Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen. Die Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
zunächst der Kollegin Ulrike Mascher, dem Kollegen
Wolfgang Behrendt und dem Kollegen Werner Lensing, die im Oktober jeweils ihren 60. Geburtstag feierten, nachträglich die besten Grüße und Wünsche des
Hauses aussprechen.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste
vorliegenden Punkte zu erweitern:
ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Dietmar Bartsch,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS:
Ansiedlung einer Airbus-Fertigungsstätte in
Mecklenburg-Vorpommern
- Drucksache 14/25 ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Pau, Ulla Jelpke, Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS:
Abschaffung des Flughafenverfahrens ({1})
- Drucksache 14/26 ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS:
Besteuerung von Luxusgegenständen
- Drucksache 14/27 Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 5 a bis
5 c und 8 abgesetzt werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren
wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 und 4 auf:
3. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P.
und PDS
Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen
- Drucksache 14/21 4. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P.
und PDS
Einsetzung von Ausschüssen
- Drucksache 14/22 Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Ich bitte diejenigen, die dem interfraktionellen Antrag
zur Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der
Stellenanteile der Fraktionen auf Drucksache 14/21 zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig
angenommen.
Abstimmung über den interfraktionellen Antrag zur
Einsetzung von Ausschüssen auf Drucksache 14/22.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Fortsetzung der Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Aussprache bis 14 Uhr dauern. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Wir kommen zunächst zum Themenbereich Arbeit
und Soziales. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat
der Kollege Dr. Hermann Kues.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Riester,
ich wünsche Ihnen bei Ihrer Arbeit eine glückliche Hand
im Interesse der Menschen und im Interesse der Sache.
Ich glaube, die Menschen bei uns im Lande haben zu
Recht einen Anspruch darauf, daß wir als Opposition Ihre Politik nicht nur deshalb kritisieren, weil sie von Ihnen kommt. Genauso wird von uns erwartet, daß wir
nicht sagen, etwas sei nur deshalb richtig, weil es von
uns kommt.
Der Bundeskanzler hat gestern in der Regierungserklärung einen relativ eindeutigen Maßstab genannt: Dienen die vorgesehenen Regelungen dazu, das Hauptziel
zu erreichen, nämlich die Arbeitslosigkeit abzubauen?
Diese Frage ist für uns die Meßlatte; daran werden wir
festhalten.
({0})
Ich sage Ihnen ganz offen: Was ich bislang von Ihnen
und von anderen Vertretern der Regierung gehört habe,
erweckt bei mir den Eindruck, daß Sie sich einerseits um
klare Aussagen drücken und daß Sie andererseits in den
Punkten, in denen Sie konkret werden, in die falsche
Richtung laufen. Wer an einer wichtigen Weggabelung
in die falsche Richtung läuft, der gerät nach meiner
Überzeugung auf den Holzweg. Alle Maßnahmen muß
man danach bewerten, ob sie dem Ziel dienen, mehr
Menschen in Beschäftigung zu bringen, und ob sie für
diejenigen gedacht sind, die am Rande stehen und keine
Möglichkeiten haben, ihre Fähigkeiten in den Wirtschafts- und Arbeitsprozeß einzubringen.
Soziale Leistungen haben immer auch eine finanzielle
Seite. Sie müssen nämlich bezahlt werden. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben nichts davon,
wenn ihnen mit der einen Hand etwas gegeben wird,
was ihnen mit der anderen Hand wieder genommen
wird.
Ich will das am Beispiel der Rentendiskussion ein
wenig konkretisieren. Es hört sich ja gut an, wenn Sie
sagen: Arbeitnehmer können ab 60 Jahre in Rente gehen, die Altersbezüge steigen kräftig, finanzielle Abzüge
gibt es nicht, es werden Arbeitsplätze für Jugendliche
freigemacht. Nur: Wer bezahlt eigentlich die Realisierung dieser Versprechen?
({1})
Die Rede ist von Tariffonds. Wenn Sie genauer hinsehen, werden Sie feststellen - das sagen auch die Gewerkschaften -, daß mindestens zweistellige Milliardenbeträge notwendig sind. Belastet werden die aktiven Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Betriebe.
Das heißt, mögliche Lohnerhöhungen fallen geringer
aus.
Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. Wenn
ein Facharbeiter 5 000 DM brutto verdient und eine
Lohnerhöhung von 4 Prozent in Aussicht steht - das wäre ja ein Wort -, bekäme er 200 DM mehr. Wenn Sie
jetzt sagen, 1 Prozent dieser Lohnerhöhung - das steht ja
zur Diskussion - solle in den sogenannten Tariffonds
eingezahlt werden, würden ihm von diesen 200 DM
wieder 50 DM abgezogen. Jetzt werden Sie sagen: Aber
wenn er zwei Kinder hat, bekommt er ja eine Kindergelderhöhung. Diese Kindergelderhöhung - das gebe ich
zu - wären immerhin 60 DM. Dann hätte er also 10 DM
mehr.
Das müssen Sie aber zusammenführen mit der Diskussion um die Ökosteuer. Alles, was ich gehört und
gelesen habe, läuft darauf hinaus, daß die Kindergelderhöhung um 60 DM durch die Einführung der Ökosteuer - er bezahlt mehr für Benzin, bezahlt mehr für
Gas usw. - überkompensiert wird. Das heißt: Auf der
einen Seite geben Sie ihm 60 DM mehr, auf der anderen
ziehen Sie ihm 50 DM ab und dann noch einmal 60 DM.
Für den Arbeitnehmer wird das also nicht nur ein Nullsummenspiel, sondern er bezahlt im Endeffekt drauf.
Das ist nach meiner festen Überzeugung sozial ungerecht.
({2})
Ich glaube, daß Sie zu sehr aus der Sicht derer denken, die sich beim System befinden, nicht aus der Sicht
derer, die außerhalb stehen, die in den Arbeitsmarkt
hinein wollen.
({3})
Was Sie vorhaben, ist eine grobe Ungerechtigkeit im
Bereich der Rente, beim Verteilen der Lasten zwischen
den Generationen.
Sie werden auch den Herausforderungen des demographischen Wandels nicht gerecht. Denn es ist doch
unbestritten, daß auf Grund der Veränderung des Altersaufbaus immer mehr Junge für immer mehr Alte aufkommen müssen.
Und was das große Problem ist: Sie schieben grundlegende Entscheidungen vor sich her. Sie sagen, etwa im
Rentenbereich, nicht, wir ändern den bisherigen Ansatz,
sondern Sie setzen die Rentenreform lediglich aus. Sie
können im Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute
nachlesen und auch von anderen Fachleuten, etwa Bert
Rürup, dem Finanzwissenschaftler, SPD-Mitglied, hören, daß die Einschnitte um so massiver und problematischer werden, je später Sie die Entscheidungen fällen.
({4})
Was Sie tun, ist dies: Sie kaufen sich Zeit. Sie tragen
nicht Verantwortung für die Zukunft. Das ist keine
nachhaltige Politik. Das ist kurzfristige Politik, die auf
Beifall setzt und nicht auf wichtige Entscheidungen. Das
kritisieren wir.
({5})
Sie bringen immer das Argument, das müsse aus
Steuern finanziert werden, es müsse einen Zuschuß aus
dem Bundeshaushalt geben. Dazu muß man darauf
hinweisen: Jede vierte Mark des Bundeshaushalts fließt
bereits heute in den Rententopf. Nach der letzten Erhöhung des Bundeszuschusses gehen auch Fachleute davon aus, daß im Grunde genommen nicht mehr von versicherungsfremden Leistungen aus der Rentenkasse gesprochen werden kann, weil derartige Leistungen, für
Kriegsopfer beispielsweise, immer mehr abgebaut werden, so daß auch dort für Sie im Grunde keine Möglichkeit mehr gegeben ist.
Sie weisen darauf hin, wie Sie an die geringfügigen
Beschäftigungsverhältnisse herangehen. Auch da habe
ich den Verdacht, daß es Ihnen nicht in erster Linie darum geht, diese Arbeitsverhältnisse zurückzudrängen,
sondern daß Sie dort offensichtlich Geld für die Sozialkassen suchen, das Sie anderweitig leichtfertig ausgeben.
({6})
Es ist im übrigen ein absolutes Novum, daß Versicherungsbeiträge erhoben werden sollen, hinter denen keine
Leistungen stehen. Dazu paßt am besten die Feststellung: Sie wollen abkassieren.
({7})
In der Rentenversicherung werden mit Minibeiträgen
volle Ansprüche geschaffen, gleichzeitig aber nur minimale Rentenansprüche aufgebaut. Das geht in die falsche Richtung.
Ich will noch einmal auf den Kern zurückkommen.
Das Entscheidende ist doch, daß wir nicht fragen dürfen:
„Was sind wohlklingende Maßnahmen?“, sondern daß
wir fragen müssen: „Welche Maßnahmen sind hilfreich
für die Belebung der Wirtschaft sowie für die Sicherung
und Schaffung von neuen Arbeitsplätzen?“. Denn dieses
Hauptziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.
Wir haben Gott sei Dank seit Oktober dieses Jahres
einen beachtlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit zu
verzeichnen. Die Zahl der Arbeitslosen war in diesem
Oktober im Vergleich zum Oktober 1997 um 400 000
niedriger. Wenn man die Zahl der Erwerbstätigen ansieht, so ist das Ergebnis noch interessanter: Von 1983
bis 1990 haben wir einen Anstieg der Zahl der Beschäftigten um 3 Millionen gehabt. 1990 sind wir erstmals
wieder bei über 34 Millionen Beschäftigten.
Das heißt also, der konjunkturelle Aufschwung, für
den wir verschiedene Maßnahmen ergriffen hatten, ist
mittlerweile auch beim Spätindikator Arbeitsmarkt angelangt und hat dort kräftige Spuren hinterlassen. Es bestreitet heute keiner mehr, daß es zur Sicherung und
Schaffung von Arbeitsplätzen strukturelle Verbesserungen unserer Wirtschaft gibt. Das alles kommt nicht von
ungefähr, sondern hat etwas damit zu tun, daß wir den
Mut gehabt haben, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen,
den Arbeitsmarkt nachhaltig zu regeln und die sozialen
Sicherungssysteme zukunftssicher zu machen.
({8})
Bei uns hat es dafür - ich wiederhole das - einen einzigen Grund gegeben, nämlich, einen Beitrag zum Abbau
der größten Ungerechtigkeit zu leisten: daß Menschen
keine Teilhabe am Wirtschafts- und Arbeitsprozeß gewährt wird.
Wenn Sie nun versuchen, das Rad zurückzudrehen,
um zwei oder drei besonders werbewirksame Wahlversprechen einzuhalten, dann ist das nicht nur in hohem
Maße unsozial, sondern auch ungerecht und geht auf die
Knochen derjenigen, die keine Arbeit haben und außen
vor sind.
({9})
Herr Arbeits- und Sozialminister, wenn Sie mutig wären, dann würden Sie sich an den Niederlanden ein Beispiel nehmen. Ich wohne an der niederländischen Grenze, beobachte die Maßnahmen in den Niederlanden sehr
intensiv und habe sie für mich ausgewertet. Dort hat
man Anfang der 80er Jahre zwischen der Regierung und
den Tarifparteien ein Bündnis für Arbeit geschmiedet.
({10})
Das hat positive Wirkungen auch auf dem Arbeitsmarkt
entfaltet, und zwar dadurch, daß all das auf den Tisch
gekommen ist, was zu mehr Beschäftigung führen kann.
Ich nenne Ihnen die Punkte: Das erste waren und sind
verantwortungsvolle Lohnabschlüsse, das zweite Sparbemühungen der öffentlichen Haushalte - davon sind
Sie weit entfernt -,
({11})
das dritte Veränderungen im sozialen Sicherungsnetz,
das vierte eine weitgehende Deregulierung und das
fünfte - angesichts dieses Punktes merken Sie, daß Sie
von diesen Maßnahmen weit entfernt sind und die falschen Signale setzen - eine Senkung der Steuer- und
Abgabenlast.
Das ist das Konzept der Niederlande. Wenn Sie mit
diesem Konzept antreten würden, hätten wir vor Ihnen
Respekt und würden uns damit entsprechend auseinandersetzen.
({12})
Daß wir auf dem Arbeitsmarkt eine Trendwende haben, bestreitet im Moment eigentlich niemand mehr.
Diese Trendwende droht allerdings an einer Gruppe
vorbeizugehen: den Langzeitarbeitslosen. Hierzu habe
ich, Herr Minister Riester, etwas Interessantes in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gelesen. Es war
zwar etwas versteckt in deren „Magazin“ vom 6. November 1998, aber ich habe es gelesen. Man kann dort
nachlesen, welchen Stellenwert Rotgrün dem Problem
beimißt, daß an etwa 1 bis 2 Millionen Menschen die
Trendwende am Arbeitsmarkt vorbeizugehen droht. Da
haben Sie die Katze aus dem Sack gelassen. Da haben
Sie auf die Frage „Was wollen Sie mit denen machen,
die nicht qualifizierbar sind?“ geantwortet:
Ich konzentriere mich lieber auf die vielen Menschen, die man qualifizieren kann, als auf die wenigen, bei denen alle Bemühungen fruchtlos bleiben.
({13})
Ich sage ausdrücklich: Unsozialer kann man diese
Menschen nun wirklich nicht fallenlassen.
({14})
Sie haben dies gerechtfertigt mit den Worten - ich
habe das Interview dabei, Sie können es gleich nachlesen -:
Aber gut. Wie viele mögen es sein? Vielleicht fünf
Prozent der Erwerbsbevölkerung. Ich habe ja gesagt: Wir haben 34 Millionen Erwerbstätige in
Deutschland. Wissen Sie eigentlich, wie viele Einzelschicksale diese 5 Prozent sind,
({15})
die Sie mit solchen Worten locker ins Abseits schieben?
({16})
Ihr Parlamentarischer Staatssekretär Herr Andres hat
in der „NOZ“ vom 30. Oktober ebenso - denn darum
geht es ja auch bei dieser Gruppe - Beschäftigungsmöglichkeiten im Niedriglohnbereich geleugnet. Es gibt 1
bis 2 Millionen Menschen, die kaum in der Lage sind,
am Markt ein Einkommen zu erwirtschaften, von dem
sie und ihre Familien leben können. Deswegen muß man
über solche Dinge wie Kombilohn - oder wie immer
man das nennt - nachdenken, weil nur solche Instrumente auf die Schwächsten der Schwachen am Arbeitsmarkt zugeschnitten sind.
({17})
Ich könnte das mit weiteren Zitaten belegen. Ich finde, diese Denkweise ist technokratisch. Sie ist für mich
erschreckend. Ich mache mir um die Starken nicht allzu
große Sorgen - deren Arbeitslosigkeit geht in überschaubaren Zeiträumen zu Ende. Den Langzeitarbeitslosen fehlt es meistens auch nicht in erster Linie an der
materiellen Ausstattung.
Ich sage aber auch: Es ist zuwenig - das ist vielleicht
ein typisches Phänomen des Wohlfahrtsstaates -, Langzeitarbeitslosen lediglich Geld zu geben. Vielmehr müssen wir uns einfallen lassen, wie wir Langzeitarbeitslosen wieder eine Lebensperspektive geben, wie wir sie
wieder teilhaben lassen können, so daß sie ihre Qualifikation und ihre Fähigkeiten wieder einbringen können.
Darum kümmern Sie sich überhaupt nicht.
({18})
Das ist eine Frage des Grundansatzes. Hier geht es
um die Verwirklichung von Beteiligungsgerechtigkeit
- nicht Verteilungsgerechtigkeit, sondern Beteiligungsgerechtigkeit -, die sich von der Würde des Menschen
herleitet. Es geht darum, die Menschen einzubeziehen.
In diesem Sinne kann man auch sagen: Wenn man das
Ziel hat, dies zu verwirklichen, und Veränderungen vornimmt, dann können Veränderungssperren, wie Sie sie
aufbauen, durchaus auch unmoralisch sein.
Ich habe nie verstanden, daß ein durchschnittlicher
Arbeitslosenhilfebezieher mit 27 Jahren bei uns
1 250 DM an Arbeitslosenhilfe erhält. Der Staat wendet
1 850 DM dafür auf, daß man ihm lediglich Geld gibt,
anstatt für ihn auch Arbeit zu organisieren.
({19})
Ich kann bei Ihnen nicht den geringsten Ansatz erkennen, daß Sie in eine andere Richtung gehen. Wir haben für eine Dezentralisierung der Arbeitsmarktpolitik gekämpft und haben sie auch durchgesetzt.
({20})
Dazu hört man von Ihnen nichts. Das hat etwas damit zu
tun, daß Sie eine andere Gesellschaftsphilosophie haben.
Sie haben einen zentralistischen Ansatz. Sie erhoffen
sich mehr Lösungen von der Zentrale, ob aus Bonn oder
aus Nürnberg. Wir setzen auf Dezentralisierung, wir setzen auf die Phantasie der Regionen, weil wir meinen,
daß man den Menschen damit mehr helfen kann. Wir
brauchen in der Arbeitsmarktpolitik einen regionalen
Maßanzug. Der muß für den ländlichen Raum anders
aussehen als für den Ballungsraum. Wir brauchen keine
zentralistischen Lösungen, wie Sie sie nach wie vor anpeilen.
({21})
Es muß eine einfache Regel gelten: Das Beste ist,
wenn jemand auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit findet.
({22})
Dafür müssen Sie die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen schaffen. Sie laufen genau in die falsche
Richtung. Das merkt man, wenn man sich Ihre Steuerreform ansieht.
({23})
Eine zweite Regel ist: Wer auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Arbeit findet, für den tritt die Versicherung
ein - nach den Regeln einer Versicherung. Deshalb sage
ich auch ganz deutlich: Wir sind der Meinung, daß die
großen Lebensrisiken - Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Unfall und Pflege - von der Solidargemeinschaft
abgesichert werden müssen. In dem Punkt unterscheiden
wir uns zumindest vom Bundesfinanzminister. Wir
wollen, daß die großen Risiken von der Solidargemeinschaft abgesichert werden, so daß sich ein Arbeitnehmer, der 20 oder 30 Jahre lang eingezahlt hat, auch darauf verlassen kann, eine entsprechende Leistung herauszubekommen.
({24})
Das ist ein ganz wichtiger Stabilisator in einer Wirtschafts- und Arbeitswelt, die sich für den einzelnen ungeheuer stark verändert, in der er sich neuen Herausforderungen stellen muß. Wenn wir das von ihm erwarten,
dann muß es Stabilisatoren geben. Dazu zählen die großen Sicherungssysteme.
Wir sagen aber auch: Es gibt kleine Risiken, die jeder
selbst tragen muß. Wieder auf die Arbeitslosigkeit bezogen, bedeutet das: Wenn das Sozialversicherungssystem
für ihn nicht eintritt, dann muß er Geld bekommen, aber
auch die Chance zur Gegenleistung erhalten. Wir müssen es so organisieren, daß er eine Gegenleistung erbringen kann, daß nicht nur ausgezahlt wird, sondern daß die
Fähigkeiten, die er hat, abgerufen werden.
({25})
Damit haben wir im Bereich der Sozialhilfe angefangen; die Kommunen haben hier exzellente Erfahrungen
gesammelt. Das muß auch im Bereich des Arbeitsmarktes umgesetzt werden. Von Ihnen höre ich dazu nichts.
Ich sage es noch einmal ausdrücklich: Sie haben ein anderes Gesellschaftsbild. Sie wollen die Dinge zentralistisch durch den Staat lösen lassen. Wir wollen das
nicht. Wir wollen weniger Staat und dezentrale Lösungen, letztlich menschengerechte Lösungen.
({26})
Wenn wir uns unseren Sozialstaat insgesamt ansehen,
dann können wir feststellen, daß dieser von Widersprüchen gekennzeichnet ist. Noch nie in der Geschichte der
Bundesrepublik wurde soviel Geld für soziale Leistungen und für sozialen Ausgleich ausgegeben. Aber noch
nie wurde soviel über zwischenmenschliche Kälte geklagt, über so viele vereinsamte und verhaltensgestörte
Kinder.
({27})
Das alles zeigt, daß es im Kern nicht um die Quantität,
sondern um die Qualität unseres Zusammenlebens geht.
Da müssen wir ansetzen.
({28})
Wir müssen Strukturen und Anreizsysteme so gestalten, daß soziale Leistungen zur Übernahme von Eigenverantwortung befähigen, und dies belohnen. Denn nur
wenn die Bereitschaft vorhanden ist, sich um andere zu
kümmern, ohne gleich nach dem Staat und der Gesellschaft zu rufen, kann Solidarität wachsen. Wir dürfen
die Verantwortung nicht weiter auf den Staat delegieren,
weil wir damit den Sozialstaat hoffnungslos überfordern.
({29})
Wenn die Kraft der Wirtschaft verlorengeht, helfen auch
noch so viele soziale Rechte und Ansprüche nicht. Ein
gutes Beispiel dafür war die DDR; sie hat uns dies gezeigt.
({30})
Ich sage Ihnen, Herr Minister: Sie werden scheitern,
wenn Sie nicht den Mut haben, Veränderungen vorzunehmen, die nicht bei jedem und überall gleich auf Begeisterung stoßen. Sie können das nicht finanzieren, und
die Gesellschaft wird dadurch nicht menschlicher. Herr
Minister, haben Sie mehr Mut, und drücken Sie sich
nicht um Sachverhalte.
({31})
Das Wort hat der
Redner, der bereits am Rednerpult steht, der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Riester.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine kurze Vorbemerkung: Herr
Dr. Kues, ich habe gemerkt, daß Sie nach 16 Jahren Regierung sehr schnell in der Opposition angekommen
sind.
({0})
Ich bin gerne bereit - ich denke, das ist auch sehr wichtig -, über meine Arbeit zu streiten. Es ist aber etwas
verfrüht, dies nach 14 Tagen zu machen.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die neue
Bundesregierung hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt:
Sie will nicht länger den Mangel der Arbeit verwalten,
sondern einen neuen Reichtum an Perspektiven schaffen. Sie will sich daran messen lassen - der Bundeskanzler hat dies gestern nicht zum erstenmal betont -, ob
es ihr gelingt, durch verläßliche und vernünftige Rahmenbedingungen neue Arbeit, neue Ausbildung zu
mobilisieren. Daran will auch ich meine Arbeit messen
lassen.
Ich bin mir wie alle anderen Regierungsmitglieder
bewußt: Das ist kein leichtes Versprechen, sondern eine
schwere Aufgabe.
Rund 4,3 Millionen Menschen, Frauen und Männer,
Junge und Alte, waren im Jahre 1998 arbeitslos. Die
Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse ist seit 1991 permanent zurückgegangen.
Die aktuellen Arbeitsmarktzahlen, die leichte Erholung
in Westdeutschland dürfen uns nicht zufriedenstellen.
Wenn jeder zehnte in Deutschland nach Arbeit sucht,
dann muß das für uns Ansporn sein zu neuen Anstrengungen. Angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit gerade in den neuen Bundesländern ist aktive Arbeitsmarktpolitik weiterhin unverzichtbar, und sie ist
für viele Arbeitslose die einzige Hoffnung, wieder in reguläre Arbeit zu kommen. Dafür wollen wir sorgen.
Wir wollen ferner dafür sorgen, daß die Arbeitsmarktpolitik wieder verläßlich wird. Deshalb werden wir
die Berg- und Talfahrt in der Arbeitsmarktpolitik beenden und eine Verfestigung auf dem notwendig hohen
Niveau erreichen.
({2})
Damit werden endlich Kontinuität und Verläßlichkeit in
die Arbeitsmarktpolitik einkehren. Ich bin mir darüber
im klaren, daß die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik nicht immer nur zusätzliche BeschäftiDr. Hermann Kues
gungseffekte auslösen, sondern teilweise auch Mitnahmeeffekte. Darum werden wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf ihre Zielgenauigkeit untersuchen
und auch, wo notwendig, neu justieren.
Wir müssen uns besonders für die Menschen einsetzen, denen schon am Anfang ihres Berufslebens alle
Chancen verbaut sind. Immer mehr junge Menschen
finden keine Ausbildung, keinen Arbeitsplatz. Der Arbeitsmarkt übersieht sie; die Straße hält sie fest. Fast eine halbe Million junger Menschen sind zwischenzeitlich
arbeitslos gemeldet. Diese Zahl wird noch größer, wenn
man die jungen Menschen einbezieht, die erwerbslos
sind, die sich aber gar nicht mehr als arbeitslos melden.
Hunderttausende nehmen an Bildungsveranstaltungen
teil und warten teilweise in Warteschleifen auf den Zugang zum Arbeitsmarkt. Das macht mir große Sorgen.
Ich denke, diese Menschen brauchen vor allem Unterstützung. Da reichen keine einfachen Willensbekundungen. Wir müssen uns mehr einfallen lassen, damit diese
jungen Frauen und Männer eine Chance in dieser Gesellschaft haben.
Eine gute Berufsausbildung ist immer noch der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit.
({3})
Von den arbeitslosen Jugendlichen unter 25 Jahren sind
in Westdeutschland 60 Prozent ohne Berufsausbildung;
in Ostdeutschland sind es 40 Prozent. Wir tragen Verantwortung für sie, und wir werden uns dieser Verantwortung stellen. Wir haben uns verpflichtet, ein Sofortprogramm für 100 000 junge Menschen aufzulegen, und
zwar für diejenigen, die die geringsten Chancen haben.
Sie sollen die Möglichkeit haben, ausgebildet zu werden; sie sollen Arbeit und Beschäftigung finden, und sie
sollen da, wo es für sie notwendig ist, zusätzliche Möglichkeiten der Weiterqualifizierung erhalten.
Wer noch keine Ausbildungsstelle hat, braucht oftmals Orientierung und Training, muß sich zurechtfinden
lernen. Dabei können wir helfen. Wer dennoch keine
betriebliche Berufsausbildungsstelle vermittelt bekommt, für den werden wir versuchen, über Ausbildungsverbünde und außerbetriebliche Ausbildungsplätze
Überbrückungsmöglichkeiten zu schaffen.
Wessen Ausbildung nicht ausreicht, um sich auf dem
Arbeitsmarkt zu bewähren, dem müssen wir eine zusätzliche Qualifikation ermöglichen. Das müssen wir so
gestalten, daß die Jugendlichen dieses Angebot auch annehmen - durch eine vernünftige Kombination von Praxis und Theorie.
Demjenigen, der keine Beschäftigung finden kann,
müssen wir den Weg in die Arbeit erleichtern, wo erforderlich, auch durch ABM, wo notwendig, zeitlich befristet über Lohnkostenzuschüsse.
Der Erfolg eines solchen Programms wird von unserem gemeinsamen Engagement abhängen, wird von der
aktiven Mithilfe der Arbeitsämter bestimmt sein und vor
allem auch von der Bereitschaft der jungen Menschen
selbst. Dort müssen wir nachhaltig einfordern: Von dem,
der qualifizierte Angebote bekommt, erwarten wir, daß
er sie auch annimmt.
({4})
Meine Damen und Herren, ich will nach einem Jahr
Rechenschaft ablegen: was aus diesem Programm geworden ist, was wir erreicht haben, wo wir Erfolge hatten - und wo nicht - und wo die Ursachen dafür liegen.
Politik muß wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen.
({5})
Das setzt Transparenz und Rechenschaft voraus.
Lassen Sie mich ein weiteres Thema ansprechen, das
der Transparenz und das der Glaubwürdigkeit bedarf:
die gesetzliche Rentenversicherung. Sie ist in Mißkredit geraten, sie hat an Glaubwürdigkeit verloren. Ich
will, daß die Rentenversicherung wieder zukunftssicher,
armutsfest und verläßlich wird.
({6})
Damit keine Mißverständnisse entstehen: Wir stehen in
der Rentenversicherung vor großen Herausforderungen.
Wir kennen die demographische Entwicklung.
({7})
Sie fordert entschlossenes Handeln.
Zugleich gilt: Die Menschen haben ein Anrecht darauf, daß wir mit ihrem Vertrauen und ihrer Zukunftsvorsorge verläßlich umgehen. Darum werden wir in einem
ersten Schritt die Rentenniveauabsenkung der alten
Bundesregierung bis zum Jahr 2000 aussetzen.
({8})
Gleiches gilt für diejenigen, die nicht mehr durch eigene
Kraft ihren Lebensunterhalt verdienen können und auf
Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten angewiesen
sind. Menschen, die existentiell auf unser Sicherungssystem angewiesen sind, um im Alter in Würde zu
leben, wären sonst der Gefahr ausgesetzt, in Sozialhilfe
zu rutschen.
Natürlich stellt sich dabei die Frage der Gegenfinanzierung. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag eindeutig festgelegt, daß wir den Rentenversicherungsbeitrag bei 20,3 Prozentpunkten stabilisieren wollen. Aber
wir gehen einen Schritt weiter. Wir werden den Rentenversicherungsbeitrag spürbar und dauerhaft durch den
Einstieg in die ökologische Steuer- und Abgabenreform
({9})
um 0,8 Prozentpunkte senken.
({10})
Meine Damen und Herren, ich sichere Ihnen heute zu,
daß ich dieses Niveau auch im Rahmen der Rentenstrukturdiskussion verteidigen werden. Jede Mark, die
aus Ökosteuern eingenommen wird, wird umgesetzt in
die Absenkung der Lohnnebenkosten.
({11})
Wir entlasten mit diesem Schritt, und zwar bereits im
nächsten Jahr und auf Dauer, Beschäftigte und Betriebe
um 11 Milliarden DM und fördern Beschäftigung. Wir
helfen, die Akzeptanz der Rentenversicherung wieder zu
erhöhen, und sorgen dafür, daß soziale Gerechtigkeit als
konstitutives Element unseres Sicherungssystems erhalten bleibt.
({12})
Wir mildern die Belastungen, die dem Sozialversicherungssystem durch allgemeine Aufgaben aufgebürdet
worden sind, indem wir die Kindererziehungszeiten
dauerhaft neu durch Steuermittel finanzieren. Versprochen worden ist das oft - wir machen es!
({13})
Zugleich wissen wir alle: Wir müssen einen zweiten
Schritt tun, eine wirkliche Strukturreform der Rentenversicherung angehen. Das will ich schon 1999 auf den
Weg bringen. Geredet worden ist auch darüber in der
Vergangenheit viel; wir müssen jetzt zukunftsfähige Lösungen entwickeln, den Wandel in den Erwerbsbiographien aufnehmen.
({14})
Nur wenn wir diesen Prozeß aufnehmen, wenn wir uns
darauf konzentrieren, werden wir die Glaubwürdigkeit
in der Rentenversicherung wiederherstellen können.
({15})
Ich sage aber auch: Wir werden dabei nicht mit dem
Füllhorn durch das Land ziehen können.
({16})
Nicht alles Wünschenswerte wird machbar sein. Aber
nur indem wir das Machbare ernsthaft angehen, werden
wir dem Wünschenswerten näherkommen.
({17})
Der Bundeskanzler hat gestern das Vier-SäulenModell angesprochen: Betriebliche Altersversorgung,
stärkere Teilhabe der Beschäftigten am Produktivvermögen und Eigenvorsorge müssen unsere gesetzliche
Rentenversicherung unterstützen und ergänzen. In diesem Sinne halte ich es für einen konstruktiven und mutigen Vorschlag der Gewerkschaften, einen Tariffonds
aufzubauen, der es denjenigen, die es wollen, ermöglicht, zu akzeptablen Bedingungen früher aus dem Arbeitsleben auszuscheiden.
({18})
Ich begrüße diesen Vorschlag ausdrücklich.
({19})
Ich biete den Arbeitgebern und Gewerkschaften an: Lassen Sie uns über einen solchen Fonds im Rahmen eines
Bündnisses für Arbeit und Ausbildung sprechen.
Dieser Tariffonds kann nicht nur ein Beispiel für gelebte Subsidiarität sein, sondern er kann darüber hinaus
auch deutlich machen, daß das Zusammenwirken von
Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik mehr leisten
kann als die Entscheidung im Parlament allein.
({20})
Es war einzusehen, daß aus der Warte der Rentenkassen - isoliert betrachtet - das Renteneintrittsalter heraufgesetzt werden mußte. Ich verstehe die Zwänge. Aber
die Entlastung der Rentenkassen hat erhebliche Probleme auf dem Arbeitsmarkt geschaffen, wird das auch
weiter tun, Probleme, die sich in der betrieblichen
Wirklichkeit inzwischen deutlich bemerkbar machen:
für die älteren Beschäftigten, für die jungen Menschen,
die vor der Türe stehen, und für die Arbeitgeber gleichermaßen. Man hat mit diesem Schritt das Problem nur
umverteilt.
Wir werden durch diese Entscheidung in den nächsten fünf Jahren - ich befürchte, daß die Dramatik in der
Bevölkerung noch gar nicht ganz angekommen ist - eine
Lebensarbeitszeitverlängerung derjenigen bekommen,
die im Betrieb sind, und zwar um rund 10 Prozent. Ich
weise darauf hin: Das Volumen übersteigt die tarifliche
Arbeitszeitverkürzung der Gewerkschaften in den 80er
und 90er Jahren. Das löst Probleme aus. Den Problemen
müssen wir uns stellen.
Insofern halte ich den Vorschlag der Gewerkschaften,
mit der Tarifpolitik an dieses Problem heranzugehen und
Lösungen anzubieten, für exzellent. Das ist - ich wiederhole es - gelebte Subsidiarität.
({21})
Ich denke, das ist ein trefflicher Beweis dafür, daß Probleme nicht verschoben werden dürfen, sondern angegangen und gelöst werden müssen.
({22})
Zweitens. Wenn Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften zu dieser Lösung beitragen - und zwar
nicht nur, weil ein gemeinsames Interesse sie eint -,
dann ist das die beste Grundlage für ein Bündnis für
Ausbildung und Arbeit.
({23})
Das gilt auch für die Frage der Ausbildung, die sich
nicht nur in der quantitativen Frage erschöpft. Das gilt
für attraktive, flexible Arbeitszeiten, die mehr Beschäftigung ermöglichen, und das gilt für die Mobilisierung
neuer Beschäftigung.
Ich will Ihnen ein Beispiel alter Debatten, alter Lösungsansätze für diesen Bereich notwendiger neuer Beschäftigung für Menschen mit geringer Qualifikation
nennen. In der alten Debatte, die ich seit 10, 15 Jahren
kenne, wird so argumentiert: Wir haben Arbeit und Bedarf genug - allerdings nicht für 50,50 DM, sondern für
8,30 DM. In der Hoffnung, Lohn abzusenken, Kombilohnmodelle anzubieten, liegt das nicht einzulösende
Versprechen, daß sich dann der Arbeitsmarkt entwickeln
würde.
Nun bin auch ich der Auffassung, daß es eine der
größten Herausforderungen ist, daß wir viele Menschen
mit geringen Qualifikationen haben - vor allem die
stecken im Bereich der 1,35 Millionen Langzeitarbeitslosen -, für die wir zuwenig Arbeitsplätze haben. Aber
ich möchte an diese Frage anders herangehen, etwas systematischer.
({24})
Ich möchte, daß wir nicht immer nur die gleichen Beispiele des Schuhputzers, des Kofferträgers, des Fensterputzers, des Spargelstechers hören, sondern einmal auflisten, welche Bereiche produktionsnaher und persönlicher Dienstleistungen zu entwickeln sind.
({25})
Wenn wir das mit Wirtschafts- und Arbeitnehmervertretern klar aufzeigen, kommt der zweite Schritt: Dann
müssen wir Angebote zur Qualifizierung entwickeln.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, daß,
wenn wir das systematisch angehen, auch die dritte Frage, der nicht ausgewichen werden darf, nämlich ob wir
dafür eigene Lohnniveaus, ob wir dafür eine Kombination mit der Sozialversicherung brauchen, von den Tarifvertragsparteien angegangen wird.
({26})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Dr.
Schäuble?
Bitte.
Herr Bundesminister, nachdem Sie sich gerade gegen diese Art
von Beschäftigung ausgesprochen haben - ({0})
- Doch. Sie haben doch gerade gegen Kofferträger,
Schuhputzer usw. gesagt, diese Art von Beschäftigung
gebe es nicht. Wo sind denn diese Jobs? - das war Ihre
Frage. Deswegen möchte ich Sie fragen, ob mich meine
Erinnerung trügt wenn ich darauf verweise, daß der Herr
Bundeskanzler gestern in seiner Regierungserklärung
unter anderem den Begriff Einpackhilfe gebraucht hat.
({1})
Wenn Sie mir zugehört hätten, Herr Abgeordneter Schäuble,
({0})
und sich nicht auf Ihren Diskussionsbeitrag vorbereitet
hätten, dann hätten Sie genau gehört, daß ich exakt das
gesagt habe: Wir müssen ein breites Spektrum von Angeboten für Menschen mit geringer Qualifikation entwickeln und dürfen sie nicht auf immer wieder die gleichen Beispiele reduzieren.
({1})
Das können die Menschen von uns erwarten.
({2})
Ich will aber auch klarstellen: Wir werden die Fehlentwicklungen, Ihre Entscheidungen beim Kündigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung, innerhalb der nächsten Wochen korrigieren.
({3})
Das gilt auch für die geringfügig Beschäftigten, bei denen wir uns im übrigen in der Definition des Problems
mit der ehemaligen Regierung relativ einig waren. Nur,
man muß dieses Problem auch angehen. Ich weiß, daß
das nicht bequem ist. Wir werden uns der Herausforderung stellen, weil wir wissen: Es geht im Kern nicht,
Herr Abgeordneter Kues, um die Liquiditätsverbesserung, sondern darum, wieder Ordnung am Arbeitsmarkt
zu entwickeln.
({4})
Es geht aber auch - das ist schon ein ernst zu nehmendes Problem - darum, den Erosionsprozeß in den
Finanzstrukturen unserer sozialen Sicherungssysteme zu
stoppen.
({5})
Denn kein Sicherungssystem der Welt hält es aus, wenn
die Belastungen steigen und immer mehr Menschen die
Solidargemeinschaft verlassen.
({6})
Da wir uns in der Analyse in der Vergangenheit einig
waren, erwarte ich, daß in diesen Fragen, zumindest
wenn man es ernst meint mit der Stabilisierung und der
Sicherung der Systeme, eine Zusammenarbeit möglich
ist.
({7})
Wir werden diese Maßnahmen auch mit Blick auf ein
Bündnis für Ausbildung und Arbeit angehen; denn
würden wir ein solches Bündnis mit diesen Fragen belasten, dann bestünde die Gefahr, daß aus solchen Gesprächen Nebenregierungen entwickelt werden. Genau das
wollen wir nicht. Wir wollen das Bündnis nicht mit Entscheidungen überfrachten, die korrigiert werden müssen
und für die wir einen ganz klaren Wählerauftrag haben.
({8})
Lassen Sie uns gemeinsam die Stärken und die Kräfte, die unser Land noch immer hat, wieder zusammenführen und fruchtbar in neue Lösungen einbinden. Ich
bin fest davon überzeugt: Den Weg ins 21. Jahrhundert
werden wir nur dann mit den Menschen gehen können,
wenn wir mit den gesellschaftlichen Kräften fair, konstruktiv und handlungsorientiert bei den Lösungen von
Problemen zusammenarbeiten. Das setzt allerdings ein
politisches Grundverständnis voraus, das in den letzten
Jahren in Vergessenheit geraten schien. Politik muß
wieder verläßlich sein;
({9})
Politik muß wieder das Vertrauen der Menschen gewinnen.
({10})
Verläßlichkeit und Vertrauen sind der Humus, auf
dem Reformen gedeihen können, Reformen, die wir
brauchen, um den Strukturwandel, in dem wir stehen,
bewältigen und gestalten zu können.
({11})
Die Menschen werden nur bereit sein, den Strukturwandel mutig anzugehen, wenn sie Vertrauen in die Politik
haben und wenn sie wissen, daß sie sich wieder auf soziale und gerechte Politik verlassen können.
({12})
Folgendes ist wesentlich für unseren Weg in das
nächste Jahrtausend: Mut zur Innovation, Flexibilität
und Mobilität sind unverzichtbare Bestandteile einer
modernen, zukunftsgewandten Gesellschaft und Wirtschaft.
({13})
- Hoffnung gibt es vielleicht auch dann, wenn die Opposition zuhört, wenn der Minister spricht.
({14})
Ich denke, daß die Bevölkerung ({15})
- danke; die Vorstellung wird live im Fernsehen übertragen ({16})
uns an diesen Grundprinzipien einer verläßlichen Politik
messen wird. Daran, nämlich an den klaren Aussagen,
werde auch ich mich in der Zukunft messen lassen.
({17})
Darüber, Herr Abgeordneter Kues, will ich mit Ihnen in
Zukunft gerne streitig diskutieren.
Danke schön.
({18})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich schlage vor, daß wir uns darauf verständigen, daß wir jedem Redner zuhören, egal, ob er
Minister ist oder nicht.
Das Wort für die F.D.P. hat die Kollegin Dr. Irmgard
Schwaetzer.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit den Versprechungen in der Sozialpolitik hat die neue Koalition
die Wahl gewonnen. Aber was waren das für Versprechungen? Sie waren doch sehr widersprüchlich. Die einen erwarten von Ihnen die Wiederherstellung der alten
Zustände, die anderen - das ist die von Ihnen besonders
umworbene Neue Mitte - erwarten von Ihnen, Herr
Bundeskanzler, Modernisierung, die zweifellos nicht
mit der Bewahrung der alten Zustände einhergehen
kann. Das liegt schon in dem Wort „Modernisierung“.
Ihre Regierungserklärung ist auf Grund dieses Spagats notwendigerweise sehr blaß gewesen. Die Kommentierung in der Presse heute, Herr Bundeskanzler,
kann Sie auch nicht gefreut haben.
({0})
- Uns gibt es Chancen. - Denn längst haben die Wähler
den engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftskraft,
Wettbewerb und Arbeitsmarkt sowie Wirtschaftskraft
und sozialer Sicherung erkannt.
Herr Bundeskanzler, Sie haben Modernisierung angekündigt. Nun müssen den Worten Taten folgen. Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Setzen Sie die Modernisierung endlich durch! Das ist aber keine Aufforderung an die Opposition; die hat das längst begriffen. Das
kann nur an Ihre eigenen Reihen gerichtet sein.
({1})
Leistung und Eigenverantwortung - das waren die
Begriffe, die Sie, Herr Bundeskanzler, gestern reichlich
gebraucht haben. Diese Begriffe sind Begriffe der Zukunft; das ist gar keine Frage. Im übrigen sind wir uns
einig, daß Leistung in allen Schichten der Gesellschaft
erbracht wird und nicht auf irgendeine Einkommenskategorie begrenzt ist. Das ist völlig selbstverständlich.
Von den Begriffen Leistung und Eigenverantwortung ist
in den von Ihnen angekündigten Korrekturgesetzen allerdings nichts zu sehen. Ihre ersten Taten sind die Rolle
rückwärts. Sie haben sie im Wahlkampf angekündigt.
Aber paßt denn die Rücknahme aller Gesetze, die die
Überforderung des Staates zurückdrängten und den Arbeitsmarkt immerhin so belebt haben, daß heute 400 000
Arbeitslose weniger als vor einem Jahr zu verzeichnen
sind, zu Leistung und Eigenverantwortung? Ich sage Ihnen: Das paßt nicht dazu.
({2})
Sie müssen sich die Frage stellen, ob die Maßnahmen
in den Korrekturgesetzen zum Erreichen des von Ihnen
selbst gesetzten Ziels, die Arbeitslosigkeit abzubauen,
geeignet sind. Alleine die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den letzten Monaten muß Ihnen doch
schon sagen, daß Sie dieses Ziel damit nicht erreichen
werden. Deswegen wünsche ich mir von Ihnen, daß Sie
doch noch einmal darüber nachdenken - denn die Gesetze werden erst in der nächsten Woche eingebracht und wenigstens diesen Unfug lassen.
Es bleibt die Frage - auch die kann man sich stellen -,
ob es denn klug ist, all das zurückzunehmen. Tony Blair
hat es jedenfalls anders gemacht. Er hat sorgfältig vermieden, die Entscheidungen seiner konservativen Vorgänger zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zurückzunehmen. Die Erkenntnis, daß Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes Voraussetzung für Investitionen in
Deutschland ist, ist auch unter Sozialdemokraten nicht
unbekannt. Gestern habe ich in der „Süddeutschen Zeitung“ in einem Feature ein Zitat gefunden, das ich Ihnen
einmal vorlesen will:
Also referiert sie ..., daß sie ... eine starke Flexibilisierung des Arbeitsmarktes für notwendig hält,
wenn deutsche Unternehmen mehr investieren ...
sollen.
Wer dieses Feature gelesen hat, wird wissen, daß das eine Aussage von Christa Müller, der Beraterin des SPDVorsitzenden, ist. Aber warum glaubt er ihr bloß nicht?
({3})
Die Frage, ob es etwa Investitionen ermutigt, wenn die
Lockerung des Kündigungsschutzes zurückgenommen
wird, kann man nur mit Nein beantworten.
({4})
Auf die Frage, ob es denn das Angebot von Teilzeitarbeit fördert, wenn jetzt die „mehr als geringfügig Beschäftigten“ mit einem Einkommen von maximal
300 DM im Monat erfunden werden und jede Verdienstmark darüber dem zupackenden Griff von Steuer
und Sozialversicherung unterworfen wird, ist ebenfalls
mit Nein zu antworten.
({5})
Meine Damen und Herren, diese Regelung wird zum
Bumerang für Frauen. Das ist das Letzte an Frauenfreundlichkeit, was man sich überhaupt nur ausdenken
kann.
({6})
Frauen, die einen Zuverdienst zum Familieneinkommen
anstreben - aus welchen Gründen auch immer -, werden
dazu in der Zukunft seltener die Chance bekommen, als
sie sie heute haben. Gegen Krankheit sind sie abgesichert; zu einer eigenen Alterssicherung reichen die Minibeiträge sowieso nicht aus.
Aber darum geht es Ihnen ja auch gar nicht. Sie glauben, ein neues Abkassiermodell für die überforderten
Sozialversicherungen gefunden zu haben. Das ist weder
sozial noch gerecht. Und daran wollen Sie sich doch
messen lassen!
({7})
Im Umgang mit Geld sehen wir insgesamt wieder das
alte SPD-Problem: Es wird bereits ausgegeben, bevor es
da ist. Die Diskussion über die Ökosteuer zeigt das
wieder einmal ganz deutlich. Die Ökosteuer und die
vielgepriesene Senkung der Beiträge zur Rentenversicherung führen doch nicht zu einer Entlastung der Sozialversicherungen oder des Staates insgesamt. Das ist
nichts anderes als eine Umfinanzierung, anstatt zu sparen.
Das schafft keine neuen Arbeitsplätze, sondern nur
mehr Staat.
({8})
Das hat im übrigen der neue Wirtschaftsminister Müller
gestern in der „FAZ“ unumwunden zugegeben, als er
gesagt hat, daß die Ökosteuer schlicht als Finanzierungsquelle gebraucht wird.
Die Veränderung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war ein Signal für die Veränderungsfähigkeit in
Deutschland. Mit der Rücknahme geht auch die Zuversicht auf Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit verloren. So schaffen Sie „Gewerkschaftsdeutschland“, aber
nicht Modernität.
({9})
Mit Staunen stellen wir fest, wie schlecht die SPD
16 Jahre Opposition genutzt hat.
({10})
Ihr neuer Geschäftsführer Schreiner sagt ja auch ganz
klar, daß Sie das Instrumentarium der Opposition beherrschen: Dagegensein, Blockieren, Vertagen. - Das ist
übrigens nicht unsere Auffassung von Opposition. - DaDr. Irmgard Schwaetzer
bei haben Sie nichts Konkretes zum Beispiel für die Zukunft der Alterssicherung entwickelt.
({11})
Der Bundeskanzler hat gestern vier Säulen benannt,
auf denen die Alterssicherung beruhen soll. Das sind
diejenigen Säulen, die seit vielen Jahren von der F.D.P.
formuliert worden sind. Nur, von der SPD habe ich das
bisher noch nicht gehört.
({12})
Eine Konkretisierung steht auch aus; das hat der Arbeitsminister gerade zugegeben. Also haben Sie Ihre
Opposition in der Tat nicht genutzt. Die vier Säulen
sind: die Sicherheit derer, die heute Rente beziehen; die
Berücksichtigung der Jungen, die nicht überfordert werden dürfen; private Vorsorge; betriebliche Alterssicherung.
In diesen Zusammenhang paßt einfach nicht die Diskussion, die Rente mit 60 wieder auf die Tagesordnung
zu nehmen.
({13})
Eine Rente mit 60 ist nicht ohne Abschläge an der Rentenhöhe zu finanzieren. Das hat bereits 1996 zur Rücknahme der damaligen Regelung geführt, übrigens unter
Zustimmung der Gewerkschaften. Wer das heute mit einem Tariffonds verändern will, Herr Riester, der muß
sich einfach sagen lassen, daß ein Tariffonds nicht gelebte Subsidiarität, sondern nur ein neues Zwangskollektiv mit ungewissem Ausgang für die Jungen ist.
({14})
Herr Bundesarbeitsminister, wir werden es Ihnen
nicht durchgehen lassen, daß Sie versuchen, einen Begriff wie Subsidiarität, der für die Zukunft der Bürgergesellschaft von ungeheurer Wichtigkeit ist, umzudefinieren und damit abzuwerten.
({15})
Wenn Sie jetzt den Demographiefaktor in der Rentenversicherung wieder zurücknehmen wollen, aber
gleichzeitig ankündigen, daß Sie die Probleme der Demographie kennen, dann kann ich Sie nur fragen: Warum tun Sie das denn jetzt, warum verunsichern Sie die
alten Menschen, und warum verunsichern Sie die Beitragszahler? Sie führen sie nur an der Nase herum!
({16})
Wir werden Ihre Vorschläge zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit sorgfältig prüfen. Wenn sie ein
Stück Modernisierung bringen, dann werden wir Sie
auch unterstützen. Aber wir werden Sie nicht aus der
Verantwortung entlassen, den vielen Langzeitarbeitslosen eine Brücke in den Arbeitsmarkt zu bauen. Natürlich, Herr Riester, besteht Dienstleistung nicht nur aus
einpacken oder Koffer tragen. Es gibt auch für diejenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - jetzt
langzeitarbeitslos sind und eine geringe Qualifikation
besitzen, neben dem Dienstleistungsbereich andere Beschäftigungsmöglichkeiten. Aber anpacken muß man
das Problem. Das war mit den Gewerkschaften bisher
nicht möglich. Wir werden Ihnen unser Bürgergeldmodell, das eine Brücke in den Arbeitsmarkt auch für diejenigen schafft, die keine Qualifikation haben oder aus
Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht erreichen können, immer wieder vorhalten.
({17})
Frau Kollegin
Schwaetzer, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum
Schluß.
Opposition als Immer-Dagegensein ist nicht unser
Ansatz. Da, Herr Bundeskanzler, wo in Ihren eigenen
Reihen Modernisierung durchzusetzen ist, werden wir
ein Dialogpartner für Sie sein, und wir werden die Interessen der Bürger zur Richtschnur unseres Handelns machen. Ich wünsche mir auch mit Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister, viele interessante Gespräche. Ich wünsche
mir, daß wir auch in der Sozialpolitik, was Modernisierung anbetrifft, einem Konsens wieder näher kommen
als in der Vergangenheit.
({0})
Das Wort hat für
Bündnis 90/Die Grünen Frau Dr. Thea Dückert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich heute
morgen die beiden Reden von Herrn Kues und von Minister Riester angehört habe, ist mir zum wiederholten
Male klargeworden, warum Sie, meine Damen und Herren von der CDU, die Wahl verloren haben.
({0})
Angesichts Ihrer Bilanz von Langzeitarbeitslosigkeit
und sozialen Problemen den Vorwurf zu erheben, daß
Rote oder Grüne etwa die Schicksale von Langzeitarbeitslosen nicht ernst nähmen, ist geradezu lächerlich.
({1})
- Nein, Herr Kollege Kues; aber es läßt sich belegen,
daß Sie einen Berg von mehr als 4 Millionen Arbeitslosen hinterlassen und zu verantworten haben. An diesem
Problem werden wir ansetzen; wir werden eine vernünftige Beschäftigungspolitik betreiben.
({2})
Ich sage Ihnen noch eines: Es ist eine Scheindebatte,
wenn Sie hier darüber rechten, ob es zentrale oder deDr. Irmgard Schwaetzer
zentrale Instrumente zur Arbeitsmarktpolitik gibt. Es
geht darum, Lösungen zu finden, anstatt hier scheinideologische Diskussionen zu führen. Wir werden diese
Lösungen anbieten.
({3})
Meine Damen und Herren, als Bundestagsneuling habe ich gestern bei den Debattenbeiträgen der Opposition
doch merkwürdige Assoziationen gehabt. Ich habe mich
nämlich an einen Ausspruch von Mao Tse-tung erinnert
gefühlt, was beim Hören von Reden der CDU ja eigentlich nicht naheliegt. Dieser Ausspruch lautet: Es herrscht
eine große Unordnung unter dem Himmel.
({4})
Damit meine ich, daß in Ihren Reihen Unordnung
herrscht. Sie können sich offenbar nicht einigen, ob die
neue Bundesregierung nach 14 Tagen bereits die Zukunft der Bundesrepublik verspielt hat oder schon in die
Starre der Untätigkeit verfallen ist. An diesem Punkt
müssen Sie sich einmal entscheiden.
Sie kritisieren hier, daß wir nicht schon in der ersten,
sondern erst in der fünften Plenarsitzung ein umfassendes Artikelgesetz einbringen, dessen Ziel es ist, mit der
ersten Stufe der ökologischen Steuerreform die Sozialabgaben um 0,8 Prozent zu senken. Aber ich halte dies
für einen deutlichen Hinweis, daß wir nicht nur schnell,
sondern auch effektiv sind, daß wir in der Lage sind,
schon mit diesem ersten Schritt nicht nur zu korrigieren,
sondern auch neue Wege bei der Bewältigung ökologischer und sozialer Probleme einzuschlagen.
({5})
Meine Damen und Herren, schneller geht es doch
nicht. Die Stäbe am Kanzleramt wackeln ja noch, und
schon wird für den 1. Januar 1999 die erste Stufe der
ökologischen Steuerreform sowie eine Sozialabgabensenkung angekündigt. Ich erwähne dies aber auch deshalb noch einmal, weil ich als Koalitionspartnerin in einer rot-grünen Koalition in freundlicher Ergänzung der
Regierungserklärung hier hinzufügen muß, daß die
ökologische Steuerreform nicht nur das Ziel hat, die Sozialabgaben zu senken, sondern insbesondere ein Instrument zu einer ökologischen Modernisierung der
Wirtschaft und zu einer Weichenstellung ist, die, wie
uns Dänemark zeigt, beschäftigungspolitisch positive
Effekte hat.
({6})
- Herr Hirche, es ist doch wirklich erstaunlich: In Dänemark wurde eine ökologische Steuerreform eingeführt, und seit 1993 hat sich dort die Arbeitslosigkeit
halbiert.
Meine Damen und Herren, es geht also nicht allein
um ein schnelles Nachbessern von Fehlern und Ausputzen der Hinterlassenschaft der alten Regierung, sondern
am 1. Januar 1999 wird mit diesem ersten und zunächst
bescheidenen Schritt der ökologischen Steuerreform tatsächlich ein neues strukturpolitisches Instrument eingeführt werden.
({7})
Herr Schäuble, um es noch einmal deutlich zu machen: Wir werden die Prognose, zu der Sie sich verstiegen haben, nämlich daß unter unserer Regierung die Sozialabgaben steigen, nicht erfüllen.
({8})
- Ja, Herr Schäuble, rufen Sie schön dazwischen. Sie
haben hier gestern mit Zeitungsausschnitten hantiert.
Auch ich habe Ihnen etwas mitgebracht.
Schauen Sie sich einmal die Auflistung über die jährliche Höhe der Sozialabgaben an. Im Jahre 1982 lagen
sie bei rund 34 Prozent. Ich stelle hier die Preisfrage:
Wo liegen sie heute? Ich stelle hier die Preisfrage: Welche Regierung hat in den letzen 16 Jahren regiert? Wenn
Sie diese Fragen beantworten, sollten Sie erkennen, daß
Sie mit Ihrer falschen Prognose über die Absichten der
rotgrünen Koalition eigentlich nur Ihre schwarze Vergangenheit in Sachen Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland beschreiben.
({9})
Ich sage Ihnen auch, daß genau diese Art von Realitätsverdrehung zum Verlust des Vertrauens in Ihre Politik geführt hat. Auch die verbrämte Art von Herrn Kues
zeigt, daß Sie mit Ihrer Politik die individuelle und gesellschaftliche Dynamik von Massenarbeitslosigkeit, die
Arbeitsplatznot der Jugendlichen und die Probleme der
sozialen Ausgrenzung, mit denen wir uns jetzt auseinandersetzen müssen, nicht ernst genommen haben.
({10})
Noch schlimmer ist, daß Sie Angebote zu einer Veränderung von Politik, die auch historisch betrachtet neu
waren, zum Beispiel das Bündnis für Arbeit, ausgeschlagen haben. Sie haben noch einen draufgesetzt, indem Sie die Abschaffung des Kündigungsschutzes, die
Reduzierung von Arbeitsrechten und die Kürzung von
Sozialleistungen als Beschäftigungspolitik verkauft haben. Wir werden und müssen hier nachbessern.
Wir haben jetzt zunächst einmal zwei ganz zentrale
und aktuelle politische Herausforderungen zu meistern.
Die erste betrifft die Ausbildungsplatznot der Jugendlichen. Das Sofortprogramm zur Schaffung von 100 000
Ausbildungs- und Arbeitsplätzen für Jugendliche muß
natürlich sofort umgesetzt werden. In diesem Zusammenhang ist es aber auch außerordentlich wichtig, noch
einmal deutlich zu machen, daß es dabei nicht nur darum geht, gesellschaftlichen Sprengstoff zu beseitigen.
Wir müssen uns vielmehr noch einmal sehr deutlich machen, daß die junge Generation in der Bundesrepublik
ein Anrecht auf moderne und sichere Ausbildung und
auf Sicherung ihrer Zukunft hat.
({11})
Deswegen werden wir als Grüne, wenn unsere Gesellschaft - auch die Wirtschaft gehört dazu - diesen
Ausbildungsauftrag nicht ausfüllt, nicht fackeln, über
eine Umlage dafür zu sorgen, daß das Ausbildungsplatzangebot erweitert wird. Wir werden es sehen; vielleicht
läuft es anders. Aber die Situation kann sich auch so
entwickeln, daß das notwendig wird.
Die zweite Herausforderung ist das Bündnis für Arbeit. Herr Kollege Riester hat schon richtig gesagt, daß
es hier vor allen Dingen auf ein Umdenken und ein Zusammenführen der gesellschaftlichen Gruppen ankommt. Das wird ein sehr schwieriger Prozeß sein, der
von außerhalb und auch durch die Arbeitsmarktpolitik
hier im Parlament flankiert werden muß. Wir werden
Rahmengesetze brauchen, die Arbeitszeitverkürzung
und Überstundenabbau als zentrale Elemente von Beschäftigungspolitik verankern, um Umverteilung von
Arbeit möglich zu machen. Es wird ein schwieriger Prozeß werden, darüber eine Diskussion hinzubekommen
und in den Köpfen der Leute die Erkenntnis reifen zu
lassen, daß diese Umverteilung von Arbeit zwischen den
Generationen und zwischen den Geschlechtern funktioniert. Nur dann kann auch begriffen werden, daß wir
mittlerweile in einer Welt leben, in der der über 40 Jahre
vollbeschäftigte männliche Arbeitnehmer nicht mehr der
Normalfall ist.
({12})
Wir haben es mit unsteten Erwerbsbiographien zu
tun. Wir müssen sie in der Sozialpolitik absichern, damit
auch Elemente des Bündnisses für Arbeit, beispielsweise
Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung, zum Beispiel
von den Frauen und den Jugendlichen überhaupt gelebt
werden können.
Meine Damen und Herren, hier vorne zu stehen ist für
mich ein bißchen neu. Ich hatte vergessen, daß die Uhr
rückwärts läuft. Deswegen werde ich jetzt ein bißchen
schneller reden.
({13})
Bei uns läuft die Uhr eigentlich vorwärts.
Ich möchte noch auf einen ganz zentralen Punkt zu
sprechen kommen: die Arbeitsmarktpolitik, das Problem
der Normal- bzw. unstetigen Beschäftigung. Ich hatte
dies eben schon genannt. Diese Veränderungen in der
Gesellschaft - unstetige Beschäftigung, Arbeitslosigkeit,
andere demographische Entwicklungen -, führen dazu,
daß wir in der Sozialpolitik einen neuen Generationenvertrag diskutieren und entwickeln müssen.
({14})
Damit junge Leute eine Chance haben, muß die Sozialpolitik mehrere Generationen umfassen. Wir müssen
uns verdeutlichen, daß die Standardrente auch für die
junge Generation heute zu einer unerreichbaren Fiktion
geworden ist. So richtig und wichtig es ist, vier Säulen
in das Rentensystem einzuziehen, so klar muß auch sein,
daß wir die demographischen Entwicklungen nur dann
in den Griff bekommen werden, wenn wir die Rentnergeneration ausgewogen an den Auswirkungen der demographischen Verschiebungen beteiligen.
Generationenfragen sind sehr komplizierte Fragen.
Sie werden noch komplizierter, wenn sie mit vom Ansatz her spannenden, neuen beschäftigungspolitischen
Ansätzen diskutiert werden. Ich erinnere an den Vorschlag des Bundeskanzlers für eine Fondslösung für
eine volle Rente ab 60. Auch Herr Riester hat es vorhin
noch einmal erwähnt. Er will das unterstützen. Dieser
Vorschlag kommt eigentlich vom DGB. Wir müssen
hier sehr, sehr sorgfältig diskutieren. Es ist eine gute
Idee, Arbeit zwischen den Generationen zu verteilen.
Aber solche Modelle haben immer auch weitere Aspekte. Der eine ist der beschäftigungspolitische Aspekt, die
Umverteilung. VW hat in dieser Richtung ein interessantes Modell entwickelt, in dem für ausscheidende ältere Arbeitskräfte Jugendliche nachvollziehbar neu eingestellt und beschäftigt werden. Eine solche Verbindung
ist im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang sehr
schwierig herzustellen. Ich sage dies nur als Merkposten.
Frau Kollegin, ich
muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Ich komme zum Schluß. Ich bin fast fertig.
Auch eine Fondslösung kommt nicht ohne den Einsatz von Steuern aus.
({0})
- Na klar, denn bei diesem Vorschlag ist ein Teil steuerfrei gestellt. - Wir müssen darüber diskutieren, ob und
wie dabei die Lasten zwischen den Generationen gerecht
verteilt werden können.
({1})
Diese Frage müssen wir in der Koalition und mit Ihnen
offen diskutieren.
Angesichts dessen, was Herr Riester vorhin vorgetragen hat, bin ich wohlgemut, daß wir zu einem sehr konstruktiven, produktiven und nach vorne gerichteten neuen Konzept der Sozial- und Rentenpolitik kommen werden. Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion der Abgeordnete Karl-Josef Laumann.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter
Herr Arbeitsminister Riester, Sie haben eben gesagt, Sie
fänden es nicht so gut, daß Herr Kues in seiner Rede die
Oppositionsrolle eingenommen und kritisiert habe.
({0})
Sie können von uns natürlich nicht erwarten, daß wir sozusagen in ewiger Anbetung verharren. Wir müssen uns
selbstverständlich mit dem auseinandersetzen, was der
Bundeskanzler und Sie für den Bereich der Sozialpolitik
in den nächsten Jahren vorschlagen.
Wir haben allen Grund, uns mit Ihrer Politik auseinanderzusetzen, denn wenige Wochen nach der Bundestagswahl haben wir - damit hatte ich im Falle eines
SPD-Wahlsieges nun wirklich nicht gerechnet - eine
große Sozialstaatsdebatte, weil ein sehr wichtiger Mann
in Ihrer Partei, immerhin Ihr Bundesvorsitzender und
Finanzminister, das Sozialversicherungsprinzip in diesem Lande in Frage stellt. Das ist ein einzigartiger Vorgang.
({1})
Ich hätte es einmal erleben wollen, was bei Ihnen los
gewesen wäre und - vor allen Dingen - was Sie, Herr
Riester, in den letzten Tagen in Frankfurt in der IGMetall-Zentrale veranlaßt hätten, wenn ein ähnlich
wichtiger Mann in der CDU, zum Beispiel unser Vorsitzender, Herr Schäuble, einen solchen Vorschlag gemacht hätte.
({2})
Im übrigen bin ich in diesem Jahr 25 Jahre Mitglied der
gleichen Gewerkschaft wie Sie. Ich kenne mich also in
dieser Gewerkschaft aus.
In dieser Sozialstaatsdebatte geht es um die Grundsätze unseres Sozialstaates. Ich bin ein Politiker, der die
Sozialversicherung für richtig hält. Ich will, daß Arbeiter
durch Beiträge klare Rechtsansprüche haben, wenn sie
arbeitslos werden. Ich will, daß die Menschen, die pflegebedürftig sind, durch Beiträge klare Rechtsansprüche
haben, wenn der Pflegefall eintritt. Ich will nicht, daß
der Fleißige sein Häuschen verkaufen muß, bevor er
eine staatliche Leistung erhält, und daß der, der sein
Geld in der Toskana ausgegeben hat, vom Staat von
vornherein unterhalten wird.
({3})
Darüber werden wir natürlich schon wenige Wochen
nach der Bundestagswahl miteinander streiten müssen.
Sie werden nicht nur die Sozialflügel in meiner Partei,
sondern auch die gesamte CDU/CSU-Fraktion als einen
großen Kämpfer für dieses Versicherungsprinzip in
Deutschland erleben.
({4})
Lieber Herr Riester, wenn Sie die Sozialversicherung
gegen die Vorstellungen von Lafontaine und gegen die
Blütenträume der Grünen verteidigen, werden Sie uns an
Ihrer Seite haben, denn wir stehen nahe bei den Arbeitnehmern. Die Grünen und auch die Toskana-Fraktion
Ihrer Partei dagegen sind mit ihrem Steuerprinzip weit
von den Arbeitnehmern entfernt. Wir werden also sehr
gespannt sein, was wir auf diesem Gebiet in den nächsten Jahren erleben.
Ein weiterer Punkt, der mir in der jetzigen Diskussion
große Sorge bereitet, ist: Wenn wir das Sozialversicherungsprinzip wollen, dann müssen wir bei der Beitragsbezogenheit bleiben und dürfen nicht immer mehr Steuergelder in die Systeme der Sozialversicherung hineinpumpen, weil dadurch die Sozialversicherung immer
mehr der Beliebigkeit der Haushaltspolitik unterworfen
wird.
({5})
Ich warne sehr davor, einen solchen Weg über ein bestimmtes Maß hinaus zu gehen.
Während unserer Regierungszeit, lieber Herr Kollege
Riester, haben wir den Bundeszuschuß zur Rentenversicherung auf einen Höchststand gebracht. Fast jede
vierte D-Mark des Bundeshaushaltes geht heute in die
Rentenversicherung - ein Höchststand. Ich bin ganz sicher, daß wir damit die versicherungsfremden Leistungen in einem ganz starken Maß berücksichtigt haben.
Die Rentenfinanzierung an eine Ökosteuer zu hängen,
die doch den Sinn haben soll, daß mit der Energie sparsamer umgegangen wird - eigentlich müßten die Einnahmen aus dieser Ökosteuer auch immer geringer werden, wenn sie einen Sinn haben soll -, ist nicht die verläßliche Finanzierung, die wir in der Rentenversicherung
brauchen.
({6})
Ich glaube vielmehr, daß wir weiterhin auf Beitragsbezogenheit setzen müssen. Das bedeutet auch unangenehme Entscheidungen. Denn allgemeine staatliche
Aufgaben, die über die Beiträge zur Rentenversicherung
finanziert werden, gehören immer wieder auf den Prüfstand. Es muß geprüft werden, ob sie nicht über einen
anderen Weg finanziert werden können. Ansonsten würde ich mir große Sorgen machen.
Sie sagen, Sie wollen die Rentenversicherung armutsfest machen. Lieber Herr Riester, wir sollten uns doch
bitte über den einen Punkt einig sein: daß unser Rentenversicherungssystem für fast alle Menschen in Deutschland das Problem der Altersarmut erfolgreich bekämpft
hat. Ich kenne kein Alterssicherungssystem in der Welt,
das so erfolgreich war wie unseres.
({7})
Darauf sollten wir stolz sein. Das sind Gemeinsamkeiten, die wir eigentlich immer gehabt haben.
Sicherlich muß uns noch etwas einfallen, wie wir verschämte Altersarmut wirksamer bekämpfen können. Es
ist immer ein Problem, wenn jemand, der eine ganz
kleine Rente hat, aus Scham nicht zum Sozialamt gehen
mag. Das können wir statistisch ganz schwer erfassen.
Da bin ich, weil wir die Menschen lieb haben, für jeden
Vorschlag sehr dankbar, damit wir auch in diesem Bereich etwas Vernünftiges finden.
Sie sagen dann, die Rente müsse verläßlich sein. Wissen Sie, durch das Aussetzen der demographischen
Formel erreichen Sie, daß die Rente im Juni um 0,3 bis
0,4 Prozent stärker steigen wird, als wenn wir die Wahl
gewonnen hätten. Das bedeutet 6 DM mehr Rente im
Monat bei einer Rente von 2 100 DM; das ist die durchschnittliche Rente bei der LVA in Münster nach 45 Versicherungsjahren.
({8})
Die Rentner werden dann vielleicht noch einmal 5 oder
6 DM mehr bekommen, wenn Sie die Senkung der Sozialabgaben um 0,8 Prozent durchsetzen, weil dann ja 0,4
Prozent auch auf die Rentenerhöhung gehen. Das sind
dann zusammen vielleicht 12 oder 13 DM.
({9})
Gleichzeitig belasten Sie aber jeden Rentnerhaushalt
mit einer Summe zwischen 40 und 50 DM mehr im Monat für Heizöl, für Gas, für Benzin und für Strom durch
die Ökosteuer.
({10})
Das werden die Leute durch einen niedrigeren Steuersatz und die Kindergelderhöhung nicht kompensieren
können, weil ja in der Regel im Rentenalter, wenn es
sich nicht gerade um Grüne handelt, keine Kinder mehr
auf der Steuerkarte stehen.
({11})
Bei den Arbeiterfamilien ist das in der Regel nicht so.
Sie werden also große Probleme bekommen, auch in
diesem Bereich zu sagen, wir hätten die Renten zu weit
abgesenkt, wenn Sie den Rentnerhaushalt mit der Ökosteuer stärker belasten, als Sie ihn mit den 6 DM weniger Rentenbeitrag durch die Rücknahme der demographischen Formel entlasten können.
({12})
Herr Riester, auch eine andere Sache macht mir ganz
große Sorge - und deswegen können wir nicht in Anbetung verharren, sondern müssen das hier aussprechen -:
daß Sie die Grundlage der Rentenversicherung zerstören
werden, wenn Sie nicht die Interessen der jüngeren Generation, meiner Generation, die jetzt aktiv im Arbeitsleben steht, mit den Interessen der Älteren in Einklang
bringen.
({13})
Es ist doch in jeder Familie so - ich bin noch in einer
Großfamilie aufgewachsen -, daß die Älteren Rücksicht
nehmen müssen auf die Jüngeren und daß wir Jüngeren
auf die Älteren Rücksicht nehmen. So ist es auch in diesem Verhältnis. Welche Leistung kann ich den Menschen abverlangen? Da haben wir uns in der Koalition
nach langem Überlegen - das ist uns doch nicht leichtgefallen - gesagt: Die Rentenlaufzeiten werden auf
Grund der steigenden Lebenserwartung durch den medizinischen Fortschritt - es ist ja auch sehr schön, daß das
so ist - verlängert. Wir sind der Meinung, daß die Hälfte
der Kosten, die diese Lebensverlängerung in der Rente
letzten Endes verursacht, von der Rentnergeneration selber getragen werden soll, die andere Hälfte von den
Jungen. Hebeln Sie dieses Instrument nicht unvorsichtigerweise aus! Denn wir brauchen den Generationenvertrag in der Rente, sonst ist das System auf die Dauer kaputt, weil die Menschen in die innere Emigration gehen
werden.
({14})
Sehr verehrter Herr Riester, die SPD hat im Wahlkampf ein Programm für Lehrstellen für 100 000 Jugendliche angekündigt, und Sie setzen es jetzt um. Eine
gute Sache! In bezug auf die Lehrstellensituation gibt es
regional große Unterschiede. Das wissen sicherlich auch
Sie. Im Münsterland, wo ich herkomme, gibt es noch
sehr viele freie Lehrstellen. Wenn Sie heute eine Firma
besuchen, werden Sie erleben, daß dort für einen Büroberuf hundert Bewerbungen vorliegen; sucht die Firma
aber einen Schlosser oder Klempner, dann wird es enger. Auch das ist wahr. Also werden wir versuchen müssen, daß wir jedenfalls nicht am Ausbildungsmarkt vorbei etwas machen, was später der Arbeitsmarkt nicht
realisiert.
({15})
Ich bin aber dafür, etwas zu tun, wenn es regionale Probleme gibt.
Unsere ganz große Sorge muß folgendem Punkt gelten: 10 bis 15 Prozent unserer jungen Menschen verlassen nach zehn Jahren das allgemeinbildende Schulsystem und haben in diesen zehn Jahren nicht soviel gelernt - das liegt auch an vielen sozialen Faktoren -, daß
sie in der Lage sind, eine ganz normale Ausbildung zu
beginnen.
({16})
Wir sollten erst einmal mit den Ländern darüber sprechen, was man im Schulsystem verbessern kann, damit
das nicht so weitergeht.
({17})
Ich habe mir in den acht Jahren als Mitglied des Sozialausschusses des Deutschen Bundestages viele überbetriebliche Einrichtungen angeschaut. Das ist ja keine
neue Erfindung. ABH und ähnliche Dinge machen wir ja
heute auch. Arbeiten und Lernen miteinander zu verbinden ist im übrigen eine gute Maßnahme. Ich habe mich
manchmal gefragt: Warum setzen wir mit diesen Maßnahmen erst dann an, wenn das Kind schon lange in den
Brunnen gefallen ist, wenn die jungen Leute viele Jahre
der Demotivation in einer theoretisch geprägten Schule
hinter sich haben?
({18})
Wir müssen hier eher ansetzen. Es nützt nichts zu
schimpfen. Familienstrukturen sind heute zum Teil verKarl-Josef Laumann
ändert. Kinder haben es dann schwerer, wenn sie aus
schwierigen sozialen Strukturen kommen. Wir müssen
früher ansetzen, als wir dies mit dem betreffenden Programm des Bundes tun können. Dies ist eine ganz wichtige Frage für die Länder. Herr Schröder - im Gegensatz
zu vielen von uns - hätte uns das ja in Niedersachsen
acht Jahre lang vormachen können. Aber auch dort ist
nichts passiert.
({19})
Ich glaube, daß wir so in diesem Bereich Probleme lösen.
Am Ende wird es dann jedoch immer noch eine Restgruppe geben, die wir durch Qualifizierung möglichst
kleinhalten müssen. Aber man wird nicht jeden Menschen Gott weiß wohin qualifizieren können. Das wird
auch in der Praxis so sein. Für diese Menschen müssen
wir Arbeit finden. Ich will, daß derjenige, der acht Stunden am Tag arbeitet, davon leben kann. Ich habe ein solches Menschenbild.
Aber es kommt immer wieder vor, daß manche Menschen dies auf dem Arbeitsmarkt nicht erreichen können, weil keiner bereit ist, für ihre Leistungen soviel
Geld zu bezahlen. Ich habe einen ganz konkreten Fall
aus meinem Wahlkreis vor Augen, und zwar ein Mädchen, das lernbehindert ist und mit viel Liebe der Eltern
die Prüfung als Hauswirtschafterin soeben bestanden
hat. Ich bekomme sie nun nirgendwo unter, weil jedes
Altenheim Tariflohn zahlen muß und sie nun eben einmal sehr langsam arbeitet. Es wäre doch viel besser, wir
bekämen sie irgendwo in der Küche unter, wo sie einer
Arbeit nachgehen könnte, sie bekäme vielleicht den halben Lohn und wir würden die andere Hälfte des Lohnes
zahlen.
({20})
In diesem Fall wird folgendes passieren: Wenn wir nicht
bald eine Stelle für dieses Mädchen, das ich ganz konkret vor Augen habe, finden, werden die Eltern irgendwann sagen müssen: Das Kind muß in die Behindertenwerkstatt. Das kostet dann jeden Monat richtig Geld.
Für die Grenzfälle zwischen Beschäftigung in einer
Behindertenwerkstatt und einer auf dem normalem Arbeitsmarkt - das müßte jedem, der denken und fühlen
kann, klar werden; eine Lösung wird durch die Kompliziertheit der Welt schwerer - müssen wir eine Lösung
finden. Wir sollten gemeinsam im Sozialausschuß darüber nachdenken, was man da tun kann. Ich glaube, daß
unsere Idee eines Kombilohnes eine tolle Sache ist.
({21})
Lassen Sie mich ganz zum Schluß einen weiteren
Aspekt ansprechen. Man sollte jetzt nicht die Bilanzen
verfälschen. Wir haben in Deutschland sehr niedrige
Zinsen. Wir haben kaum noch eine Inflationsrate. Wissen Sie eigentlich, daß Rentner und Arbeiter die Profiteure sind? Ein Prozent mehr Inflation bedeutet einen
Verlust von Kaufkraft in Höhe von 18 Milliarden DM.
Die Wirtschaft springt an. Wir haben 400 000 Arbeitslose wenige als vor einem Jahr. 400 000 Menschen - Väter oder Mütter - haben durch unsere Politik, durch das,
was Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Norbert
Blüm hier in den letzten Jahren im Streit erreicht haben,
wieder eine Perspektive. Auf diese Zahl bin ich schon
ein wenig stolz.
({22})
Sehen Sie zu, daß Sie es im Bereich der sozialen Sicherungssysteme nicht mit den Ausgaben übertreiben.
Wenn es am Ende wieder zu einer höheren Inflation
kommt, sind die kleinen Leute die Gelackmeierten. Einen Kaufkraftverlust könnten sie trotz der Rentenerhöhungen nicht ausgleichen.
Noch ein Satz zur Rente und zur demographischen
Formel. Ihre Maßnahmen im Rentenbereich kosten uns
im nächsten Jahr 900 Millionen und im Jahr darauf 2,4
Milliarden DM. Betrachten Sie einmal den Aspekt der
Erwerbsunfähigkeit. Ich weiß, daß das, was wir da entschieden haben, sehr schwerwiegend ist. Vergessen
sollte man aber nicht, daß es natürlich im Rahmen der
Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe Anrechnungen gibt. Wenn Sie unsere Entscheidungen zurücknehmen, werden Sie dafür 4 bis 5 Milliarden DM
benötigen. Ich bin sehr gespannt, wie Sie das finanzieren
wollen, wenn Sie gleichzeitig die Beiträge senken. Nach
acht Jahren im Sozialausschuß weiß ich, daß es in diesem Bereich nicht das Sterntalermädchen gibt, das das
Geld, das vom Himmel kommt, auffängt. Sie können nur
das ausgeben, was Sie haben. Ich bin gespannt, Herr
Riester, wie Sie es bewerkstelligen wollen, daß man mit
geringeren Beiträgen mehr bezahlen kann.
Schönen Dank.
({23})
Das Wort hat für die
Fraktion der PDS Frau Dr. Heidi Knake-Werner.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Bundeskanzler hat hier gestern vorgetragen, daß er sich und
seine Regierung am Umgang mit der Massenarbeitslosigkeit messen lassen will. Er hat die Verringerung der
Arbeitslosigkeit auch zum wichtigsten Ziel seiner Regierungsarbeit erklärt. Herr Bundeskanzler, Sie können sich
darauf verlassen: Wir werden Sie daran messen.
({0})
Aber wenn Sie sich in diesem Ziel selbst ernst nehmen, dann verlangt das eben, vieles ganz anders zu machen als die alte Regierung und nicht nur einiges besser
zu machen. Nach meinem Verständnis verlangt das, jetzt
energisch Pflöcke einzusetzen für mehr Beschäftigung
und dies nicht dem Ergebnis von Konsensgesprächen zu
überlassen.
Ich will Ihre Hoffnung auf ein Bündnis für Arbeit
nicht trüben, obwohl nach meinem Geschmack zu viele
daran teilnehmen werden, die sogar die alte Bundesregierung bei Deregulierung und Sozialabbau vor sich
hergetrieben haben. Wenn aber ein Bündnis für Arbeit,
dann erwarte ich von einer rotgrünen Regierung, daß sie
mit einem eigenen Konzept zur Beschäftigungspolitik in
die Gespräche hineingeht und daß nicht schon das Gespräch selbst zum Konzept erklärt wird. Die vom Bundeskanzler genannten Vorleistungen für diese Gespräche
- wie die Steuerreform, die Senkung der Lohnnebenkosten und das Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit, so gut und richtig ich das finde - reichen mir an
dieser Stelle nicht.
Haben wir es in der Bundesrepublik und in den anderen kapitalistischen Industrieländern wirklich damit zu
tun, daß Arbeit zu teuer ist und billiger gemacht werden
muß? Erinnern Sie sich doch an die Debatten in den
letzten Jahren, die wir hier gemeinsam geführt haben.
Haben wir es nicht vielmehr mit tiefgreifenden Umbrüchen der Arbeitsgesellschaft zu tun, die dazu führen,
daß die Arbeit in den großen produzierenden Bereichen
und in den traditionellen Dienstleistungssektoren - auf
Teufel komm raus - weiter wegrationalisiert wird? Haben wir es darüber hinaus nicht damit zu tun, daß sich
der Staat zunehmend aus seiner Verantwortung für öffentliche Dienstleistungen, für Bildung und für Kultur
zurückgezogen hat, was mit einem Abbau von Beschäftigung verbunden war? Ist es nicht so, daß unter der Regierung Kohl viel über die Dienstleistungsgesellschaft
geredet worden ist, aber immer mehr öffentliche
Dienstleistungen abgebaut wurden? Ich erwarte hier Ihre
Alternativen zur Umkehr dieser Tendenz.
Den Unternehmern die Lohnnebenkosten um 0,4 Prozent zu senken wird all diese Probleme nicht lösen.
Wenn Sie wirklich die kleinen Unternehmen und die arbeitsintensiven Handwerksbetriebe entlasten wollen,
dann folgen Sie unserem Vorschlag: Berechnen Sie die
Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber zukünftig
nach der Wertschöpfung, nicht mehr nach der Lohnsumme.
({1})
Daraus wird wirkliche Entlastung für diese Betriebe und
werden möglicherweise auch die von Ihnen gewünschten Beschäftigungseffekte entstehen.
Ich bin zutiefst beunruhigt, daß mit Blick auf das
Bündnis für Arbeit in der Regierungserklärung kein
Wort zum Überstundenabbau und kein Wort zur Arbeitszeitverkürzung vorkommt, daß nichts dazu gesagt
wird, wie die Tarifverhandlungen, die zweifelsohne den
Kern dieses Bündnisses bilden, mit sinnvollen gesetzlichen Rahmenbedingungen begleitet werden sollen. Wer
Massenarbeitslosigkeit ernsthaft bekämpfen will, wird
um eine Novellierung des Arbeitszeitgesetzes nicht herumkommen. Wir werden darum entsprechende Initiativen vorschlagen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte auch erwartet, daß die Regierung Schröder zur aktiven Arbeitsmarktpolitik mehr zu sagen hat, als Norbert Blüm
schon wußte. Die vielbeschworene Brückenfunktion der
aktiven Arbeitsmarktpolitik hat bisher nicht funktioniert.
Sie wird auch zukünftig nicht funktionieren. Das werden
wir spätestens dann merken, wenn die sogenannten
Wahl-ABM am Ende dieses Jahres auslaufen und viele
Frauen und Männer gerade in Ostdeutschland um eine
weitere Hoffnung betrogen sind.
Wir brauchen die Verstetigung der aktiven Arbeitsmarktpolitik, um dauerhaft Arbeitsplätze in einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor zu schaffen.
Millionen Frauen und Männer könnten hier in sozialen,
kulturellen und ökologischen Projekten Arbeit finden.
Das sind Arbeiten, die jetzt brachliegen, aber für den
notwendigen sozialen und ökologischen Umbau unserer
Industriegesellschaft unverzichtbar sind.
Schauen Sie doch einfach einmal nach Ostdeutschland. Dort sind mit öffentlich geförderter Beschäftigung,
mit AB-Maßnahmen, mit Strukturanpassungsmaßnahmen eine neue Infrastruktur, neue soziale und kulturelle
Angebote entstanden, gibt es erschwingliche Beratung
und Dienstleistung sowie Jugendarbeit - Daueraufgaben, die bisher leider an der mangelnden Kontinuität
kranken. Das wollen wir durch eine Verstetigung in einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor ändern.
({3})
Natürlich werden das überwiegend Projekte sein, die
sich nicht rechnen; da macht sich niemand Illusionen.
Aber diese Projekte werden auch dem Wirtschaftsstandort Deutschland nutzen. Mehr noch - und das ist uns
wichtig -: Sie sind für den Lebensstandort Deutschland
unverzichtbar, und das wollen wir befördern.
({4})
Meine Damen und Herren, die Regierung bekommt
die Unterstützung der PDS immer dann, wenn sie die
Rücknahme der größten sozialpolitischen Grausamkeiten der Vorgängerregierung vorhat. Was die Erwerbstätigen anbetrifft, so haben Sie sich auch eine ganze Menge vorgenommen, bis hin - das will ich als kleine ironische Anmerkung hinzufügen - zur Beibehaltung der Regelung bezüglich des Jahreswagens. Herr Bundeskanzler, die Kollegen von Daimler und VW werden es Ihnen
danken.
Weniger zufrieden werden allerdings die Betriebsräte
sein, die Sie mit Ihrer Absicht der Besteuerung von Abfindungen bei betriebsbedingten Kündigungen schokkieren. Hier langen Sie gleich zweimal zu, wenn Sie
nicht sofort die bestehenden Regelungen im SGB III zurücknehmen; das wissen Sie genau. Dann nämlich werden Sie die Abfindung nicht nur auf das Arbeitslosengeld anrechnen, sondern sie zusätzlich noch besteuern.
Damit ist der Schutzgedanke von Abfindungen bei betriebsbedingten Kündigungen flöten. Dagegen werden
wir auftreten.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nichts oder nichts
Gutes von der neuen Regierung zu erwarten haben all
diejenigen, die ohne Arbeit sind. Ich gebe aber unDr. Heidi Knake-Werner
umwunden zu: Im Verpacken sind Sie besser als die alte
Regierung. Wo Ihre Vorgänger noch von sozialer Hängematte und nationalem Freizeitpark schwadronierten,
spricht der Bundeskanzler Schröder vom sozialen Netz,
das zum Trampolin werden müsse. Jede und jeder soll in
ein eigenverantwortliches Leben zurückfedern können.
Ein wunderschönes Bild, und wer wollte das nicht? Aber
warum federn sie heute eigentlich nicht? Weil die sozialen Sicherungssysteme sie in der berühmten Sozialstaatsfalle festhalten, oder weil sie zu sehr im Besitzstandsdenken verhaftet und unflexibel sind? Das sind die
Argumentationsmuster von gestern. Welches aber sind
Ihre? Von Armut, von sozialer Ausgrenzung habe ich in
Ihrer Regierungserklärung nichts gehört.
Natürlich sind wir uns einig in dem Vorschlag, Arbeit
statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Die Frage ist nur:
Welchen Weg wollen Sie da gehen? Ich muß gestehen:
Was diesbezüglich der Kollege Arbeitsminister hier
vorgetragen hat, macht mich nicht froh. Das riecht doch
sehr nach Kombilohn, nach weiterer Ausweitung von
Niedriglohnsektoren, nach Beibehaltung bestehender
Formen von Zwangsarbeit, wie wir sie heute haben.
Diesen Weg wollen wir nicht. Hier werden wir entsprechenden Gegendruck entfalten.
({6})
Wir haben wie viele Erwerbslose erwartet, daß Sie
die schlimmsten Verschärfungen des Arbeitsförderungsrechts im SGB III zurücknehmen. Leider Fehlanzeige!
Noch vor wenigen Monaten haben wir hier gemeinsam
der alten Regierung vorgeworfen, daß sie statt der Arbeitslosigkeit vor allen Dingen die Arbeitslosen bekämpft. Sie sind auf dem besten Wege, in das gleiche
Fahrwasser zu geraten. Der Eindruck entsteht, daß Sie
hier an neoliberaler Kontinuität festhalten, und er verstärkt sich, wenn man die von Oskar Lafontaine losgetretene Diskussion zur Pflege- und Arbeitslosenversicherung hinzunimmt.
Ich will ja dem SPD-Parteivorsitzenden nicht unrecht
tun. Natürlich ist es erlaubt und notwendig, über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme nachzudenken,
insbesondere dann, wenn durch die enge Koppelung an
die Erwerbsarbeit ihre Finanzierung immer unsicherer
wird, weil immer weniger Männer und Frauen - für sie
galt das ja ohnehin nie - kontinuierliche Erwerbsverläufe haben. Die Auflösung der Regelmäßigkeit der Normalarbeitsverhältnisse, die ungerechte Verteilung von
bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen Männern und
Frauen machen in der Tat eine solche Diskussion notwendig, und hier würden wir gern mittun.
Das Problem bei Oskar Lafontaine ist auch nicht die
Frage der Steuerfinanzierung. Auch wir wollen sie; wir
haben das selber mit unserem Pflegeassistenzgesetz und
mit einer Vorlage zur Grundsicherung vorgeschlagen.
Wir wollen ebenfalls die Renten- und Arbeitslosenversicherung von Kosten entlasten, die gesamtgesellschaftlich zu tragen sind und die nicht allein auf die abhängig
Beschäftigten übergewälzt werden dürfen. Fatal an der
Diskussion von Oskar Lafontaine finde ich, daß er die
Bedürftigkeitsfrage mit hineingebracht hat
({7})
und nur jenen Leistungen zukommen lassen will, die absolut nichts mehr haben. Das ist nicht nur unsozial, sondern vor allem frauenfeindlich, wie wir aus der Praxis
der heutigen Bedürftigkeitsprüfungen längst wissen. Das
ist eben nicht Zielgenauigkeit von sozialen Leistungen;
das ist nichts anderes als Stammtischlogik.
({8})
Wir wollen auch, daß die schlimmsten Verschärfungen für Arbeitslose im SGB III zurückgenommen werden, und dazu gehört für uns zuallererst die Zumutbarkeitsregelung, die binnen kürzester Zeit jede Qualifikation entwertet. Dazu gehören Vorschriften zur Meldepflicht und zur Beschäftigungssuche - alles Maßnahmen, mit denen man Arbeitslose drangsaliert, statt sie zu
fördern. Vor kurzem waren wir uns darin mit SPD und
Bündnisgrünen noch sehr einig.
Wir unterstützen natürlich Ihr Sofortprogramm für
100 000 arbeitslose Jugendliche. Wir könnten hier
vielleicht einen Schritt weiter sein, wenn Sie in der
letzten Legislaturperiode unserem diesbezüglichen Antrag zugestimmt hätten. Wenn es aber darum geht, jungen Menschen eine wirkliche Perspektive zu geben,
dann reicht es nicht aus, sie auszubilden; dann muß auch
dafür gesorgt werden, daß sie über die Übernahme in ein
Arbeitsverhältnis für mindestens ein Jahr den Fuß in die
Tür des Erwerbslebens bekommen.
({9})
In diesem Zusammenhang über die Chancen und
Notwendigkeiten eines Generationenvertrages nachzudenken, halten wir für dringend geboten. Formen des
flexiblen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben - freiwillig
und sozial gesichert - sind hier ebenso wichtig wie die
generelle Verkürzung der Lebensarbeitszeit, wie sie jetzt
in der Diskussion ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Regierung hat
die Rücknahme der Sozialkürzungen der Kohl-Ära bei
der Rente angekündigt. Die Absenkung des Rentenniveaus ist heute schon häufig genannt worden. Wir unterstützen das, auch wenn uns nicht gefällt, daß das nur
ausgesetzt werden soll. Wir meinen aber, die Erhöhung
des Renteneintrittsalters für Frauen und für Schwerbehinderte gehört auch unbedingt zurückgenommen. Auch
zurückgenommen gehören - darüber ist hier noch gar
nicht gesprochen worden - die Regelungen, in den
Spargesetzen der Kohl-Regierung mit denen Anrechnungszeiten für Ausbildung zusammengestrichen worden sind. Gerade auch hier werden Frauen doppelt betrogen, weil viele von ihnen die Bildungsoffensive der
ersten sozialliberalen Koalition genutzt haben, um sich
über den zweiten Bildungsweg zu qualifizieren. Sie
heute dafür mit Rentenabstrichen zu bestrafen, halten
wir für absolut unzumutbar.
({10})
In diesem Zusammenhang noch ein Wort zu den prekären Beschäftigungsverhältnissen, zur Scheinselbständigkeit, zu 620-DM- und 520-DM-Jobs. Sie haben unsere Unterstützung immer dann, wenn Sie diese endlich
sozialversicherungspflichtig machen und den massenhaften Ausstieg aus der Solidargemeinschaft eindämmen
wollen. Wir haben allerdings erhebliche Zweifel, daß
der Weg, den Sie einschlagen, der richtige ist, weil wir
fürchten - darin sind wir uns einig mit der stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Ursula Engelen-Kefer -, daß
die bei 300 DM angesiedelte Bagatellgrenze zu hoch ist.
Sie fordert förmlich dazu heraus, Arbeitsverhältnisse
weiter aufzusplitten.
Kollegin, kommen
Sie bitte zum Schluß.
Ich komme gleich
zum Schluß. Wir haben auch kein Verständnis dafür,
daß Sie die Arbeitgeber statt zu der bisherigen Pauschalsteuer nun zu Sozialversicherungsbeiträgen verpflichten,
den Geringstverdienerinnen ab 300 DM monatlich aber
auch den Sozialversicherungsbeitrag für die Rente und
die Lohnsteuer aufbürden wollen. Das ist nicht unser
Konzept. Wir wollen, daß die Arbeitgeber bis zum Existenzminimum der Beschäftigten beide Anteile der Sozialversicherungsbeiträge bezahlen, weil wir diese Arbeitsverhältnisse zugunsten regulärer Arbeitsverhältnisse
unattraktiv machen wollen.
Ein letztes Wort an den Kollegen Arbeitsminister. Ich
muß, Herr Minister Riester, eine tiefe Enttäuschung
loswerden: Wenigstens von Ihnen hätte ich erwartet, daß
Sie es nach 16 Jahren Kohl, nach 16 Jahren des Abbaus
von Gewerkschaftsrechten als eine Ihrer ersten Initiativen begreifen - sozusagen als Ihr Herzblut -, eine Initiative zu starten, die den Abbau von Gewerkschaftsrechten zurücknimmt, und den Vorschlag machen, das
vollständige Streikrecht der Gewerkschaften wieder
durchzusetzen
({0})
durch die Wiedereinführung des alten § 116 AFG. Auch
hier können Sie eine Initiative unsererseits erwarten.
Ich bedanke mich.
({1})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat die Kollegin Ulla Schmidt.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sie werden sich nicht wundern, wenn ich, entgegen allen Kassandrarufen heute
morgen, sage: Ich habe ein gutes Gefühl bei dieser Regierung. Hier zu stehen, zur Regierungserklärung zu reden und zu wissen, daß ich nach vielen Jahren im Parlament endlich das, wofür ich jahrelang gestritten habe,
wofür ich bei den Frauen und Männern in diesem Land
geworben habe, mit dieser Regierung auf den Weg bringen kann, das tut gut. Wir sind auf dem richtigen Weg.
({0})
Ich verstehe, daß es Ihnen im Moment anders geht.
Diese Regierung ist kaum 14 Tage im Amt, und bereits
jetzt hat sie Vorleistungen erbracht, um das bestehende
Gerechtigkeitsdefizit in diesem Lande, das unter anderem dazu geführt hat, daß die Wählerinnen und Wähler
sie abgewählt haben,
({1})
zu beseitigen.
Mit Beginn des Jahres 1999 werden wir die erste
Stufe der Steuerreform in Kraft setzen, die vor allen
Dingen die Normalverdiener entlastet und die Ernst
macht mit der finanziellen Förderung von Familien. Familien mit zwei Kindern werden 100 DM mehr in der
Tasche haben.
({2})
- Diese Regierung redet nicht nur von der Senkung der
Lohnnebenkosten, Herr Dr. Kues, sondern sie senkt sie
tatsächlich. Sie stabilisiert die Rentenbeiträge nicht nur,
sie senkt sie um 0,8 Prozent. Sie wissen: Wären Sie an
der Regierung geblieben, hätten wir die Rentenbeiträge
erhöhen müssen. Das ist Fakt.
({3})
Diese Regierung sichert Arbeitnehmerrechte, nachdem diese in den letzten Jahren Zug um Zug abgebaut
worden sind. Man spürt das draußen in den Diskussionen: Zum erstenmal seit vielen Jahren zucken die Menschen bei der Erwähnung des Begriffs Reform nicht
mehr zusammen - weil sie nicht wissen, was jetzt wieder auf sie zukommt -, sondern setzen ihre Hoffnung in
eine positive Politik. Ich sage Ihnen: Wir werden diese
positive Politik umsetzen.
({4})
Die Hoffnung richtet sich darauf, daß manches von
dem, was Sie gemacht haben, demnächst eingeleitet
wird, wie sonst die Märchen eingeleitet werden: „Es war
einmal . . .“ Es wäre auch schön, wenn wir „Es war einmal ...“ zu dem sogenannten Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996 sagen könnten.
({5})
Wie im Märchen hatten Sie uns versprochen, daß Arbeitsplätze geschaffen werden, zum Beispiel durch
Aufweichung des Kündigungsschutzes und durch Einschnitte bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Tatsache ist jedoch, daß allein die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zwar die Unternehmen um
Milliardenbeträge entlastet hat, aber dafür keine Arbeitsplätze geschaffen hat. Das ist ungerecht, Herr
Dr. Kues. Diese Ungerechtigkeit werden wir beseitigen.
({6})
Als ob diese Ungerechtigkeit ein Beweis für die positive
Wirkung der alten Bundesregierung sei, werden wir
heute den ganzen Morgen davor gewarnt, diese und andere Schandtaten endlich abzuschaffen.
Frau Kollegin Schwaetzer, Sie sagen, die rotgrüne
Regierung mache eine Rolle rückwärts; ich lasse jetzt
einmal beseite, ob Sie die Rolle rückwärts nicht vielleicht mit einer Hechtrolle verwechseln. Haben Sie alle
denn nicht begriffen, daß der Souverän, das Volk, Sie
abgewählt hat, weil er nicht wollte, daß es in diesem
Lande so weitergeht, weil er wollte, daß sich etwas verändert?
({7})
Sie können in Ihren Reden doch nicht so tun, als wäre
das alles nicht geschehen. Wenn die Wählerinnen und
Wähler ein „Weiter so“ gewollt hätten, dann säßen Sie
heute auf der Regierungsbank und nicht die SPD und die
Grünen.
({8})
Der Widerspruch zwischen Ihren offiziellen Reden
und den persönlichen Erfahrungen der Menschen war
einfach zu groß geworden, zum Beispiel bei der Behauptung, die Kürzung der Lohnfortzahlung habe mit
dazu beigetragen, daß die Krankenstände abgesenkt
wurden. Abgesehen davon, daß das einzige Mittel, um
Krankenstände wirklich abzusenken, ist, daß in Betrieben motiviert wird und daß krankmachende Bedingungen am Arbeitsplatz beseitigt werden müssen.
({9})
Das ist in vielen großen Betrieben geschehen. Unbestreitbar ist doch, daß die Belegschaften durch vorzeitige
Verrentung dauernd verjüngt wurden, daß die stetig
steigende Zahl der geringfügig Beschäftigten das Volumen der Krankheitstage gesenkt hat. 520-/620-DMArbeitsverhältnisse sind sozial ungerecht und disziplinieren schon allein deswegen, weil die Not der Beschäftigten sie dazu zwingt, ihre Arbeit trotz Krankheit zu
verrichten. Ich sage Ihnen ganz klar: Ein Ruhmesblatt
für den Sozialstaat, wie Sie es heute immer gesagt haben, ist das wahrlich nicht.
Darüber hinaus führte dieses Gesetz zu massiver Ungerechtigkeit bei den Beschäftigten. Diejenigen, die
durch starke Gewerkschaften und Tarifverträge abgesichert sind, erhalten eine 100prozentige Lohnfortzahlung;
andere, die nicht so abgesichert sind und zumeist zu
denjenigen gehören, die am wenigsten verdienen, werden für Krankheiten bestraft. Deshalb sage ich Ihnen
ganz klar: Ich bin froh, daß diese Bundesregierung mit
einem ihrer ersten Schritte diese Ungerechtigkeit beseitigen wird.
({10})
Die zweite Frage ist die Einbeziehung der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse in die Sozialversicherungspflicht. Viele, die diesem Bundestag
schon länger angehören, werden sich vielleicht daran
erinnern, daß 1997 unsere ehemalige Kollegin Babel in
ihren Pressemitteilungen und hier im Plenum stolz verkündet hat, daß die F.D.P. zum fünftenmal die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse als die Errungenschaft
des Sozialstaates verteidigt hat.
({11})
- Sie hat gesagt: als letzte Freiheit im Unternehmertum.
Ich habe die Zitate hier.
Ich sage Ihnen ganz klar: Es geht hier nicht - wie Sie
es angesprochen haben - um die Frage von Abkassieren
oder Füllen von Kassen.
({12})
Es wäre wirklich zu kurz gedacht, wenn wir so argumentieren würden. Im Gegensatz zu Ihrer Politik basiert
unsere Politik darauf, daß wir die Erosion des Sozialstaates, daß wir Wettbewerbsverzerrungen und Sozialdumping nicht billigend in Kauf nehmen werden.
({13})
Wir werden es nicht zulassen, daß 5,3 Millionen Arbeitnehmerinnen aus ihrer Erwerbstätigkeit keine eigene soziale Sicherung, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und kein Mutterschaftsgeld erhalten. Was an dieser
Art von Arbeitsverhältnissen frauenfreundlich ist, Kollegin Schwaetzer, darüber würde ich mich gerne mit Ihnen unterhalten; um das nachvollziehen zu können, bin
ich wahrscheinlich nicht intelligent genug.
({14})
Sie haben das nicht nur in Kauf genommen. Durch
Ihre Politik haben Sie viele Arbeitgeber geradezu ermuntert, statt existenzsichernder Vollzeitarbeitsplätze
und Teilzeitarbeitsplätze sozial ungeschützte Arbeitsverhältnisse zu schaffen. Es war ja auch sehr verlokkend, mit der indirekten Subventionierung von Lohnkosten sich leichten Herzens Wettbewerbsvorteile verschaffen zu können. Damit haben Sie zugelassen, daß
die Unternehmer und Arbeitgeber, die ihre sozialen
Verpflichtungen erfüllt haben, die ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sozial abgesichert haben, immer
höhere Lohnnebenkosten aufgebürdet bekamen, genauso
wie die Beschäftigten selbst, weil immer weniger in die
sozialen Kassen eingezahlt und dadurch für die, die eingezahlt haben, alles teurer geworden ist.
({15})
Das müßte eigentlich Ihrer Philosophie von Wettbewerbsfähigkeit ganz enorm widersprechen.
Deshalb haben wir versprochen, diesen Mißstand zu
beseitigen. Wir werden die Geringfügigkeitsgrenze auf
monatlich 300 DM festsetzen. Wir werden die PrivileUlla Schmidt ({16})
gierung der geringfügigen Nebenbeschäftigung beseitigen,
({17})
weil niemand einsehen wird, warum der Facharbeiter,
der Überstunden ableistet, mit seinen Löhnen voll in die
Sozialversicherung zahlt, während der andere, der neben
einem sozialpflichtigen Arbeitsverhältnis eine Nebenbeschäftigung hat, nicht in die Sozialversicherungskassen
einzahlt; das untergräbt auf Dauer den Sozialstaat und
die Solidarität.
({18})
Wir werden die Arbeitgeber verpflichten, ihren Beitrag
zur Sozialversicherung für Tätigkeiten ab 300 DM zu
leisten.
Wir werden Ausnahmen bei der Saisonbeschäftigung
zulassen; sie bleibt sozialversicherungsfrei. Damit erhalten wir die Flexibilität überall dort, wo sie gebraucht
wird. Das macht deutlich: Wir werden nicht die geringfügige Beschäftigung abschaffen. Es geht uns nicht um
ihre Beseitigung, sondern um die Beseitigung des Mißbrauchs und der Flucht aus der Sozialversicherung. Genauso werden wir den Skandal der Scheinselbständigkeit
beseitigen.
({19})
Kolleginnen und Kollegen, ich muß hier noch einmal
etwas klarstellen, was offensichtlich bei einigen von Ihnen falsch angekommen ist. Ich höre heute morgen immer etwas von sozialer Ungerechtigkeit, die mit unserer
Politik verbunden ist.
({20})
Mir klangen die Ohren; ich dachte immer, Sie reden von
Ihrer Politik.
({21})
Ich sage Ihnen ganz klar: Der Unterschied ist, daß wir
mit unserer Politik und mit der gestrigen Regierungserklärung des Bundeskanzlers Schröder endlich Abschied
nehmen von der Ausgrenzung und Entsolidarisierung in
dieser Gesellschaft, von der Ausgrenzung und Entsolidarisierung gegenüber Sozialhilfeempfängern, von der
Ausgrenzung und Entsolidarisierung gegenüber den Arbeitslosen, von der Ausgrenzung und Entsolidarisierung
gegenüber Alleinerziehenden, gegenüber Frauen und
gegenüber den Jugendlichen in unserem Land. Sie reden
immer von sozialen Ungerechtigkeiten und sehen gar
nicht, daß es Ihre Politik der letzten Jahre gewesen ist,
die zu genau diesen Ungerechtigkeiten geführt hat.
({22})
Für all die, von denen ich jetzt gesprochen habe, galt
nicht mehr das Prinzip, daß alle, und zwar auch die mit
den stärkeren Schultern, für diejenigen in unserer Gesellschaft einstehen, die in Not geraten sind.
Herr Kollege Laumann,
({23})
Sie haben ja recht, daß die Solidargemeinschaft davon
lebt, daß jeder und jede nach seinen bzw. ihren Möglichkeiten Beiträge leistet und dadurch individuelle Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Invalidität
durch Rechtsansprüche abgesichert sind. Aber wenn Sie
einmal ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben, daß doch
genau Sie - nicht Sie persönlich, sondern Sie mit Ihrer
Bundestagsfraktion, als Sie noch in der Regierung waren es gewesen sind, die durch die immer stärkere Abwälzung der Lasten auf diejenigen, die tatsächlich bedürftig
sind, auf die Kranken, auf die Arbeitslosen, auf die Alleinerziehenden, auf die Frauen, genau diese Rechtsansprüche ausgehöhlt haben und damit einen der Grundsätze unseres Sozialstaates - daß wir keine Entwicklung
zu einem karitativen Wohlfahrtsstaat, sondern einen
Sozialstaat mit einklagbaren Rechtsansprüchen wollen aufheben wollten.
({24})
Deshalb sehen Sie mich auf Ihrer Seite, wenn es darum
geht, diese Rechtsansprüche beizubehalten und auch zu
verwirklichen. Denn ich sage Ihnen ganz klar: Bei aller
Notwendigkeit, über die Zielgenauigkeit von Sozialleistungen und über die Effizienzsteigerung auch der Leistungssysteme zu streiten, ist der Erhalt dieser Rechtsansprüche für mich die Basis, auf der alle Reformen aufgebaut werden müssen; denn sie allein schaffen Freiheit,
und mit ihnen wird die Würde des Menschen respektiert.
Die heute vom Bundesarbeitsminister angekündigte
Verstärkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist im
übrigen ein Weg in diese Richtung. Wir kehren das bestehende Verhältnis von aktiver zu passiver Leistung
Zug um Zug um. Damit machen wir nicht nur die Instrumente staatlicher Arbeitsmarktpolitik effizienter;
vielmehr konzentrieren wir die finanzielle Leistung vorrangig auf Investitionen in die menschliche Arbeitskraft.
Das ist auf Dauer eben nicht nur sinnvoller, vielmehr ist
es auch billiger, und es entspricht unserer sozialdemokratischen Auffassung von Sozialpolitik. Sie ist dadurch
gekennzeichnet, daß durch staatliche Rahmenbedingungen nicht nur Türen geöffnet werden müssen; vielmehr
soll es durch die Förderung der eigenständigen Existenzsicherung den Menschen ermöglicht werden, auf eigenen Füßen durch diese Türen zu gehen und den Weg
selber zu bestimmen, den sie gehen wollen.
({25})
Das ist die Basis, auf der Freiheit geschaffen wird.
Das ist die Basis, mit der die Würde des Menschen respektiert wird. Deshalb stehen wir für eine andere Politik, eine Politik, die gerecht die Lasten und Chancen
verteilt, eine Politik, die die Erwerbsarbeit verteilt, eine
Politik, die Chancengleichheit in Bildung und in Kultur
durchsetzt, eine Politik, die die Benachteiligung der Geschlechter überwindet und die Zukunftsperspektiven für
junge Menschen schafft.
Ulla Schmidt ({26})
Ohne Gerechtigkeit, ohne Solidarität und ohne soziale Sicherheit ist Demokratie auf Dauer nicht lebensfähig. Sie kann auch nicht mehr so blühen, wie wir es
alle wollen. Deshalb ist unsere Politik ein Beitrag zur
Verfestigung der Demokratie und der demokratischen
Strukturen in unserem Lande.
({27})
Ein letzter Punkt. In seiner Regierungserklärung hat
der Bundeskanzler gestern auf das Versagen der alten
Bundesregierung angesichts der horrenden Jugendarbeitslosigkeit hingewiesen. Ich muß Ihnen, Kolleginnen
und Kollegen, einmal ehrlich sagen: Ich habe Ihre Reaktionen gestern überhaupt nicht verstanden, als Sie bei
der Regierungserklärung so laut gelacht haben.
({28})
Es ist doch unbestreitbar, daß es Ihnen nicht gelungen
ist, den dramatischen Verlust von Ausbildungsplätzen
aufzuhalten. Auch bestreitet niemand mehr ernsthaft,
daß die hohe Jugendarbeitslosigkeit die Integration junger Menschen gefährdet. Deshalb war Ihr Lachen fehl
am Platz. Es entspricht doch auch dem christlichen Bild
vom Menschen, daß er sich selber ernähren kann. Wenn
dem so ist, dann springen Sie doch einmal über Ihren
Schatten. Warum begrüßen Sie es hier nicht, daß wir ein
Programm zur Schaffung von 100 000 Arbeitsplätzen
für junge Frauen und Männer auflegen?
({29})
Es geht nicht nur darum, daß wir damit die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen; es geht auch darum, daß wir
dadurch das Fundament unserer Gesellschaft, Freiheit,
Toleranz und Demokratie, verteidigen, indem wir jungen Menschen wieder eine Chance in dieser Gesellschaft
geben und ihnen eine Perspektive eröffnen.
Ein weiterer Punkt, Herr Kollege Laumann, betrifft
das, was Sie über die Bedingungen für Kinder, die hier
aufwachsen, gesagt haben. Haben Sie denn einmal darüber nachgedacht, wie diese Gesellschaft eigentlich in
zehn Jahren aussehen soll? Wenn wir zulassen, daß
mehr als 10 Prozent einer Generation den Weg in den
ersten Arbeitsmarkt oder zu einer Ausbildung nicht finden, dann stellt sich die Frage, wie diese Menschen über
Jahre hinweg in das Erwerbsleben integriert werden
sollen. Sie werden doch der Erwerbsarbeit entwöhnt.
({30})
Wer will mit mir denn noch über die Zukunftschancen für Familien reden, wenn wir nicht die Bedingungen
dafür schaffen, daß junge Frauen und Männer durch Sicherung ihrer eigenen Existenz auch Bedingungen für
eine partnerschaftliche Erziehung ihrer Kinder und für
ein Leben ohne Sorge für die nachwachsende Generation schaffen können. Das müßte Ihnen doch zu denken
geben. Das entspricht doch auch dem christlichen Menschenbild. Deshalb müßten Sie jetzt eigentlich mit meiner Fraktion für die Beantwortung dieser Fragen eintreten.
({31})
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen.
Wenn es darum geht, jungen Menschen eine Perspektive
zu geben, dann geht es auch darum, daß die jungen
Frauen in der Erwerbstätigkeit die gleichen Chancen
wie die jungen Männer erhalten.
({32})
Junge Frauen wollen einen Beruf erlernen, der ihren Fähigkeiten und Kompetenzen angemessen ist und sie finanziell unabhängig macht. Die jungen Frauen können
sicher sein, daß wir bei unseren politischen Vorstellungen und in der Gesetzgebung darauf achten werden, daß
das auch umgesetzt wird. Das ist nicht nur eine Frage
von Demokratie - wie es die Gleichstellung der Geschlechter eben ist -, sondern auch eine Frage der Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates.
Wenn wir wissen, daß die lebenslange Erwerbsbiographie für Männer in der Zukunft nicht mehr so sein
wird, wie sie es in der Vergangenheit war, sondern sich
derjenigen der Frauen anpaßt, dann entspricht es dem
Sozialstaatsgebot, dafür zu sorgen, daß junge Frauen ihre Existenz genauso wie junge Männer sichern können
und daß in den sich wandelnden Welten - auch in der
Berufswelt, die von Phasen der Weiterbildung, der Arbeitslosigkeit und des Wiedereinstiegs gekennzeichnet
sein wird - in einer Familie immer einer der Partner in
der Lage ist, die Existenz der Familie zu sichern. Wer
das nicht sicherstellt, der zielt darauf ab, daß diese Risiken der Erwerbsbiographien in Zukunft immer durch
staatliche Leistungen aufgefangen werden. Auch das
würde den Sozialstaat sprengen, und auch das werden
wir nicht mitmachen. Denn der Sozialstaat der Zukunft
verlangt, daß junge Frauen und Männer gleiche Chancen
haben, damit die Familien gleiche Chancen haben.
({33})
Ich glaube, daß Frauen und Männer in diesem Lande
Veränderungen wollen. Sie erwarten von uns zu Recht,
daß wir neue Maßstäbe setzen; sie erwarten, daß Solidarität und Gerechtigkeit wieder eine Bedeutung erlangen.
Sie sind bereit, sich den Anforderungen des
21. Jahrhunderts zu stellen, verlangen aber, daß es dabei
gerecht zugeht. Diese Gerechtigkeit - auch bei Entscheidungen unter finanziellen Zwängen - ist das, was
ich den Menschen in diesem Lande von dieser Stelle aus
zusage. Dazu werden wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser Regierung an unserer Seite einen guten
Schritt nach vorne machen. Das ist gut für Deutschland,
das ist gut für die Familien, und das ist gut für die Menschen, die in Deutschland leben.
Vielen Dank.
({34})
Ulla Schmidt ({35})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Laumann das
Wort.
Frau Kollegin
Schmidt, Sie haben mich persönlich angesprochen. Sie
haben gesagt, daß Sie einen Wohlfahrtsstaat
({0})
mit Rechtsansprüchen wollen und daß wir nach Ihrer
Meinung in den letzten Jahren zu viele Kürzungen vorgenommen hätten.
({1})
Dazu möchte ich einfach einmal anmerken, daß wir nach
meiner tiefen Überzeugung in der Sozialpolitik das
Ganze nur gerecht und bezahlbar gestalten können,
wenn wir soziale Leistungen mit Eigenverantwortung
verbinden.
({2})
Deswegen haben wir in der letzten Wahlperiode zum
Beispiel gesagt: Außer beim Vorliegen bestimmter sozialer Voraussetzungen - Sozialklausel, Überforderungsklausel - gibt es im Gesundheitssystem Zuzahlungen. Das war richtig, denn die Leute müssen mit den
Leistungen des Gesundheitssystems sparsam umgehen.
Daß es richtig war, sehen wir jetzt auch an Ihrem Reformentwurf: Wenn Sie bei den Zuzahlungen eine Mark
wegnehmen, dann ist das, gemessen an der Ankündigung, sie abzusenken, eher eine Lachnummer.
({3})
Sie werden Eigenverantwortung mit Sozialleistungen
verbinden müssen. Das ist richtig und wird an einem
Beispiel deutlich: Wenn ich vier Wochen zur Kur fahre,
muß ich dafür als Eigenverantwortungsteil eine Woche
Urlaub einbringen. Nur so kann das doch funktionieren.
Sie müssen immer eine Lösung finden, bei der die wirklich Bedürftigen die Leistung bekommen, aber diejenigen, die sie nicht unbedingt brauchen, sie nicht mit
Leichtigkeit erwerben können. Sie sind gut beraten,
wenn Sie an diesem Weg festhalten.
Noch ein Wort zu der Geschichte mit den Jugendlichen. Wir springen in der Debatte viel zu kurz, wenn
wir glauben, man könne durch ein Programm das Problem, daß 10 bis 15 Prozent der Jugendlichen nach zehn
Jahren Schule nicht ausbildungsfähig sind, lösen. Dieses
Problem hat ganz viele Ursachen. Das hängt mit Elternhäusern zusammen. Das hängt mit Sozialverhalten zusammen. Das hängt mit der Art, wie die Schule organisiert ist, zusammen. Dazu habe ich heute vieles gesagt.
Ich glaube, wir sollten das einmal vernünftig anpacken,
um die Probleme schon dann zu lösen, wenn Menschen
im Alter von Kindern oder Jugendlichen sind. Am besten würden wir das Problem lösen - davon bin ich
überzeugt; man muß diese Ansicht nicht teilen -, wenn
wir in unserer Gesellschaft wieder stärker zu einem
christlichen Wertekonsens finden würden.
Danke schön.
({4})
Frau Kollegin
Schmidt.
Herr Kollege Laumann, ich bin für einen Wertekonsens und auch für einen christlichen Wertekonsens, wenn er in dieser Gesellschaft sein soll - aber dann bitte einen ehrlichen.
({0})
Ich möchte auf ein paar Dinge eingehen, die Sie angesprochen haben. Ich habe nicht davon gesprochen, daß
ich den Sozialstaat zu einem Wohlfahrtsstaat weiterentwickeln will. Ich habe gesagt: Ich persönlich halte es für
eine Errungenschaft des Sozialstaates, daß wir wirklich
die Absicherung individueller Risiken durch die gesetzliche Sozialversicherung und die daraus erwachsenden Rechtsansprüche gewährleisten. Das verhindert,
daß das eintreten kann, was Sie als Beispiel genannt haben - daß man in Zeiten, in denen man in individuelle
Notlagen gerät oder individuelle Risiken austragen muß,
sofort alles, was man erspart oder für das Alter oder zur
Existenzsicherung der Familie beiseite gelegt hat, einbringen muß, ehe man Empfänger von staatlichen Leistungen wird.
({1})
Das unterscheidet sich eben von dem, was ein karitativer
Wohlfahrtsstaat ist, weil der karitative Wohlfahrtsstaat
immer nur bei der Bedürftigkeit ansetzt und die Bedürftigkeitsprüfung voraussetzt.
({2})
Ich habe nur darauf hingewiesen, daß Sie bei allem,
worin wir beide uns wahrscheinlich einig sind, mit Ihrer
Politik - mit der Sie immer mehr Belastungen, die durch
individuelle Lebensrisiken entstehen, auf die Betroffenen selber verlagert haben, mit der Sie dazu beigetragen
haben, daß aktivierende Maßnahmen, zum Beispiel in
der Arbeitsmarktpolitik, nicht entwickelt wurden; vielmehr haben Sie auf passive Leistungen gesetzt, die in
der Summe irgendwann zuviel werden, so daß man radikal kürzen muß und eigentlich immer weniger Rechtsansprüche übrigbleiben - das Prinzip des Sozialstaates
doch untergraben haben. Diese Behauptungen erhalte
ich weiterhin aufrecht.
Wenn Sie glauben, mit unserem Programm „100 000
Arbeitsplätze für junge Frauen und Männer“ würden wir
zu kurz springen, dann sage ich Ihnen eines: Ich springe
lieber einmal zu kurz als überhaupt nicht. Das ist der
Gegensatz zu dem, was Sie seit Jahren gemacht haben.
({3})
Ich bin nicht der Meinung, daß wir mit diesem Programm alles lösen können; aber für jeden einzelnen, der
einen dieser 100 000 Arbeitsplätze erhält, bedeutet dies,
eine Perspektive in dieser Welt zu haben. Das ist es mir
wert, vielleicht zu kurz zu springen, aber nicht immer
stehenzubleiben oder rückwärts zu gehen, wie Sie es
gemacht haben.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die größte Ungerechtigkeit ist Arbeitslosigkeit. Der Bundeskanzler hat zu Recht als Maßstab, als Meßlatte für sein Handeln die Fortschritte am
Arbeitsmarkt gewählt. Genau daran werden wir ihn
messen. Er hat gestern in seiner Regierungserklärung
beim Höhenflug über viele Politikfelder einige freundliche Worte für den Mittelstand gefunden. Er hat richtig
erkannt: Kleine und mittlere Unternehmen sind am ehesten in der Lage, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Aber genau dieser Mittelstand wird mit dem, was Sie
auf den Weg bringen, benachteiligt. Sie machen aus der
Neuen Mitte, die mit dem Lockvogelangebot „Stollmann“ umworben war, eine „verratene Mitte“; denn der
Mittelstand wird durch diese Politik abgestraft.
({0})
Es fängt schon bei der Psychologie an. Ich meine nicht
nur den Fehlstart der Regierung, sondern auch das unsinnige Gequatsche mit der Infragestellung der Unabhängigkeit der Notenbank.
({1})
Das löst nämlich bei den kleinen und mittleren Unternehmen das Gefühl aus: Die wollen uns ans Geld. In einem solchen Klima werden nicht mehr Investitionen
getätigt, nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen. Eher führt
es zu einem Bankenförderprogramm für Luxemburg und
die Schweiz anstatt zu einem Arbeitsmarktprogramm für
Deutschland.
({2})
Das Konzept der Steuerpolitik umfaßt zunächst Verschlechterungen, verzögerte Ausgleichsmaßnahmen und
Ökosteuermaßnahmen, die ein klares Abkassiermodell
sind. Abkassieren hat in Deutschland einen neuen
Namen: Öko! Alles, was „öko“ ist, bedeutet Mehrbelastung.
({3})
Diese neue Steuerpolitik bringt keine Verbesserungen in
der Ökologie, sondern lediglich Belastungen in der
Ökonomie und führt dazu, daß Arbeitsplätze gefährdet
werden und verlorengehen.
Nun möchte ich auf die Arbeitsmarktprobleme und
auf die Instrumente eingehen, die hier zur Debatte stehen.
({4})
- Das mag sein. Aber vielleicht kann man auch in der
Regie die Lautstärke herunterdrehen. Das ist jedenfalls
in Rheinland-Pfalz möglich.
Die 620-DM-Verträge werden von Ihnen verteufelt.
Wenn Sie die Pauschalbesteuerung aufheben und statt
dessen eine Sozialversicherungspflicht einführen, bedeutet das, daß Sie umetikettieren, aber in der Sache
nichts verändern. Wir brauchen in der Tat - das gilt
nicht nur für den Biergarten; dort leuchtet es selbst dem
Dümmsten ein - ein Stück Flexibilität, weil die Besteuerung und Reglementierung überdreht ist. Andernfalls erreichen Sie nur eines: Sie werden die Schwarzarbeit in
Deutschland nachhaltig fördern. Aber das ist keine Arbeitsmarktförderung.
({5})
Wo fängt die Scheinselbständigkeit an? Ist ein Existenzgründer, der gerade einen Kunden hat, schon
scheinselbständig? Oder der Handelsvertreter? Da werden Sie eine Fülle von fast nicht lösbaren Abgrenzungsproblemen bekommen.
Das, was als Abbau von Einstellungshemmnissen für
den Mittelstand auf den Weg gebracht wurde - das Gegenteil von gut ist ja gut gemeint -, nämlich die
Schwelle beim Kündigungsschutz von zehn auf fünf
Mitarbeiter abzusenken und die Einschränkungen bei
der Lohnfortzahlung wieder aufzuheben, wird dazu führen, daß beim Mittelstand nicht mehr Arbeitsplätze entstehen, sondern die Ängste zunehmen. Sie zwingen den
Mittelstand in andere Wege hinein, lösen damit aber
nicht die Probleme auf dem Arbeitsmarkt.
({6})
Nun soll es eine Wunderwaffe geben: die Inszenierung eines Bündnisses für Arbeit. Das wird dann so
ablaufen: Die Regierung teilt heute schon mit, was an
Kröten zu schlucken ist. Das hat jeder hinzunehmen; da
gibt es gar keinen Dialog. Dann wird darüber geredet,
was an zusätzlichen Kröten geschluckt werden kann.
Aber, meine Damen und Herren: Durch einen Gipfel
von Funktionären entstehen keine Arbeitsplätze.
({7})
Arbeitsplätze entstehen nur, indem jemand Geld in die
Hand nimmt, investiert, vielleicht schlaflose Nächte hat,
weil er hohe Risiken eingeht, und dann ein Ergebnis erzielt, das sich rechnet.
({8})
So etwas bekommen Sie nicht durch Funktionärstreffen
hin. Das werden Sie auch nicht durch eine Theaterinszenierung hinbekommen. Davon erwarte ich wenig, zumal
Sie auch noch die falschen Rahmenbedingungen geschaffen haben.
Sie müssen dem Mittelstand eine wirkliche Chance
geben, damit er seine Leistungskraft entfalten kann, damit er neue Ideen verwirklichen und neue Produkte auf
den Markt bringen kann. Dann wird er auch neue Arbeitsplätze schaffen können. Aber allein schon das
Ulla Schmidt ({9})
Klima, das Sie dadurch schaffen, daß Sie durch leichtfertiges Gerede die in den Deutschen tiefverwurzelte
Angst vor Geldentwertung, vor Inflation auslösen, verhindert und zerstört Arbeitsplätze, statt daß solche entstehen.
({10})
Der eingeschlagene Weg ist falsch. Sie müssen einen
anderen Weg einschlagen. Die Dinge werden nicht dadurch richtig, daß man Rezepte wiederholt, die sich
schon früher als falsch erwiesen haben. Ich will hier
keinen Streit über Angebots- und Nachfragepolitik führen; aber ein Vulgärkeynesianismus wird die Lösung mit
Sicherheit nicht sein.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annelie Buntenbach.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die neue Regierung hat die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ganz oben auf die politische Tagesordnung gesetzt. Gerade um diesem gesellschaftlichen
Grundübel zu Leibe zu rücken, war ein Politikwechsel
längst überfällig. Zu diesem Politikwechsel gehört auch,
Herr Brüderle, der ökologische Umbau, den die alte
Regierung bis zuletzt verschlafen hatte. In diesem Umbau steckt ein riesiges neues Arbeitsplatzpotential; dieser innovative Bereich muß endlich erschlossen werden.
Die Massenarbeitslosigkeit, die während der Regierung Kohl unglaubliche Ausmaße angenommen hat,
reißt die Gesellschaft auseinander. Für die Betroffenen
ist sie eine unerträgliche Belastung. Sie treibt die Sozialkassen an den Rand des Konkurses. Sie schafft ein
gesellschaftliches Klima von Angst und Konkurrenz. Sie
vergrößert die Kluft zwischen Arm und Reich.
Eben deshalb müssen und werden wir der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Priorität einräumen. Daß wir
das gesellschaftliche Ziel, für alle, Frauen wie Männer,
eine existenzsichernde Teilhabe an Erwerbsarbeit möglich zu machen, nicht von jetzt auf gleich erreichen können, wissen wir alle. Aber man muß das Ziel, diesen Anspruch der Gesellschaft an sich selbst, klar formulieren,
um den Weg und die einzelnen Schritte dorthin an diesem Ziel messen zu können.
Unsere Politik wird sich am Zugewinn von Beschäftigung orientieren und an sozialer Gerechtigkeit, nicht
an Ausgrenzung, sondern an Integration der Gesellschaft.
({0})
Nun behaupten Vertreter der vergangenen Bundesregierung, wie gestern zum Beispiel Herr Schäuble, daß
doch alles längst auf dem richtigen Weg und geradezu
ein Geschenk der alten an die neue Bundesregierung
gewesen wäre. Meine Damen und Herren aus den verflossenen Regierungsfraktionen, Sie erlauben, daß wir
solche Danaergeschenke lieber zurückweisen.
Die neuen Jobs, die die Aufweichung des Kündigungsschutzes, die Kürzung der Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall oder gar die Abschaffung der Vermögensteuer gebracht hätten, vermag ich nicht zu sehen, wohl
aber den Verlust an sozialer Gerechtigkeit und an betrieblicher und gesellschaftlicher Demokratie. Eben deshalb wollen wir diese völlig ungeeigneten und ungerechten Gesetze umgehend rückgängig machen.
Die neue Regierung wird zu einem neuen Bündnis
für Arbeit einladen, um so die gesellschaftlichen Kräfte
mit dem zentralen Ziel zu bündeln, die Erwerbslosigkeit
zu vermindern. Ich glaube, dieser sicherlich schwierigen
Veranstaltung können alle aus diesem Hause nur viel Erfolg wünschen, aber auch mehr als das: Wir können die
politischen Rahmenbedingungen dafür so sorgfältig wie
irgend möglich setzen.
Das erste Bündnis für Arbeit, das der IG-MetallVorsitzende Zwickel initiiert hatte, ist daran gescheitert,
daß die alte Bundesregierung den Gewerkschaften über
die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
und die Aufweichung des Kündigungsschutzes faktisch
den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Diese Brüskierung
der Gewerkschaften werden wir mit der Rücknahme dieser Gesetze vor Einstieg in das Bündnis für Arbeit aus
der Welt schaffen; wir werden damit erst die Voraussetzungen für Gespräche in Augenhöhe herstellen.
({1})
Ich wünsche mir, daß in diese Gespräche wie in unsere zukünftige Politik auch die Erwerbslosen einbezogen
werden. Erwerbslose dürfen nicht nur Objekte von Politik sein, sondern müssen aktiv daran beteiligt werden.
Wir müssen mit ihnen und mit den Gewerkschaften zusammen sicherstellen, daß die Interessen der Arbeitslosen nicht ins Hintertreffen geraten.
Der Kanzler hat gestern vom Ende der Stagnation und
der Sprachlosigkeit und von einer Republik des Diskurses gesprochen. Wir sollten dies für die kommenden
Jahre zu einer der Leitlinien unserer Politik machen.
Ich glaube, die Arbeitsloseninitiativen werden uns
dabei unterstützen, indem sie uns fordern und ihre Anliegen in der Öffentlichkeit unüberhörbar vertreten. Das
wird nicht immer die pure Harmonie sein, aber es wird
uns sicher auf Trab halten.
Das Bündnis für Arbeit ist kein Verschiebebahnhof
zur Politikvermeidung. Zu den Aufgaben der Politik, die
sie nicht abgeben kann und darf, gehört die Setzung von
fairen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt. Geradezu
explodiert ist in den letzten Jahren die Zahl nicht abgesicherter Beschäftigungsverhältnisse, die billig und flexibel die Produktionsspitzen abfangen: Scheinselbständigkeit, Werkverträge, Beschäftigung unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze. All das sind keine Randphänomene
mehr.
Inzwischen sind mehr als 1 Million Menschen von
Scheinselbständigkeit betroffen. In 620- bzw. 520-DMRainer Brüderle
Jobs arbeiten mehr als 5,6 Millionen Menschen, die
meisten von ihnen Frauen, die so kaum eine Chance haben, einen eigenständigen Zugang zu sozialer Absicherung aufzubauen.
Seit 1992 hat die Zahl dieser Jobs um 25 Prozent zugenommen. Gleichzeitig sind 2 Millionen reguläre Beschäftigungsverhältnisse aus der Statistik verschwunden.
Immer mehr abgesicherte Beschäftigung ist in Minijobs
unterhalb der Sozialversicherungspflicht zerlegt worden,
weil die Arbeitgeber die Kosten für die Sozialversicherung sparen wollen.
Wir haben auf diese fatale Entwicklung in den letzten
Jahren immer wieder aufmerksam gemacht und zahllose
praktische Vorschläge auf den Tisch dieses Hauses gelegt. Die alte Bundesregierung hat sie die ganze Zeit
blockiert, so daß sie erst jetzt in die Praxis umgesetzt
werden können - mit der Zielsetzung, jede Beschäftigung in die Sozialversicherung einzubeziehen.
Nun habe ich schon gestern und heute wieder gehört
- auch in der Öffentlichkeit wird es von Lobbygruppen
zum Teil so diskutiert -, daß Sie, meine Damen und
Herren von der christlichen Fraktion und der freidemokratischen Fraktion, schon den Würgegriff des Staates
an der Gurgel der freien Wirtschaft spüren. Lassen Sie
sich versichern, es handelt sich bei dem Artikelgesetz,
das wir nächste Woche einbringen werden, nicht um einen Anfall von Regulierungswut, sondern um die längst
überfällige verbindliche Festlegung von gesellschaftlichen Grundregeln, weil ohne diese Regeln immer allein
der Stärkere profitieren wird.
({2})
Wir wollen den jetzigen Wildwuchs von 620-DMbzw. 520-DM-Jobs eindämmen, um auch die aktuelle
Verzerrung des Wettbewerbs geradezurücken. Jetzt haben ausgerechnet diejenigen Arbeitgeber, die sich zu
Lasten der Allgemeinheit aus der sozialen Verantwortung ziehen, einen großen Wettbewerbsvorteil gegenüber jenen Arbeitgebern, die sozial abgesichert, damit
aber auch teurer beschäftigen. Ebenso werden doch auch
noch die belohnt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit der Drohung des Jobverlustes aus der Sozialversicherungspflicht in die Scheinselbständigkeit abdrängen. Für die Stärkeren bedeutet Freiheit von Sozialversicherung die Befreiung von Verantwortung und von
teuren Pflichten. Die Stärkeren können ihre Interessen
auch so per Ellenbogen durchsetzen. Aber solidarische
Absicherungen sind gerade für die Schwächeren in dieser Gesellschaft unverzichtbar. Das ist keineswegs,
Kollege Laumann, mit der Entlassung aus Eigenverantwortung zu verwechseln. Aber für die Schwächeren bedeutet eine funktionierende Absicherung ein Stück Freiheit, nämlich Freiheit von Angst und Unsicherheit bei
den großen, individuell nicht zu bewältigenden Lebensrisiken Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Es ist Teil
unserer politischen Verantwortung, die Grundregeln so
festzulegen und durchzusetzen, daß wir uns, wenn es
denn um die Tellerwäscher geht, nicht die Millionäre
zum Maßstab nehmen.
Zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist das
Programm für 100 000 Ausbildungs- und Arbeitsplätze
ein wirklich guter Anfang. Außerdem hoffe ich, daß
über die Verkürzung der Lebensarbeitszeit, wie sie jetzt
unter dem Stichwort „Rente ab 60“ diskutiert wird, auf
dem Arbeitsmarkt wieder mehr Platz für Jugendliche
sein wird. Allerdings zeigen die Erfahrung der letzten
Jahre mit den unzähligen Appellen an die Arbeitgeber
und auch der Blick nach Nordrhein-Westfalen, wo meines Erachtens der sogenannte Ausbildungskonsens inzwischen gescheitert ist, daß um die Ausbildungsplatzumlage früher oder später kein Weg herumführen wird.
({3})
Ich hätte es mir früher gewünscht. Aber klar ist doch,
daß für die Jugendlichen der erste Kontakt mit dem Erwerbsleben nicht darin bestehen darf, daß ihnen die Tür
vor der Nase direkt wieder zugeschlagen wird.
({4})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, der
in den nächsten Jahren gesellschaftspolitisch von ganz
zentraler Bedeutung sein wird: die Verkürzung der
Arbeitszeit und die Umverteilung von Arbeit.. Ich will
auch sagen, warum das so wichtig ist. Hier kann erstens
auch kurzfristig ein großes Arbeitsplatzpotential mobilisiert werden, auf das wir bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf keinen Fall verzichten können. Zweitens ist mit Arbeitszeitverkürzung untrennbar immer
auch die Verteilungsfrage verbunden, nicht nur die nach
der Verteilung von Arbeit und Zugang zu sozialen Sicherungen, sondern auch die nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Last but not least geht es
dabei auch um eine Neuverteilung von bezahlter und
unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern und um
den selbstverständlichen Zugang von Frauen zu einer eigenständigen sozialen Sicherung. Gerade hier haben wir
noch ein gutes Stück Arbeit und ein gutes Stück gesellschaftliche Debatte vor uns.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer.
Sehr geehrte
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer in den vergangenen 16 Jahren meistens nur dagegen war, der tut sich schwer, einen Zukunftsentwurf
vorzulegen.
({0})
Statt Aufbruch und exakte Aussagen herrscht in Ihrem
Programm schwammige Zaghaftigkeit.
({1})
Es ist eben schwierig: Wer lange in der Mechanik des
Ablehnens und Blockierens ausgebildet worden ist, hat
Schwierigkeiten, im Rahmen der Umschulung vom
Bremserhäuschen in die Lokomotive zu klettern.
({2})
Herr Arbeitsminister Riester, wir respektieren den
Auftrag und die Chancen, welche die Wähler der neuen
Regierung in Deutschland gegeben haben. Pawlowsche
Reflexe, nämlich alles abzulehnen, was die Regierung
vorschlägt - das war in der Vergangenheit nicht unüblich -, werden Sie mit uns nicht erleben. Aber wir werden die Menschen in unserem Land alarmieren, wenn
eine erkennbar falsche Richtung eingeschlagen wird.
Der Bundesfinanzminister, Oskar Lafontaine, will die
Arbeitslosenversicherung und die Pflegeversicherung
schleifen oder ganz abschaffen. Was heißt das? Staatliche Almosen sollen rechtskräftig erworbene Versicherungsansprüche ersetzen - Fürsorge mit Mottenpulvergeruch statt zukunftsgerichtete Eigenverantwortung.
({3})
Durch eine neue Bürokratie sollen ständige Einkommensprüfungen erfolgen. Niemand kann dann sicher
sein, welche Almosenhöhe die öffentlichen Kassen gerade zulassen.
Wer sich noch daran erinnert, mit welcher Vehemenz
vor Jahresfrist in der Debatte - 50 Prozent Fachkräfte,
Pflegeschlüssel - gestritten worden ist, der weiß: Wer
damals den Gedanken ausgesprochen hätte, die Pflegeversicherung abzuschaffen, der wäre sofort politisch gesteinigt worden. Heute schlagen Sie als Vertreter Ihres
Bereiches diese Überlegungen vor. Der neue Bundeskanzler, der gerade nicht anwesend ist, ist sich selber
nicht im klaren, ob er nun applaudieren oder abwiegeln
soll.
({4})
In der „Berliner Zeitung“ vom 26. Oktober 1998 steht
- ich zitiere -:
Der Parteichef habe seine Initiative kürzlich im
SPD-Präsidium angedeutet und mit dem künftigen
Kanzler Gerhard Schröder abgesprochen, verlautete
aus der Umgebung Lafontaines. Schröder war zunächst der einzige, der im verblüfften Publikum applaudierte.
In der „Bild am Sonntag“ von dieser Woche fährt
Gerhard Schröder eine neue Linie. Dort heißt es - ich
zitiere -:
Ich rate zu ganz vorsichtigem Umgang mit der
Pflegeversicherung.
Wir raten nicht nur zum vorsichtigen Umgang mit der
Pflegeversicherung. Wir sagen: Hände weg von der
Pflegeversicherung!
({5})
Ohne Not hat diese Bundesregierung in den ersten
Tagen ihrer Amtszeit eine verhängnisvolle Verunsicherung ausgelöst. Wissen Sie, was Sie bei 1,7 Millionen
Menschen, die Leistungen aus der Pflegeversicherung
beziehen, die gespart haben, die Versicherungsbeiträge
eingezahlt haben und die viele Jahre auf die Einführung
der Pflegeversicherung gewartet haben, angerichtet haben? Nun muß der Facharbeiter Angst haben, daß nach
45 Jahren, in denen er sich für ein kleines Häuschen
krummgelegt hat, sein Erspartes verloren ist, wenn seine
Frau zum Pflegefall wird.
({6})
Wer als Pflegefall ohnehin in einer schwierigen Lebenssituation ist, dem darf man eine programmierte Unsicherheit nicht zusätzlich aufbürden. Wer das tut, handelt
nicht sozial, handelt nicht gerecht, sondern verbreitet sozialen Eishauch.
({7})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?
Ja, wenn er
die richtige Frage stellt.
Herr Kollege Singhammer, ich
will Sie eigentlich nur fragen, an welcher Stelle der Regierungserklärung Sie das gehört haben, worüber Sie
jetzt geredet haben. Ich habe in der gestrigen Regierungserklärung des Bundeskanzlers überhaupt nichts
davon gehört, daß an der Pflegeversicherung gerüttelt
werden soll. Können Sie mir in diesem Punkt Auskunft
geben, an welcher Stelle der Regierungserklärung eine
entsprechende Aussage zu finden ist?
Ich wäre sehr
froh, wenn ich von seiten der Regierung - der Bundesarbeitsminister und weitere Minister sind ja anwesend erfahren könnte, wie die Pläne nun tatsächlich aussehen.
Der Bundesfinanzminister verkündet dies, und der Herr
Bundeskanzler äußert sich mal so und mal so. Es wäre
sehr interessant, zu erfahren, wie die Meinung tatsächlich ist. Vielleicht erfahren wir sie heute noch.
({0})
Die Ankündigungen von Mitgliedern dieser Bundesregierung sind sehr viel weitgehender. Sie kündigen
nämlich einen Systemwechsel in der Sozialpolitik an:
Aufkündigung des Versicherungsprinzips und Verkürzung des Sozialstaats auf eine bloße Almosenverteilung
- Systemfürsorge und Bittsteller.
({1})
Genau das wollen wir nicht. Wir wollen, daß der Staat
auf die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit
anderer Rücksicht nimmt. Wir verstehen soziale Gerechtigkeit weitergehend auch als durchgehendes Ordnungsprinzip unserer Gesellschaft mit Eigenverantwortung und echter Solidarität. Wer dieses Ordnungsprinzip
jetzt zur Diskussion stellt - und das ist geschehen -, der
wird die enormen Herausforderungen in der Rentenversicherung und auf dem Arbeitsmarkt nicht meistern,
weil er die Solidarität der Leistungsfähigen mit den weniger Leistungsfähigen beschädigt.
({2})
Diese rotgrüne Bundesregierung steht unter einem
ungeheuren Erwartungsdruck, den sie selbst gezielt herbeigeführt hat und dem sie jetzt nicht standhalten kann.
Sie haben den Eindruck erweckt, jeder soll mehr in der
Tasche haben. Das einzige, was Sie noch nicht versprochen haben, ist, daß in Deutschland die Zahl der Regentage verringert wird.
Die Regierungserklärung hat dabei einen uralten, verstaubten roten Faden wieder aufgenommen. Umverteilung heißt das Zauberwort statt echter volkswirtschaftlicher Zugewinn. Umverteilung schafft aber nur Arbeitsplätze in der Bürokratie und bewegt nichts auf dem Arbeitsmarkt.
({3})
Im Gegenteil: Umverteilung bedeutet Arbeitsplatzgefährdung. Umverteilung der Arbeit von Älteren auf Jüngere. 60jährige, so wollen Sie es, sollen an ihrem
Schreibtisch und an der Werkbank Platz machen können. Ohne finanzielle Einbußen soll dies geschehen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollen bei Beiträgen und
Lohnzusatzkosten entlastet werden. Das klingt gut. Aber
wer bezahlt denn das? Das Ausland garantiert nicht!
Geldquelle Nummer eins soll der Tariffonds werden,
statt Lohnnebenkosten eine lohnbezogene Umlage. Unter dem Strich für die Arbeitnehmer und die Betriebe
keine Entlastung, sondern nur ein anderer Name für die
gleichen Abzüge. Fragen Sie bei Norbert Blüm nach,
welche Erfahrungen mit der Frühverrentung in bezug
auf das Arbeitsplatzthema gemacht wurden! Die Erwartungen, damit neue Arbeitsplätze zu schaffen, werden sich nicht erfüllen.
Dafür wird die Ökosteuer, die eine reine Zusatzsteuer
ist, ebenfalls zur Gegenfinanzierung eingeführt. Das bedeutet - darauf ist hingewiesen worden -: Der Arbeitnehmer soll für die tägliche Warmdusche 50 Pfennig
mehr zahlen, und für Familien mit Kindern und für
Rentner wird ein warmes Wohnzimmer im Winter teurer. Nach eigenen Berechnungen des Finanzministeriums, nicht des „Bayernkurier“
({4})
- der hätte es besser gemacht, richtig -, hat die sogenannte Steuerreform für einen Vierpersonenhaushalt mit
einem Jahreseinkommen von 70 000 DM brutto folgende Auswirkungen: Bei der Rentenversicherung ergibt
sich eine Ersparnis von 280 DM, die Energiesteuer führt
zu einer Belastung von 301 DM. Soweit das Finanzministerium. Das nenne ich Umverteilung nach unten.
({5})
Während sonst überall die Altersgrenze in den Industrieländern für den Eintritt in die Rente erhöht wird,
verspricht nun die neue Bundesregierung, den Stein der
Weisen und die Quadratur des Kreises neu erfunden zu
haben: Rente zum Nulltarif und das auch noch früher!
Wer nicht zur Kenntnis nehmen will, daß immer längere
Ausbildungszeiten, immer kürzere Erwerbsbiographien
und - Gott sei Dank - ein immer höheres Lebensalter
bei Gesundheit und Rentenbezug auch bezahlt werden
müssen, sagt nicht die Wahrheit und handelt intellektuell
unredlich. Die Wahrheit heißt Umverteilung zu Lasten
der kommenden Generationen.
({6})
Und das lassen Sie mich auch noch sagen: Wer in
dieser Diskussion den Eindruck erweckt, ältere Arbeitnehmer seien leichter wegzudrücken, dem fehlt es zudem an Respekt vor der Lebensleistung und der Lebenserfahrung der Älteren. Mit 60 zählt man nicht zum alten
Eisen.
({7})
620-DM-Jobs. Es ist interessant, zu sehen, wie sich
Versprechungen vor der Wahl mit dem, was Sie jetzt in
Ihrem Regierungsprogramm angekündigt haben, vertragen. Da gab es zum Beispiel auf dem Innovationskongreß der SPD in Dortmund im Oktober 1997 die Aussage des jetzigen Bundeskanzlers, er wolle diese Jobs auf
höchstens 10 Prozent in einem Unternehmen begrenzen.
Im gleichen Jahr schrieb Oskar Lafontaine im Informationsdienst der SPD „Intern“ - ich zitiere -: „Ein Weg
wird die Befreiung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber
von Sozialversicherungsbeiträgen für geringbezahlte
Arbeiten sein.“ Was steht nun in Ihrer Regierungserklärung? Sie sprechen dort von einer Grenze von 300 DM,
von der an Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden
müssen.
Nun gebe ich zu, daß auch wir uns bei der Diskussion, wie wir eine optimale Lösung finden, sehr schwergetan haben. Aber eines muß ich hinzufügen: Das, was
Sie jetzt vorhaben, nämlich daß Sie diese zusätzlichen
Einnahmen in Höhe von 2,1 Milliarden DM in Form einer Gegenfinanzierung mit anderen Entlastungen verrechnen wollen, wird nicht aufgehen, weil Sie damit im
Versicherungsbereich ein Zweiklassensystem schaffen,
und zwar zum einen eine nur geringe Rentenanwartschaft und zum anderen keinen Schutz im Falle einer
Erwerbsminderung. Die Folge wird ein massenhaftes
Abdriften in die Schwarzarbeit sein. Die geplanten
Mehreinnahmen werden sich als Luftbuchungen erweisen.
({8})
Für uns ist der Mensch Mitte und Maß einer zukunftsgerechten Sozialpolitik. Unter sozialer Gerechtigkeit verstehen wir nicht eine unablässige Umverteilung
als Heilsversprechen, sondern die Befähigung der Menschen in unserem Land, aus eigener Kraft ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entfalten. Eine sozial gerechte Politik sollte so eingerichtet sein, daß sie nicht
das Übel, dem sie begegnen will, verewigt, sondern
Heilung von den Wurzeln her anstrebt. Deshalb wollen
wir die Eigenverantwortung fördern. Jeder, der von der
Gemeinschaft eine Leistung erwartet, muß auch selbst
im Rahmen seiner Möglichkeiten eine Leistung für die
Gemeinschaft erbringen.
({9})
Dabei dürfen wir nicht diejenigen vergessen, denen auf
Grund von Behinderungen oder Handicaps eine umfassende Teilhabe nicht möglich ist. Ihnen muß zuallererst
geholfen werden. Diese Mitmenschen haben unsere ganz
besondere Solidarität.
({10})
Nur Umverteilung von Arbeitsplätzen, Umverteilung
von Alt auf Jung bzw. von Jung auf Alt, Umverteilung
von der rechten in die linke Hosentasche, schafft weder
mehr soziale Gerechtigkeit noch mehr Arbeitsplätze,
weil die Leistungsbereitschaft auf der Strecke bleibt.
({11})
Wir brauchen in Deutschland weder eine Koalition
noch ein Bündnis für Umverteilung, sondern ein Bündnis für mehr Leistungsbereitschaft, für mehr Ermutigung
und für mehr echt verstandene Solidarität.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Adolf Ostertag.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Endlich haben wir hier in
diesem Parlament eine neue Mehrheit, eine neue Regierung und auch einen neuen Arbeitsminister.
({0})
Das muß man zu Beginn dieser neuen Legislaturperiode
noch einmal deutlich hervorheben, wenn man über Sozialpolitik spricht.
Denn ich erinnere mich sehr genau an meinen ersten
Debattenbeitrag in diesem Parlament vor acht Jahren
zum Thema Arbeitsmarktpolitik. Das betraf eine Kontroverse mit dem damaligen Arbeitsminister, Herrn
Blüm.
({1})
Es ging, wie in den letzten acht Jahren ständig, um Kürzungsabsichten, die auch durchgesetzt wurden, um eine
Novellierung des Arbeitsförderungsrechts. Ich nehme
an, wir werden in den nächsten Jahren ganz andere Debatten führen müssen. Darauf freue ich mich und - davon gehe ich aus - sicherlich auch die neue Mehrheit in
diesem Parlament.
({2})
Meine Damen und Herren, gestern hat der neue Oppositionsführer - dazu gratuliere ich Herrn Schäuble
ausdrücklich - in seiner Rede ausgeführt, er und die
ehemalige Regierung würden ein wohlbestelltes Haus
hinterlassen.
({3})
Wo ist denn dieses wohlbestellte Haus? Wenn ich mir
den sozial- und den finanzpolitischen Bereich anschaue,
dann muß ich feststellen, daß in den letzten Jahren in die
Stützmauern unseres sozialen Rechtsstaates erhebliche
Breschen geschlagen worden sind. Die alte Regierung
hat ständig in einer einseitigen, neoliberalen Angebotspolitik soziale Schutzrechte abgebaut und das soziale
Netz der Bundesrepublik grobmaschiger gemacht. Auf
die versprochenen Arbeitsplätze, wie Sie das hier im
Plenum 16 Jahre lang immer wieder beschworen haben,
haben die Menschen vergeblich gewartet. Die alte Bundesregierung hat die Massenarbeitslosigkeit kurzerhand
zum Problem der Arbeitslosen erklärt. Sie hat die
Lohnersatzleistungen zusammengestrichen und kräftig
an der Zumutbarkeitsschraube gedreht. Als wenn zusätzlicher Druck auf arbeitslose Bedürftige das zentrale
Problem von rund 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen
lösen könnte! Wir wissen: Es ist durch diese Politik
nicht gelöst worden.
Die Folgen der Politik sind überall sichtbar. Seit 1992
sind rund 2,5 Millionen Arbeitsplätze verlorengegangen
- auch wenn Sie gegenwärtig davon reden, was im letzten Jahr im Zusammenhang mit dem Rückgang der Arbeitslosigkeit aufgebaut worden sei;
({4})
darauf komme ich noch zu sprechen. 2,5 Millionen verlorene Arbeitsplätze seit 1992, und die registrierte Arbeitslosigkeit nahm in den letzten vier Jahren um
21 Prozent zu. Wo ist denn da ein wohlbestelltes Haus
hinterlassen worden?
({5})
In dem Zeitraum einer Legislaturperiode sind die
Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik um 24 Prozent
gekürzt worden. Das, was Sie vor der Wahl noch gemacht haben, war wirklich nur ein ABM-Strohfeuer,
mehr nicht. Wir sind nicht dagegen gewesen, aber wir
haben es immer als Strohfeuer gebrandmarkt. Wir werden die Arbeitsmarktpolitik sowohl finanziell als auch in
der Umsetzung auf eine solide Basis bringen.
Gleichzeitig hat die Unordnung auf dem Arbeitsmarkt
in der Tat katastrophale Ausmaße angenommen. Die
620-DM-Jobs, die Scheinselbständigkeit und die illegalen Beschäftigungsverhältnisse sind nach wie vor
auf dem Vormarsch. Hier gibt es die ersten Ansatzpunkte für unser konkretes Handeln.
Erinnern Sie sich an die Debatten, als es um das
Schlechtwettergeld auf dem Bau ging, als es um die
Entsenderegelung ging? Da haben Sie doch ständig
versucht, nur kleine Reparaturen vorzunehmen, mit der
Folge, daß die Arbeitslosenversicherung mehr zahlen
mußte und die Bauarbeiter auf die Straße gesetzt worden
sind.
({6})
Sie haben das, was die Opposition damals an Vorschlägen eingebracht hat, nicht begriffen.
Die Sozialhilfe, die schon lange nicht mehr allein der
Überwindung besonderer Notlagen dient, ist zum Lebensschicksal von immer mehr Menschen geworden. Inzwischen sind fast 40 Prozent der Menschen, die von
Sozialhilfe leben, Kinder. Die junge ehemalige Familienministerin hat das wohl nur aus den Wolken gesehen, wenn sie mit der Flugbereitschaft unterwegs war.
({7})
Sie wollte nicht wahrhaben, wieviel Armut es bei Kindern und bei Familien in diesem Land gibt.
Sie haben nicht einmal - Herr Singhammer, das
richte ich auch an Sie - die wenigen zwischen Ihrer und
unserer Partei verabredeten Korrekturen bei der Pflegeversicherung in der letzten Legislaturperiode mit
durchgebracht, weil der Koalitionspartner blockiert hat.
Daher, glaube ich, ist es sehr scheinheilig, dieses Thema
heute auf die Tagesordnung zu bringen. Sie haben nicht
einmal die kleinsten Korrekturen gemacht, und nun
bringen Sie plötzlich Forderungen ein.
({8})
Es ist zu fragen: Wo soll man dieses wohlbestellte
Haus vorfinden, wenn man insbesondere die Sozialpolitik in diesem Land betrachtet? Mir scheint, die ehemals
Regierenden haben die gesellschaftlichen Realitäten aus
den Augen verloren. Schön reden, schlecht handeln das war doch die Devise von Helmut Kohl und seinen
Ministern, wenn es um die Sozialpolitik ging.
({9})
Als das „Bündnis für Arbeit“ von Klaus Zwickel,
dem IG-Metall-Vorsitzenden, vorgeschlagen wurde,
gingen Sie zum Schein darauf ein. Das Ergebnis war eine schöne Absichtserklärung, die schon kurze Zeit später, nach der gewonnenen Landtagswahl, nur noch Makulatur war. Statt dessen bekamen die Gewerkschaften
und die Arbeitnehmer das 50-Punkte-Programm serviert
- deutlicher gesagt: ins Gesicht geschlagen. Auf die
ausgestreckte Hand wurde in der Tat mit einem Horrorkatalog geantwortet.
Die Bündnisvereinbarung vom Januar 1996 diente
nur dazu, vom ehemaligen Arbeitsminister ständig wie
eine Monstranz vor sich her getragen zu werden. Sie
wurde aber nicht umgesetzt, was eigentlich die Aufgabe
der Regierung gewesen wäre; sie hat es lange genug versprochen.
Ebenso war es mit der Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000. Dieses Thema hat noch bis vor
gut einem Jahr dieses Parlament ständig bewegt. Der
Kanzler hat sich als letzter davon verabschiedet, als
längst niemand, auch aus seiner eigenen Fraktion, mehr
daran glaubte.
Mit leeren Sprüchen konnte die Regierung Kohl auch
bei den Menschen in diesem Land nicht mehr landen.
Ihre Taten waren etwas anderes als das, was Sie versprachen. Deswegen haben Sie am 27. September die
Quittung bekommen.
Heute stellen sich die neuen Oppositionsredner hier
hin und wollen kaum etwas davon wissen, was sie über
16 Jahre lang getan haben. Das ist schon dreist, das ist
schon ziemlich unverfroren.
({10})
Als Herr Kues hier gesprochen hat, habe ich mir die
Frage gestellt: Wo ist eigentlich Geißler? Wo ist ein
Stück Wahrhaftigkeit in der Politik, die man von einer
christlichen Partei wahrlich verlangen kann?
({11})
Herr Kues wirft uns vor, wir wollten abkassieren.
Wer hat denn in den letzten Jahren abkassiert? Vor allen
Dingen: Wo ist abkassiert worden in diesem Land? Herr
Kues sagte, den Zahlungen stünden keine Leistungen
gegenüber. Wenn Sie die Politik meinen, die Sie betrieben haben, dann haben Sie allerdings recht; dem muß
ich voll zustimmen. Sie haben auch gesagt, Ihre Regierung habe den Mut gehabt, den Arbeitsmarkt nachhaltig
zu regeln. Wie zu regeln? Was haben Sie denn geregelt?
Ich habe eben einige Punkte genannt. Sie haben dereguliert und Unordnung geschaffen: Wir haben 5,6 Millionen 620-DM-Jobs, wir haben 1 Million Scheinselbständige, wir haben 100 000 illegal Beschäftigte. Ist es das,
was Sie geregelt haben in diesem Land? Wildwuchs ist
entstanden, und gegen den müssen wir angehen.
({12})
Frau Schwaetzer hat hier davon gesprochen, daß die
Interessen der Bürger zum Maßstab der Politik gemacht
werden sollten. Meinen Sie Ihre Klientelpolitik, die Sie
bisher betrieben haben? Zu den 620-DM-Jobs ist bereits
etwas gesagt worden. Sie haben nicht für diese
5,6 Millionen Menschen, die einen solchen Job haben
und von denen 70 Prozent Frauen sind, etwas in diesem
Parlament getan, Sie haben nur für Ihre Klientel, die Arbeitgeber, etwas getan; und diese betreiben durch diese
Jobs eine wirklich üble Ausbeutung.
({13})
An Herrn Laumann möchte ich auch noch einige
Worte richten, denn er hat sich hier zum großen Kämpfer für das Versicherungsprinzip aufgespielt. Herr
Laumann, ich empfehle Ihnen, die Koalitionsvereinbarung zu lesen. Dann werden Sie erfahren, was darin
steht.
({14})
Ich glaube nicht, daß sich diese Regierung vom Versicherungsprinzip verabschiedet. Ich empfehle Ihnen also
noch ein bißchen Lektüre für die nächsten Tage, bevor
wir im Ausschuß in die Einzelheiten gehen.
Meine Damen und Herren, diese Regierung und diese
neue Mehrheit im Parlament treten an, um das angeblich
wohlbestellte Haus hinsichtlich einer ganzen Reihe von
Punkten innerhalb der Sozialpolitik instand zu setzen.
Die wesentlichen Punkte sind hier genannt worden; darauf möchte ich nicht mehr eingehen.
Wir haben im Wahlkampf millionenfach Scheckkarten verteilt und die Menschen gebeten: Heben Sie die
gut auf! Darauf stehen neun gute Gründe, uns zu wählen. - Diese sind zum Teil schon genannt worden, zum
Beispiel das Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, die Rücknahme der sozialen Grausamkeiten gegenüber Millionen von Arbeitnehmern beim
Kündigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung und das
„Bündnis für Arbeit“. Einen Punkt, den zehnten, haben
wir sozusagen schon abgehakt.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Der hieß nämlich: Helmut
Kohl. Nun ist er nicht mehr Kanzler, und darauf sind wir
stolz. Von daher bin ich der Meinung, daß wir das, was
wir uns vorgenommen haben, anpacken können. Diese
Koalitionsfraktionen werden die Regierung dabei mit
kritischer Solidarität begleiten. Ich glaube, die Menschen im Land können sich darauf verlassen, daß es einen Aufbruch gibt und daß wir das, was wir versprochen
haben, auch einlösen werden.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege,
der Kollege Laumann wollte eine Zwischenfrage stellen.
Es handelt sich nunmehr um eine Nachfrage. Möchten
Sie diese noch beantworten?
Selbstverständlich.
Bitte.
Lieber Kollege
Adi Ostertag, ich freue mich, daß Sie mich loben, weil
ich die Idee der Sozialversicherung kämpferisch vertrete. Ich habe schließlich nicht geglaubt, daß ich das hier
einmal tun muß.
Ich möchte Sie einmal um Ihre Meinung fragen. Was
halten Sie denn in diesem Zusammenhang von den Meinungsäußerungen des Herrn Lafontaine, bei der Pflege
und der Arbeitslosigkeit das Bedürftigkeitsprinzip einzuführen? Wo sind denn Ihre kraftvollen Erklärungen zu
diesem Thema? Auch Sie wissen doch, daß Ihr Wirtschaftsminister, Herr Müller, das alles befürwortet und
diese Idee für ganz richtig hält. Ihr Finanzminister erhält
großes Lob von der deutschen Arbeitgeberseite. Das
sind Dinge, zu denen ich den Gewerkschaftsflügel der
SPD in den letzten Tagen überhaupt nicht vernommen
habe.
({0})
Herr Laumann, vor Jahren ist
Herr Blüm mit einem langen Besenstil herumgelaufen
und hat Plakate mit der Aufschrift „Die Rente ist sicher“
geklebt.
({0})
Ihre Fraktion hat hier über Jahre hinweg eine Verunsicherung bei den Menschen heraufbeschworen.
({1})
Letzten Endes hat dies dazu geführt, daß Sie die Renten
gekürzt haben.
Das, was unser Parteivorsitzender auf dem Parteitag
als eine Aufforderung an die Partei zu diskutieren eingebracht hat, ist eigentlich nicht zu verwerfen, sondern
ein Angebot - ({2})
- Ja natürlich. Überlegen Sie doch einmal, was Ihr jetziger Parteivorsitzender, als er es noch nicht war, in Ihre
Partei eingebracht hat, zum Beispiel minimale Ansätze
einer ökologischen Steuerreform. Aber er durfte noch
nicht einmal darüber diskutieren.
({3})
Wir werden in der Partei darüber diskutieren; auch das
gehört zur Wahrhaftigkeit.
({4})
- Ich bin jetzt dran, Herr Laumann.
({5})
Man muß die Behandlung politischer Themen durchhalten. Sie werden mitbekommen haben, daß wir im
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vor sieben, acht
Jahren, als die SPD ihre ersten Positionspapiere zur
Pflegeversicherung eingebracht hatte, heftig darüber gestritten haben, ob man die Pflegeversicherung aus Steuermitteln finanzieren soll oder ob man sie als ein Versicherungssystem ausgestaltet. Das wissen Sie genauso
wie ich; also seien Sie nicht so scheinheilig.
({6})
Damit ist die
Aussprache zu diesem Themenkomplex beendet.
Wir setzen die Aussprache zur Regierungserklärung
nun mit dem Thema Gesundheit fort.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung
- Drucksache 14/24 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({0})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Wolfgang Lohmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich ja
um eine verbundene Debatte. Deswegen darf ich vielleicht noch einen Satz an meinen Vorredner richten.
Herr Kollege Ostertag, ich finde, es ist ein großartiger
Auftakt zu dem vom Bundeskanzler angekündigten
„Bündnis für Arbeit“, wenn Sie hier unverhohlen Begriffe wie „Ausbeutung durch die Arbeitgeberschaft“ in
den Raum stellen. Da kann man für die demnächst laufenden Verhandlungen nur viel Vergnügen wünschen.
({0})
- Ja, ich habe zugehört.
Sie haben die Frage gestellt: Wo ist denn das wohlbestellte Haus? - Die kann ich Ihnen beantworten. Dieses
wohlbestellte Haus finden Sie im Bereich der Gesundheitspolitik.
({1})
In der Gesundheitspolitik heißen sechs Jahre Bundesminister Horst Seehofer: sechs Jahre Beitragssatzstabilität,
({2})
keine weitere Steigerung der Belastung der Arbeitskosten, die weitere Zur-Verfügung-Stellung des medizinisch Notwendigen, aber auch das Einfordern von mehr
Eigenverantwortung, die ja Ihr Bundeskanzler immer
auf seine Fahnen geschrieben hat.
Nun hat ja, Frau Ministerin - Sie sprechen gleich -,
jeder das Recht auf 100 Tage Schonzeit. Ich muß jetzt
schon ein wenig das vorwegnehmen, was Sie gleich sagen werden. Das weiß man ja so in etwa!
({3})
Ich meine sehr wohl, die Schonzeit müßte man Ihnen
gewähren. Zudem ist im Bereich der Gesundheitspolitik
eine lange Einarbeitungszeit unverzichtbar, weil die
Problematik so schwierig ist. Es geht immerhin um über
4 Millionen Menschen, deren Arbeitsplätze in diesem
Bereich sind. Es werden 500 Milliarden DM umgesetzt,
allein 270 Milliarden DM in der gesetzlichen Krankenversicherung. Deswegen muß nach unserer Auffassung
jede gesetzliche Änderung wohlüberlegt sein.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gestern gesagt - ich
zitiere das -: Auch im Gesundheitswesen reichen die
heute zur Verfügung stehenden Finanzmittel für eine
qualitativ hochwertige Versorgung aus. - Glauben Sie
das wirklich selbst?
(
Ein netter Kerl! Er guckt mich an!)
Wenn Sie an die Überalterung der Bevölkerung, die medizinisch-technische Entwicklung, die Multimorbidität,
die Erwartungshaltung der Bevölkerung denken, dann
werden Sie leicht einsehen: Alles das wird auch auf
Dauer mehr Geld kosten. Wenn Sie dann sagen, daß Sie
das sektoral oder global budgetieren wollen, dann führen
Sie - Ihr zweiter Satz in diesem Zusammenhang lautete:
Nicht die Rationierung in der gesetzlichen Krankenversicherung ist der richtige Weg, sondern die Rationalisierung - die gesetzliche Krankenversicherung in die Rationierung.
({0})
Ich will ein paar Beispiele nennen; für mehr Beispiele
reicht die Zeit heute nicht. Beginnen will ich mit dem
Krankenhausnotopfer. Ist es denn die alte Regierung
gewesen, die daran schuld hat, daß bis auf die rühmliche
Ausnahme Bayerns alle Bundesländer die Instandhaltungskosten nicht mehr übernommen haben? Die Krankenkassen konnten es ebenfalls nicht bezahlen. Die
Krankenhäuser saßen zwischen den Stühlen. Wir haben
das Problem beseitigt. Die Einführung des Notopfers der
berühmten 20 DM ist uns schwergefallen, aber es mußte
sein. Denn die Substanz der Krankenhäuser durfte nicht
weiter verrotten; und das nur deswegen, weil die Bundesländer nicht mehr bereit waren, diese Kosten weiter
zu tragen - bis auf Bayern, wohlgemerkt.
({1})
Jetzt wollen Sie das Festzuschußsystem beim Zahnersatz wieder einführen. Das soll soziale Gerechtigkeit
sein? Früher war es doch so: Diejenigen, die sich einen
höherwertigen Zahnersatz leisten konnten, verursachten
einen wesentlich tieferen Griff in die Sozialkasse, weil
es ja eine prozentuale Bezuschussung gab. Wer gesagt
hat, ich habe nicht so viel, bei mir darf die Versorgung
nur 4 000 DM kosten, der verursachte Kosten von
2 000 DM. Wer sagte, mir können Sie deutlich besseren
Zahnersatz machen, der dann 8 000 DM kostete, der bekam aus der Sozialkasse 4 000. Das heißt, diejenigen,
die es sich leisten konnten, bekamen auch eine bessere
Versorgung. Ist das soziale Gerechtigkeit? Wir meinten,
nein. Deswegen haben wir Festzuschüsse auf hohem Niveau eingeführt. Damit kam das, was medizinisch notwendig ist, allen zugute.
({2})
Sie haben uns nun über mehrere Jahre diffamiert mit
der berühmten Frage der Zuzahlung bei Arzneimitteln.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Sie haben den Menschen eingeredet, die Zuzahlung sei
von Übel, das habe mit Eigenverantwortung nichts zu
tun. Und was kommt dabei heraus? Statt 9, 11 und
13 DM sollen es jetzt 8, 9 und 10 DM sein. Es wird
demnächst in den Apotheken ein „Sturm des Jubels“
losbrechen, weil für das Arzneimittel nicht mehr 9, sondern 8 DM zugezahlt werden müssen. Diese für den einzelnen marginale Entlastung macht in der Summe für
die gesetzliche Krankenversicherung rund 1 Milliarde
DM aus. Wir fragen Sie, wie Sie dies gegenfinanzieren
wollen.
Das Krankenhausnotopfer soll gestreckt oder abgeschafft werden. Somit fehlen rückwirkend für das Jahr
1998 880 Millionen DM. Oder wollen Sie - denn zur
Gegenfinanzierung ist unter anderem vorgesehen, die
620-Mark-Jobs sozial- und krankenversicherungspflichtig zu machen - die Beitragszahler rückwirkend zur Sozialkasse bitten? Das wäre ja etwas ganz Neues; bis
jetzt habe ich nichts derartiges gelesen. Also fehlen,
Frau Ministerin, zumindest für dieses Jahr 880 Millionen DM.
Zum Arzneimittelbudget: Ich habe immer geglaubt,
Herr Kollege Dreßler, nach dem Gesundheitsstrukturgesetz, nach der dreijährigen Budgetierung - später wurde
sogar ein viertes Jahr angehängt - hätten alle, auch Sie,
die neue Regierung, eingesehen, daß Budgetierung, vor
allem die sektorale Budgetierung, ins Elend führt. Angesichts der dynamischen Entwicklung im Gesundheitsbereich kann Budgetierung nicht der Gedanke der Zukunft
sein. Sie kehren dennoch dahin zurück. Spätestens im
Herbst nächsten Jahres werden Sie sich mit der Frage
der Rationierung auseinandersetzen müssen. Das ist gar
keine Frage.
({3})
Dann werden all die auf der Matte stehen, denen Sie
entweder abverlangen, Leistungen zu erbringen, ohne
dafür Geld zu bekommen, oder denen Sie die Leistungen, die sie vorher bekommen haben, entziehen wollen.
Das wird die Folge Ihrer Politik sein.
Aber Sie müssen die Wahlgeschenke, die Sie versprochen haben, schnell umsetzen - zumindest noch anfangs. Später, wenn Sie die Strukturreform angehen, von
der Sie gesprochen haben, werden Sie hoffen, daß manches in Vergessenheit geraten sein wird.
Wer sind nun die Finanziers dieser Versprechungen
und Wahlgeschenke? Erstens sind es die Leistungserbringer. Budgetierung heißt: Fallbeil herunter, keine
müde Mark mehr! All das, was wir überwunden glaubten, wird wiederkommen. Das gilt zum Beispiel für den
dramatisch verfallenden Punktwert: Die freien Berufe
werden gezwungen, ihre Leistungen zu einem Zeitpunkt
zu erbringen, an dem sie gar nicht wissen, was sie später
dafür bekommen werden, weil der Punktwert inzwischen verfallen ist.
Zweitens soll die pharmazeutische Industrie zahlen: Die Festbeträge sollen gesenkt werden. Mit einem
Federstrich werden Erträge abgeschöpft. Sie haben anscheinend nicht gemerkt, Frau Ministerin, daß nach dem
Gesundheitsstrukturgesetz in diesem Bereich, der pharmazeutischen Versorgung, wirklich die Schularbeiten
gemacht wurden: Preissenkung um 5 Prozent, Einführung von Festbeträgen - all das hat dazu geführt, daß die
Umsätze der gesetzlichen Krankenversicherung noch
heute unter den Umsätzen von 1992 liegen. Das haben
Sie anscheinend übersehen, oder Sie wollen es nicht sehen. In seiner ideologischen Verblendung sieht auch
Herr Ostertag dies nicht.
Schließlich sollen - ich habe es eben schon gesagt ausgerechnet die Geringverdiener die Finanziers Ihrer
Wahlgeschenke werden.
({4})
Die „Hannoversche Allgemeine“ schreibt schon heute
morgen: Statt von einem Notopfer für Krankenhäuser
wird man künftig von einem „Notopfer von Geringverdienern“ sprechen.
({5})
Ich fasse zusammen: Ihr Erstlingswerk, Frau Fischer
- auch wenn ich persönliche Sympathie für Sie nicht bestreiten kann -, ist nicht gelungen. Denn Ihre Formulierungsvorschläge für das Gesetz, das ich jetzt hier kritisiere, gefährden die Beitragssatzstabilität und damit
auch die Arbeitsplätze in diesem Bereich sozialer
Dienstleistungen. Neue werden damit nicht geschaffen.
Die qualitativ hochwertige Versorgung wird nicht mehr
gewährleistet sein, wenn Sie nicht noch nachbessern.
Das ist ja eines der beliebtesten Worte - vielleicht sogar
Unworte - des Jahres 1998: Wir müssen noch nachbessern. Aber Vertrauen in unsere solidarische gesetzliche
Krankenversicherung schaffen Sie damit nicht. Leider
kein guter Start.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Ministerin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die neue
Opposition sucht offensichtlich noch nach ihrer Rolle:
Gestern hat der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU uns
Nichtstun vorgeworfen. Andere aus Ihren Reihen sagen,
das, was wir bislang vorgeschlagen hätten, sei irgendwie
falsch.
({0})
- Das ist eine sehr diplomatische Formulierung, Herr
Repnik. Aber es hilft alles nichts: Ich finde, es hat
durchaus etwas Nickeliges, wie Sie darüber reden.
({1})
Ich halte fest: Das, was wir machen, machen wir
rasch, insbesondere in der Gesundheitspolitik. Wir wollen mit diesem Vorschaltgesetz die Bedingungen für
eine große Gesundheitsreform schaffen, die LegitimaWolfgang Lohmann ({2})
tion für die gesetzliche Krankenversicherung wiederherstellen und das Preis-Leistungs-Verhältnis ins Lot bringen. Wir werben für Solidarität in der gesetzlichen
Krankenversicherung, die wir erreichen wollen, indem
wir die Belastungen gleichmäßiger verteilen, als das in
den letzten Jahren geschehen ist.
({3})
Wäre ich an Ihrer Stelle: Mir würde es auch nicht gefallen, wenn eine neue Regierung käme und etliche von
den Dingen, worum die alte Regierung lange gerungen
hat, einfach wieder rückgängig machen würde. Zum
formvollendeten Hinnehmen einer Niederlage gehört
aber, zu erkennen, warum man eine Niederlage einstekken mußte. Ihre Gesundheitspolitik hat zu dieser Niederlage beigetragen. Dafür haben Sie die Quittung bekommen.
({4})
Es war ganz offenkundig, daß sehr viele Menschen
im Land den Eindruck hatten: Das, was ich für die Versicherung zahlen muß, stimmt nicht mit dem überein,
was man mir dafür gibt, vor allen Dingen dann nicht,
wenn ich bedenke, wofür ich zusätzlich zahlen muß, sei
es in Form eines Notopfers, sei es in Form von Arzneimittelzuzahlungen, sei es im Hinblick auf das Drama,
das sich dieses Jahr in den Zahnarztpraxen abgespielt
hat.
Ich finde, ein Punkt, den man unter symbolischen Gesichtspunkten nicht geringschätzen sollte, war die Botschaft: Alle, die nach 1978 geboren sind, werden nie
wieder in ihrem Leben Zahnersatz über die gesetzliche
Krankenversicherung bekommen. - Wir können viel
darüber reden, Herr Lohmann, daß die Möglichkeiten
der Prophylaxe verbessert worden sind und daß es Sinn
macht, diese in Zukunft durch Anreizsysteme noch verstärkt zu berücksichtigen; aber Sie können den jungen
Leuten nicht vermitteln, daß eine Generation noch alles
bekommt und die Generationen, die danach kommen,
nicht mehr.
({5})
Das mag für Sie bitter sein. Aber die Wählerinnen und
Wähler haben einer Gesundheitspolitik, die sie als entsolidarisierend und als privatisierend empfunden haben,
die rote Karte gezeigt. Deswegen meine ich, Sie sollten
diese Niederlage tapfer annehmen und zugeben, daß wir
hier einiges machen müssen. Das ist nicht einfach nur
das wohlfeile Bedienen von Wahlversprechen; dahinter
steckt vielmehr eine andere Logik: Wir wollen in der
Gesundheitspolitik neue Wege gehen.
Natürlich ist es ein ehrgeiziges Vorhaben - Herr
Lohmann, da haben Sie völlig recht -, einen solchen Gesetzentwurf innerhalb weniger Tage vorzubereiten. Aber
wenn ich meinem Vorgänger dieses Kompliment machen darf: Das Bundesgesundheitsministerium verfügt
über viele ausgesprochen kompetente Mitarbeiter, mit
deren Hilfe ich und die Fraktionen der Bündnisgrünen
und der SPD in den letzten Tagen an diesem Entwurf
gearbeitet haben. Tun Sie nicht so, als könnten Sie die
Tatsache, daß ich bislang keine anerkannte Gesundheitsexpertin gewesen bin, zum wohlfeilen Argument
gegen das Gesetz nehmen. Das halte ich für ein Argument, das Ihrer nicht würdig ist.
({6})
Wir haben hier einen handwerklich soliden Entwurf
vorgelegt, der durch die Zusammenarbeit der beiden
Koalitionsfraktionen entstanden ist. Wir haben uns in
der Beratung dieses Gesetzentwurfes im äußersten Maße
beschränkt, nämlich auf genau das, was in den Koalitionsverhandlungen als die notwendigsten Maßnahmen,
die bis Ende dieses Jahres durchgeführt werden sollen,
festgelegt worden war: Wiederherstellung der Solidarität und Gewährleistung von Beitragssatzstabilität. Die
Beitragssatzstabilität ist von sehr großer Bedeutung. Die
wirklich sehr begrüßenswerte und unmittelbar notwendige Senkung der Rentenversicherungsbeiträge durch
die Steuerreform soll und wird von den Krankenversicherungsbeiträgen nicht aufgefressen, nicht negativ beeinträchtigt werden. Deswegen ist die Stabilität der Beitragssätze in der GKV auch bei diesem Vorschaltgesetz
ein ganz wichtiges Ziel.
({7})
Viele, die mir in den letzten Tagen gratuliert haben,
haben mich vor diesem Amt gewarnt. Da fielen die beeindruckendsten Worte, von denen das „Haifischbekken“ fast noch eines der harmlosen ist. Gleichwohl würde ich nach den ersten Erfahrungen sagen: Diese Warnungen waren alle weit untertrieben.
({8})
Mir sind inzwischen schon wirklich beachtlich viele
Fehdehandschuhe hingeworfen worden, noch bevor
überhaupt ein Gesetzentwurf vorlag. Sie dürfen sicher
sein: Die nehme ich alle auf, versehe sie mit Namen und
lege sie schön fein in einen Schrank. Wie Sie mich kennen, gehe ich keinem Streit aus dem Weg.
Trotzdem, ganz im Ernst: Ich setze weiterhin auf
Dialog und darauf, daß es dem deutschen Gesundheitswesen nicht gut tut, wenn alle weiterhin in den Gräben,
die sie sich seit Jahrzehnten gegraben haben, sitzen bleiben und von vornherein mit großen Kanonen schießen.
({9})
Ich bin ganz fest davon überzeugt, daß es im deutschen
Gesundheitswesen sehr viele Menschen gibt, die bereit
sind, sich auf einen solchen Dialog einzulassen, die bereit sind zu Reformen, die unter der Zielsetzung des
Gemeinwohls stehen und nicht unter der Zielsetzung
„Ich will am Ende mehr haben“. Auf diese Menschen
setze ich, sie lade ich zu Reformen ein.
({10})
Ich glaube, die, die mir jetzt diese Fehdehandschuhe
hingeworfen haben, gibt es auch in vielen der Verbände.
Ich kann nur sagen: Es hat einen Vorteil, nicht schon
lange in irgendeinem dieser Gräben gesessen zu haben.
Vor diesem Hintergrund freue ich mich auf das Gespräch mit allen am Gesundheitswesen Beteiligten.
Vielleicht ist es ja doch möglich, da einen neuen Stil
einzuführen.
({11})
Ich will am Anfang einmal darstellen, was überhaupt
in dem von Ihnen schon jetzt inkriminierten Gesetz
steht.
Ja, wir wollen die Zuzahlungen zurückführen, insbesondere die für Arzneimittel. Da haben wir wieder die
berühmte Frage: Ist das nun viel oder wenig? Da kann
man sagen - ich vermute, die PDS wird das gleich tun -:
Das ist aber ein kleiner Schritt; ihr müßt sie viel weiter
zurückführen. Die CDU sagt: Wenn ihr unsere Zuzahlungen nur so wenig zurückführt, waren sie wohl nicht
so schlimm.
({12})
- Ich bin nicht das Weltkind in der Mitten. Vielmehr
geht es um Beitragssatzstabilität; davon habe ich gerade
gesprochen.
({13})
Es ist doch nicht so, als könnten wir das Geld in der gesetzlichen Krankenversicherung drucken. - Entschuldigung, eine Entlastung der Versicherten um gut 800 Millionen DM ist nicht nichts. Wenn man gleichzeitig Beitragssatzstabilität will, muß man darauf achten, daß man
sich bei der Rückführung der Zuzahlungen in einem
Rahmen bewegt, der insgesamt für das System vertretbar ist. Ich finde, das haben wir getan.
({14})
Noch dazu können wir für uns in Anspruch nehmen,
daß sich die überproportionale Entlastung bei den großen Packungen besonders zugunsten von chronisch
Kranken und Älteren auswirkt. Dazu kommt, daß wir
die Befreiungsregelung für die chronisch Kranken deutlich verbessert haben. Das halte ich nun wirklich für ein
gelungenes Beispiel zielführender Sozialpolitik, die wir
anstreben.
({15})
Ich könnte mir auch weitergehende Rückführungen
vorstellen. Aber wir nehmen das Ziel der Beitragssatzstabilität sehr ernst. Wir führen auch noch andere Belastungen zurück, die die Versicherten zum Teil noch gar
nicht gespürt haben, weil sie erst im nächsten Jahr in
Kraft getreten wären: die Dynamisierung der Zuzahlungen, die Psychotherapeutenzuzahlungen, die Koppelung
der Beitragssatzerhöhung einer Kasse an eine Zuzahlungserhöhung. Die Entscheidungen über die Einführung dieser Regelungen in der gesetzlichen Krankenversicherung bedürfen dringend einer Korrektur.
Nun haben Sie gesagt, das Krankenhausnotopfer
hätten auch Sie nicht gern eingeführt. Trotzdem könnten
wir es jetzt nicht abschaffen. - Herr Lohmann, wenn an
diesem Krankenhausnotopfer irgend etwas zu lernen
war, dann dies: daß Sie da ganz offensichtlich den Bogen überspannt hatten. Es ging zum Schluß gar nicht
mehr um die 20 DM. Vielmehr hatten die Leute die Faxen dicke davon, noch einmal zahlen zu müssen, obwohl
sie jeden Monat fast 14 Prozent Beiträge zahlen.
({16})
Wir haben an diesem Punkt die Krankenkassen auf
unserer Seite. Es ist ja nicht so, daß nur Sie rechnen
könnten, Herr Lohmann, die Krankenkassen aber nicht.
Wir haben die Kassen bei diesem Vorhaben auch deswegen auf unserer Seite, weil sie diejenigen waren, die
den Ärger abbekommen haben, der eigentlich die alte
Bundesregierung hätte treffen müssen. Die Krankenkassen haben feststellen können, daß das Verhältnis von
Aufwand und Geld, das man dadurch tatsächlich in die
Kassen bekommt, nicht mehr angemessen ist und daß
damit die Verwaltungskosten für diese Maßnahme ein
Ausmaß erreicht haben, das diese Maßnahme einfach
sinnlos erscheinen ließ. Es stellt sich also die Frage, ob
das Geld, das Sie für 1998 buchhalterisch eingeplant haben, überhaupt in die Kassen gekommen wäre. Deswegen weise ich Ihren Vorwurf zurück.
({17})
Wir haben auch Privatisierungselemente in der gesetzlichen Krankenkasse zurückgenommen. Nun gilt ja
Privatisierung per se als modern. Gleichwohl muß man
dazu sagen: Der Sinn einer gesetzlichen Krankenversicherung besteht darin, Solidarität zu organisieren, nämlich die zwischen Kranken und Gesunden, die zwischen
Alten und Jungen, die zwischen Familien mit Kindern
und ohne Kinder und die zwischen Leuten mit hohen
und niedrigen Einkommen. In diesem Sinne bekenne ich
mich dazu, ausgesprochen altmodisch zu sein.
Die Wirkung dieser Privatisierungselemente will ich
hier nur an dem Punkt der Kostenerstattung beim Zahnersatz deutlich machen. Sie hat ganz offensichtlich nicht
dazu geführt, daß es den Versicherten besser ging, daß
sie besser versorgt worden wären und daß sie mehr Vertrauen zu ihren Ärzten gewonnen hätten, im Gegenteil:
Der Umsatzrückgang in den Zahnarztpraxen von
30 Prozent bis zum Teil 40 Prozent spricht eine beredte
Sprache, was mit diesen Privatisierungselementen beim
Zahnersatz angerichtet worden ist. Wenn wir das jetzt
auf das Prinzip der Sachleistung zurückführen wollen,
dann wollen wir damit Frieden zwischen den Zahnärzten
und den Versicherten herstellen. Wir wollen den Versicherten wieder Klarheit darüber geben, was sie beim
Zahnersatz erwartet und wie es funktioniert. Dies ist eine sehr wichtige Maßnahme zur Stärkung der Solidarität
in der gesetzlichen Krankenversicherung.
({18})
Vor dem Hintergrund der Debatte, die wir heute
schon über die Pflegeversicherung hatten und in der so
emphatisch die Sozialversicherung verteidigt wurde man muß sich ja im Moment an vieles gewöhnen; aber
die Pflegeversicherung gehört jetzt zu meinen Zuständigkeiten -, höre ich dann den Vorwurf, daß wir die Geringverdiener in die Sozialversicherung einbeziehen
wollten. Das sei ein Abkassieren zugunsten der ausgebluteten Kassen der Sozialversicherung. Ich glaube, da
müssen Sie, meine Damen und Herren, Ihr Verhältnis
zur Sozialversicherung noch einmal ein bißchen klären.
Es ist doch nicht wahr: Wir kassieren doch nicht ab, wir
stecken uns das Geld doch nicht in die eigene Tasche
und hauen damit nach Mallorca ab.
({19})
Aber mit dieser Art der Wortwahl erwecken Sie diesen
Eindruck. Wir reden hier über Solidarität. Eine Sozialversicherung ist darauf angewiesen, daß die Menschen
sich an ihr beteiligen. Natürlich kann mir jeder einzelne
sagen: Wenn ich keinen Beitrag zahle, geht es mir besser, weil ich ja mehr Geld in der Tasche habe. Aber das
Free-Rider-Prinzip in der Sozialversicherung funktioniert nur für das Individuum gut. Es funktioniert nicht
für das Kollektiv. Eine Sozialversicherung, aus der sich
immer mehr Menschen verabschieden, bedeutet, daß die
Beiträge für diejenigen, die in ihr bleiben, ständig steigen.
({20})
Deswegen finde ich es berechtigt, wenn wir sagen: Eine
Sozialversicherung funktioniert nur, wenn wir uns alle
nach unserer Leistungsfähigkeit daran beteiligen.
Jetzt noch einige Worte zu dem, was Sie gerade
schon gesagt haben - das ist mir inzwischen auch schon
reichlich untergekommen -, zur Frage der Ausgabenbegrenzung in den verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens im nächsten Jahr. Herr Lohmann, das
darf doch wohl nicht wahr sein, daß Sie sich hier hinstellen und so tun, als würden wir den Leuten Geld wegnehmen. Wir begrenzen im nächsten Jahr die Zuwächse
in den einzelnen Sektoren. Das ist doch etwas völlig anderes als die Behauptung, daß wir den Leuten etwas
wegnehmen würden. Was erzählen Sie denn hier? Wir
begrenzen die Zuwächse der Umsätze in den verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens auf die zu erwartende Lohnsteigerung des nächsten Jahres. Sie als
Freunde des freien Wirtschaftens müßten das doch
klasse finden. Welche andere Gruppe in dieser Gesellschaft hat sozusagen garantierte Umsatzzuwächse. Sie
erwecken hier die ganze Zeit den Eindruck, als würden
wir den Leuten etwas wegnehmen. Das ist doch überhaupt nicht wahr.
Wir haben zusätzlich - weil wir nicht geschichtsvergessen sind und weil wir die Erfahrungen mit der Budgetierung, die wir hinter uns haben, nicht vergessen haben - hochdifferenzierte Regelungen für jeden der einzelnen Sektoren gefunden. Alle diejenigen, die sich jetzt
auch aus Interessensgründen darüber beklagen, fordere
ich auf: Schauen Sie sich genau an, was dort steht. Wir
haben uns die Situation in den einzelnen Bereichen - sei
es das Krankenhaus, sei es die ambulante Versorgung jeweils ganz genau angeschaut und eine dafür jeweils
passende Regelung gefunden. Das ist unser Angebot,
auch an die Leistungserbringer, von denen immer behauptet wird, daß wir ihnen einfach nur noch in die Tasche greifen wollten.
({21})
Wir begrenzen die Zuwächse der Ausgaben. Das ist etwas anderes als wegnehmen. Ich glaube, daß es sehr
richtig ist, wie wir das gemacht haben, nämlich maßvoll
und differenziert. Daß wir auf Dauer nicht eine sektorale, sondern eine globale Begrenzung wollen, ist auch
klar.
Aber Sie wissen sehr gut, daß es dafür Bedingungen
braucht, die wir erst noch schaffen müssen.
({22})
Meine abschließenden Worte zu Pflegeversicherung
und Krankenversicherung will ich aus Zeitgründen in
einem sagen. Was die Art und Weise angeht, in der Sie
darüber reden, was es an Debatten über die Pflegeversicherung in den letzten Wochen gegeben habe: Mit Verlaub, Sie haben uns immer vorgeworfen, wir seien reformunwillig; Sie sind sogar schon diskussionsunwillig!
({23})
Der Finanzminister hat einige vollkommen richtige
Fragen aufgeworfen, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen steuerfinanzierten und versicherungsfinanzierten, an den Arbeitskosten ausgerichteten Sozialsystemen, die Frage nach dem Verhältnis zwischen sozialversicherungsrechtlich und staatlich definierten Ansprüchen und auch die Frage, ob wir eine zielgenauere
Sozialpolitik brauchen. Ich halte diese Fragen für berechtigt. Ich glaube, daß wir sie nicht mit einem Systemwechsel beantworten können, weil sich die Dinge in
der Sozialpolitik viel langsamer und schwerfälliger bewegen lassen. Aber eine solche Debatte muß man doch
führen.
({24})
Ich meine das auch im Hinblick auf die gesetzliche
Krankenversicherung. Dazu sage ich abschließend
noch einmal in eigener Sache: Ich weiß um all die vielen
großen Reformversuche, die es im Gesundheitswesen
gegeben hat. Glauben Sie nur nicht, daß ich, bloß weil
ich auf diesem Feld neu bin, so tun würde, als hätte es
das alles nicht gegeben, und daß ich das alles völlig unbefangen mache. Ich wehre mich aber gegen den Defätismus, der zum Teil von denjenigen ausgeht, die all diese Versuche schon hinter sich haben und gesehen haben,
wie schwierig das ist. Ich tue das nicht, weil ich naiv
und eine Anfängerin bin, sondern ich wehre mich einfach gegen die Art von Defätismus, weil jedes Sozialsystem - die gesetzliche Krankenversicherung, die Pflegeversicherung, die Rentenversicherung, was auch immer - ständig verändert werden muß.
({25})
Die Welt ändert sich: Die Arbeitswelt ändert sich, die
Verhältnisse im Gesundheitswesen haben sich deutlich
verändert. Eine Reform ist also immer wieder notwendig. Ich bin der Auffassung, daß es dabei keine Tabus
geben darf.
In diesem Sinne lade ich alle, denen daran liegt, daß
wir die Zukunft unserer gesetzlichen Krankenversicherung sichern und ausbauen, in die Reformwerkstatt zu
einem offenen Dialog ein, der nicht aus den Gräben heraus, sondern auf gleicher Augenhöhe geführt wird.
({26})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Dieter Thomae.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieser Gesetzentwurf knebelt sowohl die Patienten als auch die Leistungserbringer. Das werde ich Ihnen jetzt sehr deutlich
sagen.
({0})
Mit diesem Gesetzentwurf täuschen Sie die Patienten. Sie glauben, Sie könnten den Patienten mit diesem
Gesetzentwurf entgegenkommen. Letztlich werden die
Patienten sehr bald merken, daß sie von Ihnen getäuscht
werden.
({1})
Denn es müssen 2 Milliarden DM eingespart werden.
Wo wird eingespart? In verschiedenen Bereichen: beispielsweise im ambulanten Bereich, im Krankenhausbereich, im zahnärztlichen Bereich, im Bereich des Arzneimittelbudgets und bei den Heil- und Hilfsmitteln.
Was bedeutet das? Sie sagen den Bürgern, sie bekämen
die volle Leistung. Aber das Geld bleibt knapp. Das
heißt: Das Leistungs- und Qualitätsniveau, mit dem wir
das Gesundheitswesen bisher organisiert haben, wird
nicht erhalten bleiben. Es wird zur Rationierung und
letztlich auch wieder zu Wartezeiten kommen.
Sie sagen den chronisch Kranken, Sie nähmen sie von
den Zuzahlungen und den vielen Belastungen aus. Die
alte Koalition hatte die Ein-Prozent-Regelung. Ihre Vereinbarung ist aber viel brutaler: Sie führen beispielsweise rigoros das Arzneimittelbudget und das Heilmittelbudget wieder ein. Wenn Sie das tun, bedeutet das, daß
chronisch Kranke schlechter behandelt werden, weil bei
innovativen Produkten gespart wird.
({2})
Ich sage es sehr deutlich: Beispielsweise die Krebskranken und die chronisch Kranken wie Aids-Infizierte und
andere sind durch das Arzneimittelbudget massiv betroffen. Dies werden Sie den chronisch Kranken recht bald
deutlich sagen müssen.
({3})
- Lesen Sie nach, was Arzneimittelbudget bedeutet. Wir
hatten den Mut, zu den Richtgrößen überzugehen. Bei
Richtgrößen können wir die unterschiedlichen Patientengruppen genau differenzieren. Wir können bei den
Richtgrößen genau sagen: Hier sind Krebspatienten, hier
sind Aids-Patienten. Beim Arzneimittelbudget werden
Sie dies nicht machen.
Ein anderer entscheidender Punkt beim Arzneimittelbudget: Sie führen wieder die Globalhaftung der Ärzte
ein, und zwar in einem KV-Bereich. Sie treffen diejenigen, die Arzneimitteltherapie vernünftig betreiben, und
andere, die großzügig damit umgehen. Halten Sie das in
einer modernen medizinischen Versorgung für einen
sinnvollen Weg? Ich kann Ihnen nur sagen: Sie werden
gegen die Wand laufen.
({4})
Ein weiterer wichtiger Punkt: Sie glauben, Sie könnten das Arztbudget fixieren. Haben Sie auch darüber
nachgedacht, wie das Arztbudget in den neuen Bundesländern aussieht? Haben Sie eine Differenzierung? Nein! Wenn Sie sich um die Situation in den neuen
Bundesländern wirklich gekümmert hätten, dann hätten
Sie, Frau Minister, dieses Budget für Ärzte in West und
Ost nicht in gleichem Umfang fixiert; denn dies ist nicht
tragbar.
({5})
Sie wollen und werden mit diesem Budget die Freiberuflichkeit massiv beeinflussen.
({6})
Sie werden es schaffen, daß viele Ärzte durch die Fixierung des Arztbudgets nicht überleben. Vielleicht ist das
auch gewollt; denn es handelt sich um eine ideologische
Frage. Vielleicht wollen Sie die Freiberuflichkeit zurückfahren. Vielleicht wollen Sie das Krankenhaus massiv stärken. Wenn man die Ausnahmeregelungen, die
Sie für das Krankenhaus fixiert haben, sieht, dann muß
man glauben, daß Sie die Freiberuflichkeit zurückfahren, den freiberuflichen Arzt beseitigen, das Geschehen
stärker in das Krankenhaus verlagern und letztlich das
Krankenhaus für die ambulante Versorgung öffnen
wollen. Ich sage Ihnen: Hier werden wir massiven Widerstand leisten; dies werden wir nicht akzeptieren.
({7})
Ich höre immer - auch in der Erklärung Ihres Kanzlers -: Wir wollen Leistung belohnen. Wenn man die
Formulierung im Budget der Zahnärzte sieht, so stellt
man eindeutig fest: Wer fleißig ist, der wird bestraft,
seine Honorare werden massiv abgesenkt. Entweder Sie
entscheiden sich und sagen: „Wir wollen, daß Leistung
belohnt wird“, dann müssen Sie dies auch in allen Bereichen durchziehen, oder Sie müssen sagen: „Wir machen Flickwerk“, dann weiß jeder, woran er ist. In der
Gesundheitspolitik ist Flickwerk auf den Weg gebracht
worden. Es ist so enttäuschend, daß Sie ein Konzept auf
den Weg bringen, das uralt ist und aus der Mottenkiste
kommt. Das ist Planwirtschaft in höchster Potenz.
({8})
Sie werden damit scheitern. Sie glauben, Sie könnten
mit der Budgetierung die Beitragssatzstabilität sichern.
Ich sage Ihnen: Sie werden sie nicht sichern. Die Patienten werden recht bald merken, daß sie von Ihnen nicht
ehrlich behandelt werden - um mich zurückhaltend auszudrücken. Sie haben im Wahlkampf in verschiedenen
Bereichen die Unwahrheit gesagt.
({9})
Ich nenne nur ein Thema, den Kur- und Rehabilitationsbereich.
Was haben Sie nicht alles versprochen, was Sie in
diesem Bereich ändern würden! Nichts haben Sie gemacht! Sie sind doch viel zu feige, dies zurückzunehmen, weil Sie es nicht finanzieren können.
({10})
Ich erinnere daran, wie Sie durchs Land gezogen sind
und in den Kurorten und im Reha-Bereich Versprechungen gemacht haben, die Sie überhaupt nicht halten können. Wenn ich eine solche Politik machen würde, dann
würde ich mich als F.D.P.-Mann schämen, weil ich vor
der Wahl etwas versprochen hätte, was ich nach der
Wahl überhaupt nicht hätte halten können.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Nichts kennzeichnet glaubwürdige
Politik erfolgreicher als die auf die Ankündigung unmittelbar folgende politische Maßnahme.
({0})
Wenn wir nämlich heute die Regierungserklärung des
Bundeskanzlers debattieren und zugleich in erster Lesung Gesetzentwürfe einbringen, die die Ankündigungen aus der Regierungserklärung bereits umsetzen wollen und sollen, dann beweist die neue Koalition damit,
daß die Glaubwürdigkeit von Regierungsarbeit bei ihr
wieder einen besonderen Rang erhält, meine Damen und
Herren.
({1})
Wir demonstrieren ganz einfach: Ankündigungen folgen
Taten.
Die Koalitionsfraktionen haben sich für das kommende Jahr die Durchführung einer grundlegenden Reform unseres Gesundheitswesens, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung, vorgenommen. Wir
werden dabei zum ursprünglichen politischen Reformbegriff zurückkehren. Während die alte Regierung aus
CDU/CSU und F.D.P. unter Reformen im wesentlichen
die Erhöhung von Belastungen für die Menschen nach
dem Motto „weniger Leistungen für mehr Geld“ verstanden hat,
({2})
macht die neue Koalition es wieder richtig: Wir werden
dafür sorgen, daß es den Menschen nach den Reformen
besser geht, daß die Systeme besser funktionieren und
leistungsfähiger werden als zuvor.
({3})
Meine Damen und Herren, eine grundlegende Reform
hat Vorbedingungen, die erfüllt werden müssen. Soll sie
sorgfältig vorbereitet werden, benötigt sie Zeit. Es ist ja
geradezu eine Lachpille, Kollege Thomae, wenn Sie hier
nach 14tägiger Amtszeit der neuen Bundesregierung erklären, wir hätten Ihr Schlachtfeld im Rehabilitationsbereich noch nicht korrigiert. Seien Sie ganz beruhigt: Das
wird mit den Betroffenen ordnungsgemäß strukturpolitisch in dieser Reform auf den Weg gebracht. Dann
können Sie wieder hier stehen und die Wut über den
verlorenen Groschen Ihrer Macht im Plenarsaal des
Deutschen Bundestages zum Ausdruck bringen.
({4})
Herr Thomae, nehmen Sie zur Kenntnis, daß wir mit
dem Versprechen eines Politikwechsels angetreten sind.
Diesen Politikwechsel werden wir praktizieren.
({5})
Daß das eine Korrektur Ihrer unseligen Gesetze bedeutet, ist jedem Deutschen, der uns gewählt hat, klar, nur
Ihnen nicht. Aber uns hat die Mehrheit gewählt! Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis.
({6})
Angesichts der dynamischen Problemlage im Gesundheitswesen ist Politik, wie ich glaube, dazu verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß in der Zeit zwischen
der Vorbereitung der Reform und dem Inkrafttreten der
Reform den Krankenkassen die Ausgaben nicht davonlaufen, das heißt, die Krankenkassenbeiträge stabil
bleiben. Das ist eine unserer grundsätzlichen Vorbedingungen. Zum zweiten müssen die von der alten Koalition begangenen politischen Fehler, die zu gravierenden
Ungerechtigkeiten für die kranken Menschen geführt
haben, vorab korrigiert werden.
Die neue Koalition erfüllt beide Vorbedingungen für
eine Gesundheitsreform. Mit dem heute vorliegenden
Vorschaltgesetz sorgen wir dafür, daß die Ausgabenentwicklung bis zum Wirksamwerden der Strukturreform unter Kontrolle bleibt, das heißt, daß die Ausgaben
nicht stärker wachsen als die Einnahmen. Die Beitragssätze zur Krankenversicherung werden also, Kollege
Thomae und alle anderen Schreier der Opposition, stabil
bleiben. Ich unterstreiche: stabil bleiben. Anstatt sich
darüber zu freuen - das ist doch Ihre Forderung -, mäkeln Sie hier herum.
Wir sorgen zweitens dafür, daß die unerträglich hohen Zuzahlungen erträglicher gestaltet werden. Daß wir
Ihren ganzen Unsinn nicht auf einmal zurücknehmen
können, ist ja selbst demjenigen klar, der nur mit einem
japanischen Taschenrechner arbeitet.
({7})
Aber daß hier eine Umkehr Ihrer Politik erfolgt - weg
von den Erhöhungen, hin zu geringeren Zuzahlungen -,
das ist das politische Signal, Dieter Thomae. Ich wiederhole: Hier findet ein Politikwechsel statt. Daß er Ihnen nicht paßt, weil Sie die Zuzahlungen weiter erhöhen
wollten, ist uns klar. Aber wir werden sie herunterdrükken, wie wir es versprochen haben.
({8})
Meine Damen und Herren, der aus dem Amt geschiedene Gesundheitsminister Horst Seehofer hat 1995, also
vor drei Jahren, in diesem Hause folgendes ausgeführt:
Ich halte eine höhere Selbstbeteiligung im deutschen
Gesundheitswesen nicht mehr für verantwortbar und
möglich. - Herr Seehofer, das, was Sie den Menschen
vor drei Jahren versprochen, aber nie gehalten haben,
verwirklicht diese neue Bundesregierung bereits nach
14 Tagen mit ihrem ersten Gesetz!
({9})
Des weiteren korrigieren wir vorweg strukturelle
Fehlentscheidungen der alten Koalition. Alle Elemente
der privaten Versicherungswirtschaft, wie zum Beispiel
Selbstbehalte, Beitragsrückgewähr und Kostenerstattung, werden ebenso beseitigt wie die Koppelung einer
Erhöhung der Zuzahlung an Beitragssatzerhöhungen. Es
gilt: Vor den Wahlen hat die SPD das versprochen; nach
den Wahlen lösen wir es ein - solide finanziert und bei
stabilen Beiträgen in der Krankenversicherung. Wir
hätten gerne etwas weniger umfangreiche Vorschaltgesetze vorangestellt, aber es galt: Das Ausmaß der zwingenden Vorabkorrekturen war durch das Ausmaß der
Fehlentscheidungen der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung
vorgegeben. Zugespitzt formuliert: Hätten die Herren
Kohl, Seehofer und Gerhardt sich nicht auf den Weg der
Zertrümmerung der sozialen Krankenversicherung begeben, wäre vieles von dem nicht notwendig gewesen.
({10})
Auch in der Gesundheitspolitik, Herr Lohmann, hat
die neue Koalition keine gute Erbschaft angetreten.
Die Regierungserklärung hat deutlich gemacht, an
welchen Grundsätzen sich SPD und Bündnis 90/Die
Grünen in ihrer Gesundheits- und Sozialpolitik orientieren werden. Es heißt dort, daß unsere Sozialsysteme auf
den Prüfstand gestellt werden müssen. Das bedeutet, sie
auf ihre solidarischen Wirkungen zu überprüfen, auf
Wirkungen, die die Vorgängerkoalition nicht nur arg
strapaziert, sondern sogar Schritt für Schritt ausgehöhlt
und beseitigt hat. Wir wollen zukünftig wieder eine
Krankenversicherung, die paritätisch finanziert ist und
allen unabhängig von ihrer Brieftasche den gleichen
Schutz im Krankheitsfall bietet.
({11})
Wir wollen - nun sage ich ein großes Wort - die Eigenverantwortung stärken,
({12})
aber nicht dadurch, daß es, wie CDU/CSU und F.D.P. es
getan haben, einer immer größeren Anzahl von Menschen erlaubt wird, sich den sozialstaatlichen Verpflichtungen zu entziehen und sich klammheimlich aus
den Sozialsystemen zu verabschieden.
({13})
Nein, wir wollen, daß endlich wieder alle, Herr Lohmann, ihre Verantwortung für das gemeinsame Ganze
wahrnehmen. Nachdem Sie während der Regierungszeit
Ihrer Partei den Menschen seit Jahren einreden wollten,
Eigenverantwortung hieße: heraus aus den Systemen,
wird die neue Koalition wieder zum Normalzustand zurückkehren, denn Eigenverantwortung heißt für uns:
hinein in die Systeme.
({14})
Oder wollen Sie, Herr Lohmann, weiter ernsthaft den
Leuten einreden, daß der, der 14 000 DM im Jahr zur
Alterssicherung in die Rentenkasse zahlt, der 10 000
DM im Jahr zur Sicherung der gesundheitlichen Versorgung in die Krankenkassen zahlt, der 5 000 DM im Jahr
zur Absicherung gegen Arbeitslosigkeit in die Kassen
der Bundesanstalt zahlt und 600 DM im Jahr zur AbsiRudolf Dreßler
cherung gegen Pflegebedürftigkeit in die Pflegekasse
zahlt, keine Eigenvorsorge gegen die Wechselfälle des
Lebens betreibe?
({15})
In Wahrheit haben Sie das doch auch nie gemeint,
sondern die Unsinnigkeit Ihrer Forderung sollte nur Ihr
Bestreben verdecken, den finanziell etwas Bessergestellten zu erlauben, ihre eigenen gruppeninternen Sicherungssysteme aufzubauen, um nicht mehr für die anderen eintreten zu müssen. Herr Lohmann, Klientelismus
nennt man so etwas.
({16})
Das heute eingebrachte Gesetz beweist - die Strukturreform im Gesundheitswesen wird es im nächsten
Jahr beweisen -, daß wir damit Schluß machen. Nicht
die Extratour, Herr Lohmann, sondern das Füreinandereinstehen wird bei uns wieder zum gesellschaftspolitischen Normalfall.
({17})
Die Regierungserklärung hat deutlich gemacht, daß
die neue Koalition auch im Gesundheitswesen die
strukturellen Defizite beseitigen wird.
Im Gegensatz zu CDU/CSU und F.D.P. verleugnen
wir das zentrale Strukturproblem der Sozialversicherung
und damit auch der Krankenversicherung nicht. Wie in
allen entwickelten Industriestaaten verschiebt sich auch
in Deutschland das Verhältnis des Einsatzes der volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit: Der Einsatz von Kapital steigt relativ an, der Einsatz von Arbeit geht relativ zurück. Die Finanzierung
unserer Sozialsysteme ist aber ausschließlich an den
Faktor Arbeit, also den schrumpfenden Faktor, gebunden. Ein ständig wachsender Teil unserer Volkseinkommen steht also zur Finanzierung der Systeme nicht
mehr zur Verfügung.
Das bedeutet im Umkehrschluß, daß auf den
schrumpfenden Teil eine relativ wachsende Finanzierungslast entfällt. Nirgendwo wird dies deutlicher als im
Gesundheitswesen. Der Anteil der Gesundheitsausgaben
am Volkseinkommen liegt seit Jahren stabil bei zirka 10
Prozent. Gleichwohl steigen die Krankenversicherungsbeiträge.
Deshalb wiederhole ich die daraus logisch zwingende
Konsequenz, und zwar so lange, bis es den Damen und
Herren der heutigen Opposition aus den Ohren herauskommt: Meine Damen und Herren, unsere Sozialversicherung hat ein Einnahmeproblem und kein Ausgabeproblem.
({18})
Die alte Koalition hat mit ihrer Politik den widersinnigen Versuch unternommen, einer schrumpfenden Einnahmebasis durch Zusammenstreichen der Ausgaben
hinterherzukürzen, mit dem Erfolg, daß jede Kürzungsrunde die Notwendigkeit der nächsten schon in sich trug,
weil eben die Ursachen nicht ausgeräumt wurden. Man
stelle sich bitte einen Augenblick ein Automobilunternehmen vor, dem Monat für Monat weniger Räder zugeliefert werden und das diesem Problem nicht etwa
damit Herr zu werden versucht, sich neue Räder zu beschaffen, sondern damit, daß es Schritt für Schritt entsprechend den weniger zugelieferten Rädern die Automobilproduktion absenkt, bis dann irgendwann Schluß
ist.
Das wäre wohl auch nach Meinung der heutigen Opposition absurd. Aber genau diese Absurdität haben Sie
bei den Gesetzgebungen, die Sie zu verantworten haben,
praktiziert. Weil eine Politik nach diesem Muster in der
Tat absurd ist, wird die neue Koalition auch damit
Schluß machen. Unsere Botschaft lautet daher: Die
Flucht aus der Sozialversicherung wird gestoppt.
({19})
Wir beginnen damit bei der Beseitigung des Mißbrauchs
der geringfügigen Beschäftigung. Der entsprechende
Gesetzentwurf wird nächste Woche zur Beratung anstehen.
Nur ein kleiner Hinweis für die Kolleginnen und
Kollegen der CDU/CSU und F.D.P., weil Sie immer sagen, das sei ganz schlimm, der Untergang des Abendlandes stehe bevor: Die seit 50 Jahren bekanntlich
kommunistisch regierte Schweiz und das seit 50 Jahren
bekanntlich kommunistisch regierte Holland nehmen für
jede verdiente Mark Sozialbeiträge, und das freie
Deutschland läßt 6 Millionen geringfügig Beschäftigte
und über eine Million Scheinselbständige zu. Eine solche Politik, weiter praktiziert und verstetigt, muß die
Systeme zur Explosion bringen. Das haben Sie in Kauf
genommen. Wir tun das nicht, wir beenden diesen Unsinn; so einfach ist das. Auch hier ein Politikwechsel.
({20})
Die weiteren besonders für die Krankenversicherung
in diesem Zusammenhang relevanten Fragen, etwa die
unterschiedliche Behandlung der Beitragspflicht bei den
verschiedenen Einkommensarten, werden als Bestandteil
der Strukturreform beantwortet werden. Denn diese Koalition hat im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin begriffen,
daß ohne eine Lösung dieser Probleme die Sozialversicherung nicht zukunftsfähig gemacht werden kann.
({21})
CDU/CSU, vor allem aber die F.D.P. vertreten seit geraumer Zeit die Auffassung, unsere Sozialsysteme seien
nicht die Systeme für möglichst viele oder gar für alle,
sondern für einen definierbaren Kreis der darauf Angewiesenen.
Herr Kollege - Rudolf Dreßler
Mit Verlaub, meine Damen
und Herren, was sollte das denn sein? Eine Krankenversicherung nur für Bedürftige, für Alte und Kranke oder
eine Pflegeversicherung nur für Arme oder Pflegebedürftige? Vor allem aber: Wie sollte sich das jemals finanzieren? Wie soll es funktionieren, wenn die zu kurz
Gekommenen oder in Not Geratenen die Folgen ihrer
Not selbst finanzieren, präziser gesagt: untereinander
aufteilen müßten? Auch dies wäre doch völlig absurd.
Ich nehme an, Herr Lohmann, Sie haben eine Zwischenfrage. Bitte.
Ja.
Normalerweise wird das Wort von der Präsidentin erteilt.
Ich bitte um Nachsicht.
Wenn man anderswo nichts mehr zu sagen hat, ist das
vielleicht auch so möglich.
({0})
Herr Lohmann, ich hatte
mich bei der Präsidentin bereits entschuldigt. Ich weiß
nicht, ob Sie das zur Kenntnis genommen haben.
Sie können das mit beantworten. Sie haben gerade gesagt, die unterschiedliche Behandlung der verschiedenen
Einkunftsarten soll im weiteren Verlauf Ihre besondere
Aufmerksamkeit finden. Habe ich es richtig in Erinnerung, daß Sie in den Wahlkampfpapieren zunächst davon gesprochen haben, die Beitragsbemessungsgrenze
und möglicherweise auch die Versicherungspflichtgrenze fallen lassen oder zumindest nach oben setzen zu
wollen, und daß Sie dann von dem heutigen Minister
Müntefering mit einer weiteren Stellungnahme, daß an
dieser sogenannten Friedensgrenze nichts geändert wird,
zurückgepfiffen worden sind?
Herr Lohmann, ich bitte auch
in diesem Punkt vorab um Nachsicht, wenn ich sage: Sie
haben ein Problem.
({0})
Ihr Problem besteht darin, daß Sie die Zusammenhänge
der Sozialversicherungssystematik - Beitragsbemessungsgrenze, Sozialversicherungspflichtgrenze und Einkommen des Mitgliedes - schon seit längerer Zeit offensichtlich durcheinanderbringen. Es geht hier nicht um
die Beitragsbemessungsgrenze. Herr Lohmann, es geht
um etwas ganz anderes: Wenn ein Arbeitnehmer
4 000 DM im Monat verdient, dann ist er Mitglied in der
Krankenversicherung. Wenn er darüber hinaus noch
4 000 DM Mieteinnahmen oder Dividendenerträge hat,
dann muß man schon fragen, ob diese Einnahmen nicht
zusätzlich zu seinem Einkommen als Bemessungsgrundlage für die Krankenversicherung berücksichtigt werden müssen. Dieses Prinzip wird in anderen
hochindustrialisierten Ländern, die Sie pausenlos als
Musterländer anpreisen, schon lange praktiziert, nur im
freien Deutschland nicht, weil Sie sich 16 Jahre lang
nicht darum gekümmert haben. Diesen Sachverhalt
wollen wir überprüfen.
({1})
Anders ausgedrückt: Ich habe angekündigt, daß wir
uns diesen Themen widmen müssen - Herr Lohmann,
wenn Sie zugehört haben, wissen Sie das -, weil das
Mißverhältnis der Entwicklung der Produktionsfaktoren
Kapital und Arbeit die Politik in der Zukunft dazu
zwingt, diese Fragen zu beantworten und ihnen nicht
auszuweichen. Ihre Einschätzung, es handele sich um
ein Ausgabenproblem - deshalb haben Sie die Leistungen gekürzt -, war falsch. Nein, Herr Lohmann, es geht
bei unserem Sozialversicherungssystem empirisch belegbar um die von mir aufgezeigte Problematik der Einnahmeverluste. Zur Lösung dieses Problems gehört in
erster Linie, die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt wiederherzustellen, wie es Walter Riester heute morgen bereits
angekündigt hat.
({2})
Auch wir wissen, daß der sehr gut verdienende Angestellte die Folgen eines Skiunfalls ebenso privat bewältigen könnte. Aber, Herr Thomae, wir wollen ihn in der
Sozialversicherung halten, damit Herr und Frau Durchschnittsverdiener die Folgen ihres häuslichen Unfalls zu
für sie erschwinglichen Krankenversicherungsbeiträgen
abwickeln können. Das ist der entscheidende Unterschied: Wir brauchen den Gutverdienenden in der Sozialversicherung; eine Sozialversicherung, die nur Bedürftige und Kranke kennt, ist keine Sozialversicherung,
sondern bloße Caritas.
({3})
- Na also, wenn Sie in diesem Punkt zustimmen, dann
kommen wir vielleicht doch noch zueinander.
Wir brauchen den Gutverdienenden als Nettozahler,
als denjenigen, der durch seine Beitragszahlungen das
System für die weniger Starken zu finanziell erschwinglichen Bedingungen überhaupt tragbar macht. Wir wollen kein amerikanisches System, wir wollen kein privates System, in dem 30 Prozent der Bevölkerung nicht
versichert sind, weil sie die Beiträge nicht mehr bezahlen können.
({4})
Selbst die private Krankenversicherungswirtschaft hat
doch begriffen, daß sie nur auf der Basis einer breit angelegten und leistungsfähigen sozialen Krankenversicherung prosperieren kann. Die neue Mehrheit wird mit
der Strukturreform im nächsten Jahr dafür sorgen, daß
sie leistungsfähig bleibt.
Wir sind uns sicher: Ohne eine dauerhafte Orientierung der gesamten Krankenversicherungsausgaben an
dem Wachstum der Gesamteinnahmen wird die Stabilität des Systems nicht zu gewährleisten sein. Wir wollen
deshalb im Rahmen der Strukturreform ein Globalbudget einführen, das diese Orientierung sicherstellt. Zu
entscheiden, wie dieses Globalbudget ausgefüllt und
welcher Versorgungsbereich mit wieviel Finanzmitteln
ausgestattet werden soll, muß Aufgabe vertraglicher
Vereinbarungen unter den Betroffenen, also Aufgabe der
Selbstverwaltung, sein.
Herr Thomae, natürlich wissen auch wir, daß es elegantere Formen der Kostensteuerung als die jetzt durch
das Vorschaltgesetz wieder eingeführte sektorale Ausgabenbeschränkung gibt.
({5})
Wir wissen aber auch, daß nichts so schnell und so
durchgreifend wirkt wie eine strikte Ausgabenvorgabe
für Ärzte, Zahnärzte, Pharmaindustrie und Krankenhäuser, um die Beiträge stabil zu halten. Wir wissen vor allem: Die sektorale Ausgabenbegrenzung schafft ideale
Voraussetzungen dafür, daß sie im Rahmen einer
Strukturreform in ein Globalbudget übergeleitet werden
kann.
Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen: Mitte der
70er Jahre hat der damals für die Krankenversicherung
zuständige Bundesminister Walter Arendt in diesem
Hause darauf hingewiesen, daß die ständige Zunahme
der Zahl von zugelassenen Kassenärzten die gesetzliche Krankenversicherung alsbald - so sagte er - vor erhebliche Probleme stellen werde. Damals nahmen
36 000 Kassenärzte an der Versorgung teil. Heute sind
es deutlich über 110 000 - also fast dreimal soviel, trotz
sogenannter Bedarfsplanung und sogenannter Niederlassungssperre. Die Folgen für die finanzielle Leistungsfähigkeit der Krankenversicherung einerseits und für eine
angemessene Vergütung über die unterschiedlichen
Arztgruppen hinaus andererseits sind unübersehbar.
Ich sage Ihnen: Die Situation wird unhaltbar. Wenn
das Angebot die Nachfrage bestimmt, kann ein solches
Sozialversicherungssystem nicht funktionieren. Darum
muß hier politisch entscheidend etwas getan werden.
Im Gegensatz zur alten Bundesregierung ist die neue
Koalition entschlossen, das Problem einer vernünftigen
Steuerung der Angebotskapazitäten im Gesundheitswesen im Rahmen der Strukturreform aufzugreifen. Es
kann eben nicht so weitergehen wie bisher, und deshalb
werden wir dazu eine Lösung präsentieren. Diese Lösung wird sich auf alle Sektoren der Versorgung beziehen müssen, wenn sie Erfolg zeitigen will, also nicht nur
auf Ärzte und Zahnärzte, sondern auch auf die Krankenhäuser und die Zahl der pharmazeutischen Produkte.
Daß zu letzterem die Koalition bereits einen Vorschlag
präsentiert hat, wird niemanden bei der Opposition überraschen. Deshalb will ich hier festhalten: Wir wollen die
Arzneimittelpositivliste, die Liste verschreibungsfähiger Präparate, und wir werden sie in diesem Hause auch
durchsetzen, meine Damen und Herren.
({6})
An der Beachtung eines zweiten Grundsatzes führt
bei der vor uns liegenden Reform kein Weg vorbei.
Niemand sollte sich der Illusion hingeben, als sei das
Mengenproblem im Gesundheitswesen, also die Zahl der
Anbieter, für die Krankenkassenausgaben über ein Budget steuerbar. Weiter steigende Ärzte- und Zahnärztezahlen und die steigende Zahl von Betten in Krankenhäusern führen logischerweise zu weiter steigenden
Krankenkassenausgaben und damit auch Beiträgen auch bei einem Budget. Hier gilt es, die Binsenweisheit
zu beachten, die jede Köchin und jeder Koch kennt:
Einen überschäumenden Topf bekämpft man dadurch,
daß man die Flamme kleiner stellt, aber nicht dadurch,
daß man den darauf liegenden Deckel festerzurrt.
({7})
Die Probleme, die im Rahmen einer Strukturreform
im Gesundheitswesen gelöst werden müssen, sind
schwierig. Das wissen auch wir. Aber wir werden sie
anpacken. Diese Koalition wird ernst machen mit der
Strukturreform. Die Versicherten sollen wissen: Unser
Ziel ist die qualitativ einwandfreie und angemessene
Gesundheitsversorung für alle, ohne Blick auf die Dicke
der Brieftasche. Und die Interessengruppen des Gesundheitswesens müssen auch wissen: Das Ende der heiligen
Kühe ist gekommen.
Schönen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ruth Fuchs.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die neue Koalition, die ihre Vorstellungen in der Gesundheitspolitik in zwei Stufen verwirklichen will, legt heute als ersten Schritt einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung vor. Nicht nur vom Namen
her klingt das schon wesentlich besser als alles Bisherige. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß auch im Gesetzentwurf selbst der Wille zur Abkehr von einer auf
Deregulierung und Privatisierung des Gesundheitsrisikos gerichteten Politik und zur Wahrung eines solidarischen Gesundheitssystems zum Ausdruck kommt.
Wir gehen davon aus, daß die beabsichtigten Rücknahmen von Leistungskürzungen und Zuzahlungen das
Signal dafür sind, daß es künftig auch im Gesundheitswesen wieder sozial gerechter zugehen soll. Es ist auch
zu begrüßen, daß Dinge aufgehoben bzw. ausgesetzt
werden sollen, deren Sinnhaftigkeit bis heute niemandem ernsthaft zu vermitteln war. Ich denke beispielsweise an das Notopfer Krankenhaus oder an den unseligen
Automatismus zwischen Beitragssteigerungen einer
Krankenkasse und der Höhe der Zuzahlungen für ihre
Mitglieder.
Selbstverständlich ist es nur konsequent - um auch
das mit Erleichterung zu erwähnen -, wenn die systemfremden Elemente privater Versicherungen wie Kostenerstattung oder Beitragsrückgewähr zurückgenommen
werden. Sie hätten über kurz oder lang die finanzielle
Substanz des Solidarausgleichs empfindlich ausgehöhlt.
Ohne Frage sind die in der Koalitionsvereinbarung
genannten Bestandteile für die im zweiten Schritt vorgesehene Strukturreform im Gesundheitswesen wie bessere Zusammenarbeit von Hausärzten, Fachärzten und
Krankenhäusern, die Neuordnung der ambulanten und
stationären Vergütungssysteme sowie des Arzneimittelmarktes zweckmäßig und zielführend.
Wer allerdings die Kompliziertheit dieser Aufgabe
und die Stärke des neoliberalen Zeitgeistes kennt, der
weiß, daß auch die neue Regierung keineswegs vor gravierenden Fehlentscheidungen gefeit ist.
({0})
Ganz entscheidend wird deshalb sein, in welcher Weise,
mit welchen Einzelschritten und vor allem auch mit
welcher Konsequenz diese Vorhaben umgesetzt werden.
Meine Damen und Herren, uns fällt auch auf, daß
Maßnahmen zur finanziellen Stärkung der Solidargemeinschaft der Versicherten, die von den heutigen
Regierenden vor der Wahl ins Auge gefaßt wurden,
schon in den Koalitionsvereinbarungen nicht mehr auftauchen. Das betrifft zum Beispiel die Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung von ausgewählten und
exakt definierbaren versicherungsfremden Leistungen
wie dem Mutterschaftsgeld oder die Zurücknahme jener
Verschiebebahnhöfe, mit deren Hilfe die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung vor Jahren
auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung entlastet wurden. Politischen Willen vorausgesetzt, gäbe es
also durchaus Instrumente zur Gegenfinanzierung weitergehender Sofortmaßnahmen.
({1})
Dies verlangt allerdings - das scheint noch Ihr Problem zu sein - eine entsprechende Finanz- und Steuerpolitik. Es engt schon von vornherein die Spielräume
auch in der Gesundheitspolitik ein, daß die Koalition es
nicht gewagt hat, den wirklich Reichen in diesem Land
einen etwas größeren Beitrag zur Bewältigung von Gemeinschaftsaufgaben abzuverlangen.
({2})
Ich sage das auch deshalb, weil bei aller Richtigkeit
der im Vorschaltgesetz enthaltenen Maßnahmen festzuhalten ist, daß das Gros der Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen bei Medikamenten, Krankenhausaufenthalten und anderen medizinischen Leistungen bestehenbleibt. Mit anderen Worten: Der Sozialabbau der letzten
Jahre, den Sie natürlich nicht verursacht haben, wird in
seiner Massivität - ob man es wahrhaben will oder
nicht - noch nicht einmal annähernd zurückgenommen.
Bei allem Wissen um die unvermeidliche Begrenztheit
erster Maßnahmen ist festzustellen: Von dieser Koalition müssen mehr und mutigere Schritte erwartet werden.
({3})
Jetzt, liebe Frau Ministerin Fischer, werde ich Ihnen
eine Freude bereiten. Sie haben ja bereits in Ihrer Rede
vermutet, daß die PDS das sagen wird. Deshalb will ich
dies ganz deutlich wiederholen. Für die PDS bleibt es
dabei: Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen in einem
solidarischen Krankenversicherungssystem sind unsozial; sie sind sogar medizinisch kontraproduktiv und aus
unserer Sicht bei einem effektiven Ressourceneinsatz
völlig unnötig. Sie müssen vollständig zurückgenommen
werden.
({4})
Sofortmaßnahmen über die Unterstützung der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin hinaus verlangt unserer Auffassung nach der offene Skandal, daß ausgebildete und hochmotivierte junge Ärztinnen und Ärzte in
zunehmender Zahl generell keine Chance zur Facharztweiterbildung und damit zur selbständigen Ausübung ihres Berufes erhalten. Besonders dringlich sind
die Einrichtung und Finanzierung entsprechender Stellen
in den Krankenhäusern und natürlich auch im ambulanten Sektor. Hier steht auch der Bund in der Verantwortung, die notwendige Abhilfe zu schaffen.
({5})
Darüber hinaus müssen wir ebenfalls an die besondere Existenzlage der niedergelassenen Ärzte in Ostdeutschland erinnern. Angesichts der bestehenden Vergütungsunterschiede zwischen Ost und West und des
anhaltenden Honorarverfalls bei gleichen Betriebskosten
wird die Situation für viele Ärzte immer bedrohlicher.
Wir meinen, daß hier vor allem im Interesse der medizinischen Versorgung der Menschen in den neuen Bundesländern sofort etwas getan werden muß.
({6})
Alles in allem hat sich die Koalition in der Gesundheitspolitik viel Richtiges und Anspruchsvolles vorgenommen. Die Umsetzung wird nicht leicht sein. Denn
aus Erfahrung weiß man: Weder heftige Anfeindungen
noch gekonnte Versuche der Vereinnahmung durch bestimmte Lobbygruppen werden ausbleiben. Aus unserer
Sicht kann ich sagen - und das wird bis auf weiteres
gelten -: Läßt die Koalition ihren Absichten auch die
entsprechenden Taten folgen, wird sie von seiten der
PDS eine konstruktiv-kritische Begleitung erfahren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang
Zöller, CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin,
zunächst etwas Positives: Wir halten es für sinnvoll, daß
im Gesundheitsministerium nun auch die Pflegeversicherung mit bearbeitet wird.
Aber gestatten Sie mir auch eine kurze Anmerkung
zur Arbeitsweise der neuen Mehrheit. Dazu, daß am
Montag früh rund 120 Seiten und drei Stunden später 64
Austauschseiten ins Büro geschickt wurden, und dann
gestern früh der Gesetzentwurf vorlag, muß ich doch sagen: Ich glaube, man sollte bei einem so diffizilen Thema wie der Gesundheit doch etwas sorgfältiger vorgehen
und unser System nicht zum Spielball unseriöser Wahlversprechungen werden lassen.
({0})
Auf den ersten Blick scheint sich die Gesundheitspolitik der neuen Regierung in der Rücknahme der Seehoferschen Reformansätze zu erschöpfen. Bei näherer
Betrachtung zeichnet sich jedoch - wie auch Sie, Herr
Kollege Dreßler, gesagt haben - nicht nur ein Politikwechsel, sondern auch ein Systemwechsel ganz deutlich
ab.
In einem stimmen wir mit Ihnen überein: Wenn man
die richtigen Schritte machen will, muß man eine saubere Analyse betreiben. Wir stimmen auch darin mit Ihnen
überein, daß die letzten Reformen nicht etwa deswegen
notwendig waren, weil die Qualität unseres Gesundheitswesens nicht gestimmt hätte. Vielmehr waren sie
notwendig, weil wir ein Finanzierungsproblem haben.
Wir sind uns auch mit den Sachverständigen einig, daß
dieses Finanzierungsproblem kein Ausgabeproblem,
sondern ein Einnahmeproblem war.
Es ist schon sehr seltsam, wie Sie nun mit weniger
Einnahmen die Mehrausgaben in den Griff bekommen
wollen; denn wir werden Mehrausgaben haben - allein
wenn ich den medizinischen Fortschritt sehe, allein
wenn ich die höhere Lebenserwartung sehe.
Deshalb noch einmal: Ihr Geheimnis wird es sein,
wie man mit weniger mehr bezahlen will.
({1})
In dem vorliegenden Entwurf wird dokumentiert, daß
die von Ihnen gemachten Wahlversprechungen so einfach nicht zu halten sind, weil sie nicht finanzierbar
sind. Sie haben noch großmundig versprochen: Sobald
wir an der Regierung sind, werden wir die Erhöhung der
Zuzahlung von 5 DM rückgängig machen. Im Krankenhausbereich haben Sie sie belassen.
({2})
Im Kur- und Reha-Bereich haben Sie sie belassen. Im
Arzneimittelbereich haben Sie die Zuzahlung in einem
Fall zum Beispiel von 9 auf 8 DM reduziert.
In dem Punkt appelliere ich auch an Sie, Herr Dreßler. Wir haben diese Spreizung damals beschlossen, weil
wir eine Mengenbegrenzung vornehmen wollten; wir
wollten den hohen Arzneimittelverbrauch etwas eingrenzen. Wenn man jetzt aber die Spreizung verringert
und die Zuzahlungen auf 8 DM, 9 DM und 10 DM festlegt, wie wollen Sie es dann jemandem erklären, wenn
er für eine Mark mehr die doppelte Menge bekommt?
Ich habe die Befürchtung, daß wir eine Mengenausweitung in diesem Bereich bekommen werden.
({3})
Eines, sehr geehrte Frau Ministerin, möchte ich
gleich richtigstellen. Sie haben hier etwas Unwahres gesagt. Sie haben den Kollegen Lohmann dafür kritisiert,
daß er hier die Meinung verbreitet habe, Sie würden den
Leistungserbringern etwas wegnehmen. Sie verneinen
das und sagen, Sie würden den Leistungsempfängern
zusätzlich zum Beispiel noch den Zuwachs zur Grundlohnsumme geben.
Sie sollten Ihren Text einmal genau lesen: Sie schreiben auf Seite 65 als Basis das Budget von 1996 vor. Sie
müssen einmal erklären, wie ein Budget von 1996 im
Jahre 1999 mehr sein soll. Mit Zahlen müssen Sie bei
mir vorsichtig sein.
({4})
Im übrigen sage ich klipp und klar: Ich halte sozialverträgliche Zuzahlungen für wesentlich gerechter als
Ausgrenzungen und Rationierungen teurer Operationen.
Diese werden bei der Budgetierung unweigerlich kommen.
({5})
Der uns vorgelegte Gesetzentwurf beeinflußt den
Krankenhausbereich in drei Punkten: erstens hinsichtlich
Notopfer, zweitens hinsichtlich Budgetierung und drittens durch Ihre Zielvorgabe der monistischen Finanzierung.
Statt die Ursache des Notopfers, nämlich daß die
Länder die Instandhaltungskosten der Krankenhäuser
nicht mehr bezahlen wollen, zu beseitigen, streichen Sie
ersatzlos die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung um knapp 1 Milliarde DM. Es wäre doch viel
sinnvoller gewesen, die übrigen Länder auf das positive
Beispiel des Landes Bayern zu verweisen, das nach wie
vor die Instandhaltungskosten der Krankenhäuser bezahlt. Deshalb brauchen die Bürger in Bayern dieses
blödsinnige Notopfer auch nicht zu erbringen.
({6})
Dieses Notopfer war doch auch nur deswegen notwendig, weil sich die übrigen Länder aus ihrer Verantwortung gestohlen haben.
({7})
Der zweite Punkt: Mit der Budgetierung im Krankenhausbereich bestrafen Sie all die Krankenhäuser, die
in den letzten Jahren wirtschaftlich gearbeitet haben.
({8})
Sie bestrafen auch die Krankenhäuser, die es auf Grund
ihrer guten Qualität der Leistung zu Fallzahlsteigerungen gebracht haben.
Ich befürchte, daß wir erleben werden, daß Ende
nächsten Jahres wieder Operationen verschoben werden
mit der Begründung: Die Budgetgrenze ist erreicht.
({9})
Dabei war ich der festen Überzeugung, daß wir diese
unsinnige Diskussion in diesem Hause nicht mehr hätten
führen müssen. Dann aber wird es heißen: Privatpatienten ja, gesetzlich Krankenversicherte nein.
({10})
Ich sage Ihnen klipp und klar: Eine starre Budgetierung
führt unweigerlich zur Zweiklassenmedizin.
({11})
Herr Kollege Dreßler, eines hat mich nachdenklich
gestimmt. Sie sind doch auch für eine Gleichbehandlung
derer, die Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung sind. Was aber haben Sie gemacht? Unsere Regelung hatte vorgesehen, daß sich jeder Versicherte auch
als Privatpatient behandeln lassen kann und daß die gesetzlichen Krankenversicherungen den Betrag abrechnen, der in der Satzung festgeschrieben ist. Dieses Privileg lassen Sie jetzt nur noch für diejenigen gelten, die
mehr als 6 300 DM monatlich verdienen. Es ist schon
seltsam, daß sich ausgerechnet die SPD
({12})
als erstes auf ihre Fahnen schreibt: Für Leute mit 6 300
DM und mehr machen wir eine Sonderregelung in der
gesetzlichen Krankenversicherung.
({13})
Das ist zumindest für mich sehr zweifelhaft.
({14})
- Entschuldigung, das steht in Ihrem Gesetzentwurf. Wir
haben diese Möglichkeit allen gegeben; das ist der gravierende Unterschied. Gleiche Rechte für alle.
({15})
Sie aber privilegieren die Besserverdienenden.
Der letzte Punkt: Wer jetzt im Krankenhausbereich
die monistische Finanzierung fordert, daß also die
Kassen nicht nur den Betrieb, sondern auch die Kosten
der Einrichtungen bezahlen müssen, muß einfach zur
Kenntnis nehmen, daß dadurch die Einsparmaßnahmen
zur Stabilisierung des Beitragssatzes ad absurdum geführt werden,
({16})
daß dies unweigerlich zu höheren Beitragssätzen führt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in Ihrem sogenannten Vorschaltgesetz wird wieder einmal deutlich,
welch unterschiedliche Systeme sich gegenüberstehen.
Sie wollen mehr Staat und somit automatisch mehr Bürokratie. Wir setzen auf Selbstverwaltung und Eigenverantwortlichkeit. Sie wollen vorschreiben, zu welchem
Arzt man gehen muß. Eventuell wollen Sie demnächst
noch vorschreiben, wie oft man zum Arzt gehen darf.
Sie wollen vielleicht auch noch vorschreiben, was der
Arzt verordnen darf.
({17})
- Das steht alles drin. Lesen Sie sich das einmal durch!
In diesen anderthalb Tagen, die ich zur Verfügung hatte,
habe ich das sehr genau gelesen. Das ist der Weg in die
Staatsmedizin und gefährdet unser hochleistungsfähiges
Gesundheitssystem, das wir bis heute haben. Diese Budgetierung wird zudem wirtschaftlich sinnvolle Wachstumseffekte im Dienstleistungsbereich Gesundheitswesen drastisch einschränken.
Wer will, daß wir unsere Qualität der medizinischen
Versorgung sichern, daß die Finanzierbarkeit ohne weitere Beitragssatzanhebungen gewährleistet und niemand
wegen seiner finanziellen Situation von medizinisch
notwendigen Leistungen ausgeschlossen wird, der muß
den Mut haben, sich zu mehr Eigenverantwortlichkeit zu
bekennen.
({18})
Dies ist wesentlich schwieriger, als unseren Bürgern
mehr und immer mehr zu versprechen. Vor allen Dingen
aber ist dies ehrlicher.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche
uns allen Gesundheit und mehr Mut zur Ehrlichkeit.
({19})
Als
nächste Rednerin spricht Frau Gudrun Schaich-Walch
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Zöller, diesen
Mut zur Ehrlichkeit hätten Sie vielleicht in der letzten
Legislaturperiode, als Sie noch an der Regierung waren,
zeigen sollen. Dann wäre uns manches erspart geblieben.
({0})
Der zweite Punkt: Wenn Sie sich fürchten, Herr Zöller, macht mich das ganz unruhig. Deshalb will ich etwas zur Finanzierung sagen.
Wir werden die Einbeziehung der geringfügig Beschäftigten haben; wir werden die Aussetzung des Demographiefaktors in der Rentenversicherung haben
und damit Mehreinnahmen bekommen.
({1})
Hinzu kommen Mehreinnahmen für die gesetzliche
Krankenversicherung durch die Wiedereinführung der
Lohnfortzahlung.
({2})
Ich nenne noch etwas, was Sie vorhin bedauert haben: Es gibt natürlich die Absenkung der Festbeträge
im Arzneimittelbereich, und auch dadurch ergeben sich
Mehreinnahmen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung.
({3})
- Die machen dieses Gesetz nicht. Sie werden hinterher
mit uns darüber reden.
Sie, Herr Zöller, haben gesagt, daß das alles so
furchtbar schnell gekommen sei. Sie wußten das; das
alles stand in unserem Wahlprogramm, und es stand in
unseren Gesetzentwürfen der letzten Legislaturperiode.
Also haben wir nichts eingeführt, was unbillig, neu oder
unverständlich für Sie wäre.
({4})
Mir scheint auch, daß die Haltung der Opposition
ganz stark von der Sorge um die Einkünfte im Gesundheitsbereich geprägt ist.
({5})
Ich möchte Ihnen sagen: Die Krankenversicherung ist
erst einmal dazu da, daß die Kranken ordentlich versorgt
werden, und dann erst ist sie dazu da, daß diejenigen, die
an diesem System teilhaben, ihr entsprechend gerechtes
Einkommen erhalten.
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Zöller?
Ja.
Frau Kollegin
Schaich-Walch, Sie haben gerade gesagt, Sie erhofften
sich Mehreinnahmen zum Beispiel durch die Wiedereinführung der Lohnfortzahlung. Das ist auch in den Erläuterungen zu dem Gesetzentwurf so vorgesehen. Aber
Sie haben dabei etwas vergessen: Möchten Sie das bitte
zur Kenntnis nehmen
({0})
- ich stelle eine Frage; das ist schon richtig -, daß mit
der Wiedereinführung der Lohnfortzahlung natürlich eine erhebliche Mehrbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung durch höhere Krankengeldforderungen
entsteht? Das wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht erwähnt.
Erstens einmal muß
auch schon jetzt Krankengeld gezahlt werden. Zweitens
möchte ich dazu sagen, daß wir davon ausgehen, daß die
Mehreinnahmen zur Erhöhung der Krankengeldleistungen ausreichen, zumal wir ja sehen konnten, daß die
Zahlen der Krankschreibungen allgemein und auch der
langfristigen Krankschreibungen in der letzten Zeit
glücklicherweise sehr stark rückläufig gewesen sind.
({0})
Wir werden ja sehen, wie weit wir kommen.
Ich denke, es sollte eigentlich möglich sein, daß wir
uns in diesem Hause darauf verständigen, daß der kranke Mensch und die für ihn notwendige Hilfe im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik zu stehen haben und daß
danach erst das Einkommen der Ärzteschaft und der
Pharmaindustrie Berücksichtigung finden kann.
({1})
Wir sind im Wahlkampf mit Versprechungen vorsichtig gewesen. Im Gegensatz zu Ihnen sind wir bereit,
unsere gemachten Versprechungen auch einzulösen, und
wir tun es sehr schnell. Wir tun es deshalb sehr schnell,
weil wir verhindern wollen, daß die ungerechten gesetzlichen Maßnahmen, die Sie in der letzten Legislaturperiode beschlossen haben, die aber clevererweise erst nach
der Wahl in Kraft treten sollten, die Menschen zusätzlich belasten. Wir verteilen in diesem Land nicht beliebig Wohltaten an diejenigen, die sie gar nicht brauchen,
wie Sie immer suggerieren wollen, sondern wir sorgen
letztendlich nur dafür, daß Ungerechtigkeiten, die Sie
verursacht haben und für die Sie die Quittung des Wählers bekommen haben, beseitigt werden.
({2})
Wir machen aus der Krankenversicherung wieder das,
was sie sein sollte, nämlich Hilfe im Krankheitsfall und das solidarisch finanziert.
({3})
Herr Lohmann, Sie haben auf die sechs Jahre erfolgreiche Gesundheitspolitik von Herrn Seehofer verwiesen,
({4})
die von vielen gebrochenen Versprechungen, was die
Zuzahlungen betrifft, gekennzeichnet ist.
({5})
Die Belastung der Patientinnen und Patienten hat sich in
diesen letzten sechs Jahren verdreifacht. 1998 erreichte
sie ein Finanzvolumen von 20 Milliarden DM. Allein für
Arzneimittel zahlen Versicherte heute das Fünffache an
Zuzahlungen gegenüber den Jahren 1991 und 1992. Bei
jedem sechsten Arzneimittel zahlen die Versicherten den
vollen Apothekenpreis. Was ist das denn anderes als eine ausgegrenzte Leistung?, frage ich Sie hier.
({6})
Wir sind jetzt an dem Punkt, daß wir feststellen müssen, daß ein Rentnerehepaar, das 2 400 DM netto hat
und chronisch krank wird, nach den jetzigen Regelungen
etwa einen Zuzahlungsbeitrag von einer gesamten
Monatsrente zu leisten hat. Dazu sagen wir: Das ist sozial ungerecht; das ist ausschließlich eine Bestrafung
von kranken und alten Menschen.
Wir werden das deshalb ändern. Wir streichen für die
chronisch Kranken, die ein Jahr lang die Grenze der
Zuzahlungen überschritten haben, die Zuzahlungen im
zweiten Jahr vollständig. Das Krankenhausnotopfer wird
wegfallen. Die von Ihnen geplante Dynamisierung der
Zuzahlungen, die kommen sollte, wird wegfallen, ebenso wie die Zuzahlung in Höhe von 10 DM bei jedem
Arzt für psychisch Kranke.
Das sind, Frau Fischer, im ersten Ansatz zwar nur 2
Milliarden DM. Aber wenn wir das weiter seriös finanzieren wollen, dann brauchen wir erst den nächsten
Schritt, nämlich den der Strukturreform, bevor wir weitere Zuzahlungen abbauen können. Denn im Gegensatz
zur Opposition sind wir der Überzeugung, daß es in diesem System durchaus Wirtschaftlichkeitsreserven gibt.
({7})
Jetzt möchte ich noch einmal zu dem Bereich des
Zahnersatzes kommen. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich:
Was die Zahnärzte zur Zeit machen, ist Jammern auf
hohem Niveau.
({8})
- Sie beklagen einen Umsatzrückgang. Aber warum?
Weil Sie ein Gesetz geschaffen haben, bei dem man zum
Teil Privatpatient werden konnte.
({9})
Ich kann es Ihnen ganz ehrlich sagen: Wenn ich mit
meinem Zahnersatz bis zum nächsten Jahr gewartet hätte, statt es dieses Jahr machen zu lassen, hätte ich 600
DM gespart. Das wird auch bei anderen so sein.
Hinzu kommt: Die Verunsicherung wird beendet. Die
Krankenkasse wird sich wieder genau anschauen, was
abgerechnet wird, nach Qualität und nach Wirtschaftlichkeit. Und auch Jugendliche werden ihren Anspruch
auf Zahnersatz behalten.
({10})
Sie sagen, uns laufen die Kosten weg. Aber gleichzeitig sind Sie ganz empört darüber, daß wir eine Ausgabenkontrolle einführen. Wir werden diese Ausgabenkontrolle brauchen, um für das nächste Jahr vernünftig planen zu können.
Es ist ja auch nicht so, daß etwas gestrichen wird. Die
werden alle nicht des Hungers sterben, sie erfahren alle
noch Zuwachs aus ihren verschiedensten sektoralen
Budgets. Das Krankenhaus kommt dabei, Herr Zöller,
noch relativ gut weg. Sie wissen ganz genau, daß die in
1998 einen Zuwachs von 5 Prozent verzeichneten. Das
bleibt ihnen erhalten; auf diesem Budget wird aufgesetzt.
({11})
- Er hat das Krankenhaus aber bedauert.
Ein weiterer, ganz wichtiger Punkt, glaube ich, ist,
daß wir die bisherige Begrenzung aus dem Risikostrukturausgleich zwischen Ost und West aufheben. Ich bin
der festen Überzeugung, daß das ein guter Beitrag dazu
ist, die Sozialmauer ein Stück einzureißen, und daß wir
auf einem guten Weg zu einheitlichen Lebensbedingungen für uns alle in dieser Bundesrepublik Deutschland
sind.
({12})
Echte Strukturveränderungen in der Leistungserbringung, die wir im nächsten Jahr angehen werden, die das
Ziel der Qualitätsverbesserung und der Wirtschaftlichkeit haben, sind allerdings - das muß klar sein - mit Besitzstandswahrung nicht zu haben. Integrative neue Versorgungskonzepte, die für mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit sorgen, haben Umverteilungen zur Folge.
Das Geld wird der Leistung folgen müssen.
Wenn wir diese Strukturschritte angegangen sind,
sind natürlich noch nicht alle Probleme der gesetzlichen
Krankenversicherung gelöst. Das Einnahmeproblem
muß angegangen werden.
Letztendlich ist - so sehe ich das - Gesundheitspolitik mehr als GKV-Politik. Es gilt, sich um den gesundheitlichen Verbraucherschutz zu kümmern, Patientenrechte zu stärken, berufsrechtliche Fragen der Heilberufe, die Verbesserung der ärztlichen Ausbildung, den Reha-Bereich, Drogenpolitik und nicht zuletzt die sozialrechtsstaatliche Entwicklung Europas in Angriff zu
nehmen. Wir hoffen auf kooperative Partnerschaft, und
wir hoffen, daß sich die, die im Gesundheitswesen tätig
sind, auch als Anwälte der Patientinnen und Patienten
verstehen und nicht nur als Sachwalter ihrer eigenen Interessen.
Auf dieser Basis sind wir jederzeit und immer zu einem offenen Dialog bereit, der durchaus auch die Interessenslagen derer, die im Gesundheitswesen arbeiten
und dort verdienen, berücksichtigen wird.
({13})
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulf Fink von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die Regierungskoalition
legt heute einen ersten Gesetzentwurf im Gesundheitsbereich vor. Es ist anerkanntermaßen nicht die große
Gesundheitsreform, sondern es ist ein Vorschaltgesetz.
Warum diese große Eile?
({0})
Die Regierungskoalition begründet diese große Eile damit, daß die Grundlage der gesetzlichen Krankenversicherung, die Solidarität, auf das schwerste gefährdet sei.
Ich erinnere mich, daß SPD und Grüne, als wir die Zuzahlungen für Arzneimittel und dergleichen erhöht haben, dieses in der Tat als zutiefst unsozial bezeichnet
haben. Sie haben gesagt: ein Anschlag auf die Grundfesten unseres Gesundheitswesens.
Deswegen habe ich in dieses Vorschaltgesetz geschaut, um festzustellen, was verändert worden ist. Was
muß ich feststellen? Die Zuzahlungen sind bei den großen Arzneimitteln um 3 DM, bei den mittleren Arzneimitteln um 2 DM und bei den kleinen Arzneimitteln um
genau 1 DM vermindert worden. Die Zuzahlung im
Krankenhausbereich ist gar nicht vermindert worden.
Auch die Zuzahlung im Kurmittelbereich ist nicht vermindert worden. Die Zuzahlungen für Heilmittel sind
ebenfalls nicht vermindert worden. Ich habe auch nichts
davon gelesen, daß Sie die Veränderung beim Krankengeld rückgängig machen wollen.
({1})
Es kann sein, daß Sie eine andere Einschätzung des
Solidaritätsprinzips haben. Sie sagen vielleicht: Das
Solidaritätsprinzip war doch nicht so stark beeinträchtigt. Vor den Wahlen konnte man bei Ihnen aber etwas
ganz anderes lesen.
({2})
Da haben Sie plakatiert: „Wir machen nicht alles anders,
aber vieles besser.“ Jetzt muß es, glaube ich, heißen:
Wir machen nicht alles besser und vieles auch überhaupt
nicht anders.
({3})
Eine wichtige Zielsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfes ist nach Ihren eigenen Aussagen, daß die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung stabil
bleiben sollen. Diese Zielsetzung ist absolut richtig.
Auch wir sind der Meinung, daß steigende Beitragssätze
Gift für Arbeitsplätze wären. Die Frage ist aber: Erreichen Sie dieses Ziel mit Ihrem Gesetzentwurf? Haben
Sie für die Mehrausgaben und die Mindereinnahmen
eine echte, seriöse Gegenfinanzierung?
Wir müssen feststellen, daß nach Ihrer eigenen finanziellen Begründung im nächsten Jahr fast 2 Milliarden DM an Mindereinnahmen und Mehrausgaben entstehen werden. Gegenfinanziert wird im wesentlichen
nur durch die Versicherungspflicht für geringfügige Beschäftigung. Diese Gegenfinanzierung geben Sie in Ihrem eigenen Gesetzentwurf zur gesetzlichen Krankenversicherung mit 1,3 Milliarden DM bis 1,4 Milliarden DM an.
({4})
Dazu kann ich nur sagen: Sie wissen ja noch nicht
einmal, wie Sie diesen Gesetzentwurf für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ausgestalten wollen.
Das geht zwischen Kanzler und Arbeitsminister offenbar
noch hin und her: ob Pauschbesteuerung oder nicht, ob
Rente oder nicht, ob Krankenversicherung oder nicht. In
diesem Gesetzentwurf aber schreiben Sie: Diese Versicherungspflicht für geringfügige Beschäftigung bringt
1,3 Milliarden DM mehr. - Das ist eine Luftnummer
sondergleichen.
Ich finde, Heinz Schmitz hat das im „Handelsblatt“
vom 9. November sehr gut beschrieben:
Sieht man genauer hin, so fordern Bundeskanzler
Gerhard Schröder ({5}) und seine Minister nach
Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer nun eine
noch größere Autorität der Deutschen heraus:
Adam Riese, den Altmeister des Rechnungswesens.
({6})
In der Tat: Höhere Sozialleistungen und niedrigere Beiträge gleichzeitig zu beschließen - das geht auch bei einer rotgrünen Regierung nicht auf.
({7})
Thema Krankenhausnotopfer. Es ist erfreulich,
wenn die Versicherten nichts mehr bezahlen müssen.
Die Frage ist aber: Wer bezahlt denn nun die Instandhaltungen im Krankenhaus? Wer bezahlt notwendige
Reparaturen im Operationssaal? Wer bezahlt die Instandhaltung des Fahrstuhls? - In Art. 5 Abs. 3 Satz 6
Ihres Gesetzentwurfes steht die Antwort. Niemand bezahlt mehr, überhaupt niemand. Das heißt, die Instandhaltungskosten sollen ab 1999 nicht mehr pflegesatzfähig sein. Wer bezahlt dann für die Instandhaltungen, für
die Reparaturen?
Eine wirkliche Leistung wäre es gewesen, wenn es
Ihnen im Unterschied zur alten Regierungskoalition gelungen wäre, die eigentlich Verantwortlichen, nämlich
die Länder, zur Zahlung dieser Kosten zu veranlassen.
({8})
Bayern zahlt ja. Aber die anderen Länder zahlen nicht.
Manche hatten sogar die Hoffnung, daß Ihnen mit einer
rotgrünen Mehrheit im Bundestag und einer rotgrünen
Mehrheit im Bundesrat das möglich würde, was uns
nicht möglich war.
Was müssen wir aber nun sehen? Sie versuchen nicht
einmal, die Länder, wie es sich gehört, zur Finanzierung
dieser Kosten heranzuziehen. Das läßt nun in der Tat
wenig Gutes für die angekündigte große Gesundheitsreform erahnen. Wenn Sie sich selbst in einer so eindeutigen Frage nicht an die Länder heranwagen, wie wollen
Sie denn dann die Schlüsselfrage des Gesundheitswesens lösen, nämlich die Kostenentwicklung im Krankenhausbereich?
Es ist doch dieser Bereich, der kostenmäßig aus dem
Ruder gelaufen ist. Es sind nicht, wie Sie immer wieder
vorgeben, die Kosten für die Ärzte. Denn die hatten früher einen Anteil von 20 Prozent an den Krankenkassenausgaben, jetzt nur noch von 18 Prozent. Der von Ihnen
so viel geschmähte Arzneimittelbereich nahm früher 15
bis 17 Prozent der Krankenkassenausgaben in Anspruch,
jetzt nur noch etwas über 13 Prozent. Nein, es ist der
Krankenhausbereich mit über 34 Prozent der gesamten
Krankenkassenausgaben, der weit überproportional gewachsen ist. Ich nenne Ihnen einmal die Vergleichszahlen. Anteil des Krankenhausbereichs an den Krankenkassenausgaben 1960: 17,5 Prozent, Anteil des Krankenhausbereichs an den Krankenkassenausgaben 1970:
25 Prozent, jetzt - ich wiederhole es - über 34 Prozent.
Das A und O jeder Gesundheitsreform ist, daß auch der
Krankenhausbereich seinen Beitrag zur Kostendämpfung leistet.
An den sektoralen Budgets kann man genau sehen,
mit wem Sie es gut und mit wem Sie es weniger gut
meinen. Im Krankenhausbereich sind Sie mit dem Budget relativ großzügig. Mit dem ärztlichen Bereich meinen Sie es schon sehr viel weniger gut. Mit den Zahnärzten meinen Sie es gar nicht gut. Bei den Arzneimitteln schlagen Sie einmal so richtig zu.
Ob Sie, Frau Fischer, sehr glaubwürdig sein werden,
will ich bezweifeln. Denn in Ihrem Gesetzentwurf steht,
was mit denen geschieht, die sich nicht an die Budgetierung gehalten haben. Was steht nämlich in Art. 14 Ihres
Gesetzentwurfes? Da steht, daß bei all denjenigen, die
die Budgets überzogen haben, also denjenigen, die sich
eben nicht an die Budgets gehalten haben, keine Sanktionen erfolgen. Sie haben eine Generalamnestie in das
Gesetz geschrieben. Wie sollen sich die Leute daran
halten, wenn diejenigen, die sich am schlechtesten verhalten haben, am ehesten in den Genuß einer Amnestie
kommen?
({9})
Frau Fischer, Sie haben am Donnerstag vergangener
Woche vor Journalisten erklärt, Sie wollten die Akteure
in der Gesundheitspolitik für einen gemeinwohlorientierten Reformprozeß gewinnen. Sie haben weiter gesagt, das Gesundheitssystem sei auf einen fairen Interessenausgleich angewiesen. Ja, Frau Fischer, was Sie sagen, ist richtig. Genau so sollte man es machen. Aber
was die Regierungskoalition hier vorgelegt hat, atmet
einen ganz anderen Geist.
Frau Ministerin, wenn Sie Erfolg haben wollen, den
wir Ihnen im Interesse unseres Gesundheitswesens wünschen, dann müssen Sie sehr aufpassen, daß sich in der
Regierungskoalition nicht die Kräfte durchsetzen, die
eine uralte Politik verfolgen. Sie müssen sehr aufpassen,
daß die alten Ressentiments aus der sozialdemokratischen Mottenkiste nicht fröhliche Urständ feiern. Noch
haben Sie Zeit dazu.
({10})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/24 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse, jedoch nicht an den
Haushaltsausschuß, vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Themenbereich Familie, Senioren,
Frauen und Jugend.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Kollegin Hannelore Rönsch von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Gestern hatten wir die
Gelegenheit, zwei Stunden lang dem Bundeskanzler bei
seiner Regierungserklärung zuzuhören.
({0})
Natürlich haben diejenigen, die für Familien-, Senioren-,
Frauen- und Jugendpolitik zuständig sind, mit besonderem Interesse gehört, welchen Stellenwert dieses Ministerium für den neuen Bundeskanzler hat: Zwei Stunden
Beliebigkeit und zwei Stunden wenig zu diesem Thema.
({1})
Frau Ministerin Bergmann, ich wünsche Ihnen für die
nächsten vier Jahre sehr viel Kraft und vor allem Durchsetzungsvermögen. Sie werden uns an Ihrer Seite haben,
wenn es gilt, für den Personenkreis zu kämpfen, für den
Sie verantwortlich sind. Sie werden uns auch immer
dann an Ihrer Seite haben, wenn es darum geht, die Interessen Ihres Ministeriums gegenüber denen zu vertreten, die die Arbeit, die dort geleistet wird, mit „Gedöns“
abtun. Fragen Sie uns, wir werden Ihnen helfen.
({2})
Es ist heute schon mehrfach gesagt worden, daß in
den unterschiedlichen Ministerien ein gut bestelltes
Haus übergeben wird.
({3})
Ich möchte das auch für das Ministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend ausdrücklich wiederholen.
Denn man merkt, daß hier die Abrißbirne herausgeholt
werden soll und daß Leistungen, die in den vergangenen
Jahren und Jahrzehnten unserer Bevölkerung zugute gekommen sind, auf einmal gar nicht mehr erwähnt werden. Da so vieles vergessen wird, will ich Ihnen sagen,
was dieses Ministerium für die Generationen, die nun
Ihnen anvertraut sind, in den vergangenen 16 Jahren
geleistet hat - oft gegen den Widerstand der SPD,
manchmal auch auf der Grundlage von Gesetzentwürfen
der SPD, die sie zwar immer in der Schublade hatte,
aber nie selbst verwirklichen konnte.
({4})
Ich nenne als erstes Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub. Wer sich noch ein bißchen erinnern kann,
wird doch wohl noch wissen, daß die Umsetzung von
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub auch immer ein
Wunsch von Ihnen gewesen ist. Sie hatten dafür nur nie
eine Mark in der Tasche. Ich werde an anderen Stellen
noch darauf zurückkommen.
Ich nenne die Anerkennung der Kindererziehungsund der Pflegezeiten in der Rente, eine Leistung, die
ganz besonders den Frauen zugute gekommen ist.
({5})
Ich nenne die Freistellung von der Berufstätigkeit bei
Krankheit der Kinder, die Verbesserung der Bedingungen für Teilzeitarbeit, den Rechtsanspruch auf einen
Kindergartenplatz, den wir gemeinsam erkämpft haben es hat lange genug gedauert - und die Wiedereinführung
des Kinderfreibetrages sowie die sukzessive Erhöhung
des Kindergeldes.
Gestern wurde uns angekündigt - es wurde in der
Regierungserklärung wirklich nur über Monetäres gesprochen -: Das Kindergeld wird erhöht, so wie es vor
der Wahl versprochen wurde. Wir freuen uns mit Ihnen
für die Familien. Auch hier werden wir an Ihrer Seite
stehen und dafür kämpfen. Denn wir mußten in diesem
Hause schon einmal erleben, daß eine Familienministerin - das war das letzte Mal, als Sie regiert haben nämlich Anke Fuchs, eine Kindergelderhöhung angekündigt hat, die dann auch tatsächlich unmittelbar vor
der Wahl umgesetzt wurde. Aber bereits ein Jahr später
mußte Frau Fuchs die Wahlversprechen wieder einkassieren.
({6})
Die Familien haben das Nachsehen gehabt. Wir werden
Ihnen, Frau Ministerin, zur Seite stehen, aber Ihnen auch
sehr auf die Finger schauen, damit die Familien nicht
wieder betrogen werden.
({7})
Die Familien werden zumindest dann betrogen, wenn
ich mir Ihre Vorschläge zur Ökosteuerreform betrachte.
Es ist unglaublich, daß die Familien durch eine Kindergelderhöhung mehr Geld in die eine Tasche bekommen, was ihnen durch die Ökosteuerreform wieder aus
der anderen Tasche gezogen wird.
({8})
Es ist vollkommen egal, welchen Bereich Sie betrachten,
ob Strom oder Gas: Es sind immer die Familien, die es
betrifft.
({9})
Nehmen Sie zum Beispiel das Benzin. Mit Sicherheit
wird der Schulbus für die Familie teurer werden. Die
Bäckereien als die energieintensivsten Betriebe werden
sich auch ihre Gedanken machen und die Energieverteuerung auf die Preise für das Brot umlegen. Das soll
den Familien an gar keiner Stelle wehtun? Sie haben
doch hoffentlich auch einmal die Berechnungen angestellt, über die man momentan in allen großen Tageszeitungen nachlesen kann, bevor Sie an solche Reformvorhaben herangehen; denn hier wird Ihnen ja von den
Wirtschaftswissenschaftlern vorgerechnet, daß die Kindergelderhöhung durch die Ökosteuer aufgezehrt wird.
({10})
Dazu müssen Sie sich - das muß ich Ihnen sagen schon einmal vorher Ihre Gedanken machen.
Im Bildungsbereich haben wir Programme zur Heranführung von Mädchen und Frauen an moderne Technologien und weit angelegte Initiativen wie „Frauen in
Männerberufen“ aufgelegt. Wir haben Art. 3 des Grundgesetzes geändert und die staatliche Verpflichtung festgeschrieben, „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ zu fördern und
Benachteiligungen zu beseitigen.
({11})
- Ja, aber selbstverständlich; in allen Lebensbereichen
haben wir es umgesetzt.
({12})
Ich habe vier Jahre ein Ministerium geleitet, und dieses Ministerium für Familie und Senioren war das Ministerium, das gerade im höheren Dienst den höchsten
Frauenanteil hatte. Nun sind Sie gefragt. Liebe Kolleginnen aus der SPD-Fraktion, ich hätte mir schon gewünscht, daß Sie Ihrem Kanzler wenigstens etwas mehr
über Frauenpolitik in sein Redemanuskript geschrieben
hätten;
({13})
davon stand an keiner Stelle etwas.
({14})
Für uns heißt Familienpolitik auch, daß wir die Familien mit Preisstabilität in die Lage versetzen, für ihr
Geld tatsächlich etwas zu bekommen. Im Moment haben
wir eine Inflationsrate von 0,7 Prozent. Die Familien
behalten das in der Tasche, was sie tatsächlich erarbeiten. Auch in diesem Punkt werden wir darauf achten,
daß das in Zukunft so bleibt.
Frau Kollegin, einige Punkte liegen mir auch noch
sehr am Herzen. Bisher habe ich Äußerungen von Ihnen
Hannelore Rönsch ({15})
dazu immer nur in Presseinterviews gelesen. Deshalb
will ich doch noch einige Anmerkungen zum Stellenwert der Familien machen. Es mag nämlich sein persönlich habe ich Sie dazu noch nicht gehört -, daß
Sie verkehrt zitiert worden sind. Ich will Ihnen unsere
Positionen zum Stellenwert der Familie in der Gesellschaft einmal deutlich darstellen. Für uns bleiben die
Familien die wichtigste Einheit in unserer Gesellschaft;
denn sie vermitteln die Werte und die Verhaltensweisen,
ohne die eine freie und solidarische Gesellschaft nicht
möglich ist.
({16})
Dazu haben wir über 16 Jahre die Grundlagen geschaffen, und dazu haben wir über 16 Jahre gestanden.
({17})
Jetzt gibt es aber offensichtlich Auflösungserscheinungen - auch bei Ihnen in der SPD. Wenn Sie sich einmal
die Statistiken anschauen, dann sehen Sie, daß immer
noch 80 Prozent der jungen Männer und Frauen in einer
Familie leben, heiraten und Kinder haben wollen.
({18})
Für uns gilt es, die Familie weiterhin auch ideell zu
stärken. Wir stimmen Ihrer Definition im Koalitionsvertrag „Familie ist, wo Kinder sind“ nicht zu.
({19})
Für uns ist Familie grundsätzlich: Mann, Frau, Kinder.
({20})
Alle anderen Lebensformen sind Ausnahmeerscheinungen, die wir schützen und tolerieren.
({21})
- Warum sind Sie so aufgeregt? Können Sie diese Positionen nicht mehr ertragen?
({22})
Wir werden die nächsten vier Jahre sehr ausführlich
darüber diskutieren. Von uns können Sie Toleranz gegenüber anderen Lebensformen erwarten. Ich erwarte
aber auch von Ihnen Toleranz.
({23})
- Zwischenfragen von der PDS werde ich mit Sicherheit
nicht zulassen.
({24})
- An dieser Stelle verstehe ich Ihre Aufregung nicht.
({25})
Es mag sein, daß Ihnen das Wort ,,Toleranz“ fremd ist.
Sie werden erleben: Wir werden Toleranz in der Opposition, also in der Rolle, die wir jetzt haben, immer wieder einfordern.
Ein Weiteres, sehr verehrte Frau Ministerin, das mir
in Ihren Interviews aufgefallen ist: Sie haben sich fast
ausschließlich auf die berufstätige Frau konzentriert. Ich
erwarte von Ihnen Respekt auch vor anderen Lebensentwürfen. Wenn sich Frauen in der alten Bundesrepublik dazu entschieden haben, ihre Arbeitsleistung in der
Familie zu erbringen und Kinder zu erziehen, dann hat
das auch Ihren Respekt und Ihre Anerkennung verdient.
({26})
Ich bitte Sie, in der Zukunft mit Ihren Aussagen hierzu
ein wenig vorsichtiger zu sein.
Ich will noch ganz kurz zum seniorenpolitischen Teil
kommen. Ich habe mir Ihre Koalitionsvereinbarung angeschaut. Es scheint hier wenig Widersprüche zu unserer Politik zu geben, und darüber bin ich ausgesprochen
froh. Denn ich denke, gerade unsere ältere Generation
hat es nicht verdient, in die Mühlen der Politik zu geraten. Ich empfehle Ihnen - dieser Rat muß gestattet sein -,
daß Sie den Bundesaltenplan weiter ausbauen. Ich habe
1993 die Institution der Seniorenbüros ins Leben gerufen, und wir haben mittlerweile 114 in der Bundesrepublik Deutschland. Gerade in der letzten Woche hat
eine große Veranstaltung stattgefunden, an der auch ich
teilgenommen habe. Die älteren Menschen nutzen die
114 Seniorenbüros; sie treffen sich dort und bringen ihre
Fähigkeiten ein. Ich bitte Sie, den Bundesaltenplan fortzuschreiben und die Seniorenbüros zu unterstützen. Bisher waren im Haushalt 30 Millionen DM veranschlagt.
Ich denke, daß Sie hierfür noch ein Stück mehr einfordern müssen.
({27})
Gerade 1999 - es ist das Internationale Jahr der Senioren - bietet die beste Gelegenheit, die Solidarität
zwischen den Generationen verstärkt einzufordern:
Denn auch durch die von Ihnen mitverursachte Diskussion um die Rentenversicherung ist ein Stück dieser Solidarität von jungen zu alten Menschen verlorengegangen. Hier ist es Ihre Aufgabe, zur Versöhnung beizutragen.
Für Ihre Arbeit wünsche ich Ihnen Kraft und die
Standfestigkeit, sich der Männerwelt - das hat sich gestern in der Regierungserklärung sehr deutlich gezeigt zu widersetzen,
({28})
so daß wir das Wort „Gedöns“ für die Arbeit, die Sie
leisten, nie mehr hören.
({29})
Als
nächste Rednerin hat die Bundesministerin Christine
Bergmann das Wort.
Hannelore Rönsch ({0})
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau
Rönsch, zunächst einmal herzlichen Dank für Ihre
freundlichen Wünsche. Ich weiß sie durchaus zu schätzen, auch wenn ich nicht allen Ihren Empfehlungen folgen werde. Auch dafür haben Sie sicher Verständnis.
({0})
Sie können ziemlich sicher sein, daß ich mich in der
Männerwelt ganz gut durchsetzen kann. Das habe ich
schon zeitig gelernt. Ich bin mit drei Brüdern groß geworden. Das hat mir im späteren Leben immer sehr geholfen,
({1})
egal von welcher Seite der Widerstand kam. Ich werde
das eine oder andere zu diesem Thema noch sagen.
Zu Ihrer Behauptung vom gut bestellten Haus komme
ich noch, wenn ich auf die einzelnen Themen eingehe.
Ich sehe leider, daß einiges neu zu beackern und zu bestellen ist, damit es im Interesse von Familien, von
Frauen, von Jugend und Senioren in diesem Lande ein
Stück weitergeht. Frau Rönsch, Sie haben sicherlich
nicht immer genau hingehört: Der Kanzler hat einige
Dinge zur Frauenpolitik sehr detailliert angesprochen.
Darüber können wir noch reden.
Wenn wir über Familien-, Frauen-, Jugend- und Seniorenpolitik sprechen, müssen wir uns auch darüber im
klaren sein, daß wir dann vor allen Dingen auch über das
Thema Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sprechen.
({2})
Genau das haben wir heute sehr ausgiebig getan. - Sie
nicken. Das ist so. Arbeitslosigkeit ist häufig die Ursache sozialer Probleme in den Familien. Arbeitslosigkeit
ist die Ursache der Armut von Alleinerziehenden, und
Ausbildungsplatzmangel ist die Ursache der Perspektivlosigkeit von Jugendlichen. Wir haben dieses Thema auf
den obersten Platz unserer Liste gesetzt, weil wir viele
gesellschaftspolitische Probleme mit lösen können,
wenn es uns gelingt, kräftig anzupacken.
Unsere Vorstellung von mehr Menschlichkeit und
sozialer Gerechtigkeit meint eine Gesellschaft, in der
die Familien mit Kindern gut aufgehoben sind, in der die
Gleichstellung von Mann und Frau nicht nur auf dem
Papier steht und rechtlich fixiert ist, sondern auch wirklich gelebt wird. Sie beinhaltet ein Land, das seiner Jugend eine Zukunft gibt und den älteren Menschen einen
Platz in seiner Mitte einräumt. Wir reden nicht nur darüber - das ist der Unterschied -, sondern wir tun dafür
auch etwas.
({3})
Einiges haben wir schon auf den Tisch gelegt.
Ich beginne mit dem Thema Familienpolitik. Sie
können doch nicht über das hinwegsehen, was wir im
Moment zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation
der Familien tun. Sie haben das mit Recht angemahnt.
Wir haben gesagt: Wir werden das Kindergeld ab 1999
auf 250 DM erhöhen. - Wenn ich an das denke, was Sie
sich an Verbesserungen der Familien- und Frauenpolitik
der letzten Jahre auf Ihre Kappe geschrieben haben,
dann fällt mir beim Kindergeld ein, daß Erhöhungen
häufig durch die Opposition gegen Ihren Widerstand erzwungen worden sind.
({4})
2002 werden wir das Kindergeld auf 260 DM erhöhen.
Wir werden Familien steuerlich beträchtlich entlasten. Für eine durchschnittlich verdienende Familie mit
zwei Kindern soll schrittweise eine steuerliche Entlastung von 2 700 DM erreicht werden. Dies ist, denke
ich, ganz wirksam, auch wenn wir uns alle immer noch
mehr vorstellen.
({5})
Zum Teil haben Sie hierzu schon eine Vorlage auf dem
Tisch.
Frau Rönsch, Sie haben auch das Erziehungsgeld
und den Erziehungsurlaub angesprochen. Wir haben
vereinbart, daß wir beim Erziehungsgeld schrittweise die
Einkommensgrenzen anheben wollen. Das steht schon
lange an; darüber haben wir schon mehrfach geredet.
({6})
- Ja, gerne.
Frau
Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber sicher.
Frau
Ministerin, die Genehmigung für eine Zwischenfrage
gibt immer nur der Präsident. Deshalb habe ich noch
einen Augenblick gezögert.
({0})
- Ich habe das nur zum Einstieg gesagt, und es war auch
überhaupt nicht böse gemeint. Würden Sie nicht immer
so verkniffen reagieren, hätten Sie das vielleicht auch
zur Kenntnis genommen.
({1})
- Es ist ja nun wirklich schlimm: Sie haben immer noch
die Oppositionsstimmung drauf. Gewöhnen Sie sich
doch einmal ans Regieren, und seien Sie entspannter!
({2})
Frau Ministerin, ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie
sich jetzt auch an die sozialdemokratischen Bundesländer wenden, damit diese endlich ebenso wie die von der
CDU und der CSU regierten Bundesländer ein eigenes
Erziehungsgeld finanzieren.
({3})
In Bayern, Sachsen und Baden-Württemberg wird ein
eigenes Landeserziehungsgeld gezahlt. In RheinlandPfalz gab es das einmal, eingeführt durch die CDU. Es
ist dann aber durch die von der SPD geführte Regierung
abgeschafft worden. Sehen Sie Möglichkeiten, auf die
von der SPD regierten Bundesländer Einfluß zu nehmen,
damit es auch dort zur Entlastung der Eltern ein Landeserziehungsgeld gibt?
({4})
Ja, ich kann die
lange Frage in der Tat knapp beantworten: Das werde
ich nicht tun. Sie haben mich ja gerade dafür gescholten,
daß für mich die Erwerbsarbeit für Frauen so im Vordergrund steht. Ich werde nichts unterstützen, das Frauen noch länger vom Arbeitsmarkt fernhält, weil ich
weiß, welche Konsequenzen das hat.
({0})
War das klar genug?
({1})
Wir waren bei der Anhebung der Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld. Dies halte ich nun wirklich
für sehr wichtig. Sie wissen, daß hier seit zwölf Jahren
nichts passiert ist. Wir werden schrittweise wieder dafür
sorgen, daß die Mehrzahl der Familien ein Erziehungsgeld bekommt.
({2})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen.
Wir haben auch ganz klar gesagt - auch das spielt in
der Debatte ja eine Rolle -, daß wir den Splittingvorteil
der Ehepaare kappen wollen. Es ist durchaus zu vertreten, daß man bei den höheren Einkommen zugunsten der
Familien mit Kindern umverteilt. Das ist nämlich aus
meiner Sicht Familienpolitik, und das ist auch nicht verkniffen.
({3})
Weil Sie es ebenfalls ansprachen, sage auch ich klar,
welches unser Familienbegriff - es ist auch der meinige ist. Wir definieren Familie weiter, als Sie es tun. Das
wird der Realität einfach mehr gerecht. Familie wird
heute in vielfältiger Form gelebt. Damit respektieren
wir, daß Alleinerziehende oder auf Dauer angelegte
nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern Familien sind.
({4})
Sie haben die Alleinerziehenden ausgeschlossen; das hat
mir weh getan. Das sind für uns Familien.
({5})
Damit gehen wir durchaus nicht gegen den Art. 6 des
Grundgesetzes vor. Wir wollen auch in gar keiner Weise
- ich lebe selber seit 35 Jahren in einer Ehe, die mir viel
gibt - gegen eheliche Lebensgemeinschaften vorgehen.
Wir tragen nur der Realität Rechnung. Es ist einfach so,
daß viele Menschen in diesem Land anders zusammenleben.
Für uns zählen - ich sage Ihnen das, weil Sie immer
so sehr auf den Wertbegriff abstellen - Fürsorge füreinander und Verantwortung zwischen den Generationen.
Diese Werte wollen wir politisch unterstützen, und diese
Werte werden eben auch in unterschiedlichen Familienformen gelebt. Das ist die Realität; sie müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. Aber mit der Realität haben
Sie sich ja schon manchmal schwergetan.
({6})
Wenn wir über Erziehungsurlaub reden, müssen wir
natürlich auch darüber reden, wie wir ihn weiterentwikkeln wollen. Wir wollen diesen Erziehungsurlaub zu
einem Elternurlaub umwandeln, damit wirklich eine
partnerschaftliche Erziehung in dieser Gesellschaft
möglich wird. Wir wollen ein Konto, von dem beide
Elternteile, Vater und Mutter, Erziehungszeiten abrufen
können, und einen Anspruch auf Teilzeitarbeit einführen, damit beide Elternteile Kindererziehung und Berufsarbeit miteinander vereinbaren können. Damit wird
auch die Sorge darüber, wie man auf den Arbeitsmarkt
zurückkommt, geringer. Wir wollen die Wahlfreiheit
fördern. Eine partnerschaftliche Teilhabe an Familie und
Beruf von Müttern und Vätern ist ein vernünftiges Modell. Dazu werden wir demnächst einen Gesetzesentwurf
vorlegen. Vielleicht können wir dem auch gemeinsam
zustimmen.
({7})
Wir wollen auch eine Arbeitswelt, die familien- und
frauenfreundlicher ist. Dafür werden wir sorgen. Ich lade alle Tarifpolitiker ein, das Ihre dazu zu tun.
Frau
Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?
Ja. Ich halte mich
jetzt an die Form. Bitte.
({0})
Hannelore Rönsch ({1})
Frau Ministerin, vor
dem Hintergrund Ihrer Aussage, daß ein Landeserziehungsgeld für das dritte Jahr nicht notwendig ist, frage
ich Sie, ob Sie dann auch konsequenterweise einen
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem
zweiten Lebensjahr einführen und den Erziehungsurlaub
von drei auf zwei Jahre kürzen wollen.
Ich will den Erziehungsurlaub nicht kürzen. Das ist ganz klar. Zu dem
Thema Kinderbetreuung kommen wir noch. Wir haben
nicht zuviel, sondern zuwenig Kinderbetreuungseinrichtungen.
({0})
Wir brauchen vor allen Dingen Kinderbetreuungseinrichtungen auch für Kinder unter drei Jahren und für
Schulkinder, wenn wir wollen, daß Frauen und Männer
Kindererziehung mit Erwerbsarbeit verbinden können
und dieses auch gesellschaftlich akzeptiert wird. In den
neuen Bundesländern gibt es noch eine bedarfsgerechte
Versorgung, die Standard für ganz Deutschland werden
sollte. Das wird nicht ganz einfach sein, aber ich hoffe
auf Unterstützung in diesem Hause und von vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir haben über das Thema
Erziehungsurlaub geredet. Ich möchte noch einmal auf
einen für mich wichtigen Schwerpunkt eingehen; Frau
Rönsch, Sie haben das angesprochen; auch das ist gesellschaftliche Realität. Wir zwingen nicht Frauen, die
sich lieber um Erziehungsarbeit kümmern wollen, in die
Erwerbsarbeit hinein; aber wir gehen davon aus, daß
Frauen und Männer das gleiche Recht auf Erwerbsarbeit
haben, und wollen, daß sie dieses Recht in dieser Gesellschaft auch wahrnehmen können.
({2})
Dazu gehört zum einen der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen; das setzt den gleichberechtigten
Zugang zum Arbeitsmarkt und auch eine gesellschaftliche Akzeptanz des Anspruchs von Frauen auf Erwerbsarbeit voraus. Hier sehe ich bei uns in Deutschland
einen großen Nachholbedarf, gerade auch im Vergleich
zu unseren Nachbarländern.
Ich wurde eben aufgefordert, mich in der Männerwelt
gut durchzusetzen. In diesem Zusammenhang will ich
einmal sagen, was mir bei der gestrigen Debatte sehr
unangenehm aufgefallen ist: Offensichtlich ist die Akzeptanz von kompetenten Frauen auch hier nicht allseits
verbreitet. Es gab gestern ein paar Hiebe auf Christa
Müller, bei denen ich mich fragte, was das eigentlich
soll.
({3})
Das war nicht nur ein schlechter Stil, sondern schon fast
frauenfeindlich.
({4})
- Ja, das ist so. - Wenn sich kompetente Frauen zu harten Themen wie zum Beispiel zur Geldpolitik äußern,
finde ich das sehr gut. Von mir aus könnte es ruhig noch
mehr kompetente Frauen in diesen Bereichen geben.
Das gilt auch für Frauen von Bundesministern.
({5})
Denen können wir kein Rede- oder Berufsverbot erteilen. Herr Glos, der sich ja in dieser Weise geäußert hat,
({6})
hat, wie ich glaube, auch bei den Frauen seiner eigenen
Fraktion nicht viel Zustimmung bekommen.
({7})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal auf das Thema „gut bestelltes Haus“ und darauf zurückkommen, wie es mit der Gleichberechtigung der
Geschlechter aussieht. Sie wissen, daß wir - das hat
auch der Kanzler gestern sehr deutlich ausgeführt - ein
Aktionsprogramm „Frau und Beruf“ starten wollen. Dazu gehört ein ordentliches Gleichstellungsgesetz, das
diesen Namen auch verdient, ein effektives Gleichstellungsgesetz, das auch für den Bereich der Privatwirtschaft Anwendung findet. Dazu gehören arbeitsrechtliche Regelungen, wie Benachteiligungsverbote und die
verbesserte Absicherung der Teilzeitarbeit. Dazu gehört
auch die bevorzugte Vergabe öffentlicher Aufträge an
solche Unternehmen, die Frauen fördern. Das soll ein
Anreiz zur beruflichen Gleichstellung sein. Dazu gehört
auch, daß Frauen grundsätzlich die Hälfte der Ausbildungsplätze in den zukunftsträchtigen Berufen bekommen. Wir wissen, dafür ist einiges zu tun. Man kann
zum Beispiel Anreizsysteme schaffen. Auf diesem Akker ist durchaus noch einiges zu bestellen. Wir wollen
Frauen gezielt unterstützen, die in die Selbständigkeit
gehen. Auch die Förderung von Frauen in Lehre und
Forschung muß vorangebracht werden. Aber das ist bei
der Wissenschaftsministerin mit Sicherheit in guten
Händen.
({8})
Wir werden auch die Verschlechterungen im Arbeitsförderungsgesetz wieder rückgängig machen. Wir wußten
immer, was eigentlich passiert, hatten aber leider nicht
die Mehrheiten, um das zu verhindern.
Meine Damen und Herren, auch das Thema „Gewalt
gegen Frauen“ ist ein Schwerpunkt unserer Regierungspolitik. Ich denke, daß wir da gemeinsam handeln können. Dieses Thema muß stärker in das öffentliche Bewußtsein rücken. Wir müssen neue Initiativen entwikkeln, die Gewalt vorbeugen, die Frauen mehr Schutz
und Hilfe gewähren, wie zum Beispiel die vereinfachte
Zuweisung der Ehewohnung in den Fällen, in denen
Gewalt ausgeübt wird.
({9})
Dazu gehört natürlich auch die Bekämpfung des
Frauenhandels. Hier können wir in der Kontinuität der
Arbeit bleiben. Es ist schon eine ganze Menge passiert.
Im Bereich der nationalen Arbeit und der internationalen
Zusammenarbeit muß aber mehr erfolgen.
Beim Thema „Gewalt“ müssen wir natürlich auch auf
das Thema „Jugendpolitik“ zu sprechen kommen. Leider
ist das so. Ein Schwerpunktthema dieser Legislaturperiode wird die Stärkung der Kinderrechte, der Schutz
von Kindern vor Gewalt, Mißbrauch und sexueller Ausbeutung sein. Auch hier können wir an vieles anknüpfen, was schon gelaufen ist. Aber es müssen auch neue
Punkte hinzukommen; denn die Stärkung von Kinderrechten und der Schutz vor Gewalt fängt schon bei der
Erziehung an. Es ist unbestreitbar, daß zwischen der erlebten Gewalt von Kindern und Jugendlichen und der
Ausübung von Gewalt ein enger Zusammenhang besteht. Deswegen ist es für uns logisch und richtig, daß
wir das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung
auch gesetzlich verankern. Hierfür bitte ich ebenfalls um
Unterstützung.
({10})
Sie alle wissen genau, daß wir damit nicht Eltern
kriminalisieren wollen, sondern daß es einfach darum
geht, ein gesellschaftliches Leitbild zu formulieren, das
der Gewalt von vornherein keine Chance gibt. Kinder
dürfen gar nicht lernen, daß Gewalt ein Mittel der Konfliktbewältigung ist, sondern müssen andere Formen der
Erziehung erleben.
({11})
Das war im übrigen auch eine Empfehlung des leider
nur sehr einseitig diskutierten Zehnten Kinder- und
Jugendberichtes der Sachverständigen. Ich kündige
hier an, daß ich mich mit den Sachverständigen noch
einmal zusammensetzen werde. Wir werden darüber
diskutieren, wie wir Kinderrecht stärken, wie wir Kinderarmut in der Gesellschaft besser bekämpfen können.
Das ist kein Thema, das man sozusagen in einem Vierteljahr erledigen kann. Ich bitte, weil ich davon ausgehe,
daß es unser aller Anliegen ist, auch hier um Ihre Mitarbeit.
({12})
Wenn wir über die gesellschaftliche Integration von
jungen Menschen reden, muß sich unser Blick auch auf
die jungen Aussiedlerinnen und Aussiedler und auf die
bei uns lebenden ausländischen Jugendlichen richten.
Wir müssen auch diesen jungen Menschen eine berufliche Perspektive schaffen, damit sie eine Zukunft in unserem Lande haben.
({13})
Meine Damen und Herren, die Seniorenpolitik ist hier
schon angesprochen worden. Ich denke, hier werden wir
die wenigsten Konflikte miteinander haben, obwohl
auch hier noch viel zu bestellen ist. Politik für ältere
Menschen muß wieder in den Vordergrund kommen,
aber nicht nur verbal.
Es geht wirklich darum, die Mitspracherechte und
Mitbeteiligung älterer Menschen, die schon jetzt viele
wichtige Aufgaben übernehmen, im Rahmen der Integration in die Gesellschaft zu stärken. Wir müssen den
Menschen, die immer früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden und nur schwer wieder hineinfinden, wenn sie
zum Beispiel mit 55 arbeitslos geworden sind, eine neue
Perspektive in der Gesellschaft geben, zumal die Gesellschaft ihre Mitarbeit dringend braucht. In diesem Bereich werden wir einiges auf den Weg bringen.
Wir müssen im Bereich der rechtlichen Regelungen
eine ganze Menge tun. Es liegt viel auf dem Tisch: das
Heimgesetz, die Heimmindestbauverordnung, das Thema ambulante Dienste, das Thema Altenpflegeausbildung. Wie Sie wissen, ist die Diskussion zum Thema
Altenpflegeausbildung - in diesem Zusammenhang
muß man deutlich sagen: jedes Land hat eine eigene Regelung; wir müssen aber eine bundeseinheitliche Regelung erreichen - in den letzten Jahren immer wieder daran gescheitert, daß sich die Bundesregierung von der
Bayerischen Staatsregierung, die eine bundeseinheitliche
Ausbildung nicht wollte, bremsen ließ.
({14})
Es ist richtig, in diesem Bereich ein Gesamtpaket zu
schnüren und ein ordentliches Strukturgesetz zu entwerfen, in dem all diese angesprochenen Novellierungen
enthalten sind und in dem eine Leitlinie für eine moderne, zukunftsorientierte Altenpolitik festgeschrieben
wird.
Frau
Ministerin, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Ja, ich komme zum
Schluß.
Die zentralen Leitlinien unserer Politik sind die Bekämpfung von Armut, die Durchsetzung der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern, die Ächtung und Bekämpfung jeder Form von Gewalt und sozialer Ausgrenzung. Ich bitte Sie dabei um Ihre UnterBundesministerin Dr. Christine Bergmann
stützung. Viele Menschen im Lande warten darauf, daß
auf diesem Feld endlich wieder Politik stattfindet.
Ich danke Ihnen.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ina Lenke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ganz zu Anfang möchte ich bemerken: Mir
ist aufgefallen, daß Kanzler Schröder kein sehr großes
Interesse an diesem Bereich der Politik hat.
({0})
Auch das Kabinett ist nur sehr schwach vertreten.
({1})
Herr Hombach, es freut mich, daß wenigstens Sie anwesend sind. Vielleicht können Sie unsere Interessen gegenüber dem Kanzler vertreten und ihm mitteilen, was
wir gesagt haben, denn er hat sicherlich keine Zeit, das
Protokoll zu lesen.
Liberale Frauen haben im Bundestag stets für die
Verbesserung der Lebensverhältnisse von Familien,
Frauen, Jugendlichen und Senioren gestritten. Ich nenne
nur einige Erfolge liberaler Politik in der letzten Legislaturperiode: die Änderung des § 218, Verbesserungen
im Kindschaftsrecht, Verbesserungen beim Familienlastenausgleich,
({2})
die strafrechtliche Verfolgung der Vergewaltigung in
der Ehe. Dafür steht unsere Abgeordnete Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger in ganz besonderer Weise.
({3})
Die letzte Legislaturperiode, in der ich leider noch
nicht Mitglied des Bundestages war, hat eine Entlastung
für Familien von 16 Milliarden DM erbracht. Daher
müssen Sie von der Regierungsbank nicht so sehr weinen. Wir haben etwas für die Familien getan.
({4})
Für eine erfolgreiche Frauen- und Familienpolitik
brauchen wir in der Bundesrepublik Grundvoraussetzungen. Die Grundvoraussetzungen sind die, für die die
F.D.P. im Bundestagswahlkampf gekämpft hat: Wir
brauchen erstens eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik,
die Arbeits- und Ausbildungsplätze schafft.
Wir brauchen zweitens eine wirklich große Steuerreform und kein Reförmchen.
({5})
Die zögerliche Senkung des Eingangssteuersatzes bei
der Lohn- und Einkommensteuer durch die Regierung
schafft für die Familien keine wesentliche Entlastung.
Ich möchte auf die Steuerklasse V eingehen, die mich
schon immer aufgeregt hat. Hinzuverdienende Frauen in
Familien werden sich bei Ihnen bedanken, daß sie mit
der Steuerklasse V weiterhin weniger im Portemonnaie
haben. Unsere Steuerreform hätte das Problem mit gelöst.
({6})
Wir brauchen drittens nicht Ihre, sondern eine andere
Reform der sozialen Sicherungssysteme. Es kann doch
wirklich nicht sein, daß eine Seniorin über ihre Zahlung
der Ökosteuer nun zum zweitenmal in die Rentenkasse
einzahlt. Das wollen wir nicht.
({7})
Ich komme zu einem Punkt, der Sie sicher wieder
aufregen wird, aber das freut mich. Es geht um die 620DM-Arbeitsverhältnisse. Die F.D.P. will nicht, daß sie
abgeschafft werden.
({8})
Im Bundestagswahlkampf haben viele von Ihnen bei den
Bürgern und Bürgerinnen den Eindruck erweckt, hier sei
ein ordentlicher Rentenanspruch zu realisieren: Ein Jahr
monatlich 620 DM gleich 6 DM Altersrente im Monat
ist wirklich viel zuwenig. Das Ergebnis Ihres Handelns
wird auch sein, daß diese Arbeitsplätze - auch das sind
Arbeitsplätze - verschwinden werden.
({9})
Meine Damen und Herren, ich will mich recht kurz
fassen, denn ich habe nur noch zwei Minuten.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die von Ihnen angesprochene Scheinselbständigkeit von Frauen. Sie stellen
Prüfkriterien auf, an denen Sie Scheinselbständigkeit
messen wollen. Existenzgründerinnen werden hiervon
besonders betroffen sein.
({10})
Die Frauen beginnen ihre Selbständigkeit im kleinen
Rahmen als Unternehmerinnen ohne zusätzliches Personal, vielleicht mit einem Kunden, vielleicht für einen
Auftraggeber und mit geringem Startkapital. Wenn Sie
jetzt auch noch mit den Belastungen aus dem Sozialversicherungsbereich kommen, dann, denke ich, werden
viele Frauen wieder abspringen und das gar nicht machen.
Dann ganz kurz zu Ihrem Versprechen: 100 000 Arbeits- und Ausbildungsplätze. Der Ministerpräsident
Schröder hat in Niedersachsen eine miserable Unterrichtsversorgung hinterlassen.
({11})
Das heißt, wir brauchen erst eine gute Schulausbildung,
erst dann können Sie mit diesem Programm erfolgreich
sein.
({12})
Meine Damen und Herren, ich komme zu dem Aktionsprogramm „Frau und Beruf“. Knackpunkte sind
hier für mich das Gleichstellungsgesetz mit verbindlichen Regelungen für die private Wirtschaft, die gesetzliche Quotierung der Ausbildungsplätze - das verstehe ich
überhaupt nicht - 50:50, die Bindung der öffentlichen
Auftragsvergabe an frauenfördernde Maßnahmen.
({13})
Ich war im Niedersächsischen Landtag. Frau Dückert,
wir beide haben festgestellt, daß es nicht geht. Nun
wollen wir mal sehen, ob es im Bundestag geht. Ich habe da keine Hoffnung, und das freut mich. Ich sage Ihnen: Nicht mit meiner Stimme und auch nicht mit den
Stimmen unserer Fraktion werden Sie diese wirtschaftsfeindlichen Dinge durchbringen.
({14})
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Fraktion wird
sich im Bereich Frauen, Familie, Senioren und Jugend
besonders engagieren: Verbesserungen der Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, eigenständige Alterssicherung
für Frauen, Förderung der Familie, aber auch Abbau der
Diskriminierung nichtehelicher Lebensgemeinschaften.
Die rechtliche Gleichstellung von schwulen und lesbischen Lebensgemeinschaften wollen wir ebenfalls. Ich
will mich einsetzen für die soziale Absicherung von
Prostituierten und endlich - endlich! - für die Einführung von RU 486. Ich hoffe, zumindest da sind wir uns
einig.
Recht herzlichen Dank.
({15})
Das war
die Jungfernrede von Frau Lenke. Vielen Dank.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Irmingard
Schewe-Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Darauf haben die Frauen der Republik lange warten
müssen: auf den Paradigmenwechsel in der Frauenpolitik. Schluß mit Politikersatz durch Modellprojekte und
Broschüren! Schluß mit der Heim und Herdpolitik, mit
der Ehefrau als Zuverdienerin! Statt dessen heißen die
Stichworte materielle Unabhängigkeit, gleichberechtigter Zugang zur Erwerbsarbeit und gerechte Verteilung
der Familienarbeit zwischen Männern und Frauen.
({0})
Es waren die Frauen, die die Regierung Kohl abgewählt haben. Sie gaben der rotgrünen Regierung einen
Vertrauensvorschuß, und sie erwarten von uns nun zu
Recht einen Politikwechsel.
({1})
„Ein neuer Aufbruch in der Frauenpolitik“ - so ist ein
Kapitel im Koalitionsvertrag überschrieben. Das ist für
uns keine Leerformel: Zum ersten mal in der Geschichte
dieser Republik wird es ein Gleichberechtigungsgesetz
nicht nur für den öffentlichen Dienst, sondern auch für
die Privatwirtschaft geben, ein Gesetz, das Frauen den
gleichen Zugang zur Erwerbsarbeit sichert und Mädchen
die Hälfte der Ausbildungsplätze garantiert. Endlich
wird Ernst gemacht, Frau Rönsch, mit der Umsetzung
der Grundgesetzänderung von 1994, wonach der Staat
verpflichtet ist, die Nachteile zu beseitigen.
Keine konservative Mehrheit wird mehr blockieren,
daß per Gesetz für Unternehmen Anreize zur Frauenförderung geschaffen werden, indem die Vergabe der öffentlichen Aufträge an frauenfördernde Maßnahmen gebunden wird. Keine konservative Mehrheit wird mehr
verhindern, daß Frauen und Männer endlich einen
Rechtsanspruch auf Arbeitszeitreduzierung während des
Erziehungsurlaubs erhalten. ABM und Weiterbildung
werden mit der Erziehung von Kindern vereinbar sein,
und von der alten Bundesregierung eingeführte frauendiskriminierende Regelungen, zum Beispiel betreffend
Pendelzeiten von zweieinhalb Stunden bei einer Arbeitszeit von vier Stunden, werden zurückgenommen.
({2})
Für Ihren Vorschlag, Frau Bergmann, Kinderbetreuungskosten für erwerbstätige Eltern wieder steuerlich
absetzbar zu machen - also Babysitter- statt Dienstmädchenprivileg -, finden Sie bei den Bündnisgrünen offene
Türen.
Da ich gerade beim Loben bin - eigentlich mache ich
das gar nicht so oft -, schließe ich den Kanzler einfach
einmal mit ein. Seine gestrige Ankündigung, ein Schulund Betreuungssystem zu schaffen, das die Lebenswirklichkeit moderner Familien und Alleinerziehender berücksichtigt, zeigt, daß auch in diesem Punkt endlich
mehr für Vereinbarkeit von Familie und Beruf getan
wird.
({3})
Auch im Gewaltbereich zeigt sich der Paradigmenwechsel. Gewalt von Männern an Frauen wird nicht
länger als Frauenproblem abgetan, sondern als Problem
der inneren Sicherheit angesehen.
({4})
Das heißt, Frauen und Kinder werden bei Gewalt in der
Familie nicht mehr nur in das Frauenhaus flüchten können, sondern die Täter werden die Ehewohnung verlassen müssen.
Für Opfer von Frauenhandel wird es ein Zeuginnenschutzprogramm und einen besseren rechtlichen Schutz
durch die Erweiterung der entsprechenden Definition im
Strafrecht geben. Wir dürfen nicht länger zulassen, daß
die Rechtlosigkeit der Opfer zum besten Täterschutz
wird.
({5})
Auch die rechtliche und soziale Diskriminierung des
ältesten Gewerbes der Welt wird zu Beginn des dritten
Jahrtausends endlich beseitigt. Ich freue mich sehr, daß
die F.D.P. hier auf unserer Seite ist.
({6})
Aber es gibt auch Punkte, angesichts deren wir den
Koalitionsvertrag weiterentwickeln müssen. Nicht akzeptabel ist für uns, daß die Verfolgung auf Grund des
Geschlechts immer noch nicht generell als Asylgrund
anerkannt wird. Es wäre für die Bundesregierung ein
guter Start gewesen, Frauen, die im Krieg Vergewaltigung oder Zwangsabtreibung erlitten haben oder wegen
anderer frauenspezifischer Verfolgung wie zum Beispiel
genitaler Verstümmelung aus ihrer Heimat flüchten, generell politisches Asyl zu gewähren, wie es andere
Staaten tun.
({7})
Daß ausländische Ehefrauen hier nicht sofort ein vom
Ehemann unabhängiges Aufenthaltsrecht erhalten und
Opfer von Menschenhandel bisher nur - ich muß leider
aus den Koalitionsverhandlungen zitieren - „gegebenenfalls“ eine Duldung bis zum Ende des Gerichtsverfahrens erlangen können, entspricht nicht bündnisgrünen
Vorstellungen.
Auch die Subventionierung des Trauscheins darf keine Zukunft haben. Wir brauchen keine Eheförderung;
wir brauchen Familienförderung.
({8})
Die vorgesehene Kappung des Ehegattensplittings, die
erst im Jahre 2002 greifen soll, ist mit 2 Milliarden DM
äußerst bescheiden ausgefallen. Denn statt eine Art Ehegeld von mehr als 42 Milliarden DM im Jahr zu zahlen,
müssen Familien mit Kindern viel höher direkt finanziell
entlastet werden, damit Kinder eben nicht das Armutsrisiko Nummer eins bleiben.
Die Erhöhung des Kindergeldes um 40 DM ist sicherlich ein guter Anfang. Sozialhilfebezieher und -bezieherinnen haben davon allerdings überhaupt nichts.
Die Regelsätze für Kinder entsprechend der Kindergelderhöhung anzupassen hätte 150 Millionen DM gekostet.
Das ist weniger als der Preis für einen Eurofighter.
({9})
Für uns versteht es sich von selbst, daß die Sozialhilfe
generell erhöht werden muß und daß auch die Unterhaltssätze für Kinder nicht weiter unter dem Existenzminimum liegen dürfen. Aber das heißt auch, daß das
Geld in Zeiten knapper Kassen umverteilt werden muß.
({10})
Doch bekanntlich gibt es in den Köpfen der „old
boys“ zuweilen andere Prioritäten. Da will einer nur
Verteidigungsminister werden, wenn er seine Eurofighter behalten darf. Im Rahmen der Steuerreform werden
die Steuervergünstigungen für Jahreswagen als Lieblingskind des Kanzlers dann doch von der Streichliste
genommen.
({11})
Ich finde, liebe Kolleginnen, hier müssen die Frauen des
Parlaments fraktionsübergreifend Stärke beweisen. Wir
müssen deutlich machen, was gesellschaftlich notwendig ist und wenn es sein muß, müssen wir den Männern
ihre Lieblingsspielzeuge einfach auch einmal wegnehmen.
({12})
Wieso eine Steigerung des Wehretats statt Kinderbetreuungseinrichtungen, statt Hilfsprogrammen für Opfer
von Menschenhandel, statt einer Erhöhung des Erziehungsgeldes?
Ich komme zur Jugendpolitik. Auch die letzten etwas
positiveren Zahlen auf dem Lehrstellenmarkt dürfen
nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bekämpfung
der Jugendarbeitslosigkeit eine der größten Herausforderungen ist. Hier hat die alte Bundesregierung versagt.
Wir dürfen die Jugendlichen nicht allein lassen, gerade
die nicht, die durch wenig qualifizierte Abschlüsse, ihre
Herkunft oder eine Behinderung benachteiligt werden.
Warteschleifen mit schlechten Qualifizierungsmaßnahmen müssen der Vergangenheit angehören.
Wir werden die Herausforderung annehmen und berufliche Chancen für Jugendliche schaffen. Das Sofortprogramm der neuen Regierung, mit dem 100 000 neue
Ausbildungs- und Arbeitsplätze geschaffen werden, ist
hier ein erster Schritt. Wir werden besonders darauf
achten, daß auch junge Frauen zu ihrem Recht auf eine
gute Ausbildung kommen.
Aber wir brauchen nicht nur Veränderungen in der
Jugendpolitik, sondern wir sehen auch Reformbedarf in
der Politik für ältere Menschen. Nur zwei Stichworte:
Wir werden nicht nur mehr Mitbestimmungsrechte für
ältere Menschen in Heimen verankern, sondern auch die
Defizite bei der Heimaufsicht beheben. Auch der Altenpflegeberuf - die Frau Ministerin hat es eben angesprochen -, für den es in jedem Bundesland eine andere
Ausbildung gibt, wird kein Durchlauferhitzer mehr bleiben, in dem die Pflegekräfte wegen Überlastung,
schlechter Arbeitsbedingungen und Burn-out verständlicherweise kaum mehr etwas hält.
Mit einer bundeseinheitlichen Regelung werden wir
die Pflegeausbildung auf eine gemeinsame Grundlage
stellen und auch die Qualitätsstandards verbessern. Auch
hier werden wir die Blockade der alten Bundesregierung
aufheben.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in den
nächsten vier Jahren dafür sorgen, daß der Koalitionsvertrag mit Leben erfüllt wird. Während der Verhandlungen haben wir körbeweise Zuschriften von Verbänden, Initiativen und Gewerkschaften erhalten. Viele
wichtige Forderungen finden sich im Koalitionsvertrag
wieder, aber alles haben wir nicht durchsetzen können.
Darum brauchen wir die kritische Begleitung aller gesellschaftlichen Gruppen. Wir wollen nicht länger Politik gegen Menschen, wir wollen Politik mit Menschen
machen.
Die Regierung Kohl hat die soziale Spaltung der Gesellschaft betrieben. An Rotgrün ist es jetzt, dies zu verändern.
Ich danke Ihnen.
({14})
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss von der PDSFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, es waren vor allem Frauen, die
am 27. September der neoliberalen Regierungskoalition
und einer in die Sackgasse geratenen konservativen
Frauen- und Familienpolitik eine klare Absage erteilt
haben. Zu groß war am Ende der Ära Kohl die Kluft
zwischen dem Pochen auf traditionelle Werte, den gerade hier zu gern gehaltenen Sonntagsreden und der Alltagserfahrung von Millionen von Frauen in diesem
Land.
Die anhaltende Frauenerwerbslosigkeit und -dequalifizierung, die wachsende Zahl ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse, die Frauendiskriminierung im Arbeits- und Sozialrecht, die fehlende eigenständige Existenzsicherung und Anerkennung der Lebensleistung im
Alter, völlig unzureichende Bedingungen für die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft sowie
die Tatsache, daß es immer noch ein Armutsrisiko in
diesem reichen Land ist, Kinder zu haben, machen den
politischen Handlungsbedarf deutlich und die großen
Erwartungen an einen rotgrünen Kurswechsel gerade in
der Frauen- und Familienpolitik verständlich.
Der Anspruch, für einen neuen Aufbruch in der Frauenpolitik und für eine sichere Zukunft der Familien zu
sorgen, findet ebenso die Unterstützung der PDS wie das
Anliegen, die Gleichstellung von Mann und Frau wieder
zu einem großen gesellschaftlichen Reformprojekt zu
machen.
({0})
Aber eben daran wird sich die Gesamtpolitik der neuen
Regierung zukünftig messen lassen müssen. Nach der
gestrigen Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers bleibt für mich noch ein bißchen offen, welchen
Platz die Frauen in der „Neuen Mitte“, beim „Zukunftsbündnis“, bei der „neuen Zivilität und Partnerschaft“
und beim „modernen Chancenmanagement“ tatsächlich
haben werden.
Die Gleichstellung der Geschlechter muß von vornherein in allen Politikbereichen sowie in Gesetzen und
Maßnahmen verankert und umgesetzt werden. Nach wie
vor bleibt die Umsetzung der Aktionsplattform der
4. Weltfrauenkonferenz in Peking und des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau Meßlatte sämtlicher politischer Entscheidungen; denn Frauenrechte sind Menschenrechte, ohne
Wenn und Aber.
({1})
Lassen Sie mich im folgenden an vier Punkten exemplarisch zeigen, daß die PDS viele frauenpolitische Ansätze der neuen Bundesregierung unterstützt, sie uns
aber gleichzeitig in einigen Punkten nicht weit genug
gehen, weil sie letztlich zu wenig an patriarchalen
Strukturen rütteln.
Erstens. Zu Recht werden die berufliche Integration
und der Aufstieg von Frauen in Unternehmen und Verwaltung in den Mittelpunkt gestellt. Auch wir halten ein
effektives Gleichstellungsgesetz, das auch für die Privatwirtschaft verbindliche Regelungen zur Frauenförderung festschreibt, die Korrektur der frauendiskriminierenden Regelungen im Arbeitsförderungsrecht, die vorrangige Vergabe öffentlicher Aufträge an frauenfreundliche Unternehmen, die Durchsetzung des Grundsatzes
„gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sowie die fünfzigprozentige Quotierung aller Ausbildungsplätze für das, was
so schnell wie möglich angepackt und vor allem durchgesetzt werden muß. Offen aber bleibt gerade angesichts
der Erfahrungen massiven Widerstands der Front der
Deregulierer und Standortpolitiker bei diesbezüglichen
Vorstößen auf Länderebene, in welchem Maße es tatsächlich durchzusetzen ist, gleichberechtigungspolitischen Druck auf die Wirtschaft zu nehmen.
Vorrangig auf den Ausbau von Haushaltsdienstleistungen und privaten Dienstleistungsagenturen zu setzen
halten wir im übrigen nicht für den Königsweg; denn
hier besteht tatsächlich die Gefahr, geschlechtshierarchische Arbeitsteilung weiter zu zementieren.
({2})
Die eigentliche Herausforderung aber - da kann und
muß eine geschlechtsspezifische Sichtweise wesentliche
Impulse geben - bleibt im Zeitalter der Globalisierung
und des Wandels der Arbeitsgesellschaft eine radikale
Neuaufteilung der Arbeit, sowohl der bezahlten als auch
der unbezahlten.
({3})
Zweitens. Ohne eigenständige Existenzsicherung
von Frauen wird es keine Chancengleichheit der Geschlechter geben. Ein wesentlicher Schritt dazu, abgesehen von den 30 bis 40 Milliarden DM, die hier zu holen
wären, ist die Individualbesteuerung. Nicht einmal als
halbherziger Einstieg in den Ausstieg kann die Ankündigung zur geplanten Einschränkung des Ehegattensplittings ab dem Jahre 2002 gewertet werden. Damit verabschieden sich im übrigen SPD und Grüne von ihren eigenen frauenpolitischen Forderungen.
({4})
Während bei anderen steuerrechtlichen Vorstellungen
europäische Normalität eingefordert wird, zementiert
Rotgrün in der Frage der Ehegattenbesteuerung die patriarchale Sonderrolle Deutschlands.
Die PDS sieht keinen Grund, die Ehe an sich steuerrechtlich zu bevorzugen. Wir wollen das Leben mit Kindern fördern und sozialrechtliche Ansprüche individualisieren.
({5})
Drittens. Die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft endlich
grundlegend zu verbessern und europäischen Standards
anzupassen ist überfällig. Auch wenn wir die zugegebenermaßen spärliche Anhebung des Kindergeldes und der
Einkommensgrenzen für das Erziehungsgeld und die
Schaffung eines gesetzlich garantierten Teilzeitanspruchs begrüßen, sehen wir noch keine ausreichende
Bedingung, um hier den notwendigen Paradigmenwechsel zu schaffen und überholte Strukturen wirksam anzugehen.
Die PDS fordert, die Rahmenbedingungen für eine
wirkliche Wahlmöglichkeit von Frauen und Männern
zwischen Beruf und Kindererziehung gesetzlich festzuschreiben. Wir haben bereits in der letzten Legislaturperiode einen konkreten Vorschlag gemacht, an dem wir
weiterarbeiten werden.
({6})
Viertens und letztens. Auch wenn sich weder in der
Regierungserklärung noch in der Koalitionsvereinbarung ein Wort zu einem weiteren frauenpolitischen Dauerbrenner findet - das ist sicher kein Zufall -, noch eine
kurze Anmerkung: Die letzte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 218 zielt eindeutig auf die
Wiederherstellung der Rechtssicherheit im Bund. Die
Ablehnung des frauenfeindlichen bayerischen Sonderweges ist ein wichtiges und notwendiges Signal.
({7})
Sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es
in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor mit einem äußerst restriktiven Abtreibungsrecht zu tun haben.
Noch immer steht der Schwangerschaftsabbruch im
Strafgesetzbuch. Insofern geht die Debatte um die Zulassung der Abtreibungspille RU 486 am eigentlichen
Problem vorbei. Solange nämlich Frauen unter der Kuratel des § 218 stehen, wird ihnen auch unter einer rotgrünen Regierung - ich bedaure das sehr - das Recht auf
Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper abgesprochen.
({8})
Hier liegt der eigentliche politische Handlungsbedarf
Frau
Kollegin, kommen Sie bitte allmählich zum Schluß.
- ja, ich bin sofort fertig -, aber
auch die Chance, mit neuen Mehrheiten einen Strafrechtsparagraphen dorthin zu befördern, wo er hingehört: auf den Müllhaufen der Geschichte.
({0})
Das
Wort hat als nächste Rednerin die Kollegin Maria Eichhorn von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Aussage des jetzigen Bundeskanzlers vor einigen Wochen über den Aufgabenbereich
von Familien-, Senioren-, Frauen- und Jugendpolitik er hat sie als „sonstiges Gedöns“ bezeichnet - war wohl
wirklich ernst gemeint. Denn die Regierungserklärung
dazu war sehr deutlich: nur sehr wenige und dann noch
unverbindliche Aussagen.
Frau Ministerin, ich habe heute die Regierungserklärung nochmals nachgelesen, weil ich dachte, ich hätte
vielleicht das eine oder andere überhört. Es finden sich
dazu nur ganz wenige Sätze - leider. Kein Wort zum
Stellenwert der Familie, dafür aber wurde das Ziel in der
Koalitionsvereinbarung genannt, daß alle auf Dauer angelegten Lebensformen künftig Anspruch auf Schutz
und Rechtssicherheit haben. Soll das die neue Familienpolitik sein?
({0})
Wir lehnen dieses gesellschaftspolitische Experiment als
indiskutabel ab.
({1})
Ganz bewußt haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes Ehe und Familie in Art. 6 unter den besonderen Schutz des Staates gestellt. Wir werden daran festhalten und dafür kämpfen, daß sie die tragenden Leitbilder unserer Gesellschaft bleiben und die notwendige
staatliche Unterstützung weiter erhalten. Denn nicht zuletzt wegen der demographischen und sozialen Herausforderungen wird die Solidarität innerhalb der Familie
auf Dauer noch stärker gefordert sein.
Die Ankündigungen der neuen Bundesregierung aus
dem Wahlkampf werden nur halbherzig erfüllt. Ich begrüße natürlich die Erhöhung des Kindergeldes.
({2})
Wenn Sie, Frau Ministerin Bergmann, jedoch noch zu
Ihren Schlußfolgerungen aus dem Zehnten Jugendbericht stehen, müßten Sie eigentlich besonderen Wert
darauf legen, daß das Kindergeld gerade für Mehrkinderfamilien stärker erhöht wird. Ihr Versprechen, Familien mehr zu fördern, werden Sie jedoch nicht einhalten,
wenn die Kindergelderhöhung durch Veränderungen
beim Ehegattensplitting gegenfinanziert wird. Dies bedeutet lediglich Umverteilung und die Bestrafung der
Frauen, die wegen der Kindererziehung auf eine Erwerbstätigkeit verzichten.
Ich vermisse auch eine klare Aussage in der Koalitionsvereinbarung zur Anhebung der Einkommensgrenze für die Gewährung des Erziehungsgeldes bzw.
des Elterngeldes, wie Sie es nennen. Daß dieses Ziel für
Sie keinerlei Priorität hat, Frau Bergmann, ist aus Ihren
Ausführungen sehr deutlich geworden. Wenn Sie das
dritte Jahr Erziehungsgeld vorhin grundsätzlich in Frage
gestellt haben, dann zeigt das Ihre wahre Einstellung.
Wir erwarten jetzt von Ihnen, daß Sie das tun, was Sie
vorher in der Opposition immer eingefordert haben,
nämlich die Einkommensgrenzen sofort anzuheben.
({3})
Was die Weiterentwicklung der Kinderbetreuungsmöglichkeiten angeht, so sind in erster Linie die Bundesländer gefordert. Wir erwarten von der neuen Regierung auf Grund ihrer engen politischen Bindung zu vielen Ländern jetzt Fortschritte. Dabei können Sie sich die
unionsregierten Länder ruhig zum Vorbild nehmen, zum
Beispiel Bayern.
({4})
Wenn ich jedoch in diesen Tagen lese, daß Niedersachsen die Zuschüsse für die Kindergärten binnen zwei Jahren um über 60 Millionen DM kürzen will, so muß ich
feststellen: Sie tun das genaue Gegenteil von dem, was
Sie ankündigen.
Die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten für alle Familien - nicht nur für Alleinerziehende - wäre wichtig. Aber ich frage: Ist das eine
Wunschvorstellung, die Sie, Frau Ministerin, in einem
Interview geäußert haben, oder werden Sie diese Vorstellung im Rahmen der Steuerreform auch unterbringen
können?
Nachdem zwei Vorrednerinnen das Thema RU 486
angesprochen haben, eine deutliche Stellungnahme von
mir. Ich bin gegen die politische Auseinandersetzung,
weil damit der fatale Eindruck erweckt wird, daß es
wichtiger ist, über Abtreibungsmethoden zu reden, statt
das gesellschaftliche Bewußtsein für den Schutz des
ungeborenen Lebens zu fördern.
({5})
Die immer wieder hochstilisierte Frage der Einführung
von RU 486 verkehrt die Absicht, für den Schutz des
ungeborenen Lebens zu sorgen, ins Gegenteil. Die Tötung ungeborenen Lebens wird doch, so wie bisher über
dieses Thema diskutiert wird, nur verharmlost.
({6})
Erst recht eignet sich diese Diskussion nicht zur frauenpolitischen Profilierung.
({7})
In Ihrer Koalitionsvereinbarung beschreiben Sie den
sogenannten Aufbruch in der Frauenpolitik. Eine neue
Programmatik kann ich jedoch nicht erkennen. Ich bin
angesichts der vielfältigen Kritik an unserer Gleichberechtigungspolitik positiv überrascht, daß Sie in vielen
Punkten genau unseren Weg fortführen wollen. Das
zeigt doch, daß wir den richtigen Weg beschritten hatten. Daß manches Ziel nicht gleich vollständig erreicht
wird, ist eine leidvolle Erfahrung, die Sie, verehrte Kolleginnen von der Regierungskoalition, jetzt bereits bei
der Vergabe der Ämter selbst erleben. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit kann schnell eine Lücke entstehen. Solange es in Zeiten der Opposition nur um verbale
Beteuerungen zur Machtbeteiligung von Frauen ging,
waren SPD und Grüne stets sehr freigiebig. Wenn es
aber tatsächlich um die Besetzung von Positionen geht,
dann zeigt sich, wie schwierig es sein kann, die Theorie
in der Praxis durchzusetzen.
Tatsächlich neu ist Ihr Ziel, ein Gleichberechtigungsgesetz für die private Wirtschaft auf den Weg zu
bringen. Wir wissen alle um die damit verbundenen
Probleme. Ich bin gespannt, ob Sie dieses Vorhaben
durchsetzen werden. Wir hoffen, daß sich die Frauenund Jugendministerin im Bündnis für Arbeit das notwendige Gehör verschaffen wird, damit die Frauenförderung in den Unternehmen weitere Impulse erhält.
Gleiches gilt natürlich für die Schaffung von Ausbildungsplätzen. Für uns bleibt es ein besonderes jugendpolitisches Anliegen, die Beschäftigungsmöglichkeiten
benachteiligter junger Menschen zu verbessern.
({8})
Als im Sommer die Pornohändlerringe im Internet
aufgedeckt wurden, war das Entsetzen groß. Weiterer
Handlungsbedarf wurde von allen Seiten angemahnt.
Deshalb bin ich jetzt doch sehr verwundert, daß diese
Regierung zum Jugendmedienschutz keinerlei Aussage
trifft. Der Schutz von Kindern vor Gewalt muß ein jugendpolitischer Schwerpunkt bleiben. Vor allem kommt
es darauf an, daß die nationalen Schutzvorschriften
durch internationale Vereinbarungen flankiert werden.
Die Weichen dafür hat die bisherige Bundesregierung
gestellt. Wir fordern die neue Bundesregierung auf, im
nächsten Jahr die deutsche EU-Präsidentschaft zu nutzen, um auf europäischer und internationaler Ebene zu
klaren Ergebnissen in diesem Bereich zu kommen.
({9})
Frau Ministerin, Sie haben die gewaltfreie Erziehung
angesprochen. Wir sind natürlich für gewaltfreie ErzieMaria Eichhorn
hung, aber wir sind gegen die Kriminalisierung der Eltern. Dagegen wehren wir uns.
({10})
Meine Damen und Herren, die Wählerinnen und
Wähler werden die Arbeit von Rotgrün nicht mehr wie
bisher an Worten, sondern jetzt an Taten messen. Wir
werden Ihre Politik in dieser Legislaturperiode kritisch
begleiten.
({11})
Als
letzte Rednerin hat die Kollegin Hildegard Wester von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Am 27. September dieses Jahres
haben die Bürgerinnen und Bürger sehr deutlich gemacht, daß sie einen Politikwechsel wünschen. Dieses
Ereignis hat unter anderem dazu geführt, daß wir gestern
die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Schröder
zur Kenntnis nehmen durften - wir natürlich sehr erfreut. Ich höre aber, daß einige Kolleginnen hier im
Hause wesentliche Kapitel vermissen, die sich mit der
Stellung der Frau in der Gesellschaft beschäftigen,
was bei uns natürlich auf völliges Unverständnis stößt.
Denn ich lese sehr wohl - und habe das auch gehört -,
daß Herr Schröder sehr Wesentliches zu dieser Position
gesagt hat. Aber ich kann sehr gut nachvollziehen, daß
Sie damit nicht sehr einverstanden sind; denn es hat sehr
viel mit Ihrem Rollenverständnis zu tun.
({0})
Herr Schröder hat nämlich eindeutig die Chancengleichheit für Frauen in Beruf und Familie eingefordert.
({1})
Das dürfte nicht so besonders auf Ihr Einverständnis
stoßen.
({2})
Ich möchte noch eine Bemerkung zu dem machen,
was Frau Eichhorn gesagt hat. Ich habe nirgendwo gehört - weder in der Regierungserklärung noch in irgendeiner Rede vorher, noch in irgendeiner Äußerung einer
unserer Kolleginnen oder eines unserer Kollegen -, daß
wir gegen den Schutz der Familie im Grundgesetz sind.
({3})
Wir werden natürlich dafür streiten. Wir haben aber
nicht die Einstellung, daß Einelternfamilien irgendwelche Ausnahme- oder Randerscheinungen oder sogar experimentelle Lebensformen sind. Vielmehr nehmen wir
die Lebenswirklichkeit so, wie sie ist, und versuchen,
die Rahmen für die Menschen zu stecken, in denen sie
zu leben wünschen. Das haben sie uns durch die Art,
wie sie leben, sehr deutlich gemacht.
({4})
Die Bürger haben am 27. September Rotgrün gewählt, weil sie sich in erster Linie gewünscht haben, daß
die Arbeitslosigkeit massiv bekämpft wird. Ich kann
der neuen Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend nur recht geben, wenn sie sagt, daß der Abbau
der Arbeitslosigkeit der Schlüssel zu einer erfolgreichen
Politik in unserem Bereich ist.
({5})
Vor allem viele Frauen haben ihre Hoffnung in eine
rotgrüne Koalition gesetzt und dies durch ihre Stimmabgabe dokumentiert. Viele junge Menschen sind diesem
Beispiel gefolgt. Wir freuen uns sehr darüber und sehen
in diesem erwiesenen Vertrauen eine Bestätigung und
Anerkennung unserer Arbeit auch in den vergangenen
Legislaturperioden.
({6})
Wir nehmen diesen Auftrag an, zumal wir gut vorbereitet sind. Wir haben in der SPD-Bundestagsfraktion
umfangreiche Vorarbeiten geleistet, die die neue Regierung jetzt umsetzen kann. Die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag, die Regierungserklärung des Bundeskanzlers und das, was wir eben von der Ministerin
Bergmann gehört haben, zeigen, daß wir ernst machen
wollen und daß wir jetzt endlich zur Tat schreiten.
({7})
Deshalb sagen wir der Bundesregierung, insbesondere
Frau Ministerin Bergmann, unsere Unterstützung bei ihrer Arbeit zu.
({8})
Wir wissen genau, daß gerade Frauen große Erwartungen an uns haben. Sie haben sich in ihrer Mehrheit
schon sehr lange von dem veralteten Familienbild verabschiedet, das noch immer in vielen konservativen Sonntagsreden herumgeistert. Sie haben sich anders entschieden. Wir werden dem Rechnung tragen.
Gesellschaftlicher Konsens und soziale Gerechtigkeit
sind ohne Gleichstellung der Geschlechter nicht denkbar. Deshalb werden wir den Stillstand der vergangenen
Jahre beenden und entsprechend dem Verfassungsauftrag die Position der Frauen im Berufsleben stärken.
({9})
Mit einem Gleichstellungsgesetz werden wir endlich
auch die Privatwirtschaft zur Frauenförderung verpflichten. Unsere Vorstellungen dazu liegen seit Jahren
vor. Sie sind bereit, eingebracht zu werden.
Der Amsterdamer Vertrag hat Klarheit geschaffen,
daß Frauenförderung im Einklang mit europäischem
Recht steht. Wir werden auch die europarechtlichen
Vorgaben einbeziehen und die Lohngerechtigkeit zwischen Männern und Frauen herstellen. Es darf nicht dabei bleiben, daß die bestausgebildete Frauengeneration
ein Drittel weniger verdient als ihre männlichen Kollegen.
({10})
Es darf auch nicht dabei bleiben, daß Frauen überwiegend auf schlechter gesicherten Arbeitsplätzen sitzen. Es
ist ein Märchen, daß Frauen nur ein bißchen hinzuverdienen wollen und dankbar wären, wenn sie wenigstens
in geringfügiger Beschäftigung statt in sozial gesicherten Teilzeitberufen arbeiten könnten.
An dieser Stelle möchte ich eine Bemerkung zu der
neuen Kollegin aus der F.D.P.-Fraktion machen: Mir ist
einfach unerklärlich, wie die Bekämpfung von Scheinselbständigkeit und die Einbeziehung von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen in die Sozialversicherungspflicht die Existenzgründung von Frauen verhindern oder erschweren sollten. Natürlich ist es uns ein
Anliegen, Existenzgründungen zu fördern. Das ist ein
wesentlicher Bestandteil unserer Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und unserer Politik der Frauenförderung.
({11})
Es ist gut, daß die neue Regierung dies unmittelbar
aufgreift und den Mißbrauch bei den geringfügigen Beschäftigungen beseitigen will. Ich habe mit Genugtuung
gehört, daß der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung auch den Abbau der Pauschalbesteuerung bei geringfügiger Beschäftigung angekündigt hat.
Eines muß klar sein: Die Neuregelung bei der geringfügigen Beschäftigung darf nicht nur dazu dienen, die Sozialkassen mit Beiträgen zu füllen. Sie muß auch den
vielen gering beschäftigten Frauen in Ost und West
mehr soziale Gerechtigkeit und mehr soziale Sicherheit
bringen.
({12})
Wir haben den Sozialabbau zu Lasten der Frauen
immer wieder kritisiert. Auch die damit verbundenen
Hoffnungen müssen eingelöst werden. Zu einer Politik,
die auf Gleichheit und Partnerschaftlichkeit ausgerichtet
ist, gehört eine Gestaltung der Arbeitswelt, die es Frauen
und Männern erleichtert, Familie und Erwerbstätigkeit
miteinander zu vereinbaren. Wir werden dazu mit familiengerechten flexiblen Arbeitszeiten für Frauen und
Männer Raum schaffen. Dies muß Gegenstand bei den
Gesprächen des Bündnisses für Arbeit sein. Denn dort
sitzen die Hauptakteure zusammen.
Wir werden die dringend notwendige Runderneuerung des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs
durchsetzen, wie wir sie bereits mit unserem Konzept
„Elterngeld und Elternurlaub für Mütter und Väter“ vorgelegt haben.
({13})
Der Erziehungsurlaub wird zu einem Elternurlaub mit
einem Erziehungszeitkonto umgewandelt, so daß beide
Elternteile die Chance auf Teilzeit haben. Die Wahlmöglichkeiten werden für beide Elternteile erweitert,
und damit wird eine Voraussetzung für eine partnerschaftliche Kindererziehung geschaffen. Darüber hinaus
wollen wir Wege finden, wie Elternurlaub auch für Väter attraktiv gemacht werden kann. Auch Männer haben
ein Recht auf Rollenwandel.
({14})
- Davon sollten Sie lernen.
Wenn Frauen oder Männer sich entschieden haben,
ihre Kinder allein zu erziehen, oder die Umstände es
nicht anders ermöglichen, werden wir dazu beitragen,
ihre Situation zu erleichtern. Dazu gehört nicht nur die
Erhöhung des Kindergeldes.
Hierzu eine Bemerkung: Wir erhöhen das Kindergeld deutlich, natürlich auch für Eltern mit mehr als
zwei Kindern. Denn jede Familie, die mehr als zwei
Kinder hat, also drei oder vier oder fünf Kinder, hat natürlich auch ein erstes und ein zweites Kind. Sonst geht
das rechnerisch nicht. So wird auch da die Erhöhung
bemerkbar werden.
({15})
Es gehört aber nicht nur die Erhöhung des Kindergeldes dazu; Alleinerziehende brauchen endlich auch bedarfsdeckende Unterhaltssätze für ihre Kinder.
({16})
Dabei ist die finanzielle Ausstattung nur ein Teil einer erfolgreichen Kinder- und Jugendpolitik. Die Ministerin wird die Diskussion über den Zehnten Kinderund Jugendbericht aufnehmen und Handlungsschritte
aus den Empfehlungen der Sachverständigen ableiten.
Das begrüßen wir sehr, weil sich die Auseinandersetzung über diesen Bericht bisher im Wegleugnen der
Armut erschöpft hat.
Frau
Kollegin, kommen Sie allmählich zum Schluß, bitte.
Aufbruch in der Kinderund Jugendpolitik bedeutet nicht nur, die Förderschwerpunkte des Kinder- und Jugendplanes zu überarbeiten.
Er bedeutet auch, Kinderrechte gesetzlich zu verankern
und die politische Teilhabe von Jugendlichen zu fördern
und ihnen mit dem Bündnis für Arbeit und Ausbildung
Perspektiven am Arbeitsplatz zu eröffnen.
Es reicht eben nicht, weder in der Kinder- und Jugend- noch in der Seniorenpolitik, zu der ich jetzt aus
Zeitgründen nicht mehr komme, hohle Worte und Versprechungen bei Sonntagsreden zu besonderen Anlässen
von sich zu geben. Frau Nolte hat die Quittung dafür bekommen, daß sie sich mit symbolischer Politik begnügt
hat. Nun ist es Zeit, Taten folgen zu lassen.
({0})
Es ist Zeit für eine Politik, die den gesellschaftlichen
Zusammenhalt stärkt, die Chancengleichheit herstellt
und das partnerschaftliche Zusammenleben in ihren
Mittelpunkt stellt.
Ich bedanke mich.
({1})
Für die
heutige Sitzung liegen keine weiteren Wortmeldungen
vor.
Bevor ich die Sitzung schließe, teile ich mit, daß der
heute morgen eingesetzte Ausschuß für Fremdenverkehr
und Tourismus auf Grund einer interfraktionellen Vereinbarung den Namen „Ausschuß für Tourismus“ tragen
soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich gehe davon
aus. Dann ist das so beschlossen.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 12. November
1998, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.