Wahrheit nicht leben können.
({4})
Ihre Vorgehensweise ist mittlerweile auch draußen bei
den Bürgerinnen und Bürgern bekannt. Sie wollen die
Menschen verunsichern. Das wird Ihnen nicht gelingen.
Wir haben deutlich gesagt, was wir machen wollen.
Von diesem Weg werden wir uns nicht abbringen lassen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Herr
Kollege Grotthaus, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede vor dem Deutschen Bundestag.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Dietrich
Austermann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Es gibt keinen Grund, die
Steuern zu erhöhen, aber viele Gründe, die Steuern zu
senken. Darauf ist deutlich hingewiesen worden. Kein
Grund, die Steuern zu erhöhen, ist insbesondere die
Haushaltslage und das, was diese Bundesregierung vorgefunden hat.
Ich muß ein paar Sätze zu den Unwahrheiten sagen,
die die Kollegen Diller und Spiller über die Haushaltssituation 1998 verbreitet haben, um deutlich zu machen,
auf welcher Basis wir heute diskutieren. Zunächst muß
man feststellen: Die letzten fünf Haushalte des Bundes
sind mit einem praktisch konstanten Ausgabevolumen
abgehakt worden. Der erste Haushalt, den Sie und dieser
Finanzminister zu verantworten haben, verzeichnet bei
den Ausgaben eine Steigerung um 30 Milliarden DM.
Zuvor konstante Ausgaben, jetzt Steigerung um 30 Milliarden DM! Jetzt sucht der Finanzminister 30 Milliarden DM, wahrscheinlich um - das ist doch ganz einfach
- die Löcher, die er in diesem Jahr zusammen mit seinen
rotgrünen Freunden verursacht hat, wieder auszugleichen.
Also muß ich da ansetzen, wo das Ausgabegebaren in
die falsche Richtung gedrängt wurde. Dieser Bundeshaushalt, der noch nicht einmal in Kraft getreten ist das Inkrafttreten wird wohl verschoben, damit man die
Investitionen bloß nicht tätigen muß -, ist von einem
Rekordwachstum gekennzeichnet, von einer Ausgabensteigerung von 6,3 Prozent. In dieser Situation davon zu
reden, wir hätten Ihnen marode Verhältnisse und ein
Loch von 20 Milliarden DM hinterlassen, ist natürlich
völlig falsch. Sie können das strukturelle Defizit nicht
beziffern. Sie wissen nicht, wie Sie auf die 20 Milliarden
DM gekommen sind. Und Sie können - das wissen Sie
genau - die Privatisierungserlöse des letzten Jahres in
dieses Jahr herübernehmen. Für Ihre Behauptung gibt es
also überhaupt keinen Grund.
Jetzt sage ich etwas zu dem Kollegen aus Oberhausen, der gerade vor mir gesprochen hat.
({0})
Er hat gesagt, in der SPD rede keiner von Steuererhöhungen. Da Sie ja nun aus Nordrhein-Westfalen kommen, müßten Sie wissen: Die ersten, die nach der Wahl
von Steuererhöhungen geredet haben, waren Steinbrück
und Clement. Beide müßten Ihnen bekannt sein. Daß
beide von Mehrwertsteuererhöhung gesprochen haben,
haben wir nicht erfunden. Zuletzt, am Sonntag, hat auch
Herr Eichel davon gesprochen und das „unter bestimmten Voraussetzungen“ nicht ausschließen wollen. Auch
Herrn Diller habe ich heute nicht so verstanden, daß er
das grundsätzlich ausschließt. Er hat lediglich gesagt: In
diesem Zusammenhang wollen wir das nicht. Aber bis
zum 30. Juni kann sich natürlich der Zwang entwickeln,
diesen Schritt gehen zu müssen, auch wenn man es nicht
will. Manch einer tut ja etwas, was er gar nicht möchte,
weil er es muß. Diesen Eindruck habe ich hier; Sie reden
sich in einen solchen Bedarf hinein.
Auch die Grünen reden dauernd von Steuererhöhungen. Herr Struck hat davon gesprochen, die Mineralölsteuer um 40 Pfennig zu erhöhen. Herr Schmidt, lassen Sie mich einmal vorrechnen, was Ihre Transaktion
beispielsweise für die Rente bedeutet: Im letzten Jahr
hat der Bundeszuschuß zur Rentenversicherung
100 Milliarden DM betragen. In diesem Jahr werden es
auf Grund falscher Entscheidungen von Ihnen 120 Milliarden DM sein. Wenn Sie jetzt die Mineralölsteuer um
40 Pfennig erhöhen - ({1})
- Natürlich, Sie haben die Mineralölsteuer erhöhen müssen, um damit die Senkung der Rentenbeiträge, also der
Lohnnebenkosten, auszugleichen. Das heißt, Sie müssen
die Zuwendungen des Bundes an die Rentenkasse erhöhen. Die nämlich steigen im Gegenzug - auch wenn Sie
um 40 Pfennig erhöhen - auf 151 Milliarden DM. Und
Sie reden hier davon, man gehe mit den Staatsfinanzen
sparsam um!
Das kann man sich doch ausrechnen: Im letzten Jahr
100 Milliarden DM Bundeszuschuß für die Rente, das
nächste Mal - um die Senkung der Lohnnebenkosten
auszugleichen - 151 Milliarden DM! Und gleichzeitig
nehmen Sie den Rentnern noch das Geld aus der Tasche:
im nächsten Jahr 3,5 Milliarden DM, im übernächsten
Jahr 10,5 Milliarden DM. Sie haben den Anspruch verloren, überhaupt von sozialer Gerechtigkeit reden zu
können. Mit Ihren Entscheidungen, die Sie in den letzten
acht Monaten getroffen haben - mit denen Sie doch gerade die kleinen Leute treffen: Mineralölsteuererhöhung,
Ökosteuer usw. -, haben Sie den Anspruch verloren, von
sozialer Gerechtigkeit zu reden, die Sie mit Ihrer Politik
angeblich erhöhen wollten. Gleichzeitig reden Sie pausenlos von der Notwendigkeit, irgendeine Steuer zu erhöhen, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu
können. Sie müssen sich schon einigen auf das, was Sie
hier vortragen wollen.
Es heißt immer, die Steuern in Deutschland seien ja
gar nicht so hoch. Richtig ist, daß die Steuerquote in der
Zeit, in der wir an der Regierung waren, gesunken ist.
Richtig ist, daß sie in den ersten acht Monaten Ihrer Regierung wieder gestiegen ist.
Tatsache ist also nach den ersten acht Monaten: Sie
machen offensichtlich eine Politik, die die Steuerlastquote in die Höhe treibt. Und was das Schlimme ist deswegen ist das Ganze ja für die Bürger so belastend
und besonders bemerkenswert -: Mit dieser falschen
Politik werden Investitionen gedrosselt. Es werden keine
zusätzlichen Arbeitsplätze geschaffen. Die Zahl der
Leute, die in Deutschland Arbeit haben, wird am Ende
des Jahres kleiner sein als zu Beginn des Jahres. Das ist
das eigentlich Fatale an Ihrer Politik.
Deswegen müssen Sie heute, spätestens aber in der
nächsten Sitzungswoche - damit, wie der Kollege Merz
gesagt hat, wir vor der Sommerpause darüber diskutieren können - ganz klar sagen, welche Absicht bezüglich
zusätzlicher Belastung von Bürgern und Industrie Sie
verfolgen. Das muß auf den Tisch, darüber muß diskutiert werden. Ich hoffe, es kommt dann möglichst bald
wieder vom Tisch. Dieses Land verträgt nämlich alles,
bloß keine zusätzlichen Steuererhöhungen.
({2})
Den letzten Satz möchte ich sagen, damit sich nichts
Falsches in den Köpfen festsetzt. Wir haben angeblich
nichts für die Familien getan. Wir haben das Kindergeld
in den letzten drei Jahren vor dem Regierungswechsel
zweimal erhöht. Als wir die Regierung übernommen haben, betrug das Kindergeld für das erste Kind 50 DM,
als wir aufhörten, lag es bei 220 DM. Die Familienleistungen im Jahre 1982 lagen bei 25 Milliarden DM, im
letzten Jahr bei 75 Milliarden DM. Sie können doch hier
nicht den Eindruck vermitteln, als hätten wir in den
letzten Jahren nicht eine ganz bewußt auf sozialen Ausgleich bezogene Politik betrieben. Darin wird uns keiner
überholen.
Politik, die von Sozialpolitik redet, aber unter dem
Strich den kleinen Leuten, den Rentnern, den Schwachen, den Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängern das
Geld aus der Tasche zieht, das paßt hinten und vorne
nicht zusammen. Deswegen sage ich: Wir lehnen diese
investitionsfeindliche Politik der ständigen Steuererhöhungen ab.
({3})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Lydia Westrich von
der SPD das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Austermann, so einfach kann
man die Verantwortung für 16 Jahre verfehlte Politik
nicht wegschieben. Das geht auch hier im Hohen Hause
nicht.
Zum Kindergeld. Sie waren nicht im Finanzausschuß,
Sie können nicht beurteilen, wie viele Kämpfe wir mit
Ihrem leider verstorbenen Kollegen Dr. Fell ausgefochten haben, damit eine gleichmäßige Erhöhung des Kindergeldes überhaupt hat stattfinden können. Im übrigen
vergessen Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das Ihnen ja ins Stammbuch geschrieben hat, daß
Sie wieder einmal die Familien viel zu hoch belastet haben.
({0})
Sie sind durch das Bundesverfassungsgericht gezwungen worden, das Kindergeld anzuheben. Sie haben es bis
auf den letzten Moment hinausgeschoben und es erst zu
dem Zeitpunkt angehoben, den das Bundesverfassungsgericht als spätesten Termin vorgeschrieben hat. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht jetzt gesagt, wenn
es dieses Jahr nicht passiert, dann wird es so geschehen,
wie wir es vorgeschrieben haben. Das haben Sie verschuldet.
Sie täten als Opposition wirklich gut daran, wenn Sie
zum Beispiel den Rat des Präsidenten des Bundes der
Steuerzahler annehmen würden, der gesagt hat: Die Opposition wäre jetzt gut beraten, wenn sie den Bundesfinanzminister bei seinen Plänen nicht behindern würde.
Er spricht in seinen beschwörenden Warnungen von den
Folgen der zunehmenden Staatsverschuldung und bedauert, daß sie erst jetzt unter der rotgrünen Bundesregierung als Bedrohung der öffentlichen Haushalte überhaupt wahrgenommen wird.
Was haben Sie auf der rechten Seite immer gelästert,
wenn Ingrid Matthäus-Maier zum Beispiel die Zinslast
des Staates vorgerechnet hat. Sie haben nicht nur gelästert, Sie haben mit dieser Schuldenpolitik einfach weitergemacht. Die Steuererhöhungen waren zahlreich.
Herr Diller hat sie ja aufgezählt. Sie geschahen mit Ihrer
Zustimmung. Der Erfolg war gleich null bezüglich des
Schuldenstandes; ganz im Gegenteil.
In 16 Jahren haben Sie es geschafft, daß trotz deutlich
wachsendem Bruttosozialprodukt die Steuereinnahmen
stagniert haben, ja zurückgegangen sind. Sie haben es
weiterhin geschafft, daß viele Gewinne in Niedrigsteuergebiete der ganzen Welt verlagert worden sind und
daß Arbeitnehmer bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit
geschröpft wurden.
Sie haben mit Ihrer Politik zugelassen, daß Steuerzahler mit komfortablen finanziellen Spielräumen ihre
Steuerschuld durch Verlustzuweisungen und Sonderabschreibungen mindern konnten.
({1})
Sie haben auch nichts gegen Schattenwirtschaft und
Steuerkriminalität unternommen. In diesem Zusammenhang denke ich an die Diskussion über § 30 a der Abgabenordnung.
Wir haben schon in den ersten Monaten erste Maßnahmen probiert; sie wirken.
({2})
- Ich muß Ihnen sagen, daß wir nicht in drei Monaten
die Auswirkungen einer über 16 Jahre verfehlten Politik
ändern können. Das ist zuviel der Ehre. Aber letztendlich werden wir es schaffen.
({3})
- Es ist richtig, wir haben schon sehr viel Vernünftiges
geschaffen.
Wir haben im Wahlkampf soziale Gerechtigkeit versprochen. Die Steuergerechtigkeit gehört untrennbar dazu. Sie können sicher sein, daß wir unsere Versprechen
halten. Steuerpolitik unter einer rotgrünen Bundesregierung heißt, keine Steuererhöhungen mehr für die Masse
der Steuerzahler, wie das bisher unter der alten Regierung der Fall war. Deshalb sind Ihre Versuche, uns
Steuererhöhungen einzureden, völlig sinnlos.
({4})
Zu Ihrer Steuerpolitik gehörte - wie die Luft zum
Atmen -, irgendwelche Steuern zu erhöhen, wenn die
geringsten Probleme anstanden. Dieses Vorgehen können Sie uns nicht unterschieben. Wir entdecken eine
neue Tugend - nein, eine alte Tugend neu -, die normalerweise den konservativen Kräften zugeschrieben wird,
nämlich das Sparen. Ich empfehle Ihnen als Opposition,
ausnahmsweise den Rat des Präsidenten des Bundes der
Steuerzahler ernst zu nehmen. Behindern Sie die Arbeit
des Bundesfinanzministers in dieser Hinsicht nicht! Helfen Sie lieber mit! Reden Sie mit den Handwerksmeistern!
Erst gestern sagte mir ein Dachdecker, daß seit Jahren
die Lohnnebenkosten das erste Mal gesunken sind. Die
Schuhfabriken in meinem Wahlkreis Pirmasens, die einen Lohnkostenanteil von mehr als 30 Prozent haben,
warten schon auf die nächste Senkung der Lohnnebenkosten. Die Unternehmer sagen, daß wir damit konkurrenzfähig bleiben. Wenn Sie nicht mit Verbandsfunktionären, sondern mit den Menschen vor Ort reden - das ist
notwendig -, dann sehen Sie unsere Politik in einem
ganz anderen Licht.
({5})
Die Menschen, die Sie belastet haben, haben jetzt
mehr Geld in den Lohntüten, Herr Rauen. Das soll natürlich so bleiben. Sie können noch so viele Aktuelle
Stunden beantragen: Wir schaffen eine soziale Steuergerechtigkeit, wie sie im Buche steht.
Vielen Dank.
({6})
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus Lippold von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Diller, so einfach kann man es sich nicht machen, indem man von einer sozial gerechten Politik nur
spricht. Vor der Wahl haben Sie unsere Einführung einer
demographischen Komponente in die Rentenpolitik
verteufelt. Sie haben den Rentnern gesagt, daß damit das
Niveau unverschämt abgesenkt würde und daß wir sie
plündern würden. Jetzt auf einmal diskutieren Sie über
die demographische Komponente und die Aussetzung
der Anhebung der Renten. Das ist doch zynisch und eine
klassische Rentenlüge: vor der Wahl auf der Koalition
herumzuhauen und nach der Wahl Maßnahmen einzuleiten, die größere Auswirkungen haben als die, die wir
damals auf Grund unserer Verantwortung gegenüber der
jüngeren Generation durchführen mußten.
Herr Diller, Sie sprachen in diesem Zusammenhang
von „wirtschaftlich vernünftig“. Schauen Sie sich doch
einmal die Zahlen über die Investitionen aus anderen
Ländern am Standort Deutschland an! Mini-EuroLänder hängen uns hinsichtlich der Investitionszahlen
ab. Mit dem Ausgangspunkt unserer Reformen hatten
wir es in den letzten Jahren geschafft, diesen fatalen
Trend zu brechen und erstmals wieder steigende Auslandsinvestitionen in Deutschland herbeizuführen. Sie
haben den grandiosen Erfolg geerbt. Frau Kollegin, Sie
haben richtigerweise gesagt, daß Sie in drei Monaten
viel verändert haben. Sie haben nämlich den positiven
Trend umgekehrt. Jetzt geht es mit den Investitionen
nach unten, und die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze
ist gefährdet.
({0})
Herr Kollege Grotthaus, Sie müssen noch lernen, sehr
aufmerksam zuzuhören. Herr Diller hat in seinen Formulierungen eine Mehrwertsteuererhöhung nicht ausgeschlossen. Wer über Jahre hinweg seine Formulierungen
verfolgt, weiß ganz genau, was sie bedeuten. Er hat die
Erhöhung der Mehrwertsteuer definitiv nicht ausgeschlossen. Das ist doch das Problem: Sie tasten sich
durch solche Diskussionen daran heran, um hinterher
sagen zu können, Sie hätten es machen müssen.
Man muß Ihre Steuerdiskussion einmal werten. Ich
tue das.
„Ich bin entgeistert über diese Diskussion.“ Das sage
nicht ich, das sagt Herr Clement. Da wird der Verzicht
auf die zweite Stufe der Ökosteuerreform gefordert. Das
sage nicht ich, das sagt Herr Clement. Und, Herr Diller,
gerade in bezug auf Investitionen am Standort Deutschland: „Der nationale Alleingang überfordert energieintensive Industrien“. Gemeint ist: in der Bundesrepublik
Deutschland. Auch das sage nicht ich, das sagt Herr
Clement. Ist der Mann eigentlich so völlig unfähig, oder
gehört er zur Opposition? Sie müssen doch langsam anfangen, sich ernsthaft Fragen zu stellen.
Dann heißt es: „nicht unentwegt Schnellschüsse!“ Ich
will Sie trösten: Das sagt nicht der Kollege Clement, das
sagt die Kollegin Simonis, ihres Zeichens Ministerpräsidentin in Schleswig-Holstein.
({1})
- Noch.
Dann gibt es jemanden, der zu dem Ganzen sagt:
„Das ist völlig unvernünftig.“ Das ist der Ministerpräsident von Niedersachsen, Herr Glogowski.
Sie können uns doch jetzt nicht einreden, das sei - bei
Herrn Loske fiel dieses böse Wort - schlicht und ergreifend Polemik. Es sind Sozialdemokraten, die das gesagt
haben, und sie haben recht. Im übrigen sagt es auch Ihr
Kollege Metzger so.
Sehen wir uns die Ökosteuerdiskussion an! Erst hieß
es: nur europäisch. Machen wir uns nichts vor: Dieses
Wort haben Sie längst gebrochen. Jetzt ist nichts mehr
mit „nur europäisch“.
Bedenken wir, was Sie im ersten Durchgang gemacht
haben! Sie haben regenerative Energien belastet. Das ist
doch wohl nicht ökologisch. Herr Loske; darüber sind
wir uns doch einig.
Ich meine, es ist durchaus kennzeichnend, daß in dieser Diskussion derjenige auf seiten der SPD-Fraktion,
der sich in Sachen Ökologie etwas auskennt, der Kollege
von Weizsäcker, nicht dabei ist, obgleich er in den Deutschen Bundestag kam, weil er gerade an dieser Stelle
ansetzen wollte. Aber ich kann es verstehen. Diese Form
von Unvernunft muß einem doch weh tun.
Herr Kollege Loske, Sie haben gesagt: „in stetigen,
kleinen Schritten.“ Da erinnere ich kurz an den Kollegen
Struck, der kein anderer ist als der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion. Wenn 40 Pfennig für Sie,
Herr Loske, stetige, kleine Schritte sind, dann verstehe
ich die Welt nicht mehr. Aber die Mineralölsteueranhebung müssen Sie in der Koalition unter sich ausmachen.
Herr Poß, machen Sie sich doch nichts vor! Sie hat es
doch genauso geärgert, mit wieviel Unvernunft Ihr
Fraktionsvorsitzender in diese Diskussion gegangen ist.
Sie haben ihn doch aus den eigenen Reihen kräftig niedergemacht.
({2})
- Sie brauchen gar nicht den Kopf zu schütteln. So ist
das.
Das heißt also: Sie kassieren ab. Ein Konzept ist nicht
zu erkennen.
Herr Kollege Loske, Sie waren selten so wortlos wie
heute. Sie haben gut drei Viertel Ihrer Redezeit auf den
Kosovo verwandt, auf Polemik, auf Fragen der Familienpolitik und, und, und. Nur auf die ökologische Komponente ist der ökologische Sprecher der Grünen erstaunlicherweise fast überhaupt nicht eingegangen.
({3})
- Nein, Sie wissen, ich höre Ihnen immer zu. - Vier,
fünf magere Sätze haben Sie darauf verwandt. Ich sage
ganz deutlich: Das ist zuwenig.
Das kann nicht anders sein, weil Sie selbst um die
Schwächen Ihres eigenen Konzepts wissen. Sie selbst
wissen, daß diese Diskussion schädlich ist, unter ökologischen Aspekten genauso wie für den Standort
Deutschland. Deshalb wäre es bestens, wenn diese unvernünftigen Pläne schnellstens vom Tisch kämen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Als
letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der Kollege Reinhard Schultz von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir
müssen uns darauf einstellen, daß bis zu den nächsten
Bundestagswahlen in einem gewissen Rhythmus zweimonatlich - ein Gespenst von Ihnen hervorgeholt
wird: die Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Kein Mensch hat aus der SPD, aus der Regierung, aus
der Koalition, soweit es um den Bund geht, in den letzten Wochen und Monaten dieses Wort überhaupt in den
Mund genommen. Daß Sie Diskussionsbeiträge vom
November letzten Jahres aus den Ländern zum Anlaß
nehmen, heute eine Aktuelle Stunde zu beantragen - Sie
zitierten Herrn Clement, der sich in einer völlig anderen
Situation geäußert hat -, zeigt, was eigentlich die Absicht ist: Mangels anderer denkbarer Wahlkampfaktivitäten nimmt die F.D.P., die Schwierigkeiten hat, noch
den einen oder anderen Bürger auf dem Marktplatz zu
treffen, hier eine kleine Ersatzhandlung vor, um alle anderen davon abzuhalten, sich erfolgreich auf die Europawahl einzustellen. Das ist der Sinn der Übung.
Ich sage es noch einmal und unterstreiche es ausdrücklich: Im Mittelpunkt der Bemühungen um die
Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wird ein
Sparprogramm stehen, das sozial gerecht und nachhaltig
ist und sicherstellt, daß wir nach einer überschaubaren
Zeit wieder Grund unter den Füßen haben werden. Für
diese Konsolidierung wird es keine zusätzliche Steuereinnahme geben.
Wir haben in der Wahl angekündigt und in den Koalitionsvertrag aufgenommen: Wir wollen, festgemacht
am Leitparameter Energie, stetig die Belastung der
Umwelt verteuern. Das tun wir über die Ökosteuer.
Gleichzeitig wollen wir die Mehreinnahmen komplett
zur Entlastung des Faktors Arbeit zurückgeben. Dabei
bleibt es auch. Über die Ökosteuer wird es keinerlei
Haushaltsfinanzierung anderer Art oder weitere vorstellbare Aktivitäten geben. Statt dessen wird jede Mark, die
wir über die Ökosteuer einnehmen, in die Senkung der
Lohnnebenkosten gesteckt. Bei dieser Aussage bleibt es.
({0})
Jetzt reden wir darüber - das ist offensichtlich -, in
welchen Schritten und mit welchem Tempo man das
macht. Das Ziel ist klar: Wir wollen die Lohnnebenkostensenkung um 2,4 Prozent in dieser Wahlperiode erreichen. Daraus errechnet die interessierte Presse, wieviel Volumen man auf die verschiedenen Energieträger
verlagern muß. So kommen bestimmte Größenordnungen zustande, wie zum Beispiel auch die 40 Pfennig von
Herrn Struck.
Herr Struck hat nichts anderes gesagt als das, was ich
noch einmal klarstellen will. Wir werden in einem Gesetz alle weiteren Stufen der Ökosteuer festlegen. Ob es
zwei Stufen werden, wie es in der Koalitionsvereinbarung steht, oder drei, oder ob wir über das Jahr 2002
hinausgehen, was viele von uns für sinnvoll halten, wird
sich zeigen. All das mündet in ein Gesamtpaket, das die
Unternehmensteuer, den Familienlastenausgleich und
die Ökosteuer beinhaltet, so daß jeder Bürger sehen
kann, wo es mehr Be- und wo es mehr Entlastungen
Dr. Klaus W. Lippold ({1})
gibt. Unterm Strich gesehen wird es mehr Entlastungen
geben.
Herr Brüderle hat gesagt, wir hätten einen Kanzler
der Bosse. Wenn die SPD mit Gerhard Schröder sowohl
den großen Versicherungsunternehmen als auch den
Energieversorgungsunternehmen - inzwischen ist der
Konsens hergestellt - 16 Milliarden DM, die sie an der
Steuer vorbeigeführt haben, aus den Rippen leiert, kann
man das nicht gerade als Streicheleinheit für die Großkonzerne bezeichnen.
Es war völlig richtig, daß wir das gemacht haben,
weil wir dieses Geld brauchen, um an anderer Stelle
wieder Gerechtigkeit herzustellen. Der Mittelstand ist
entlastet worden, und er wird auch in der Unternehmensteuerreform weiter entlastet werden.
Ich weiß auch nicht, warum Sie so hetzen. Wenn die
Unternehmensteuerreformkommission und alle Verbände sagen, wir sollten lieber sorgfältig herangehen, als irgendwelche Experimente zu machen, die später teilweise wieder korrigiert werden müssen, weil man sich vorher nicht im einzelnen darüber im klaren war, wie welche Änderung im Körperschaftsteuerrecht, im Einkommensteuerrecht oder im Gewerbesteuerrecht tatsächlich
wirkt, dann sage ich, es ist besser, die Reform für die
rechtsformgebundenen Gesellschaften und die Personengesellschaften erst im Jahre 2001 umzusetzen, und
zwar richtig, ordentlich und überschaubar, nach einer
guten Vorbereitung durch Planspiele und mit einer deutlichen Entlastung der tatsächlichen Steuerbelastung
durch Änderung der Steuersätze, statt irgendwelche
Fummeleien vorzunehmen, die nur vorgaukeln, man
hätte damit wirtschaftspolitisch eine Glanztat vollbracht.
Wir werden sorgfältig arbeiten. Wir werden unser
Programm Schritt für Schritt abarbeiten, und daran werden Sie uns nicht hindern, auch wenn wir uns darauf
einstellen müssen, alle zwei Monate zur Mehrwertsteuer
eine Aktuelle Stunde erleben zu dürfen. Das geht zwar
von unserer Lebenszeit ab, bringt uns aber nicht um.
({2})
Vielen Dank.
({3})
Die
Aktuelle Stunde ist damit beendet. Wir sind am Schluß
unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste ordentliche Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 16. Juni 1999,
12 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.