Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/22/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich dem Kollegen Dr. Theodor Waigel, der heute seinen 60. Geburtstag begeht, im Namen des Hauses unsere herzlichsten Glückwünsche aussprechen. ({0}) Sodann teile ich mit, daß der Kollege Wilhelm Dietzel am 12. April 1999 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Wolfgang Steiger am 15. April die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den Kollegen Steiger, der bereits Mitglied in der 13. Wahlperiode war, herzlich. ({1}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern: ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({2}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: 50 Jahre Nordatlantisches Bündnis - Drucksache 14/792 ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Dezember 1995 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des König- reichs Schweden zu dem Übereinkommen über die Be- seitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Ge- winnberichtigungen zwischen verbundenen Unter- nehmen - Drucksache 14/748 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({4}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für eine sofortige Verhängung umfassender Handelssank- tionen gegen Jugoslawien - Drucksache 14/793 - c) Beratung des Antrags der Abeordneten Gabriele Fograscher, Adelheid Tröscher, Günter Oesinghaus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller ({5}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: UN-Sondergeneralversammlung - 5 Jahre nach der Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo - Aktive Bevölkerungspolitik in der Entwicklungszusammenarbeit - Drucksache 14/797 - d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred Gebhardt, Heidi Lippmann-Kasten, Dietmar Bartsch, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der PDS: Ausschluß des Ein- tritts Minderjähriger in die Bundeswehr - Drucksache 14/551 - e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred Gebhardt, Carsten Hübner, Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Einsatz von Kindern als Sol- daten wirksam verhindern - Drucksache 14/552 - f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann, Brigitte Adler, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gegen den Einsatz von Kindern als Soldaten in bewaffneten Konflikten - Drucksache 14/806 ZP4 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes - Drucksachen 14/389, 14/474, 14/820 - ({6}) ZP5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Hal- tung der Bundesregierung als Bauherr zu Schwarzarbeit und außertariflicher Beschäftigung auf den Baustellen des Bundes in Berlin und zu den Auswirkungen auf die Be- schäftigungssituation im Baugewerbe Berlins und Bran- denburgs sowie die ostdeutsche Bauwirtschaft insgesamt ZP6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Entschul- dung armer Entwicklungsländer - Initiativen zum G8- Gipfel in Köln - Drucksache 14/785 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke-Reymann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Umfassender Schuldenerlaß für einen Neuanfang - Drucksache 14/800 - ZP7 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes parlamentarischer Beratungen - Drucksache 14/183 - b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Sabine Jünger, Petra Pau, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Bannmeilenregelung Drucksache 14/516 ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen ({7}), Angelika Krüger-Leißner, Eckhardt Barthel ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Antje Vollmer, Volker Beck ({9}), Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konzeption zur Förderung und Festigung der demokratischen Erinnerungskultur - Drucksache 14/796 - ZP9 a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine weitere Unterstützung der Atomkraftwerke Khmelnytsky 2 und Rivne 4 in der Ukraine - Drucksache 14/795 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela Mar- quardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS: Investitionen der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in Khmel- nistky 2 und Rivne 4 - Drucksache 14/708 - c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Dr. Klaus W. Lippold ({10}), Cajus Julius Caesar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Festhalten an den Zusagen zum Bau von sicheren Ersatzreaktoren in der Ukraine - Drucksache 14/819 ZP10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({11}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Entlassung der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Gila Altmann ({12}) - Drucksache 14/798 - ZP11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Evelyn Kenzler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Zahlungsforderungen schneller durchsetzen - Zahlungsmoral bekämpfen - Drucksache 14/799 - Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungs- punkt 8 a bis c - es handelt sich um Anträge zu öffentlichen Gelöbnissen der Bundeswehr - abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Wider- spruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowie Zusatzpunkt 2 auf: 5. a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun- deskanzlers anläßlich des 50. Jahrestages der Gründung der Nordatlantikpakt-Orga- nisation b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NATO-Gipfel in Washington und Weiterentwicklung des Bündnisses - Drucksache 14/599 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({13}) Verteidigungsausschuß c) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Die Handlungsfähigkeit der Nordatlantischen Allianz für das 21. Jahrhundert sichern - Drucksache 14/316 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({14}) Verteidigungsausschuß d) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Europäische Sicherheitsarchitektur statt Dominanz der Nordatlantischen Allianz - Drucksache 14/454 ({15}) Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({16}) Verteidigungsausschuß ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({17}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. 50 Jahre Nordatlantisches Bündnis - Drucksache 14/792 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß ({18}) Auswärtiger Ausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An diesem Wochenende werden die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten in Washington zusammenkommen. Eigentlich war vorgesehen, dort feierlich ein Jubiläum zu begehen, nämlich daß vor 50 Jahren der Nordatlantikvertrag unterzeichnet wurde. 50 Jahre NATO, das können gerade wir Deutsche nicht hoch genug schätzen. Das sind 50 Jahre Entwicklung in Frieden, in Freiheit und Demokratie. Nicht die militärische Bilanz, die es zu ziehen gilt, ist wirklich wichtig. Das Entscheidende bei der Bewertung ist: Die NATO war von Beginn an und ist heute mehr denn je ein Bündnis auf dem Boden gemeinsamer Werte. Eine Zukunft hat die NATO angesichts der heutigen Weltlage gerade als Bündnis für Frieden, für Demokratie und gerade jetzt bewiesen - für Menschenrechte. Wir haben gesehen: Die Gefahr bewaffneter Konflikte und kriegerischer Auseinandersetzung besteht vor allen Dingen dort, wo es an Demokratie mangelt und wo Diktatoren ihren Völkern ihren Willen aufzwingen wollen und sich entsprechend verhalten. Diese Erkenntnis bestimmt das Handeln der NATO als Verteidigungsgemeinschaft. Deshalb werden wir uns an diesem Wochenende nicht in triumphalen Festlichkeiten ergehen. Der Krieg im Kosovo steht heute im Vordergrund der Politik der Allianz. Er wird naturgemäß auch auf dem Gipfel in Washington die entscheidende Rolle spielen. Schon um ihrer Glaubwürdigkeit als Wertegemeinschaft willen war die NATO gezwungen, gegen Massenvertreibung und Massenmord im Kosovo vorzugehen. An dieser Situation hat sich nichts verändert. Die Allianz mußte und muß deutlich machen, daß sie nicht bereit ist hinzunehmen, daß ein Teil Europas in Unterdrückung und Barbarei zurückfällt. ({0}) Deshalb wird der Gipfel auch auf eindrucksvolle Weise zeigen, wie fest die NATO-Mitgliedstaaten in diesem gemeinsamen Willen zusammenstehen. Es wird ein Gipfel der Gemeinsamkeit werden. Präsident Wolfgang Thierse Die Völkergemeinschaft hat - wir haben das hier häufig diskutiert - nichts unversucht gelassen, die Krise im Kosovo mit diplomatischen Mitteln beizulegen. Alle Bemühungen um eine friedliche Lösung sind jedoch an der unnachgiebigen Härte und dem verbrecherischen Willen der Belgrader Führung gescheitert. Deshalb mußte gehandelt werden, und deshalb muß weiter gehandelt werden. Dem Diktator Milosevic, der gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo nach wie vor mit brutalsten Mitteln vorgeht und auf das Recht des Stärkeren setzt, mußte gezeigt werden, daß die Schwachen in der NATO einen starken Verbündeten für die Durchsetzung ihrer unveräußerlichen Rechte, der Menschenrechte, haben. ({1}) Gleichzeitig, meine Damen und Herren - auch das ist sichtbar und soll hier ausgesprochen werden -, tut die Allianz das ihr Mögliche, um das Elend der Vertriebenen, so gut es eben geht, zu mildern. Sie hat die angrenzenden Staaten, die unter den Strömen der Deportierten und der Flüchtlinge am meisten zu leiden haben, logistisch und finanziell unterstützt, und sie wird das auch weiterhin tun. Die NATO hat auch selbst für Zehntausende von Flüchtlingen Notunterkünfte zur Verfügung gestellt und damit bewiesen, daß sie in der Lage ist, nicht nur militärisch, sondern auch und gerade zutiefst humanitär zu agieren. Schließlich haben sich viele Staaten - Deutschland übrigens wieder einmal an vorderster Stelle - bereit erklärt, Flüchtlinge vorübergehend aufzunehmen. Ich teile die Kritik all derjenigen, die sich gelegentlich enttäuscht über den Willen des einen oder anderen Partners in Europa geäußert haben, es in gleicher Weise zu halten, was die - ich betone: vorübergehende - Aufnahme von Flüchtlingen angeht. ({2}) Das Bündnis war und ist aber - es ist wichtig, auch dies immer wieder zu betonen - jederzeit bereit, auf glaubwürdige, das heißt verifizierbare Signale zu reagieren. Eine politische Lösung des Konflikts im Kosovo und in Jugoslawien bleibt das Ziel aller unserer Bemühungen. ({3}) Die militärischen Aktivitäten sind Mittel zum Zweck, sie sind nicht Selbstzweck. Das zu unterstreichen ist mir wichtig. In Übereinstimmung mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und der gesamten Europäischen Union hat die NATO ihre Bedingungen für eine Suspendierung der Luftschläge genannt. Angesichts der öffentlichen Diskussion möchte ich sie noch einmal sehr deutlich herausstellen: Erstens geht es uns um die unverzügliche Beendigung aller Gewaltakte, zweitens um den Rückzug aller militärischen Kräfte, der Sonderpolizeikräfte sowie der paramilitärischen Einheiten aus dem Kosovo und drittens um die Stationierung internationaler Streitkräfte, damit die Vertriebenen ohne Furcht in ihre Heimat zurückkehren können. Dies, meine Damen und Herren, sind die Bedingungen, die akzeptiert sein müssen und deren Umsetzung verifizierbar begonnen sein muß, bevor die Luftschläge ausgesetzt werden können. ({4}) Deshalb und weil die Forderungen identisch sind, unterstützt die Bundesregierung die Initiative des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 9. April 1999. Die politischen Gremien der NATO-Staaten, allen voran der Bundesaußenminister, sind unermüdlich bemüht, eine politische Lösung und damit die Rückkehr an den Verhandlungstisch zu erreichen. Aber dies geht eben nur auf der Basis glasklar formulierter Bedingungen, die erfüllt sein müssen. Es liegt nach wie vor ausschließlich an der jugoslawischen Führung, die internationalen Forderungen ohne Abstriche anzunehmen und umgehend mit ihrer Umsetzung zu beginnen. Uns kommt es unverändert auch darauf an, Rußland zu einer aktiven Rolle bei der Suche nach einer friedlichen Lösung zu bewegen. Ich bin davon überzeugt, daß eine dauerhafte Befriedung des Balkans im ureigensten Interesse nicht nur der Europäischen Union, sondern auch Rußlands liegt. Unser langfristiges Ziel muß und wird es sein, eine demokratische und damit wirklich friedliche Entwicklung in der gesamten Region sicherzustellen. Dazu gehört ohne jeden Zweifel neben einer sicherheitspolitischen auch eine ökonomische Perspektive für die Staaten Südosteuropas. ({5}) Europäische Union, OSZE und NATO werden sich im Rahmen einer gemeinsamen Strategie für die gesamte Region um die Eingliederung dieser Staaten in die euroatlantischen Strukturen bemühen. Deutschland hat bei dem Einsatz der NATO im Kosovo seinen Anteil an der gemeinsamen Verantwortung übernommen. Unser Beitrag ist nicht nur selbstverständlicher Ausdruck unserer Bündnissolidarität. Nein, gerade wir Deutschen haben auch vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte die Verpflichtung, im Rahmen der Gemeinschaft demokratischer Staaten für Frieden und Sicherheit und gegen Unterdrückung, Vertreibung und Gewaltanwendung einzutreten. Wir alle wissen, daß unsere Soldaten bei diesem Einsatz ein hohes persönliches Risiko tragen. Auch im Rahmen dieser Debatte sei ihnen deswegen für ihren aufopferungsvollen Dienst ausdrücklich gedankt. ({6}) Das gilt übrigens auch für alle anderen Deutschen, die auf dem Balkan Hilfe leisten. Auch sie setzen täglich ihr Leben ein, um der leidenden Bevölkerung vor Ort Hilfe zu geben. ({7}) Mehr als vier Jahrzehnte hat der Ost-West-Gegensatz die europäische Geschichte geprägt. Dieser Gegensatz ist heute Gott sei Dank überwunden. Auf dem Gipfel in Washington - das ist wirklich ein Stück Zeitgeschichte - werden wir drei neue Verbündete begrüßen: Polen, die Tschechische Republik und Ungarn, drei Staaten, die noch vor zehn Jahren Mitglieder des Warschauer Paktes gewesen sind. Uns Deutschen war die Aufnahme dieser drei neuen Mitglieder eine besondere Verpflichtung. ({8}) Wir haben und werden nicht vergessen, welchen unschätzbaren Beitrag gerade diese drei Völker geleistet haben, als es uns um die Wiedererlangung der staatlichen Einheit ging. Ohne die feste Verankerung Deutschlands in der Atlantischen Allianz wäre die Einheit - auch das gilt es, zu erkennen - nicht gelungen. ({9}) Die Öffnung des Bündnisses nach Mittel- und Osteuropa ist Teil unseres Wirkens für eine gesamteuropäische Friedensordnung. Frühere Gegner sind unsere Partner geworden. Gemeinsam wollen wir nun eine strategische Vision für eine Friedens- und Stabilitätsordnung entwickeln, die auf den Werten von Menschenrecht, Gerechtigkeit, demokratischer und sozialer Entwicklung basiert. Dabei ist die Verantwortung Europas gewachsen. Die europäischen Staaten können nur dann ihrer gestärkten Bedeutung wirklich gerecht werden, wenn sie eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln. Natürlich werden wesentliche Elemente des neuen strategischen Konzeptes in der Kontinuität der NATO-Tradition seit 1949 stehen. Kernfunktion wird auch in Zukunft die Verteidigung des Bündnisgebietes bleiben. Gleichzeitig bildet die NATO weiterhin das Fundament für ein stabiles Sicherheitsumfeld. Wie bisher ist die Allianz das zentrale Konsultationsforum der Verbündeten. Im überarbeiteten strategischen Konzept wird zusätzlich eine neue Kernfunktion verankert werden. Sie wird Antwort auf die neuen Herausforderungen für das Bündnis geben. Angesichts der neuen Bedrohungen muß es unser vordringliches Ziel sein, die Sicherheit und die Stabilität auf unserem Kontinent zu stärken. Die durch die Allianz gewährte Mitwirkung der USA und deren Präsenz in Europa bleiben wesentliche Voraussetzung für die Sicherheit auf unserem Kontinent. ({10}) Nach Überwindung des Ost-West-Konflikts gilt heute mehr denn je: Sicherheit kann immer weniger durch militärische Mittel allein geleistet werden. Eine moderne Sicherheitspolitik muß Frieden und wirtschaftlichsoziale Entwicklung zusammendenken. Das verstehe ich unter effizientem Krisenmanagement und wirksamer Krisenprävention. Auch deshalb geht es im Kosovo nicht einfach darum, einen militärischen Sieg zu erringen. Es geht um eine politische und wirtschaftliche Perspektive für den gesamten Balkanraum. ({11}) Europa hat dabei bereits eine Rolle übernommen, die seiner gewachsenen Verantwortung, vor allen Dingen seiner gewachsenen ökonomischen Verantwortung in der Welt angemessen ist. Indem dieses Europa bereit ist, Verantwortung für die Durchsetzung der Menschenrechte, für Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu übernehmen, leistet Europa im Rahmen der Allianz seinen Beitrag für eine politische Definition unseres Kontinents: als ein Europa der Menschen und der Rechte der Menschen. Meine Damen und Herren, schon bald nach dem Fall des Eisernen Vorhanges hat das Bündnis das Angebot einer umfassenden Zusammenarbeit an die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes gerichtet. Mit dem Nordatlantischen Kooperationsrat - seit 1997 dem Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat - wurde ein neues Gremium der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit ins Leben gerufen. Es bezieht neben der Russischen Föderation und der Ukraine auch alle anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sowie die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa ein. Die 1994 begründete Partnerschaft für den Frieden wurde das erfolgreichste Programm des Bündnisses überhaupt. In Bosnien stand diese Partnerschaft vor ihrer ersten großen Bewährungsprobe. Sie hat diese Probe eindrucksvoll bestanden. Heute gewährleistet die Allianz gemeinsam mit Rußland und anderen Partnern die Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton für Bosnien und Herzegowina. Mit dem Abkommen von Dayton konnten unsägliche Grausamkeiten in diesem leidgeprüften Land beendet werden. Die Aufstellung der IFOR-Truppen und deren Weiterführung als SFORTruppen sind heute ein beispielgebendes Modell für das Engagement der NATO bei der Bewältigung von Krisen. Auf dem NATO-Gipfel werden wir ein Bündel von Initiativen verabschieden, um die Partnerschaft für den Frieden noch handlungsfähiger zu machen. Es wird darauf ankommen, die Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften der Partnerstaaten weiter zu verbessern. Gleichzeitig wollen wir die zivilen Aspekte der Allianz ausbauen. Zusammenarbeit über Grenzen hinweg heißt für das Bündnis aber nicht nur, für den Dialog offen zu sein. Es heißt auch, für neue Mitglieder die Tür offenzuhalten. Die Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns am 12. März 1999 hat deutlich gemacht: Die NATO war und ist kein geschlossener Club, und sie darf es auch nicht werden. Auf dem Gipfel werden wir interessierten Kandidaten Wege aufzeigen, sich bereits jetzt intern auf eine mögliche Mitgliedschaft vorzubereiten. Dabei werden wir sie tatkräftig unterstützen. ({12}) Wir wollen auch das besondere Verhältnis zwischen der NATO und der Ukraine weiter vertiefen. Durch die 1997 in Madrid verabschiedete Charta über die Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine hat das Bündnis deren besondere Bedeutung hervorgehoben. In Washington wird nun das erste Gipfeltreffen der NATOUkraine-Kommission stattfinden. Dabei werden wir unterstreichen: Das Bündnis wird auch in Zukunft die Entwicklung einer stabilen, unabhängigen Ukraine unterstützen. Ob es sich um die Heranführung an die Mitgliedschaft oder - wie im Falle der Ukraine - um eine verstärkte Partnerschaft handelt, eines steht dabei immer im Vordergrund: Die betreffenden Staaten suchen militärische Sicherheit. Aber sie wollen und sie brauchen auch wirtschaftliche und soziale Stabilität. Ein Export politischer Stabilität macht unseren Kontinent insgesamt sicherer. Niemand in Europa sollte diesem Prozeß mißtrauisch begegnen. Das gilt auch und gerade für Rußland. Die Russische Föderation bleibt der wichtigste Sicherheitspartner der Allianz. Die enge Einbindung Rußlands in die Verantwortung für die europäische Sicherheit ist und bleibt wesentlicher Bestandteil der Politik des Bündnisses. ({13}) Der mit der NATO-Rußland-Grundakte ins Leben gerufene NATO-Rußland-Rat hat sich als ein wertvolles Instrument des Dialogs und der Kooperation bewährt. In den vergangenen zwei Jahren ist es uns gelungen, den NATO-Rußland-Rat mit Leben zu füllen. Gerade in den Bereichen, in denen das Bündnis und Rußland nicht einer Meinung waren, hat dieses Forum immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. In vertrauensvoller Zusammenarbeit erhielt Rußland die Möglichkeit, die Denk- und Arbeitsweise der Allianz von innen heraus kennenzulernen. Wir wollen diese Zusammenarbeit weiter ausbauen. Auch Rußland sollte die Chancen einer Fortsetzung des seit Ende März ausgesetzten Dialogs im Rahmen des NATO-Rußland-Rates erkennen. Dabei muß allerdings auch Rußland selbst seiner Verantwortung gerecht werden, konstruktiv bei der Herstellung europäischer Sicherheit mitzuwirken. Das sage ich besonders im Hinblick auf die Kosovo-Krise, bei deren Lösung Rußland eine aktive Rolle spielen sollte. Meine Damen und Herren, die Gründung der NATO vor 50 Jahren war ein einmaliger historischer Einschnitt. Erstmals haben Europa und Amerika, „alte“ und „neue“ Welt sich zusammengefunden, um gemeinsam die europäischen Werte zu verteidigen, die universale Werte geworden sind: Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Für uns Deutsche und für die gesamte Europäische Union gibt es zu dieser Westbindung politisch, aber auch kulturell keine Alternative. Die transatlantische Partnerschaft kann jedoch nur gedeihen, wenn sie der gewachsenen europäischen Verantwortung Rechnung trägt. Das wird übrigens auch von unseren amerikanischen Freunden so gesehen. Wir wollen ein neues Europa für die neue NATO, und wir wollen die neue NATO für das neue Europa. Das gemeinsame Europa hat in den vergangenen Jahren große Schritte hin zu einer unumkehrbaren wirtschaftlichen und politischen Einheit getan. Ein großer Teil der Europäischen Union hat durch die Einführung einer gemeinsamen Währung einen genuinen Akt gemeinsamer Souveränität vollzogen. Nun geht es in Europa um zweierlei: Um die Vertiefung und Erweiterung der Union und um eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient, sowie die Herausbildung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsdimension als eines unabdingbaren Stützpfeilers in diesem Prozeß. Die Verträge von Maastricht und Amsterdam eröffnen uns dafür neue, bisher nicht gekannte Handlungsmöglichkeiten. Der Europäische Rat wird gegenüber der Westeuropäischen Union eine Leitlinienkompetenz in verteidigungspolitischen Fragen haben. Die Europäische Union braucht in Zukunft auch eine eigene militärische Entscheidungsstruktur. Dabei wollen wir keinesfalls bestehende Strukturen verdoppeln. Aber mit dem Vorschlag, das Amt des Generalsekretärs der Westeuropäischen Union dem Hohen Vertreter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU in Personalunion zu übertragen, wollen wir ein sichtbares Zeichen dafür setzen, daß Europa künftig auch in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen wirklich mit einer Stimme sprechen kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist in der Allianz unumstritten, daß internationale Militäreinsätze über das Bündnisgebiet hinaus eine eindeutige völkerrechtliche Grundlage zur Voraussetzung haben. Ich will deshalb an dieser Stelle sagen, daß ich die Argumente derjenigen, die eine solche Grundlage im Fall des NATO-Einsatzes im Kosovo für nicht gegeben halten, durchaus respektieren kann. Aber nach sorgfältiger Abwägung halte ich sie für falsch. Ich glaube, daß die völkerrechtliche Grundlage des NATO-Einsatzes zur Eindämmung einer humanitären Katastrophe gegeben ist und daß sie ausreichend ist. Das Völkerrecht trifft eindeutige Vorkehrungen für die Behandlung von Flüchtlingen und ihr Recht auf sichere Rückkehr in ihre Heimat. Ich betone: Niemand ist daran interessiert, die Vereinten Nationen als Gremium der Völkerverständigung und der Krisenbewältigung zu entwerten. Im Gegenteil: Deswegen habe ich den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, zum Treffen mit den europäischen Staats- und Regierungschefs vergangene Woche in Brüssel eingeladen, und deshalb begrüße ich ausdrücklich die Bereitschaft des Generalsekretärs, an einer friedlichen Lösung des Kosovo-Konflikts nach wie vor mitzuwirken. ({14}) Ich freue mich darüber, daß ich Kofi Annan nächste Woche in Berlin zu weiteren Gesprächen, nicht zuletzt über die Lösung der Kosovo-Krise, empfangen kann. Meine Damen und Herren, hinsichtlich der Achtung vor den Vereinten Nationen besteht im Bündnis Konsens. Die NATO ist keine Allianz, in der ein Partner den anderen seine Meinung diktiert. Sie ist und bleibt eine Wertegemeinschaft. Deshalb sind wir Partner dieses Bündnisses, und deshalb übernehmen wir im Rahmen dieses Bündnisses Verantwortung. Wir tun dies nicht und niemals, weil wir dazu gezwungen wurden. Wir tun dies aus tiefer Überzeugung und aus der Erfahrung, daß wir uns auf die NATO beim Einsatz für unsere gemeinsamen Werte immer verlassen konnten und auch in Zukunft verlassen können. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollege Volker Rühe.

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als die NATO vor etwa einem Jahr das Datum für ihr Treffen in Washington festlegte, standen drei Ziele fest: Das Bündnis wollte 50 Jahre erfolgreicher Friedenspolitik würdigen; die NATO wollte ihre drei neuen Mitglieder feierlich begrüßen, und sie wollte bestätigen, daß weitere folgen; die Allianz wollte ihre künftigen Aufgaben bestimmen und einen neuen strategischen Konsens präsentieren. Das Gipfeltreffen wird jetzt von der Kosovo-Krise überschattet. Das Bündnis braucht eine nüchterne Bestandsaufnahme auf höchster Ebene über das, was in den letzten vier Wochen geschehen ist. Von Washington muß nach Meinung der Union ein richtungweisendes Signal ausgehen, wie Amerika, Europa und Rußland im konstruktiven Miteinander die Krise beilegen wollen, wie einer durch Vertreibung und Krieg verwüsteten Region geholfen werden kann und wie dem Balkan schließlich Frieden und Stabilität gegeben werden können. Es geht um einen politisch-militärischen Gesamtansatz. Wenn Krieg oder militärische Auseinandersetzung die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln ist, dann ist dies immer die Fortsetzung von Politik. Das muß im Vordergrund stehen. Wir müssen uns zum Beispiel selbstkritisch fragen, ob die Selbstdarstellung der NATO, wie sie täglich durch Militärsprecher und militärische Videos aus Brüssel kommt, diesem Gesamtansatz - der Bundeskanzler hat es zu Recht gesagt: es ist ein politisches Bündnis auf der Grundlage gemeinsamer Werte - immer gerecht wird. Das ist für unsere Öffentlichkeit wichtig. Aber es zeigt sich auch, daß es noch wichtiger für die Öffentlichkeit der neuen Teilnehmerstaaten ist. Deswegen begrüße ich es ausdrücklich, wenn dieser politisch-militärische Gesamtansatz wieder voll in den Mittelpunkt gestellt wird. ({0}) Dennoch sollte über diese aktuellen Herausforderungen nicht der Blick auf die Leistungen der NATO in den letzten 50 Jahren verstellt werden. Ich stelle fest: Die NATO hat allen Grund an ihrem 50. Geburtstag stolz auf den erfolgreichen Schutz von Frieden und Freiheit in Europa und auf die transatlantische Bindung, die vielen Belastungen getrotzt hat, zu sein. ({1}) Sie werden es mir gestatten, einen Schlenker vom 50. Geburtstag der NATO zu einem 60. Geburtstag zu machen: Theo Waigel, der das Glück hatte, im Westen Deutschlands aufzuwachsen und als Politiker zu wirken, feiert diesen Geburtstag; er hat sein politisches Leben im Bündnis verbracht und für dieses Bündnis in einer Zeit gearbeitet, in der es keine Schönwetterperiode gab: Er erlebte die deutsche Wiederbewaffnung, die hier in Bonn im alten Plenarsaal in einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung durchgesetzt wurde ({2}) - nicht leider, sondern dieser Beschluß war die Grundlage für all das, was wir heute im wiedervereinigten Deutschland gemeinsam genießen können -, ({3}) die Kuba-Krise, die Bedrohung des freien Westberlin wir hätten Anfang dieser Woche nicht gemeinsam im Reichstag zusammenkommen können, wenn damals dieses Bündnis nicht entschieden auf die Bedrohung des freien Berlin reagiert hätte -, ({4}) den NATO-Doppelbeschluß - es war nicht leicht, dazu zu stehen ({5}) - ich sage später noch etwas dazu, im Augenblick würdige ich noch Theo Waigel und spreche nicht das abweichende Verhalten anderer in der Vergangenheit an -, in den letzten Jahren, nach der deutschen Wiedervereinigung die Bereitschaft Deutschlands, ein gleichberechtigter Partner zu sein, die Wiedervereinigung Europas und jetzt die schwierige Situation der NATO auf Grund der Kosovo-Krise. Meinen herzlichsten Glückwunsch an Theo Waigel zum 60. Geburtstag! Ein Leben im und für das Bündnis! ({6}) Die NATO und die Europäische Union haben im westlichen Europa einen Stabilitätsraum geschaffen, der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Die Kraft der Atlantischen Allianz hat dem Übel der klassischen europäischen Machtpolitik ein Ende bereitet. All das darf man in der jetzigen Situation nicht vergessen. Bei der Gründung der NATO hatte niemand auf die Überwindung der Teilung des Kontinents zu hoffen gewagt, die durch den Umbruch in den letzten zehn Jahren vollendet werden konnte. Auch hieran hat die Atlantische Allianz einen entscheidenden Anteil, ebenso an der Wiedervereinigung Deutschlands und an der Wiedervereinigung Europas, die jetzt politisch geschieht. Die NATO hat aber auch bewiesen, daß sie in der Lage ist, flexibel auf die neuen politischen und strategischen Aufgaben und Herausforderungen durch eine innere Reform und durch die Öffnung für neue Mitglieder zu reagieren. Es ist schon ein wenig tragisch, daß der Zeitpunkt, auf den sich die Völker Mittel- und Osteuropas aus vollem Herzen gefreut hatten, nämlich Mitglied der NATO zu werden, durch die Kosovo-Krise überschattet wird. Deswegen möchte ich auch an dieser Stelle einmal den polnischen Schriftsteller Andrzej Szczypiorski zitieren, der deutlich macht, worum es in diesem Zusammenhang geht. Diese Aussage muß auch die Grundlage für die nächsten Jahre bleiben. Er hat gesagt: Es gibt kein Europa ohne die Gotik von Krakau und Prag, ohne den Dresdener Zwinger, ohne die Brükken von Budapest und ohne Leipzig, das früher die Hauptstadt des europäischen Buches war. Die Westeuropäer erlagen einer süßen und ziemlich bequemen Täuschung, daß Big Ben, die Gassen von Siena, die Anhöhe von Montmartre, der Dom von Worms genügen, um die Geschichte, die Tradition und die Kultur Europas für die Zukunft zu erhalten. Er führte weiterhin aus: Wir waren in diesem europäischen, politischen Osten nicht taub und blind. Wir hörten Big Ben in London läuten, wir sahen von einer weiten Entfernung die Kolonnade von Bernini und den Eiffelturm und die alten Häuser von Lübeck. Sie gestatten mir die Bemerkung, daß mir das letzte besonders gut gefällt. Wir werden in den nächsten Jahrzehnten nur dann den politischen Kurs halten, wenn wir uns weiterhin von diesem Grundton leiten lassen. Das gilt auch für Jugoslawien. Ich war in der zweiten Hälfte der 80er Jahre oft und gezielt, vor allen Dingen mit Hans-Peter Repnik, in Jugoslawien. Wir haben dort gespürt, welche Gefahren sich abzeichneten, als die Autonomie der Vojvodina und des Kosovo zerstört wurde. Aber erinnern wir uns an die internationale Stellung Jugoslawiens. Damals waren Polen, Ungarn und Tschechien im Warschauer Pakt weit zurück, sowohl politisch als auch ökonomisch, und als Beitrittskandidaten für die Europäische Union überhaupt nicht im Gespräch. Aber die Hälfte der Gespräche hat sich mit der Frage beschäftigt, wie es mit den Chancen Jugoslawiens auf einen Beitritt zur Europäischen Union steht. Im Süden gab es ja schon Griechenland als Mitglied. Deswegen sage ich an dieser Stelle - das muß man sich vor Augen führen -: Die Politik von Milosevic ist nicht nur eine verbrecherische Politik gegen die Muslime in Europa, ob es die Bosniaken oder die Kosovaren sind; es ist auch eine verbrecherische Politik gegen das Interesse des serbischen Volkes, in Europa seinen richtigen Platz zu finden. ({7}) So großartig es für Polen, Ungarn und Tschechien ist, daß sie zur Zeit über einen Beitritt verhandeln, so tragisch ist es für Jugoslawien, daß es, obwohl es schon weiter war, im Augenblick keine Beitrittsverhandlungen führen kann und von der Zukunft Europas wieder weiter weggerückt ist. Es liegt in unserem Interesse, die in Westeuropa erreichte Stabilität auf ganz Europa auszuweiten. Das gilt auch für den Balkan. Deshalb muß die NATO bei ihrem Gipfeltreffen ein deutliches Zeichen setzen, daß ihre Tür auch für weitere Beitritte offenbleibt. Stabilität werden wir für das gesamte Europa aber nur dann haben, wenn Rußland daran als verantwortungsvoller Partner teilhat. Das ist der Grundgedanke der strategischen Partnerschaft mit Rußland. Aber sie bleibt Papier, wenn sie nicht auch auf beiden Seiten gelebt wird. Ich war ja ein bißchen an der Schaffung des NATO-Rußland-Rats beteiligt. Herr Bundeskanzler, Sie haben zu Recht dessen Bedeutung hervorgehoben. Aber ist es nicht ein Fehler, wenn in einer so zugespitzten Situation, wie wir sie vor fünf Wochen hatten, dieser NATO-Rußland-Rat nicht zusammentritt und statt dessen Primakow im Flugzeug über dem Atlantik über die bevorstehenden militärischen Aktionen informiert wird? Ich mache mir keine Illusionen über die Möglichkeiten, die es dort gegeben hätte. Aber gerade in einer so schwierigen Situation sollte die Bereitschaft von NATO und Rußland bestehen, das gemeinsam zu leben. ({8}) Das wichtigste Ziel der strategischen Partnerschaft ist es, Krisen und Konflikte in Europa nach Möglichkeit gemeinsam zu bewältigen. Deshalb ist es richtig und notwendig, mit der russischen Regierung in engem Kontakt zu bleiben und nach gemeinsamen Lösungsmöglichkeiten im Kosovo-Konflikt zu suchen. Ich möchte hier ausdrücklich zum einen, was der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber mit Karl Lamers in Moskau besprochen hat, und zum anderen die gute Zusammenarbeit mit der Bundesregierung in dieser Frage noch einmal loben. Ich glaube, was dort an Gesprächen geführt worden ist, war im deutschen Interesse. ({9}) Rußland muß seinen Einfluß auf den jugoslawischen Präsidenten wahrnehmen, um die Beendigung von Vertreibung und Völkermord, den Rückzug der serbischen Streitkräfte und Sondereinheiten sowie den Einsatz einer internationalen Schutztruppe zu erreichen. Wie es das tut, wird auch großen Einfluß auf Rußlands künftiges Verhältnis zum Westen haben und ausschlaggebend dafür sein, ob sich ein partnerschaftliches Verhältnis entwickelt, das auch Belastungen in schwierigen Zeiten standhält. Deutschland ist heute nur noch von Freunden umgeben. Das wurde möglich, weil sich die Regierung unter Konrad Adenauer mit ihrer Richtungsentscheidung für die Westintegration, für die Wiederbewaffnung und für den Beitritt zur NATO gegen den erbitterten Widerstand der Sozialdemokraten durchgesetzt hatte. Die Grünen gab es bei dieser Auseinandersetzung noch nicht. Aber es war auch eine große Leistung, daß Herbert Wehner, Helmut Schmidt und andere dann den Kurs der Sozialdemokratie korrigiert haben, damit in diesen wichtigen Grundfragen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik wieder die Chance für eine neue Gemeinsamkeit entstehen konnte. Deutschland wurde Mitglied einer Allianz, die sich in den letzten 50 Jahren als der stabilste Staatenverbund erwiesen hat. Daß unser Land heute nur noch von Freunden umgeben ist, wurde auch möglich, weil die Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Kohl zum NATO-Doppelbeschluß gestanden und damit eine gefährliche Erosion des Bündnisses vermieden hat. ({10}) Der NATO-Doppelbeschluß ist übrigens ein erfolgreiches Beispiel dafür, wie durch eine überzeugende Mischung von militärischem Druck sowie politischen Angeboten und Lösungsvorschlägen Krisen überwunden werden können, wenn diese Politik mit Ausdauer und Überzeugungskraft betrieben wird. Heute ist die Zahl der Nuklearwaffen in Europa um 90 Prozent und die der konventionellen Streitkräfte um 40 Prozent niedriger als zur Zeit des NATO-Doppelbeschlusses. Dies war möglich, weil wir in dieser schwierigen Situation zum Bündnis und seinen Beschlüssen gestanden haben. ({11}) Ich will keine Polemik betreiben; aber über die Geschichte darf man sprechen: ({12}) Rot und Grün waren damals auf der Straße, um diese Politik zu bekämpfen. ({13}) Ich halte fest: Es ist gut, daß wir uns durchgesetzt haben. ({14}) Wenn ich mir die jetzige Konstellation anschaue, Herr Bundeskanzler, dann habe ich eine Hoffnung und Bitte ich will nicht darüber spekulieren, wie die Verhältnisse wären und wer auf der Straße wäre, wenn es hier eine andere Regierung gäbe; ({15}) ich anerkenne die Leistung, die mit der Wahrung der Kontinuität der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik verbunden ist -: Wenn hier in der Regierung wieder einmal andere sitzen, ({16}) sollten diejenigen, die jetzt Verantwortung für die Außen- und Sicherheitspolitik dieses Landes tragen, nicht wieder auf die Straße gehen. ({17}) Wir haben schließlich dafür gesorgt, daß das wiedervereinigte Deutschland auch in der schwierigen Frage der militärischen Krisenbewältigung zu einem berechenbaren und zuverlässigen Bündnispartner wurde. Ich frage mich angesichts der jetzigen Situation manchmal, ob es nicht richtig ist, zu sagen: Wer in schwieriger Zeit zur NATO gestanden sowie wichtige und richtige Beschlüsse durchgesetzt hat, kann jetzt auch die Gelassenheit haben, zu sagen, was er tut und was er nicht tut. Genau so verhält sich die Union. Ich bin der Meinung, daß Zuverlässigkeit etwas sehr Wichtiges ist. Aber es darf nicht die einzige und überwiegende Eigenschaft sein, an der Deutschland gemessen wird. Wir müssen unser eigenes Gewicht einbringen. Deswegen finde ich es gut, daß von seiten der Union, aber auch der Freien Demokraten immer wieder ein klares Wort zu dem gesagt worden ist, was wir zum Beispiel im Zusammenhang mit einer drohenden militärischen Eskalation und einem Einsatz von Bodenkampftruppen machen werden und was wir nicht machen werden. Wir können dies tun, weil wir in schwieriger Situation immer wieder zum Bündnis gestanden haben. ({18}) Das, was ich in bezug auf das deutsche Gewicht festgestellt habe, gilt auch für die Ausgestaltung des neuen strategischen Konzepts der NATO. Gestalten kann man nur, wenn man die konzeptionelle Initiative hat und für die anderen Bündnismitglieder ein innovativer Gesprächspartner ist, der die sich herausbildende Politik von Anfang an mit vorantreibt. Wer seine Rolle darauf beschränken würde, schließlich einem Konsens beizutreten, hat seine gestalterischen Möglichkeiten eingeschränkt oder aufgegeben. Die NATO braucht ein strategisches Konzept, das die richtige Balance zwischen Bewahren und Erneuern findet. Natürlich muß die NATO die Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung bewahren. Daraus erwächst Stabilität auf dem Kontinent. Die Hauptaufgabe der NATO war also immer die Verteidigung oder Abschreckung gegenüber potentiellen Aggressoren. Das ist und bleibt der Kern des Washingtoner Vertrages. Zugleich muß sich die NATO zu einer Gemeinschaft verändern, die nicht nur ihr Territorium, sondern auch gemeinsame Interessen verteidigt, die für die Stabilität in und für Europa von Belang sind. Ich glaube, die beste Formel, die es gibt, ist noch immer die, in Europa und für Europa für Sicherheit zu sorgen. Der Feind von heute und morgen heißt Instabilität. Die Krisenherde auf dem Balkan, im Kaukasus, im Nahen Osten und in Nordafrika bergen Gefahren auch für uns in Europa. Das strategische Umfeld Europas im Auge zu behalten ist somit eine selbstverständliche Notwendigkeit. Wer aber deshalb die Allianz als weltweites Interventionsbündnis karikieren will, hat nichts von der Welt, in der wir leben, und von der Wahrnehmung unserer Interessen für die Sicherheit in und für Europa verstanden. Darum geht es. ({19}) Für die Übernahme größerer Verantwortung bei der Bewältigung von Krisen und Konflikten muß Europa handlungsfähiger werden. Solange Europa geteilt war, lag es nahe, daß sich die größte Energie nach innen richtete. Europas Beitrag zur kollektiven Sicherheit beVolker Rühe stand aber nicht nur in Truppen für die NATO. Eine besondere Leistung lag auch in seiner Fähigkeit zur Integration, weil mit ihr alte Konfliktmuster überwunden und zugleich Demokratie, Prosperität und Stabilität gefestigt wurden. Deswegen sage ich: Das gemeinsame Korps in Stettin von Deutschland, Polen und Dänemark, in dem die Soldaten dieser drei Länder integriert zusammenarbeiten, schafft mehr Frieden für Europa als manche quantitative Truppenzusammenstellung. Wenn wir überall in Europa ein Konzept wie das für das deutsch-niederländische Korps, das Eurokorps in Straßburg oder das Stettiner Korps durchsetzen könnten, dann müßten wir uns keine Sorgen um die Stabilität und Sicherheit in Europa machen; denn dann ist das Vertrauen gewachsen. ({20}) Europa muß aber als strategischer Partner noch stärker nach außen schauen. Ich stimme mit Ihnen überein, Herr Bundeskanzler, wir brauchen die Vereinigten Staaten von Amerika auch im 21. Jahrhundert in Europa. Sie werden aber nicht in Europa bleiben, wenn sie ein hilfloses Europa vorfinden. Es geht nicht nach dem Motto „Je schwächer wir sind, um so eher werden die Amerikaner in Europa bleiben“. Wir werden die Amerikaner im 21. Jahrhundert nur in Europa binden können, wenn wir ein gleichgewichtiger strategischer Partner sind. Das ist ganz wichtig. ({21}) Ich erinnere mich im übrigen an die Debatten über das Eurokorps, das Helmut Kohl zusammen mit François Mitterrand gegen viele Skeptiker durchgesetzt hat. Manche Nationen - die Engländer und Amerikaner - haben dazu gefragt: Vertreibt ihr nicht die Amerikaner aus Europa, wenn ihr europäische Strukturen aufbaut? Ich glaube, inzwischen hat jeder begriffen, daß das Gegenteil richtig ist. Nur wenn wir die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität stärken und Strukturen aufbauen, werden wir eine größere Rolle spielen können. Nur dann, wenn wir einmal eine Krise ohne die Amerikaner lösen können, sind wir ein wichtiger strategischer Partner und binden die Vereinigten Staaten auch in Zukunft in Europa. ({22}) Ich muß allerdings sagen, daß Europa auch allen Anlaß zur Selbstkritik hat. Ich will nicht darüber sprechen, wie man die Überlegungen zu einem Ölembargo oder die Tatsache, daß noch während des Bombenkriegs Öl geliefert worden ist, bewertet. ({23}) Dazu könnte ich manches sagen. Man muß sehr sorgfältig darüber nachdenken, ob es gerechtfertigt ist, das Leben von Soldaten zu gefährden, wenn man nicht in der Lage ist, so etwas vorher zu unterbinden. ({24}) Ich weiß, daß Klaus Kinkel als Außenminister noch vor einem Jahr einen Kampf über Monate hinweg geführt und gesagt hat: Bevor es um militärische Dinge geht, müssen wir wenigstens dafür sorgen, daß die Fluglinien unterbunden werden. - Viele der europäischen Partner, die heute Bomben werfen, waren aus ökonomischen Interessen nicht bereit, ihre Fluglinien nach Belgrad zu unterbinden. Das ist nicht in Ordnung, das ist kein einsdrucksvolles Verhalten der Europäer. ({25}) Für die neuen Mitglieder der NATO ist durch die Kosovo-Krise die Zeit der Bewährung schneller als erwartet gekommen. Man kann für die Beiträge, die dort geleistet werden, nur dankbar sein. Im Hinblick auf die Debatte in Tschechien möchte ich aber auch sagen: Die Situation in Tschechien ist hinsichtlich der öffentlichen Meinung schwierig. Das bestätigt all diejenigen, die gesagt haben: Bewertet neue Mitglieder nicht danach, wie modern ihre Panzer und Flugzeuge - haben sie amerikanische Flugzeuge oder die modernsten deutschen Panzer? - sind. Was sie in unser Bündnis einzubringen haben, ist vor allen Dingen eine öffentliche Meinung, die in Krisensituationen zur NATO steht. Wir sollten deswegen sehr vorsichtig darüber sprechen. Man kann erklären, warum es mit der öffentlichen Meinung in Tschechien so schwierig ist. Das sollte uns aber auch dazu führen, daß wir uns erneut auf die eigentlichen Stärken und Notwendigkeiten der NATO besinnen. Eine Flugzeug- oder Panzermodernisierung bei den neuen Mitgliedstaaten kann ruhig etwas warten. Was wir aber brauchen, ist das Stehen der öffentlichen Meinung auch in den neuen Beitrittsstaaten zur NATO in einer schwierigen, einer zugespitzten internationalen Situation. ({26}) Das Bündnis hat alle Instrumente, um handeln zu können. Aber Instrumente können eine weitsichtige und konsistente Politik mit klaren Zielen nicht ersetzen. Das zeigt auch die Kosovo-Krise. Es darf nicht dazu kommen, daß der NATO als Folge des Krisengeschehens nur noch der Zwang zum Handeln bleibt und die Initiative verlorengeht. Der Schlüssel zum Erfolg und damit zu Frieden und Stabilität liegt im zeitgerechten, entschiedenen Handeln. Zum richtigen Verständnis gleichberechtigter strategischer Partnerschaft zwischen Europa und Amerika gehört auch, darauf Einfluß zu nehmen und zugleich handlungsbereit zu sein, wenn es politisch geboten ist. Die deutsche Stimme hat ein ungeheures Gewicht, Herr Bundeskanzler. Ich persönlich hätte es zum Beispiel nicht unbedingt als Kompliment empfunden, wenn mir als Verteidigungsminister ständig gesagt worden wäre: Du bist aber wirklich zuverlässig. ({27}) - Das war jetzt wirklich nicht böse gemeint; das können Sie dem Duktus, glaube ich, entnehmen. Ich habe die öffentliche Meinung im Westen verfolgt. Jetzt kommt es darauf an, daß Deutschland zuverlässig zu den Entscheidungen steht und auch das unterstützt, was wir noch unter der Vorgängerregierung beschlossen haben. Es kommt aber auch darauf an, daß wir unser eigenes Gewicht einbringen - das ist größer als das von anderen -, damit Amerika, Europa und Rußland versuchen können, einen Weg aus dieser schwierigen Krise zu finden. Darum geht es in dieser Situation. Vielen Dank. ({28})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping das Wort.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon richtig: Die NATO ist die erfolgreichste politische und militärische Allianz, die wir kennen. Sie feiert ganz zu Recht ihren 50. Geburtstag. Genauso klar ist, daß dieser Gipfel in Washington von den Ereignissen im Kosovo überschattet wird. Folglich wird er auch nüchtern gehalten sein. Die Allianz ist in ihrer Substanz, auch in ihrem Selbstverständnis, selten so herausgefordert worden wie gerade in den Tagen, in denen sie ihren Geburtstag feiert. Sie ist politisch, sie ist militärisch, sie ist übrigens auch moralisch herausgefordert. Im übrigen macht genau dieser Konflikt deutlich, warum die NATO im heutigen und auch im künftigen Europa als Eckpfeiler von Frieden und Sicherheit unentbehrlich und unersetzlich ist. Die Allianz hat in den letzten Jahren sehr flexibel und politisch klug auf ein grundlegend verändertes sicherheitspolitisches Umfeld reagiert: Sie hat ihre Strukturen reformiert, sie hat die Zusammenarbeit mit anderen euro-atlantischen Institutionen intensiviert, sie hat sich für neue Mitglieder geöffnet, und sie hat die Kooperation mit neuen Partnern vorangetrieben. Aus dieser Entwicklung ist die NATO gestärkt hervorgegangen. Sie hat ihre Rolle als zentraler Stabilitätsanker in einem sich wandelnden Europa eindrücklich untermauert - auch angesichts neuer Herausforderungen und Risiken. Es ist also diese neue NATO, die sich zusammen mit ihren Partnern im früheren Jugoslawien für Frieden und für Sicherheit engagiert. Es zeigt sich auch in diesem Konflikt, daß keine andere Organisation so wie die NATO über Mechanismen zur politischen Konsultation, zur diplomatischen, aber auch zur militärischen Durchsetzung von Zielen verfügt, wenn andere Möglichkeiten nicht vorhanden sind und wenn man Krisen effektiv begegnen will. Keiner anderen Organisation in Europa ist es möglich, ein Regime wie das in Belgrad in die Schranken zu weisen. Keine andere Organisation verfügt - das haben die Erörterungen mit dem UNHCR sehr deutlich gemacht - über die Logistik und die Ressourcen, in kurzer Zeit Hunderttausende von Vertriebenen mit Unterkunft, Verpflegung und medizinischer Hilfe zu versorgen. Unbeschadet dieser Leistungsfähigkeit füge ich hinzu: Man sollte sich in Zukunft auch darauf konzentrieren, originäre Aufgaben anderer internationaler Institutionen ebenso ernst zu nehmen und diese in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu stärken. Das betrifft zum Beispiel die Vereinten Nationen. ({0}) Das ist ja auch der Grund dafür, weshalb die Bundesrepublik Deutschland in dieser Hinsicht an einer Stärkung der Vereinten Nationen interessiert ist. Es waren weitsichtige Staatsmänner, die die NATO in den ersten Stunden nach dem zweiten Weltkrieg konzipiert haben. Die zentralen Artikel des Washingtoner Vertrages spannen einen weiten Bogen vom Europa der unmittelbaren Nachkriegszeit bis in das 21. Jahrhundert. Das sollte, so hat der damalige kanadische Außenminister gesagt, mehr sein als ein altmodisches Militärbündnis. Auch wenn es in den ersten Jahrzehnten der NATO, jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung, primär um militärische Abwehr einer realen Bedrohung ging: Die NATO war nie - und sie wird es auch in Zukunft nie werden - ein Bündnis lediglich zur Abwehr einer militärischen Bedrohung. Ein solches Bündnis wäre ja mit dem Verschwinden dieser Bedrohung in sich selbst zusammengefallen. Nein, die NATO zeichnet ein höchst modernes und umfassendes Verständnis von Sicherheit aus. Das hat sie zusammengeführt, hat sie zusammengehalten und wird sie auch in Zukunft prägen. Wirtschaftlicher Aufschwung, innenpolitische Stabilität und äußere Sicherheit gehörten nicht nur in den Augen der Gründungsväter untrennbar zusammen. In diesem Sinne umfassende Sicherheitspolitik zu betreiben, das ist in der Vergangenheit hier und da dem einen oder anderen durchaus schwergefallen; es hat sich aber sehr bewährt. Regelmäßige und vertrauensvolle politische Konsultationen, ständiges Bemühen um Konsensfindung und vor allen Dingen das feste Fundament gemeinsamer Werte, ausgedrückt in den Vorstellungen von Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit - das hat im April 1949 die zwölf Nationen zusammengeführt, die die NATO gründeten, und das hält ihre 19 Mitglieder auch heute noch zusammen. Ich füge hinzu, daß wir in Deutschland der Atlantischen Allianz außerordentlich viel verdanken. Ich sage das - Bemerkungen des Kollegen Rühe aufgreifend - als Vertreter einer Partei, die sich mit dem Beitritt Deutschlands zur Allianz und mit dem deutschen Beitrag zur Allianz durchaus schwergetan hat. Aber, Herr Kollege Rühe, ich könnte jetzt mit leisem Spott hinzufügen: Man muß die Geschichte schon insgesamt betrachten; Sie haben nur über einen Teil geredet. Ich erinnere mich daran, daß, um mich höflich auszudrücken, auch „gewisse andere politische Kräfte“ mit Kooperation, Konsultation, Abbau von Spannungen, Gewaltverzicht und ökonomischer Zusammenarbeit - also den Elementen, die wir heute in einem großen Konsens als die geVolker Rühe meinsamen Eckpfeiler einer umfassenden Sicherheitspolitik begreifen - ihre Schwierigkeiten hatten, in einer eigenartigen Verbindung zwischen Albanien, Vatikan und CDU/CSU in Deutschland. ({1}) Dies, um auch diesen Teil der Geschichte noch in Erinnerung zu halten. Aber wie auch immer: Von heute aus betrachtet waren die Politik der Westintegration und die Ostpolitik am Ende doch zwei Seiten einer außerordentlichen erfolgreichen Medaille. Ich finde, wir sollten in Deutschland diesen Konsens nicht nur im historischen Rückblick, sondern auch für die Zukunft aufrechterhalten. ({2}) Um noch einmal die Weitsicht zu betonen: Es war der amerikanische Präsident Truman, der schon 1948, vor der Gründung der NATO, vehement für eine Perspektive der deutschen NATO-Mitgliedschaft plädiert hat. Die NATO ohne ein demokratisches und friedliches Deutschland konnten sich insbesondere auch unsere amerikanischen Freunde - nicht nur sie, aber insbesondere auch sie - auf Dauer gar nicht vorstellen. Wir in Deutschland jedenfalls sind anerkanntes Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft geworden, haben dabei Sicherheit, Souveränität, Gewicht, Ansehen und am Ende auch die Einheit gewonnen. Ich sage das im Zusammenhang mit einer historischen Parallele. Wir feiern in diesem Jahr ja nicht nur den 50. Geburtstag der NATO, sondern auch den 50. Geburtstag unserer eigenen Verfassung, die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und den zehnten Jahrestag des Falles der Mauer, des Wegfalls der alten Grenzen zwischen Ost und West, nicht nur in unserem Land. Wir wissen sehr genau, was wir, gerade mit Blick auf diese Ereignisse, der Nordatlantischen Allianz, aber auch der Europäischen Union, unseren Freunden und Partnern im Westen, unseren Partnern, auch unseren Freunden im Osten Europas zu verdanken haben. Also sind auch Frieden, Freiheit, Demokratie und Einheit in Deutschland selbst mit dem historischen Erfolg der Allianz verbunden. Die NATO hat Grund, stolz zu sein, wir auch. Nun reicht es aber nicht, die Erfolge der Vergangenheit zu würdigen. Also werden in Washington auch richtungsweisende Entscheidungen mit Blick auf die Herausforderungen, denen wir uns in Zukunft gegenübersehen, zu treffen sein. Das wird sich in dem neuen strategischen Konzept ausdrücken; mit ihm werden Auftrag und Selbstverständnis der Allianz bis weit ins nächste Jahrhundert festgelegt. Wir haben uns - ich weiß sehr genau, woher die Formulierung von Sicherheit und Stabilität in Europa und für Europa kommt - als Bundesregierung in diesen Prozeß intensiv und aktiv eingeschaltet. Es ging uns nicht nur um die militärischen Fähigkeiten der NATO, sondern auch darum, die Kooperation im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden auszubauen und auch auf veränderte Krisenursachen reagieren zu können. Es geht dabei nicht nur um Fragen, die mit der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu tun haben, sondern auch um andere. Ich will vier Punkte nennen. Erstens. Die kollektive Verteidigung und die transatlantische Bindung bleiben die unverzichtbaren Wesensmerkmale der Allianz. Gleichzeitig wird sie sich - wir haben versucht, das so gut wie irgend möglich voranzubringen - auch den neuen Aufgaben stellen, die sich im Zusammenhang mit Sicherheit und Stabilität im euro-atlantischen Raum ergeben: Partnerschaft und Kooperation, Konfliktverhütung und Krisenmanagement. Das wird im strategischen Konzept der NATO mit unserer vollen Unterstützung - übrigens auch mit unserer Initiative - einen entsprechenden Ausdruck finden. Dahinter steckt, daß wir zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden haben: Entweder warten wir, bis krisenhafte Entwicklungen mitsamt ihren Folgen bei uns angekommen sind, oder wir treten ihnen dort entgegen, wo sie entstehen. Die Linie der Bundesregierung ist klar: Krisenvorbeugung muß dort ansetzen, wo Krisen selbst entstehen, und dafür braucht man ein breites Spektrum politischer wie militärischer Reaktionsmöglichkeiten und die entsprechenden Fähigkeiten dazu. Deshalb ist es gut, daß im neuen strategischen Konzept Krisenprävention und Krisenmanagement einen viel höheren Stellenwert haben werden als in der Vergangenheit. Wir begrüßen und fördern das ebenso ausdrücklich wie die Kooperation mit anderen internationalen Organisationen. ({3}) Zweitens. Es gibt im Bündnis einen breiten Konsens darüber, daß NATO-Einsätze der internationalen Krisenbewältigung einer unbezweifelbaren Rechtsgrundlage bedürfen und in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen stehen müssen. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen. Ich ergänze das mit dem Hinweis, daß im neuen strategischen Konzept entgegen mancher Debatte in den letzten Monaten genau dies ausdrücklich verankert sein wird, nämlich daß die NATO ihr Handeln auf der Grundlage des Völkerrechts und in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen entwickeln wird. Wir werden gleichzeitig die Bereitschaft bekräftigen, Friedenseinsätze unter der Autorität der Vereinten Nationen oder in Verantwortung der OSZE durchzuführen; das wäre dieselbe unbezweifelbare völkerrechtliche Grundlage. Entwicklungen wie im Kosovo kommen hinzu. An der völkerrechtlichen Grundlage des Einsatzes der NATO besteht kein Zweifel; es besteht aber auch kein Zweifel - das haben wir ja hier im Hohen Hause schon einige Male erörtert -, daß wir uns in einem objektiven Zielkonflikt befinden, übrigens die Charta der Vereinten Nationen und das Völkerrecht auch. Denn wir sehen an einer Entwicklung wie im Kosovo - und nicht nur dort -, daß die Prinzipien, die die Charta und das Völkerrecht tragen, nämlich die Souveränität der Staaten und die Ächtung zum Beispiel von schwersten VerbreBundesminister Rudolf Scharping chen gegen die Menschlichkeit, in einen Konflikt miteinander geraten können, jedenfalls dann, wenn in einem Staat entsprechende Vorgänge - Mord, Massenmord, Vertreibung, am Ende Völkermord - stattfinden. Drittens. Die NATO wird verdeutlichen, daß Europa mehr Verantwortung übernimmt, und Europa wird klarmachen, daß es dazu willens und fähig ist. Das Problem, wenn es überhaupt eines innerhalb der NATO gibt, ist ja nicht die amerikanische Stärke, sondern die europäische Schwäche hinsichtlich neuer Herausforderungen und der ihnen adäquaten Handlungsmöglichkeiten. Also wollen wir die europäischen Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten stärken, und zwar in doppelter Hinsicht: erstens innerhalb der Allianz selbst - das sind Fragen, die zwischen NATO und WEU vereinbart werden - und zweitens, indem wir die europäische Handlungsfähigkeit im Rahmen der Europäischen Union verstärken. Für Deutschland ist eine solche Entwicklung eigentlich nicht schwer nachzuvollziehen. Die Bundesrepublik Deutschland hat neun Nachbarn. Mit sieben von ihnen sind wir in einem gemeinsamen militärischen Bündnis verbunden - nicht mit der Schweiz, nicht mit Österreich, wie wir wissen. Mit sechs von diesen sieben NATOPartnern und Freunden haben wir mittlerweile multinationale Verbände oder Einheiten oder werden sie in Kürze haben. Der einzige Nachbar, mit dem wir solche Verbindungen nicht haben, ist die Tschechische Republik. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich sagen, daß wir hoffen, daß sich das in möglichst naher Zukunft bitte auch ändern möge, damit wir mit allen unseren Nachbarn multinationale Einrichtungen, Verbände und Verbindungen haben. ({4}) Meine Damen und Herren, völlig zu Recht erwarten unsere amerikanischen Freunde, daß Europa solidarisch einen größeren Teil der gemeinsamen Lasten übernimmt, und zwar insbesondere dort, wo europäische Interessen und Verantwortlichkeiten zuallererst berührt sind. Der Aufbau eines europäischen Pfeilers innerhalb der NATO wird seit langem gefordert. Er hat auch viel Zeit erfordert. Aber jedenfalls halte ich für unbestreitbar, daß Europa ohne Verdopplung von Institutionen oder Strukturen in einer ausgewogeneren transatlantischen Partnerschaft mehr Gewicht erhalten soll und muß, ganz konkret und auch sehr praktisch. Das hat dann übrigens eine vierte Auswirkung: Das Bündnis wird ja im Rahmen der Überprüfung seines strategischen Konzeptes auch die Richtlinien für die Streitkräfte anpassen und die militärischen Fähigkeiten mit Blick auf ein erweitertes Aufgabenspektrum optimieren. Wir sehen im Zusammenhang mit dem Kosovo im früheren Jugoslawien, daß multinationale Krisenbewältigung veränderte und höchste Anforderungen an Personal und an Material stellt. Bestimmte Schlüsselfähigkeiten - in einer fast militärisch-technokratischen Sprache würde man sie Mobilität, Verlegungsfähigkeit, Durchhaltefähigkeit, Nachhaltigkeit eines Einsatzes nennen - gewinnen entscheidende Bedeutung. Wer eine schnelle und effektive Reaktion auf Krisen will, muß sich solchen Schlüsselfähigkeiten und ihrer Entwicklung zuwenden. Das neue strategische Konzept und seine Vorgaben für die Bündnisstreitkräfte sowie entsprechende Gipfelinitiativen werden jedenfalls die entscheidende Orientierungslinie auch für die Arbeit der Kommission zur gemeinsamen Sicherheit und zur Zukunft der Bundeswehr sein. Diese Kommission wird unmittelbar nach dem Gipfel in Washington ihre Arbeit am 3. Mai aufnehmen. Allein der Termin, aber viel mehr als dieser Termin, soll deutlich machen, daß Deutschland auch in Zukunft auf eine enge zeitliche und inhaltliche Verzahnung von NATO-Entwicklung und der Entwicklung der eigenen Streitkräfte entscheidenden Wert legt. Ulrich de Maizière, der frühere Generalinspekteur, hat 1982 gesagt: „Eine Armee, die glaubt, fertig zu sein, ist bereits veraltet.“ Das galt damals, und das gilt auch heute. Jedenfalls lehren uns diese Wochen, wie wichtig es ist, über moderne, flexible und einsatzfähige Streitkräfte zu verfügen. Aber - da stimme ich dem Kollegen Rühe ausdrücklich zu - auch die im technischen Sinne modernste Armee ist nichts wert, wenn in ihr nicht gleichzeitig von dem Auftrag für Frieden, Freiheit und Menschenrechte überzeugte Soldatinnen und Soldaten motiviert und leistungsfähig ihren Dienst leisten. Das sollten wir ausdrücklich anerkennen. ({5}) Meine Damen und Herren, ich will kurz resümieren: Das Bündnis war in den letzten 50 Jahren die wichtigste Grundlage für unsere, die Freiheit und Sicherheit der Deutschen und der Europäer. Die NATO wird auch in den nächsten Jahrzehnten die wichtigste Grundlage für eine sichere, freiheitliche und stabile Entwicklung in Europa sein, soweit es um die Herausforderungen an unsere Sicherheit geht. Sie wird zunehmend stärker auf eine enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und den anderen internationalen Institutionen angewiesen sein, und sie wird das in eigener Kompetenz und durch Zusammenarbeit mit anderen Staaten oder internationalen Institutionen leisten können, und zwar auf der Grundlage unveränderter gemeinsamer Werte, auf der Grundlage auch gemeinsamer Interessen und im Rahmen einer festen transatlantischen Partnerschaft, die ja Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks verbindet, die auf der Welt eine hohe Bedeutung haben, nicht von der Zahl ihrer Bevölkerung her, aber von ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Freiheit und von ihren festen demokratischen Grundlagen her. Mit der Stärkung der NATO wird immer die Stärkung dieser Grundlagen verbunden sein; denn die militärischen, die sicherheitspolitischen Belange sind nicht von den freiheitlichen und stabilen demokratischen Grundlagen zu trennen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Fraktionsvorsitzenden der F.D.P., dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, das Wort.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Vorabend der Vertragsunterzeichnung des Nordatlantikpaktes, am 3. April 1949, hatte der amerikanische Präsident Truman die Außenminister Kanadas und Westeuropas zu sich gebeten und ihnen eindringlich erklärt, daß jede alliierte Politik, die dem deutschen Wiederaufbau keinen hinreichenden Spielraum lasse, diese Nation in die Arme der UdSSR treiben könne, und zu einer Politik ermutigt, die den deutschen wirtschaftlichen Wiederaufbau möglich macht, die Entwicklung demokratischer Institutionen beschleunigt und die alten - so will ich es jetzt ausdrükken - sowjetischen Absichten aktiv bekämpft. Am nächsten Tag wurde dieser Vertrag von 12 Gründungsstaaten unterzeichnet. Freiheit, gemeinsames Erbe, Zivilisation, Grundsätze der Demokratie, Freiheit der Person, Herrschaft des Rechts - das waren die Grundzüge, auch die Entschlossenheit, sich für diese einzusetzen. Ich erwähne dies, weil - im wahrsten Sinne des Wortes - am Vorabend deutlich geworden ist, was das Bündnis für uns bedeutet. Dieses Bündnis hat eine gewaltige erzieherische Wirkung auf billigen Nationalismus gehabt. Es hat eine Renationalisierung der Sicherheits- und Außenpolitik verhindert und damit den Grundstein für unsere heutigen Chancen gelegt. ({0}) Das bedeutet für uns Deutsche mehr als für manch anderen europäischen Nachbarn; denn durch dieses Bündnis ist aus unserem Land, einem Land der Geschlagenen, wieder ein Land mit Gewicht und Vertrauen geworden. Wir unterschätzen das heute. Im übrigen erfolgte mit diesem Bündnis die deutsche Vereinigung. Es ist bemerkenswert, daß die deutsche Vereinigung im wesentlichen im Zeichen dieses Bündnisses, der europäischen und internationalen Orientierung Deutschlands, vor sich gegangen ist, auch im Zeichen des Grundgesetzes. Der tiefste Bruch im Osten wurde mit der höchsten Beständigkeit im Westen verbunden. Das ist sehr bedeutsam. Vorhin hat der Kollege Rühe die Frage gestellt - darauf darf man in einer solchen Debatte ruhig rekurrieren -, wer in bestimmten Phasen auf der Straße war und auf der Straße sein würde. Wer so redet, wie wir es heute alle getan haben - das sage ich an alle politischen Grundrichtungen gewandt -, der kann eigentlich für nichts anderes auf die Straße gehen als für die zutiefst historische Erkenntnis, daß mit diesem Bündnis unsere Werteordnung konstituiert und gesichert worden ist. ({1}) Allen, die das in Zweifel ziehen, müssen wir entgegentreten. Es geht nicht um die Bündnis- und Außenpolitik Deutschlands; das ist für uns Staatsräson. Daran hat sich nach der Vereinigung unseres Landes nichts geändert. Das Bündnis hat im übrigen Beständigkeit im Wandel bewiesen. Auf dem Gipfel von Rom im Jahr 1991 wurde quasi eine neue NATO proklamiert. Alle Staaten waren sich völlig im klaren, daß die Strukturen des Bündnisses geändert werden müssen, daß ein EuroAtlantischer Partnerschaftsrat auf den Weg gebracht werden muß, daß das Prinzip der kooperativen Sicherheit hinzugefügt werden muß, daß es einen NATORußland-Rat, eine NATO-Ukraine-Kommission, eine „Charta über eine besondere Partnerschaft“ geben muß. Jedem ist dies klar. Wir müssen die Anstrengung unternehmen - alle Abgeordnete aus allen Fraktionen -, der nachfolgenden jungen Generation deutlich zu machen, daß dies ein unverzichtbarer Pfeiler der deutschen Politik ist; er ist unverrückbar. ({2}) Polen, die Tschechische Republik, Ungarn - Länder, die sich nach Sicherheit gesehnt haben und die keinen Rückfall mehr wollten, sind heute unsere Partner. Wahr ist aber auch: Heute, im Jubiläumsjahr, befindet sich das Bündnis ganz eindeutig in der schwierigsten Phase, seit es besteht. Es ist auch wahr, daß dann, wenn wir scheiterten, nicht nur die Glaubwürdigkeit der NATO verloren wäre, sondern auch die Folgen für die gesamte globale Stabilität unübersehbar wären. Es geht jetzt um mehr als nur um eine regional begrenzte Problemlösung, die schon längst nicht mehr den Erfordernissen gerecht wird. Es geht um eine schwere Prüfung der NATO. Die NATO muß sich im wahrsten Sinne des Wortes vergewissern. Freiheit und andere zivilisatorisch unverzichtbare Errungenschaften sind zweifelsfrei Grundwerte, die sie verteidigen muß. Die humanitäre Hilfe und das Abwehren einer humanitären Katastrophe sind die Ziele, die jedermann klar vor Augen hat. Die Mittel, die dafür eingesetzt werden, sind die der Ultima ratio. Über ihren Einsatz wird nach langen Verhandlungen und nach offenen Diskussionen in demokratischen Gesellschaften entschieden. Aber man muß auch offen ansprechen: Wer sich selbst vergewissern will, wer die Notwendigkeiten zum Handeln sieht, wer weiß, daß im Falle des Nichthandelns die Folgen für die globale Stabilität und auch für die amerikanische Führungsmacht unabsehbar wären, der darf keinen Moment daran zweifeln - to whom it may concern -, im Rahmen des Selbstvergewisserungsprozesses den Partnern in der NATO und der EU mitzuteilen, daß über solche Einsätze nicht nur fünf Minuten debattiert werden kann. Man muß auch klarmachen, daß ein umfassendes Handelsembargo notwendig ist, wenn man Soldaten in einen Krieg schickt, und daß es unvertretbar ist, mit dem Hinweis auf ökonomische Interessen gleichzeitig weiterhin Öl zu liefern. Die Bundesregierung muß das mit aller Emotionalität auch sagen dürfen. ({3}) Kein NATO-Mitgliedsland kann rechtfertigen, Güter außerhalb der humanitären und medizinischen Erfordernisse nach Jugoslawien zu liefern, die den Zielen, für die die NATO eintritt, nämlich die Verhinderung einer humanitären Katastrophe, zuwiderlaufen. Es ist für uns unbestreitbar, daß die westliche Führungsmacht, die Vereinigten Staaten, nicht nur für die heutige demokratische Stabilität, sondern auch für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes viel getan hat. Für die Freien Demokraten muß ich das nicht wiederholen. Uns ist völlig klar, daß die Führungsmacht der Vereinigten Staaten - dies haben nahezu alle Krisen gezeigt; auch wenn es manchmal Fehleinschätzungen der amerikanischen Administration gab - notwendig ist und ihre Präsenz in Europa unverzichtbar ist. Das liegt im übrigen auch im Interesse der amerikanischen Gesellschaft. Je weiter man dort in den mittleren Westen kommt, desto geringer sind die Kenntnisse über die europäische Situation. Die Präsenz der Vereinigten Staaten und ihrer Gesellschaft in Europa durch Soldaten ist auch deshalb erforderlich, damit sich die Amerikaner immer selber ein Bild über Europa machen können und nicht nur auf die Informationen der Zeitungen an der Ostküste angewiesen sind. Es geht also um viel mehr als nur um die Präsenz von Soldaten. Aber - auch das sei gesagt - es kann keinen Automatismus beim Einsatz militärischer Mittel geben, den die NATO in Gang setzt, nur weil ihn die amerikanische Führungsmacht für notwendig erachtet. Militärische Mittel müssen im Konsens der gesamten NATOGemeinschaft eingesetzt werden, nicht durch Automatismen, die die Administration des größten Bündnispartners irgendwann auslösen kann. Damit muß auch die parlamentarische Mandatierung klar sein, und zwar im engeren Sinne als bei vielen anderen Fragen, die wir hier erörtern. Das geschieht nicht auf Grund eines grundsätzlichen Mißtrauens, sondern aus der Verantwortung für die deutschen Soldaten heraus. Die Mandatierung sollte im übrigen auch für humanitäre Einsätze vorgeschrieben werden, damit die Soldaten und ihre Familien immer die Sicherheit haben, daß das deutsche Parlament den Einsatz für richtig hält. Vorsichtig zu sein ist politisch besser. ({4}) Nach Meldungen, die heute morgen über den Ticker kamen, berichtet die „Washington Post“, Generalsekretär Solana habe gefordert, daß sämtliche Optionen auf dem Tisch liegen müßten, bevor man über den Einsatz von Bodentruppen im Kosovo entscheiden könne. Sämtliche Optionen liegen immer auf dem Tisch. Aber es darf trotzdem kein Automatismus entstehen: Das Parlament der Bundesrepublik darf nicht mit der Begründung, daß sämtliche Optionen auf dem Tisch gelegen hätten, in eine Entscheidungssituation kommen, in der es über eine bestimmte Option gar nicht mehr beschließen könnte. Ich lege Wert darauf, daß die Parlamente der Mitgliedstaaten der NATO Optionen legitimieren, niemand anders. Optionen dürfen nicht durch einen Automatismus in irgendwelchen Stäben zu Beschlüssen werden. ({5}) Wir alle wissen - der Bundeskanzler, der Verteidigungsminister und der Kollege Rühe haben es ausgedrückt -, daß ohne Rußland eine politische Lösung des Kosovo-Konflikts nicht zu erreichen sein wird. Wenn wir den Vorabend der NATO-Gründung, den 3. April 1949, betrachten, als es darum ging, Deutschland nicht in die Arme der UdSSR zu treiben, dann sehen wir deutliche Unterschiede zum Jubiläumsjahr. Die alte Frage hat sich aufgelöst. Die Frage an die NATO heißt heute, ob sie in Kenntnis des Erfordernisses einer politischen Lösung nach zwischenzeitlichem Einsatz militärischer Mittel zu einer Initiative findet, die Rußland ein Stück Handlungsspielraum gibt, so daß es zur Problemlösung beitragen kann. Wir müssen daran ein großes Interesse haben; an einer Sicherheitspartnerschaft mit Rußland - das macht das Jubiläumsjahr überdeutlich führt kein Weg vorbei. Das wird nicht allein die NATO erreichen können. Dazu brauchen wir ein Zusammenspiel aller euroatlantischen Institutionen. Die deutsche Ratspräsidentschaft - der Bundeskanzler drückte es in der Regierungserklärung aus - weiß das. Sie ist sich dieser Aufgabenstellung bewußt. Ich muß allerdings auch mit Blick auf die letzte Debatte feststellen, daß mir die aktiven Schritte nicht so recht deutlich werden, nachdem in vielen Zeitungen der Fischer-Plan publiziert worden war. Rückblickend auf die Debatte in der letzten Plenarwoche hatte ich den Eindruck, jetzt bespricht der Bundeskanzler die Vorschläge des Bundesaußenministers mit den europäischen Regierungschefs. Zu meiner Verwunderung ist das dort aber anscheinend nicht erörtert worden. Es gab lediglich die sehr zurückhaltende Erklärung der NATO, es handele sich um einen Diskussionsvorschlag, über den noch nicht gesprochen worden sei. Auch die amerikanische Seite erklärte sich, soweit man es den Zeitungen entnehmen konnte, äußerst zurückhaltend zu einem Diskussionsbeitrag, der in der westdeutschen Blätterlandschaft hingegen als von Kofi Annan abgesegnet - das meine ich jetzt gar nicht abträglich - dargestellt wurde. Ich hatte den Eindruck, Grundlage des Fischer-Plans sei mindestens ein Kabinettsbeschluß. Der Bundeskanzler erklärte aber, es sei ein begrüßenswerter Vorstoß des Außenministers. Das soll mir nun alles recht sein, nur möchte ich endlich einmal wissen, wann sozusagen Butter bei die Fische kommt. ({6}) Wie will die Bundesregierung damit jetzt weiter umgehen? Wenn Sie morgen zu dem Jubiläumstreffen reisen, kann hinterher nicht wieder eine Erklärung abgegeben werden, wie wir sie nach dem Treffen der europäischen Regierungschefs entgegennehmen mußten: Es ist nicht besprochen worden. Gerade weil zwischen uns und der amerikanischen Führungsmacht überhaupt keine Zweifel an der beiderseitigen Zuverlässigkeit auftreten, ist es unser legitimes Recht als NATO-Mitgliedsland, das die EU-Ratspräsidentschaft in dieser schwierigen Situation mit einsetzen kann, der amerikanischen Führungsmacht und den anderen NATO-Verbündeten mit aller Kraft deutlich zu machen, daß sich nach unserer Überzeugung jetzt folgende Fragen stellen: Was geschieht außerhalb der täglichen Briefings? Welche politischen Lösungen stellt man sich am Ende auch nach einer Einbindung Rußlands vor? Wie beurteilt man die heutigen Chancen, politische Lösungen zu erreichen? Wie konkret werden Konzepte, die über einen Waffenstillstand hinausreichen, mit anderen weiter erörtert? Es muß ja jedermann folgendes klar sein: Je länger militärische Aktionen andauern, desto notwendiger wird es, dann auch wieder vornehmlich politisch zu agieren. Dafür genügt mir die Publikation der FischerVorschläge in deutschen Zeitungen allein nicht. ({7}) Ich will etwas über die späteren politischen Verhandlungen erfahren. Das sage ich nicht als Vorwurf, sondern deswegen, weil ich nicht so viele Gespräche mit namhaften Staatsmännern führen kann, wie es der Bundeskanzler und der Außenminister tun; ich sage nur, daß es mir nicht deutlich wird. Es gehört gerade zum Charakterbild des Bündnisses, zwar ein kollektives Sicherheitsbündnis zu sein, aber immer die militärischen Mittel als Ultima ratio zu sehen und in erster Linie über Instrumente zu verfügen, die es dem Bündnis erlauben, zu politischen Problemlösungen zu kommen. ({8}) Dieser Charakter des Sicherheitsbündnisses muß jetzt ausgefüllt werden. Das Bündnis muß seine Fähigkeit unter Beweis stellen, wieder mehr zu politischen Problemlösungen zu kommen. Wir streiten hier nicht darüber, ob meine Aufforderung an Sie, Ihre Position bezüglich politischer Problemlösungen mehr in Verhandlungen als auf Pressekonferenzen deutlich zu machen, unbillig ist, nur weil ich Ihnen nicht zutrauen würde, daß Sie nicht die gleiche Blickrichtung haben. Über diesen Punkt streiten wir hier nicht. Ich bin überzeugt, daß auch Sie am Ende die Notwendigkeit politischer Problemlösungen sehen. ({9}) - Auch in einer solchen Debatte darf die Opposition deutlich machen, daß ihr die Publikation des Plans nicht reicht, wenn sich dahinter nicht festgefügte Verhandlungspositionen verbergen. ({10}) Wir sollten in diesen Diskussionen nicht den Eindruck erwecken, als seien die anderen sozusagen die Päpste, aber wir dürften uns nicht kritisch zu Ihren Vorschlägen äußern. Überhaupt können Sie von Glück sprechen, daß Sie es mit einer solchen Opposition zu tun haben! Das will ich einmal deutlich sagen. ({11}) Ich will, daß sich in der jetzigen Situation der deutsche Beitrag nicht auf die innenpolitische Bedeutung beschränkt, nämlich den einen Koalitionspartner bei der Stange zu halten. Ich will, daß der Vorschlag in den entsprechenden NATO-Gremien mit der vollen Unterstützung der gesamten Bundesregierung vorangetrieben wird. Das ist der entscheidende Punkt, der beachtet werden muß. ({12}) Ich will die Fraktion der SPD ansprechen: ({13}) Sie könnten mit verschiedenen Abschnitten der frühen Nachkriegspolitik der Bundesrepublik Deutschland, auch wenn wir damals über verschiedene Punkte streitig diskutiert haben, durchaus Ihren parteipolitischen Frieden machen. Heute muß jeder anerkennen, daß der erste Schritt der Nachkriegspolitik unter Konrad Adenauer nicht falsch, sondern unverzichtbar notwendig und richtig war. Umgekehrt könnten viele aus der Union mehr oder weniger leichten Herzens sagen: Ja, wir sind nicht gerne aus der Regierung ausgeschieden, aber wir müssen zugeben, es war wohl richtig, daß die Regierung unter Brandt und Scheel Schritte in Richtung Osteuropa unternommen hat, um so dem deutschen Volk über die Tabuschwelle der Oder-Neiße-Linie hinwegzuhelfen. ({14}) Heute müßten die Grünen eigentlich sagen: Das Eintreten für die Ziele, für die wir während der Entstehung der grünen Bewegung auf die Straße gegangen sind, hat darunter gelitten, daß die Stabilitätsgesichtspunkte der Nachkriegsgeschichte und die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland nicht beachtet wurden; unser Blick war nicht durch die tiefen Erkenntnisse aus der deutschen Geschichte geprägt, die sich nie mehr wiederholen darf. Wir haben heute die Chance, die von mir skizzierte Politik umzusetzen. Deshalb sind wir selbstbewußt genug, die Bundesregierung aufzufordern, im Rahmen dieses Konsens nachdrücklich auf eine konzeptionelle Lösung zu drängen und keine Hemmungen zu haben, entsprechende Vorschläge unseren NATO-Partnern zu unterbreiten. Als gleichberechtigter Partner in einem Bündnis müssen wir der amerikanischen Führungsmacht vorgreiflich deutlich machen, daß es für uns bei allen strategischen Überlegungen keinen Automatismus geben kann, weil die deutsche Nation, die militärische Entscheidungen im Hinblick auf diese Region mittragen muß, die Geschichte anders zu bewerten hat, als dies unter kühlen administrativen Gesichtspunkten der Fall ist. Dies muß vorgreiflich gesagt werden, damit wir nicht irgendwann von Vorschlägen militärischer Stäbe überrascht werden, die wir dann politisch nicht mehr diskutieren können. Darum geht es uns. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Bundesaußenminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Folgt man der heutigen Debatte, so muß man feststellen, daß Parlamentsdebatten für die Geschichtsschreibung nur bedingt tauglich sind. Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß Parlamentsdebatten im wesentlichen interessengeleitet sind. ({0}) - Ich komme auf die verschiedenen Aussagen zurück, Herr Kollege Glos. Sie sollten es aber eher als eine positive Entwicklung begreifen, daß ehemalige NATOGegner oder NATO-Kritiker heute NATO-Generalsekretär bzw. Bundesaußenminister sind. Dazu haben Sie durch den Gang in die Opposition ja Erhebliches beigetragen. ({1}) Ich komme jetzt gar nicht aus parteipolitischen Gründen auf die Geschichte zurück, sondern möchte auf ein Element des Widerspruchs in der europäischen Sicherheitspolitik hinweisen, das seit der Gründung der NATO die ganze Nachkriegszeit hindurch bis in die Gegenwart hinein - konstitutiv ist. Das ist ein Widerspruchselement, das man gerade am heutigen Tag nicht ignorieren sollte, wenn man über die zukünftige Politik der NATO und über die zukünftige Sicherheits- und Außenpolitik in Europa spricht. Der erste Generalsekretär der NATO, Lord Ismay, hat das Gründungsprogramm der NATO in einem sehr einprägsamen Satz zusammengefaßt. Lord Ismay sagte damals, Zweck der NATO sei es, „to keep the Americans in, the Russians out and the Germans down“. Das heißt, der Zweck sei es, nach dem zweiten Weltkrieg die Amerikaner in Europa zu halten, die Russen draußen zu halten und die Deutschen unten zu halten. Dieses Programm galt bis zum Ende des kalten Krieges. Was Sie heute vergessen haben zu erwähnen, ist die Tatsache, daß Deutschland zu Beginn gar nicht in der NATO war. Das hatte nicht nur damit zu tun, daß die NATO den ehemaligen Kriegsgegner und Feind Deutschland noch nicht wollte, sondern vor allen Dingen damit, daß es ursprünglich einen Widerspruch zwischen der anglo-britischen Gründung der NATO und dem deutsch-französischen Versuch der Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gab. Dieser Widerspruch zwischen der Bindung Deutschlands - von seinem Sicherheitsinteresse her - an die transatlantische Achse und der gleichzeitigen Bindung Deutschlands - vom seinem europäischen Interesse her - an die deutsch-französische Achse ist bis heute ein konstitutives Element geblieben und macht die sicherheitspolitische Orientierung der Bundesrepublik über alle Regierungen hinaus aus. Diesen Widerspruch in eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Außenpolitik und in eine Stärkung der europäischen Säule innerhalb der NATO aufzulösen wird demnach die entscheidende Herausforderung der kommenden Jahre sein. ({2}) Herr Rühe, ich verstehe ja, daß Sie bundesrepublikanische Geschichte als Parteigeschichte darstellen. ({3}) - Die Union hat viele Gründe, das zu verknüpfen; das ist jetzt wirklich nicht polemisch gemeint. - Sie hätten aber einige Punkte hinzufügen müssen: Alle hier sitzenden Parteien haben, wenn man die bundesrepublikanische Geschichte insgesamt anschaut, ihre innerparteiliche Entwicklung gegen die Entwicklung dieser Geschichte gesetzt. Sie haben die ganzen zehn Jahre der Ostpolitik nicht erwähnt und auch nicht die Tatsache, daß diese Politik entscheidend zur Herausbildung des europäischen Sicherheitssystems beigetragen hat. ({4}) Diese Ostpolitik war konstitutiv. Daß Sie die Änderung der Politik der Union, nachdem sie 1982 wieder an die Regierung gekommen ist und diesen ganzen Kurs hintangestellt hat, und daß Sie die Debatten um den Atomwaffensperrvertrag - „intergalaktisches Versailles“ hieß es damals - nicht erwähnen, verstehe ich. Wenn man aber die Geschichte bemüht, dann sollte man sie der Wahrhaftigkeit halber als Ganzes erwähnen und dann muß man dies alles hinzufügen. Denn das sind konstitutive Elemente: Ohne die Ostpolitik und ohne die Entspannungspolitik hätte es den ganzen Prozeß hin zu Gorbatschow und letztlich auch den Prozeß hin zur deutschen Einheit nicht gegeben. Das wissen Sie ganz genau. ({5}) Das ist aber nur eine Anmerkung, denn ich stimme allen Rednern zu: Die europäische Sicherheit wird in der Tat ganz entscheidend durch die Anwesenheit der USA geprägt. Der Dreiteiler von Lord Ismay - die Amerikaner drin, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten - gilt heute nicht mehr. Wenn wir über das transatlantische Sicherheitsbündnis sprechen, müssen wir über die konstitutiven Bedingungen der Zukunft reden. Dabei gibt es ein gemeinsames Interesse: Ich behaupte, in einem sich vereinigenden Europa - und wenn man vorausschaut, selbst dann, wenn Europa eines Tages als politisches Subjekt tatsächlich vereinigt ist wird es sicherheitspolitisch gesehen notwendig sein, daß die USA dauerhaft in Europa präsent bleiben. Wir befinden uns nicht in einer insularen Lage. So richtig und wichtig es ist, zu erkennen, daß europäische Sicherheit von Rußland abhängt, so ist es noch um ein Vielfaches wichtiger zu erkennen, daß wir den transatlantischen Brückenbogen auf Dauer sicherstellen müssen, weil europäische Sicherheit ohne die USA schlechterdings nicht herstellbar ist. ({6}) - Das ist nicht die Rede für den 13. Mai, sondern das ist meine Überzeugung. Das zeigt einmal wieder, mein Lieber, wie doch der außenpolitische Nachwuchs Ihrer Fraktion noch bemüht ist, die parteipolitischen Eierschalen abzustreifen; das muß ich Ihnen ehrlich sagen. ({7}) - Das hat doch nichts mit Arroganz zu tun. Der Zwischenruf paßt an der Stelle einfach nicht; geben Sie es doch zu. Wir diskutieren hier über die zukünftige europäische Sicherheitsarchitektur. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir eine Sicherheitsarchitektur entlang von drei Bögen brauchen. Wir brauchen das sich vereinigende Europa, das als politisches Subjekt hergestellt wird. Ich unterstütze in diesem Zusammenhang nachdrücklich alle, die gesagt haben, daß die europäische Säule gestärkt werden muß. Gerade der Kosovo-Konflikt macht doch klar - ich möchte das aufnehmen, was verschiedene Vorredner gesagt haben -, daß es vor allen Dingen auch um das politische Gewicht der Europäer im Bündnis geht, das heißt darum, inwieweit wir unsere eigenen politischen Interessen im Bündnis zum Tragen bringen können. Es müssen doch aber auch alle diejenigen, die eine neue Vorstellung von der NATO hatten - die die NATO sozusagen als neue Plattform unter Hintanstellung anderer Plattformen, wie etwa der der Vereinten Nationen -, begreifen, daß eine politische Lösung im Kosovo - ich hoffe sehr, daß es eine solche Lösung gibt - ohne Rußland nicht herstellbar ist, daß wir diesen zweiten Sicherheitsbogen, nämlich die Einbindung Rußlands in die europäische Sicherheit im Bündnis über die Kooperation zwischen NATO und Rußland, aber auch über die Kooperation zwischen EU und Rußland brauchen, daß eine politische Lösung, wenn es zu massiven Konflikten oder sogar zum Krieg gekommen ist, nur mit Rußland möglich ist. Das ist eine klare Absage an diejenigen, die in den vergangenen Jahren der Überzeugung gewesen sind, man könne dies allein auf NATO-Plattform machen. ({8}) Bei dem Krieg im Kosovo - ich möchte dies nochmals hervorheben -, geht es nicht nur um Moral und nicht nur um die schwerste Mißachtung der Menschenrechte, sondern im Kosovo geht es vor allem um die Frage, in welchem Europa der Zukunft wir leben wollen. Dort geht es um europäische Sicherheit. Die vergangenen Wochen haben intensive Konsultationen auch und gerade mit den Nachbarstaaten mit sich gebracht. In vielen Kommentaren wird gegenwärtig das 19. und frühe 20. Jahrhundert beschworen, wird auf die hegemonialen Eingriffe der europäischen Großmächte in das auseinanderbrechende Osmanische Reich Bezug genommen. Das alles ist heute nicht mehr die politische Realität. Wo gibt es einen hegemonialen Anspruch welcher Macht im Kosovo? Gibt es einen europäischen hegemonialen Anspruch oder einen transatlantischen oder amerikanischen hegemonialen Anspruch? Nichts dergleichen ist der Fall. Wenn ich mir anschaue, was die Nachbarländer dort wollen, so muß ich sagen: Sie wollen zur EU, und sie wollen Sicherheit in der NATO. Albanien, Mazedonien, Kroatien, Slowenien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, alle diese Länder wollen in das Europa der Integration. Das ist der entscheidende Punkt. Milosevic steht hier gegen das Europa der Integration. Er vertritt eine Politik des extremen Nationalismus, eine Politik der Gewalt und der Vergangenheit. Wenn man ihn machen läßt, dann wird das Europa der Integration in dieser Region dauerhaft gefährdet. Das ist neben den Menschenrechtsprinzipien, neben unseren Grundwerten der entscheidende Punkt dafür, warum Milosevic so nicht weitermachen kann und darf. ({9}) Ich füge an dieser Stelle hinzu: Es wird von entscheidender Bedeutung sein, daß wir eine politische Lösung finden. Herr Kollege Gerhardt - ich möchte Sie direkt ansprechen -, da machen Sie sich nur keine Sorgen. Es geht hier nicht darum, daß irgend etwas in die Zeitungen gebracht wird. In den Zeitungen wird heute alles diskutiert. Vielmehr sage ich Ihnen: Wir haben dieses Konzept gerade auf der außerordentlichen NATO-Ratstagung mit allen unseren wichtigen Bündnispartnern ausführlich diskutiert. Seitdem spielt dies in den ständigen Telefonkonferenzen, in direkten Treffen und auch bei der Vorbereitung der entsprechenden Schlußdokumente eine entscheidende Rolle. Ich möchte Ihnen noch einmal sagen: Alle Vorschläge, die ich bisher gehört habe, beziehen sich letztendlich auf dieses Konzept, und zwar nicht, weil wir besonders klug sind, sondern weil wir die fünf Punkte zur Grundlage gemacht haben. Wenn Sie diese fünf Punkte operationalisieren, dann stoßen Sie zuerst auf die Frage der Einbeziehung Rußlands. Was heißt Einbeziehung Rußlands, wenn man es nicht therapeutisch, sondern real meint? Einbeziehung Rußlands heißt, daß Rußland seine Selbstblockade im VN-Sicherheitsrat aufgibt und daß wir als erstes eine Resolution nach Kapitel VII im VNSicherheitsrat bekommen. Das ist der erste Schritt. Wenn wir diese Resolution haben - der Bundeskanzler hat vorhin drei der fünf Kernpunkte genannt -, dann ist die erste Voraussetzung der völlige Abzug der bewaffneten Streitkräfte, der Paramilitärs und der Sonderpolizei aus dem Kosovo. Wenn dieser Abzug beginnt, dann halten wir es in der Tat für angemessen und übrigens auch für praktisch notwendig, daß eine Waffenruhe beginnen kann - allerdings nie mehr durch das Vertrauen auf Worte, sondern nur noch durch Taten verifiziert und daß es, wenn innerhalb der festgesetzten Frist der Abzug abgeschlossen ist, nicht nur zur Implementierung einer internationalen Friedenstruppe kommt, sondern zu einem dauerhaften Schweigen der Waffen, damit die Voraussetzung für eine Übergangsverwaltung geschafBundesminister Joseph Fischer fen wird und die Flüchtlinge zurückkehren können. Wenn es zu einer politischen Lösung kommt, dann wird man diese Forderungen letztendlich in jedem Konzept wiederfinden müssen, weil es die Konsequenz der Umsetzung der fünf Punkte ist. Genau das ist der deutsche Vorschlag. ({10}) - Der jetzige Stand ist, daß wir gegenwärtig auf genau dieser Grundlage über das Gipfeldokument diskutieren, daß wir versuchen, auf dieser Grundlage mit dem VNGeneralsekretär, der sich Gott sei Dank in eine ähnliche Richtung bewegt und die Initiative übernommen hat, zu diskutieren, daß wir darüber noch vorgestern abend mit unseren Bündnispartnern in Paris gesprochen haben und daß wir dies auch mit der amerikanischen Seite tun. Was Sie gesagt haben, hört sich in der Tat schön an. Wir bedanken uns dafür, daß wir eine solche Opposition haben. Da stimme ich Ihnen zu. Aber eines möchte ich Ihnen gleich ins Protokoll diktieren: Die innenpolitische Debatte in den angelsächsischen Ländern läuft anders. Es ist nicht so, daß da nur die Administration einen anderen Kurs fährt; vielmehr diskutiert auch der Kongreß anders. Das muß ich Ihnen nicht erzählen, das wissen Sie sehr genau. Dasselbe gilt selbstverständlich für die innenpolitische Debatte in Großbritannien. Das heißt, daß sich vieles, was es an Vorschlägen gibt, in der ganz anderen innenpolitischen Prioritätensetzung sehr wichtiger Bündnispartner stößt. Das muß man bei alldem bedenken. ({11}) - Das ist ein normaler Vorgang. Nur, bei allem Respekt, Sie müssen bedenken: Die Gewichtsverhältnisse spielen schon eine Rolle. Wir waren in der Regel mit vier bis sechs Flugzeugen bei insgesamt mehr als 400 Flugzeugen beteiligt. Ich sage das, um klarzumachen, was die Gewichtsverhältnisse bei der politischen Entscheidungsfindung betrifft. Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur versichern, daß wir mit allem Nachdruck an einer politischen Lösung arbeiten. Wir dürfen uns einer militärischen Eskalationslogik in diesem Punkt nicht beugen. Wir führen keinen Krieg gegen Serbien und gegen das serbische Volk. ({12}) Was wir wollen, ist die Durchsetzung von Menschenrechten, von Humanität gegen eine Politik der ethnischen Kriegführung. Das müssen und werden wir durchsetzen, weil ein Beugen, ein Wegducken vor dieser Politik Milosevics keinen Frieden, sondern noch mehr Krieg, noch mehr Vertreibung und noch mehr Zerstörung bedeuten würde. Das haben die vergangenen zehn Jahre gezeigt. ({13}) Lassen Sie mich zum Schluß noch ganz kurz den Bezug zwischen neuer NATO und anderen Sicherheitsorganisationen ansprechen. Wer sich die Konsequenz der jetzigen Entwicklung anschaut, wer sieht, wie wichtig es ist, daß der VN-Generalsekretär wieder eine aktive Rolle spielt, wer sieht, wie wichtig es ist, daß Rußland in den Versuch, eine Friedenslösung für den Kosovo zu finden, eingebunden wird, der erkennt, daß manches an der Debatte über die neue NATO in den letzten Jahren verkürzt geführt wurde. Die NATO ist keine Alternative zu den Vereinten Nationen. Sie ist eine regionale Sicherheitsorganisation. Sie zu überfordern würde bedeuten, sie zu gefährden. Ich glaube, das macht jetzt auch der Kosovo klar. Die Reformdebatte der NATO über das neue Konzept wird unmittelbar zu einer Debatte über zwei weitere Organisationen führen müssen: über die Rolle der OSZE wir haben im Kosovo gesehen, daß sie nicht mehr nur eine Alternative darstellt, sondern eine wichtige Komplementärfunktion zum Sicherheitsbündnis NATO unter den neuen Bedingungen nach dem Ende des kalten Krieges wahrnimmt, und daß ihr Instrumentarium dringend fortentwickelt werden muß - und über eine interessengeleitete Reform der Vereinten Nationen, die vor dem Tabu der Wahrnehmung des Gewaltmonopols durch den Sicherheitsrat nicht haltmachen darf. Es geht nicht darum, das Gewaltmonopol in Frage zu stellen, aber der Gewaltmonopolinhaber - ich bin nachdrücklich für das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates in den internationalen Beziehungen des 21. Jahrhunderts - muß sich auch bestimmten Verpflichtungen unterwerfen, damit dieses Gewaltmonopol nicht auf nationalen, sondern auf internationalen Interessen gründet; dieses muß auch in den verschiedenen Chartas der Vereinten Nationen umgesetzt werden. ({14}) Ich möchte es Ihnen an einem Beispiel verdeutlichen: Wir vertreten die Ein-China-Politik, und dies wie ich denke, das ganze Haus - aus Überzeugung. Daß sich Peking darüber aufregt, wenn Mazedonien Taiwan anerkennt, kann ich aus Sicht der nationalen Position Pekings nachvollziehen. Ob es aber im Interesse des Sicherheitsrates, des Gewaltmonopolinhabers in der internationalen Politik, liegt, daß eine sinnvolle VN-Friedensmission in Mazedonien nicht verlängert wird, weil aus einer aus meiner Sicht berechtigten nationalen Verärgerung heraus ein Veto eingelegt wird, daran habe ich große Zweifel. Ich glaube nicht, daß so der Gewaltmonopolinhaber Sicherheitsrat unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts wirklich funktionieren kann. ({15}) Die gegenwärtige Diskussion über die Frage, was völkerrechtlich zulässig ist oder nicht, ist aus meiner nicht-juristischen, aber politischen Sicht eine Formaldebatte. Warum? Weil der Sicherheitsrat im Fall des Kosovo schlicht und einfach hätte handeln müssen. Ich wäre froh gewesen, wenn wir eine Resolution nach Kapitel VII bekommen hätten. Ich hoffe, daß jetzt unter EinBundesminister Joseph Fischer beziehung Rußlands eine entsprechende Resolution zustande kommt; denn alle vorherigen Resolutionen führen auf diesen Punkt hin. Insofern ist für mich die Frage nach einer neuen Strategie der NATO nicht die Frage, ob eine Alternative zu den Vereinten Nationen und ihren möglichen Reformen geschaffen wird, sondern letztere sind eine der Voraussetzungen für eine regionale Sicherheitsorganisation für und in Europa. Eine Überdehnung der NATO würde sie meines Erachtens gefährden. Deswegen müssen wir diese Reformdebatte auch in Richtung OSZE und VN führen und zu entsprechenden Beschlüssen kommen. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll und anständig gewesen, wenn die NATO ihr Gipfeltreffen, ihre Feierlichkeiten und die Verabschiedung einer neuen NATOStrategie verschoben hätte. ({0}) Ich befürchte, daß dieser NATO-Gipfel unter dem Zeichen des Krieges steht und sich in Diskussionen über den Krieg erschöpfen wird. Wir reden über eine NATO, die Krieg führt, Krieg in Europa, Krieg ohne Mandat der UNO, Krieg unter Bruch ihrer eigenen Charta, Krieg ohne ein politisches Konzept. Wir hören dieser Tage von der US-Außenministerin, daß sich jetzt - ebenso wie sich in der Vergangenheit das Militärische der Diplomatie unterordnen mußte - die Diplomatie dem Militärischen unterordnen muß. Wir reden von einer NATO und der Rolle unseres Landes in diesem Bündnis, über die der Altbundeskanzler Helmut Schmidt sagte - ich zitiere ihn -, „gegängelt von der USA, haben wir das internationale Recht und die Charta der Vereinten Nationen mißachtet“. Daß ausgerechnet ich einmal Helmut Schmidt gegen Gerhard Schröder ins Felde führen würde, wäre mir selbst in meinen schlimmsten Träumen nicht in den Sinn gekommen. ({1}) Die alte NATO gibt es nicht mehr. Eine neue NATO hat sich der Welt vorgestellt. Sie will sich auf ihrem Gipfeltreffen Ende des Monats eine neue Strategie geben. Das Vorhaben soll nicht gefährdet werden. Ich darf Ihnen dazu aus der „New York Times“ zitieren: „Ein vermasselter Einsatz könnte das Bestreben ernsthaft gefährden, für die NATO eine neue Rolle bei Friedenserhaltung und Krisenmanagement zu formulieren.“ Man kann auch nachlesen, was der US-Senator McClaim geschrieben hat: „Wir müssen diesen Konflikt gewinnen, egal was es kostet.“ Der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Samuel Berger, nannte in der „International Herald Tribune“ vom 24. März als einen der Hauptgründe für die Bombenangriffe „die Demonstration, daß die NATO es ernst meint“. In der Tat - das will ich bedauernd feststellen - hat sich die Politik dem Militärischen untergeordnet. Die militärische Logik folgt eigenen Gesetzen. Ob es der Bundestag will oder nicht: Wir werden hier vor der Frage stehen, ob wir dem Einsatz von Bodentruppen zustimmen sollen. Alle Überlegungen der Regierung gehen in Richtung Eskalation. Als nächstes soll eine Seeblokkade Jugoslawiens folgen. Die Debatte über die militärische Eröffnung von Korridoren für die Rückkehr von Flüchtlingen heißt doch im Klartext Einsatz von Bodentruppen. Wie werden Sie diese Frage dann beantworten? Jedes neue Dementi von den Regierungsbänken wird immer zweideutiger. Zugleich nehmen die Forderungen aus Washington an Eindeutigkeit zu. Wie war es in dieser Woche im „Spiegel“ zu lesen? „Die Amis wollen den Krieg.“ Nein, auf dem NATO-Gipfel gibt es wenig zu feiern. Es gibt aber allen Anlaß, darüber nachzudenken, wie dieser Irrsinn beendet werden kann. ({2}) Ich sage Ihnen voraus - wir werden darüber reden können -, daß der jetzt eingeschlagene Weg, die jetzt eingeschlagene Politik der NATO etwas fertigbringt, was die Linken 50 Jahre nicht geschafft haben. Diese Politik ist der Anfang vom Ende der NATO. Aber bedanken werde ich mich dafür nicht; der Preis ist mir entschieden zu hoch. ({3}) Daß die NATO ihre Strategie nach dem Ende des kalten Krieges, nach der Aufhebung der Spaltung der Welt in zwei Pole, nach der Auflösung des Warschauer Paktes neu durchdenken muß, versteht sich von selbst. Erinnern wir uns noch an die Diskussion über ein gemeinsames Haus Europa? Denken wir überhaupt noch ernsthaft darüber nach, daß Sicherheit nur gemeinsame Sicherheit sein kann? Erscheint uns heute nicht der Kern des neuen Denkens - das sich eng mit dem Namen Gorbatschow verbindet -, die Interessen der Kontrahenten, ja des möglichen Gegners in die eigenen Überlegungen aufzunehmen und Demütigungen zu vermeiden, unwirklich? Lassen Sie mich aus einem Papier zitieren, das sich wie eine Botschaft aus einer anderen Welt liest: Die neue Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest und wird sich in Zusammenarbeit mit den Partnern und Verbündeten Deutschlands an Initiativen zur Umsetzung dieses Ziels beteiligen. Und weiter: Zur Umsetzung der Verpflichtungen zur atomaren Abrüstung aus dem Atomwaffensperrvertrag wird sich die neue Bundesregierung für die Absenkung des Alarmstatus der Atomwaffen sowie für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen. Das, Kolleginnen und Kollegen von Rotgrün, ist Ihr Koalitionsvertrag. Schon vergessen? Oder glauben Sie noch daran? Mich zumindest hat es sehr berührt, daß Michael Gorbatschow im Zusammenhang mit der Osterweiterung der NATO schrieb, er fühle sich „vom Westen verraten“ und die NATO-Erweiterung sei „eine Absage an ein neues europäisches Sicherheitssystem“. Wie viele werden sich noch verraten fühlen, wenn auf dem NATO-Gipfel aus der heutigen NATO, die sich als Bündnis zur kollektiven Verteidigung ihrer Mitgliedstaaten versteht, eine Militärmacht wird, die künftig Militäreinsätze außerhalb des Bündnisgebietes planen und durchführen soll, wenn die NATO künftig weiterhin Militäreinsätze auch dann vornimmt, wenn dafür kein konkretes UN-Mandant vorliegt, sie sich also selbst mandatiert - die Fraktion der CDU/CSU unterstützt dies ja in ihrem Entschließungsantrag ausdrücklich -, und wenn schließlich die NATO ausdrücklich an ihrer atomaren Strategie einschließlich der Option des nuklearen Ersteinsatzes - auch dies fordert die CDU/CSU - festhält? Vom Bundesaußenminister war bereits zu lesen, daß sein diesbezüglicher Vorstoß auf dem Gipfel nicht zur Diskussion stehen wird. Eine Fortschreibung der NATO-Strategie in die Richtung einer neuen NATO entfernt die NATO auch von den eigenen Grundlagen. Ich will dies seitens meiner Fraktion festhalten. Der geltende NATO-Vertrag stellt keinen rechtlich unbegrenzten Handlungsrahmen für beliebige politische und militärische Zwecke dar. Die NATO ist nach dem Vertrag eine Organisation zur kollektiven Selbstverteidigung ihrer Mitgliedstaaten. Nur dazu haben die Parlamente der Mitgliedstaaten bei der Inkraftsetzung des NATO-Vertrages ihre Zustimmung erteilt. Die PDS-Fraktion ist der Auffassung, daß die NATO zugunsten solcher ziviler Organisationen wie die der UNO und der OSZE abgebaut werden sollte. Im gleichen Umfang, wie die UNO gestärkt und die OSZE endlich handlungsfähig wird, kann die NATO zurückgenommen werden. ({4}) Um solche Optionen überhaupt aufrechterhalten zu können, fordern wir, daß es bei den bisherigen vertraglichen Regelungen bleibt, daß die NATO sich nicht globalisiert und selbst mandatiert und daß endlich auch wieder ernsthaft über Abrüstung nachgedacht wird. In diesem Sinne sind wir für eine gemeinsame europäische Außenund Sicherheitspolitik. Denn es ist schädlich, wenn in der Welt nur ein starker politischer und militärischer Pol vorhanden ist. ({5}) Die NATO ist, historisch gesehen - verschiedene Kolleginnen und Kollegen haben etwas zur geschichtlichen Entwicklung gesagt -, kein Kind der Anti-HitlerKoalition und keine Schlußfolgerung des Sieges über den Faschismus. Das ist die UNO. Die NATO ist ein Produkt des kalten Krieges, und das wirkt bis heute fort. ({6}) Der kalte Krieg hat seine Spuren auch im Wertekatalog, in den Wertvorstellungen, der NATO tief eingegraben. Inwieweit die Ambitionen der NATO, europäische Grundwerte, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - dies hat einmal der Kanzler zitiert; ich füge hinzu: Schwesterlichkeit ({7}) - danke -, für sich in Anspruch nehmen zu können, tatsächlich glaubwürdig sind, wenn es um Menschenrechte geht, darf nicht nur im Hinblick auf den NATO-Partner Türkei getrost hinterfragt werden. Zu oft haben auch NATO-Länder - in der Logik der Blockkonfrontation brutale Diktatoren unterstützt, Vertreibung geduldet, Folter akzeptiert und demokratisch gewählte Regierungen gestürzt. Lassen Sie mich - nicht nur mit Blick auf das Kosovo; aber dies gilt selbstverständlich auch dort - sagen: Keine Ideologie, keine Interessen, keine Heilsmissionen rechtfertigen Unterdrückung, Vertreibung und Terror. ({8}) Unterdrückung, Vertreibung und Terror - wo auch immer, ob in der Türkei oder im Kosovo - müssen auf Absage und Widerstand stoßen. Dies muß eindeutig und schroff erfolgen. ({9}) Menschenrechte aber werden nicht durch Krieg verteidigt. Kein politisches Problem unserer Zeit wird durch Krieg gelöst. Krieg vernichtet Menschenrechte; Krieg verroht, befördert Aggressionen. Bomben sind ebensowenig wie Vertreibung in der Lage, Menschen dazu zu bringen, solidarisch miteinander zu leben. Jeder Tag Krieg, so meine Furcht, bringt uns einer politischen Lösung nicht näher, sondern führt weg von ihr. ({10}) Deshalb noch einmal: Die Bombenangriffe müssen sofort eingestellt und mit Hilfe der UNO Friedensgespräche in Gang gesetzt werden. Die serbischen Armeesicherheitskräfte und Sonderpolizeien müssen sofort zurückgenommen, die UCK entwaffnet und eine - auch von der UNO - gesicherte Rückkehr der Flüchtlinge möglich gemacht werden. ({11}) Dem Kosovo ist eine weitestgehende Autonomie einzuräumen. Mit Hilfe der OSZE und der UNO muß rasch eine Balkan-Friedenskonferenz vorbereitet und umfassende Aufbauhilfe geleistet werden. Europa muß sich den Balkanländern öffnen, wenn wir Konflikte und Krisen mindern wollen. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir im Zusammenhang mit den historischen Rückblicken noch ein Wort zu einem aktuellen Problem: Der Bundesverteidigungsminister hat - nicht heute, sondern in vorangegangenen Reden und mit ihm ein Teil der Presse - das Drama der Kosovo-Albaner mit dem der Juden im DritWolfgang Gehrcke ten Reich verglichen. In diesem Zusammenhang ist von KZs, von Selektion und Zwangsarbeit die Rede. Das Bild provoziert geradezu den Vergleich zwischen Auschwitz und Kosovo. Dieser Vergleich ist unangemessen und falsch. Lassen Sie mich an dieser Stelle den Fernsehjournalisten Gerd Ruge aus einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ zitieren, der davor warnt: Die Gleichsetzung Holocaust und Kosovo kann schließlich dazu führen, daß man fast alles machen darf. Im Kosovo werden die Albaner verfolgt und vertrieben. Diese Tatsache allein ist schlimm genug; sie ist eine europäische Tragödie. Der Kosovo ist aber nicht die Rampe von Auschwitz, auf der die Verfolgten Europas selektiert und ins KZ getrieben wurden. Auschwitz steht für den industriellen Massenmord an den europäischen Juden und an allen, die die Nazis als Untermenschen bezeichneten, ein Massenmord, den die damalige Regierung, die SS und die deutsche Industrie - dafür steht im Zusammenhang mit Auschwitz namentlich die IG Farben - in Absprache und gemeinsam vornahmen. Der Vergleich zwischen dem Kosovo und Auschwitz relativiert die Einmaligkeit dieses Menschheitsverbrechens, mehr noch: Der Vergleich nährt die Vorstellung, die Geschichte wiederhole sich; nur diesmal steht Deutschland auf der richtigen Seite, und die anderen sind die Hitlers. So verwandelt sich der jetzige Krieg gegen Jugoslawien unter der Hand zur Sühne für Auschwitz. Dieser Krieg wird zur deutschen Wiedergutmachung für den industriellen Massenmord am europäischen Judentum, an Sinti, Roma und Slawen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Gehrcke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Darf ich den Satz zu Ende bringen? Dann gerne, Herr Kollege Meckel. - Mit diesem Krieg würde endlich der Begriff „Deutschland denken heißt Auschwitz denken“ aufgelöst, und danach stünde Deutschland sauber da. Diese Umbewertung der deutschen Geschichte wäre in der Tat eine geistigmoralische Wende, viel tiefer als die, die Altkanzler Kohl angestrebt und vorangebracht hat. ({0}) Bitte sehr, Herr Kollege Meckel.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gehrcke, können Sie mir zustimmen, daß es vielleicht doch sehr problematisch ist, solche Reflexionen historischer Vergleiche in einer Situation anzustellen, in der die Opfer im Kosovo unter fürchterlichsten Bedingungen leben, vertrieben und umgebracht werden? Ich halte es in dieser Debatte für zynisch, sich im Angesicht dieser Opfer eine Reflexion darüber zu leisten, ob es so schlimm sei wie in Auschwitz. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Meckel, das war nicht meine Reflexion. Ich habe gerade davor gewarnt, solche historischen Vergleiche anzustellen, ({0}) die nicht von mir und meiner Fraktion, sondern von den Kollegen Ihrer Fraktion gemacht wurden. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zum Schluß noch eine sehr persönliche Bemerkung auch für die Kollegen meiner Fraktion machen: Viele in diesem Hause haben ihre Zerrissenheit in dem schwierigen Abwägungsprozeß deutlich gemacht. Ich kenne die Prozentzahlen, die viele Kollegen von der SPD und den Grünen genannt haben: 49 Prozent hier, 51 Prozent dort. Ich nehme für mich persönlich und für die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion in Anspruch, daß wir uns den Abwägungsprozeß nicht leichter gemacht haben als andere Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause. ({1}) Wir träumen immer noch den großen Traum des Dr. Martin Luther King von einer Welt, in der man solidarisch leben kann. ({2}) Es war unser Gewissen und nichts anderes, was uns nein zu diesem Krieg und nein zu dieser NATOKonzeption sagen ließ. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Michael Glos.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Parlamentarische Staatssekretärinnen und Staatssekretäre! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann gut verstehen, daß die Regierung den Saal verläßt, wenn die PDS spricht. Ich muß aber daran erinnern, daß es eine Rede des Partners in Mecklenburg-Vorpommern, eine Rede des Wunschpartners in Thüringen und eine Rede des Tolerierungspartners aus Sachsen-Anhalt war. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu Beginn dieser Woche hat der Deutsche Bundestag erstmals im Reichtstag in Berlin getagt. Es war ein Tag der Freude. Gemeinsam haben wir den Fall der Mauer und die glücklich wiedererlangte Vereinigung unseres Vaterlandes gewürdigt. Die Einheit Deutschlands in Freiheit wurde erst durch die NATO ermöglicht; daran müssen wir an diesem Tag denken. Deswegen sind 50 Jahre NATO fünf gute Jahrzehnte für Deutschland. ({1}) Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, steht an erster Stelle nicht eine Schmähung der NATO, sondern ein aufrichtiger und tiefempfundener Dank an unsere Partner und Freunde: Danke, daß ihr auch in schwieriger Zeit verläßlich an der Seite der Bundesrepublik Deutschland gestanden seid und die Bündnisverpflichtungen in keiner Krise in Frage gestellt habt. ({2}) Wir sagen auch den Soldaten des Bündnisses danke, die auf deutschem Boden stationiert und bereit waren, notfalls mit ihrem Leben für unsere Freiheit einzustehen. Danke sagen wir vor allen Dingen auch den amerikanischen Soldaten, die weitab von ihrer Heimat - teilweise ohne ihre Familie - lange Zeit in unserem Land geblieben sind. Sie sind heute eine wichtige transatlantische Brücke. Der Umzug in das ferne Deutschland hat für sie sehr oft Opfer bedeutet. Ich weiß aus persönlicher Anschauung aus meinem Wahlkreis, wo immer große amerikanische Garnisonen waren und heute noch sind, daß die amerikanischen Soldaten geschätzte Mitbürger und Mitbürgerinnen waren und sind. Ich denke in dieser Stunde vor allen Dingen an die drei gekidnappten amerikanischen Soldaten, die normalerweise in Schweinfurt in meinem Wahlkreis stationiert sind, die jetzt aber in serbischer Gefangenschaft sind und deren Bilder wir im Fernsehen vorgeführt bekommen haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nur unter dem Schutzschild NATO war der Wiederaufstieg unseres Landes in Frieden und in Freiheit zum wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand denkbar. Ich glaube, auch daran sollten wir denken. Ich erinnere mich sehr genau, daß die erste Demonstration meines Lebens, an der ich teilgenommen habe, nicht gegen die NATO, sondern für die Amerikaner war, die damals sehr viele Truppen aus Kitzingen nach Kuweit verlegt haben. Wir haben spontan eine Demonstration für diejenigen organisiert, die dort Freiheit und Menschenwürde verteidigt haben. Der damalige SPDOberbürgermeister Kitzingens hat sich geweigert mitzutun. Das möchte ich erwähnen; wenn wir schon bei der Geschichte sind, müssen wir auch mit geschichtlichen Wahrheiten operieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere Mitgliedschaft bei der NATO war ein Meilenstein für unsere Souveränität nach der Katastrophe des zweiten Weltkrieges. Wir feiern den 50. Jahrestag der NATO in einer schwierigen Zeit. Wir müssen uns daran erinnern, daß Bündnisse keine Schönwetterveranstaltungen sind. Unsere Bündnispartner haben die Bündnisverpflichtungen in der Zeit des kalten Krieges eingehalten. Deswegen muß auch das geeinte Deutschland zu seinen Bündnisverpflichtungen stehen. Wir haben inzwischen als ganz normales Land gleichberechtigt und gleichgewichtig Verantwortung für das Bündnis übernommen. Das ist heute im Deutschen Bundestag - Gott sei Dank Konsens zwischen allen demokratischen Parteien. Wir müssen auch daran erinnern, daß wir beim Einsatz unserer Soldaten im Kosovo Bündnisverpflichtungen übernommen haben. Es ist gut, daß alle demokratischen Parteien - die PDS lasse ich aus gutem Grund weg ({3}) hinter unseren Soldaten stehen. Ob dies allerdings noch bei allen Fußtruppen der Regierungsparteien so ist, das weiß ich nicht. ({4}) Zu Äußerungen zum Beispiel aus Amerika heißt es, das seien Übersetzungsfehler. Aber auch, wenn ich mir Äußerungen von Parlamentarischen Staatssekretären und Staatssekretärinnen anhöre, muß ich sagen - ohne das überbewerten zu wollen -, daß die Unterstützung unserer Soldaten inzwischen leider stark in Zweifel gezogen worden ist. ({5}) Es ist schon vom Kollegen Gerhardt angesprochen worden: Unsere Soldaten haben Anspruch darauf, daß sie nicht in einer rechtlichen Grauzone operieren. Es gibt derzeit - jeder kann es nachverfolgen - sehr viele Diskussionen darüber, in welcher Form wir uns in Albanien mit unseren Soldaten stärker beteiligen sollen und, wie ich meine, auch müssen, insbesondere zur Abwendung humanitärer Katastrophen. Ich habe mich gewundert, daß wir heute im Deutschen Bundestag keinen Antrag auf den Tisch bekommen haben, der die Dinge eindeutig und genau regelt. Der wäre von uns unterstützt worden. Da frage ich mich schon, ob nicht auch deswegen auf den Antrag verzichtet worden ist - man kann das gerne anschließend richtigstellen -, weil man sich der Gefolgschaft der eigenen Fußtruppen nicht mehr sicher gewesen ist. ({6}) Die Bündnisverpflichtung Deutschlands ist ein hohes Gut. Sie ist das Fundament deutscher Außenpolitik. Ich freue mich, daß wir einen zumindest verbal lernfähigen Außenminister haben. Deutsche Sonderwege darf es nach der Lehre der Geschichte nicht mehr geben. Das sehen Gott sei Dank auch die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes so. Auf die Frage, ob Deutschland weiterhin der NATO angehören soll, antworteten jüngst 82 Prozent uneingeschränkt mit Ja. Das halte ich für erfreulich. Vor allem die Jugend sagt ja zur NATO. Die Zustimmung der 18- bis 24jährigen - gerade die jungen Männer dieses Alters müßten notfalls dafür einstehen liegt bei 90 Prozent. Auch das ist, so glaube ich, ein Grund zur Freude. Das läßt hoffen, daß wir als Deutschland im nächsten Jahrhundert einen besseren Weg gehen, als das in diesem Jahrhundert der Fall war, daß wir auf der richtigen Seite mit dabei sind. ({7}) Für uns von der CSU war die NATO zu allen Zeiten die Überlebensversicherung für Frieden und Freiheit. Zentrale Fragen waren im Bundestag oft umstritten; ich will das hier nicht noch einmal alles aufzählen. Aber es gehört nun einmal zur geschichtlichen Wahrheit, Herr Bundeskanzler, daß Ihre Partei gegen die Westintegration und gegen die Wiederbewaffnung unseres Landes gewesen ist. Die heutigen Regierungsparteien haben vehement den historischen NATO-Doppelbeschluß bekämpft und in Kauf genommen, daß ihr eigener Bundeskanzler gehen mußte. ({8}) - War es anders? ({9}) Dann können Sie es anschließend vielleicht erklären. Ich freue mich jedenfalls darüber, daß sich diese Überzeugungen geändert haben. Zumindest den führenden Politikerinnen und Politikern traue ich dies zu. Ich traue denen, die vorne sitzen, auch zu, daß sie die Angst, die sie vor den eigenen Reihen haben, ein Stück überwinden. Gerade deswegen hätte ich mir gewünscht, daß wir hier im Deutschen Bundestag über das vorhin Angesprochene abstimmen. Ich könnte jetzt noch einmal die Mittel und Methoden aufzählen, mit denen die NATO früher bekämpft worden ist. Das führt uns letztendlich nicht weiter. Wir als Christen wissen: Im Himmel ist mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über 99 Gerechte. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Daß ich von Ihnen noch einmal Absolution erhalte!) - Wenn Sie es so sehen, dann verzichte ich darauf, vorzulesen - ich habe die „Frankfurter Allgemeine“ vom 5. März 1990 dabei -, was Lafontaine dazu gesagt hat. ({0}) Lassen wir es weg, daß Sie, Herr Schröder, ihm damals beigepflichtet haben. Letztendlich geht es immer um die Zukunft. Wir müssen die Zukunft aus der Erfahrung der Vergangenheit heraus bewältigen. Ich möchte an dieser Stelle zweifach gratulieren: Ich gratuliere Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl zur Auszeichnung in den Vereinigten Staaten zum „Mann des Jahrzehntes“. ({1}) Ich gratuliere dazu, daß er der einzige Amerikaner ist, der die Freiheitsmedaille - ({2}) - Es ist gut, daß wir wachsame Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben: Er ist der einzige Nichtamerikaner - wenn ich das „Nicht“ verschluckt habe, verzeihen Sie es mir bitte -, der die Freiheitsmedaille erhalten hat. Ich finde, das ist gleichzeitig eine Auszeichnung für Deutschland, daß wir zu unseren Zeiten - ich hoffe, das bleibt so - immer ein kalkulierbarer Partner gewesen sind. ({3}) Ich gratuliere auch Theo Waigel, der heute seinen 60. Geburtstag feiert. Er gehört zu den Staatsmännern, die es ermöglicht haben, daß Helmut Kohl diese Politik hat gestalten können. Er stand an seiner Seite, war im Kaukasus dabei und hat entscheidende Weichenstellungen unseres Landes, vor allen Dingen die festere Integration in Europa durch die Einführung des Euro, geleistet. Ich bedanke mich selbstverständlich auch bei Herrn Kinkel. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zu diesem elenden Krieg, dessen Zeugen wir ständig sind. Das Bündnis steht heute in der Bewährungsprobe, auch als Wertegemeinschaft. Milosevic führt Krieg gegen das eigene Volk, und Milosevic darf diesen Krieg nicht gewinnen. Die Bilder der letzten Wochen führen uns vor Augen, wie grausam das Verbrechen der Vertreibung ist. ({5}) Bei vielen Vertriebenen in unserem Land werden wieder Erinnerungen an die Schrecken, die man selbst durchlebt hat, wach. Deutschland steht hier ohne Zweifel an der Seite der Bündnispartner, und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung in dieser Frage unterstützt. Unser gemeinsames Ziel muß es natürlich sein, eine weitere Eskalation dieses Krieges mit ganzer Kraft zu vermeiden. Es gehört zu den bitteren Realitäten dieser Welt, daß sich Gewalt oft nur mit Gegengewalt stoppen läßt. Allerdings sind nicht alle Krisen immer nur gewaltsam zu bewältigen. Deswegen sollten wir auch nach friedlichen Lösungen suchen und um friedliche Lösungen ringen. Aber das muß dann in der Weise geschehen, daß die Vorschläge dort vertreten werden, wo sie vertreten werden können. Ich wünsche dem Außenminister mehr Erfolg, als er bis jetzt gehabt hat. Es hat keinen Sinn, Vorschläge zu verkünden, von denen man den Eindruck hat, sie würden manchmal nur „just for show“ für die Presse oder aber auch zur Beruhigung der eigenen Partei gemacht. ({6}) Ich glaube, wir sollten an dieser Stelle auch einmal daran denken, daß sich viele Menschen bei uns im Land Sorgen machen - auch auf Grund der geschichtlichen Dimensionen, die gerade auf dem Balkan immer mitspielen. Deswegen finde ich es gut, wenn das Verhältnis zu Rußland wieder gepflegt wird, wenn man sich nicht chauvinistisch benimmt, wenn man dort vor Ort ist, und wenn man nicht mehr sagt: Schluß mit dem Scheckbuch; wir wollen nicht mehr einfach nur zahlen wie Kohl. Was weiß ich, wie die Sprüche alle gelautet haben. Ich begrüße es, daß Stoiber dort war und mit den russischen Partnern gesprochen hat. Es ist sicher auch gut, wenn Herr Tschernomyrdin sich jetzt auch bemüht, dieses slawische Brudervolk - es handelt sich nicht um die Menschen dort; es handelt sich in erster Linie um Herrn Milosevic - davon zu überzeugen, daß es so, wie es jetzt läuft, nicht weitergehen kann. Die Situation, in der wir jetzt sind, ist natürlich auch eine Nagelprobe für die Regierungsfähigkeit nicht nur der Sozialdemokraten. Sie, Herr Bundeskanzler, sind ja in dieser Beziehung - um ein Wort zu gebrauchen, das derzeit umgeht - ein „Scheinselbständiger“, und zwar nicht im sozialversicherungsrechtlichen Sinne. ({7}) Vielmehr meine ich damit, daß Sie nur so weit gehen können, wie Frau Radcke, Frau Röstel, Frau Altmann, Herr Trittin - wie sie alle heißen - Sie letztendlich gehen lassen. Ich kann Ihnen nur wünschen, daß Sie Ihre Handlungsfähigkeit dort wiedergewinnen. Wir können Ihnen nicht alle Probleme abnehmen und für Sie nicht alle Probleme lösen. Gerade unsere Soldaten haben Anspruch darauf, daß das ganze deutsche Parlament - lassen wir einmal die Kommunisten weg - hinter ihnen steht, insbesondere auch die Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsparteien. ({8}) Ich möchte zum Schluß noch eine Bitte äußern, Herr Bundeskanzler. Wir sollten unsere Soldaten gerade in dieser Zeit nachhaltig vor Verunglimpfungen schützen. Die politische Konjunktur - Volker Rühe hat ja vorhin ein Beispiel dafür gebracht - kann ja wieder einmal umschlagen. Deswegen sollten wir das, was die CDU/CSU und die F.D.P. im letzten Bundestag eingebracht haben - das ist leider nicht zu Ende beraten worden; es ist der Diskontinuität zum Opfer gefallen -, nämlich Bestimmungen für den Ehrschutz der Soldaten, gemeinsam wieder einbringen. Das ist schon im Ausschuß beraten worden. Das kann man schnell und direkt beschließen, und man hat mehr Frieden mit der Gesellschaft als durch eine solch komplizierte Geschichte wie die, ein neues Staatsbürgerschaftsrecht im Hauruckverfahren zu machen. ({9}) Wir Europäer müssen - das ist heute schon gesagt worden; insbesondere auch vom Kollegen Rühe und vom Kollegen Gerhardt; es hat keinen Widerspruch gegeben; die Regierung ist der gleichen Meinung - sicher in Zukunft eine größere, eine stärkere Rolle in der NATO übernehmen. Wir sind dazu bereit. Wir sind zu allen Zeiten dazu bereit gewesen und werden auch in Zukunft bereit sein, die Grundsätze, die der NATO zugrunde liegen und die die Demokratien Europas als Stabilitätsinstrumente einsetzen, zu schützen und zu verteidigen. Und wenn wir Bündnispartner in der NATO bleiben, haben wir eine gute Perspektive für das nächste Jahrtausend. Nützen wir sie! ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Runde Geburtstage - das zeigt diese Debatte - verleiten zu Rückblicken. Manch einen verleiten sie auch zu einem nochmaligen Schlagen vergangener Schlachten, wie man an den Beiträgen der Kollegen Rühe bis Glos in bezug auf Wiederbewaffnung und NATO-Doppelbeschluß sehen konnte. ({0}) Ich möchte hier einen Aspekt ansprechen, Herr Glos, der uns vielleicht auch in der Erinnerung etwas näher zusammenbringt. ({1}) In Deutschland muß ja der Blick auf die besondere Bedeutung der NATO-Mitgliedschaft für den deutschen Weg in die westliche Staatengemeinschaft fallen. Elf Jahre nach dem Krieg holte der Eintritt in die NATO die Bundesrepublik von der Strafbank weg, machte sie vom Angeklagten zum Partner. Aber da hatte der Kalte Krieg schon begonnen. Die DDR wurde Partner des anderen Bündnisses, das wir „Warschauer Pakt“ nannten. Und für 33 Jahre lief die waffenstarrende Systemgrenze mitten durch Deutschland. Mauer und Stacheldraht wurden zum Synonym des deutschen Schicksals in der Nachkriegszeit, für viele einzelne Menschen wurden sie zum Verhängnis. Ich behaupte: Für kein anderes NATO-Land hatte die Bündnismitgliedschaft eine solche prägende Bedeutung wie für Deutschland. Man kann sagen: Unsere Integration in die westliche Allianz war für die ganze deutsche Nachkriegsgeschichte konstitutiv und existentiell: konstitutiv im Sinne unserer Rückkehr in eine westliche Interessen- und Wertegemeinschaft nach den Verbrechen der Nazi-Zeit und der Ausgrenzung als Folge davon, existentiell als einzige Quelle von Sicherheit in unserer Position als Frontstaat an der Grenze zweier antagonistischer Systeme. Weil wir über die NATO Reintegration gewonnen haben, besteht bei uns ein besonderes Verständnis für die Transformationsstaaten in Ost- und in Südosteuropa, die heute ihren Wunsch und ihr Drängen nach Mitgliedschaft in der Allianz als Chance zur Integration in Europa verstehen. Unsere eigene geschichtliche Erfahrung auf beiden Seiten der heute verschwundenen Systemgrenze macht uns sensibel, gibt uns eine besondere Verantwortung, wenn es um den Erweiterungsprozeß der NATO geht. Als das Bündnis im Juli 1997 hierzu Entscheidungen zu treffen hatte, wurde die SPD-Bundestagsfraktion dieser Verantwortung gerecht, indem sie eine Entschließung vorlegte, die drei Stichworte hervorhob: VermeiMichael Glos dung neuer Grenzen in Europa, Partnerschaft mit Rußland und Fortsetzung des Abrüstungsprozesses. Diese Positionsbestimmung hat bis heute nichts an Aktualität verloren. ({2}) Bei dem Erweiterungsprozeß des Bündnisses, der jetzt mit der Aufnahme von drei neuen Mitgliedern begonnen hat, bleibt die Vermeidung neuer Grenzlinien quer durch Europa die vordringlichste Aufgabe. Wir unterstützen insofern das Konzept, das wir im GipfelDokument von Washington erwarten, nachdem die Allianz für die neuen Mitglieder offenbleibt, aber sich jetzt nicht bereits auf eine zweite oder dritte Runde festlegt. Diese Behutsamkeit ist klug. Sie vermeidet Rückstellungseffekte und Ausgrenzungsgefühle. Wir gewinnen damit Zeit. Diese müssen wir aktiv nutzen, um ein Gesamtkonzept für Sicherheit und Stabilität in Europa zu entwickeln, in das der Erweiterungsprozeß der Allianz eingebaut ist, und Strategien, wie an den Außengrenzen des Bündnisses als Integrationsraum trennende Grenzen zu vermeiden sind. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Zwischen Polen und der Ukraine läuft heute die Grenze zwischen NATO und Nicht-NATO. Morgen wird dort die Grenze zwischen EU und Nicht-EU laufen, und damit werden in Polen die Regeln des Schengener Abkommens gelten. Die Grenze zwischen Polen und der Ukraine ist heute aber auch eine Brücke für den Austausch von Menschen und Waren, von grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen, aber auch von politischen Ideen und von Kulturen. Diese Grenze - und es gibt viele ähnliche Grenzen in Osteuropa und in Südosteuropa - darf nicht hermetisch werden. Die Brückenfunktion muß erhalten bleiben. ({3}) Die Behutsamkeit des Erweiterungsprozesses gibt uns und den zahlreichen neuen Kandidaten auch die Chance, von jetzt zu sammelnden Erfahrungen zu profitieren. Vor wenigen Wochen haben wir Polen, Tschechien und Ungarn in das Bündnis aufgenommen. Wir hätten uns gewünscht, daß unsere neuen Partner nicht als erstes in die bisher schwerste Bewährungsprobe des Bündnisses geraten, die sich mit dem Namen Kosovo verbindet. Ich möchte hier unsere Anerkennung und unseren Dank dafür zum Ausdruck bringen, wie die drei neuen Partner diese Bewährungsprobe im Moment bestehen. ({4}) Namentlich möchte ich Ungarn erwähnen, das einzige NATO-Land mit einer direkten Grenze zur Bundesrepublik Jugoslawien, ein Land, das sich Sorgen machen muß um 350 000 Landsleute jenseits der Grenze, in der Vojvodina, wo heute Bomben einschlagen. Wieviel näher, wieviel existentieller ist der furchtbare Konflikt in diesem Donauland, dieser Konflikt, der doch schon bei uns zahlreiche Risse in der öffentlichen Meinung, in den Parteien, ja, in den einzelnen Menschen selbst erzeugt! Wir haben eine Bringschuld an Solidarität gerade gegenüber diesem Land, das eine so positive Rolle - dies ist heute vom Bundeskanzler noch einmal gewürdigt worden - bei dem deutschen Einigungsprozeß gespielt hat, nun unversehens Nachbar eines schrecklichen Geschehens wird und die Verantwortung doch voll trägt. Ich möchte diese Solidarität - ich hoffe, im Namen des ganzen Hauses - hier im Deutschen Bundestag zum Ausdruck bringen. ({5}) Bezüglich des Kosovo-Konflikts haben wir unseren Respekt noch für einen anderen Nachbarn im Osten auszudrücken - das ist auch in der Debatte in der letzten Woche geschehen -, nämlich für die Russische Föderation. Wir wissen, Moskau lehnt die Luftangriffe auf Serbien ab, verhält sich jedoch besonnen und macht politische Vermittlungsversuche, auf die sich viele Hoffnungen gründen. Das ist nicht selbstverständlich; denn wir kennen Rußlands Probleme hinsichtlich der Osterweiterung der NATO. Zu den guten Erfahrungen, die wir in diesen Tagen machen, zählen wir den Erfolg der NATO-RußlandGrundakte vom 27. Mai 1997 und ihre Umsetzung. Gerhard Schröder hat es schon gesagt: Der ständige NATO-Rußland-Rat hat sich bewährt. Ich erinnere an die letzte Irak-Krise. In einer Zeit, wo Moskau die Botschafter aus Washington und London abzog, ist die Alltagsarbeit in dem ständigen NATO-Rußland-Rat fortgesetzt worden. Das ist ein guter Weg. Ich möchte das in diesem Satz zusammenfassen: Zur Zukunft der NATO gehört unverzichtbar die Partnerschaft mit Rußland und deren weiterer Ausbau. ({6}) Das erwarten wir auch von den Dokumenten des bevorstehenden NATO-Gipfels. Meine Kolleginnen und Kollegen, in der Grundakte wurden auch Zusagen zur Abrüstung gemacht, namentlich zur konventionellen Abrüstung, zur Anpassung des KSE-Vertrages. Das war ein schwieriger Prozeß. Ich bin sehr froh, daß es gelungen ist, daß trotz dieser Schwierigkeiten noch rechtzeitig vor dem NATO-Gipfel ein Kompromiß zustande kam, ein Erfolg der KSE. ({7}) Das war möglich auf der Basis von konstruktiven deutschen Beiträgen. Ich möchte hier einen Namen nennen. In diesen Tagen verabschiedet sich der langjährige deutsche Chefabrüster, Botschafter Dr. Rüdiger Hartmann, aus seinem politischen Leben im Dienste der Bundesrepublik. Sein Name ist eng mit diesem Erfolg verbunden. Ich möchte ihm von dieser Stelle aus herzlich für seine Arbeit danken. ({8}) Der Abrüstungsprozeß muß auf anderen Gebieten weitergehen. Es ist trotz mehrerer großer Abrüstungsverträge noch nicht überall der Weg begonnen worden, sie auch umzusetzen. Es gibt noch immer viel zu viele Atomwaffen auf diesem Planeten. Es ist noch nicht gelungen, ihre weitere Verbreitung mit allen damit verbundenen Gefahren aufzuhalten. Ob Nonproliferation, wie es genannt wird, eine Chance bekommt, hängt auch davon ab, wie überzeugend die offiziellen Atomstaaten ihren Abrüstungsverpflichtungen nachkommen und welche Rolle das westliche Bündnis den Atomwaffen zumißt. Hier ist die NATO-Strategie gefragt. Es gibt bei uns eine Sorge: Wenn wir sagen, wir brauchen Atomwaffen auch, um Angriffe mit nichtatomaren Waffen abzuwehren, dann stellt sich die Frage, wie wir anderen Ländern erklären und sie davon überzeugen können, daß sie keine Atomwaffen brauchen. Hier gibt es ein Überzeugungsproblem im Hinblick auf das Ziel der Nichtverbreitung. Dieses Problem müssen wir lösen. Deshalb haben wir Bedarf an Diskussionen über die künftige Strategie der Allianz angemeldet. Es ist erfreulich, daß zu diesem Thema jetzt sehr vorsichtige Formulierungen in das Strategiepapier der Allianz aufgenommen wurden. Es ist noch erfreulicher, daß in dem Gipfeldokument - wir begrüßen das - ein Auftrag zur Prüfung genau des Aspekts, der in der Öffentlichkeit „first use“ genannt wird, enthalten sein wird. Das ist wichtig; denn wenn die Strategie der Nichtverbreitung scheitert, dann werden wir vor neuen Rüstungswettläufen stehen. Diese wollen wir alle nicht. ({9}) Zusammenfassend möchte ich hier erklären: Wir sind uns der Bedeutung der NATO für den politischen Weg Deutschlands nach dem Krieg und für seine europäische Reintegration bewußt. Wir sind aus inhaltlicher Überzeugung verläßliche Partner im Bündnis. Wir sehen eine gute Zukunft für das westliche Bündnis, einschließlich einer breiten öffentlichen Akzeptanz, wenn es gelingt, die von mir genannten drei Rahmenbedingungen und Begleitstrategien zu stärken. Ich fasse sie zusammen: Sie heißen Einbindung in ein europäisches Gesamtkonzept von Sicherheit und Stabilität, mit dem neue Grenzlinien quer durch Europa vermieden werden und mit dem unsere Fähigkeit zur präventiven Friedenspolitik und zur Konfliktprävention verstärkt wird. Der zweite Aspekt betrifft den Ausbau der Partnerschaft mit der Russischen Föderation und auch mit der Ukraine. Der dritte Aspekt betrifft schließlich die Fortsetzung der Abrüstungspolitik mit neuen Anstrengungen und Initiativen, mit dem Ziel der Nichtverbreitung von Atomwaffen im Zentrum. Wir freuen uns, daß diese Elemente in den Formulierungen der neuen NATO-Strategie und in anderen Gipfeldokumenten in angemessener Weise zum Ausdruck kommen werden. Das wissen wir heute schon. Das ist ein Erfolg von stiller, aber engagierter Diplomatie zur Vorbereitung des Gipfels. Auch hier gab es zahlreiche engagierte deutsche Beiträge. Auch für diese Arbeit haben wir hier zu danken. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Kollegen Helmut Lippelt, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge, über die wir heute eigentlich diskutieren wollen, sind Wochen vor dem 24. März 1999 verfaßt worden. Aus dem ursprünglich beabsichtigten Jubiläumsgipfel ist jetzt ein Arbeitstreffen geworden. Sätze wie die von „der NATO als dem erfolgreichsten Sicherheits- und Verteidigungsbündnis der Geschichte“ bleiben uns heute leicht im Munde stecken. Denn wir wissen, daß sich die NATO in ihrer tiefsten Krise befindet, wenn ich auch nicht so weit wie der Kollege Gehrcke gehen möchte, der jetzt schon den Anfang ihres Endes eingeleitet sieht. Die NATO befindet sich in dieser Krise, weil sich zwischen ihren Mitteln und Möglichkeiten einerseits und den politischen Zielen andererseits eine wachsende Inkongruenz entwickelt hat, wie es der ehemalige EUBosnien-Beauftragte Carl Bildt formulierte: daß ihre hochentwickelte Technologie der Präzisionsbomben und -raketen eben nicht die mordende und brandschatzende Soldateska treffen konnte, ja nicht treffen kann und sie in ihrem Geschäft sogar noch vorantreibt. Die NATO befindet sich in einer Krise, weil sich die Selbstdefinition der NATO als einer Wertegemeinschaft immer schwieriger in geeignete Mittel übersetzen läßt und weil sich die Abwehr des Völkermords im Kosovo, von deren Notwendigkeit wir doch alle überzeugt sind, eben nicht in der Form des 3. September 1939 vollzieht, als England und Frankreich dem expansiven Rassenwahn eines deutschen Diktators ein entschiedenes Halt entgegenriefen und vom Appeasement zum Krieg übergingen. Heute übertragen wir der NATO 14 Flugzeuge und delegieren die Kriegführung an einen Apparat NATO. Eine solche Delegation führt dann zu der perversen Trennung von Krieg und Geschäft, wie wir sie in der Frage der Erdöllieferungen gerade erlebt haben. Allen Vorstellungen von Alternativen zur Kriegführung wird hohngesprochen; die Glaubwürdigkeit der NATO steht auch an diesem Punkte ganz entschieden in Frage. ({0}) Es entspricht - das ist absolut richtig - unserem Verfassungsverständnis von parlamentarischer Kontrolle und Verantwortung, daß wir Auftrag und Mandat genau definieren und limitieren. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß unser Einfluß auf die Art und Weise der Kriegführung begrenzt und in Relation zu den der NATO übertragenen Mitteln, nämlich den 14 Flugzeugen, zu sehen ist. Unserer historischen ErfahGernot Erler rung, die wir eigentlich einzubringen hätten und die besagt, daß ein Bombenkrieg auch kontraproduktiv sein kann und den Graben zwischen Diktator und Volk nicht aufreißt, sondern überbrückt, können wir nicht in der notwendigen Weise Geltung verschaffen. Wir sind der Eskalation der Kriegführung ausgeliefert. Vorstellungen - ich trage sie hier als meine ganz persönliche Meinung vor - von einer Kombination von Festigkeit in den Zielen, verbunden mit einer Konzentration der Kriegführung im Kosovo, die alles tut, um die Flüchtlinge dort zu retten, und einer Deeskalation der Kriegführung gegenüber dem übrigen Serbien, die sich als oberstes Ziel setzen würde, die Loyalität zum Diktator aufzubrechen, haben wenig Chancen. Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen zur Kriegführung der NATO nun noch einige Bemerkungen zu den inhaltlichen Fragen, die in Washington zur Verabschiedung anstehen: Erstens. Klar dürfte doch wohl sein, daß die Vorstellungen, die um den Begriff einer neuen NATO als der Organisation des Krisenmanagements schlechthin kreisen, hinfällig geworden sind. Die NATO sollte bleiben, was sie in ihrer Kernfunktion ist: ein atlantischeuropäisches Sicherheits- und Stabilitätsbündnis. Wer in diesen Wochen Gelegenheit zu Gesprächen mit Politikern außerhalb dieses Raums hatte, der weiß, daß das Mißtrauen gegenüber der NATO als einem Herrschaftsinstrument der hochindustrialisierten Länder des Westens gewachsen ist - trotz aller Verständigungsmöglichkeiten in bezug auf den Kosovo-Konflikt. Zweitens. Der Verzicht auf die UN-Mandatierung bei der NATO-Intervention muß eine absolute Ausnahme bleiben. Er bedarf der Heilung, und zwar von beiden Seiten: auch von seiten des UN-Sicherheitsrats, in dem die Ausübung eines Vetos stärker an die Prinzipien der internationalen Gemeinschaft zu binden und von den nationalen Interessen eines einzelnen Sicherheitsratsmitglieds zu lösen ist. Die Bundesregierung ist mit der verstärkten Einbeziehung Rußlands und des UNGeneralsekretärs in diese Richtung vorangegangen. Wir unterstützen sie darin und ermutigen sie, in diesem Sinne fortzufahren. Drittens. Die sich wandelnde NATO - ich sage das im Gegensatz zu dem vorhin über die sogenannte neue NATO Gesagten -, die NATO der Kooperation in ihren vielfältigen Formen von NATO-Rußland-Rat, NATOUkraine-Charta und Partnership for Peace, ist in jeder Weise auf diesem Wege zu bestärken. Das bedeutet: Die Öffnung der NATO muß in steter Wechselwirkung mit der Vertiefung der Einbindung Rußlands stehen. Die Risiken der gegenwärtigen Situation haben eben auch damit zu tun, daß die NATO, die im Kosovo zugunsten der Menschenrechte interveniert, in den Augen der russischen Elite eben die NATO der Osterweiterung ist. Diese Wunden sind noch lange nicht verheilt. Um so höher ist es der Bundesregierung als Verdienst anzurechnen, daß sie sich in Kontinuität zur Politik des früheren Bundeskanzlers um die vertiefte Einbindung Rußlands bemüht. Viertens. Die NATO muß wieder verstärkt die NATO der Abrüstung, auch der nuklearen Abrüstung und des KSE-Prozesses werden. Auch wenn die Diskussion zu „first use“ auf dem Washingtoner Gipfel wohl keine Rolle spielen wird, so erwarten wir uns doch den Arbeitsauftrag für ihre anschließende Fortsetzung. Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei all dem soll nicht vergessen werden, daß dies der erste Gipfel der 19 mit voller Partizipation unserer direkten östlichen Nachbarn ist. Auch und gerade zu der KosovoProblematik haben sie viel zu sagen. Dies soll und muß ein Signal auch für die Völker des ehemaligen Jugoslawien sein - nicht im Sinne einer Zukunft in der NATO, wohl aber im Sinne einer Zukunft in Europa, die auch einem demokratischen Kosovo in einem demokratischen Serbien offensteht. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Markus Meckel.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum 50. Jahrestag ihrer Gründung ist die NATO in aller Munde, aber nicht wegen ihrer Verdienste und nicht wegen dieses Jubiläums, sondern wegen des Krieges im Kosovo, wo die NATO versucht, dem Morden und den Vertreibungen durch das Milosevic-Regime Einhalt zu gebieten und ein Ende zu setzen. Vor knapp zehn Jahren, am Ende des Kalten Krieges, glaubten viele noch, die NATO könne sich in naher Zukunft auflösen und in einem System gemeinsamer Sicherheit in Europa aufgehen. Auch ich hatte anfangs noch diese Hoffnung. Heute jedoch ist deutlich: Außer der NATO mit ihren militärischen Fähigkeiten gibt es niemanden in Europa, der nach dem Scheitern aller politischen Bemühungen fähig wäre, Milosevic in den Arm zu fallen und sein verbrecherisches Treiben zu beenden. Hätten wir nicht die NATO, wir müßten sie erfinden. Ich glaube nicht, daß die NATO heute in einer Krise steckt. Sie steht vielmehr vor großen und schwierigen Herausforderungen, die heute bewältigt werden müssen. Wir brauchen die NATO nicht etwa - das unterstellen ihr heute noch viele - als ein Instrument zur Durchsetzung hegemonialer Interessen der reichen Länder des Nordens, sondern wir brauchen sie als Stabilitätsanker in Europa zur Verteidigung der westlichen, also der demokratischen Staatengemeinschaft sowie zum Schutz vor Mord und Vertreibung, die wir nach Bosnien nun im Kosovo wieder in schrecklichster Weise erleben müssen. Wir merken auch, wie schwer nach dem Scheitern der politischen Bemühungen selbst der militärische Schutz dieser Menschen ist. Durch die kollektive Verteidigungsbereitschaft der NATO und die Integrationsleistung der Europäischen Gemeinschaft konnte in der Nachkriegszeit in Westeuropa eine Zone der Sicherheit und des Wohlstandes geschaffen werden. Damit konnte ein neues Kapitel in der europäischen Geschichte aufgeschlagen werden. Dazu gehört auch - dieser Punkt ist ganz wichtig für uns Dr. Helmut Lippelt die Schaffung einer stabilen Demokratie - zunächst nicht in ganz Deutschland, sondern nur im Westen Deutschlands. Nach 1990 wurde die Demokratie dann auch im Osten unter den Bedingungen möglich, die wir alle kennen. Angesichts der Bedrohung durch die kommunistischen Diktaturen des Ostens hat die NATO durch die Fähigkeit kollektiver Verteidigung diese Integrationsleistung erbracht, die gerade der Europäischen Union dies ist der eigentlich zentral wichtige Punkt für die Gesellschaften - die Integration der Staaten und ihrer Gesellschaften ermöglicht hat. Der Antrag der Koalition, der Ihnen, meine Damen und Herren, heute vorliegt, würdigt die Leistungen der NATO in ihrer Geschichte und beschreibt Erwartungen, wie die NATO den Herausforderungen europäischer Sicherheit begegnen soll. Sie werden es vielleicht für bemerkenswert halten, daß diese positive Würdigung der NATO und ihrer Entwicklung von einer Koalition vorgelegt wird, deren Parteien in der Vergangenheit in bestimmten Phasen ein durchaus kritisches Verhältnis zur NATO und ihrer Strategie hatten. Auch ich selbst - in der DDR aufgewachsen - hatte, obwohl ich nun wirklich nicht ein Parteigänger der SED und ihrer Helfershelfer war, in den 80er Jahren ein kritisches Verhältnis zur NATO. In welchen Positionen ich falsch lag oder vielleicht auch nicht, kann an dieser Stelle nicht verhandelt werden; das gehört ins historische Seminar. Die Würdigung der NATO, an der mir sehr liegt, soll sich heute insbesondere auf die Rolle und die Bedeutung der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges beziehen. Die NATO war nach 1990, nach dem Wegfall der akuten Bedrohung durch die Sowjetunion, der Garant dafür, daß es eben keinen Rückfall und nicht den Versuch gibt, Sicherheit und Verteidigung wieder national zu organisieren. Denn das hätte eine hohe Instabilisierung nicht nur Ost-, sondern auch Westeuropas bedeutet. Die NATO hat sich 1990 und in den Jahren danach gründlich verändert. 1991 gab sie sich ein neues strategisches Konzept - damals erstmals öffentlich -, um Durchsichtigkeit und Vertrauen zu schaffen. Seitdem hat sich die Welt weiter verändert: durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und durch den Aufbau verbindlicher Kooperationsstrukturen mit Rußland und mit der Ukraine; davon ist heute schon ausführlich gesprochen worden. Diese Kooperationsstrukturen und diese Dimensionen der NATO, die eben nicht nur militärisch handelt, sondern ganz wesentliche politische und zivile Funktionen hat, stellen die Aufgabe der NATO dar, Sicherheit und Stabilität für den transatlantischen Raum zu schaffen und nicht - wie manche befürchten und andere durchaus hoffen - weltweit zu agieren. Für die Sicherheit Europas ist, wie wir alle betonen, die Kooperation mit Rußland und der Ukraine von zentraler Bedeutung. Auch das ist heute mehrfach angesprochen worden. Dazu gehört - nicht in Spannung, sondern komplementär, wie ich meine - die Frage der Öffnung und der Möglichkeit für andere Staaten, der NATO beizutreten. Nach 1990 war es ja nicht die Initiative der NATO, sich nach Osten zu erweitern; vielmehr hat es eine Weile gedauert, bis die Mitgliedstaaten bereit waren, dem Drängen der Staaten Ostmitteleuropas nachzukommen und sich neuen Mitgliedern zu öffnen. Seit einigen Wochen sind Polen, Tschechien und Ungarn gleichberechtigte Mitglieder. Das ist nicht nur für diese Länder wichtig, sondern auch für Europa. Denn die Länder kommen damit aus einer Zwischenlage heraus, die ihnen in der Geschichte verheerende Beziehungen bescherte. Sie wollten nichts anderes als Deutschland: im Westen verankert zu sein, um damit die Möglichkeit und Freiheit zu haben, zum Osten kooperative Strukturen aufzubauen. ({0}) In Washington wird die NATO deutlich machen, daß die Tür offenbleibt. Es wird gut sein, daß das nicht nur abstrakt behauptet, sondern durch die Nennung von Staaten konkretisiert wird, die entsprechend ihrem eigenen Wunsch eine Perspektive der Mitgliedschaft haben sollen. Wichtig ist es deshalb, Kooperationsmöglichkeiten mit der NATO für die daran interessierten Staaten über die bisherigen Instrumente hinaus zu stärken. Deswegen ist sehr zu begrüßen, wenn die NATO künftig in „Membership Action Plans“ die Heranführung beitrittswilliger Staaten noch tatkräftiger als bisher unterstützt. 1991 hatte sich, wie gesagt, die NATO ein Konzept gegeben; nun gibt sie sich ein neues. Wichtig ist, daß die Kooperationsstrukturen ganz zentral in dieses Konzept eingebaut sind - und ebenso die neuen Aufgaben, vor denen wir heute in Europa stehen, nämlich auch außerhalb des Bereichs der NATO für Frieden, für Freiheit und für Rechte, für Völkerrecht und für die Rechte der Menschen, einzutreten. In Bosnien übrigens - das war der erste Ort, an dem die NATO außerhalb ihres Territoriums militärisch aktiv wurde - geschah das nicht allein, sondern gemeinsam mit Nicht-NATO-Staaten, insbesondere auch mit Rußland. Man vergesse nicht, daß diese Zusammenarbeit in Bosnien trotz aller Krisen, Fragen und Spannungen, die es heute zwischen Rußland und der NATO gibt, bis jetzt funktioniert und wirksam ist. Sicherheit hat viele Dimensionen. Darüber ist in den letzten Jahren in unserem Hause viel gesprochen worden. Es ist deutlich, daß viele unterschiedliche Institutionen nicht nur Europas, sondern weltweit - allen voran die Vereinten Nationen, aber eben auch die OSZE, der Europarat und nicht zuletzt die Europäische Union ganz wesentliche Dimensionen der Sicherheit zum Thema haben, daß sie sogar besser damit umgehen können als die NATO, weil sie die Kompetenzen dazu haben und weil dieses Thema eben wirtschaftliche, soziale, kulturelle und politische Dimensionen hat. Entscheidend ist - dies ist eine zentrale Frage -, daß der Frieden künftig durch eine Zusammenarbeit der NATO mit diesen Institutionen wirklich gesichert wird. Wir lernen nicht zuletzt in Bosnien, daß Frieden durch militärische Mittel nicht geschaffen werden kann, sondern daß dadurch nur die Voraussetzungen für Frieden geschaffen werden können, indem Mord und Gewalt Einhalt geboten wird. Deshalb ist es für die Zukunft sehr wichtig, daß der zivile und auch der politische Friedensprozeß in Gang gebracht werden und daß dafür übrigens auch die notwendigen Ressourcen bereitgehalten werden. Es ist durchaus so, daß die Ressourcen für militärische Aktivitäten sehr schnell bereitgestellt werden, daß es uns allen aber sehr viel größere Mühe macht, die erforderlichen Mittel für die ebenfalls notwendigen zivilen Aktivitäten sowohl in finanzieller Hinsicht wie auch in Form ausgebildeter Beobachter beizusteuern. Auch das ist eine - leider nicht so gute - Erfahrung aus Bosnien. Für die NATO wird es in Zukunft eine zentrale Rolle spielen, daß die ihr angehörenden Länder gemeinsam handeln. Sie ist eine Konsensgemeinschaft. Manche in unserem Land glauben ja, sie sei ein Aggressionspotential. Ich halte dies wirklich für eine falsche Aussage. Ich verweise auf die Schwierigkeiten beim Konsensprozeß innerhalb der NATO und darauf, daß es in der NATO eben nicht darum geht, daß alle Mitglieder Gefolgsleute einer Führungsmacht sind, der sie bedingungslos folgen. In demokratischen Staaten sind Mehrheiten und Regierungen nur dann möglich, wenn man einen Konsens gefunden hat. Dies ist, gerade wenn es darum geht, militärische Gewalt anzuwenden, nicht so einfach. Deshalb ist, glaube ich, allein von der Struktur her gewährleistet, daß die demokratische Staatengemeinschaft nicht aufgrund hegemonialer Interessen Krieg führt. Vielmehr geht es darum - ich bin gleich am Ende meiner Ausführungen, Herr Präsident -, Recht durchzusetzen, Menschen zu helfen, den Menschen und ihren Rechten entgegenzukommen bzw. dem Morden und der Vertreibung ein Ende zu bereiten. Deshalb ist es wichtig, daß eine große Mehrheit in diesem Hohen Hause zur NATO und zu ihren Bemühungen steht, den Menschen im Kosovo zu helfen. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Karl A. Lamers.

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute, 50 Jahre nach Gründung der NATO, können wir feststellen: Die Nordatlantische Allianz ist das erfolgreichste Bündnis der Geschichte. Sie ist die größte Friedensbewegung. ({0}) Es ist schon bemerkenswert, daß sie heute selbst von ihren einstigen Gegnern gepriesen und hoch gelobt wird, also von denen, die mittlerweile in Deutschland regieren und für die Handlungsfähigkeit des Bündnisses Verantwortung tragen. Das ist gut so. Die NATO ist unstreitig eine Friedens- und Wertegemeinschaft. Sie stand und steht zu Grundsätzen wie Freiheit, Recht und Demokratie. Sie steht für den Frieden. Dank schulden wir insbesondere unseren Verbündeten. Durch die entschlossene Friedenspolitik der NATO erhielt zunächst der westliche Teil Deutschlands die Chance, ein demokratisches, stabiles parlamentarisches Regierungssystem aufzubauen. 40 Jahre später, in der historischen Stunde 1989 und 1990, als die Mauer brach und der Eiserne Vorhang fiel, waren die Festigkeit und Geradlinigkeit der Freunde in NATO und Europäischer Union der Schlüssel dafür, daß sich auch im östlichen Teil unseres Vaterlandes Demokratie, Parlamentarismus, Freiheit und Selbstbestimmung durchsetzen konnten. Aber heute frage ich: Was wäre geschehen, wenn sich im Jahre 1983 die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl dem Druck der Friedensbewegung gebeugt hätte? Er tat es nicht, er stand wie ein Fels in der linken Brandung. ({1}) - Auch die Damen und Herren der PDS sollten zuhören, dann könnten sie aus dieser Geschichtsbetrachtung vielleicht noch etwas lernen. - Wie wäre die deutsche Geschichte verlaufen, wenn die NATO einseitig abgerüstet hätte, wie Sie es in Ihrem unsäglichen Antrag heute wieder fordern? ({2}) Welche Folgen hätte es für Deutschland und Europa gehabt, wenn wir die atomare Bedrohung durch sowjetische SS-20-Raketen akzeptiert hätten? Eines ist klar: Wir hätten die historische Stunde am vergangenen Montag, die Rückkehr des frei gewählten Parlaments des wiedervereinigten Deutschlands in den Reichstag in Berlin - eine freie Stadt ohne Mauer, ohne Stacheldraht und ohne DDR-Schießbefehl - wahrscheinlich nicht erlebt. ({3}) Daraus folgt: Festigkeit, nicht Nachgiebigkeit, sichert Freiheit. Die NATO kann heute auf eine stolze Bilanz verweisen. Ihre Anziehungskraft als Wertegemeinschaft, als Stabilitätsraum und als militärischer Integrationsfaktor ist auch nach 50 Jahren ungebrochen. Deshalb sind wir aufgerufen, alles zu tun, um die Attraktivität aufrechtzuerhalten und zu steigern. Wir sollten uns in dieser Stunde aber auch durchaus daran erinnern, daß wir, die CDU/CSU, einen großen Anteil an der Geschichte unseres Landes in 36 Jahren Regierungsverantwortung tragen und daß wir die Grundlage für die NATO und für die Bundeswehr geschaffen haben, die es sonst so vielleicht gar nicht geben würde. Bei besonderen geschichtlichen Entwicklungen war die CDU/CSU stets die berechenbare politische Kraft in Deutschland. Berechenbarkeit ist ein wichtiger Faktor der Politik, national und international. ({4}) Wir haben Kurs gehalten. Ich frage Sie: Was wäre heute, wenn in den entscheidenden Schicksalsjahren nach dem zweiten Weltkrieg Rotgrün in tiefer ideologischer Zerstrittenheit die Vergangenheit gestaltet hätte, Herr Außenminister? Könnten Sie dann als Außenminister mit der Kraft von heute die Gegenwart meistern und die Zukunft gestalten? Ich glaube, nein. Was wäre heute in Deutschland - die Frage ist aufgeworfen worden -, wenn wir in der Regierung und Sie in der Opposition wären? Das ist für mich eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit. ({5}) Für uns gilt, daß wir als Opposition nicht bekämpfen, was wir als Regierung für richtig gehalten haben. ({6}) Wir sind staatstragend. ({7}) Auf die CDU/CSU kann sich Deutschland verlassen. In einer beeindruckenden Rede hat Wolfgang Schäuble, unser Fraktionsvorsitzender, die Leitlinien unserer Sicherheits- und Außenpolitik auf der Münchener Sicherheitskonferenz dargelegt und definiert. Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert geht es für die NATO um die Wahrung gemeinsamer euro-atlantischer Interessen in und für Europa. Das neue strategische Konzept muß an den bewährten allianzpolitischen Grundsätzen festhalten: kollektive Verteidigung als Kernfunktion des Bündnisses, Annahme der großen sicherheitspolitischen Herausforderungen, die Übernahme neuer Aufgaben: Kooperation, Stabilitätstransfer und Krisenbewältigung. Daß das Bündnis reformfähig ist, haben wir mit einem weitreichenden Abrüstungs-, Organisations- und Partnerschaftskonzept bewiesen. Ich möchte an diesem Tage ausdrücklich auch das würdigen, was Volker Rühe in seiner Zeit als Verteidigungsminister geleistet hat, als er immer wieder mit großer Klarheit und Stringenz wertvolle Impulse in das Bündnis gegeben hat. Bundeswehr und NATO sind dadurch heute für die großen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft gerüstet. ({8}) Jetzt brauchen wir ein neues strategisches Konzept. Ich frage Sie mit Blick auf die Anträge, die heute vorliegen: Wo sind die unverrückbaren politischen Überzeugungen der Grünen und zum Teil auch der SPD? Ich meine nicht tagespolitisch bedingte aktuelle Positionen, sondern solche, die über den Tag hinaus reichen. Das unterscheidet CDU/CSU und - mit Verlaub - F.D.P. von den Regierungsfraktionen. Bei uns formt sich Tagespolitik aus Grundsätzen und Überzeugungen. Ob sich, Herr Außenminister, durch Ihre Politik in der Tiefe Ihrer grünen Bewegung dauerhaft tragfähige Überzeugungen bilden, daran habe ich erhebliche Zweifel. Dafür müssen Sie an der Basis noch viel arbeiten. Wer wie wir auf dem Boden der Außen- und Sicherheitspolitik der heutigen Regierung steht, darf auch Kritisches anmerken. Ich nehme Ihnen ab, Herr Außenminister, daß Sie für sich persönlich Kasernenbesetzungsund Belagerungsmentalität überwunden haben. Ich frage mich aber schon, was eigentlich geschehen ist, und auch manche Ihrer Freunde fragen sich das, Freunde, mit denen Sie vor Jahren und Jahrzehnten vor US-Kasernen Fackelwachen abgehalten, Sitzblockaden durchgeführt und Protestdemos organisiert haben. ({9}) - Ich weiß, wovon ich spreche. Ich komme aus Heidelberg, einer Stadt mit einem US-Hauptquartier, wo wir das alles erlebt haben. ({10}) Gerade jüngst hat mir einer aus Ihrer Partei gesagt, daß er es sich nicht habe träumen lassen, ({11}) seinen Joschka, wie er sich ausdrückte, einst als Außenminister im feinsten Nadelstreifen zu erleben, garniert mit einem Freundschaftskuß für die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright. Das ist schon ein weiter Weg - vom Saulus zum Joschka. ({12}) - Nein, mich sollen Sie auch nicht küssen, das würde ich mir verbitten. - Damit Sie mich aber nicht falsch verstehen: Ich finde es gut, daß Sie mit der Übernahme des Amtes des Außenministers ein solches Maß an Erkenntnis und neuer Einsicht in das gewonnen haben, was politisch und moralisch richtig und notwendig ist. Das hat so kaum einer für möglich gehalten. Helmut Kohl, meine Damen und Herren, hat einmal gesagt: Europa ist eine Sache von Krieg und Frieden. Darauf habe ich von Ihrer Seite nur Gelächter gehört. Heute sagen Sie, Herr Außenminister, lapidar: Kohl hat recht. - Das finde ich in Ordnung. ({13}) Lassen Sie mich zu den Anträgen konkret folgendes sagen: Erstens. Ich halte es, Herr Außenminister, für absolut schädlich und politisch falsch, daß die Bundesregierung und insbesondere Sie, Herr Fischer, versucht haben, die nukleare Ersteinsatzoption der NATO im neuen strategischen Konzept zu verwässern oder gar zu streichen. Wir müssen auch in Zukunft einen Angreifer im ungewissen darüber lassen, wie wir als Bündnispartner reagieren. Nur so gewinnen wir auch in Zukunft Sicherheit und Freiheit. ({14}) Nach unserer Überzeugung würde eine solche Änderung die Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses erheblich schwächen. Deshalb meine Bitte, an der bewährten Abschreckungsstrategie des Bündnisses festzuhalten. Zweitens. Ein wichtiger Punkt, über den wir im Bündnis Konsens erreichen müssen, ist die völkerrechtliche Legitimation des Bündnisses für Krisenreaktionseinsätze auch außerhalb des Bündnisgebietes. Wie wichtig das ist, zeigt doch der Konflikt im Kosovo. Dr. Karl A. Lamers ({15}) Ich meine, es besteht Einigkeit darüber, daß wir einen solchen Einsatz nach Möglichkeit auf einen Beschluß des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen stützen müssen. Es muß aber auch Einigkeit darüber bestehen, daß die NATO, wenn Menschenrechte verletzt werden und ihr Handeln im Einklang mit dem Völkerrecht steht, handeln muß. Sonst setzt sie sich dem Vorwurf aus, untätig zuzuschauen. Auch hier erwarten und verlangen wir klare Positionen und Aussagen. Die NATO ist für uns Friedensgarant. Sie muß mit den anderen großen kollektiven Sicherheitssystemen, den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der WEU, zusammenwirken, denen in diesem Zusammenhang wichtige Aufgaben zukommen. Eine einseitige Hervorhebung der OSZE, Herr Minister, lehnen wir allerdings ab. Die NATO muß sich für andere öffnen. Von Washington muß das Signal ausgehen, daß die Tür für solche offenbleibt, die ihre Zukunft in der Nordatlantischen Allianz suchen. Dieses klare Signal muß von Washington ausgehen. ({16}) Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum Schluß sagen, daß wir Europäer aufgerufen sind, für eine gerechte Lasten- und Pflichtenverteilung im Bündnis mehr Verantwortung zu tragen. Heute, zwei Tage vor dem NATO-Gipfel, steht die NATO auf dem Balkan vor einer der größten Herausforderungen seit ihrem Bestehen. Ich bin überzeugt, daß wir aus dieser Prüfung gestärkt hervorgehen, wenn wir geschlossen sind, wenn wir im Bündnis einig bleiben, wenn wir deutlich machen, daß die NATO keine Schönwetterorganisation ist, sondern ein Bündnis, das über Menschenrechte und Werte nicht nur spricht, sondern diese im Ernstfall auch beherzt verteidigt. Auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert dürfen Diktatoren, die in zynischer Weise Menschenrechte verletzen und sich über das geltende Recht stellen, keine Chance haben. Amerika und Europa müssen auch in Zukunft in einer Allianz des Friedens und als Garant unserer gemeinsamen Sicherheit zusammenstehen. Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das strategische Konzept, das in den nächsten Tagen veröffentlicht werden wird, wird mit Sicherheit nicht der Schlußpunkt einer sehr wichtigen Debatte sein, die wir auch heute hier führen. Dieses Konzept wird der Ausgangspunkt für die Fortentwicklung der NATO sein, und wir werden die Debatte engagiert begleiten. Der Gipfel wird - das haben viele gesagt - vom gegenwärtigen Krieg im Kosovo überschattet. Die Folgen des Kosovo-Krieges für die zukünftige Entwicklung und auch für die Strategie der NATO müssen sorgfältig beobachtet und analysiert und dürfen nicht unterschätzt werden. Ich sage dies vor dem Hintergrund, daß wir uns aus meiner Sicht heute in einer extrem schwierigen Situation befinden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens. Wir befinden uns, was die internationalen Beziehungen und das Völkerrecht betrifft, an einem Wendepunkt. Es geht um die Frage der Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen und der Anerkennung der Tatsache, daß die Transnationalisierung auch Folgen für die Weiterentwicklung des Völkerrechts haben wird. Diese ist politisch offen, und wir müssen uns in jeder einzelnen konkreten Situation entsprechend verhalten, um den Zielkonflikt im größtmöglichen Konsens zu lösen. Zweitens. Wir, die Bundesrepublik Deutschland und die NATO - ich sage das als Grüne ganz bewußt -, sind in einem Krieg. Wir sind zum ersten Mal seit 1945 an einem Krieg in Europa beteiligt. Dieser Krieg und unser Verhalten in diesem Krieg werden Auswirkungen auf die europäische Sicherheitsarchitektur und auf die transatlantischen Beziehungen haben. Die NATO als Wertegemeinschaft und als diejenige Organisation, die internationale Sicherheitspolitik effektiv betreiben kann, steht hier in einer ganz besonderen Verantwortung. Es ist unser Ziel, gestaltend darauf einzuwirken. Ich sage hier ganz deutlich: Die Frage der Glaubwürdigkeit wird sich nach diesem Krieg stellen, nämlich dann, wenn wir - die Bundesregierung, aber auch die NATO - entscheiden müssen, wie wir uns ganz ähnlichen Konflikten gegenüber selbst im eigenen Bündnis - ich nenne als Beispiel das Kurdenproblem in der Türkei - verhalten. Zukünftig wird es ein Verschließen der Augen nicht mehr geben können. ({0}) Vor diesem historischen Hintergrund möchte ich einige Punkte ansprechen, in denen sich die Verantwortung der NATO für Stabilität, für Vertrauensbildung, aber auch für Abrüstung in besonders prägnanter Weise ausdrückt. Zunächst zu der völkerrechtlichen Frage: Die Luftschläge der NATO, die wir jetzt in der fünften Woche durchführen, finden auf einer völkerrechtlich nicht ausreichenden Grundlage statt. Wenn es darum geht, das Völkerrecht weiterzuentwickeln, um aus der Sackgasse herauszukommen und früher nichtmilitärisch agieren zu können, wäre es ein Fehler, so zu tun, als wenn wir jetzt eine klare völkerrechtliche Grundlage hätten. Wir haben sie nicht. Wir werden das Völkerrecht modifizieren müssen, um stärker internationale humane Politik betreiben zu können. Dieses Dilemma möchte ich offen ansprechen. ({1}) Nach dem Gipfel werden wir beginnen müssen, diese Diskussion ohne Scheuklappen, aber verantwortlich zu Dr. Karl A. Lamers ({2}) führen. Denn wir wissen, daß wir uns damit auf ein schwieriges Gebiet der internationalen Diplomatie begeben. Ich will an dieser Stelle auf die internationalen sicherheitspolitischen Institutionen eingehen. Die NATO als Wertegemeinschaft ist an den Inhalten, Normen und Verfahren der UNO-Charta orientiert. Das ist im Washingtoner Vertrag so festgehalten, und er durchzieht das strategische Konzept der NATO, das verabschiedet wird, wie ein roter Faden. Das ist auch gut so. Wir wollen daran festhalten - dafür müssen wir geradestehen -, daß das, was im Kosovo heute nicht vermeidbar ist, eine dezidierte Ausnahme bleibt und nicht zum Alltagsgeschäft wird. Wir wollen eine Arbeitsteilung zwischen den Institutionen. Das heißt, wir wollen, daß die NATO das macht, was sie können soll und was sie können muß. Aber wir wollen natürlich auch, daß das Gewaltmonopol der UNO gestärkt, die UNO reformiert und das Vetorecht abgeschafft wird. Denn wir sehen, daß es auf die aktuellen Konflikte und Kriege der Zukunft keine Antworten mehr gibt. Wir brauchen die Stärkung der OSZE, damit wir sagen können, daß die NATO als Militärbündnis erst dann zum Einsatz kommt, wenn die internationale Staatengemeinschaft keine Instrumente und Antworten mehr findet. ({3}) Dazu gehört auch die Verantwortung der NATO, ihren Weg richtig weiterzugehen, nämlich in Kooperation mit Rußland Stabilität in Gesamteuropa zu verfolgen. Lassen Sie mich an dieser Stelle - das kann nicht ausgelassen werden - auf den Krieg im Kosovo eingehen. Wir führen zur Zeit eine problematische Diskussion, was den Einsatz von Bodentruppen betrifft. Ich glaube, daß es falsch ist, zu sagen „Wir wollen diesen Einsatz nicht“ und zu befürchten, daß es dann doch irgendwann dazu kommt. Ich habe die Sorge, daß durch das Unterlassen einer Diskussion über den Einsatz von Bodentruppen bzw. durch die Art und Weise, wie diese Diskussion möglicherweise doch geführt wird, ein wichtiges Fenster für politische Initiativen verengt wird. Herr Lamers, wenn Sie die Grünen dahin gehend kritisieren, sie seien noch nicht in der Realität angekommen, kann ich Ihnen nur antworten: Ich habe Angst davor, daß wir - ähnlich wie vor fünf Wochen, als wir vor der Alternative standen, ethnische Säuberungen oder NATO-Luftschläge zu akzeptieren - jetzt vor einer neuen Alternative stehen: vor der Eskalation des Militärischen, also vor einem militärischen Automatismus, der sich - mit allen fatalen Konsequenzen, was die Spaltung der Sicherheit Europas betrifft - bis hin zu einem Einsatz von Bodentruppen in Serbien ausdehnen könnte, oder aber der Initiative, die die rotgrüne Bundesregierung im Bündnis nach vorne getrieben hat: Rußland befindet sich wieder mit uns im Dialog. Kofi Annan ist wieder Teil der Diplomatie, um diesen Krieg nicht auf militärischem Wege, sondern durch einen Waffenstillstand zu beenden. Herr Lamers, die Realität ist, auch wenn Sie sie nicht erkennen wollen, anders. Die „Berliner Zeitung“ schreibt heute: „Europäer wollen Friedensplan Fischers für Kosovo übernehmen“. Das ist es, was wir forcieren müssen, nicht eine leichtsinnige Debatte, die letztlich dazu führt, daß wir, ohne daß wir es überhaupt wollen, in einen Bodenkrieg geraten, den wir übrigens auch nicht verantworten können. ({4}) Ich komme zum Schluß: Der zentrale Ansatz für eine zukunftsfähige Sicherheitspolitik muß ein Konzept präventiver Sicherheitspolitik sein. Das heißt, daß Sicherheitspolitik in ihren vielfältigen Dimensionen in ein außenpolitisches Konzept eingebunden wird, in dem den Vereinten Nationen und der OSZE nicht nur verbal eine wichtige Rolle zugewiesen wird nach dem Motto: OSZE first. Wir müssen vielmehr zulassen und ermöglichen, daß sie diese Rolle tatsächlich spielt. ({5}) Ich nenne hier beispielsweise den kooperativen Ansatz für Gesamteuropa und Rußland, den rüstungskontrollpolitischen Ansatz - denn wir dürfen auch dann, wenn wir Krieg führen, die Abrüstung nicht vergessen - und eine Politik, die auf Grund der bestehenden atomaren Gefahr, die möglicherweise wieder näherrückt, abrüstungspolitische Aufgaben vor Augen hat. Wenn wir es schaffen, diesen Konsens in Europa zu stabilisieren und über Europa hinauszutragen und der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen endlich Einhalt zu gebieten, dann kommen wir vielleicht wieder zu dem Punkt zurück, daß wir sagen können, daß das Europa der Zukunft friedlich sein wird. Diesen Weg gehen wir hoffentlich alle gemeinsam. Danke. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Peter Zumkley.

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich nach den bisherigen Debattenbeiträgen vor allem den militärischen und sicherheitspolitischen Aspekten widmen. Durch die Allianz sind die Bündnispartner in der Lage, sich auf gemeinsame, insbesondere verteidigungsund sicherheitspolitische Positionen zu verständigen. Dies ist von genauso großer Bedeutung wie die Streitkräfte der Mitgliedstaaten, die als Garant für die militärische europäische Sicherheit und - in der Vergangenheit - für die Verhinderung militärischer Auseinandersetzungen im Rahmen der Ost-West-Konfrontation dienten. Die Allianz verzeichnet aber auch zwei außergewöhnliche politische Erfolge in einem: die Integration von westeuropäischen Staaten, die über Jahrhunderte nach Dominanz und Kräfteausgleich gestrebt und dabei häufig verlustreiche, blutige Kriege geführt hatten, und eine vertraglich vereinbarte transatlantische Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft zwischen den Demokratien Nordamerikas und Europas. Neben vielen zum Beispiel in Politik und Administrationen tatkräftig für die Ziele der NATO tätigen Menschen, in der Vergangenheit und in der Gegenwart, sind wir auch allen militärischen und zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr seit ihrem Bestehen und ihrer Zugehörigkeit zur NATO für die Bewältigung ihrer oft nicht leichten Aufgabe und ihren Beitrag zum Frieden und zur Freiheit zu Dank verpflichtet. ({0}) In einem Zeitraum von etwa zehn Jahren wurden Strategien und Konzeptionen politisch und militärisch auf die neuen Entwicklungen umgestellt. Die NATO entwickelt sich auch heute weiter, wie die Verabschiedung des neuen strategischen Konzepts auf dem Washingtoner Gipfel an diesem Wochenende zeigen wird. Das sicherheitspolitische Umfeld wandelt sich. Heute stehen wir vor einer Fülle neuer Risiken. Die Gefahr von heute ist die Instabilität - aus unterschiedlichen Gründen - in einigen Ländern und Regionen. Tief wurzelnde ethnische, religiöse und nationalistische Kräfte münden, wie schmerzhaft zu erfahren ist, in zerstörerische Konflikte, die uns letztlich alle bedrohen. Das trifft auch auf Europa zu, wie die Lage auf dem Balkan zeigt. Die NATO befindet sich im Anpassungsprozeß gegenüber einem neuen Risikospektrum. Die politischen und militärischen Strukturen der Allianz werden neu gegliedert und gestrafft. Sie werden so verändert, daß das Bündnis auf der Basis einer starken transatlantischen Partnerschaft das geänderte Spektrum seiner Aufgaben wirksamer bewältigen kann. Die Streitkräfte wurden nicht unerheblich reduziert. Die Stufen der Alarm- und Einsatzbereitschaft wurden herabgesetzt. Die Streitkräfte wurden umgegliedert, so daß sie weiterhin zur kollektiven Verteidigung befähigt sind und den neuen Aufgaben im Rahmen der Krisenbewältigung gewachsen bleiben. Der Anpassungsprozeß ist noch nicht abgeschlossen. Das Bündnis muß diesen Prozeß mit Entschlossenheit und Augenmaß weiter fortsetzen. So müssen die Sicherheit und der Frieden im euroatlantischen Raum weiterhin kontinuierlich stabilisiert bleiben sowie der Dialog und die Zusammenarbeit der gleichberechtigten Partner ausgebaut und vertieft werden. Die Öffnung der NATO nach Osten ist ein wichtiger Schritt. Die Beitritte Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik zur NATO schaffen zusätzliche, auch militärische Sicherheit. Die neuen Mitgliedstaaten sind fest in Europa verankert. Gerade wir Deutschen erhalten mit unseren östlichen Nachbarn verläßliche Bündnispartner. Die Motivation ihrer Soldaten zur Zusammenarbeit mit westlichen Partnern ist bemerkenswert. Ihre Ausrüstung und Bewaffnung sind überwiegend russischer Herkunft und entsprechen nur zum Teil den Bündnisanforderungen. Dies muß angemessen berücksichtigt und auch in Kauf genommen werden, damit unsere neuen Partner nicht überfordert werden. Vor allem kommt es darauf an, ihre Kommunikationsfähigkeit und Interoperabilität allmählich zu verbessern. Dabei müssen sie angemessen unterstützt werden. Dieser Prozeß wird länger dauern, vielleicht zehn Jahre oder sogar mehr. Die Tür zur NATO muß für weitere neue Mitglieder offenstehen, sofern sie die Anforderungen des Bündnisses erfüllen, die Zeit reif und das Bündnis aufnahmefähig ist. Grundsätzlich stärken neue Mitglieder die Sicherheit in Europa und bereichern das Bündnis als Ganzes. Die Gründungsakte zwischen der NATO und Rußland, die NATO-Ukraine-Charta sowie die gemeinsamen Übungen im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“ bilden eine solide Basis für eine gute militärische Zusammenarbeit. Allein in 1998 wurden 26 PfPÜbungen zwischen der NATO und osteuropäischen Staaten durchgeführt. Die Bundeswehr war an 15 Übungen mit allen Teilstreitkräften beteiligt. ({1}) Die gemeinsame Übungstätigkeit umfaßte militärische Manöver, friedensunterstützende Maßnahmen, humanitäre Operationen sowie Such- und Rettungseinsätze. Diesen Weg müssen wir weiterverfolgen. ({2}) Bei den gemeinsamen Übungstätigkeiten wird Verständnis für Zusammenarbeit geweckt, das es zu festigen und weiterzuentwickeln gilt. Darüber hinaus wird Vertrauen geschaffen, werden Mißverständnisse vermieden und gegenseitige Vorurteile abgebaut. Das Krisen- und Konfliktpotential in Europa macht deutlich, wie notwendig der Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität ist. Europa muß in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eigenständiger und handlungsfähiger werden, ohne sich von der Nordatlantischen Allianz zu entfernen. Dann kann es seiner sicherheitspolitischen Verantwortung in Europa besser gerecht werden und zu einer gerechten Lastenteilung innerhalb des Bündnisses beitragen. Dies bedeutet für uns als Konsequenz aber weitere Anstrengungen und Leistungen in angemessenem Verhältnis zu denen unserer Bündnispartner. Viele Jahre lang haben unsere Verbündeten unserem Land Sicherheit gegeben. Heute beteiligen wir uns gemeinsam mit unseren Bündnispartnern an der Sicherstellung der Verteidigungsfähigkeit, der Krisenbewältigung, dem Schutz von Menschenrechten und humanitären Hilfsaktionen. Zukünftig muß sich das Bündnis allerdings mehr um die Fähigkeit zur Konfliktprävention bemühen. In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Glos - er ist im Moment nicht da -, ({3}) begrüßen wir die offensichtliche Absicht der NATO und von Nicht-NATO-Staaten, den Flüchtlingen in Albanien durch Entsendung zusätzlicher, dafür geeigneter Soldaten noch wirksamer als bisher zu helfen. Kaum jemand wird sich einer derartigen humanitären Hilfe vor Ort verschließen können. ({4}) Wir sehen einem entsprechenden Antrag der Bundesregierung entgegen und setzen auf eine breite Zustimmung des Parlaments. Der Erfolg der NATO wird auch künftig davon abhängen, ob es ihr weiterhin gelingt, beharrlich und unbeirrt ihr Ziel aufrechtzuerhalten, Frieden, kooperative Sicherheit und demokratische Stabilität im gesamten Europa zu fördern. Nicht zuletzt ist die Bundeswehr eines der wichtigen Instrumente deutscher Außen-, Sicherheits- und Bündnispolitik. Es führt kein Weg daran vorbei, daß die Streitkräfte im Bündnis - also auch unsere Bundeswehr - weiterhin gut ausgebildet und für die Aufgabenbewältigung wirksam ausgestattet werden, daß der bestmögliche Schutz für unsere Soldaten sichergestellt und ihre Integration in unsere Gesellschaft erhalten bleibt. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Kollege Christoph Zöpel, SPD-Fraktion.

Dr. Christoph Zöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002604, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich auch vor dem Hintergrund dieser Debatte die Geschichte der NATO und ihreWirkung auf Europa als eine Wechselwirkung zwischen militärischer Anstrengung und deren Grenzen sowie erfolgreicher Abrüstungspolitik und erfolgreicher Friedensbewegungen darstellen. Der Erfolg der NATO für Europa beruhte auf atomarer Abschreckung; das war der Kern. Das hat uns sicher gemacht, die Menschen in Osteuropa nicht. Die NATO konnte nicht verhindern, daß Stalin und seine Nachfolger in Osteuropa - auch mit militärischer Gewalt - machen konnten, was sie wollten. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Beer, halte ich den derzeitigen Krieg in Jugoslawien nicht für den ersten in Europa. Der erste war die Invasion der Sowjetunion in Prag; den konnte die NATO nicht verhindern. ({0}) Daß ähnliches in Polen nicht geschah, lag an der Besonnenheit eines - wenn auch tragisch verstrickten - Generals, nämlich des Generals Jaruzelski. Das Ende des Kommunismus dann war einerseits sicherlich auch ein politischer Erfolg der NATO und ihrer Rüstung. Aber andererseits wäre das Ende des Kommunismus nicht möglich gewesen ohne die friedliche Revolution der Menschen dort. Auch die war nötig, nicht nur die NATO. ({1}) Nach dem Ende des Kommunismus kam dann der für mich vielleicht größte Erfolg der NATO: die gigantische Abrüstungsleistung in Europa. Herr Kollege Rühe, Sie können stolz darauf sein - ich glaube, Sie sind es -, daß Sie in dieser Zeit der Abrüstungserfolge Verteidigungsminister sein konnten. Eine Million weniger Soldaten auf deutschem Boden! Aber die Freude über diesen Abrüstungserfolg hat auch damit zu tun, daß wir vorher - zu Recht - erschrocken waren über die bizarre Überrüstung, die der kalte Krieg mit sich gebracht hatte. ({2}) Wer darauf hingewiesen hatte, hatte ebenso recht wie der, der für die NATO stritt. Die meisten Staaten in Mittelosteuropa und Südosteuropa begannen dann, sich auf den friedlichen Weg hin zu Menschenrechten, Demokratie und nach Europa zu machen - mit einer wiederum besonders bizarren Ausnahme: Milosevic in Jugoslawien. Warum wir jetzt betroffen sind? Weil sich die heutige Situation Deutschlands und anderer NATO-Staaten von der vor 1989 unterscheidet. Vor 1989 hatten wir nicht die Möglichkeit, zu entscheiden, ob wir den Tschechen helfen. Heute haben wir diese Möglichkeit. Damit ist der Friedensfortschritt gleichzeitig auch wieder ein Schritt hin zu neuen, viel schwierigeren Entscheidungen, die wir unter der Ägide der atomaren Abschreckung nicht zu treffen hatten. Damit sind wir heute - das müssen wir sehen - konfrontiert. Ich sehe den Erfolg des militärischen Engagements der NATO in Jugoslawien voraus und komme zu den Perspektiven: Wir werden daran gemessen werden, ob wir Europäer nach dieser Intervention bereit sind, unsere Europapolitik hinsichtlich der Integration neuer Mitglieder zu ändern. Nach Kosovo darf die Frage nicht mehr lauten „Wer darf in die Europäische Union?“, sondern muß es heißen: Wir wollen sie alle in Europa haben. ({3}) Die NATO war nur so erfolgreich, weil eine andere gigantische Friedensleistung historischer Dimension stattfand: das Ende möglicher Kriege in Westeuropa durch die europäische Integration. Die Vollendung der europäischen Integration bedeutete das Ende der Kriege in ganz Europa für alle seine Staaten. Dieses Europa braucht dann auch - dies lernen wir jetzt deutlicher denn je - seine eigene Sicherheitsidentität. ({4}) An der zu arbeiten kann nicht mehr wenigen Beamten überlassen werden, sondern wird eine eminent politische Aufgabe. ({5}) Wenn wir das so formulieren, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zu Rußland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Ich versuche, hier eine Vision zu malen: Ich kann mir vorstellen, daß der nördliPeter Zumkley che Teil der nördlichen Erdhalbkugel in einer Perspektive von 20 Jahren dadurch bestimmt wird, daß drei föderale Staatswesen mit je sicherlich unterschiedlicher Sicherheitsidentität - die Vereinigten Staaten von Amerika, die Europäische Union und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, in welcher Formation auch immer -, miteinander sicherheitspolitisch in Partnerschaft verbunden, dafür sorgen, daß auf der reichen nördlichen Halbkugel dieser Welt keine Kriege mehr ausgetragen werden können. Das muß die Vision sein. ({6}) Wenn wir das im Blick haben, kommt die letzte Aufgabe notwendig in die Diskussion: Diese NATO muß dann auch sagen, wie sie sich zu anderen Staaten in dieser Welt verhält. Man darf nicht darüber hinweggehen. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, der Kollege Klose, hat berichtet, daß Inder und Pakistani der Intervention der NATO im Kosovo nun wirklich nicht begeistert zustimmen. Vielmehr taucht die Frage auf, was das für den Weltfrieden bedeutet. Unbeschadet des Primats der Vereinten Nationen, an dem Sozialdemokraten nie einen Zweifel hatten, gibt es eine weitere Aufgabe. Die NATO darf und muß allen anderen Staaten der Welt weiterhin sagen: Wir lassen nicht zu, daß wir angegriffen werden. Vermutlich würdet ihr einen Angriff im Ernstfall auch nicht überstehen können; denn es gibt noch atomare Waffen. Aber wir müssen auch deutlich machen: Wann immer die NATO oder NATO-Staaten irgendwo intervenieren, muß die Verhältnismäßigkeit der sicherheitspolitischen Mittel gelten. Das parteiübergreifende Grummeln über das, was die Vereinigten Staaten und Großbritannien im Irak tun, bestätigt das jetzt ja auch. Es muß also ein deutliches Signal sein. Wenn sich die NATO oder NATOStaaten außer zur Verteidigung irgendwo engagiert, muß der Satz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel gelten. Der Einsatz dieser Mittel muß an die Prinzipien der Humanität gebunden sein. Das wird auf Dauer nur erreichbar sein, wenn diese NATO bereit ist, Sicherheitspartnerschaften mit welchen Ländern dieser Welt auch immer einzugehen, wenn sie es denn wollen. Dies am Schluß einer NATO-Debatte in Zeiten der Globalisierung zu sagen, halte ich für erforderlich. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/599, 14/316, 14/454 ({0}) und 14/792 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/454 ({1}) soll an den Auswärtigen Ausschuß und den Verteidigungsausschuß, aber nicht an den Rechtsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich ({2}), Friedrich Merz, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deutschland muß verläßlicher Partner in europäischer Raumfahrt bleiben - Drucksache 14/655 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Ilse Aigner.

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ministerratskonferenz der Europäischen Raumfahrtagentur ESA am 11. und 12. Mai in Brüssel stehen richtungweisende Entscheidungen über die zukünftigen europäischen Raumfahrtaktivitäten an. Hierzu gehören im wesentlichen die Leistungssteigerung der Ariane 5 zur Anpassung an die Markterfordernisse, die Nutzung der internationalen Raumstation und die Fortführung des wissenschaftlichen Erdbeobachtungsprogramms. Gleichzeitig soll in Brüssel über kommerziell ausgerichtete Leitprojekte, die im nationalen Förderprogramm vorgesehen sind, wie zum Beispiel über Multimedia-Satellitentechnologie, entschieden werden. Vor diesem Hintergrund setzt sich die CDU/CSUBundestagsfraktion mit dem heutigen Antrag entschieden dafür ein, daß die international eingegangen Verpflichtungen am europäischen Raumstations-Entwicklungsprogramm von Deutschland auch in Zukunft eingehalten werden. Die erforderlichen Mittel der deutschen Beteiligung in Höhe von rund 2,5 Milliarden DM, die noch von der früheren Bundesregierung für die Jahre 1998 bis 2004 vorgesehen wurden, müssen bereitgestellt werden. ({0}) Deutschland hat im europäischen Verbund mit 41 Prozent Beteiligung die führende Rolle beim Raumstationsprogramm, und dies muß auch so bleiben. Die bereits erfolgten Budgetkürzungen von rund 30 Millionen DM wie die noch geplanten Kürzungen bei der Raumfahrt gefährden die deutsche Beteiligung bei den neuen Projekten auf europäischer Ebene, vor allem aber schränken sie den deutschen Arbeitsanteil an wichtigen technologischen Vorhaben stark ein. Ohne eine Aufstockung des deutschen ESA-Beitrages von zur Zeit 970 Millionen DM im Jahre 1999 bzw. 980 Millionen DM im Jahre 2000 können etliche deutsche Firmen, zum Beispiel die DASA und zahlreiche Mittelständler, ab dem Jahr 2000 nicht mehr mitforschen. Die Regierung Schröder verengt damit den Spielraum in wichtigen Feldern der Raumfahrtanwendungen und gefährdet Arbeitsplätze, weil die deutschen Beiträge fehlen. ({1}) Es wäre doch schon ein Witz, am Bau eines Labors im Weltraum beteiligt zu sein, dann aber nicht mehr die finanziellen Mittel zu haben, dieses Labor auch entsprechend zu nutzen. Viele Projekte auf europäischer Ebene können ohne deutsche Beteiligung voraussichtlich gar nicht realisiert werden. Ohne das Wissen der DASA und der MAN Technologie wäre an die Weiterentwicklung der Ariane5 nicht zu denken. Nur mit eigenen Trägerraketen können wir Europäer im Zukunftsmarkt Satellitennavigation und Erdbeobachtung mitmischen. Im Moment transportieren die Amerikaner mehr als 60 Prozent aller Satelliten, militärische wie kommerzielle, ins All und übernehmen mit Neuentwicklungen die Führungsposition. Damit gerät Europa erneut in amerikanische Abhängigkeit. Langfristig bedeutet das auch den Verlust von hochqualifizierten Arbeitsplätzen in Deutschland. Mit einer leistungsstärkeren Ariane 5 mit wiederzündbarer Oberstufe würde die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit europäischer Raumtransportsysteme gegenüber der amerikanischen und russischen Konkurrenz gesichert. Für den Zeitraum von 2001 bis 2005 wird mit einem Bedarf an Satellitenstarts von 60 bis 90 pro Jahr gerechnet. Die Satelliten werden größer und schwerer. Das heißt, die Trägerrakete Ariane muß in wenigen Jahren 11 Tonnen statt jetzt 6 Tonnen tragen können. Frankreich ist mit 45 Prozent Beteiligung bei Ariane führend. Deutschland hat sich bisher an allen ArianeProgrammen mit 20 Prozent beteiligt. Bezogen auf die Ariane-5-Weiterentwicklung bedeutet das die Bereitstellung von 100 Millionen DM zusätzlich für die Jahre 2000 bis 2003. Weiterhin muß die Bundesregierung die angemessene Beteiligung Deutschlands am Erdbeobachtungsprogramm der ESA sicherstellen. In der Erdbeobachtung ist die deutsche Industrie bei Erforschung, Integration und dem Test von kompletten Satellitensystemen federführend. Dies muß für Wissenschaft wie auch für kommerzielle Anwendungen weiterentwickelt werden. Auch muß der Aufbau eines europäischen satellitengestützten Navigationssystems GNSS unterstützt werden. Damit soll die Abhängigkeit von dem amerikanischen GPS und dem russischen Glonass-System, deren Peilsignale verschlüsselt sind und unter militärischer Verfügungsgewalt stehen, verhindert werden. ({2}) Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist eine der forschungsintensivsten Schlüsselbranchen unserer Volkswirtschaft. Direkt und indirekt arbeiten 100 000 Menschen in der deutschen Raumfahrt. Rund 95 Prozent der Arbeitsplätze entstehen außerhalb der eigentlichen Raumfahrtindustrie, und zwar vor allem in der mittelständischen Wirtschaft. Das bedeutet im Klartext: Jeder Arbeitsplatz in der Raumfahrtindustrie ermöglicht statistisch in den Folgemärkten, etwa bei Dienstleistern und Endgeräteherstellern, mehr als zehn weitere Arbeitsplätze. Auf Grund technologischer Innovation ist hier ein beachtlicher Wachstumsmarkt entstanden, der die Kommerzialisierung der Raumfahrt ermöglicht und fördert. Besondere Marktpotentiale ergeben sich in den Bereichen Kommunikation und Satellitentechnik und auch in interdisziplinären Bereichen wie Mikro- und Optoelektronik, Meßsteuer- und Regeltechnik, Robotik und Software-Technologie. Hier finden sich hervorragende Zukunfts- und Wachstumsmärkte für deutsche Weltraumunternehmen. Europaweit setzte diese Branche 1997 knapp 5 Milliarden Euro um. Kommerzielle Anwendungen von Satellitennavigation nutzen der Sicherheitspolitik, dem Verkehr, dem Umweltschutz und dem Multimedia-Bereich. Vor diesem Hintergrund ist es eine wichtige Aufgabe der Forschungspolitik, die Arbeitsteilung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren für die Zukunft zu definieren und besonders bei der Anwendung der Satellitentechnik den Übergang von staatlicher in private Zuständigkeit zu planen. Für die Erschließung künftiger Märkte sind deshalb gemeinsame Anstrengungen zwischen Staat und Wirtschaft in Form einer Private-Public-Partnership erforderlich. Betrachten wir doch einmal das Ungleichgewicht in den öffentlichen Forschungs- und Entwicklungsbudgets von Europa und den USA: Während in den USA 1997 mehr als 10,7 Milliarden Euro für die Raumfahrt ausgegeben wurden, waren es in Frankreich 1,86, in Italien 0,44 und in Deutschland 0,69 Milliarden Euro. Den amerikanischen Raumfahrtaufwendungen in Höhe von mehr als 10 Milliarden Euro stehen also knapp 3 Milliarden Euro auf europäischer Ebene gegenüber. Um der Gefahr eines Substanzverlustes beim technologischen Know-how, aber auch um der zunehmenden Abhängigkeit von den Wettbewerbern in den USA entgegenzuwirken, müssen verstärkt europäische Strukturen geschaffen werden. Europa muß sich dem internationalen Wettbewerb stellen, indem es seine Kapazitäten weiterentwickelt und gleiche Marktzugangschancen schafft. Die aktuellen Wettbewerbsbedingungen auf den Weltmärkten lassen keine Zweifel darüber zu, daß eine enge Zusammenarbeit in Europa nicht nur eine Chance, sondern eine Überlebensbedingung für die Raumfahrtindustrie bedeutet. ({3}) Für nahezu alle Großprojekte gilt, daß sie allein in nationaler Kompetenz kaum noch mit vertretbarem Aufwand realisiert werden können, sondern europäische Zusammenarbeit erfordern. Im Vergleich zu den wesentlich geschlossener auftretenden Amerikanern leiden die Europäer unter dem vergleichsweise kleinen und zersplitterten Markt. Die Bereitschaft, Abhängigkeiten einIlse Aigner zugehen und Selbständigkeiten aufzugeben, steht einer konkurrenzfähigen Produktionsstruktur in Europa noch immer im Wege. Airbus, Arianespace und Eurocopter sind Beispiele erfolgreicher europäischer Zusammenarbeit und eine solide Basis für die Zukunft. Nur eine europäische Luftund Raumfahrtindustrie, die technologisch anspruchsvolle und finanziell ausreichende Entwicklungsmöglichkeiten hat, ist wettbewerbsfähig und auch für amerikanische oder asiatische Partner interessant. Dazu ist eine politische Flankierung der industriellen Bemühungen notwendig. Eine gemeinsame europäische Raumfahrtpolitik muß sich deswegen auch immer als Instrument europäischer Sicherheits-, Wirtschafts- und Verkehrspolitik verstehen. Die USA verstehen die Raumfahrt übrigens auch als machtpolitisches Instrument: Das GPS ist zum Beispiel auch ein sicherheitspolitisches Instrument. US-amerikanische Trägerkapazitäten stehen nur ausländischen Kunden zur Verfügung, die politisches „Wohlverhalten“ zeigen. Erdbeobachtungsdaten der US-Aufklärung werden selbst NATO-Partnern nur in beschränktem Umfang zur Verfügung gestellt. Forschungskooperationen und gemeinsame Technologieentwicklungen können jederzeit auf Weisung der US-Regierung gestoppt werden. Immer teurere und komplexere Systeme machen zunehmend internationale Kooperationen notwendig. Mit Rußland, der Ukraine, mittel- und osteuropäischen sowie einigen fernöstlichen Ländern ergeben sich interessante Möglichkeiten der Zusammenarbeit, technologische Kompetenz und Produktionskostenvorteile miteinander zu verbinden. Sogar Bundeskanzler Schröder ist sich dieser Notwendigkeit bewußt. Er sagte kürzlich, anläßlich der Übergabe des Raumfahrtlabors Spacelab an die DASA am 16. April in Bremen, daß Rußland verstärkt in wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit eingebunden werden müsse, und betonte gleichzeitig, daß die Bundesregierung alle international eingegangenen Verpflichtungen in der bemannten - oder befrauten Raumfahrt auch erfüllen werde. Das läßt mich noch hoffen, Herr Bundeskanzler. Finanzielle Engpässe dürfen nicht dazu führen, daß sich Deutschland von den neusten Entwicklungen abkoppelt und so den Anschluß an das Technologiefeld Raumfahrtmarkt verliert. ({4}) Deswegen fordern wir die Regierung auf: Auf der Ministerratskonferenz in Brüssel muß eine angemessene finanzielle deutsche Beteiligung vorgesehen werden. Die europäischen Mitgliedstaaten der ESA benötigen die versprochene deutsche Unterstützung, um die vorgesehenen Programme politisch und finanziell mitzutragen und verwirklichen zu können. Vielen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zwei Ziele bestimmen die Weltraumpolitik der Bundesregierung. Das erste Ziel ist, mit den finanziellen Fehlplanungen meines Vorgängers in bezug auf die Weltraumforschung fertig zu werden ({0}) - das ist leider so - und die Ministerratstagung zum Erfolg zu führen, ohne den deutschen Beitrag zur Europäischen Weltraumorganisation über Gebühr zu erhöhen. Das zweite Ziel ist es - dies ist aus meiner Sicht das mittelfristig wichtigste Ziel -, Raumfahrt als Dienstleistung für exzellente Forschung und für kommerzielle Anwendung zu fördern und dabei mit den Steuermitteln so effizient wie möglich umzugehen. ({1}) Die Weltraumforschung hat in der Politik der Bundesregierung einen hohen Stellenwert. Ich möchte das an Hand zweier Zahlen deutlich machen: Der Anteil der Förderung der Raumfahrt insgesamt - die Projektförderung mit ESA, denn auch die ESA-Beiträge sind Projektförderungsmittel, und die institutionelle Förderung am Forschungshaushalt des BMBF beträgt 16 Prozent. Das ist der weitaus größte Forschungstitel überhaupt. Nur auf die Projektförderung bezogen, beträgt der Anteil der Förderung der Raumfahrtforschung sogar 30 Prozent. Das unterstreicht die Priorität der Weltraumforschung in diesem Haushalt. Das unterstreicht aber gleichzeitig auch das Potential zur Optimierung. Mein Ziel ist es, in der Raumfahrt Strukturen zu schaffen und zu fördern, die eine ganz klare wirtschaftliche Perspektive haben und eine wissenschaftliche Exzellenz ermöglichen. Wenn wir das erreichen wollen, dann stellt sich die Frage, wo das Problem zur Zeit liegt. Das Problem liegt darin, daß 1995 die alte Bundesregierung beschlossen hatte, daß Deutschland 41 Prozent der Finanzierung des ESA-Beitrages zur Raumstation übernimmt. Das ist im übrigen fast doppelt soviel wie unsere durchschnittliche Beteiligung an allen anderen ESAProgrammen. Der deutsche Beitrag zu diesem Projekt steigt demzufolge von 260 Millionen DM 1998 über 474 Millionen DM im Jahre 2001 auf sogar 556 Millionen DM im Jahre 2003. Das bedeutet einen Anstieg um rund 300 Millionen DM gegenüber 1998, zu dem wir rechtlich verpflichtet sind. ({2}) Allein diese Zahlen machen deutlich, daß die Kosten für diese Steigerung zum Beispiel höher sind als die Ausgaben des BMWF für die gesamte Projektförderung im Bereich der Biotechnologie im Jahre 2003. Wir sind uns darüber einig, daß die Biotechnologie auch ein wichtiger Zukunftsbereich ist. Das sind keine Peanuts, über die wir hier reden, zumindest nicht nach meinem Verständnis vom Umgang mit Steuermitteln. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, werden in der Finanzplanung von Herrn Rüttgers keinerlei Vorsorge dafür finden, daß sich Deutschland an sinnvollen Projekten wie an der Weiterentwicklung der Ariane 5 plus beteiligt. ({3}) Sie werden keinerlei finanzielle Vorsorge dafür finden, daß sich Deutschland an der Fortsetzung der Erdbeobachtung beteiligt. Das ist aus meiner Sicht auch ein wichtiges Programm. Das nenne ich, Herr Mayer, eine unsolide Finanzpolitik der alten Bundesregierung, die wir leider auch auf anderen Feldern immer wieder vorgefunden haben. ({4}) Wenn ich mir, Herr Mayer, die letzte von der alten Bundesregierung beschlossene mittelfristige Finanzplanung anschaue - die Daten liegen ebenso wie die Beschlüsse vor; sie können Sie alle einsehen -, dann muß ich feststellen, daß die alte Bundesregierung ESABeiträge in Höhe von 970 Millionen DM bis zum Jahre 2001 eingeplant hatte. Dazu ist keinerlei Vorsorge getroffen worden. ({5}) Wenn Sie, meine Damen und Herren in der Opposition, der jetzigen Regierung vorwerfen, sie lasse die Raumfahrt im Stich, nachdem Sie in der Vergangenheit massiv gekürzt haben und eine Finanzplanung vorgelegt haben, die keinerlei Vorsorge beinhaltet, sondern ein finanzielles Chaos bedeutet, das Sie jetzt kritisieren, dann kann ich nur dazu sagen, daß Sie damit heute Ihre Taten von gestern kritisieren. Dazu gehört schon einiges an Chuzpe. ({6}) Ich schlage vor, daß wir zu einer sachlichen Auseinandersetzung zurückkehren, weil ich den Eindruck habe, daß wir in der Zielsetzung in vielen Punkten übereinstimmen. Wir sollten außerdem zu einer sachlichen Auseinandersetzung zurückkehren, weil es wirklich um viel Geld geht, über dessen Verwendung wir miteinander entscheiden müssen. Das Geld kann nicht zweimal ausgegeben werden. In der Vorbereitung der Ministerratskonferenz der Europäischen Weltraumorganisation am 11. und 12. Mai 1999 werden wir versuchen, die wichtigen und sinnvollen Projekte der Raumfahrt zu erhalten. Wir wollen das Wissenschaftsprogramm der ESA weiterführen. Wir wollen vor allen Dingen eine angemessene Teilnahme Deutschlands am Projekt „Ariane 5 plus“, für das bisher, wie gesagt, überhaupt keinerlei Vorsorge getroffen worden ist. ({7}) Wir wollen im Rahmen unserer Möglichkeiten auch eine Beteiligung an dem Programm zur Erdbeobachtung. Schließlich müssen wir auch unseren Verpflichtungen in der bemannten Raumfahrt nachkommen. ({8}) Es wird nicht einfach sein, dies alles unter einen Hut zu bringen. Es wird nur dann funktionieren, wenn alle Beteiligten daran mitwirken. Wir wollen angemessene Korrekturen, ohne dabei unsere Verpflichtungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Wir wollen insbesondere nicht, wie es ein Berater eines großen deutschen Raumfahrtkonzerns in einem Schreiben an den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses vorgeschlagen hat, die Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die FraunhoferGesellschaft für eine falsch angelegte Raumfahrtpolitik finanziell büßen lassen. ({9}) Wir haben mehr Haushaltsmittel als die Vorgängerregierung in unsere mittelfristige Finanzplanung eingestellt. Aber es muß bei einer moderaten Erhöhung bleiben. Ich habe Gespräche mit Vertretern der deutschen Wissenschaft und der deutschen Industrie geführt und habe mich dabei zusammen mit allen Beteiligten darum bemüht, durch Einsparen und Strecken von Mitteln eine Lösung für das von der alten Bundesregierung angerichtete Dilemma zu finden. In Gesprächen mit Frankreich und Großbritannien in der nächsten Woche folgt noch ein Gespräch mit Belgien - habe ich versucht, Lösungen zu finden. All diese Gespräche - das kann ich so zusammenfassen - stimmen mich gedämpft optimistisch, daß wir hier zu einer Lösung kommen. Aber ich sage auch ganz deutlich, daß wir noch nicht über den Berg sind. Ich wünsche mir, daß wir eine möglichst parteiübergreifende Haltung entwickeln können, um unseren Partnern in der ESA deutlich zu machen, daß wir es mit unserem Beitrag zur Lösung der Krise ernst meinen, aber auch von unseren Partnern in der ESA einen angemessenen Beitrag erwarten. ({10}) Meine Damen und Herren, die Wirtschaft hat einen größeren Beitrag zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben zu leisten. Es muß ein Anliegen der Wirtschaft sein, überzeugende Ansätze und Konzepte für innovative Dienstleistungen auf Gebieten wie der Satellitennavigation und der Satellitenkommunikation, bei den Trägerraketen und sowie eingeschränkt auch bei der Erdbeobachtung zu liefern. Bei vorhersehbarer Marktrentabilität, wie es etwa bei der Satellitennavigation ganz klar der Fall ist, müssen die Unternehmen eine größere Verantwortung für die Finanzierung der Programme und eine Beteiligung an den Risiken übernehmen. Die Bündelung der Kräfte, wie sie sich teilweise in der europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie vollzieht, schafft hierfür übrigens auch eine gute Voraussetzung. Wachsende Verantwortung sehe ich aber nicht nur auf seiten der Wirtschaft, sondern auch auf seiten der wissenschaftlichen Nutzer. Wir müssen gemeinsam Vorschläge entwickeln, wie wir die Eigenverantwortung der Wissenschaft für den Betrieb und die Nutzung raumgestützer wissenschaftlicher Infrastrukturen stärken können. Die Raumfahrtinvestitionen insgesamt müssen sich stärker am Bedarf der fachlichen Nutzer ausrichten. Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, zwei Ziele bestimmten unsere Weltraumpolitik. Wenn das erste Ziel sein muß, nach der Fehlentwicklung auf der Ministerratstagung von 1995 und nach der gescheiterten Ministerratstagung im Jahr 1998 in diesem Jahr zu einer für alle Beteiligten akzeptablen Lösung zu kommen, so lautet das zweite und eigentliche Ziel: Wir wollen Raumfahrt als Dienstleistung für exzellente Forschung und für kommerziell nutzbare Anwendungen. Wir wollen keine politischen Luxusprojekte, sondern wir wollen wissenschaftlich und wirtschaftlich sinnvolle Projekte. Dazu brauchen wir mittelfristig einen neuen Ansatz sowohl in der ESA als auch in der nationalen Raumfahrtpolitik. Alle Projekte in der Raumfahrt müssen sich denselben Kriterien wie Projekte in anderen Bildungs- und Forschungsbereichen unterwerfen. Diese Kriterien sind: wissenschaftliche Qualität im richtigen Verhältnis zu finanziellem Aufwand und kommerziellem Nutzen. Das richtige Verhältnis, das ich meine, sollte auch eine angemessene Beteiligung der industriellen Nutznießer widerspiegeln. Experimente unter Schwerelosigkeit ja, aber alles, was im Raum mit Robotern billiger als mit Menschen zu machen ist, sollten wir den Robotern überlassen. Sie brauchen jedenfalls keine immens teuren Lebenserhaltungssysteme und erzielen in vielen Fällen den gleichen Effekt zu wesentlich niedrigeren Kosten. Darüber hinaus - auch das ist dabei ein wichtiges Ziel - können solche Technologien auch auf der Erde nutzbringend angewandt werden, wie man gerade jetzt auf der Industriemesse gut beobachten kann; ich denke beispielsweise an die Fernwartung. Raumfahrt muß rational und nicht nur als Medienschau von Astronauten geplant werden, auch wenn ich deren Leistung sehr wohl anerkenne und respektiere. ({11}) Erdbeobachtung zur Klimaforschung ja, aber auch hier in Relation zu anderen Aufwendungen und Notwendigkeiten, beispielsweise zu der notwendigen Beschaffung von Höchstleistungsrechnern, um Klimamodelle effizienter und aussagekräftiger zu machen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Thomas Rachel?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Selbstverständlich.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, Sie haben deutlich zu machen versucht, daß das Neue an Ihrer Politik darin bestehe, im Bereich der Raumfahrt kein Medienspektakel für Astronauten zu organisieren und zugleich zu einer rationellen, durchgerechneten Raumfahrtpolitik zu kommen. Wie verträgt sich das damit, daß sich Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einem riesigen Medienzirkus beim Empfang des USAstronautenveteranen John Glenn im Kanzleramt hat feiern und ablichten lassen, während Sie dabei sind, den Raumfahrthaushalt zu kürzen? Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß die Ministerratskonferenz von 1995 der ESA, die Sie gerade kritisiert haben, auf Grund der Initiative Ihres Vorgängers, Jürgen Rüttgers, dazu geführt hat, daß das sogenannte Konzept „design to budget“ eingeführt wurde, daß also im Bereich der Raumfahrt wirtschaftlich gehandelt werden muß? Ist Ihnen ferner bekannt, daß dieses Konzept schon ganz konkrete Folgen aufweist? Denn der Röntgenastronomie-Satellit Abrixas, der am 28. dieses Monats in das Orbit gesandt wird, wird einen um einen Faktor 10 niedrigeren Kostenaufwand als der Vorgänger Rosat haben. Das heißt: Wir befinden uns auf einem wirtschaftlich vernünftigen Kurs. Ich finde es insofern etwas billig - das müssen Sie selbst einräumen -, daß Sie diese politische Wende hin zu einer vernünftigen Raumfahrtpolitik plötzlich in Frage stellen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Rachel, Sie haben sich zu einer Zwischenfrage gemeldet.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das waren drei Fragen: ob ihr das bekannt ist.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Rachel, ich möchte keine Diskussion mit Ihnen führen. Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Herr Kollege Rachel, erstens ist es falsch, daß ich den Weltraumtitel kürze. Im Gegenteil: Ich erhöhe ihn gegenüber der mittelfristigen Finanzplanung der alten Bundesregierung. Zweitens besteht das wichtigste Ziel meiner Politik im Unterschied zur alten Regierung darin, daß ich die Weltraumforschung insgesamt auf die beiden Ziele wissenschaftliche Exzellenz und kommerzielle Nutzung ausrichten möchte. Ich bin sehr davon angetan, daß diese Zielsetzung in einem Gespräch mit den Vertretern der deutschen Industrie wie auch mit den Vertretern der Wissenschaftsorganisationen auf eine sehr positive Resonanz gestoßen ist und daß sich alle Beteiligten darin einig waren, daß meine Vorschläge einen sinnvollen Weg darstellen. ({0}) Herr Kollege Rachel, ich möchte auch Ihre weiteren Fragen beantworten. Ich bin durchaus der Auffassung, daß die Verwirklichung des Konzepts „design to budget“ ein wichtiges Ziel ist, das leider noch nicht erreicht worden ist. Ich gehe nachher noch auf diesen Punkt ein. Ich habe vorhin schon gesagt, daß es mir wichtig ist, daß das gesamte Parlament der ESA gegenüber deutlich macht, daß wir nicht gewillt sind, hinzunehmen, daß die ESA die Finanzplanung überschreitet, so wie das leider immer wieder der Fall gewesen ist, und daß wir nicht gewillt sind, den hohen Anteil der administrativen Kosten der ESA weiterhin hinzunehmen. Es wäre mir sehr lieb, wenn man in diesem Punkt eine breite Übereinstimmung im Parlament erreichen könnte, was bisher eigentlich immer der Fall war. ({1}) Diese Ziele sind gegenüber der ESA leider immer noch nicht durchgesetzt worden. Sie werden aber nicht nur von der deutschen Regierung, sondern auch von unseren europäischen Partnern verfolgt. Ich würde es für ziemlich fatal halten, wenn man von diesen Zielen mit dem Verweis, daß sie vereinbart, leider aber noch nicht erreicht worden seien, Abstand nehmen würde. Auch ich selbst habe den Astronauten Glenn empfangen, weil ich seine persönliche Leistung durchaus anerkenne. ({2}) Ich bin der Meinung, daß wir in der Weltraumforschung insgesamt - auch das ist eine Einschätzung, die unsere Partner teilen - die kommerziellen Marktchancen besser nutzen müssen, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Diese Nutzungsmöglichkeiten liegen vor allen Dingen im Bereich der Telekommunikationssatelliten und der Navigationssatelliten. Ich halte es für fatal - ich sage ganz offen: ich finde es bedauerlich, aber es ist leider so -, daß Europa gerade in diesen wichtigen Anwendungsbereichen im Grunde genommen zehn Jahre verspielt hat. Ich hätte mir gewünscht, daß wir schon Ende der achtziger Jahre - wir haben häufig im Parlament miteinander darüber diskutiert - diese Priorität gesetzt hätten. ({3}) Das war leider bei den damaligen Mehrheitsverhältnissen nicht möglich. Ich hoffe aber, daß wir jetzt die richtige Weichenstellung vornehmen; denn wir wollen die Steuermittel auch zum Nutzen der Menschheit einsetzen. Dazu gehört sowohl die Nutzung von Telekommunikation und Erdbeobachtung wie auch die Grundlagenforschung. ({4}) Meine Damen und Herren, Erdbeobachtung zur Klimaforschung, ja, das ist ein wichtiges Ziel. Aber dieses Ziel muß in Relation zu Aufwendungen und Notwendigkeiten stehen. Grundlagenforschung - dies habe ich schon in meiner Antwort auf die Zwischenfrage gesagt - ja, denn der Weltraum ist eines der wichtigsten Themen für Erkenntnisse über physikalische Zusammenhänge unserer Welt und damit über die Entstehung des Weltalls. Auch dafür müssen wir Finanzmittel bereitstellen. Kommerzielle Anwendungen der Raumfahrt, beispielsweise bei der Satellitennavigation: ja, das wollen wir im Rahmen einer Public-Private-Partnership. Ich hoffe, daß es uns bei Galileo wirklich gelingt, das jetzt endlich zu machen und nicht nur darüber zu reden. Ich meine eine Public-Private-Partnership, bei der die Nutzer der Satellitennavigation das Raumfahrtsegment entscheidend mitfinanzieren und die öffentliche Hand die Rahmenbedingungen schafft, die wir dafür brauchen. Trägerraketen: ja, aber mit einer unternehmerischen Perspektive und finanzieller Mitverantwortung der Industrie in der Entwicklung. ({5}) Meine Damen und Herren, das sind unsere Prioritäten. Wir werden diese Prioritäten nur dann erfüllen können, wenn die Forschung bei der Prioritätensetzung mitwirkt. Das gilt vor allem bei der Entscheidung, ob Projekte besser durch die Raumfahrt oder ob sie besser auf der Erde durchgeführt werden können. Dieses Ziel läßt sich zur Zeit im Rahmen der eingefahrenen Spielregeln der ESA - in der Bundesrepublik ist das im übrigen etwas anders - nur äußerst mühsam erreichen. Wir werden die Vorhaben nur dann verwirklichen können, wenn unsere Unternehmen Prioritäten dort setzen, wo sich neue Märkte mit interessanten wirtschaftlichen Perspektiven entwickeln. Schließlich werden wir diese Prioritäten nur erfüllen, wenn die Europäische Weltraumorganisation für Reformen offen ist, um die Entscheidungssituation transparent und nachvollziehbar zu machen und um das, was als Ziel beschrieben worden ist, endlich erreichen zu können. Ich möchte ein Zitat vortragen, das aus meiner Sicht noch immer die Situation beschreibt: Die ESA kennt unsere Anforderungen. Bislang habe ich allerdings nicht den Eindruck, daß sie die Brisanz dieser Fragen und dieses Anliegens vollständig erkannt hat und mit dem notwendigen Nachdruck arbeitet. Dieses Zitat stammt aus der Rede meines Vorgängers in diesem Amt aus der Bundestagsdebatte vom 29. März 1995. Leider trifft es nach wie vor den Punkt. Lassen Sie uns gemeinsam an den notwendigen Korrekturen arbeiten, damit wir den Steuerzahlern guten Gewissens sagen können: Wir gehen sparsam mit eurem Geld um. Wir investieren es in Projekte, die für den Fortschritt der Wissenschaft notwendig sind, für unsere wirtschaftliche, gesellschaftliche und technologische Entwicklung Sinn machen und deshalb Priorität erhalten müssen. Das, meine Herren und Damen, nenne ich eine rationale Politik auf dem Gebiet der Weltraumforschung. Dafür werbe ich um Unterstützung. Vielen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Martin Mayer das Wort, bitte sehr. - Sie dürfen dann antworten, Frau Ministerin, wenn Sie möchten. ({0}) - Dürfen, nicht müssen!

Dr. Martin Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001448, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bundesministerin, Sie haben die Raumfahrtpolitik der alten Bundesregierung in scharfer Weise kritisiert und dabei auch mich als Mitglied der damaligen Regierungskoalition angesprochen. Das ist ja die alte Platte. Dazu möchte ich drei Bemerkungen machen. Erstens. Sie könnten den Haushalt, den wir in der nächsten Sitzungswoche verabschieden, nicht so gestalten, wenn nicht die Regierung Kohl/Waigel ({0}) durch ihre solide Finanz- und Wirtschaftspolitik ({1}) die Grundlage dafür gelegt hätte, daß die Steuereinnahmen wieder besser sprudeln. Zweitens. In der europäischen Raumfahrtpolitik gab es gerade in den letzten zehn Jahren einen Umbruch zu bewältigen, der beispiellos ist und der dadurch bedingt ist, daß sich die Verhältnisse in der Welt gewandelt haben und daß Europa von einer autarken Weltraumpolitik Abschied genommen und sich in die internationalen Verbünde integriert hat. Drittens. Es ist Aufgabe der Regierung, die Prioritäten im einzelnen zu setzen. Sie haben vorhin von Zukunftstechnologien und von der Zukunft in der Raumfahrt gesprochen. Es ist absolut unverständlich, daß sich die Bundesrepublik Deutschland offenbar nicht an der Fortführung der Entwicklung der zentralen Zukunftstechnologie der Raumtransportsysteme - ich meine die wiederverwendbaren Systeme - beteiligt. Sie reden von Zukunft, aber in Wirklichkeit verspielen Sie die Zukunft! ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Ministerin, Sie möchten antworten? - Bitte sehr. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Ich bringe nur die notwendige Geduld auf, die wir - das wissen Sie doch seit langem, Herr Hirche - bei dieser Technik haben müssen. Geduld muß man in der Politik manchmal auch haben. Herr Mayer, es ist falsch, wenn Sie sagen, die Bundesrepublik wolle sich nicht an der Weiterentwicklung der Trägertechnologien beteiligen. Gerade weil ich das will, habe ich Gespräche mit den Unternehmen, mit der Wirtschaft, mit den Wissenschaftsorganisationen und auch mit den europäischen Partnerländern geführt. Leider ist es aber so, daß die alte Bundesregierung keinerlei finanzielle Vorsorge für die Beteiligung an diesen Projekten getroffen hat. Deshalb muß ich dieses ungeordnete Erbe - dabei handelt es sich im übrigen um das Zitat eines Unternehmens - jetzt ordnen. Ich glaube, daß das gelingen kann und auch gelingen wird; denn ich habe den Eindruck, daß alle Beteiligten bereit sind, dabei mitzumachen. Wir übernehmen unseren Teil der Verantwortung. Die anderen Beteiligten - Wirtschaft, ESA-Partner und Wissenschaftsorganisationen - müssen ihren Teil der Verantwortung übernehmen. Einen kleinen letzten Hinweis kann ich mir nicht verkneifen, Herr Mayer. Als Sie über das finanzielle Erbe sprachen und sagten, wie gut dies geordnet sei, lachte nicht nur die Koalition, sondern auch eine ganze Reihe von Oppositionsabgeordneten. ({0}) Ich kann Ihnen nur sagen: In diesem Feld habe ich wirklich ein ungeordnetes Erbe vorgefunden. Es wird sehr schwierig sein, dieses Erbe so zu ordnen, daß wir wichtige Chancen nicht verspielen. Da ich dies verhindern möchte, haben wir diese Gespräche geführt. Daher werde ich auch bei den ESA-Verhandlungen zu erreichen versuchen, daß wir zu einer Verständigung kommen, damit die Beteiligung an der Weiterentwicklung der Ariane gewährleistet ist, damit wir uns an der Erdbeobachtung entsprechend beteiligen können - dies halte ich ebenfalls für ein wichtiges Feld -, damit wir das Wissenschaftsprogramm fortführen können und damit wir - so, wie ich es gesagt habe - in Zukunft wirklich ein verläßlicher ESA-Partner sind, und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der konkreten finanziellen Planung. Vielen Dank. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bündnis 90/Die Grünen stehen zur Raumfahrt. Sie werden vielleicht staunen, meine Damen und Herren von der Opposition. Wir sind nicht technikfeindlich, wie Sie der Öffentlichkeit immer wieder weismachen wollen. ({0}) Allerdings - das unterscheidet uns von der blinden Technikhörigkeit der vergangenen Jahrzehnte - haben wir andere, sehr gut begründete Bewertungsmaßstäbe. Andere Gewichtungen in der Raumfahrt werden uns auch zu anderen Schwerpunktsetzungen bei der Mittelvergabe führen. Unverzichtbar ist für uns die Erderkundung aus dem Weltall. ({1}) Erdbeobachtungen von Satelliten geben uns umfassend und dringend benötigte Daten für die Umweltveränderungen und die Umweltzerstörungen auf dieser Erde. ({2}) In Umweltkonferenzen, zum Beispiel zum Klimaschutz, sind durch Satelliten gewonnene Daten eine wichtige Verhandlungsgrundlage. Dieses Feld einfach anderen Staaten zu überlassen hieße, die eigene Verhandlungsposition zu schwächen. Damit würde im Falle der jetzigen Bundesregierung ein bedeutender Anwalt der Umwelt in eine ungünstige Verhandlungsposition gebracht. Auch die Landwirtschaft und die Entwicklungshilfe profitieren in zunehmenden Maße von der Satellitentechnik. Die Grundlagenforschung für die Stillung des menschlichen Wissensdurstes gibt wichtige Rückschlüsse auf die Stellung des Menschen im Universum. Spannende Fragen stellen sich bei der Erkundung des Planetensystems und beim Blick in die Tiefen des Alls. Besonders positive Beispiele astronomischer Grundlagenforschung sind das Weltraumteleskop Hubble oder der neue Röntgensatellit. Allerdings ist bei der Stillung dieses Wissensdurstes darauf zu achten, daß wir das Leben auf der Erde nicht gefährden. Ein besonders negatives Beispiel, das die alte Bundesregierung mit zu verantworten hat, ist die Verwendung von Plutonium in Raumsonden. Cassini wird im August beim Swing-by-Manöver um die Erde Leben auf diesem Planeten gefährden. Die bestehende Gefahr einer radioaktiven Verseuchung legt den Gedanken nahe, die Sonde besser in die Sonne umzuleiten, als ein großes Risiko einzugehen. Es war schon unverantwortlich, diese Sonde zu bauen und zu starten. Entweder hätte die alte Bundesregierung auf Alternativantriebe setzen sollen oder so lange warten müssen, bis adäquate Antriebe zur Verfügung stehen. Als Erblast der alten Bundesregierung hat die bemannte Raumfahrt einen finanziellen Stellenwert, der ihr unter dem Gesichtspunkt des wissenschaftlichen Nutzens nicht zusteht. Daran werden wir leider nichts ändern können, da wir die völkerrechtlich verbindlichen Verträge einhalten müssen. Angesichts knapper Haushaltskassen stehen alle Ausgaben unter einem hohen Legitimationszwang. Ausgaben mit geringer Nutzungseffizienz sind gegenüber dem Steuerzahler schwer zu rechtfertigen. ({3}) Der Bürger fordert mit Recht, daß sein Geld so sinnvoll wie möglich ausgegeben wird. ({4}) - Hören Sie nur zu! - Wir sollten daher jeden noch so kleinen Spielraum nutzen, die Kosten für die Raumstation zu senken. Notfalls sollte auch zeitweise auf eine Nutzung verzichtet werden, bevor man, etwas polemisch ausgedrückt, anfängt, Astronauten Tischtennis spielen zu lassen, um die Flugbahn des Balles unter der Bedingung der Mikrogravitation beobachten zu können. ({5}) Ich will damit nicht in Zweifel ziehen, daß es selbstverständlich auch in der Raumstation sinnvolle Forschung gibt. Ich bin Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, dankbar, daß Sie die Diskussion über die Zukunft der Weltraumfahrt mit Ihrem Antrag ein Stück weit wieder in Gang gebracht haben. Aber leider geht Ihr Antrag in die falsche Richtung. Falsche Schwerpunktsetzungen der Vergangenheit sollen nochmals verstärkt werden. Sie treten dafür ein, daß der Staat immense Summen in die Weltraumtechnik investiert, die Industrie sich über Geschenke der Politik freut und die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen nicht gestellt wird. In der deutschen Raumfahrtpolitik hat es Tradition, daß weitreichende Entscheidungen über Programme mit langfristigen Bindungswirkungen auf unzureichender Informationsbasis gefällt wurden. Insbesondere das Parlament als eigentlicher Souverän verfügte allenfalls über bruchstückhaftes und oftmals selektiv aufbereitetes Wissen. Dies wird die neue Bundesregierung ändern. ({6}) Es werden unter anderem Entscheidungen getroffen über die Nutzung sowie den weiteren Ausbau der Raumstationen, über die Weiterentwicklung der Ariane-5Rakete, über die Entwicklung künftiger Raumtransportsysteme, was früher unter den Schlagworten „Hermes“ und „Sänger“ lief. Die Forderungen der ESA bergen erhebliche finanzielle Risiken, die die Bundesregierung zum Glück für die Steuerzahler und die Forschungslandschaft nicht eingehen wird. Ich werde die Probleme im folgenden einzeln ansprechen. Die Raumstation hat aus forschungspolitischer Sicht keine Priorität. Die Effizienz der eingesetzten Forschungsmittel ist gering. Von der Kernfusion vielleicht abgesehen, gibt es wohl kaum einen Bereich, in dem für jede Forschungsmark weniger Forschungsoutput erwartet werden kann. ({7}) Die Überlegungen der Bundesregierung, hier Kosten einzusparen, werden daher von unserer Fraktion ausdrücklich begrüßt. ({8}) - Nicht vollständig. Wir wollen eine Senkung der Mittel. ({9}) - Hören Sie zu, ich gehe weiter darauf ein. - Ich hoffe sehr, daß die Entscheidung der alten Bundesregierung, einen zu großen deutschen Finanzierungsanteil zu übernehmen, gemeinsam mit den europäischen Partnern noch nach unten korrigiert werden kann. So lautet meine Antwort: Wir sind nicht strikt dagegen; wir wollen nur geringere Mittel, eine Streckung dieser Aufwendungen über einen längeren Zeitraum hinweg, damit dieser Finanzierungsbuckel im wesentlichen in den Griff bekommen werden kann. ({10}) - Sie ist ja teilweise schon oben, wie Sie wissen. Zur Ariane. Die staatliche Finanzierung der Weiterentwicklung sollte so gering wie möglich ausfallen. Es ist zu begrüßen, daß die Regierung auch hier die Kosten senken will. Die Industrie - da sind wir uns einig - muß stärker an den Kosten beteiligt werden. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Ariane 4 Gewinne abwirft und die Amerikaner die Finanzierung ihrer Trägersysteme mehr und mehr privatisieren, sollte auch die europäische Industrie ihren Beitrag leisten und nicht nur die Hand aufhalten. Die Gegenfinanzierung der Forderungen in Ihrem Antrag ist vollkommen unklar. Bezeichnenderweise ist davon in Ihrem Antrag auch gar keine Rede. Sicher ist nur das eine, daß an anderer Stelle Forschungsmittel eingespart werden müßten. 100 Millionen DM in der Forschung einzusparen - so hoch läge nach Ihren Forderungen der jährliche Aufwuchs mindestens - hieße, daß sinnvolle andere Forschungsmaßnahmen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht durchgeführt werden. ({11}) Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wollen, daß die Mittel für die Erderkundung gestrichen werden, dann sagen Sie das auch. Sagen Sie uns aber wenigstens, wo Sie die Schwerpunkte in der Finanzierung setzen. ({12}) - Es geht angesichts knapper Haushaltsmittel einfach nicht an, daß für einen Bereich ein übermäßiger Aufwuchs vorgesehen wird, der nicht finanzierbar ist. ({13}) Wir haben die Forschungsmittel erhöht und werden sie sinnvoll auch in Technologien einsetzen, wo wir einen Aufwuchs wünschen. ({14}) Ich nenne Ihnen beispielsweise neue Energieträger, Brennstoffzellen und vieles andere mehr, was Sie ja auch wünschen. Aber wo Sie die Mittel für die Gegenfinanzierung herbekommen, ist mir unklar. ({15}) Auf der Tagesordnung der Ministerratskonferenz steht auch die Entwicklung weiterer Raumfahrttransportsysteme. Was sich hier so unscheinbar liest, ist eigentlich - ich erwähnte es schon - die klammheimliche Wiederauferstehung der Raumtransporter Hermes und Sänger. Mit gutem Grund wurden beide Projekte nach einer intensiv geführten Diskussion in den 90er Jahren bereits beerdigt. Nun soll es anscheinend ohne Diskussion zu einem neuen Anlauf kommen. Mit der unscheinbaren Bezeichnung Atmospheric Reatmospheric Administrator soll der Einstieg gelingen. Statt über solche weitreichenden und unglaublich teuren Projekte im vorhinein zu diskutieren und zu entscheiden, verfolgen Sie hier eine Salamitaktik. Schritt für Schritt soll an die Transportsysteme herangegangen werden. Man steigt mit ein paar Dutzend Millionen ein, geht dann auf einige hundert Millionen und zielt auf einige Milliarden ab. Wenn wir hier nicht aufpassen, werden die Kosten steigen wie eine Rakete. Hermes, der Traum der Franzosen, und Sänger, der Traum deutscher Technokraten, dürfen nicht durch die Hintertür eingeführt werden. Entweder will man diese Systeme, dann soll man das auch laut sagen und zur Diskussion stellen, oder man will sie nicht, dann soll man auch kein Geld in sie investieren. Die Bundesregierung tut daher gut daran, hier keine Gelder zu verschwenden. ({16}) Bündnis 90/Die Grünen empfehlen der Bundesregierung, die Ausgaben für die bemannte Raumfahrt möglichst niedrig zu halten, um Spielräume für eine nachhaltige Forschungspolitik zu lassen. Konkret bedeutet dies: ({17}) - Aber sehr. ({18}) - Aber nicht im Detail. ({19}) Die Bundesregierung sollte versuchen, einen degressiven Finanzierungsmodus für die Raumstation durchzusetzen, der eine jährliche Kürzung der Mittel um 5 bis 10 Prozent beinhaltet. Damit werden wir Anreize für eine stärkere Anwendungsorientierung sowie für die kommerzielle Nutzung der Raumstation geben. Nach 16 Jahren Raumfahrtpolitik, die von übertriebenen und teuren Projekten geprägt war, ist es an der Zeit, neue Akzente zu setzen. Im Sinne einer modernen Forschungs- und Innovationspolitik sollte die Bundesregierung einen Dialog mit Herstellern und Nutzern von Raumfahrtsystemen initiieren, um auf diese Weise zukunftsfähige Szenarien für die Entwicklung und Nutzung von Raumfahrtechnik zu entwickeln. Ich weiß, daß Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU und F.D.P., mir grundlos Technikfeindlichkeit vorwerfen. Technik ist elementar, und dies gilt auch für Teile der Weltraumfahrt. Wir wollen nur, daß die ForHans-Josef Fell schungsmittel dort eingesetzt werden, wo sie helfen können, Probleme zu lösen. Folgende Felder der Weltraumforschung - ich hatte sie eingangs bereits angerissen - halten wir für besonders wichtig: erstens die Atmosphären- und Klimaforschung, die wichtige Beiträge zur Diagnose von Klimaveränderungen oder auch zur Wettervorhersage beisteuern kann; zweitens die Erdbeobachtung, die unter anderem zur Diagnose von ökologierelevanten Prozessen genutzt werden kann. Dort, wo Flugzeuge die Beobachtungstätigkeit effizienter gestalten können, sollten diese aber Priorität haben, weil sie billiger sind. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Entwicklung von Solarbetrieben in Flugzeugen zur Erderkundung in den USA hinweisen. Es ist grundsätzlich sinnvoll, die Nutzer an den Kosten zu beteiligen. Im Falle des BMU und BMZ bestehen aber keine finanziellen Spielräume, um die mitunter hohen Kosten dekken zu können. Hier muß die Bundesregierung insgesamt Vorsorge leisten und darf nicht einfach eine Mittelverschiebung vom Forschungsministerium zum Umweltministerium verlangen. Ansonsten besteht die Gefahr, daß die Erdbeobachtung und Klimaforschung nicht mehr finanziert werden können. Drittens. Die extraterrestrische Forschung, die zur Erweiterung unseres Wissens über unser Planetensystem und den Weltraum beiträgt, halten wir für nötig. Das Wissensbedürfnis des Menschen in diesem Bereich ist so tiefgehend, daß es ein Armutszeugnis wäre, auf dieses Engagement zu verzichten. Ich denke, wir vom Bündnis 90/Die Grünen halten die Raumfahrt für wichtig und zukunftsträchtig. Die Schwerpunkte müssen allerdings am Nutzen für die Menschheit ausgerichtet werden. Daher werden wir den Antrag der CDU/CSU für ein undifferenziertes Fordern nach dem technisch Machbaren, ohne daß Sie sich Gedanken gemacht hätten, wo angesichts knapper Haushaltskassen sinnvolle Schwerpunkte zu setzen wären, ({20}) nicht unterstützen. Statt dessen werden wir Frau Bulmahn in ihrem Bemühen unterstützen, die Raumfahrtpolitik der neuen Bundesregierung effizienter auszurichten, als es in den letzten zehn Jahren geschehen ist. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({21})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Jürgen Möllemann, F.D.P.Fraktion.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hatte bereits am 2. März dieses Jahres die Bundesregierung aufgefordert, die Leistungen an die europäische Weltraumorganisation im Haushaltsplan 1999 um 50 Millionen DM zu erhöhen. Der Antrag der CDU/CSU folgt dieser parlamentarischen Initiative der F.D.P. Das begrüße ich naturgemäß. ({0}) Ich hoffe, daß dem auch entsprochen wird. Es ist jetzt gerade wieder deutlich geworden, natürlich auch durch die Publikationen in den vergangenen Wochen und durch Einlassungen mehr oder weniger direkter Art in den Ausschüssen - ich denke an den geschätzten Kollegen Fischer, der uns gleich noch seine Besorgnisse vortragen wird -, daß es bei dem Thema, um das es hier geht, innerhalb der rotgrünen Regierung und der Koalition doch beachtliche Meinungsverschiedenheiten gibt. Herr Fell, auf eine solche Aussage, daß Sie die Ministerin sehr, aber nicht im Detail unterstützen, muß man erst kommen. So kann man es auch sagen. Das ist, glaube ich, das Leitmotiv dieser Tage, von Frau Altmann über Herrn Trittin bis zu Ihnen, daß Sie die Ministerin sehr unterstützen, aber leider nicht im Detail. ({1}) - Es wird noch schlimmer. Wollen Sie das noch näher erklären? Frau Bulmahn hat zu Beginn ihrer Ministerzeit bedauert, daß sich die frühere Entscheidung nicht rückgängig machen ließe, einen erheblichen Teil der verfügbaren Mittel in die bemannte Raumfahrt zu stecken. Sie haben, Frau Bulmahn, keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß Sie jedenfalls von der bemannten Raumfahrt nichts halten, auch wenn Sie heute angefangen haben, nach dem Motto „Und sie bewegt sich doch“ hier argumentativ als Raumgleiter in Erscheinung zu treten. ({2}) Bei der feierlichen Übergabe des ersten Raumfahrtlabors Spacelab am 16. April hat der Bundeskanzler versprochen, daß die Bundesregierung gegenüber der bemannten Raumfahrt „alle internationalen Verpflichtungen, die wir eingegangen sind, auch erfüllen wird“ nicht einige und das eine oder andere Detail nicht, sondern alle. Deswegen wird er sich entscheiden müssen, ob er sein Versprechen halten will, das er gegeben hat, oder seine Ministerin. ({3}) - Es geht nicht, daß man sich im Rahmen von internationalen Konferenzen oder feierlichen Anlässen ohne Wenn und Aber - manchmal auch ohne Wenn und „Laber“ - hinter bestimmte Verpflichtungen stellt und dann, wenn es konkret wird, davon spricht, im Detail meine man das nicht ganz so. Das beschädigt unsere Interessen. ({4}) Frau Kollegin Bulmahn, die Weltraumforschung, auch die bemannte Weltraumfahrt, ist - um Sie zu zitieren - kein „Spielzeug für große Jungs“, ({5}) sondern ein Kernbereich unserer zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit in vielen Bereichen, zum Beispiel in der Satellitenkommunikation und Satellitennavigation. Sie hat auch für unsere Sicherheitspolitik eine strategische Bedeutung. Wir sind in diesen Tagen beispielsweise im Kosovo wir diskutieren darüber manchmal ein wenig verklausuliert - auf die Aufklärung unsererseits durch langsam fliegende Drohnen angewiesen. Amerika hat ganz andere Übersichtsmöglichkeiten. Ich habe auch nach den Einlassungen von Verteidigungsminister Scharping das Gefühl, daß eben doch nicht alle über die gleichen Informationen verfügen können. Europa ist trotz aller Loyalität im Bündnis gut beraten, sich den gleichen Erkenntnisstand selbst zu verschaffen. Das geschieht parallel zur Umsetzung der Idee einer europäischen Sicherheitspolitik. ({6}) Die Wettbewerbsfähigkeit wird in Zukunft immer mehr davon abhängen, wer auf der Welt einen Informationsvorsprung hat. Das gilt nicht nur für fast alle Wirtschaftsbereiche, sondern auch für die Sicherheitspolitik. Deswegen hat sie einen so hohen Stellenwert. Herr Fell, ich denke, es war nicht Ihre Absicht, aber Sie haben indirekt darauf hingewiesen, was Ihr Problem und das Ihrer ganzen Koalition ist. Sie haben versprochen - Ihr größerer Partner mehr als Sie, aber Sie indirekt auch - und für die Zeit nach den Wahlen angekündigt, Sie würden die Mittel für investive Aufgaben, die Zukunftsinvestitionen im Bereich von Bildung und Forschung, verdoppeln. Wenn der Bereich, von dem wir jetzt sprechen, keine Zukunftsinvestition im Sinne Ihrer Definition ist, dann wüßte ich gerne, was eine Zukunftsinvestition ist. Sie sind überhaupt nicht auf dem Wege, Mittel in diesem Bereich zu verdoppeln. Sie sagen sogar, wer in diesem Bereich eine Erhöhung der Mittel fordere, müsse in anderen Bereichen des gleichen Komplexes kürzen. Das ist doch keine neue Prioritätensetzung. ({7}) Wenn Sie das gemeint haben, als Sie Ihren Wählerinnen und Wählern gesagt haben: „Wenn wir an der Regierung sind, werden wir die Mittel für Zukunftsinvestitionen im Bildungs- und Forschungsbereich verdoppeln“ und Sie jetzt die Mittel innerhalb dieses Bereichs nur hin- und herschieben, dann ist das nicht in Ordnung. Das ist unredlich. Wir werden Sie auf jedem anderen Gebiet immer wieder an Ihr Versprechen erinnern müssen. Man kann nicht mit einem an die Jugend, an die Wissenschaft und an die Forschung gerichteten Versprechen die Wähler für sich gewinnen und anschließend nur mit Ausreden kommen. ({8}) - Sie haben dieses Versprechen gegeben. Sie werden daran gemessen. Kommen Sie doch nicht damit, zu sagen: Andere haben dies und jenes getan. - Das haben Sie doch kritisiert. Sie halten sich nicht an Ihr Versprechen. Herr Fell war so freundlich, direkt darauf hinzuweisen und zu sagen, jedwede Steigerung in dem hier zur Rede stehenden Bereich müsse im Bildungs- und Forschungsetat zu Kürzungen führen. Das ist Kraftlosigkeit. Das ist außerdem Unredlichkeit angesichts dessen, was Sie angekündigt haben. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber selbstverständlich.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Kollege.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Möllemann, halten Sie eine Erhöhung der Mittel in diesem Jahr im Bildungs- und Forschungsbereich um rund 900 Millionen DM tatsächlich für unredlich angesichts dessen, daß in den letzten Jahren unter Ihrer Regierungsverantwortung keine Erhöhung, sondern eine Kürzung stattgefunden hat und daß die neue Regierung hiermit ein herausragendes Signal gesetzt hat, das in dieser Form in den letzten Jahren nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen war? ({0})

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich möchte mich kurz vergewissern: Ich habe doch die Geschäftsordnung richtig in Erinnerung, daß eine solche Frage und meine Antwort darauf nicht auf meine Redezeit angerechnet werden? ({0}) - Das ist gut. Deswegen möchte ich Ihre Frage gründlich beantworten.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Es sei denn, daß Sie Ihre Ausführungen so unendlich ausdehnen, daß ich meine, die Frage sei beantwortet. Im Moment haben Sie die Chance, die Frage zu beantworten, Herr Kollege.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Albert Einstein, Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat einmal gesagt: Es gibt zwei Dinge auf dieser Welt, die unendlich sind, die menschliche Dummheit und das Weltall. Beim letzteren bin ich mir nicht mehr so ganz sicher. Ich werde die Beantwortung nicht unendlich ausdehnen. Zu Ihrer Frage, Herr Kollege: Sie wissen, daß der Haushalt, den wir im Mai in zweiter und dritter Lesung verabschieden werden, wenn Sie alle in den zuständigen Ausschüssen getroffenen Entscheidungen berücksichtigen, natürlich nicht auch nur ansatzweise eine Steigerung der Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung in einer Größenordnung von etwa 20 Prozent vorsieht. Etwa die müßten es sein, wenn Sie die Ausgaben in einer Legislaturperiode verdoppeln wollen. Wir werden, wenn die Bereinigungssitzung, die heute stattfindet, berücksichtigt wird, nach dem, was ich höre, eine Steigerungsrate von maximal etwa 5 Prozent haben. Das sind zwar 5 Prozent Steigerung, aber diejenigen, die eine Verdoppelung in einer Legislaturperiode versprochen haben, wissen, daß viermal fünf Prozent 20 Prozent sind. Wir haben dieses Versprechen doch nicht gegeben. Sie haben es gegeben, Sie haben damit Wähler gefangen, und Sie schleichen sich jetzt davon! ({0}) Sie können doch nicht sagen: Ein kleines Hügelchen ist auch ein Hügelchen. Das beeindruckt doch niemanden. ({1}) - Nein, ich bin schon zu lange dabei, als daß ich Ihnen diese Bauernfängertricks noch durchgehen lassen könnte. Sie müssen sich schon an Ihren eigenen Worten und Versprechungen messen lassen. ({2}) Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die europäische Weltraumorganisation ESA möchte in den Jahren 1999 bis 2006 insgesamt 11,8 Milliarden DM in Raumfahrtvorhaben investieren, jeweils ein Drittel für anwendungsbezogene Vorhaben, Startsysteme und wissenschaftliche Projekte. Ich glaube, es besteht in der Tat ein außerordentliches politisches, strategisches und wirtschaftliches Interesse, die wissenschaftliche und industrielle Kompetenz Europas in diesen Feldern zu sichern und auszubauen. Ein falsches politisches Signal aus Deutschland darf nicht dazu führen, daß solche gesamteuropäischen Projekte scheitern. Mir ist aufgefallen, daß unser Kollege Fischer im Ausschuß ein großes Interesse daran hatte, daß wir uns im Ausschuß mit diesem Thema noch vor der Konferenz am 11. und 12. Mai beschäftigen. In seiner Einlassung war er von der Sorge geprägt - so einfühlsam bin ich ihm gegenüber natürlich, weil ich ihn schon so lange kenne -, daß sich da ein falscher Trend abzeichnen könnte. Als ich dann die Äußerungen von Gerhard Schröder gelesen habe: Mit mir nicht, und wenn nötig, werde ich das auch der zuständigen Ministerin vermitteln, habe ich mir gedacht, es muß offenbar eine Besorgnis geben, die Fischer und Schröder verbindet. Sie versuchen, hier so zu tun, als gäbe es den Disput gar nicht. Frau Bulmahn, Sie wollten eine andere Linie, als in der Aussage des Kanzlers zum Ausdruck kommt: Wir werden alle eingegangenen Verpflichtungen einhalten. Darauf hingewiesen zu haben ist das bleibende Verdienst des Kollegen Fischer, das bleibende Verdienst dieser Debatte. Hier können Sie sich nicht davonstehlen. ({3}) Es muß sichergestellt werden, daß für die Beteiligung am europäischen Raumstationsentwicklungsprogramm 2,5 Milliarden DM zur Verfügung stehen, daß die Weiterentwicklung der Ariane 5 mit und nicht ohne Deutschland sichergestellt wird, daß der Aufbau eines europäischen satellitengestützten Navigationssystems nicht gefährdet wird und daß eine angemessene Beteiligung Deutschlands am Erdbeobachtungsprogramm der ESA möglich ist. Eine letzte Bemerkung: Ich möchte natürlich auch gern - ich glaube, darauf könnte sich in der Tat ein Konsens zwischen Koalition und Opposition, jedenfalls was die F.D.P. angeht, erstrecken -, daß man methodisch ähnlich wie beim Airbus-Programm sagt: Dort, wo der Staat mit erheblichen Mitteln hilft, daß profitable Zukunftsentwicklungen möglich werden, soll derjenige, der davon profitiert, später in besonderer Weise Rückzahlungen leisten und mit dazu beitragen, daß neue zukunftsorientierte Wege wieder finanziert werden können. Subventionen, die zweckgebunden, zielgerichtet, zeitlich begrenzt und, wo durch Ertrag möglich, rückzahlbar sind, haben einen anderen Charakter. Darüber sollten wir uns verständigen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die neue Forschungsministerin Edelgard Bulmahn hat bei ihrem Amtsantritt vollmundig erklärt, daß sie die Rolle von Forschung und Entwicklung stärken will. ({0}) Doch die deutsche Raumfahrt merkt nichts davon. Im Gegenteil: Bereits in der ersten Sitzung des Forschungsausschusses haben Sie, Frau Ministerin Bulmahn, erklärt, daß Sie es für falsch halten, viel Geld für die bemannte Raumfahrt auszugeben. Damit haben Sie in der Raumfahrtpolitik bewußt einen politischen Richtungswechsel gegenüber Ihrer Vorgängerregierung vorgenommen. Die alte Regierungskoalition stand hinter der Raumfahrt, weil sie eine strategisch wichtige Industrie für unser Land ist; das ist auch richtig so. Die Tatsache, daß Ihre Bundestagskollegen Bodo Seidenthal und Lothar Fischer einen Brandbrief an den Kanzler geschrieben haben, weil sie vor den falschen Entscheidungen dieser Regierungskoalition warnen wollten, zeigt, daß Sie auf dem Irrweg sind. ({1}) Nun versuchen Sie, Ihrem Vorgänger Fehler unterzuschieben. Damit lenken Sie aber nur von Ihren eigenen politischen Fehlentscheidungen ab. Die Raumfahrt ist der einzige Bereich im Forschungshaushalt, in dem es erhebliche Kürzungen gegeben hat. Der frühere Forschungsminister Rüttgers hatte im Haushaltsentwurf für 1999 1 Milliarde DM für die ESA vorgesehen. Diese Mittel hat Rotgrün um 30 Millionen DM auf 970 Millionen DM gekürzt. Rüttgers hatte für den nationalen Raumfahrthaushalt 326 Millionen DM vorgesehen. Mit dem Rotstift haben Sie 16 Millionen DM gestrichen. Das heißt, die erste Amtshandlung der neuen rotgrünen Bundesregierung besteht darin, die Raumfahrtmittel um insgesamt 46 Millionen DM zu streichen. Genau das kritisieren wir. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilsberg?

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Hilsberg, bitte.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rachel, Sie operieren hier mit Scheinzahlen. Ich möchte Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie in der Zeit, als Sie an der Macht waren, als Sie an der Regierung waren, den Etat für die Raumfahrt Jahr für Jahr systematisch herruntergefahren haben. Wir haben es jetzt das erste Mal mit unserer Regierung geschafft, den Etat zu verstetigen, wodurch eine verläßliche Grundlage für Raumfahrtpolitik überhaupt geschaffen wurde, verläßlicher als zu Zeiten, in denen Sie an der Regierung waren. Die Zahlen, mit denen Sie operieren, sind reine Planzahlen. Das war Wahlkampf. Ich bitte Sie, zur sachlichen Arbeit hier im Bundestag zurückzukehren. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das sollte er eigentlich in Form einer Frage sagen. Das ist so gerade noch gelungen, Herr Kollege. - Bitte sehr, Herr Kollege Rachel.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin mir sicher, daß die Präsidentin, die gerade so großzügig festgestellt hat, daß das eine Frage war, mindestens so großzügig sein wird, wenn ich versuche, das zu beantworten. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nein, Herr Kollege Hörster, das stimmt nicht. Sie haben das Wort, Herr Rachel. Bitte sehr.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich. Lieber Herr Kollege Hilsberg, Sie haben von Scheinzahlen gesprochen. Meine Damen und Herren, liebe Freunde, ({0}) liebe Kolleginnen und Kollegen des Bundestages, muß sich nicht jede Regierung, unabhängig von ihrer parteipolitischen Färbung, an den Zahlen für einen Haushalt messen lassen, die entweder von ihr selbst oder von ihrer Vorgängerregierung vorgelegt wurden? ({1}) Jawohl, so ist es. Das ist ein Faktum. Ich habe die Zahlen dabei und kann sie Ihnen zeigen. Ich meine, Sie sollten dazu stehen. Der Haushaltsentwurf für 1999 von Jürgen Rüttgers hat für die ESA 1 Milliarde DM vorgesehen; Sie kürzen um 30 Millionen DM auf 970 Millionen DM. Das ist das Faktum. Das ist eine Kürzung. Das ist ein Minus. ({2}) Das erinnert mich an „brutto/netto“. Sie haben damit Ihre Erfahrungen. Im nationalen Raumfahrthaushalt - ich beantworte noch immer Ihre Frage, Herr Hilsberg - haben Sie von 326 Millionen DM auf 310 Millionen DM gekürzt, also um 16 Millionen DM. Auch das ist eine eindeutige Kürzung. Das Ganze haben Sie vor dem Hintergrund gemacht, daß Forschungsministerin Bulmahn in den verschiedensten Bereichen von Bildung und Forschung in diesem Jahr 800 Millionen DM mehr ausgeben kann, Herr Kollege Hilsberg, wozu wir Ihnen gratulieren können. ({3}) Aber ist es nicht wahr, daß die Raumfahrt am Haushalt von 15 Milliarden DM rund 10 Prozent ausmacht? Wäre es dann nicht naheliegend, daß Sie bei den Haushaltssteigerungen von 800 Millionen DM 10 Prozent, sprich: 80 Millionen DM, mehr für die Raumfahrt ausgeben? Das tun Sie aber nicht. Das kritisieren wir. ({4}) Das zeigt: Sie haben ein gestörtes Verhältnis zur Raumfahrt. Sie geben ein falsches politisches Signal, auch gegenüber den internationalen Partnern. Sie wollen die Raumfahrt austrocknen. Nachdem uns die neue Bundesregierung schon in der Energiepolitik um jedes Ansehen gebracht hat, ist Rotgrün dabei, das gleiche auch in der Raumfahrtpolitik zu machen. Das ist ein falscher Politikansatz. ({5}) Nun klagt Frau Bulmahn über mangelnden finanziellen Handlungsspielraum. Das ist im Bereich der Raumfahrt unglaubwürdig. Denn der Mangel ist politisch gewollt. Stolz verweisen Sie - ich kann es nur noch einmal sagen - auf die Steigerung des Gesamthaushaltes um 800 Millionen DM. Im Bereich der Raumfahrt lassen Sie die Steigerung nicht nur unter den Tisch fallen, sondern Sie kürzen. Das werden wir kritisieren. Im gleichen Atemzug kritisieren Sie die eingegangenen Verpflichtungen für den Bau der Raumstation. In der Presse finden wir, auch im Vorfeld der Ministerratskonferenz, nicht ein einziges positives Wort von Ihnen zu dem Bau der Raumstation. Sie haben gerade sogar von „Fehlentwicklungen“ auf der Ministerratskonferenz 1995, wo der Bau der Station beschlossen wurde, gesprochen. Das ist schon ein starkes Stück. Denn die SPD hat, übrigens im Gegensatz zu den Grünen, zusammen mit der damaligen christlich-liberalen Regierungskoalition im Parlament dem Regierungsabkommen für die internationale Raumstation zugestimmt. Sie haben richtig gehört: Sie haben ihm zugestimmt. Darüber hinaus heißt es in dem Antrag der SPD-Fraktion vom 5. März 1996, Drucksache 13/3974 - ich zitiere -: Die Entscheidungen, die die ESA-Mitgliedstaaten Ende 1995 getroffen haben, werden vom Bundestag grundsätzlich begrüßt. Sie sind geeignet, der Wissenschaft und der Industrie die nötige Planungssicherheit zu vermitteln. Wer damals dem Projekt einer internationalen Raumstation zugestimmt hat, heute aber davon nichts mehr wissen will, der macht sich unglaubwürdig. ({6}) Die Raumstation wird sich nicht vollständig kommerziell tragen - das wußten wir -, aber sie ist eine globale Zusammenarbeit auf internationaler Forschungsebene. Die internationale Raumstation ist aber auch eine Art Friedensdividende des beendeten kalten Krieges. Denn diejenigen Ingenieure, die vor zehn Jahren an den sowjetischen Atomraketen gearbeitet haben, bringen heute ihr Know-how für diese friedliche Raumstation ein. Frau Bulmahn, nehmen Sie sich doch einmal ein Beispiel an

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Wo waren Sie eigentlich in Bremen? Früher haben Forschungsminister mit dem Kanzler zusammen die Raumfahrt besucht. Der Bundeskanzler hat in Bremen die Raumfahrt als Beispiel für globale Zusammenarbeit gewürdigt. Mit Blick auf die Raumstation hat er - ich zitiere - festgestellt: „Die einstigen Blöcke sind Partner geworden.“ Die Raumfahrt, so Schröder, trage zur politischen Stabilisierung der internationalen Situation bei. Was hören wir von der Forschungsministerin? „Es geht nicht darum, was den großen Jungs Spaß macht, sondern darum, was allen nutzt“, sagte sie stolz dem Wochenmagazin „Focus“. Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: Raumfahrt ist nicht das überteuerte Spielzeug altgewordener Jugendlicher. Ihre vor allem gegen die Raumstation zielende Äußerung ist schon eine ziemliche Frechheit. Sie ist eine Verhöhnung unserer deutschen Astronauten Ulf Merbold und Thomas Reiter, ({0}) die bereits auf der MIR-Station wichtige Vorarbeiten geleistet haben. Sie ist ein Affront gegenüber den Wissenschaftlern, die in diesem Bereich tätig sind, und sie ist eine Beleidigung der DASA-Mitarbeiter in Bremen, die diese Raumstation bauen. Bundeskanzler Schröder hat im Gegensatz dazu die DASA-Beschäftigten gelobt - ich zitiere aus seiner Rede -: „Sie können stolz darauf sein, ,Columbus‘ machen zu dürfen.“ Zugleich polemisieren Sie gegen den Bau dieser Raumstation. Diese Doppelstrategie werden wir nicht durchgehen lassen. ({1}) Die Unionsfraktion erwartet von der rotgrünen Bundesregierung, daß sie das Nutzungskonzept der Raumstation weiterentwickelt und die finanziellen Voraussetzungen dafür schafft, daß sich Deutschland an der Nutzung angemessen beteiligen kann. Es darf doch nicht die widersinnige Situation entstehen, daß wir Deutschen uns zwar am Bau der Station beteiligen, aber vom Boden aus zusehen müssen, wie die Japaner, die Russen, die Kanadier, die Franzosen und die Italiener das von Deutschen mitfinanzierte Weltraumlabor nutzen. Wir wollen die enge Kooperation mit Frankreich im Bereich der Ariane-5-plus-Programme fortsetzen. Wir sind für das Erdbeobachtungsprogramm der ESA und möchten, daß sich Deutschland in einer Art und Weise beteiligt, daß die Übernahme von Systemführerschaften für unsere Industrie möglich ist, weil dadurch Arbeitsplätze gesichert werden. Deutschland soll sich in zukunftsträchtigen Technologieprogrammen engagieren, die auf kommerzielle Raumfahrtanwendungen in der Tele- und Breitbandkommunikation zielen. Für eine sachgerechte Vorbereitung der Nutzung der Raumstation ist auch die Fortführung der ESA-Mikrogravitationsaktivitäten unter deutscher Beteiligung erforderlich. Wenn ich mir die Beratungen im BMBF, die Versuche der Bundesregierung anschaue, das ESAWissenschaftsprogramm aufzuweichen, dann sage ich ganz deutlich: Sie sind zu beenden. ({2}) Denn gerade das Wissenschaftsprogramm ist eine zutiefst staatliche Aufgabe, bei der in der Bundesrepublik Deutschland wir Politiker gefordert sind. Hier stehen wir in der Pflicht, und wir sollten diese europäische Zusammenarbeit fortsetzen. ({3}) Interessant ist das große Interesse unserer europäischen Partner an Technologieprogrammen für wiederverwendbare Träger; Kollege Mayer hat es angesprochen. Es ist ökonomisch und ökologisch sinnvoller, wiederverwendbare Trägerraketen zu benutzen. Es wäre doch geradezu ein Treppenwitz, wenn sich die Bundesregierung unter Beteiligung der Grünen für die Einwegversion Ariane und gegen die Mehrwegversion einer wiederverwendbaren Trägerrakete ausspräche. Steigt Deutschland aus, verbaut es seine Zukunftschancen auf diesem wichtigen Feld. Herr Fell, hier sind Sie von den Grünen mit gefordert. Zeigen Sie in dem Bereich einmal Flagge! ({4}) Sehr geehrte Damen und Herren, Zitat: Sackgasse ins All. So betitelte das Wochenmagazin „Focus“ einen Artikel über die Forschungs- und Raumfahrtpolitik von Frau Bulmahn. Sackgasse ins All: Der Satz sagt deutlich, was Ihrer Weltraumpolitik fehlt, nämlich eine in die Zukunft gerichtete Vision, die über kurzfristiges Abarbeiten eingegangener Verpflichtungen hinausgeht. ({5}) Das ist kein politischer Luxus. Hier geht es um die technologische Kompetenz unserer Industriegesellschaft und um die Innovationsfähigkeit Deutschlands. Wenn wir uns von strategischen Optionen abschneiden, wird unser Land im 21. Jahrhundert den Anschluß an die Zukunft verpassen. Das hat übrigens nicht nur Auswirkungen auf uns, sondern auf ganz Europa, wenn durch Einsparungen am falschen Platz gemeinsame Projekte, beispielsweise bei den ESA-Programmen, platzen: Arbeitsplätze gehen verloren; die kommerzielle Nutzung neuer Weltraumprojekte, unser wichtiges gemeinsames Anliegen, würde ohne uns stattfinden. Unser Fazit ist: Die Bundesregierung darf nicht als Bremser der europäischen Raumfahrt auftreten, und deswegen erwarten wir von Ihnen eine andere Politik. Herzlichen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort der Kollege Lothar Fischer.

Lothar Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000554, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Thomas Rachel, ich hätte es ja begrüßt, wenn die CDU/CSU, als sie noch in der Regierungsverantwortung war, eine Planung vorgelegt hätte, die ihrem heutigen Antrag gerecht geworden wäre. Das war aber nicht der Fall. ({0}) Das sagt alles über die Ernsthaftigkeit Ihres Antrages. ({1}) Vorhin ist erwähnt worden, daß Bodo Seidenthal und ich einen Brief an den Bundeskanzler geschrieben haben. Dazu sage ich: Selbstverständlich haben wir das getan. ({2}) In diesem Brief haben wir darauf hingewiesen, welche Konsequenzen es für andere wichtige Projekte hat, wenn so viel Geld bis zum Jahre 2003 für Zwecke der internationalen Raumstation gebunden ist. Das waren die Punkte. Wir haben dabei auch einige Projekte angesprochen, wie zum Beispiel die Ariane. Dazu werde ich aber nachher noch kommen. ({3}) Ich möchte allerdings zu deinem Beitrag, lieber Thomas, etwas sagen, weil du aus unserem Antrag vom März 1996 zitiert hast, der übrigens einstimmig von allen Arbeitsgruppen und einstimmig von der Fraktion beschlossen worden ist. Du hast eine Passage zur Station zitiert, du hast aber verschwiegen, welche Voraussetzungen dort auch noch genannt werden, daß nämlich andere wichtige Programme finanziell nicht erdrückt werden dürfen, zum Beispiel das nationale Weltraumprogramm. Wir alle waren uns darin einig, daß das nationale Weltraumprogramm nicht so stark zurückgefahren werden darf. Dafür haben wir früher 40 Prozent der gesamten Mittel für das Raumfahrtprogramm aufgewendet, und heute sind es noch 20 Prozent. Das ist Ihrer Politik zu verdanken. Im übrigen ist das Parlament nicht gefragt worden, ob es mit dieser prozentualen Zahl einverstanden ist. Wir waren dafür, daß sich Deutschland an der Station beteiligt, weil wir für eine internationale Kooperation waren. In der CDU waren doch welche dagegen - nicht die F.D.P. -, die gesagt haben: Das russische politische System ist instabil, und die technischen Systeme sind nicht kompatibel.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Möllemann?

Lothar Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000554, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Möllemann, bitte sehr.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich möchte den Kollegen Fischer fragen: Habe ich Sie jetzt richtig verstanden, daß Sie zusammen mit dem Kollegen Seidenthal den Brief an den Bundeskanzler geschrieben haben, weil Sie über die CDU/CSU beunruhigt waren, oder könnte es so sein, daß Sie den Brief an Ihren Bundeskanzler und Parteivorsitzenden geschrieben haben, weil Sie die stille Sorge beschlichen hat, daß die seinerzeit einmütige Haltung, wie sie in Arbeitsgruppen, Arbeitskreisen und Fraktion einstimmig - Sie haben, als Sie daran erinnerten, ja auch in die richtige Richtung geguckt - beschlossen wurde, jetzt von Teilen der Sozialdemokratie in Frage gestellt wird? Kann es sein, daß dieser Eindruck richtig ist?

Lothar Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000554, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie hätten gern ein klares Ja auf diese Frage. Ich muß Sie leider enttäuschen. ({0}) Ich bin seit 1980 hier im Bundestag und dort unter anderem Berichterstatter für Luft- und Raumfahrt. Wenn man sich so lange mit einem Thema beschäftigt, hat man in der Sache ein bißchen mehr Detailkenntnisse als andere, die das nicht tun. Für Bodo Seidenthal trifft das genauso zu. Aus diesem Grund haben wir schon eine Vorwarnung ({1}) oder eine sachliche Hintergrundinformation aussprechen wollen. Das ist ja auch völlig legitim. ({2}) - Was ihr mit dem „Zukunftsminister“ Rüttgers erlebt habt, darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Wir wissen, daß an der Raumfahrtindustrie mittelbar 100 000 Arbeitsplätze hängen, direkt etwa 6 000. Wir sind der Ansicht, Raumfahrt kostet nicht nur Geld, sondern sie bringt auch Geld und schafft, was wir brauchen: Arbeitsplätze. Sie entfaltet mittlerweile eine starke Breitenwirkung. Deshalb gilt für meine Fraktion, daß die wissenschaftliche, technologische und industrielle Kompetenz erhalten und ausgebaut werden muß. Die Raumfahrt hat sich an Programmen zu orientieren, die eine wissenschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung vorweisen. Sie ist Dienstleistung. Am 11./12. Mai findet die Ministerratskonferenz statt, die über die weiteren Ziele der europäischen Raumfahrt entscheiden wird. Sie findet zu einer Zeit statt, die für uns sehr schwierig ist. Über den maroden Haushalt, den die neue Regierung übernommen hat, ist ja vorhin von dem Kollegen Mayer schon einiges ausgesagt worden. Die Regierung Kohl hat im Raumfahrtbereich Entscheidungen getroffen, die bewirken, daß in den Etats bis zum Jahr 2003 wenig Spielräume für eine innovative Politik vorhanden sind. ({3}) Im Gegenteil: Andere Länder haben finanziell Luft, so zum Beispiel Frankreich, Italien oder auch Belgien. Frankreich beteiligt sich mit 27 Prozent an der Raumstation, die Deutschen mit 41 Prozent. Da liegt mit ein Grund, warum diese Länder mehr Luft für andere hervorragende Projekte haben. Ursprünglich wurde von einigen eine umfassende europäische Autonomie im Weltraum angestrebt. Auf diesem Trip sind Sie ja lange gewesen, obwohl alle anderen erkannt haben, daß das eine anachronistische Forderung ist. Dann wurde das Raumfahrtprogramm nach und nach abgespeckt: keine Planung, keine Strategie. Nicht umsonst hat die Regierung Kohl seit 1986 die Vorlage des 5. Weltraumprogramms immer wieder hinausgezögert und letztendlich abgelehnt. Bis heute haben wir noch keine Fortschreibung des 4. Weltraumprogramms. Die Folgen dieser Politik bekommen wir jetzt zu spüren. Die Kritik der Opposition an dem Haushaltstitel ist also mehr als unredlich. Seit Jahren haben Sie diesen Etat einerseits als Steinbruch mißbraucht, andererseits sind Sie kostspielige langfristige Verpflichtungen eingegangen. Der ESA-Titel ist von 1,3 Milliarden DM im Jahr 1993 auf 970 Millionen DM im Jahr 1998 heruntergefahren worden. Diese 330 Millionen DM, ohne Berücksichtigung eines Inflationsausgleichs, fehlen pro Jahr. Thomas Rachel war früher ein vehementer Befürworter der Raumfahrt. Einige haben ihm in dieser Frage aber systematisch das Rückgrat entfernt. Was müssen wir also tun? Wir müssen uns in der Raumfahrtpolitik umorientieren. Erstens. Wir wollen mehr Raumfahrt fürs Geld. Die Strukturen, vor allem in der ESA, sind neu zu überdenken. Dies wird schon fast so lange gefordert, wie ich Mitglied des Bundestages bin; das sind jetzt 18 Jahre. Jetzt wird es höchste Zeit, das umzusetzen. Zweitens. Die Raumfahrt ist keine alleinige Staatsveranstaltung. Auch die Industrie ist in der Pflicht. Sie fordert doch den Abbau von Subventionen; diese gibt es aber nicht nur im sozialen Bereich. Wir müssen auf „private public partnership“ drängen. Im Satellitenbereich gibt es das schon. ({4}) Im übrigen: Bei Ariane 1 bis Ariane 4 hat der Staat die Forschung und Entwicklung finanziert, und die Industrie hat sie produziert. Ab Ariane 5 beteiligt sich die Industrie an der Forschung und Entwicklung. Mit 105 Millionen ECU, also 200 Millionen DM - das soll an dieser Stelle einmal gesagt werden -, steigt sie bei der Ariane 5 plus ein. ({5}) - Seit wann bist du Unternehmer? Das habe ich gar nicht gewußt. ({6}) Ich begrüße es, wenn die Bundesregierung versucht, die Kosten für die Raumstation zu senken, indem sie das Bauprogramm streckt. Natürlich wissen wir, daß durch eine Streckung am Ende die Kosten etwas höher sein werden. Aber eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Die Weiterentwicklung der Ariane 5 hat erste Priorität; sie muß weiterhin konkurrenzfähig bleiben. Im übrigen: Etwa 3 000 hochqualifizierte Arbeitskräfte sind in Deutschland am Bau von Ariane 4 und Ariane 5 beteiligt. Auf europäischer Ebene sind es 14 000. Ariane 4 und Ariane 5 gewährleisten einen eigenständigen Zugang Europas in den Weltraum. Als Europa noch keine Trägerrakete hatte, ist folgendes passiert: 1972 wurde in Europa der Kommunikationssatellit Symphonie gebaut, den die Amerikaner in den Orbit geschossen haben, unter der Bedingung, daß er nicht kommerziell genutzt wird. Das war der Grund, warum sich die Europäer entschieden haben, ein eigenes Trägersystem zu entwickeln. - Das war 1972. Lothar Fischer ({7}) Und heute? Im November 1998 sind im USamerikanischen Kongreß Gesetze eingebracht worden, wonach der Technologietransfer im Satellitenbereich nur unter ganz strengen Voraussetzungen erfolgen soll: Das Außenhandels- und das Verteidigungsministerium müssen zustimmen. Satellitentransporte werden also behandelt wie Waffenexporte. Das geht natürlich an die Substanz der europäischen Trägerrakete Ariane. Ariane hat einen Weltmarktanteil am Transport von kommerziellen Satelliten in Höhe von 60 Prozent. ({8}) Die Raumfahrt umfaßt nicht nur Raketen und bemannte Stationen, sondern auch Satelliten. In diesem Zusammenhang denke ich an die Erdbeobachtung und die Satellitennavigation. Dazu werde ich aber nichts sagen, da mein Kollege und Freund Bodo Seidenthal dazu nachher noch nähere Ausführungen macht. Ich wünsche mir für diesen Bereich, daß genügend Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit die Durststrecke bis 2003 keine bleibenden Schäden hinterläßt. Hier gilt es, Märkte zu entwickeln und zu erobern. Das ist richtig verstandene Innovationspolitik, weil sie sich an den Arbeitsplätzen der Zukunft orientiert. Recht schönen Dank. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Norbert Hauser, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor fast 20 Jahren warfen Kritiker der damaligen indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi vor, für den Preis eines Satelliten könne man allen Indern eine Schale Reis geben. Ihre Antwort lautete darauf: „Wenn sie die einmal gegessen haben, bleibt alles beim alten, während ich mit einem einzigen Satelliten mehrere Millionen Menschen lehre, Reis anzubauen, damit sie jeden Tag essen können.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen von der rotgrünen Koalition, soviel Verständnis und Sinn für die Möglichkeiten moderner Technologien wünschen wir uns alle auch von Ihnen. ({0}) Alles, was mit Zukunft und Fortschritt zu tun hat, stößt bei Ihnen zunächst einmal auf Skepsis und Ablehnung. Biotechnik, Gentechnologie bis hin zum Transrapid sind beredte Beispiele. Leider gilt dies auch für die Weltraumforschung. Es wäre besser, Sie diskutierten mehr über die Chancen dieser Technologien, als permanent ihre Risiken zu betonen. ({1}) Wir Menschen brauchen Ziele und Visionen. Gerade die Luft- und Raumfahrt bietet solche Visionen. ({2}) Was vor 20 Jahren unvorstellbar war, gehört heute bereits zum Alltag. Erinnern Sie sich daran, als sich die US-Amerikaner nach dem Sputnik-Schock das Ziel setzten, als erste Menschen den Mond zu betreten. Eine ganze Nation brach auf. Leider ist bei Ihnen von Aufbruchstimmung nichts, aber auch gar nichts zu spüren. Sie sind von einer Buchhaltermentalität geprägt. ({3}) Ihre Ziele und Visionen bestehen darin, zu versichern, daß Sie internationale Verträge einzuhalten gedenken. Dieses Versprechen wird hier schon wieder relativiert. Der Kollege Fischer hat sich vorgenommen, Kosten zu senken. Sie, Herr Kollege, wollen Kosten durch das Strecken von Mitteln senken. Im gleichen Satz haben Sie darauf hingewiesen, daß sich durch diese Strekkung die Kosten erhöhen. Dies ist wahrlich eine grandiose Rechnung: Senkung der Kosten durch Erhöhung der Kosten. Ich gratuliere Ihnen zur Erfindung einer neuen Grundrechenart. ({4}) Wenn Sie sich dauerhaft von der Weltraumforschung verabschieden - wie Sie es hier angedeutet haben -, dann verspielen Sie einen wichtigen Eckpfeiler für die Entwicklung Deutschlands. Wenn es nach Ihnen ginge, Herr Fischer, säße Christoph Kolumbus noch heute im spanischen Santa Fé und würde noch immer von dem Seeweg nach Indien träumen. ({5}) Wie wichtig Visionen und ihre Umsetzung sind, sieht man in der heutigen Zeit. Erinnern Sie sich an die 60er und 70er Jahre. Der Weltraum war Experimentierfeld im kalten Krieg. Heute bauen Japaner, Amerikaner, Kanadier, Russen und Europäer gemeinsam eine bemannte Weltraumstation. Nicht nur die Grenzen auf der Erde wurden durchlässiger. Sie sind im Weltraum sogar überwunden worden. Die internationale Zusammenarbeit im Weltraum ist ein wichtiger Beitrag gerade auch zur politischen Stabilität in der Welt. Auf den Feldern der internationalen Zusammenarbeit wächst das gegenseitige Vertrauen. Vor allem in diesen Tagen wird vor dem Hintergrund der Ereignisse in Jugoslawien schmerzlich deutlich: Zur internationalen Zusammenarbeit gibt es keine Alternative. ({6}) Sie laufen zur Zeit Gefahr, sich aus der europäischen und damit auch aus der internationalen Raumfahrtpolitik auszugrenzen. In ungefähr fünf Jahren soll in der internationalen bemannten Weltraumstation ISS die Arbeit beginnen. Dann werden die Früchte jahrelanger Forschung und Arbeit geerntet und eine weitere Ära in der Weltraumforschung eingeläutet. Wissenschaft und Industrie sind aufgerufen, die Möglichkeiten der internationalen Raumstation zu nutzen. Es wäre ein schwerer Fehler, wenn sich Deutschland ausgerechnet jetzt aus Lothar Fischer ({7}) der bemannten Raumfahrt zurückzöge. Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit unseren Partnern die Früchte der jahrelangen gemeinsamen Arbeit zu ernten. ({8}) - Nein, Herr Kollege, es ist heute schon mehrfach angesprochen worden, und ich glaube, es muß ein weiteres Mal gesagt werden: Sie sind mit Maßstäben angetreten, haben mit Maßstäben Wahlkampf geführt und haben sich zu Beginn ihrer Regierungsarbeit mit Maßstäben vorgestellt, denen zu entsprechen Sie heute nicht mehr in der Lage sind. ({9}) Heute versuchen Sie, sich mit Hinweisen auf die Vergangenheit aus der Verantwortung zu stehlen. Regierungsverantwortung zu übernehmen heißt doch, Verantwortung zu tragen. Sie haben gesagt, Sie wollten zwar nicht alles anders, aber vieles besser machen. Bis heute haben Sie nichts besser gemacht, meine Damen und Herren. ({10}) Luft- und Raumfahrt heißt mehr, als nur Raketen ins All zu schießen, um interessante Experimente durchzuführen. Es geht vielmehr um Forschungsergebnisse, die für den Alltag von großer Wichtigkeit sind - ich spreche hierbei nicht von der Entwicklung der Teflonbeschichtung für Bratpfannen, die an dieser Stelle immer herangezogen wird. Denken Sie an die Telemedizin. Spezialisten finden sich über Kontinente zusammen, um komplizierte Operationen vorzubereiten. Nicht mehr der Kranke, der Patient, muß reisen; Fachkenntnisse und Röntgenbilder reisen via Satellit von Klinik zu Klinik. Nicht weit von uns entfernt, im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln-Porz, sind aus der Raumfahrt die Voraussetzungen entwickelt worden, um alten Menschen und Risikopatienten ihre gewohnte Umgebung zu erhalten und den Einzug in ein Heim zu vermeiden sowie Kleinkinder vor dem frühen Kindstod zu bewahren. Meine Damen und Herren von der Skeptikerkoalition, stehen Sie hier nicht abseits! Helfen Sie mit, diese Forschungen zum Wohle der Menschen zur Anwendungsreife zu führen! Auch der Umweltschutz lebt von der Raumfahrt. Klimaveränderungen, Wüstenbildung und die Veränderung der Eismassen an den Polen werden über Satellit analysiert und können so besser bekämpft werden. Wettervorhersagen sind ohne Satelliten heute undenkbar. Anfang der 90er Jahre wurden auf Grund von metereologischen Satellitenbeobachtungen eine Million Menschen evakuiert und so vor dem Wirbelsturm „Andrew“ bewahrt, der kurze Zeit später Florida verwüstete. Rückschlüsse auf Analysen unter Bedingungen in der Schwerelosigkeit führten bereits in der Vergangenheit ebenso zu Einsparungen bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe wie neuartige Legierungen und Schmelzverfahren, die zu einer Gewichtsreduzierung der fertigen Produkte in der Automobil- und Luftfahrtindustrie führten. Auch sie hatten ihren Ursprung in der Weltraumforschung. Durch die Beobachtungen aus dem Weltraum ist es möglich, Mißernten im Vorfeld zu bekämpfen und damit Hungersnöte zu vermeiden. Auch die Verhinderung der Ausbreitung von Pflanzenkrankheiten ist dank der Satellitentechnik heute möglich. Die Weltraumforschung ist also auch ein Beitrag zur internationalen Solidarität. Weltraumforschung bedeutet schließlich die Schaffung von Arbeitsplätzen. Insgesamt leben über 110 000 Menschen und ihre Familien von der Raumfahrtindustrie. Vor allem mittelständische Unternehmen sind in diesem Bereich tätig. Es ist die Pflicht der Bundesregierung, diesem wichtigen Industriezweig die notwendige Hilfe zukommen zu lassen. Die Unterstützung der Luft- und Raumfahrt ist auch ein Bündnis für Arbeit. Daran sollte die Bundesregierung immer denken. Die Luft- und Raumfahrt ist also ein wichtiger Beitrag für die Sicherung der Zukunft Deutschlands. Ein Beitrag zu dieser Zukunft ist auch der von der CDU/CSU vorgelegte Antrag. Stimmen Sie daher zu! Es gibt keinen Grund, es nicht zu tun. ({11}) Ich hoffe, daß der Weltraum bei SPD und Grünen nicht zu einem Mikrokosmos verkommt, der in den politischen Debatten keine Rolle mehr spielt. Vielen Dank. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Bodo Seidenthal. Bitte sehr.

Bodo Seidenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Hauser, ich würde Ihnen gerne am Anfang meiner Rede antworten, werde dies aber erst zum Schluß tun. Lassen Sie mich mit etwas Grundsätzlichem beginnen - diesen Punkt haben auch Sie erwähnt; wir ziehen aber andere Schlüsse daraus -: Noch nicht einmal 30 Jahre ist eines der größten Abenteuer der Menschheit jung, nämlich die Landung auf dem Mond. Es vergingen nur 12 Jahre vom Start des Satelliten Sputnik bis Neil Armstrong bei der Landung auf dem Mond gesagt hat, daß es nur ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit sei. Wir wissen, Herr Hauser: Flüge zum Mond finden heute nicht mehr statt; der Wettstreit der Systeme hat dem kommerziellen Wettbewerb und der globalen Zusammenarbeit Platz gemacht. Heute müssen wir uns bezüglich der Raumfahrtentwicklungen den aktuellen Herausforderungen der Menschheit stellen und die Prioritäten daran orientieren. Was aber - diese Frage will ich Ihnen nicht vorenthalten - machen Sie? Sie bringen einen Antrag ein, mit dem Sie den Eindruck erwecken, daß die jetzige Bundesregierung und die zuständige Norbert Hauser ({0}) Ministerin alles falsch machen und die falschen Prioritäten setzen. ({1}) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, kommen mir wie jemand vor, der ein Haus angezündet hat und anschließend nach der Feuerwehr ruft. ({2}) Denn es war Ihr Zukunftsminister Jürgen Rüttgers, der ein Raumfahrtprogramm erstellt hat, das programmatisch und planerisch unausgewogen war, die falschen Prioritäten gesetzt hat, Mittel gebunden und darüber hinaus wichtige Bereiche mit Zukunftsperspektive vernachlässigt hat. Damit Sie nicht sagen können, es handele sich sozusagen um eine SPD-gefärbte Aufstellung, will ich erwähnen, daß es eine Aufstellung des DLR ist. Diese Fehler haben Sie in der Vergangenheit gemacht. Wenn Sie auf die neuen Herausforderungen eine Antwort geben können, dann sind wir gemeinsam auf dem richtigen Weg. ({3}) Mit Ihrem Programm, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wäre die Zukunft der Raumfahrt auf Jahre blockiert worden. Sie haben nämlich selbst die Ampel auf Rot gestellt. Sie haben, wie es der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen einmal formuliert hat, seit 1993 eine dramatische Kluft zwischen politischen Ansprüchen - Herr Hauser, hören Sie zu - und finanziellen Planungen in der Raumfahrtpolitik entstehen lassen. Daran sollten Sie sich erinnern. ({4}) Ihre öffentlichen Klagen über die Vernachlässigung der Raumfahrt - Ihre Rede war ein Beispiel dafür - sind scheinheilig. Sie haben doch Jahr für Jahr die Kürzungen des Raumfahretats mitbeschlossen. Ich bin der Ministerin dankbar, daß sie vorhin in ihrer Rede die Fehlplanungen und die jahrelang aufgeschobenen Aufräumungsarbeiten in der Raumfahrtpolitik eindrucksvoll beschrieben hat. ({5}) Da mein Kollege Lothar Fischer unter anderem schon einige grundsätzliche Ausführungen zur ESA, zu der Weiterentwicklung der Ariane 5 und zur Bindung immenser Mittel durch die alte Regierung für die internationale Raumstation gemacht hat, möchte ich zu zwei konkreten Punkten Stellung nehmen: zu den kommerziellen erfolgreichen Raumfahrtmärkten - dazu zählen, wie einige es schon gesagt haben, die Satellitenkommunikation und die Satellitennavigation - und der Erdbeobachtung. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich bin mir nicht schlüssig und wanke hin und her: Brauchen Sie eine Brille, ein Hörgerät oder funktioniert bei Ihnen noch nicht einmal das Kurzzeitgedächtnis? ({6}) Die Ministerin hat vorhin eindeutig gesagt, daß wir die eben von mir erwähnten Schritte durchführen wollen. Dafür haben Sie, wenn wir da genau hineinschauen, keine - ({7}) - Sie haben nichts eingeplant, Herr Rachel. Herr Möllemann, zu Ihnen komme ich zum Schluß meiner Rede auch noch. Sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Edelgard Bulmahn, Ihren Ausführungen zufolge ist die neue Bundesregierung entschlossen, unter veränderten finanziellen Rahmenbedingungen Fehlentwicklungen der Regierung Kohl zu korrigieren und eine Raumfahrtpolitik zu gestalten, die - darauf kommt es unserer Meinung nach an - auf wirtschaftliche Perspektiven und wissenschaftliche Kompetenz setzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der alten Regierungskoalition, eines möchte einmal nachfragen: Was haben Sie eigentlich dagegen, daß für Experimente zukünftig das Kriterium der wissenschaftlichen Exzellenz gelten soll? ({8}) Sie sind es doch gewesen, die das früher immer formuliert haben. Jetzt macht es Edelgard Bulmahn, und schon haben Sie etwas dagegen, weil es aus der verkehrten Richtung kommt. ({9}) Frau Ministerin, ich sage Ihnen für das, was ich gerade ausgeführt habe und was Sie wollen, die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion zu. Ich möchte Sie bitten, den genannten Punkten Ihre besondere Aufmerksamkeit zu schenken. ({10}) Es war, Frau Aigner, ein fataler Fehler der Regierung Kohl, mit ihren Weichenstellungen kommerziell erfolgreiche Raumfahrtmärkte - darum geht es Ihnen doch auch immer - den USA und anderen Ländern zu überlassen. ({11}) Insbesondere auf den Gebieten der Satellitenkommunikation, der Satellitennavigation und der dazugehörigen Produktketten wurden in der Vergangenheit wichtige wirtschaftliche Entwicklungen verschlafen. Das wird bei uns und mit Edelgard Bulmahn nicht passieren. ({12}) Das größte kommerzielle Potential der Raumfahrtindustrie liegt in den raumfahrtgestützten Diensten, insbesondere der Telekommunikation, der schon erwähnten Erdbeobachtung und der Navigation. Wer über den Zugang zum All verfügt, hat - darauf lege ich Wert - die Möglichkeit, diese Dienste auszuüben, und kann, wenn er die Möglichkeiten exklusiv besitzt, andere von der Produktion solcher lukrativen Dienstleistungen ausschließen oder sie durch überhöhte Preise bzw. ungünstige Konditionen daran hindern, in diese Geschäftsfelder einzudringen. ({13}) - Herr Möllemann, Ihre Tränen - ({14}) Was haben Sie denn in der Vergangenheit bei den Verhandlungen mit Amerika gemacht? Amerika hat gesagt, die Europäer dürfen nicht ran. Herr Kollege Möllemann, Sie haben nichts auf den Weg gebracht - leider. ({15}) Frau Ministerin, ich habe Sie so verstanden, daß Sie alles dafür tun wollen, daß die deutsche Industrie ihre gute Wettbewerbsposition auf den genannten Gebieten behält und weitere Marktpotentiale erschließen kann. Das technologische Ziel muß darin bestehen, daß Deutschland in der Raumfahrt im internationalen Maßstab weiterhin kompetent vertreten ist und vor allem in wichtigen Hochtechnologiebereichen den Anschluß behält.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wiese ({0})?

Bodo Seidenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage, weil ich es nämlich nicht einsehe, Frau Präsidentin, daß wir - wie Lothar Fischer es gesagt hat über diese Dinge seit 1987 im Bundestag diskutieren und die neue Opposition so tut, als ob das alles verkehrt wäre. Wir können darüber demnächst im Ausschuß reden. ({0}) - Diskutieren wir es also dort ({1}) - Ich habe keine Angst vor der Öffentlichkeit. Ich werde Ihnen, Herr Fischer, auch noch sagen, warum ich keine Angst vor der Öffentlichkeit habe. Kurzum: Der von Ihnen genannte Public-PrivatePartnership-Gedanke, Frau Bulmahn, ist nach unserer Auffassung ein Schritt in die richtige Richtung. Ich gehe davon aus, daß sich die Nutzer dem nicht verschließen werden. Der Markt der Satellitenkommunikation ist in der kommerziellen Raumfahrt am weitesten entwickelt und läßt im Jahr 2000 weltweit ein Volumen von zirka 60 Milliarden US-Dollar erwarten. Die höchste Wertschöpfung - insofern stimmen wir ja teilweise überein wird bei der Vermarktung von Endgeräten und Dienstleistungen erzielt. Deshalb muß die zentrale Zielsetzung des zukünftigen Kommunikationsprogramms eine erfolgreiche Beteiligung der Industrie am internationalen Wettbewerb sein. Die Satellitennavigation als Schlüsselelement eröffnet der Mobilitätsgesellschaft eine Fülle von kommerziellen Anwendungen und Dienstleistungen für alle Anwendungsgebiete der Luftfahrt, Schiffahrt und des Landverkehrs. In Deutschland liegen die kommerziellen Umsätze im Raumfahrtsegment und bei Endgeräten, vor allem wegen der Autonavigation, bei zirka 580 Millionen DM pro Jahr. Wir erwarten im Jahre 2003 einen Umsatz von 1,3 Milliarden DM. Die eingesetzten Komponenten - das habe ich schon deutlich zu machen versucht - stammen hauptsächlich aus den USA. Das Dienstleistungsangebot in Deutschland, das auf diesem GPS beruht, nimmt laufend zu. Es leistet schon heute einen wichtigen Beitrag für ein integriertes Gesamtverkehrssystem, das zum Beispiel zur effizienten Nutzung der Verkehrsinfrastruktur, zur Erhöhung der Verkehrssicherheit, zur Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf umweltfreundliche Verkehrsmittel und zur Vermeidung von Umweltbelastungen führt. Insgesamt hat die europäische Industrie hieran bisher nur einen Anteil von 5 Prozent am heutigen Weltmarkt inne. Wegen des amerikanischen Militärmonopols sind europäische Anbieter aus wesentlichen Bereichen der Wertschöpfungskette ausgeschlossen. Um sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, hat die EU-Kommission das Galileo-Programm vorgeschlagen, das den Aufbau eines europäischen Satellitennavigationssystems vorsieht. Dies ist eine Aufgabe des Verkehrsministerrates. Ich möchte schon heute davor warnen, auf der ESA-Konferenz Nägel mit Köpfen machen zu wollen. Es wäre aber wichtig, ein Signal für eine positive politische Grundsatzentscheidung zu geben. ({2}) Die Erdbeobachtung setzt auf Kontinuität in diesem wichtigen Feld angewandter Raumfahrt in Deutschland. Der deutsche Beitrag leitet sich nicht nur aus umweltpolitischen, sondern - wegen der starken Stellung der deutschen Industrie in diesem Segment - auch aus industriepolitischen Interessen Deutschlands her. Deshalb, Frau Ministerin, möchte ich Sie bitten, dafür zu sorgen, daß die deutsche Beteiligung an diesem Programm Priorität erhält. ({3}) - Der Bitte wird entsprochen. Wenn Sie den Ausführungen der Ministerin richtig zugehört hätten, Herr Möllemann, dann wüßten Sie dies. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich möchte Ihnen noch einen wichtigen Punkt vorhalten: Ihre Bundesregierung - da sieht man wieder einmal, wie ernst Sie das alles genommen haben - hat, was die ausreichende und angemessene Nutzung von Satellitendaten angeht, kläglich versagt. Die Daten wurden nämlich auf Halde produziert und nur in geringem Umfang als Datenquelle genutzt. Sie haben nichts dafür getan, daß dieses teure Investment etwas bringt. Wir gehen davon aus, daß gerade satellitengestützte Informationssysteme zukünftig einen angemessenen Anteil haben werden. Abschließend, Herr Rachel, komme ich auf Sie zu sprechen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ihre Redezeit ist aber abgelaufen, Herr Kollege.

Bodo Seidenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002151, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jawohl, Frau Präsidentin. Ich nehme das zur Kenntnis. Herr Rachel, als Sie 1994 im Ausschuß für Forschung und Technologie Ihre ersten Ausführungen zu diesem Thema gemacht haben, hatte ich den Eindruck, daß Sie wirklich ein Kämpfer für die Raumfahrt sind. Herr Rachel, Sie sind als Löwe gesprungen und als Bettvorleger gelandet. Deshalb sind Ihre heutigen Ausführungen nicht glaubwürdig. ({0}) Es ist langsam an der Zeit, daß sich die Opposition hinter die Ministerin stellt und daß Sie, Herr Rachel, Ihre Beschimpfungen - teilweise waren es sogar Beleidigungen -, die Sie im „Handelsblatt“ vom 1. März geäußert haben, endlich zurücknehmen. Frau Präsidentin, herzlichen Dank für Ihr Entgegenkommen. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Rachel.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege Seidenthal, wir haben in den letzten Jahren verschiedentlich Gelegenheit gehabt, über die Raumfahrt zu diskutieren. Auch wenn man in einer argumentativen Schwäche ist, sollte man nicht dazu übergehen, den Kollegen etwas zu unterstellen, was nicht richtig ist. Ich glaube, daß gerade die Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion, der ich angehöre, in den letzten Jahren bewiesen hat, daß sie sich sehr wohl einmal, wenn das von einem Parteifreund geführte Ministerium keine die Raumfahrt so unterstützende Position einnehmen wollte, wie wir es uns gewünscht haben, für eine solche eingesetzt hat. Dies haben wir im Gegensatz zu Ihrer Fraktion getan, die dadurch geglänzt hat, daß sie keinerlei Haushaltsänderungsanträge eingebracht hat. Wir haben beispielsweise im letzten Haushalt erreicht, daß die entsprechenden Haushaltsmittel von 970 Millionen DM auf 1 Milliarde DM erhöht wurden. Insofern weise ich Ihre persönlichen Unterstellungen mit aller Entschiedenheit zurück. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Ausspra- che. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/655 an die in der Tagesordnung auf- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Über- weisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a bis 15f sowie die Zusatzpunkte 3a bis 3f - es handelt sich um Über- weisungen im vereinfachten Verfahren - auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts - Drucksache 14/744 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({0}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Überweisungsgesetzes - Drucksache 14/745 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({1}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Dezember 1997 über wirtschaftliche Partnerschaft, politische Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den Vereinigten Mexikanischen Staaten andererseits - Drucksache 14/684 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({2}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens ({3}) - Drucksache 14/626 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Rechtsausschuß e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Dehnel, Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({5}), Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes - Drucksache 14/544 Bodo Seidenthal Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuß für Tourismus f) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Änderung der Geschäftsordnung des Deut- schen Bundestages - Drucksache 14/542 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ZP3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 21. Dezember 1995 über den Beitritt der Republik Österreich, der Re- publik Finnland und des Königreichs Schwe- den zu dem Übereinkommen über die Beseiti- gung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen - Drucksache 14/748 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({7}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Für eine sofortige Verhängung umfassender Handelssanktionen gegen Jugoslawien - Drucksache 14/793 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({8}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Fograscher, Adelheid Tröscher, Günter Oesinghaus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller ({9}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN UN-Sondergeneralversammlung - 5 Jahre nach der Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo - Aktive Bevölkerungspolitik in der Entwicklungszusammenarbeit - Drucksache 14/797 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({10}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred Gebhardt, Heidi Lippmann, Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Ausschluß des Eintritts Minderjähriger in die Bundeswehr - Drucksache 14/551 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß ({11}) Rechtsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred Gebhardt, Carsten Hübner, Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Einsatz von Kindern als Soldaten wirksam verhindern - Drucksache 14/552 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({12}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Verteidigungsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann, Brigitte Adler, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gegen den Einsatz von Kindern als Soldaten in bewaffneten Konflikten - Drucksache 14/806 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({13}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Verteidigungsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Beratung von Vorlagen ohne Aussprache. Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 16a auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Einhundertachtunddreißigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 14/264, 14/305 Nr. 2.2, 14/729 Berichterstattung: Abg. Rolf Hempelmann Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Vizepräsidentin Anke Fuchs Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 b auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({15}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Privatisierung von Bundesbeteiligungen hier: Veräußerung der Geschäftsanteile an der Heimstätte Rheinland-Pfalz GmbH, Organ der staatlichen Wohnungspolitik, Mainz - Drucksachen 14/186, 14/305 Nr. 1.1, 14/657 Berichterstattung: Abgeordnete Peter Jacoby Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Günter Rexrodt Dr. Uwe-Jens Rössel Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Auch diese Beschlußempfehlung ist angenommen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um Zusatzpunkt 12 zu erweitern. Es handelt sich um Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses. Über diese Vorlagen soll sofort ohne Aussprache entschieden werden. Sind Sie mit dieser Erweiterung einverstanden? - Es ist so beschlossen. Damit rufe ich zunächst Zusatzpunkt 12 a auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 38 zu Petitionen - Drucksache 14/814 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 38 ist angenommen. Zusatzpunkt 12 b: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 39 zu Petitionen - Drucksache 14/815 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einigen Enthaltungen ist die Sammelübersicht 39 angenommen. Zusatzpunkt 12 c: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 40 zu Petitionen - Drucksache 14/816 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei einigen Gegenstimmen ist die Sammelübersicht 40 angenommen. Zusatzpunkt 12 d: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 41 zu Petitionen - Drucksache 14/817 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen ist die Sammelübersicht 41 angenommen. Zusatzpunkt 12 e: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 42 zu Petitionen - Drucksache 14/818 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei einigen Enthaltungen ist auch die Sammelübersicht 42 angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes - Drucksachen 14/389, 14/474 ({21}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({22}) - Drucksache 14/820 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Thea Dückert Es liegen Änderungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Brigitte Lange, SPD-Fraktion.

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute über drei Änderungen des Sozialhilfegesetzes zu beraten und zu entscheiden. Es geht einmal darum, daß die Übergangsregelung für die Bemessung der Regelsätze um zwei Jahre verlängert werden soll. Das steht so im Gesetzentwurf der Bundesregierung. Zum zweiten geht es um eine Verwaltungserleichterung bei Widerspruchsbescheiden für die Länder und Kommunen. Dann hat die SPDFraktion einen Ergänzungsantrag gestellt, bei dem es darum geht, Modellvorhaben für die Einführung von Pauschalierungen zu ermöglichen. Dazu gibt es einen Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion. Ich habe nicht vor, heute eine Grundsatzdiskussion über die Sozialhilfe anzufangen, obwohl uns die bedrükkenden Fakten durchaus bewußt sind, insbesondere was die Empfängerzahlen, die Zusammensetzung der Empfänger und die Kosten anbetrifft. Ich denke, wir werden in diesem Jahr noch Gelegenheit haben, das miteinander zu diskutieren. Vizepräsidentin Anke Fuchs Mir geht es heute nur darum, insbesondere die Änderungen zu erläutern, die strittig sind und in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Zunächst geht es dabei um die Fristverlängerung bei der Festsetzung der Regelsätze. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir 1996 zum erstenmal Regelungen zum Aufbau und zur Anordnung der Regelsätze in das Sozialhilfegesetz hineingenommen. Die Entscheidung über die Zusammensetzung und die Höhe der Regelsätze ist nicht unwichtig. Sie wirkt in sehr viele gesellschaftliche Bereiche hinein. Der Regelsatz wirkt erstens finanzpolitisch auf die öffentlichen Haushalte des Bundes und der Länder. Auf Bundesebene wirkt er sich auf die Höhe des steuerlichen Grundfreibetrages aus, bei den Kommunen hängen davon die Ausgaben für die Sozialhilfeempfänger ab. Diese Ausgaben sind in den letzten Jahren immens gestiegen. Somit betreffen Änderungen auch den Finanzausgleich, der zwischen Bund und Ländern beraten werden muß. Zweitens gibt es wirtschaftspolitische Auswirkungen, da der Zusammenhang mit dem Lohneinkommen beachtet werden muß. Das sogenannte Lohnabstandsgebot steht ja im Sozialhilfegesetz drin. Der Streit, ob man eher die Sozialhilfe senken oder darüber nachdenken soll, wie Löhne gestaltet werden können, damit Beziehern und ihren Familienangehörigen ein existenzsicherndes Einkommen gewährleistet werden kann, ist noch nicht ausgestanden. Drittens hat es familien- und viertens sozialpolitische Bedeutung, denn wir entscheiden darüber, was wir denen, die nicht in der Lage sind, selber ihr Existenzminimum zu sichern, zugestehen wollen. Es geht also um das Mindestexistenzniveau. Dieses Niveau ist auch die Orientierungsgrundlage für andere Transfereinkommen. All diese Entscheidungen, bei denen wir die unterschiedlichsten Auswirkungen bedenken müssen, unterliegen jedoch dem in § 1 BSHG formulierten Gebot der Menschenwürde: Sozialhilfe muß dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens ... ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Wir halten es für angemessen, auch für selbstverständlich, daß nach einem Regierungswechsel eine neue Regierung die Möglichkeit haben muß, die Entscheidung zur Festsetzung und Fortschreibung des Regelsatzes gründlich, sorgfältig und in angemessener Frist zu treffen. ({0}) Selbst wenn Sie darauf hinweisen, daß bereits Gutachten vorliegen, halte ich entgegen, daß es dennoch wichtig ist, daß die Regierung diese Gutachten selber wertet und ihre Konsequenzen daraus zieht. Insofern stimmen wir einer Verlängerung der Frist um maximal zwei Jahre zu und lehnen Ihren Vorschlag, sie auf ein Jahr zu begrenzen, ab. Wenn es schneller gehen sollte, ist das in Ordnung; aber zunächst einmal muß dieser Entscheidungsspielraum geschaffen werden. Uns ist es natürlich klar, daß damit die Fortschreibung der Regelsätze in der bisherigen Weise erfolgt. Wir wissen auch, daß sie zwischen 1993 und 1996 gedeckelt wurden und daß ab 1997 die Erhöhung der Sätze in der gleichen Weise wie in der gesetzlichen Rentenversicherung geschieht. Wir haben damals diese Entscheidung als Kompromiß mitgetragen. Sie wurde uns nachträglich dadurch erleichtert, weil die Preissteigerungsraten in den Bereichen, die sich auf die Regelsätze auswirken, erträglicher ausfielen, als wir befürchtet hatten. So hat sich diese Fortschreibung nicht so gravierend ausgewirkt. Da wir davon ausgehen können, daß die Renten in den nächsten beiden Jahren stärker steigen als bisher, halten wir auch die Verlängerung der Fortschreibung für vertretbar. Erläutern möchte ich Ihnen auch unseren Vorschlag, dem Wunsch der Länder zu entsprechen und Modellvorhaben für Pauschalierungen zuzulassen. Wir verfolgen damit zwei Ziele. Einmal geht es darum, die Autonomie von Sozialhilfeempfängern zu erhalten und zu stärken, wo es geht. Wir hoffen, soweit es bei den nicht gerade üppig bemessenen Beträgen überhaupt möglich ist, ein wenig mehr Entscheidungsfreiheit für das eigene Haushalten zu ermöglichen. Zum zweiten geht es uns darum, die Effizienz der Verwaltung zu verbessern und die möglicherweise freiwerdenden Ressourcen für die individuelle Beratung der Sozialhilfeempfänger zu nutzen. Es geht nicht darum - das betone ich noch einmal ausdrücklich; es kann auch gar nicht darum gehen -, Leistungen zu senken. Es bleibt beim Prinzip der Bedarfsdeckung. Wir haben das ausdrücklich in unsere Regelungen hineingeschrieben. ({1}) Einsparungen sind durch Pauschalierungen also nicht zu erwarten; eher das Gegenteil. Denn die Pauschalen müssen so bemessen sein, daß sie eine große Zahl der Empfänger umfassen und daß nicht dauernd Ausnahmeregelungen geschaffen werden müssen, die aber - auch das betone ich - nach wie vor möglich sein müssen. Wir legen auch Wert darauf, daß die Pauschalen für die jeweiligen Leistungen gesondert bestimmt werden und auf ihre Tauglichkeit geprüft werden können. Deshalb lehnen wir den Änderungsvorschlag der CDU/CSU ab, eine Gesamtpauschale zu ermöglichen. Dann kann man nämlich nicht mehr die einzelnen Pauschalen auf ihre Tauglichkeit überprüfen. Ganz abgesehen davon würde es auch § 22 des Bundessozialhilfegesetzes widersprechen. Wir erhoffen uns von der Einrichtung mehrerer Pauschalen, daß Verwaltungsaufwand eingespart wird und dadurch mehr Zeit zur individuellen Beratung möglich ist, die in den letzten Jahren hat zurückstehen müssen, weil die Sozialamtsmitarbeiter so viele Fälle zu bearbeiten hatten, daß sie wenig Zeit für den einzelnen zur Verfügung hatten. Dadurch wären vielleicht auch mehr Erfolge zu verzeichnen, Hilfebezieher in Arbeit zu vermitteln. Diese erfolgreiche Vermittlung kann dann mittelfristig tatsächlich zu Einsparungen führen, wenn es uns gelingt, den Zustrom zu den Sozialhilfeämtern zu verringern, denn sonst ist es eine Sisyphusarbeit. Wir brauchen also Veränderungen im Arbeitsmarktbereich, aber auch bei den vorrangigen Leistungen. Ich verstehe, daß die CDU/CSU in den Antrag hineinschreiben möchte, daß die freiwerdenden Zeitressourcen für die Verwaltung verwendet werden sollen, und daß sie nicht dazu beitragen möchte, möglicherweise Stellen zu sperren. Aber da endet die Kompetenz des Bundes; wir können nicht in die Verwaltungen der Länder und Kommunen hineinregieren. Pauschalen sind nichts Neues. Wir haben sie bereits im Gesetz verankert. Wir haben Regelsätze, Mehrbedarfszuschläge, Blindengeld und Pflegegeld. Das alles sind gesetzlich festgelegte Pauschalen. Aber es gibt auch Pauschalen, die einzelne Sozialhilfeträger bereits erprobt haben, zum Beispiel bei der Bekleidung. Diese können in die neuen Modellvorhaben einbezogen werden. Voraussetzung dafür ist eine Rechtsverordnung der jeweiligen Landesregierung, damit länderspezifische Ansätze zugelassen werden können, aber andererseits auch eine vergleichbare Auswertung der Modelle gewährleistet ist. In diese begleitende Auswertung müssen die Wohlfahrtsverbände unbedingt einbezogen werden. Damit meinen wir, den Bedenken dieser Verbände Rechnung zu tragen und ihren Einwand, die Hilfe in besonderen Lebenslagen von der Pauschalierung auszunehmen, nicht berücksichtigen zu müssen. Deshalb lehnen wir Ihren Änderungsvorschlag in diesem Bereich ab. Die SPD-Fraktion wird die Modellvorhaben kritisch begleiten. Wir hoffen, daß sie nicht nur dazu beitragen, Verwaltungshandeln zu optimieren, sondern daß wir damit vor allen Dingen die Situation von Sozialhilfebeziehern verbessern können. Danke. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Peter Weiß das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vorgeschichte dieses siebten Änderungsgesetzes zum Bundessozialhilferecht ist, wie ich meine, ein Musterbeispiel für das angeblich so entschlossene und klare Handeln der neuen rotgrünen Koalition. Ich möchte den wichtigsten Punkt, die Pauschalierungsregelung, herausgreifen. Nachdem Fachleute darüber seit vielen Jahren diskutiert haben, hat BadenWürttemberg im Mai vergangenen Jahres einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht. Im Herbst vergangenen Jahres hat die neue rotgrüne Koalition in ihre Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben, sie wolle Modellvorhaben bezüglich einer Pauschalierung der Sozialhilfe ermöglichen. Dann hat Baden-Württemberg im Bundesrat eine Entscheidung in der Sache beantragt, weil man sich angeblich einig gewesen sei. Diese wurde abgelehnt. Im Januar dieses Jahres ist dann vom Arbeitsministerium ein Referentenentwurf an die entsprechenden Verbände und interessierten Fachleute geschickt worden. Darin war ein eigener Regelungsvorschlag zur Pauschalierung enthalten. Im Februar haben wir den diesbezüglichen Entwurf der Bundesregierung bekommen. Darin stand plötzlich nichts mehr davon. Daraufhin folgte die Sitzung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung, in der die Koalition flugs per Tischvorlage die Pauschalierung wieder zum Leben erweckt hat. Der entscheidende Satz - das möchte ich erwähnen -, der den Unterschied zwischen der Gesetzesinitiative Baden-Württembergs und dem einstigen Referentenentwurf markierte, nämlich daß eine Pauschalierung nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Sozialhilfeempfängers möglich ist, fehlte. Nach diesem Zickzackkurs befinden wir uns heute in der zweiten und dritten Lesung des vorliegenden Entwurfes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes. Meine Damen und Herren, wenn sich die weitergehenden Pauschalierungen in der Sozialhilfe, die wir, wenn das Gesetz in Kraft tritt, zunächst einmal in einem Modellvorhaben erproben werden - wozu wir in der Tat auch die kritische Begleitung sowohl der kommunalen Spitzenverbände als auch der Wohlfahrtsverbände als auch der Selbstinitiativen der Sozialhilfeempfänger brauchen -, bewähren, stellen sie in der Tat eine Revolutionierung des bisherigen Systems des Sozialhilfebezugs dar. Während die laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt in der Sozialhilfe seit dem Inkrafttreten des ursprünglichen Gesetzes durch den Regelsatz quasi pauschaliert sind, findet auf den Sozialämtern bis zum heutigen Tag ein oft hartnäckiger und verbitterter Kampf um kleine Beiträge für den Kauf zum Beispiel von Kleidung, Hausrat, Möbeln, Radios, Fernsehgeräten und anderem statt. ({0}) Obwohl es bestimmte Richtlinien gibt, besteht bei den einzelnen Trägern der Sozialhilfe eine sehr unterschiedliche Praxis dahin gehend, was dem einzelnen Sozialhilfeempfänger tatsächlich gewährt wird. Eines kommt noch hinzu: Bis zu 40 Prozent der Entscheidungen im Hinblick auf den Bezug von einmaligen Leistungen werden rechtlich angefochten. Das heißt, es kommt in einem Großteil der ergangenen Sozialhilfeentscheidungen zu Widerspruchsverfahren oder gerichtlichen Auseinandersetzungen. Dieses zum Teil unwürdige Gezerre und Gerangel wollen wir beenden. ({1}) Die Zielsetzung ist, daß jedem Sozialhilfeempfänger ein berechenbares Haushaltsbudget zur Verfügung steht, daß er wirtschaftliche Eigenverantwortung praktizieren muß und daß er die Möglichkeit erhält, für die persönliche Lebensführung Prioritäten zu setzen. Das ist eine konkretere Ausgestaltung dessen, was wir heute auch im Sozialhilferecht unter der Würde des Menschen verstehen. Dieser Weg zu mehr Selbständigkeit des einzelnen Sozialhilfeempfängers führt über eine Pauschalierung aller Elemente der Hilfe zum Lebensunterhalt, also auch der Kosten für die Unterkunft. Aber auch für die Sozialhilfeträger, das heißt für unsere Städte und Landkreise, ergibt sich eine erhebliche Veränderung. Die Verwaltung der Sozialhilfe wird wesentlich vereinfacht. Personalkapazitäten werden frei, die für den weiteren Ausbau der Hilfen zum Ausstieg aus der Sozialhilfe dringend gebraucht werden. Die frühere Bundesregierung aus CDU/CSU und F.D.P. hat bereits mit ihren Änderungen im Sozialhilfegesetz Wege aufgezeigt, wie Sozialhilfebezieher verstärkt wieder Arbeit erhalten können, statt den Sozialhilfebezug zu konservieren. ({2}) Die Pauschalierung, die wir jetzt einführen wollen, setzt für die Aufgaben der Beratung, der Hilfe zum Ausstieg aus der Sozialhilfe und der Hilfe zur verstärkten Arbeitsvermittlung weitere Kapazitäten und Kräfte frei. Ich will noch einmal ausdrücklich klarstellen - Frau Lange, da sind wir uns vollkommen einig -: Die angestrebte Pauschalierung der Hilfen zum Lebensunterhalt ist kein Vehikel für versteckte Leistungskürzungen, sondern sie ist das Instrument für vermehrte und verbesserte Hilfen zum Ausstieg aus der Sozialhilfe. Deshalb wollen wir diese Zielsetzung ausdrücklich in das Gesetz hineinschreiben und bedauern, daß die Koalition das ablehnt. ({3}) Das neue Instrument der Pauschalierung muß allerdings auf einer klaren Rechtsgrundlage stehen. Deshalb haben wir eine Reihe von Änderungsanträgen eingebracht, die diesem Ziel dienen. Wir wollen den bei jedem Hilfeempfänger bestehenden Rechtsanspruch auf individuell bedarfsgerechte Hilfe in einen Gesamtrechtsanspruch auf ein bedarfsdeckendes Budget ausgestalten. Ich verstehe nicht, daß Sie einen Widerspruch hervorrufen und sagen: Wir wollen kein Gesamtbudget. Wenn Sie das ernsthaft nicht wollen ({4}) - so steht es aber im Gesetz -, dann ist die Reform, die Sie jetzt machen, umsonst. Die von uns gemeinsam angestrebten Verwaltungskosteneinsparungen wird es dann voraussichtlich nicht geben. Der Städte- und Gemeindebund hat eine klarstellende gesetzliche Formulierung empfohlen. Wer eine solche Klarstellung ablehnt, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er bewußt Unklarheiten hinnehmen will. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man Ihre Gesetzesbegründung liest. Unserer Auffassung nach ist die von uns vorgeschlagene Regelung notwendig, um Rechtsstreitigkeiten zwischen Sozialhilfeträgern und Hilfeempfängern zu vermeiden. Gesetze sollen Klarheit schaffen und nicht zu mehr Gerichtsprozessen führen. ({5}) Wir sind weiterhin der Auffassung, daß eine Pauschalierung von Hilfen in besonderen Lebenslagen eigentlich nicht sachgerecht eingeführt werden kann. Das zeigt sich vor allen Dingen bei den Hilfen für Behinderte, bei denen es so große Unterschiede gibt und bedarfsgerechte Einzelfallentscheidungen notwendig sind, so daß es schlichtweg umöglich ist, hierfür allgemeine Pauschalen festzulegen. Meine Damen und Herren, wir sind uns mit der Koalition einig: Wir wollen die Pauschalierung der Sozialhilfeleistungen. Wenn Sie den Änderungsanträgen der CDU/CSU zustimmen würden, würde Ihr Gesetz noch besser werden. Deswegen stellen wir sie heute noch einmal zur Abstimmung. ({6}) Unabhängig von dem Thema Pauschalierung bleibt die Aufgabe, ein neues Bedarfsbemessungsschema für die Sozialhilfe zu finden. Frau Lange hat dazu einige grundsätzliche Ausführungen gemacht. Mit dem heutigen siebten Änderungsgesetz wird nur eines gemacht: Die bisherige Übergangsregelung wird noch einmal um zwei Jahre verlängert. Wir finden, hier will die neue Bundesregierung unverhältnismäßig viel Zeit schinden; denn die noch von Horst Seehofer in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten liegen vor und können ausgewertet werden. Sie können möglichst bald in einen neuen Regelungsvorschlag umgesetzt werden. Wir sind deshalb der Auffassung, daß bereits im kommenden Jahr ein entsprechendes Gesetz vorliegen könnte. Ich habe ein gewisses Verständnis, verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, daß Sie, nachdem Sie zum Beispiel bei den 630-Mark-Jobs und bei der Scheinselbständigkeit unausgegorene, unsoziale und nicht handhabbare Gesetze auf den Weg gebracht haben, jetzt die neue Langsamkeit als Motto für Ihr Regierungshandeln entdecken. ({7}) Regierungsverantwortung wird aber übernommen, um zu handeln, und nicht, um abzuwarten und Tee zu trinken. Deshalb fordern wir dieses Handeln von Ihnen. Es liegt an den Bundesländern, das neue Sozialhilferecht durch entsprechende Rechtsverordnungen umzusetzen. Ich erwarte einen produktiven Wettbewerb unter den Ländern, damit wieder mehr Menschen aus der Sozialhilfe herausfinden, Hilfen zur Arbeit geschaffen werden und so letztlich auch der finanzielle Handlungsspielraum unserer Städte und Landkreise wieder erweitert werden kann. Vielen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Weiß, auch ich gehöre zu denjenigen, die sehr gern Tee trinken. Es kann aber aus meiner Sicht keine Rede Peter Weiß ({0}) davon sein, daß wir angesichts dessen, was Sie uns hinterlassen haben, abwarten wollen. ({1}) Die jetzt zu beschließenden Änderungen des Bundessozialhilfegesetzes sind ein erster Schritt. Es ist hier schon davon gesprochen worden, daß es dringend nötig ist, Änderungen, insbesondere am Mechanismus der Festlegung der Regelsätze, vorzunehmen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt dient heute nicht mehr der Absicherung einzelner Personen, die vorübergehend in eine persönlich schwierige Lage geraten sind. Dafür waren diese Hilfen ursprünglich aber gedacht; man erinnert sich kaum noch daran. Heute sichern wir den Lebensunterhalt für eine ständig steigende Zahl von Menschen, darunter mehr als eine Million Kinder. Meine Damen und Herren, die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, dem ein Ende zu machen. Es soll Schluß sein mit einer Sozialhilfe, die das Überleben sichert, aber nicht Leben vor allem im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe gewährleistet. Dazu braucht es nicht nur mehr Geld, sondern auch endlich die Möglichkeit, sich nicht mehr dem entwürdigenden Verfahren zum Beantragen eines Wintermantels oder Kühlschrankes aussetzen zu müssen. Dazu sind die vorliegenden Erhebungen der alten Regierung leider nicht befriedigend verwendbar. Die in der Vergangenheit vor dem Hintergrund der in diesem Jahr ablaufenden Regelung zur Regelsatzanpassung erzeugten Gutachten und Datenreihen hatten zum großen Teil die Zielrichtung, Leistungen einzuschränken. Genau das haben Sie in den letzten Jahren auch gemacht: Sanktionen zu begründen und die Last der Schuld an ihrer Situation weitgehend den Hilfesuchenden in die Schuhe zu schieben. Die immer wieder geführten Debatten um Mißbrauch im Bereich der Sozialhilfe waren für diese Ausrichtung untrügliches Zeichen. Ich glaube, wir haben sehr wohl die Verpflichtung, hier unter einem anderen Vorzeichen neue Möglichkeiten zu suchen. Die Koalition will auf der Basis der in den nächsten zwei Jahren anstehenden Arbeit zu diesem Thema solide Mechanismen der Regelsatzbemessung und -anpassung erzeugen, die insbesondere dem Prinzip der Bedarfsdeckung entsprechen und die auch den Umfang einbezogener Kosten neu und zeitgemäß definieren. Dabei werden die zahlreichen und in ihrer Spannbreite weit streuenden Gutachten, insbesondere von Sozialhilfeträgern sowohl aus dem öffentlichen wie auch aus dem freien Trägerbereich, genau zu analysieren sein. Mit der ebenfalls im Änderungsantrag enthaltenen Möglichkeit neuer Pauschalen in der Sozialhilfepraxis verbinden wir vor allem die Hoffnung, daß die Einsparung in der Verwaltung zu einer qualitativ besseren, breiteren Beratung für die Hilfesuchenden führt. Diese Ausweitungen sind aus unserer Sicht dringend geboten. Eine Studie von Diakonie und Caritas führte unter anderem zu dem Ergebnis, daß eine sehr hohe Zahl von Menschen die ihnen nach dem Sozialhilfegesetz zustehenden Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Sie schämen sich, zum Sozialamt zu gehen, oder aber sie wissen überhaupt nichts von den Möglichkeiten der Sozialhilfe. Unser Anliegen muß sein, diesen Menschen mit für sie annehmbarem Rat zur Seite zu stehen. Eine Beratung, die diese Menschen auch erreicht, muß möglich werden. Auch dafür schaffen wir hier die Grundlage. Wir sind uns durchaus bewußt, daß dies alles ein erster Schritt ist. Aber - Sie haben es angesprochen - wir müssen eine solide Grundlage schaffen. Wir müssen den Menschen zu mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, zu mehr Selbstbestimmung und mehr Eigenverantwortung verhelfen. Teilhabe an der Gesellschaft heißt nicht: „Ich darf mitmachen“, sondern: „Ich will mitgestalten.“ Hier haben wir noch viel Arbeit vor uns, die gewährleisten soll, daß dies tatsächlich geschehen kann. Lassen Sie mich zum Schluß noch sagen, die Kinder und Jugendlichen betreffend, die von Sozialhilfe leben: Wir werden im Herbst dieses Jahres das Familienentlastungsgesetz neu zu regeln haben. Auch hierbei wird es darauf ankommen, daß nicht fortgesetzt wird, was die Vorgängerregierung gemacht hat, nämlich Kinder immer mehr in Armut zu treiben. Es wird darauf ankommen, deutlich zu machen, daß, wenn wir von Familienentlastung reden, auch diejenigen Kinder gemeint sind, die von Sozialhilfe leben. Diese müssen hinreichend berücksichtigt werden. Die Gesellschaft darf Ausgrenzung nicht mehr in Kauf nehmen, wie wir das in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt haben. Wir brauchen für die Zukunft unserer Gesellschaft Miteinander, Teilhabe und Gerechtigkeit, und das in aller Konsequenz. Vielen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf beweist aus meiner Sicht erneut die offensichtliche Regierungsunfähigkeit der Koalition. ({0}) Es ist in der Tat sonderbar: Mal nehmen Sie sich zuwenig Zeit, überstürzen Ihre Gesetzgebung ohne Rücksicht auf die Auswirkungen - Stichworte: 630-MarkVerträge, Scheinselbständigkeit -, und hier und heute haben Sie es plötzlich überhaupt nicht eilig, lassen sich Zeit, obwohl alle Voraussetzungen für eine politische Entscheidung - genau darum geht es nämlich hier vorliegen. Offensichtlich haben Sie nicht den Mut zu entscheiden. Sie verschaffen sich mit der Verlängerung der Übergangsfristen um zwei Jahre bis zur Neugestaltung der Bemessungsgrundlagen ganz offensichtlich Luft. Sie spielen auf Zeit. ({1}) Wir sind der Ansicht, daß ein Jahr für die Vorbereitung der Neugestaltung vollkommen ausreichend wäre, zumal in der letzten Legislaturperiode bereits in erheblichem Umfang Vorarbeiten geleistet wurden. Ich stimme zu, Frau Lange: Eine neue Regierung muß die Möglichkeit haben, sich das einmal in Ruhe anzuschauen. Aber ich glaube, ein Jahr ist sehr viel Zeit. Alle Beteiligten, die Betroffenen wie die Kommunen, haben ein Anrecht darauf, zu wissen, wie es in diesem Bereich in Zukunft weitergehen soll. Ich hätte es vor diesem Hintergrund auf jeden Fall begrüßt, wenn Sie auf den Kompromißvorschlag von CDU/CSU im Ausschuß eingegangen wären. Durch die Verlängerung des Ankoppelns der Erhöhung der Regelsätze an die Entwicklung der Renten in den alten Bundesländern entstehen Kosten bei den Kommunen. Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, Sie mögen die Kosten als gering bezeichnen. „Gering“ ist aber ein relativer Begriff. Schon jetzt macht die Sozialhilfe einen nicht unerheblichen Anteil der Kommunalhaushalte aus. Ich erinnere daran - man muß das immer im Gesamtzusammenhang sehen -, daß die Kommunen in diesem Jahr auch eine Tariferhöhung in nicht unerheblichem Umfang zu verkraften haben. Diese Tariferhöhung kam im übrigen unter massiver Mithilfe eines ehemaligen Ministers Ihrer Regierung zustande. Die Verlängerung der Übergangsfristen belastet jetzt die kommunalen Haushalte erneut. Für mich betreiben Sie damit eine Politik zu Lasten der Kommunen - eine Politik, die Sie selbst der Regierung Kohl noch vor wenigen Monaten vorgeworfen haben. ({2}) Ich begrüße an dieser Stelle aber ausdrücklich die vorgesehene Experimentierklausel. Eine verstärkte Einführung von Pauschalierungen führt zu einer stärkeren Orientierung der Sozialhilfe am tatsächlichen Bedarf. Es ist daher aus unserer Sicht verstärkt auf Pauschalierungen zurückzugreifen. Dennoch muß, nicht zuletzt im Interesse der Betroffenen, Rechtssicherheit herrschen. Aber auch hier haben Sie versagt, sich konstruktiven Vorschlägen verschlossen. Ich hoffe nur, daß es nicht auf Grund dieser Ignoranz zu schlicht unnötigen Rechtsstreitigkeiten zwischen Sozialhilfeempfängern und Sozialhilfeträgern kommt, obwohl ich es - so muß ich ganz offen sagen - befürchte. Auch hier bot der Änderungsantrag von CDU und CSU im Ausschuß einen Ansatzpunkt für einen möglichen Kompromiß. Daher kann und muß ich zusammenfassen: Erstens. Die Regierung legt ein Gesetz vor, mit dem sie sich Zeit nimmt, die sie eigentlich schlichtweg nicht bräuchte. Zweitens. Dieses Gesetz belastet die Kommunen in aus meiner Sicht nicht zu akzeptierenden Weise. Drittens. Die vom Grundsatz her positive Experimentierklausel zur Erprobung von Pauschalierungen schafft Rechtsunsicherheit. Das sind drei schwerwiegende Gründe für die Fraktion der F.D.P., dieses Gesetz heute abzulehnen. Ich kann nur hoffen, daß wir in Zukunft bei der dann anstehenden grundlegenden Neufassung im Interesse aller Beteiligten, nicht zuletzt der Kommunen, zielführender ans Werk gehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Grehn, PDS-Fraktion.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich war nach den vielen Aussagen zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu erwarten, daß die erste legislative Maßnahme der neuen Regierung im Bereich Sozialhilfe ein gutes Signal für die Armen in diesem Land sein würde. Was nun vorgelegt wird, bringt erneut belastende Mißtöne in den Wohlklang der Worte von sozialer Gerechtigkeit. Erstens. Für die Betroffenen heißt soziale Gerechtigkeit zuallererst eine bedarfsorientierte Festsetzung der Regelsätze. Die Fortsetzung der Deckelung der Regelsätze in Form der willkürlichen Anpassung an die Veränderung der Renten für weitere zwei Jahre hat nichts, aber auch gar nichts mit einer gerechten Bestimmung der Regelsätze zu tun. - Es ist richtig, Frau Lange. Bedarfsdeckung steht zwar drin; aber Deckelung hat damit nichts zu tun. Das ist auch sehr weit von dem entfernt, was das Bundesverfassungsgericht mit seiner im Januar veröffentlichten Entscheidung zum sozialhilferechtlich definierten Existenzminimum ausgeführt hat. Wir lehnen die Fortsetzung dieser Deckelung ab. Mit Ihrem Entwurf überholen Sie geradezu die Konservativen und die Liberalen, die es in den Jahren seit 1993 geschafft haben, die Unterdeckelung auf fast 18 Prozent zu treiben. Auch auf Grund der Auswirkung der Ökosteuer werden Sie es in den nächsten zwei Jahren schaffen, die Unterdeckelung um weitere 7 Prozent zu erhöhen. Damit koppeln Sie die Sozialhilfeempfänger weiter vom gesellschaftlichen Fortschritt ab. Die Aussage, Sie wollten den Bedarf sichern, wird damit eher zu einer Art platonischer Liebeserklärung. Zweitens. Es gibt wahrlich dringenderen Handlungsbedarf, als eine Experimentierklausel für neoliberale Eigenverantwortungsstrategien einzuführen. Pauschalen können sinnvoll sein, aber Pauschalen um der Pauschalen willen sind widersinnig. Regelsätze sind bereits Pauschalen. Wie unzulänglich sie sind, das ist hinreichend bekannt, und in welchem Schneckentempo sie erhöht werden und nach welchen fiskalischen Interessen sie gedeckelt werden, ist ebenfalls hinlänglich bekannt. Aber nun die Tür zu öffnen für eine Pauschalierung von Hilfen in besonderen Lebenslagen oder für die Kosten der Unterkunft ist völlig unakzeptabel. ({0}) Das widerspricht der inneren Logik der Hilfen in besonderen Lebenslagen genauso, wie es angesichts der Realität auf dem Wohnungsmarkt und der Preisgestaltung am Wohnungsmarkt nicht realisierbar ist. Deshalb sage ich Ihnen: Ziehen Sie Ihren Entwurf zurück, und fassen Sie ihn unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit neu. Entsprechende Zuarbeiten stehen Ihnen aus den Wohlfahrtsverbänden, den Betroffenenorganisationen und auch in Gestalt des Änderungsantrages der PDS ausreichend zur Verfügung. Lassen Sie mich abschließend sagen: Herr Weiß, die Revolutionierung durch Pauschalen findet bereits seit geraumer Zeit statt. Ich nenne etwa die Bekleidungspauschalen. Das Hinausschieben von Anpassungen, das Vertrösten der Betroffenen ist eine Sache, aber Vorlagen einzubringen, die den Notwendigkeiten widersprechen oder die halbherzig sind, das ist eine ganz andere Sache. Das trifft die Betroffenen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes auf den Drucksachen 14/389 und 14/820. Es liegen Änderungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der PDS vor. Zunächst stimmen wir mit Einverständnis der Antragsteller über den Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/821 ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist der Änderungsantrag gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung. Die Fraktion der CDU/ CSU hat Einzelabstimmung über eine Reihe von Vorschriften verlangt. Ich rufe Art. 1 Nr. 1 und Art. 1 Nr. 2 Buchstabe a auf. Ich bitte diejenigen, die den genannten Vorschriften zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind diese Vorschriften gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b auf. Hierzu liegt auf Drucksache 14/825 unter Buchstabe a ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe Art. 1 Nrn. 3 bis 7 auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist Art. 1 Nrn. 3 bis 7 bei Enthaltung der PDS angenommen. Ich rufe Art. 1 Nr. 8 in der Ausschußfassung auf. Hierzu liegt auf Drucksache 14/825 unter Buchstabe b ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die Art. 1 Nr. 8 in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Art. 1 Nr. 8 ist in der Ausschußfassung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen. Ich rufe Art. 1 Nrn. 9 und 10 in der Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Art. 1 Nrn. 9 und 10 sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU bei Nichtbeteiligung der F.D.P. und Enthaltung der PDS angenommen. Ich rufe Art. 2, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die aufgerufenen Vorschriften sind bei Enthaltung der PDS angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung! Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung als Bauherr zu Schwarzarbeit und außertariflicher Beschäftigung auf den Baustellen des Bundes in Berlin und zu den Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation im Baugewerbe Berlins und Brandenburgs sowie die ostdeutsche Bauwirtschaft insgesamt Das Wort hat als erste für die Fraktion der PDS die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am Montag haben wir gemeinsam den neuen, den modernisierten Reichstag als Sitz des Bundestages eingeweiht. Auf Nachfragen von Journalistinnen und Journalisten, wie mir das Gebäude denn gefalle, habe ich gesagt: Die Politik und damit auch wir als Politikerinnen und Politiker werden zu tun haben, werden uns sehr strecken müssen, um die Transparenz dieses Hauses und der Kuppel auf dem Reichstag in unserem täglichen Tun auch nur halbwegs zu erreichen. ({0}) - Die Gegenstimme gegen eine Ausführung des Baus sagt doch noch lange nichts gegen die Bewunderung des Bauwerks, Frau Kollegin. ({1}) Ich gebe zu, ich habe an diesem Montag auch meine Befürchtungen wiederholt, daß dieser Reichstag, unser zukünftiger Arbeitsplatz, liebe Kollegen, auf einem sehr unsozialen Fundament steht. Nicht nur die Fachgemeinschaft Bau Berlin/Brandenburg, die am Montag ja unweit des Reichstages demonstriert hat, hat gegen Schwarzarbeit am Reichstag und auf weiteren Bundesbaustellen in Berlin protestiert. ({2}) - Es geht sofort los, Kollege, alles nachweisbar - bis hin zu den geprellten Bauarbeiterinnen und Bauarbeitern, die jetzt hochverschuldet wieder zu Hause in Griechenland sind. Immer wieder waren diese Unregelmäßigkeiten mediale Themen. Dumpingvorwürfe, mangelnder Arbeitsschutz, unmenschliches Arbeitszeitregime und anderes mehr an Bundesbauten sind inzwischen hundertfach mit Name und Adresse belegt. So berichtete das ARD-Magazin „Report“ am 1. März 1999 über mafiöse Strukturen sowie - ich erlaube mir zu zitieren - „Lug und Trug auf Regierungsbaustellen“. Ausländische Bauarbeiter, die zu Dumpinglöhnen illegal angestellt, in baufälligen Unterkünften untergebracht und letztendlich ohne Entlohnung nach Griechenland zurückgeschickt wurden, wurden nicht nur zitiert, sondern kamen persönlich zu Wort. Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle kennen den Slogan, Berlin sei die Baustelle Europas und im übrigen die Werkstatt der Einheit der Bundesrepublik. Zugleich aber müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die Arbeitslosigkeit im Baugewerbe der Region inzwischen jenseits der 30-Prozent-Marke liegt. Jeder, der dies gegenüberstellt, wird ermessen können, welche Auswirkungen die hier beschriebenen Vorgänge gerade in dieser Region haben. Auch Fremdenhaß haben wir erleben müssen. Ich erinnere nur an die zwei britischen Bauarbeiter in Mahlow, von denen heute einer querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt. Gerade deshalb möchte ich hier klarstellen: Ausbeutung bleibt Ausbeutung, und Dumpinglöhne bleiben Dumpinglöhne, ganz unabhängig davon, welchen Paß die Betroffenen in der Tasche haben. ({3}) Fremdenhaß, wie er auch im Aufruf einiger Vertreter der Fachgemeinschaft Bau zumindest angelegt war, ist das untauglichste Mittel, gegen Lohndumping und diese Methoden vorzugehen. ({4}) Dies sage ich auch mit Blick auf die zitierte Fachgemeinschaft, die in einer Erklärung am Montag meinte, der Reichstag sei dem deutschen Volke gewidmet, nicht aber europäischen Wanderarbeitern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, kaum ein Redner hat am Montag in der Sitzung versäumt, auf die Symbolik der Tatsache hinzuweisen, daß der Architekt für den Umbau des Reichstages nicht Bürger der Bundesrepublik ist, daß also dieser neue Reichstag, unser Arbeitsplatz, ein gemeinsames Werk ist. Ich finde, er hätte noch viel mehr Symbolik verdient gehabt: Bauarbeiter aus Ost- und West-, aus Nord- und Südeuropa hätten an diesem Reichstag zu gleichen, menschenwürdigen Bedingungen bauen sollen. Wir sollten alles daransetzen, daß von den übrigen Bundesbaustellen ein solches Beispiel aus der Hauptstadt Berlin ausgeht. ({5}) Es gibt schwere und anhaltende Vorwürfe gegenüber dem Bauherren. Deshalb interessiert uns schon, welche Haltung die Bundesregierung zu Schwarzarbeit und außertariflicher Beschäftigung auf Bundesbaustellen in Berlin bezieht. Auf eine Kleine Anfrage der PDS an das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu den „Berichten über Unregelmäßigkeiten auf Baustellen des Bundes“, Drucksache 14/519, kam erst die Bitte um Terminaufschub. Es hieß, man müsse erst umfangreich recherchieren. In der vergangenen Woche dann, pünktlich zur Einweihung des Reichstagsgebäudes, folgte die Antwort der Bundesregierung - nach langer Recherche kurz und knapp: Die zuständige Bundesbaugesellschaft habe versichert, alles sei gut. Detaillierte Antworten zu diesen Vorwürfen erübrigen sich also. Im übrigen habe der Bundestag auch noch ein Aufsichtsgremium.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sofort. Nur noch ein Schlußsatz an die Vertreter der Regierung. Ich bewerte diese Antwort so: Erstens. Sie haben die Brisanz des Problems überhaupt nicht erkannt und die Probleme der betroffenen Beschäftigten nicht zur Kenntnis genommen. Zweitens. Sie halten die erhobenen Vorwürfe für so nebensächlich, daß Sie ausgerechnet die Beschuldigten zu den Kronzeugen gegen diese Vorwürfe machen, anstatt tatsächlich die schon in Briefen an die Betroffenen angekündigten rechtlichen Prüfungen einzuleiten. Drittens. Sie haben demonstriert, was Sie tatsächlich unter dem Aufbau Ost verstehen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluß kommen.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Damit bin ich am Schluß. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Bundesregierung spricht der Kollege Großmann.

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der PDS zur Abhaltung einer Aktuellen Stunde muß unter dem Gesichtspunkt, daß bereits alle Fakten zu diesem Thema sehr umfangreich in Kleinen Anfragen, aber auch in einem Bericht an den Haushaltsausschuß besprochen worden sind, schon sehr verwundern. Praktisch im Abstand von vier Wochen haben wir darüber berichtet, was für Kontrollen auf den Baustellen in Berlin durchgeführt wurden und mit welchem Erfolg. Es gab zwei Kleine Anfragen der PDS. Es gab noch im Januar dieses Jahres auf Anregung der Kollegin Frau Luft einen Bericht an den Haushaltsausschuß, in dem ausführlich dargelegt worden ist, wie oft die Kontrollen auf den Bundesbaustellen in Berlin durchgeführt wurden und mit welchen Ergebnissen. Auf diesen Bericht, der den Mitgliedern des Hauses vorgelegt worden ist und der an für sich auch der PDS bekannt sein müßte, werde ich später noch ausführlicher eingehen. Zunächst möchte ich zwei Sätze aus ihm zitieren: Grundsätzlich ist zu registrieren, daß auf den Bundesbaustellen die festgelegten Verstöße von der Anzahl her geringer sind als auf den übrigen Baustellen. ({0}) - Dazu werde ich gleich noch etwas sagen. Bezüglich des Vorwurfs, der in der „Report“Sendung, die Sie zitiert haben, erhoben wurde, es gebe mafiose Strukturen, kommt der Bericht zu dem Ergebnis: Die Sonderprüfgruppe hat keine mafiosen Strukturen im Baubereich aufdecken können. Alle wissen, daß es fast unmöglich ist, auf den Baustellen Vorfälle völlig auszuschließen, die in die oben beschriebene Richtung weisen und die wir von vielen Einzelfällen her kennen. Trotzdem hat gerade der Bund - darauf wird in dem Bericht eingegangen, und das sollten Sie zur Kenntnis nehmen - besonders intensiv darüber gewacht, daß eben solche Vorfälle ans Tageslicht gebracht werden und daß die entsprechenden Firmen mit Bußgeldern belegt werden. Wenn ich jetzt die Einzelmaßnahmen einmal Revue passieren lasse, dann muß ich feststellen, daß man dem Bund keine Fahrlässigkeit vorwerfen kann. Wir müssen vielleicht zusammen darüber nachdenken, wie man Kontrollen und Strukturen unter Umständen noch verbessern kann. Wahrscheinlich müssen wir dafür noch einmal Gesetze verändern. Zunächst einmal ist am 1. März 1996 das Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, in Kraft getreten, um die tiefgreifenden Störungen der Wettbewerbsbedingungen auf dem Baumarkt zu lindern. Zielsetzung dieses Gesetzes war und ist es, daß ausländische Arbeitgeber, die Arbeitnehmer auf Baustellen in Deutschland entsenden, zumindest hinsichtlich der besonders wettbewerbsrelevanten Arbeitsbedingungen, nämlich hinsichtlich des Lohns und der Gewährung von Urlaub, denselben rechtlichen Verpflichtungen unterworfen werden wie die deutschen Arbeitgeber. Ein Jahr später, am 7. Juli 1997, ist zusätzlich zu dieser gesetzlichen Regelung eine weitere Sanktionsmöglichkeit eingeführt worden, und zwar auf Grund eines Erlasses des ehemaligen Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Diese Tariftreueerklärung gilt ab dem genannten Datum auf den Baustellen des Bundes und damit auch auf denen in Berlin. Danach müssen sich Auftragnehmer in einer gesonderten Vereinbarung zur Einhaltung der tarifvertraglichen und öffentlich-rechtlichen Bestimmungen bei der Ausführung von Baumaßnahmen verpflichten. Insbesondere haben sich die Auftragnehmer vertraglich ergänzend zur Einhaltung der für sie geltenden tarifvertraglichen Bestimmungen bzw. der Mindestentgeltregelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes zu verpflichten. Der Auftragnehmer darf einen Nachunternehmer nur unter der Voraussetzung beauftragen, daß dieser eine gleichlautende Erklärung gegenüber dem Auftragnehmer abgibt. Schließlich hat sich der Auftragnehmer auch zu verpflichten, Subunternehmer nur unter der Voraussetzung zu beauftragen, daß dieser sich zur Zahlung von Vertragsstrafen an den Auftraggeber bei entsprechenden Verstößen verpflichtet. Der Verstoß gegen diese Verpflichtung wird mit einer Vertragsstrafe sanktioniert. Die Vereinbarung sieht als Kontrollmöglichkeit vor, daß der öffentliche Auftraggeber zur Durchführung von Stichprobenkontrollen Einblick in die Lohnabrechnung von Auftragnehmern bzw. Nachunternehmern nehmen darf. Schließlich wurde eine weitere Möglichkeit zur Bekämpfung von illegaler Beschäftigung geschaffen. Am 1. März 1998 ist unter der Trägerschaft des Landesarbeitsamtes Berlin/Brandenburg - auch das ist in dem Bericht an den Haushaltsausschuß deutlich dargestellt worden - die Projektgruppe „Bekämpfung illegaler Beschäftigung auf den Baustellen des Bundes in Berlin“ eingesetzt worden. Die über 40 Mitarbeiter der Sonderprüfgruppe Bund haben - das war der Stand Mitte Dezember 1998 - 200 Außenprüfungen auf 56 verschiedenen Baustellen des Bundes durchgeführt. Dabei wurden 8 527 Arbeitnehmer von 2 744 Unternehmen geprüft. Im Rahmen dieser Überprüfungen wurden Zuwiderhandlungen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz, Zuwiderhandlungen nach dem SGB III, Zuwiderhandlungen nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Vergehen nach dem Ausländergesetz bzw. Beihilfe zum Verstoß gegen das Ausländergesetz überprüft. Schließlich wurde auch Leistungsmißbrauch überprüft. Diese Überprüfungen haben bei einer Reihe von Fällen dazu geführt, daß das Landesarbeitsamt und damit die zuständigen Arbeitsämter über mögliche Verdachtsmomente informiert worden sind. Die Arbeitsämter gehen diesen Verdachtsmomenten nach. Bisher habe ich nur das referiert, was unter Federführung der alten Bundesregierung gemacht worden ist. Darüber hinaus hat die neue Bundesregierung zu Beginn dieses Jahres ein Gesetz zur Generalunternehmerhaftung vorgelegt. Das heißt, wir wollen in Kenntnis der Tatsache, daß die bisher eingeführten Möglichkeiten unter Umständen nicht völlig ausreichen und daß wir noch mehr tun müssen, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen, eine Durchgriffshaftung ermöglichen. Diese besagt, daß jeder Generalunternehmer, der Subunternehmer für sich arbeiten läßt, wissen muß, daß wir ihn für den Fall haftbar machen, daß er oder seine Subunternehmer sich an bestimmte Regularien nicht halten. Im Gesetz geregelt sind dabei der Mindestlohn und die Beiträge zur Sozialkasse, also zwei ganz wesentliche Punkte, die zu Wettbewerbsverzerrungen geführt haben. Als SPD-Bundestagsfraktion - ich gebe kurz einmal die Positionen wieder, die ich als wohnungspolitischer Sprecher in der letzten Legislaturperiode vertreten habe - wollten wir vergabefremde Aspekte in das Vergaberechtsänderungsgesetz einführen, zum Beispiel die Tariftreueerklärung. Sie wissen selbst, daß die CDU/CSU und die F.D.P. das damals abgelehnt haben. Über den Vermittlungsausschuß ist zumindest eine Öffnungsklausel erwirkt worden, so daß die Tariftreueerklärung gesetzlich abgesichert werden kann. Diese Maßnahme hat sich übrigens im Freistaat Bayern hervorragend bewährt. Daher sollten wir wirklich darüber nachdenken, sie bundesweit einzuführen. Faßt man das Ganze zusammen, dann wird man feststellen, daß über die Instrumentarien, über die wir schon seit längerem verfügen, aber auch über neue Gesetze, Erlasse und Verordnungen immer wieder versucht worden ist, die Zahl des mißbräuchlichen Einsatzes von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf Baustellen zu minimieren. Auch wenn wir über nach wie vor auftretende Vorfälle, die ans Tageslicht kommen, sehr besorgt sind, läßt sich sagen, daß wir auf den Baustellen des Bundes deutlich besser als auf allen anderen Baustellen dafür gesorgt haben, daß diese Verstöße in der Minderheit bleiben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß. Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Ich bin schon beim letzten Satz. Wir sind gerne bereit, darüber nachzudenken, wie weitere Gesetze und Verordnungen aussehen könnten und wie wir die Handhabbarkeit der bestehenden Vorschriften noch verbessern können. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Dietmar Kansy.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema der Aktuellen Stunde ist nicht aktuell, sondern ein Dauerbrenner in verschiedenen Gremien des Bundestages. Seit Jahren beschäftigen sich sowohl die Baukommission des Deutschen Bundestages, was die Parlamentsbauten betrifft, als auch der frühere Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau gemeinsam mit der Regierung mit diesem Thema. Herr Staatssekretär Großmann hat eben die ganze Palette von Sanktionsmöglichkeiten vorgetragen; ich möchte das nicht wiederholen. Das Thema ist für uns als Parlament über alle Parteigrenzen hinweg wichtig. Wenn wir nicht nachweisen können, daß auf den Baustellen des Bundes - sei es, daß wir als Bundestag bauen oder daß wir aufpassen, wie die Regierung baut - nicht gegen geltendes Recht verstoßen wird, dann können wir uns angesichts der bedenklichen Entwicklung auf dem Bau nicht rechtfertigen. Ich will mir die Antwort jetzt nicht zu einfach machen. Ich habe am Freitag auf Bitte von Bundestagspräsident Thierse mit dem Veranstalter der Demonstration, mit der Fachgemeinschaft Bau, und später mit der Sonderprüfgruppe Bund beim Landesarbeitsamt Berlin/Brandenburg gesprochen. Ich habe mir noch einmal die Fakten vorlegen lassen und habe in diesem Zusammenhang leider festgestellt - die PDS ist darauf hereingefallen -: Immer wieder zu behaupten, das Reichstagsgebäude, das zwecks Kontrollen mit Stacheldraht umgeben ist und zwischenzeitlich fast wie eine Gefängnisbaustelle aussah, sei sozusagen die Inkarnation von Schwarzarbeit in Deutschland, ist die falsche Politik und liegt nicht im Interesse der eigenen Sache. Jetzt erfolgt nämlich nach der 17. die 18. Überprüfung, die die gleichen Ergebnisse liefern wird, aber die die Probleme, die wir zur Zeit am Bau haben, nicht löst. Diese Probleme sind nämlich struktureller Art, die weit über das Bauen des Bundes in Berlin hinausgehen. ({0}) Staatssekretär Großmann hat schon Zahlen genannt. Ich will einmal die Zahlen des letzten Jahres in bezug auf unsere Baustellen nennen: Wir haben im Rahmen von 338 Außenprüfungen 4 300 Arbeitgeber und rund 15 000 Arbeitnehmer überprüft. Staatssekretär Großmann hat schon gesagt, daß es sich bei den Verstößen auf unseren Baustellen nicht nur um Verstöße hinsichtlich des Mindestlohnes und der Schwarzarbeit, sondern auch um Verstöße hinsichtlich der Meldepflicht nach dem Ordnungsrecht handelt. Was der Staatssekretär weiter sagt, ist ebenfalls richtig: Unsere Baustellen weisen im Vergleich zu anderen Baustellen wesentlich weniger Verdachtsfälle auf. Es kann uns aber nicht automatisch zufriedenstellen, wesentlich besser als andere zu sein. Die Frage an uns lautet vielmehr: Warum gibt es diese Verstöße auf Bundestagsbaustellen überhaupt? Bei rund 10 Prozent der Überprüfungen gab es Verdachtsfälle, die in der angesprochenen Fernsehsendung, die ich nicht näher kommentieren will, aber bewußt oder unbewußt falsch dargestellt wurden. Dazu sage ich: Ein Verdachtsfall ist noch kein erhärteter Fall. Wiederum nur 10 Prozent der Verdachtsfälle führen letzten Endes dazu, daß Strafanzeigen erstattet werden oder Ordnungswidrigkeiten festgestellt werden. Ich sage noch einmal: Die Situation, daß bei einem Prozent der Überprüfungen Verstöße vorliegen, kann uns nicht zufriedenstellen. Wir müssen uns deshalb überlegen, wie wir zukünftig auch noch dieses eine Prozent an Verstößen vermeiden. Wir müssen uns im Bundestag über dieses Problem über alle Fraktionsgrenzen hinweg unterhalten. Die verehrten Kollegen vom Haushaltsausschuß sagen mir als dem Vorsitzenden der Baukommission nicht: Mein lieber Kansy, wir sind dir sehr dankbar, wenn du sicherstellst, daß jeder nach deutschem Tarif und nicht nur nach Mindestlohn gemäß Entsendegesetz bezahlt wird. Sie fragen vielmehr: Warum baut ihr als Bundestag eigentlich teurer - sofern es überhaupt der Fall ist - als die anderen? Diese Schizophrenie findet sich auch in der Öffentlichkeit. Dieselbe Zeitung, die Montag schreibt: „Unerhört! Während nebenan der Unternehmer X für soundso viel DM pro Quadratmeter baut, baut der Bund für 5 oder 10 DM mehr“, schreibt am Dienstag: „Skandal: Schwarzarbeiter auf Bundesbaustellen!“ - Das ist die Wahrheit. ({1}) Man müßte einmal in den Fachausschüssen überlegen, ob man nicht schon bei Submissionen - damit wird fachchinesisch die Situation umschrieben, daß die verschiedenen Aufträge durch Fachleute überprüft werden - erkennbar machen kann, ob nicht irgendwelche Gewerke angeboten werden, die so weder zu Tariflöhnen noch zu Löhnen nach dem Entsendegesetz überhaupt erstellt werden können, bei denen also die Schwarzarbeit und die Einbeziehung von Subunternehmern von vornherein einkalkuliert worden sind. Wir sollten die Demonstration und auch diese Aktuelle Stunde durchaus zum Anlaß nehmen - dies sage ich auch im Namen der CDU/CSU -, über diese Problematik nachzudenken. Ich bitte aber alle Beteiligten, dabei nicht mit Totschlagsargumenten zu arbeiten, sondern sich mit der wirklichen Situation auf den Baustellen vertraut zu machen. Obwohl wir uns als Deutscher Bundestag schon freiwillig genauen Kontrollen unterwerfen, sollten wir dennoch versuchen, den Mißbrauch noch mehr abzustellen. Ich sage zum Schluß in Richtung aller Fraktionen: Wir haben mit großer Mehrheit den Vertrag von Maastricht und den Vertrag von Amsterdam beschlossen. Wir haben uns gefreut, als die Grenzen nach Ost- und Südosteuropa aufgingen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Kansy, ich muß auch Sie an die Redezeit erinnern.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben, Frau Kollegin Pau, tatsächlich 70 000 legale Fremdarbeiter auf Berliner und Brandenburger Baustellen. Das alles gehört zur Wahrheit. Vielleicht gelingt es uns ja - über die Fraktionsgrenzen hinweg - in diesem Zusammenhang noch ein Stück mehr Sicherheit zu schaffen. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig das Wort.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Ihnen, Herr Kansy, ausdrücklich dafür danken, daß Sie dem Thema überfraktionelle Nachdenklichkeit gegeben haben, denn auch ich halte es für sehr wichtig, daß wir die dahinterstehenden Probleme sehr ernsthaft diskutieren. Tatsache ist, daß wir in Berlin zur Zeit Großbaustellen des Bundes - des Bundestages und der Bundesregierung - mit einem Bauvolumen von über 5 Milliarden DM und trotzdem eine anhaltend hohe Arbeitslosigkeit im Baugewerbe haben: In dieser Branche sind in Berlin und in Brandenburg etwa 40 000 Arbeitnehmer arbeitslos. Tatsache ist auch - darauf haben schon meine Vorredner hingewiesen -, daß in einer Reihe von Fällen dubiose Firmen, untertarifliche Bezahlung, Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung aufgedeckt worden sind. Ich warne aber entschieden davor, die Legende zu stricken, die Bundesbaustellen seien ein Hort von mafiosen Strukturen und illegaler Arbeit. Eines möchte ich ganz konkret sagen, Frau Kollegin Petra Pau: Der Fall der Firma Octopus, die ihre Leistungen nicht erbracht und ihre Arbeitnehmer nicht bezahlt hat, ist ein Problem. Das kommt aber leider hin und wieder am Bau vor. Ich finde das überhaupt nicht gut oder schön; jedoch halte ich es für äußerst problematisch, das dem Bauherrn Bund in einer Form anzuhängen, wie Sie es getan haben. Ich glaube, wir haben die Verantwortung, uns nicht gegenseitig einzelne Sensationsfälle vorzuhalten, sondern die strukturellen Probleme anzugehen. Herr Kansy, Sie haben die Fälle angesprochen. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß es auch spezifische Probleme der Bundesbaustellen gibt. Das sind riesige Großbaustellen. Sie haben sehr enge Zeit- und Ablaufpläne; sie haben sehr große Bau- und Vergabelose. Daraus folgt natürlich, daß dort überwiegend Großunternehmen zum Zuge kommen und nicht - wie sich das die Fachgemeinschaft Bau gewünscht hat - der Mittelstand. Dadurch haben wir das Problem - das sollten wir uns schon bewußt machen - der Subunternehmensstruktur und die Tendenz, daß die mittleren Unternehmen überwiegend als Subunternehmen eingesetzt werden und deshalb Preise und Löhne enorm drücken müssen. Das aber ist ein Problem, das wir nicht allein lösen können, obwohl ich dafür bin, immer wieder darauf zu achten, daß die Baulose etwas mittelstandsfreundlicher „gestrickt“ werden - was dann natürlich Auswirkungen auf die Zeit- und Ablaufpläne hat. Es geht aber auch um ein Stück Verantwortung der Anbieter und der Fachgemeinschaft Bau bzw. der entsprechenden Organisationen in anderen Regionen. Wir haben uns immer wieder gewünscht - und das auch so in der Baukommission vorgetragen -, daß die Bieter 60 Prozent der angebotenen Leistungen selbst erbringen sollen, um die Subunternehmensstruktur auszutrocknen. Bei solchen Großbaustellen geht das jedoch nur dann, wenn sich die Mittelständler vermehrt zu Bietergemeinschaften und Arbeitsgemeinschaften zusammenfinden. Das wollte ich als Beispiel anführen; es ist also beiderseitiges Entgegenkommen angebracht. Diese Regierung hat sich schon große Mühe gegeben, das Problem strukturell weiter zu entschärfen. Wir haben im Dezember das Entsendegesetz entfristet, wir haben die Durchgriffshaftung für Generalunternehmer eingeführt - das heißt: Sie haften auch für die Einhaltung der Tarife sowie für die Entrichtung der Sozialabgaben und Steuern ihrer Subunternehmen -, und wir haben inzwischen die Möglichkeit, Tarifregelungen auch auf nichttarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erstrecken. Das alles sind Instrumente zur Stärkung der gerechten Entlohnung und solider Tarif- und Abgabenstrukturen. Mir ist wichtig, zu sagen, daß wir bei der Diskussion nicht nur zurück-, sondern auch in die Zukunft schauen müssen. In Berlin stehen in den nächsten Jahren noch eine Reihe von Baumaßnahmen des Bundes an. Zum überwiegenden Teil werden diese Baumaßnahmen in Zukunft kleiner und überschaubarer. Daher empfehle ich sehr, daß sich der Bund, vertreten durch das Bundesbauministerium und die BBB, das Bundesbauamt, die Berliner Verbände und die Gewerkschaften noch einmal zusammensetzen, um in Form eines runden Tisches oder als Teil des Bündnisses für Arbeit zu prüfen, wie die Beschäftigungssituation unter Einbeziehung mittelständischer Unternehmen im Raum Berlin und Brandenburg effektiver und konstruktiver gestaltet werden kann. Ich glaube, es wäre ein gutes Zeichen, wenn der Bund deutlich machte, daß er die Kooperation sucht. Das setzt bei den Firmen aber auch die Bereitschaft voraus, bei der Entlohnung, den Tarifen, den Sozialabgaben und Steuern ihrerseits Transparenz zu zeigen und einen konstruktiven Umgang zu ermöglichen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in die Thematik einsteige, möchte ich klar sagen: Schwarzarbeit kann und darf in der Bundesrepublik Deutschland nicht geduldet werden. Sie ist ein Krebsübel unserer Gesellschaft und deswegen ein wichtiges Thema, das hier diskutiert werden muß. Schwarzarbeit verzerrt den Wettbewerb. Schwarzarbeit stellt die Finanzierungsgrundlagen unserer Solidarsysteme in Frage. Deswegen ist es nur richtig, wenn wir uns die Frage stellen, wie sie bekämpft werden kann. ({0}) Lohndumping ist, genauer besehen, kein eigenständiges Thema, sondern gehört zu diesem Komplex. Aus meiner Sicht sind es letztlich die gleichen Ursachen, die zu beiden Erscheinungen führen. An diesen Ursachen gilt es anzusetzen. Deswegen hilft es nicht weiter, daß die PDS die Einweihung des neuen Plenarsaals in Berlin zum Anlaß nimmt, hier mit Pathos eine Aktuelle Stunde zum Thema Schwarzarbeit auf den Baustellen des Bundes einzufordern. ({1}) - Wenn Sie wirklich den Verdacht hegen, Frau Kollegin Pau, meine Damen und Herren von der PDS, die Bundesregierung - alt oder neu - fördere die Schwarzarbeit, und wenn es Ihnen wirklich um mehr Beschäftigung geht, dann frage ich mich, warum Sie nicht schon sehr viel früher Alarm geschlagen haben, sondern auf die Fertigstellung des Reichstages und den Baufortschritt auf den anderen Baustellen des Bundes gewartet haben. Das macht doch letztlich keinen Sinn. Ich glaube, von den Fakten her gibt es wenig Angriffsfläche. Die Kollegen Kansy und Eichstädt-Bohlig haben bereits das Nötige gesagt. Wenn wir die Gelegenheit nutzen, darüber zu reden, was Politik im allgemeinen zur Vermeidung von Schwarzarbeit tun kann, dann hat diese Aktuelle Stunde am Ende vielleicht doch noch ein lohnendes Ergebnis. Was also sind die Ursachen der Schwarzarbeit? Wie entsteht sie? Zunächst einmal muß man wohl sagen, daß das Bild vom Unternehmer, der durch Hinterziehung von Steuern und Sozialabgaben seinen Gewinn maximieren will, ebenso einfach wie falsch ist. Es ist oft, etwa in ertragsschwachen Unternehmen, eher die Not, die zu illegalen Gestaltungen führt. Nicht wenige Unternehmen könnten am Markt nicht mehr existieren, wenn sie ihre Leistungen unter Einrechnung aller fälligen Steuern und Sozialabgaben anbieten würden. Es ist auch schon deswegen nicht richtig, die Verantwortung allein bei den Unternehmen abzuladen, weil zur Schwarzarbeit immer zwei gehören, nämlich jemand, der die Schwarzarbeit anbietet, und jemand, der die Schwarzarbeit nachfragt, Herr Kollege Kutzmutz. Das gilt für die Kunden-Lieferanten-Beziehung ebenso wie für die Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehung. Das muß man hier auch einmal sagen. ({2}) Ich wage die Behauptung - ich spreche jetzt über Schwarzarbeit allgemein -, daß in den allermeisten Fällen auf der einen oder anderen Seite oder auf beiden Seiten Privathaushalte beteiligt sind. Deshalb muß, wenn wir über Schwarzarbeit reden, die Frage auch lauten: Weshalb lassen sich denn so viele Privathaushalte - um es anschaulich zu machen - zum Beispiel von einem angeblichen Bekannten auf Freundschaftsbasis - wir wissen alle, wie diese „Freundschaften“ zustande kommen - das Bad fliesen, anstatt hierfür den örtlichen Fliesenlegermeister oder sein Unternehmen zu beschäftigen? Die Antwort lautet: Weil ihnen dessen Arbeitskraft schlicht zu teuer ist. Wer fünf Stunden arbeiten muß, um sich eine Handwerkerstunde leisten zu können, sucht eben oft nach Alternativen. Ein großer Teil des Baumarktbooms kann auf diesen Sachverhalt zurückgeführt werden. ({3}) - Daß Sie das wissen, Herr Gilges, ist mir klar. Ich will Ihre Kompetenz gar nicht bestreiten. Aber Herr Kollege Gilges, wir sollten hier die Ursachen der Schwarzarbeit diskutieren und nicht die Tatsache der Existenz von Schwarzarbeit als solcher - so schlimm Schwarzarbeit auch ist. Wer Schwarzarbeit und Lohndumping bekämpfen will, der muß im Endergebnis die Standortdebatte führen. Die Arbeitskosten in Deutschland sind zu hoch; sie müssen gesenkt werden. ({4}) Das Problem besteht darin, daß sich die Politik der jetzigen Regierung im Kreise dreht, anstatt wirksame Schritte zu gehen. Wegen zunehmender Schwindeligkeit können die Verantwortlichen keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dies belegen sehr offenkundig die Ergebnisse Ihrer bisherigen Gesetzgebung und das anschließende Herumgeeiere, Stichwort: Scheinselbständigkeit bzw. 630-Mark-Jobs. Zum Ende meines Beitrages in dieser Aktuellen Stunde muß ich leider eines voraussagen: Wenn die Politik der Bundesregierung den gleichen Kurs beibehält, den sie heute verfolgt, dann werden wir uns in Zukunft noch häufiger, auch ohne Reichstagsgebäude und Bundesbauten, mit dem Thema Schwarzarbeit befassen müssen - dann in den Bereichen Gastronomie, Zeitungswirtschaft und Gebäudereinigung, um nur einige zu nennen. Die Grundsteine dafür haben das BMA und Herr Riester leider schon gelegt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Renate Rennebach.

Renate Rennebach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 16 Jahre lang regierten F.D.P. und CDU/CSU, und plötzlich ist Schwarzarbeit ein Problem der Regierung. Die ganze Zeit vorher war es das nicht. Seit längerer Zeit führe ich als Berliner Abgeordnete Gespräche mit dem für die Berliner Baustellen zuständigen Gewerkschaften IG BAU und IG Metall sowie mit dem Landesarbeitsamt und mit der für die Kontrollen zuständigen AD BAU - jetzt auch in Zusammenarbeit mit dem Staatssekretär Andres und Frau Janz aus meiner Fraktion. Ich kenne die Mißstände wie illegale Beschäftigung und erhebliche Verstöße gegen die Arbeitssicherheit beim Bau. Daher hat es mich schon verwundert, daß ausgerechnet nach einer Unternehmerdemo gegen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, gegen Verbesserung des Kündigungsschutzes, aber auch gegen Lohndumping und Schwarzarbeit am Bau die PDS diese Aktuelle Stunde jetzt beantragt. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heftigste Protest der Fachgemeinschaft Bau richtete sich am Montag gegen die jetzige Bundesregierung, die mit ihrer Politik das Recht auf dem Arbeitsmarkt wiederhergestellt hat. Im übrigen: Eine Stuckfirma, Mitglied der Fachgemeinschaft, hat die meisten ihrer regulären Arbeitnehmer entlassen, um mit billigen portugiesischen Arbeitnehmern - unter Tarif - weiter zu arbeiten. Also hat die Fachgemeinschaft auch gegen Mißstände in den eigenen Reihen protestiert. Es sind ebenfalls die Arbeitgeber, die der IG Metall seit längerer Zeit Tarifverträge in einigen Bereichen versagen. Auch deshalb gibt es Bestrebungen des Arbeitsministers Walter Riester, die Tarifverträge im Bereich Bau für allgemeinverbindlich zu erklären. Zusätzlich fordern die Gewerkschaften, daß ein besonderer Mindestlohn neu festgesetzt wird. Der bisherige, so niedrig er schon ist, wird insbesondere in den neuen Ländern immer wieder unterlaufen. Die Kontrollen auf den Baustellen gehen unvermindert weiter. Die Perversion liegt hier auf der Hand, Kolleginnen und Kollegen: Die Arbeitgeber treiben Mißbrauch, und die Zahlerinnen und Zahler von Beiträgen an die Bundesanstalt für Arbeit finanzieren die Kontrollen. Die Ermittler von Hauptzollamt und LKA stoßen laut eigener Aussage auf eine ungeheure kriminelle Energie. 30 000 Bauarbeiter in der Region sind arbeitslos. Nun möchte ich ein paar Zahlen des Landesarbeitsamtes Berlin/Brandenburg nennen - ich betone, daß ich vom gesamten Bau Berlin/Brandenburg spreche und nicht nur von Bundesbaustellen; denn der Skandal geht ja weiter -: Im Jahr 1998 fanden 16 176 Außenprüfungen statt. Dabei wurden 52 000 Arbeitnehmer überprüft. An Bußgeldern wurden 18,9 Millionen DM verhängt. Im Jahre 1999 wurden bis jetzt 1 793 Arbeitgeber überprüft. Das Ergebnis ist, daß es bei 21 Arbeitgebern Meldeverstöße gab. Davon betroffen waren 59 Arbeitnehmer. 183 Arbeitgeber wurden bei Mindestlohnunterschreitung angetroffen. Betroffen waren 427 Arbeitnehmer. Arbeiten ohne erforderliche Arbeitsgenehmigung gab es bei 38 Arbeitgebern. Davon betroffen waren 60 Arbeitnehmer. Von unerlaubter Arbeitnehmerüberlassung waren 192 Arbeitnehmer betroffen - allein in diesem Jahr. Die Bundesregierung hat das Entsendegesetz entfristet und die Bußgelder erhöht. Dies ist geltendes Recht seit dem 1. Januar 1999. Gleichzeitig gibt es neuDr. Heinrich L. Kolb erdings die Generalunternehmerhaftung. Das haben wir hier schon an verschiedenen Stellen gehört. Es ist aber schwierig, Kolleginnen und Kollegen, ein seit 16 Jahren immer mehr verfeinertes Freibeutertum in der Branche durch politische Maßnahmen von heute auf morgen zu beseitigen. ({1}) Nun noch kurz zum Thema Bundesbaustellen: Die Verträge hat die alte Bundesregierung geschlossen. Teilweise hat sie die Verantwortung auf die Bundesbaugesellschaft abgewälzt. Die wiederum sieht trotz Mängelberichten bei Kontrollen - kürzlich mußte die Arbeit auf der Baustelle Bundeskanzleramt wegen Verstößen gegen die Arbeitssicherheit teilweise gestoppt werden -, trotz entdeckter Verstöße gegen Tariftreue und trotz entdeckter Schwarzarbeit - zugegeben, weniger als auf anderen Baustellen, aber das Problem bleibt trotzdem keinen Grund zum Handeln und weist dieses als Bagatelle und völlig normal aus. ({2}) Während die alte Bundesregierung untätig blieb, verschließt die neue, rotgrüne Bundesregierung nicht die Augen vor den Machenschaften der Bauunternehmer. Neben den vorgetragenen Gesetzesmaßnahmen hat sie gleichzeitig das Zugangsrecht für Gewerkschaften auf den Bundesbaustellen erleichtert, um so eine bessere Kontrolle auch von dieser Seite her zu ermöglichen. Seit Juli 1998 sieht die Baustellenverordnung Sicherheitskoordinatoren vor. Für alte Baustellen gilt dies allerdings nur auf freiwilliger Basis. Debis am Potsdamer Platz hat dies freiwillig eingeführt. Ich wünschte mir von der Bundesbaugesellschaft, wenn ich als Mitglied einer Regierungsfraktion einmal einen Wunsch an die Bundesbaugesellschaft äußern darf, daß auch sie auf freiwilliger Basis Sicherheitskoordinatoren einstellen und mit gutem Beispiel auch für andere Bauten vorangehen würde. ({3}) Zum Schluß noch ein Zitat aus der „Märkischen Allgemeinen“ vom 16. April 1999: Trotz aller zur Schau getragenen Entschlossenheit, illegale Beschäftigung zu bekämpfen, blieb eine gewisse Skepsis. „Es ist fraglich, ob Kontrollen wirklich einen Gesetzesbruch verhindern können oder ob dazu nicht die Gesellschaft verändert werden muß.“ Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind nicht nur in Berlin und Brandenburg ein Thema, aber speziell da, weil die Baustellen, wie wir gehört haben, dort besonders groß sind und es, wie wir am Montag gesehen haben, dort besonders viele gibt. Aber, meine Damen und Herren, die Bekämpfung von Schwarzarbeit und von illegaler Beschäftigung ist bundesweit eine Daueraufgabe im Vollzug der bestehenden Gesetze. ({0}) Darauf haben die Kollegen Kolb und Kansy bereits hingewiesen. Es geht nämlich darum, daß sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze dadurch zerstört werden und verlorengehen, daß Unternehmen, die sich an Recht und Ordnung, an Gesetze halten, im durch Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung verzerrten Wettbewerb nicht bestehen können. Deswegen hat die frühere Bundesregierung eine ihrer wichtigsten Aufgaben immer darin gesehen, neue Umgehungsmöglichkeiten zu bekämpfen und den fairen Wettbewerb aufrechtzuerhalten. ({1}) Beispiele hat Ihr Staatssekretär ja heute zuhauf genannt. Dennoch wird uns dieses Problem noch einige Zeit erhalten bleiben, jedenfalls so lange, wie ein massiver Unterschied bei den Realeinkommen zwischen den Ländern Mittel- und Osteuropas und beispielsweise Berlin besteht. Ich möchte darauf hinweisen, daß wir insbesondere das Thema, wie es dem Mittelstand beispielsweise nach dem Beitritt von Polen und Tschechien zur EU ergehen wird, unbedingt in den Blick nehmen und Übergangsfristen bis zur vollkommenen Freizügigkeit gegenüber diesen neu beitretenden Staaten festlegen müssen. Die hohe Kaufkraft der D-Mark - darüber muß man sich im klaren sein - wird weiterhin ihre Sogwirkung speziell in Richtung Polen und Tschechien entfalten. Dieses Problem trifft mittelständische Unternehmen in Berlin und Brandenburg ebenso wie in Hof, Marktredwitz oder im Bayerischen Wald. Verständlich also, daß die Mittelständler und ihre Beschäftigten auf die Straße gehen, so wie es am Montag in Berlin geschehen ist. Frau Rennebach, es ist eigentlich unglaublich, daß Sie in die gleiche Kerbe wie der Bundesbauminister schlagen, der, von der „Leipziger Volkszeitung“ auf diese Demonstrationen angesprochen, folgendes sagte: Diese Tarifgemeinschaft Bau, die das organisiert hat, ist eine Arbeitgebervereinigung. Und interessanterweise eine, die gegen Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung war. Also, da ist auch Heuchelei im Spiel. ({2}) Im Klartext heißt das: Wer die Politik von Rotgrün zu kritisieren wagt, wird abgestraft, indem man seine beRenate Rennebach rechtigten Anliegen nicht mehr ernst oder nicht mehr zur Kenntnis nimmt. ({3}) Diese Art und Weise, mit kritischen Geistern umzugehen, ist nicht in Ordnung. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer in diesem Land, gerade im Mittelstand, längst in einem Boot sitzen. Vielleicht könnte Ihnen das auch der Kollege Wiesehügel, wenn er einmal zu solchen wichtigen Debatten käme, bestätigen. ({4}) Diese Regierung verschärft das Problem der Schwarzarbeit durch eine katastrophale Gesetzgebung bei den 630-Mark-Jobs und durch die Rücknahme der Flexibilisierung am Arbeitsmarkt. Die bayerische Staatsregierung hat in einer Bundesratsinitiative einen durchdachten Vorschlag zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung und der Schwarzarbeit gemacht. Dieser Vorschlag sah unter anderem die Einrichtung eines Außendienstes bei den zuständigen Behörden für verdachtsunabhängige Kontrollen, die Stärkung der Prüfungsmöglichkeiten der Handwerkskammern und die Einführung eines steuerlichen Abzugsverfahrens für die Lohnsteuer vor, wenn ausländische Subunternehmer beauftragt werden. Statt diese wichtigen Überlegungen einmal aufzunehmen, schmort Rotgrün lieber im eigenen ideologischen Saft. ({5}) Der gut durchdachte bayerische Vorschlag zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung ist am 19. März von der rotgrünen Mehrheit im Bundesrat abgelehnt worden. ({6}) Statt dessen treiben Sie mit Ihrer falschen Politik immer mehr Menschen in die Schwarzarbeit. Ich frage mich, ob Sie sich eigentlich darüber im klaren sind, welche verheerenden Auswirkungen Ihre Mehrwertsteuererhöhungsphantasien insbesondere auf die Bauindustrie und das Handwerk hätten. ({7}) Hören Sie endlich auf, Symptome zu bekämpfen; bekämpfen Sie endlich die Ursachen! Runter mit den Steuern und Abgaben, Schluß mit dem Abkassieren bei Bürgern und Unternehmern, ({8}) mehr Freiheit für tarifpolitische Gestaltung - das sind die besten Mittel gegen Schwarzarbeit. Vielen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Weil sich die Zustände auf den Baustellen, und zwar nicht nur auf den Bundesbaustellen, sondern auf allen Großbaustellen, in den letzten Jahren so katastrophal entwickelt haben, haben wir immer wieder über dieses Problem gesprochen und auch sprechen müssen. Handeln konnten wir als rotgrüne Bundesregierung allerdings erst ab letztem Herbst. Die alte Bundesregierung hat sich - das haben wir ihr auch immer wieder klargemacht - nicht zu wirklich wirksamen und verbindlichen Schritten zum Schutz der Tarifautonomie durchringen können. Sie hat statt dessen zugelassen, daß der Bausektor zum Experimentierfeld für Lohn- und Sozialdumping gemacht worden ist. ({0}) Die neue Bundesregierung hat unmittelbar nach Amtsantritt wichtige Schritte gegen die Mißstände auf den Baustellen unternommen. Zu ihren ersten gesetzlichen Maßnahmen gehörte - das war absolut dringend und richtig -, das bis dahin ausgesprochen löchrige Entsendegesetz, das für „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ sorgen sollte, zu entfristen, die Allgemeinverbindlicherklärung für Tarifverträge zu Mindestlöhnen auch im Konfliktfall zu ermöglichen und die Durchgriffshaftung für den Generalunternehmer festzuschreiben, damit die Verantwortung des einzelnen Arbeitgebers für Sozialversicherung und für tarifliche Arbeitsbedingungen nicht mehr in einer unübersichtlichen Kette von Sub- und Subsubunternehmen verschwinden kann. ({1}) Das waren wichtige und längst überfällige Schritte, die aber erstens nicht von einem Tag auf den anderen ihre Wirkung entfalten können - erst recht nicht in der völlig verfahrenen Situation in Berlin - und zweitens allein nicht ausreichen, um die Probleme auf den Baustellen zu lösen. Da wird Weiteres notwendig sein, und darüber sind wir uns im klaren; Weiteres ist auch geplant. ({2}) - Das werde ich gleich noch tun. - Die Probleme, vor denen wir stehen, sind nämlich immens. Ich behaupte nicht - was Sie offensichtlich unterstellen -, daß mit dem Akt der Regierungsübernahme schon alles in Ordnung sei oder in Ordnung sein könne. ({3}) Ich sehe die Kritik an den Zuständen auf den Baustellen keineswegs als Kritik an Rotgrün, wie es Kollege Friedrich eben bezeichnet hat. Für die Zustände am Reichstag können Sie uns in Mithaftung nehmen, wie man uns alle dafür in Mithaftung nehmen kann. Aber ich glaube nicht, daß die Aufträge im Rahmen des ReichsDr. Hans-Peter Friedrich ({4}) tagsumbaus erst seit Oktober letzten Jahres vergeben worden sind. Dann hätten wir in kurzer Zeit wirklich viel erreicht, und so schnell ist selbst Rotgrün nicht. ({5}) Es geht hier um Probleme, bei denen auch Ihre Verantwortung nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden kann, da auch das ein Ergebnis der Politik der letzten Jahre ist. Es herrscht nämlich seit Jahren auf den Baustellen übelstes Lohn- und Sozialdumping. Oft liegen die Löhne - das gilt leider immer noch - bei 5 bis 10 DM in der Stunde. Die Unterbringung ist miserabel, wird aber dennoch zu Wucherpreisen vom Lohn, der im Fall der offiziellen Überprüfung immer dem gesetzlichen Mindestlohn entspricht, abgezogen. Zum Teil werden die Unterbringungskosten direkt einbehalten. Von vernünftigem Arbeits- und Unfallschutz kann dabei keine Rede sein. Der Sicherheitsingenieur Jürgen Rubarth sprach noch im September 1998 unter Bezug auf die Berliner Baustellen von Daimler von einem Chaos und hat beschrieben, daß dort zwei Drittel der Menschen ohne Sicherheitsschuhe und Helm arbeiten und daß Monteure auf zusammengebundenen Leitern „turnen“. Ich zitiere ihn: „Wie da gearbeitet wird, ist nicht mehr zu verantworten, ist ein rechtsfreier Raum.“ Hier müssen die Kontrollen verstärkt werden. Denn solche Arbeitssituationen können und werden wir nicht hinnehmen, weder auf Bundesbaustellen noch auf irgendwelchen anderen Baustellen. ({6}) Der Grund dafür ist die unglaublich scharfe Unterbietungskonkurrenz am Bau. Die Arbeitssicherheit bleibt da schnell auf der Strecke, genau wie die Qualität der Arbeit, von der sozialen Absicherung oder der tariflichen Bezahlung der Beschäftigten gar nicht zu reden. Zwischen General-, Sub- und Subsubunternehmern, Arbeitnehmern aus Werkvertragskontingenten und solchen aus der EU blühen nach wie vor Scheinselbständigkeit und illegale Leiharbeit. ({7}) - Das Gesetz gilt seit dem 1. April 1999. Natürlich wird es auch auf die Scheinselbständigkeit am Bau Auswirkungen haben. Wir hoffen, daß wir mit dem Gesetz gegen die Scheinselbständigkeit genau wie mit dem Eingriff, den wir beim Entsendegesetz vorgenommen haben, dazu beitragen, daß die Menschen wieder in vernünftigen Sozialversicherungsverhältnissen arbeiten können und daß die tariflichen und die Sozialversicherungsbedingungen eingehalten werden. ({8}) Inzwischen sind mehrere Fälle öffentlich geworden, in denen portugiesische oder türkische Arbeiter von den Unternehmern, die sie ins Land geholt haben, nicht ordnungsgemäß gemeldet und um ihren Lohn geprellt wurden. Sie haben statt einer Unterstützung und einer Vertretung ihrer Rechte gegenüber solchen Betrügern eher die Abschiebung zu erwarten. Hier müssen wir - das ist einer der Schritte, die wir noch dringend unternehmen müssen - die Rechtsstellung gerade der ausländischen Kollegen und Kolleginnen stärken und sicherstellen, daß diese Arbeitgeber belangt werden. Unser Ziel ist es, die Situation des Lohn- und Sozialdumpings am Bau aufzubrechen. Um aus dieser Dumpingspirale auszubrechen, haben wir erste Schritte getan, weitere Schritte stehen an. Dazu gehören das Verbandsklagerecht und die Bindung der Vergaberichtlinien an die Tariftreue. Die Vergabe öffentlicher Aufträge muß von der Sozialversicherungspflicht und der Tariftreue abhängig sein.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, ich muß auch Sie an die Einhaltung Ihrer Redezeit erinnern.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das gilt für Bund, Länder und Gemeinden. Ich glaube, daß wir für ausländische Kollegen und Kolleginnen ganz dringend Beratung und Anlaufstellen brauchen und daß eine Verbesserung ihrer Rechtsstellung dringend nötig ist. Denn Lohn- und Sozialdumping führt sonst zu nationalen Ressentiments - das haben wir am Bau allzu schmerzlich festgestellt - und nicht zu einem weltoffenen Europa. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es müßte der Bundesregierung zu denken geben - daß dies so ist, haben wir vom zuständigen Staatssekretär gehört -, wenn das Landesarbeitsamt Berlin unter der Schlagzeile „Deutlicher Anstieg der verhängten Bußgelder - Erfolge bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung 1998“ weiterhin zahlreiche Verstöße meldet. Frau Rennebach hat hier eine Reihe von Zahlen genannt. Ich könnte sie erweitern. Wenn bei Firmenüberprüfungen bis zu 63 Prozent Verstöße gegen die Zahlung von Mindestlohn festgestellt werden und wenn bis zu 30 Prozent Verstöße gegen die Meldepflicht ermittelt werden, ({0}) - das sind die Zahlen, die ich mir gestern vom Landesarbeitsamt Berlin/Brandenburg habe geben lassen, Frau Rennebach -, dann läßt sich der Schaden ahnen, der mit der in einigen Bereichen des Bauwesens mit krimineller Energie betriebenen Aushöhlung der rechtlichen Regelungen angerichtet wird. Natürlich kritisieren wir genauso wie Sie das Vorgehen der Fachgemeinschaft Bau gegen Schlechtwettergeld, Lohnfortzahlung und andere Bereiche, aber Anlaß dieser Aktuellen Stunde war für uns nicht die Demonstration der Fachgemeinschaft Bau, sondern die reale Lage am Bau und die hier genannten Probleme, die unter anderem von Bundesminister Müntefering nicht ausreichend behandelt wurden. Das Baugewerbe, als Konjunkturlokomotive noch vor Jahren hoch im Kurs, ist in Verruf gekommen. Baufacharbeiter zu sein galt und muß wieder gelten als hochangesehener Berufsstand, als Schöpfer und Errichter von Neuem, Bleibendem, als Beruf gerade für junge Menschen, als Beruf mit Zukunft. Wir beklagen auch und gerade den Verlust dieser Werte; denn es ist eine Schande, daß bei dem gewaltigen Bauboom nach der deutschen Einheit Zehntausende Bauarbeiter allein in Berlin und Brandenburg ohne Arbeit sind, daß Baufirmen im Osten Bankrott gehen, und das keineswegs witterungsbedingt. Gehen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in die ostdeutschen Arbeitsämter, gehen Sie in die Arbeitslosenzentren, sprechen Sie mit den entlassenen oder immer noch arbeitslosen jungen und älteren Männern und Frauen vom Bau! Vermindern Sie ihre Wut, erklären Sie ihnen das Unerklärliche! Von 1996 bis heute sind allein in Berlin die Zahlen der im Baugewerbe Beschäftigten von 56 000 auf 23 000 zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote im Bauhauptgewerbe in den neuen Bundesländern liegt bei über 30 Prozent. Sie, meine Damen und Herren von SPD und Bündnisgrünen wie von CDU/CSU und F.D.P., reden an so vielen Stellen über Ostdeutschland und stellen angebliche Defizite in den Köpfen der Menschen jenseits der Elbe fest. Auf ganz Naheliegendes kommen Sie dabei nicht: Es sind die Defizite in der Politik, die Sie selbst zugelassen haben und zulassen. Wie soll man einem Bauarbeiter erklären, daß er keine Arbeit hat? Er sieht den Bauboom ringsum. Wohnungen, Straßen, Brücken und öffentliche Gebäude werden errichtet oder saniert, und er wird dabei nicht gebraucht? Es sind nicht die Polen, Ukrainer, Rumänen, Iren, Portugiesen oder Italiener, die er an seiner Stelle arbeiten sieht, schuld daran, daß irgend etwas nicht stimmen kann mit Deutschland einig Vaterland. Sie, meine Damen und Herren von der regierenden Koalition, sind nicht nur dafür verantwortlich, Regelungen zu schaffen, die verhindern, daß den Ihnen anvertrauten Bürgerinnen und Bürgern - in diesem Fall sind es die Bauarbeiter - Schaden zugefügt wird; Sie sind auch dafür verantwortlich, daß durch solche Regelungen die kriminellen oder halblegalen Praktiken wirksam bekämpft werden. ({1}) Wir behaupten nicht, daß Baufirmen dazu ermuntert werden, mit Lohndumping, außertariflicher Bezahlung, illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit nach Sonderprofiten zu streben. Dennoch müssen wir die Frage stellen, warum das kriminelle Verhalten von Unternehmern seit Jahren nicht mit der gleichen Konsequenz bekämpft wird wie andere Rechtsverstöße. Es ist im übrigen völlig egal, ob, wie in der Vergangenheit, gesetzliche Regelungen fehlten oder, wie gegenwärtig, nicht greifen, weil Mittel, Methoden oder Konsequenz zur Durchsetzung fehlen. Die Wirkungen auf Art und Umfang der Beschäftigung sind die gleichen. Wer als Auftraggeber der öffentlichen Hand, von den Kommunen bis hin zur Bundesrepublik Deutschland, auf seinen eigenen Baustellen nicht für vorbildliche, beispielhaft saubere Arbeitsverhältnisse sorgt oder sorgen kann, der setzt sich dem Verdacht aus, so zu kalkulieren, daß Ungesetzlichkeiten am Bau natürlich unter Umständen die Kosten des Bundes senken. Interessiert es die Bundesregierung nicht, wie die Bundesbaugesellschaft in Einzelfällen sogar kalkulierte Baukosten unterbietet? Das Schäbigste, was getan werden kann, ist die Schuldzuweisung an die Leidtragenden, die letztlich irgendwann bereit sind, ihre Arbeitskraft weit unter dem Tariflohn zu verkaufen oder schwarzarbeiten zu gehen. ({2}) Niemand arbeitet schwarz, wenn nicht Schwarzarbeit angeboten wird. Jemand, der keine legale Arbeit auf dem Bau oder anderswo findet, wird, wenn er keine Lohnersatzleistungen erhält, dazu greifen müssen. Die Fraktion der PDS fordert von der Bundesregierung Maßnahmen, die sichern, daß richtige Gesetze durch die Praxis auf vielen Baustellen nicht zu bloßer Makulatur abqualifiziert werden. Besondere Überlegungen und Maßnahmen sind gefordert, mit deren Hilfe die ostdeutsche Bauwirtschaft, in deren Wirkungsbereich es unendlich viel Arbeit gibt, wieder zum Motor des Aufschwungs Ost wird. Das zu erreichen dürfte eigentlich nicht schwer sein, wo doch der Aufbau Ost in der Regierungskoalition Chefsache ist. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht die Kollegin Gabriele Iwersen.

Gabriele Iwersen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000998, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem schon sämtliche einschlägigen Gesetze herangezogen worden sind, von den anderen Mitgliedern der Baukommission - jedenfalls von Herrn Dr. Kansy und Frau Eichstädt-Bohlig - ausführlich auf die Bedingungen auf den Baustellen des Bundes in Berlin eingegangen worden ist und wir den anderen Vorträgen haben entnehmen müssen, daß die Bundesbaustellen in der Statistik nirgends gesondert aufgeführt werden, kann ich feststellen, daß die vordergründigen Vorwürfe hinsichtlich der Bundesbaustellen - besonders von seiten der Antragsteller dieser Aktuellen Stunde im Grunde genommen nicht belegbar sind. Ich will Ihnen einmal ganz kurz schildern, mit welchem System versucht worden ist und wird, Illegalität auf den Baustellen des Bundestages in Berlin zu vermeiden, was natürlich nie hundertprozentig funktionieren kann, weil es bei den verschiedenen am Bau Beteiligten - wie schon erwähnt worden ist - eine erhebliche kriminelle Energie gibt. Die Baustellen sind praktisch hermetisch abgeschlossen. Um als Arbeitnehmer auf eine solche Baustelle zu kommen, muß man in eine Liste eingetragen werden. Diese Listen werden nach den Angaben erstellt, die vor Arbeitsantritt auf der Baustelle von den entsprechenden Unternehmern und Subunternehmern - Sub-Subunternehmer sind nicht zugelassen - gemacht werden müssen. ({0}) Nach diesen Listen werden Tagesausweise produziert. Die werden morgens oder bei Schichtwechsel an der Baustelle ausgegeben und gegen ein gültiges Papier, zum Beispiel einen Paß oder einen Personalausweis, eingetauscht. Durch diesen Austausch ist auch für die Kontrollen immer ein Ausweispapier verfügbar. Wer einen Arbeitnehmer illegal in eine Baustelle einschleusen will, muß erst einmal einen Namen aus einer solchen Liste haben und dazu die passenden Papiere fälschen. Daß man Ausweispapiere gut fälschen kann, müßten eigentlich gerade die Berliner gut wissen; denn jahrelang hat es eine Mauer gegeben, die keine Baustellen eingefriedet hat und nur mit Schwierigkeiten zu überwinden war. Einige Jahre nach dem Bau dieser Mauer war auch das Fälschen von Pässen eine vielgeübte Methode, um diejenigen, die vorher freizügig in Berlin hin und her wandern konnten, in den jeweils anderen Teil von Berlin zu bringen. ({1}) - Es ist jedenfalls so. - Ich kann mir vorstellen, daß Sie, wenn heute von seiten der PDS Kontrollen gerade an den Bundesbaustellen als nicht ausreichend effektiv kritisiert werden, Ihr Expertenwissen einbringen wollen, weil Sie sicherlich einiges mehr darüber wissen als wir, wie man irgendwann dichtmacht. ({2}) Jedenfalls ist es zweifellos so, daß diese Baustellen nicht so leicht zu stürmen sind und daß dazu mehrere Fälschungsvorgänge notwendig sind. Sie behaupten, daß sei in einer „Report“-Sendung nachgewiesen worden. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Schauen Sie sich das einmal genau an! Dort wurde ein Zeuge benannt und auch gezeigt, der lediglich aussagt, ihm sei das angeboten worden, er habe aber selbstverständlich abgelehnt. Angeboten worden war ihm, gegen die Zahlung von 1 000 DM gefälschte Papiere zu bekommen, in die Baustelle eingeschleust zu werden, um anschließend 6 DM des Mindestlohnes, der bei 16 DM liegt, an den Polier abzugeben, dem er die Arbeit abgenommen hätte. - Das sind natürlich völlig illegale Zustände. Aber Sie haben keinen Beweis dafür erbracht - leider hat uns auch das Landesarbeitsamt keinen Beweis dafür erbracht -, daß solche Fälle tatsächlich vorgekommen sind. Wir als Baukommissionsmitglieder fragen natürlich jedesmal, wenn die Medien über solche Zustände berichten, nach Fakten; denn wir würden gerne dagegen vorgehen. Da ist aber nichts zu machen. Man kommt an keine Fakten heran. Es handelt sich immer nur um einen Verdacht. Von einer Überprüfung und anschließenden Offenlegung eines tatsächlich illegalen Falls, der mit Sicherheit auch eine Buße für den Arbeitgeber, also die Bauunternehmung, zur Folge haben muß, haben wir nichts erfahren, auch dann nicht, wenn wir Kolleginnen und Kollegen gefragt haben. Ich will Ihnen sagen, was passiert ist, als auf der Kanzleramtsbaustelle fünf illegale Bauarbeiter, die spanische Pässe hatten, aber kein Wort spanisch sprachen - das war allerdings verdächtig -, gefaßt wurden: Seitdem wird diese Baustelle hermetisch abgeriegelt; es gibt eine Paßkontrolle nach den Richtlinien des Schengener Abkommens. Auf dieser Baustelle werden die Ausweispapiere sogar durchleuchtet, um sie auf Echtheit zu überprüfen. Ich habe mir das Berlin nach dem Fall der Mauer anders vorgestellt. Jetzt wird von allen Seiten geschrien, man müsse noch mehr kontrollieren, noch strenger abschirmen, um Illegalität zu vermeiden. Ich glaube, wir werden uns noch so viel Mühe geben können; wir werden das nicht in den Griff kriegen, solange in den unterschiedlichen europäischen Regionen ein so großes soziales Gefälle herrscht. Deshalb kommt es zwar immer wieder zu vergleichbaren Fällen. Aber das speziell den Bundesbauten nachzusagen ist grundsätzlich falsch. Keiner von denen, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, hat ausreichende Beweise offengelegt, um sagen zu können: Das Reichstagsgebäude wird auf dem Fundament der Illegalität und der Schwarzarbeit - so ähnlich waren die Zitate - errichtet. Ich möchte alle, die an der Situation etwas ändern wollen, ganz dringend darum bitten, sich etwas konkreter damit zu befassen, was wirklich nachweisbar ist, und nicht all den Gerüchten zu glauben, die in dieser Stadt herumgeistern. Schönen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann das Wort.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganz gut, daß der Bundestag einmal über die Zustände auf den deutschen Baustellen - ich glaube, das kann man nicht auf Berlin begrenzen - debattiert. Denn das ist unter den Bauarbeitern und der deutschen Arbeitnehmerschaft insgesamt ein riesiges Thema. Ich sage einmal vorweg: Ich habe vor jedem Bauarbeiter Respekt, der dafür kein Verständnis hat und die Meinung vertritt, es dürfe nicht sein, daß Bauarbeiter in Berlin und Brandenburg arbeitslos sind, obwohl sie in einem Gebiet leben, wo es die größten Baustellen der Republik gibt. Aber so leicht, wie es sich zum Beispiel Frau Rennebach gemacht hat, ist die Lösung des Problems nicht. ({0}) Die Bundesbaugesellschaft Berlin, eine private Gesellschaft, ist eine hundertprozentige Tochter des Bundes. Der Bundesfinanzminister, der Bundesbauminister und der Bundestagspräsident haben in dieser Bundesbaugesellschaft ein Vetorecht; gegen die drei kann da nichts entschieden werden. Das gilt auch für die Vergabe von Aufträgen. Ich frage mich: Warum wird davon eigentlich nicht mehr Gebrauch gemacht? Das Problem liegt aber viel tiefer: Wenige Kilometer von Berlin entfernt gibt es Menschen, die bereit sind, für fünf, sechs, sieben oder acht Mark die Stunde zu arbeiten. ({1}) - Das hat mit unserer Politik überhaupt nichts zu tun. Das ist die Situation in Osteuropa, und da haben bekanntlich Kommunisten regiert. Die haben dieses Gebiet Europas heruntergewirtschaftet. ({2}) Reden Sie doch nicht so einen Quatsch! Das hat mit der Union überhaupt nichts zu tun. ({3}) Die Wahrheit ist: Wenn Menschen bereit sind, für einen solch geringen Lohn zu arbeiten, dann werden wir soviel kontrollieren können, wie wir wollen; man wird nicht jeden Verstoß ausschließen können. Dietmar Kansy hat darauf hingewiesen, daß die öffentliche Hand - durch die Rechenschaft vor der Öffentlichkeit, durch den Bundesrechnungshof und durch andere Kontrollorgane - gezwungen ist, möglichst preisgünstig zu bauen. ({4}) Die Zeitungen schreiben am Montag, bei der Reichstagseröffnung, es sei nicht richtig, daß es dort so wenige deutsche Bauarbeiter gegeben habe, und kritisieren am Mittwoch, daß der Bau um einige Prozent teurer geworden ist, als man gedacht hat. Ich glaube, es wäre gut, wenn aus dieser Debatte hervorginge, daß bei öffentlichen Ausschreibungen - wenn wir als Staat also Auftraggeber sind - die Angebote geprüft und keine Dumpingangebote, die solche Verhältnisse nach sich ziehen, genommen werden. ({5}) Das wäre eine vernünftige Lösung. Ich glaube, daß ein weiterer Punkt ziemlich wichtig ist. Am Beispiel der Bauwirtschaft können wir sehen, welche Verwerfungen es auf dem Arbeitsmarkt auf Grund der Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft, die wir politisch wollen, geben wird und geben kann. Wir sollten uns als Arbeitnehmervertreter im Deutschen Bundestag zumindest über eine Frage einig sein, nämlich darin, daß wir den deutschen Arbeitsmarkt für viele Jahre vor der Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus Osteuropa schützen müssen. ({6}) Sonst werden wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt ein Waterloo erleben. Weiterhin denke ich, daß wir überlegen müssen, wie wir unsere Strukturen so anpassen können, damit wir möglichst wettbewerbsfähig sind. Ich glaube, daß Überlegungen bei den Koalitionsfraktionen zum Beispiel dahin gehend, daß Schlechtwettergeld wiedereinzuführen, eine einmal gefundene tarifrechtliche Regelung außer Kraft zu setzen - Bauhandwerker in meinem Wahlkreis sagen mir, daß das die Arbeitsstunde von deutschen Bauhandwerkern etwa um 6 Prozent verteuern wird -, mit Sicherheit auch nicht das richtige Signal sind, um solche Entwicklungen einzudämmen, wie wir sie zur Zeit auf einigen Baustellen haben. ({7}) Sinnvoll wäre auch, wenn wir gemeinsam, egal in welcher Fraktion wir sind, dafür sorgen, daß zumindest bei öffentlichen Baustellen, auch schon bei der Vergabe, eine gesamtgesellschaftliche Rechnung aufgemacht wird. Dabei darf man auch mit einrechnen, daß gerade öffentliche Baustellen Arbeitsplätze bieten sollten, an denen tarifvertraglich und sozialversicherungsrechtlich einwandfrei gearbeitet werden kann. Wir sollten da auch eine Vorbildfunktion haben. Danke schön. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Weiermann.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist immer das alte Strickmuster der Reden, die wir hören. Wir befinden uns nicht in der ersten Debatte über die Zustände in der Bauwirtschaft. Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, daß es hier zu mafiaähnlichen Strukturen gekommen ist. Ich spreche nicht von der Baustelle des Reichstages oder von Bundesbaustellen. Ich meine vielmehr, daß die heutige Aktuelle Stunde Verpflichtung und Anreiz sein muß, über die Situation auf deutschen Baustellen insgesamt nachzudenken. Die Arbeitnehmer, die in diesem Bereich tätig sind, haben ein Recht darauf, daß sich der Deutsche Bundestag ernsthaft mit dieser Angelegenheit beschäftigt und nicht jeder von uns nur seine Position verteidigt. Hier geht es um die Menschen draußen und nicht um die Mitglieder des Deutschen Bundestages. ({0}) Wer in der Vergangenheit vergessen hat, seiner Sorgfaltspflicht nachzukommen, als führende Repräsentanten der deutschen Wirtschaft ihre Sympathie gegenüber Rechtsbruch und Bruch der Tarifvertragstreue am Bau bekundet haben, der darf sich nicht wundern, wenn diese skandalösen Dinge heute weiter betrieben werden. Das geht eindeutig zu Lasten der Menschen. ({1}) Ich habe vor mir die Entwicklung der Zahlen für das gesamte Bundesgebiet. 1994 hatten wir noch 601 Bußgeldentscheidungen von mehr als 200 DM, 1997 waren es 2 239. Während 1994 die Bußgeldsumme für illegale Beschäftigung 23,64 Millionen DM betrug, lag sie 1997 bei 42,36 Millionen DM. Während 1994 für die illegale Arbeitnehmerüberlassung eine Bußgeldsumme von fast 23 Millionen DM gezahlt wurde, waren es 1997 fast 75 Millionen DM. Sie sehen, daß es hier eine Tendenz nach oben gibt. Ich unterstelle nicht, daß nirgendwo ernsthaft der Versuch unternommen wird, die Einhaltung gesetzlicher und tarifvertraglicher Rahmenbedingungen zu überprüfen. Ich stelle an Hand dieser Zahlen allerdings fest, daß die Entwicklung, sich um die Einhaltung der Rahmenbedingungen, der gesetzlichen Verpflichtungen und der tarifvertraglichen Verpflichtungen herumzudrücken, in der Vergangenheit immer stärker geworden ist. Das gilt es festzuhalten. ({2}) Die SPD-Fraktion stellt mit erheblicher Sorge fest, daß sich die Unternehmen unberechtigte Wettbewerbsvorteile verschaffen. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch ein bißchen über Wirtschaftspolitik reden. Sie verschaffen sich diese Wettbewerbsvorteile gegenüber den gesetzestreuen und tarifvertragstreuen Arbeitgebern. ({3}) Bei aller Wertschätzung, lieber Herr Laumann - ich weiß, daß Sie im gewerkschaftlichen Lager nach wie vor tätig sind, zumindest waren Sie dort tätig -: Ihre Einstellung, wonach der Arbeitnehmer bei solchen Entwicklungen gleichzeitig Opfer und Täter ist, teile ich nicht. ({4}) Arbeitgeber und Arbeitnehmer schafften tarifvertragliche Rahmenbedingungen. Die Arbeitnehmer vertrauen darauf, daß sich die Arbeitgeber dem Tarifvertrag, den sie mit unterzeichnet haben, letzten Endes auch verpflichtet fühlen und die Löhne und Gehälter zahlen, die im Bau zu zahlen sind, und sie nicht auf 3,50 DM, 5 DM, 6 DM oder 7 DM pro Stunde in den Keller drükken. Das ist ein Skandal, liebe Kolleginnen und Kollegen, und dagegen gehen wir vor. Ich bedaure, daß auf der anderen Seite des Hauses die Einsicht fehlt, daß die auf deutschen Baustellen Beschäftigten nichts anderes wollen, als daß bestehende Gesetze und Tarifverträge eingehalten werden. Nicht mehr und nicht weniger wollen sie. Darin wollen wir sie unterstützen. ({5}) Wir wollen auch zu Maßnahmen kommen, die das, was heute noch in der Gesetzgebung fehlt, ergänzen. Ich komme zum Schluß, da ich sehe, daß ich mit meiner noch zur Verfügung stehenden Redezeit bei „minus Null“ angelangt bin: ({6}) Experten schätzen den Umfang der Einkünfte aus Schwarzarbeit mittlerweile auf rund 550 Milliarden DM. - Ich verstehe nicht, warum Sie darüber lachen. Kann man eigentlich kaltschnäuziger sein als Sie, wenn es um die Belange dieser Menschen geht? ({7}) Sie tun dies ab, als sei es Fliegendreck. Hier geht es um die Existenzen von Menschen nicht nur in Berlin, sondern in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Wir haben gefälligst die Ohren offenzuhalten und die entsprechenden Beschlüsse vorzubereiten. Das erwartet man vom Deutschen Bundestag. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, ich muß Sie ermahnen aufzuhören. Sie haben selber schon darüber reflektiert.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese 550 Milliarden DM gehen insbesondere dem deutschen Mittelstand verloren. Da gehen Arbeitsplätze verloren. Da gerät die wirtschaftliche Weiterentwicklung in Gefahr. Darüber sollten Sie nachdenken!

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir werden den Weg einschlagen, die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur auf dem Bau zu unterstützen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Konrad Gilges. Ihm wird dann noch ein Redner der CDU/CSU-Fraktion folgen. ({0}) - Entschuldigung, die CDU/CSU-Fraktion hätte sich eher überlegen müssen, daß noch ein Redner seitens ihrer Fraktion sprechen soll. ({1}) Herr Kollege Gilges, Sie haben das Wort.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! An dem Chaos in diesem Hohen Hause bin ich unschuldig. Ich bitte deshalb darum, mir die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Ich möchte zunächst eine Bemerkung zu der Kollegin Pau machen, die leider nicht mehr anwesend ist, was mich in großes Erstaunen versetzt und was ich kritisiere. Ich finde es nicht fair, daß hier jemand eine Debatte eröffnet und dann, wenn die anderen Kollegen zu diesem Thema reden, nicht mehr anwesend ist. ({0}) Dann hätte sie nicht reden sollen. Das ist nicht demokratisch. Ich sitze hier jetzt auch über eine Stunde und muß mir das anhören und antun, was Sie hier veranstalten. Auch die Kollegin hätte jetzt hier sein müssen. Dafür gibt es auch keine Entschuldigung. Das will ich erst einmal feststellen. ({1}) Zweite Bemerkung: Den Kollegen von der PDS muß ich natürlich sagen: Man muß aufpassen, daß man sich nicht vor den Karren von Interessenverbänden spannen läßt. Bei dieser Diskussion hat es aber diesen Anschein. Denn bei dem, was ich in dieser Debatte gehört habe, gehen das fachliche Fundament und das, was Wahrheit und Wirklichkeit ist, ein bißchen verloren. Ich will auf diese Frage gleich noch einmal zurückkommen. Ich will aber zuerst noch etwas zu Herrn Laumann sagen. Herr Laumann, ich bin mit vielem, was Sie sagen, einverstanden. Nur das mit den Polen hat mich etwas irritiert. Es gibt überhaupt keine Indizien dafür, daß die Polen diejenigen sind, die als Schwarzarbeiter, als illegale Arbeiter in der Bundesrepublik arbeiten. Das war so ein bißchen antipolnisch, würde ich sagen, es hatte den Touch der Diskriminierung von polnischen Arbeitnehmern. Das möchte ich nicht. Es geht nicht um Polen, sondern es geht um alle die, die als Ausländer hier in Deutschland von Unternehmen ausgebeutet werden ({2}) gegen die bestehenden Tarifverträge und gegen die Gesetze, unabhängig von ihrer Nationalität. Ich gestehe zu: Es gibt natürlich an den Baustellen in Berlin Ausbeutung, von Deutschen und von Ausländern. Es trifft zu, daß Lohndumping - richtigerweise muß es Lohnwucher heißen, wie die Juristen sagen - in Berlin stattfindet. Es trifft auch zu, daß die Verletzung von Gesetzen und Unfallvorschriften stattfinden. Das wissen wir alle. Das kann von uns auch nicht toleriert werden. Das wird von der Regierung nicht toleriert, das wird, nehme ich an, auch von der Opposition nicht toleriert, weil wir alle daran interessiert sind - jenseits der Frage, ob wir dem Gesetz jeweils zugestimmt haben -, daß die Gesetze, die es gibt, eingehalten werden. Das muß unser gemeinsames Ziel sein. Wenn es Gesetzesbrecher gibt, müssen sie auch über die Exekutive und die Judikative so bestraft werden, wie es sich in einem Rechtsstaat gehört. ({3}) Wir können auch nicht zulassen, daß an den Baustellen der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Das muß unser gemeinsames Interesse sein. Ein weiterer Punkt ist die Frage, welche Maßnahmen denn zu ergreifen sind. Die Vertragsgestaltung des Bauträgers ist nach meinem Kenntnisstand ausreichend. Was die Bundesbaugesellschaft an Vertragsmaßnahmen mit den jeweiligen Bauunternehmen ausgehandelt hat, ist glaubwürdig. Das kann man sich ansehen. Ich weiß nicht, was man daran kritisieren muß, kritisieren kann oder kritisieren sollte. Man kann hier und da noch etwas besser machen, kann die Bußgelder erhöhen usw., aber das ist in Ordnung. Zur internen Überprüfung kann man als Bauherr sagen: das muß der Bauträger verstärken. Auch ich als Mitglied der Baukommission und des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung würde in Richtung des Bauträgers sagen, daß man dort stärker nachprüfen müßte, daß es dort keine illegalen oder inkorrekten, nach dem Vertrag nicht vorgesehenen Beschäftigungen gibt. Denn es gibt sie ja, und es hat sie auch im Reichstag gegeben, wie die Untersuchungen zeigen. Also da, meine ich, könnte man etwas tun. Das gilt auch für die externen Kontrollen, also die Kontrollen, die durch das Arbeitsamt Berlin/Brandenburg stattfinden. Auch da kann man sagen, das muß noch verschärft werden, da müssen Beamte hineingehen und etwas unternehmen. Der Gesetzgeber kann natürlich gegen die kriminellen Aktivitäten am Bau noch mehr tun. Er kann zum Beispiel das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verschärfen. Ob wir damit näher an das Ziel herankommen, werden wir dann im Einzelfall sehen, das muß diskutiert werden. Wir können auch die Durchgriffshaftung, die nach dem Entsendegesetz schon besteht, noch weiter verschärfen, vielleicht die Strafen noch etwas erhöhen usw. In bezug auf den Mindestlohn am Bau hatte ich immer schon meine Zweifel. Wir als Sozialdemokraten hatten auch eine andere Vorstellung. Wir wollten nach der EG-Richtlinie, Herr Laumann, durchsetzen, daß nach dem ortsüblichen Tarifvertrag zu zahlen ist. Ich sage Ihnen im nachhinein: Es wäre eine bessere Regelung gewesen, wenn wir ein Entsendegesetz gemacht hätten, in dem gestanden hätte: Es ist nach dem ortsüblichen Tarifvertrag zu bezahlen. Das hätte eben nicht zur Spaltung der Arbeitnehmerschaft am Bau geführt: die einen, die Bezahlung nach Tarifvertrag fordern, und die anderen, die nach Entsendegesetz bezahlt werden können, das heißt mit Mindestlöhnen. Das haben wir selbst verursacht, das heißt, Sie haben es verursacht. Wir waren anderer Meinung. ({4}) - Herr Kolb, Sie werden doch nicht zustimmen. Wenn Sie sagen würden, wir stimmen dem ortsüblichen Tarifvertrag im Arbeitnehmer-Entsendegesetz als neuer Klausel zu, dann können wir das morgen zusammen machen. Aber Sie sind ein Feigling, weil Sie dazwischenreden und nicht bereit sind, die Konsequenzen zu tragen. Also reden Sie nicht so daher. ({5}) Ich möchte zum Schluß kommen. Die Tarifvertragsparteien müssen selbst dafür sorgen - ich sage das ganz kritisch als jemand, der selber Funktionär einer Gewerkschaft ist

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Gilges, Sie müssen wirklich zum Schluß kommen.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- das ist mein letzter Satz -, daß die Bestimmungen des Tarifvertrages durchgesetzt werden. Das kann der Gesetzgeber ihnen nicht abnehmen. Deswegen müssen wir dafür sorgen, daß die Gesetze eingehalten werden, besonders auch auf den Baustellen in Berlin, weil es nämlich unser zukünftiger Regierungssitz ist. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, entgegen der üblichen Praxis haben zwei Mitglieder der SPD-Fraktion hintereinander geredet. Die CDU/CSU-Fraktion hat leider zu spät ihren Redebedarf für den vierten Beitrag angemeldet. Deshalb spricht jetzt ausnahmsweise der Kollege Karl-Josef Laumann. ({0})

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin meiner Fraktion sehr dankbar, daß ich hier die Möglichkeit habe, auf den Kollegen Weiermann und auch auf Konny Gilges zu antworten. ({0}) - Selbstverständlich kann ich die Redezeit für die CDU/CSU-Fraktion wahrnehmen. Das werde ich jetzt auch machen. Herr Kollege Weiermann, wir sollten nicht so miteinander umgehen, daß wir uns gegenseitig das Wort im Mund umdrehen. Auch für mich ist völlig klar, daß es auf einer Arbeitsstelle, auch auf einer Baustelle menschengerechte Arbeitsbedingungen geben muß. In dieser Einschätzung liegen wir überhaupt nicht auseinander. Das gilt sowohl für deutsche wie für jeden anderen Bauarbeiter. Auch von meinem Menschenbild her denke ich darüber nicht anders. Das wollte ich hier nur klarstellen. Es ist aber auch die Wahrheit: Es gibt zwischen West- und Osteuropa ein riesiges Wohlstandsgefälle. Für einen osteuropäischen Bauarbeiter, dessen Familie in Osteuropa wohnt, ist ein Stundenlohn von 6 oder 7 DM - egal unter welchen Bedingungen er ihn erzielen kann - eine attraktive Entlohnung. Der deutsche Maurer dagegen kann mit 7 oder 8 DM seine Familie in Berlin oder irgendwo sonst in Deutschland nicht ernähren, weil er hier unsere Mieten und unsere Lebensmittelpreise bezahlen muß. Deswegen kann er diesem Lohndumping überhaupt nicht standhalten. Wenn die Unterschiede zwischen der Entlohnung so groß sind, dann gibt es immer Anreize dafür, sich billige Arbeitskräfte zu holen. Auf dem Bau ist das alles noch schwieriger zu kontrollieren als in einer Fabrik im Ruhrgebiet oder bei uns im Münsterland. In der Textilindustrie gibt es ähnliche Verwerfungen. Nur finden diese nicht auf deutschem Boden statt. Der deutsche Textilarbeiter konkurriert mit dem Textilarbeiter, der für einen Stundenlohn von 3 DM irgendwo in Osteuropa oder im asiatischen Bereich arbeitet. Aber es ist schon ein Riesenunterschied, wenn es in diesem Land passiert. Auch ich bin der Meinung, daß in diesem Land der Grundsatz „gleiche Arbeit, gleiche Baustelle, gleiche Entlohnung“ gelten muß. Das ist eine logische Sache. Wir haben als öffentlicher Arbeitgeber - das wollte ich deutlich machen; bei unseren Bauvorhaben treten wir als öffentlicher Arbeitgeber auf; der Staat ist einer der größten Bauträger in Deutschland; besonders in Berlin gehören wir zur Zeit zu den größten Bauträgern eine besondere Verpflichtung. Ich erwarte von den Leuten, die letzten Endes über die Vergabe von öffentlichen Baumitteln entscheiden - unabhängig von deren Parteibuch -, daß sie schon bei der Vergabe darauf achten, ob die von den Baufirmen vorgelegten Preise realistisch sind. Schon bei der Vergabe müssen wir fordern, daß auf den Baustellen sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer eingesetzt werden. Wir wollen, daß die Standards der Berufsgenossenschaften und die Bestimmungen der Gewerbeaufsicht auf den Baustellen eingehalten werden. Letzten Endes müssen wir gemeinsam versuchen, das auf den Baustellen durchzusetzen. Daher ist es auch nicht richtig, den Schwarzen Peter von der einen zur anderen Seite zu schieben. Wir sind uns sicherlich alle einig, daß beschlossene Gesetze und vereinbarte Tarifverträge durchgesetzt werden müssen, weil wir anderenfalls eine Bananenrepublik wären. Es werden ja auch viele Kontrollen durchgeführt; Dietmar Kansy hat davon berichtet, wie viele es gerade auf den Bundesbaustellen gegeben hat. Diese Kontrollen müssen wir noch verstärken. Aber auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen auf den Baustellen aufklärend wirken, damit wir die schwarzen Schafe erwischen können. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn diejenigen, die einmal als schwarzes Schaf erwischt wurden, zumindest für eine gewisse Zeit keine öffentlichen Aufträge mehr bekämen. Schönen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache und rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf: 7. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entschuldungsinitiative anläßlich des Welt- wirtschaftsgipfels der G-7/G-8-Staaten in Köln - Drucksache 14/794 - ZP6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus- Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Entschuldung armer Entwicklungsländer - Initiativen zum G-8-Gipfel in Köln - Drucksache 14/785 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Umfassender Schuldenerlaß für einen Neuanfang - Drucksache 14/800 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht zu uns die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor drei Monaten hat die Bundesregierung für den Wirtschaftsgipfel der G-7-Staaten in Köln im Juni 1999 eine Initiative zur Entschuldung armer Länder vorgelegt. Ziel der „Kölner Initiative“, wie wir sie nennen, ist die weitere deutliche Entlastung hochverschuldeter armer Länder erstens durch die Beschleunigung des Verfahrens zur Entschuldung - bisher sind es sechs Jahre; wir wollen, daß es auf drei Jahre reduziert wird - und zweitens durch die Ausweitung des Volumens an Schuldenerleichterungen. Drittens geht es uns um die Umorientierung des Entwicklungsweges in den betroffenen Entwicklungsländern in Richtung auf Armutsbekämpfung und sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung. Für alle öffentlichen Gläubiger zusammen bedeuten unsere Vorschläge zusätzliche Schuldenerlasse von insgesamt 40 bis 45 Milliarden US-Dollar. Wir wollen damit vielen Millionen Menschen den Start in das nächste Jahrhundert erleichtern und einen substantiellen Beitrag zur Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen und vor allem zum Abbau von Krisen- und Kriegsursachen in der Welt leisten. Gerade angesichts von Mord, Vertreibung und Krieg in Jugoslawien muß betont werden, daß es das Ziel der Bundesregierung bleibt, mit allen Möglichkeiten der Entwicklungspolitik, also auch mit unserem Schuldenerlaß, für gerechtere Verhältnisse in der Welt, für den Schutz der Menschenrechte und für die Vermeidung von Krisen und Kriegen zu sorgen und mit solchen vorbeugenden zivilen Mitteln auch dazu beizutragen, daß Menschen in ihren Heimatländern menschenwürdig leben können. ({0}) Die hochverschuldeten armen Länder haben ganz besondere Probleme. In den ärmsten Ländern sterben die Menschen durchschnittlich 25 Jahre früher als in den Industrieländern. 130 Millionen Kinder dürfen nicht zur Schule gehen, weil die Schule für die Familien zu teuer ist. Wenn Devisen für den Schuldendienst erwirtschaftet werden oder verarmte Menschen die kargen Ressourcen übernutzen müssen, geht das zu Lasten der Umwelt. Krisen und Bürgerkriege sind in vielen Ländern zumeist in der bitteren Armut der Menschen und in Verteilungskonflikten begründet, deren gewaltsame Austragung die Länder nur noch tiefer ins Elend stürzt. Jährlich 40 Milliarden US-Dollar würden nach Aussagen der Vereinten Nationen ausreichen, um die Grundbedürfnisse der Menschen in den Entwicklungsländern zu stillen. 780 Milliarden US-Dollar geben Industrieländer, aber auch Entwicklungsländer jährlich immer noch für Waffen und Rüstung aus. Dieses krasse Mißverhältnis muß geändert werden. ({1}) Die ungeheure Verschuldung der betroffenen Länder wirkt sich aber nicht nur auf deren eigene, sondern auch auf unsere Situation aus. Verschuldung ist teilweise auch eine Folge von unerwarteten wirtschaftlichen Belastungen, sinkenden Rohstoffpreisen, hohen internationalen Zinsen in früheren Jahren sowie unvorsichtiger Kreditvergabe öffentlicher und privater Gläubiger. Wir wollen gemeinsam Verantwortung für unsere Welt übernehmen und dazu beitragen, daß die Chancen gerechter verteilt werden. Wir brauchen eine weltweite Solidarität, um eben jener Ungleichheit entgegenzuwirken. Lassen Sie mich bitte aus aktuellem Anlaß sagen: Solidarität von Bürgern und Bürgerinnen zeigt sich in den Spenden in Millionenhöhe für die Flüchtlinge in Albanien und Mazedonien. Solidarität müssen wir aber auch gegenüber den Ländern zeigen, die Flüchtlinge in großem Maße aufgenommen haben, wie Mazedonien und Albanien. ({2}) Das Schuldenmoratorium des Pariser Clubs für Albanien und Mazedonien ist deshalb ein erster Einstieg. Ich plädiere darüber hinaus dafür, Albanien und Mazedonien die sogenannten DDR-Altschulden zu erlassen. Diese Schulden, die die Entwicklungsländer nicht zurückzahlen können und die noch zu Buche stehen, sind entstanden, weil damals von seiten der DDR Kredite für Warenlieferungen vergeben worden sind. Der entsprechende Betrag ist angesichts dessen, was für andere Bereiche ausgegeben wird, nicht sehr hoch: Für Albanien betragen diese Schulden 13 Millionen DM und für Vizepräsidentin Petra Bläss Mazedonien 17 Millionen DM. Ich denke, es wäre ein Akt der Solidarität, auch diese Schulden zu erlassen. ({3}) Unsere Initiative - dafür bedanke ich mich an dieser Stelle ausdrücklich - baut auf der Arbeit vieler kirchennaher Organisationen und auf der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ auf, die ganz wichtige Anstöße gegeben haben und die wir im Rahmen unserer Initiative aufgreifen. Das heißt, wir entwickeln die sogenannte Weltbank/IWFInitiative zugunsten hochverschuldeter armer Länder weiter. Sie bietet aus unserer Sicht einen guten Rahmen, weil dabei alle Gläubiger, Weltbank, IWF, die entsprechenden Länder, die regionalen Entwicklungsbanken und die EU, beteiligt sind. Wir erwarten - das sage ich an dieser Stelle auch - von den im Londoner Club zusammengeschlossenen privaten Gläubigern, daß sie sich mit gleichgerichteten Maßnahmen anschließen. Auch darin muß unsere gemeinsame Anstrengung liegen. ({4}) Für unsere im Detail vorgelegten Vorschläge bedeutet dies, daß der Erlaß von Schulden aus der Entwicklungszusammenarbeit für die Bundesrepublik Deutschland aktuell für fünf Länder möglich wäre - unabhängig davon, was ich vorhin über Albanien und Mazedonien gesagt habe -: Bolivien, die Elfenbeinküste, Guyana, Nicaragua und Honduras. Wir wollen aber auch, daß die Schuldnerländer den gewonnenen finanziellen Spielraum für Vorhaben nutzen, die eine nachhaltige und auf Beseitigung von Armut und sozialer Ungerechtigkeit gerichtete Entwicklung fördern; denn damit könnte nicht nur der Bau von Grundschulen und von Basisgesundheitsstationen finanziert werden, sondern damit könnte auch ein Beitrag zur besseren Entwicklung und zu mehr Stabilität geleistet werden. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: In Nicaragua muß Schulgeld entrichtet werden, weil der Staat das Bildungssystem nicht allein finanzieren kann. Das gilt für viele Länder dieser Kategorie. Zusätzlich müssen die Familien selbst Bücher, Schuluniform und dergleichen bezahlen. Trotz staatlicher Schulpflicht können viele Kinder nicht die Schule besuchen. Mehr noch: Viele von ihnen müssen durch ihre Arbeit zum Lebensunterhalt der Familie beitragen oder leben als Straßenkinder, weil ihre Familien an der Armut zerbrochen sind. Als Analphabeten werden sie aber den Kreislauf der Armut niemals mehr durchbrechen können. Ich nenne Ihnen das Beispiel der Zwillinge Pedro und Miguel aus Santo Domingo in Nicaragua. Die beiden Jungen müssen in einer Ziegelei arbeiten. Selbst das Schulgeld können sie mit dem, was sie dort erarbeiten, nicht ausreichend finanzieren. Sie versuchen deshalb mühsam, sich das Lesen mit Hilfe alter Zeitungen beizubringen. Deshalb geht es jenseits der Zahlen, die die Fachleute diskutieren, bei unserer Entschuldungsinitiative darum, daß die Menschen in den betroffenen Ländern bessere Chancen für ihr Leben haben. Das sollten wir alle gemeinsam als unsere große Aufgabe verstehen und verwirklichen. ({5}) Schuldenerlaß allein ist sicherlich kein Allheilmittel für die vielschichtigen Probleme armer Entwicklungsländer; und Schuldenerlaß allein gibt sicherlich auch nicht die Möglichkeit, die Armut bis zum Jahre 2015 zu halbieren, wie es sich die OSZE-Staaten vorgenommen haben. Schuldenerleichterungen müssen in ein reformund entwicklungsstrategisches Gesamtkonzept eingebunden sein. Vor allen Dingen gilt es sicherzustellen, daß die Freiräume von den Ländern richtig genutzt werden. Ich sage an dieser Stelle ganz eindeutig: Der Fall Uganda, wo im letzten Frühjahr kurz nach umfassenden Schuldenerleichterungen eine deutliche Anhebung der Militärausgaben angekündigt wurde, darf sich auf keinen Fall wiederholen. ({6}) Deshalb muß bei den entsprechenden Schuldenerleichterungen jeweils durch Anpassungsprogramme sichergestellt werden, daß kein falscher Weg gewählt wird. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu, daß diese Orientierung von uns ausgegeben wird. Wir werden dabei auch auf eine stärkere Verantwortung von nachhaltiger Entwicklung und sozialer Ausgewogenheit in den Reformprogrammen von Weltbank und IWF achten. Nächste Woche tagt das Development Committee in Washington. Wir werden in diesem Sinne dort Stellung nehmen. Im übrigen wissen wir: Wir werden von James Wolfensohn und seiner Neuorientierung der Weltbank, die absolut in unsere Richtung geht, unterstützt. Wir dürfen bei den notwendigen Reformen aber nicht nur an die Partnerländer denken. Ob Entschuldung oder Krisenprävention - daß solche Maßnahmen notwendig sind, liegt immer auch ein Stück an uns. Ungehemmte Währungsspekulationen, Rüstungsexporte ({7}) und Handelshemmnisse eines Teils unserer Welt tragen zu den Problemen in den anderen Teilen der Welt bei. ({8}) Auch das ist Globalisierung und macht Reformen bei uns unerläßlich. Wir fordern von den Schuldnerländern eine Begrenzung der Militärausgaben. Dazu stehe ich; aber ich stehe auch dazu, daß wir als Industrieländer und wir als Bundesrepublik Deutschland eine sehr restriktive Waffen- und Rüstungsexportpolitik betreiben müssen. Beides gehört zusammen. ({9}) Natürlich gibt es immer kritische Stimmen. Ich kenne ja die Anträge, die heute vorliegen und die sagen, das alles gehe nicht weit genug und es gebe noch mehr Handlungsbedarf. ({10}) Ich kann das gut verstehen. Ich bitte Sie aber, zu verstehen, daß die Haushalte insgesamt begrenzt sind. Das gilt auch für die Weltbank, wo die Frage, wie die daran anschließende Kapitalaufstockung aussieht, und die damit verbundenen Konsequenzen diskutiert werden müssen. International hat die deutsche Initiative eine lebhafte Diskussion über das Entschuldungsthema ausgelöst. Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Frankreich und Kanada sind inzwischen mit eigenen Vorschlägen an die Öffentlichkeit gegangen. Ihre generellen Zielsetzungen entsprechen den unseren; alle setzen sich für eine schnellere und umfangreichere Schuldenerleichterung ein. Höchstens in der Frage des Ausmaßes der zusätzlich zu gewährleistenden Schuldenerleichterungen gibt es im Detail noch unterschiedliche Einschätzungen. In persönlichen Gesprächen haben mir - was ich sehr wichtig finde - sowohl James Wolfensohn als auch der geschäftsführende Direktor des Internationalen Währungsfonds, Michel Camdessus, gesagt, daß sie unsere Initiative im Grundsatz und in der Zielsetzung begrüßen und für richtig halten. Unser Anstoß hat dazu geführt, daß es jetzt - wie Camdessus gesagt hat - einen positiven „contest“ um die Zahlen gibt. Die amerikanische Seite hat ganz hohe Schuldenentlastungen genannt; alle Zahlen liegen auf dem Tisch. Letztlich geht es aber nicht darum, ob vorrangig das eine oder das andere Detail aus dem deutschen oder britischen Vorschlag oder anderen Vorschlägen zum Tragen kommt. Es geht darum, daß den Menschen in La Paz, Managua und Abidjan schnell geholfen wird. Darum müssen wir alle uns beim G-7-Gipfel kümmern. ({11}) Wir sind stolz darauf, daß wir als Bundesregierung das Startsignal für diese gemeinsame Sache gegeben haben. Was jedoch zum Schluß zählt, ist nicht die Ankündigung - das habe ich gerade bei Schuldenerlassen sehr genau gelernt -, sondern die reale Umsetzung. Deshalb wird es die Hauptaufgabe sein, dafür zu sorgen, daß die Zielvorstellungen in den nächsten Monaten konkret in entsprechende Verfahrensschritte umgesetzt werden. Nach dem G-7-Gipfel wird es dann bei der Herbsttagung von IWF und Weltbank darum gehen, das gemeinsame Paket der G 7 konkret vorzulegen und umzusetzen. Für unseren Beitrag für die Entwicklung und Zukunft von Millionen Menschen gibt es hohe internationale Anerkennung. Das ist schön. Das Allerwichtigste aber ist um bei dem Beispiel von vorhin zu bleiben -: Wenn Pedro und Miguel Schulbücher bekommen und die Schule besuchen können, dann ist es in ihrem Interesse und für ihre Zukunft. Es ist aber auch eine Investition in unsere gemeinsame Zukunft in einer Welt. Ich bedanke mich sehr herzlich. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich an dieser Stelle den Initiatoren der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ sehr nachhaltig dafür Dank sagen, daß sie mit dieser Initiative die Probleme der dritten Welt noch einmal deutlich ins Bewußtsein gerufen haben. Dabei haben sie insbesondere die Frage der Verschuldung unter die Lupe genommen. Dies ist eine besondere Frage, die uns hier beschäftigt. Aber gerade in einer Zeit, in der wir uns intensiv mit dem Kosovo beschäftigen, wird in diesem Zusammenhang vernachlässigt, daß das auch eine Frage der Konflikte und der sozialen Spannungen in der Welt ist. Albanien - das wissen selbst die wenigsten Leute in Deutschland und Europa - gehört zu den ärmsten Ländern dieser Erde. Albanien ist ärmer als manches afrikanische Entwicklungsland. Das macht deutlich, daß die Probleme im wahrsten Sinne des Wortes hautnah vor der Tür sind. Diese Initiative hat mit Sicherheit zur Schärfung des öffentlichen Bewußtseins beigetragen. Aber ich will nicht verhehlen, daß man sich doch über manche Nuancen wundern muß. Wenn laut Presseberichten der britische Finanzminister Gordon Brown allen Ernstes die These vertritt, die Schuldenlast sei der wichtigste Grund für Armut und Ungerechtigkeit auf dieser Erde und stelle eine der größten Gefahren für den Frieden dar, so muß man mit aller Vorsicht von Übertreibung reden. Niemand wird behaupten können, daß die Armut in vielen Entwicklungsländern mit der Verschuldung zu tun hat. Hat die Armut in Angola etwas damit zu tun, daß das Land über verhältnismäßig hohe Schulden verfügt, ({0}) während der Staatschef dos Santos ein privates Vermögenskonto hat, das auf 4 bis 5 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, ganz abgesehen von seiner Militärclique? Ich verweise auch auf das Beispiel Indien, das sich, was die Schuldenproblematik betrifft, in einer verhältnismäßig günstigen Situation befindet, in dem aber rund 450 bis 500 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Das ist die größte Zahl von Armen in einem Land der Welt. Am Beispiel Indien wird sehr deutlich, daß die Probleme der sozialen Ungerechtigkeit mit der Verschuldung überhaupt nichts zu tun haben, sondern damit, daß sich die Verantwortlichen in dem Land weigern, sich um die Probleme der Armen zu kümmern. ({1}) Die Forderungen sind zutreffend, daß eine schnelle und umfassende Schuldenentlastung für die hochverBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul schuldeten armen Länder dringend geboten ist. Die Frage lautet jedoch: Welches Land ist wirklich arm? Wir haben uns gestern im Ausschuß - davon darf man wohl berichten - mit der Problematik von Nigeria beschäftigt, einem Land, das auf dem Hintergrund der letzten 20 Jahre zu vorsichtigem Optimismus Anlaß gibt. Man hat auch darüber gesprochen, daß wir der neuen, einer demokratisch legitimierten Regierung gewisse Chancen für einen positiven Start einräumen sollten. Allein gegenüber Deutschland hat Nigeria eine Schuldenverpflichtung von rund 6 Milliarden DM. Die Frage eines Moratoriums ist sicherlich ernsthaft zu prüfen. Wir waren uns im Ausschuß über Fraktionsgrenzen hinweg einig, daß ein Land wie Nigeria kein klassischer Fall für Schuldenerlaß ist; denn es verfügt über natürliche Ressourcen, die das Land eigentlich in die Lage versetzen müßten, überhaupt ohne internationale Hilfe auszukommen. Ich habe mich sehr gefreut, Frau Ministerin, daß der Vertreter der Bundesregierung im Ausschuß die Unterstützung aller Anstrengungen durch die Bundesregierung zugesagt hat, die dazu beitragen, die in der Schweiz und im Libanon vermuteten Konten der bisherigen Machthaberclique aufzuspüren und die Gelder dem Lande wieder zuzuführen, um damit der Verpflichtung der Armutsbekämpfung nachzukommen. ({2}) Die bisherigen Entschuldungsmaßnahmen waren zu halbherzig, und die betroffenen Länder waren nicht auf den Weg einer wirtschaftlichen Gesundung gebracht. Es taucht immer die Forderung auf, wir müßten uns nüchtern ansehen, daß über die letzten Jahrzehnte hinweg eine ständige Verbesserung der Schuldenerleichterungsmaßnahmen der Gebernationen gegenüber den Entwicklungsländern auf den Weg gebracht worden ist. Auch hierzu können wir feststellen, daß es viele Länder gibt, die nicht ihrer eigenen Verpflichtung gegenüber einer Entschuldung und einer Reformpolitik in ihren Ländern nachgekommen sind. Auf diesem Hintergrund zeigt sich, daß Schuldenmaßnahmen nicht greifen, wenn die Länder keine entsprechenden Reformanstrengungen unternehmen. Die HIPC-Initiative, die Maßnahme für die am höchsten verschuldeten armen Länder, die nicht zuletzt auch auf deutsche Initiative hin zustande gekommen ist, ist nach Auffassung aller Experten ein probates Mittel, um Entschuldung zu ermöglichen. Die Anhörung des Ausschusses bestätigt diese These für den Fall, daß die Maßnahme großzügig und umfassend durchgeführt wird. Ich möchte dazu durchaus nüchtern anmerken: Die Bundesregierung schlägt vor, daß man die Entschuldungsmaßnahmen von sechs auf drei Jahre verkürzen sollte, wenn ein Land entsprechende Reformen auf den Weg gebracht hat. Ich kann aus ganz persönlicher Betrachtung der entsprechenden Länder nur feststellen, daß wir drei Jahre als nicht ausreichend betrachten müssen, um wirklich die Ernsthaftigkeit von Reformanstrengungen in einem Lande bewerten zu können. Die Ministerin selbst hat vorhin dankenswerterweise an dem vielgerühmten und als Vorbild dienenden Fall Uganda deutlich gemacht, daß die Machthaber dort, als sie kaum ein bißchen Geld übrig hatten, es gleich wieder in die Rüstung gesteckt haben. Wenn Uganda bei der Umschuldung höhere Auflagen hätte spüren müssen, dann hätte man mit Sicherheit eine solche Verwendung dieser Gelder bewirken können. ({3}) Wir bedauern, daß die Ministerin selbst zwar viel von Bedingungen gesprochen hat, daß aber in dem Antrag der Koalitionsfraktionen von Konditionalität, also von Vorbedingungen für Umschuldung, wenig zu lesen ist. Das müssen wir als einen schweren Mangel des Antrages der Koalitionsfraktionen bewerten. ({4}) Wir müssen deshalb ganz nüchtern darauf verweisen, daß es notwendig ist, auch auf Bedingungen zu achten. Übrigens, man hätte sich viel Mühe ersparen können, wenn man sich zur Grundlage der Diskussion den Artikel von Manfred Schäfers der „FAZ“ von gestern mit der Überschrift „Schulden und Entwicklung“ zu Gemüte geführt hätte. In diesem Artikel wird die gesamte Problematik deutlich gemacht. Ich darf aus einem Absatz dieses Artikels zitieren.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Können wir die vorziehen, oder wollen Sie gerne abschließen?

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die können wir selbstverständlich vorziehen, Frau Präsidentin. Ich habe schon einmal einem anderen Präsidenten gesagt: Werner Schuster darf bei mir immer eine Zwischenfrage stellen, denn er ist mein Freund. Werner, wenn du willst, bitte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dann erteilen wir dem Freund das Wort. Bitte.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär a. D., ich bedanke mich für diese Zuwendungsleistung. Sie werden sicherlich verstehen, daß wir als Antragsteller nicht in der Lage waren, zeitgerecht auf den „FAZ“Artikel von gestern zu reagieren, da unsere Vorbereitungen etwas früher abgeschlossen waren. Meine Frage an Sie lautet: Sie weisen, wie ich meine, in Ihrem Antrag zu Recht auf die Bedingungen in den Entwicklungsländern hin. Ist es aber umgekehrt ein Zufall, daß in Ihrem Antrag die Bereiche, die uns betreffen, zum Beispiel die Verantwortung von IMF und Weltbank, die Strukturanpassung und die Finanzkrisen, fehlen? Auf all das hat die Frau Ministerin hingewiesen. Darf ich vermuten, daß von Ihrer Seite auch in Zukunft vermehrt einäugig argumentiert wird? ({0})

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie können nicht davon ausgehen, daß wir das in Zukunft so machen werden. In diesem Zusammenhang kann ich nur darauf verweisen, daß gerade die Einbindung der internationalen Institutionen Bestandteil der in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebrachten HIPC-Initiative ist. Wir waren uns immer darüber einig, daß es unsinnig ist, die Schuldenproblematik immer nur bilateral anzugehen. Vielmehr haben wir die Auffassung vertreten, daß auch die internationalen Finanzorganisationen einen Beitrag zur Entschuldung der Entwicklungsländer leisten müssen. Ich glaube, da sind wir, Herr Kollege Schuster, nicht unterschiedlicher Meinung. Ich darf kurz aus dem Artikel von Schäfers zitieren: Wer kann sich da gegen einen Schuldenerlaß wenden? Doch es gibt auch kritische Töne. Sie kommen vor allem aus den Reihen der Banken und der Ökonomen. Sie sind aus guten Gründen gegen das Rasenmäher-Prinzip im Umgang mit der Dritten Welt. So ermöglicht eine allgemeine Entlastung schlecht wirtschaftenden Regierungen, ihre früheren Fehler und Versäumnisse fortzuführen. Dann würde aber nach der völligen Entschuldung nur ein neuer Verschuldungskreislauf in Gang gesetzt. ({0}) Der entscheidende Punkt ist, daß wir bei Entschuldungsmaßnahmen darauf achten müssen, daß die Bedingungen in den Ländern so ausgerichtet sind, daß Entschuldung wirklich den ärmeren Bevölkerungsschichten zugute kommt. Nur wenn das gewährleistet ist, wird eine Entschuldungsmaßnahme sinnvoll sein. ({1}) Sie haben am Beispiel Uganda - ich wiederhole mich hier - selbst demonstriert, daß die Maßnahmen nicht so gegriffen haben, wie wir das geglaubt haben. Deshalb ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel auf die Gegenwertfonds zu verweisen, mit denen wir angefangen haben, derartiges zu praktizieren. Das sind Fonds, in die die entschuldeten Länder einen Beitrag einzahlen, der dann für ganz bestimmte Zwecke verwendet wird. Bisher hat Deutschland mit seinen Fonds, durch die Eigenmittel und Mittel der Partnerländer für Bildungsmaßnahmen, für soziale Zwecke und Umweltzwecke zur Verfügung gestellt werden, positive Dinge erreicht. Wir können aber auch feststellen, daß sich die Regierungen unserer Partnerländer in zunehmendem Maße weigern, den Geberländern Einfluß auf die Verwendung dieser Mittel zu gewähren. Deshalb plädieren wir für Mechanismen, durch die Nichtregierungsorganisationen, Kirchen usw., in den Entwicklungsländern in stärkerem Maße ein Mitspracherecht bei der Verwendung dieser Mittel bekommen. Hier kann ich übrigens auf das Beispiel der Schweiz verweisen; die Organisation Justitia et Pax hat uns auf dieses Modell aufmerksam gemacht. Ich würde der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag raten, sich mit der Vorgehensweise in der Schweiz etwas intensiver auseinanderzusetzen. Ich glaube, das wäre eine gute Maßnahme. ({2}) Eine weitere These lautet: Entschuldung reicht nicht aus, wir werden auch in Zukunft auf große Finanztransfers in die Entwicklungsländer angewiesen sein. In der Tat ist es richtig - hier unterstützen wir die Ministerin und ihr Ministerium -, daß der Deutsche Bundestag auch seiner Verpflichtung für den Haushalt nachkommt und entsprechende Finanzmittel zur Verfügung stellt. Ich muß noch einmal - ohne aus der Haushaltsdebatte nachzukarten - darauf verweisen, daß der jetzige Haushalt des BMZ für das Jahr 1999 das nicht hergibt. Sollten der Finanzminister und der Haushaltsausschuß die Einsparmaßnahmen wahr machen, werden wir im wahrsten Sinne des Wortes deutlich unter den Haushaltsansätzen von 1998 liegen. Das bedeutet dann, daß das Stichwort der eben hier beschworenen Solidarität nicht ausreicht. Es wäre übrigens ein Armutszeugnis für die deutsche Politik, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der vielen privaten Spenden, die jetzt wieder für den Kosovo eingegangen sind und die Tag für Tag bei den Hilfsorganisationen eingehen, um den Menschen in der dritten Welt zu helfen, wenn sich die öffentliche Hand, hier vorrangig die Bundesrepublik Deutschland, ihrer Verpflichtung entziehen würde. Ich möchte aber auch noch auf ein anderes Problem hinweisen. Ein Großteil der Probleme, mit denen wir es zu tun haben, sind vorrangig aus der schlechten Regierungsführung unserer Partnerländer entstanden. Daß wir, sowohl die privaten Banken des Nordens als auch die internationale Gebergemeinschaft, bei so manchem Großprojekt und so mancher Regierung mit der Gewährung von Krediten zu großzügig waren, soll hier eingeräumt werden. Hoffentlich läßt sich das in der Zukunft vermeiden. Ganz entscheidend ist natürlich auch, daß die in den Entwicklungsländern Verantwortlichen - da geht es eben nicht nur um die Regierungen, sondern um alle, die an dem Entscheidungsprozeß in einem Land beteiligt sind - darauf achten müssen, daß die Reformanstrengungen wirklich vorangetrieben werden. Das ist eine ganz wichtige Maßnahme. Denn was nützt uns all das, was wir hier auf den Weg bringen, was wir den Entwicklungsländern, besonders den armen Entwicklungsländern, in einem fairen Angebot unterbreiten, wenn die Mittel, die durch Schuldenerleichterung frei werden, nicht für die Armen in der dritten Welt zur Verfügung gestellt werden? Deshalb müssen wir bei allen unseren Maßnahmen darauf achten: Schuldenerleichterung ist nicht Selbstzweck, sondern sie muß ein Beitrag zur Minderung der sozialen Ungerechtigkeit auf dieser Erde sein. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Heute morgen ist - in einer ganz anderen Debatte, nämlich zur NATO - an diesem Pult erwähnt worden, daß einige aus meiner Fraktion sowie auch einige aus der SPD-Fraktion und aus anderen Fraktionen früher auf der Straße gewesen seien, um gegen bestimmte Strategien der NATO zu protestieren und eine Veränderung zu erwirken. ({0}) Viele von uns waren aber auch in den letzten Jahrzehnten auf der Straße, etwa bei der IWF- und Weltbanktagung in Berlin, weil wir uns dagegen engagieren wollten, dagegen protestieren wollten und eine Veränderung der Politik erreichen wollten, die mit der hohen Verschuldung der Länder des Südens zu tun hatte, weil wir ein bißchen mehr Gerechtigkeit in der Weltwirtschaft und Entwicklungschancen auch für die Länder des Südens erreichen wollten, sozusagen durch Demonstrationen herbeizwingen wollten. Jetzt stehen wir hier und haben eine Regierung und eine Regierungskoalition, die die Entlastung der am meisten verschuldeten Länder des Südens von hohen Schulden in ihr Regierungsprogramm aufgenommen haben, eine Regierung, die eine Initiative dazu ergriffen hat, und ein Parlament, das drauf und dran ist, diese Regierung in diesem Bemühen zu unterstützen und ihr Hilfen auf dem Weg zum G-7-/G-8-Gipfel zu geben, weil es in der Tat weltpolitisch unerträglich ist, daß es Länder wie Nicaragua oder Ruanda gibt, um einmal zwei Länder in zwei verschiedenen Erdteilen zu nennen, die fünf Jahre lang ihre gesamten Exporteinnahmen ausgeben müßten, um ihre Schulden bei den Geberländern, den Industrieländern des Nordens, und den internationalen Organisationen zu bezahlen. Die Folge davon ist, daß diese Länder und deren Ökonomie derzeit faktisch keine Entwicklungschancen haben. Wenn sie überhaupt Kredite bedienen können, müssen sie dafür einen Großteil ihrer Einnahmen aus dem Export - wenn man das auf Deutschland umrechnet, wären das horrende Summen - aufbringen. Was viel schlimmer ist: Die Landwirtschaft, die gesamte Wirtschaft ist auf die Bedürfnisse der Schuldenbedienung auszurichten. Wir alle kennen Beispiele dafür, daß Länder in Afrika nicht mehr für die Versorgung bzw. die Ernährung ihrer Bevölkerung Landbau betreiben, sondern dazu, um billiges Mastfutter für Kühe, Kälber und Schweine in Deutschland und in der EU exportieren zu können. Wir wollen das ändern. Dazu soll unsere Initiative dienen, die zunächst für eine Reihe von sehr wenigen Ländern, für diejenigen, die am meisten verschuldet sind, gelten soll. Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, daß die Initiative der Bundesregierung unterstützt wird. Es geht nicht um milde Gaben oder um Mitleid. Es geht um erste Korrekturen hin zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung. Denn die Schulden der jeweiligen Länder sind - zum Beispiel durch Korruption oder Mißwirtschaft - nur zum Teil hausgemacht. Sie sind häufig auch Folge von nachkolonialen Kriegen, Bürgerkriegen und Versuchen, eine neue Ordnung in Afrika oder in Lateinamerika zu schaffen. Aber sie sind eben auch - die Ministerin hat völlig zu Recht darauf hingewiesen - zu einem ganz überwiegenden Teil - dies ist im Hinblick auf die einzelnen Länder unterschiedlich - Folge ungerechter Austauschverhältnisse und des Verfalls der Rohstoff- und Agrarpreise. Wenn heute zum Beispiel ein Pfund Kaffee in einem deutschen Supermarkt die Hälfte des Preises, der vor zwölf Jahren üblich war, kostet, bedeutet dies, daß der Kaffeepflücker in Nicaragua oder Guatemala doppelt so lange arbeiten muß, um seinen Reis oder sein Brot kaufen zu können. ({1}) Die Länder benötigen doppelt so hohe Einnahmen aus Exporten, um ihre Kredite bedienen zu können. Gemeinsam mit Initiativen wie zum Beispiel „Erlaßjahr 2000“ fordern wir deshalb für die ärmsten Länder eine faire Chance durch einen Erlaß der Schulden. Es ist zwar einfach zu sagen - das sage ich jetzt in Richtung PDS -: „Wir streichen alle Schulden“, aber nicht immer richtig. - Das gilt gerade auch für die Streichung aller Schulden aus Krediten der ehemaligen DDR. - Denn wir haben in einer diesbezüglichen Anhörung unter anderem erfahren - das konnte man auch schon vorher wissen -, daß eine Streichung der Schulden die bestehenden Probleme vieler Länder nicht löst, sondern möglicherweise nur verschiebt. Deshalb muß die Bundesrepublik Deutschland bereit sein, für eine Lösung zu kämpfen. Dabei muß darauf hingewiesen werden - das steht in unserem Antrag -, daß ein Erlaß der Schulden nicht nur den Oligarchien bzw. den Reichen in den jeweiligen Ländern zugute kommen darf. Es darf nicht dazu kommen, daß das Geld, das dann zur Verfügung steht, in die Rüstung bzw. in die Führung von Kriegen gesteckt wird. Uganda ist dafür nur ein Beispiel. Es gibt viele andere Länder in Afrika und auf anderen Kontinenten, wo wir ein solches Vorgehen feststellen können. Die freiwerdenden Mittel - so steht es in unserem Antrag - müssen im Sinne einer nachhaltigen, auf die Bekämpfung der Armut ausgerichteten Entwicklung eingesetzt werden. Das muß sichergestellt werden. Sie, Herr Kollege Hedrich, haben gerade sieben Bedingungen gestellt, unter anderem die, es müsse eine marktfreundliche Wirtschaftsordnung aufgebaut und praktiziert werden. Das kann man vielleicht wünschen. Auch darüber kann man sich streiten. Aber ob es richtig ist, dies zu einer Bedingung für eine faire Entwicklung zu machen, bezweifle ich. Man kann es auch übertreiben und kann die Länder mit einem Netz von Bedingungen überziehen, das einer freien, selbständigen und selbstbestimmten Entwicklung im Wege steht. Ich denke, das ist in Ihrem Antrag übertrieben. Der Schuldenerlaß soll helfen, eine demokratische Entwicklung in den Ländern zu fördern und eine nachhaltige Entwicklung für den Umweltschutz, für die Verbesserung der Situation der Armen und für die Bildung zu ermöglichen. Darüber sind wir uns im Ausschuß einig, und das ist gut so. Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den wichtigsten Gläubigerländern. Sie verfügt darüber hinaus mit ihrer ökonomischen Kraft über besonderen Einfluß in den internationalen Organisationen wie IWF und Weltbank. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der neuen Koalition - so ist es im Programm beider Koalitionsparteien ebenso wie in der Koalitionsvereinbarung, die Grundlage unserer gemeinsamen Regierungsarbeit ist, festgeschrieben -, einen wesentlichen Beitrag zu leisten und die Vorreiterrolle zu übernehmen, um endlich zu einer anderen Wirtschaftsordnung zu kommen und damit ein bißchen mehr soziale und ökonomische Gerechtigkeit weltweit herzustellen. Deshalb wünschen wir mit unserem Antrag der Bundesregierung viel Erfolg bei den Verhandlungen mit den G-7-/G-8-Staaten. Unser Antrag soll dazu dienen, sie auf dem Wege zu begleiten, zu unterstützen und ein wenig den Weg zu weisen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Entschuldungsfrage geht es seit langem nicht mehr um das Ob, sondern es geht darum, wer unter welchen Bedingungen entschuldet wird. Wenn Länder nicht in der Lage sind, die Zinsverpflichtungen zu bedienen oder gar zu tilgen, müssen die Ursachen erforscht und muß den Ländern geholfen werden, aus eigener Kraft die Fähigkeit zum Schuldendienst und zur Entwicklung des Landes zu erlangen. Dies entspricht auch unseren liberalen Forderungen nach der Förderung der Selbsthilfebereitschaft und der Selbsthilfefähigkeit der Partnerländer. Die in den 80er Jahren rasch angewachsene Auslandsverschuldung vieler Entwicklungsländer bleibt deshalb eine große Herausforderung auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet. Bei allem dringenden Handlungsbedarf muß jedoch positiv vermerkt werden, daß die Verschuldungskrise heute nicht mehr ein Problem ist, das die Staaten der sogenannten dritten Welt alle in gleicher Weise betrifft. Denn eine große Anzahl ehemals hochverschuldeter Entwickungsländer hat inzwischen ihre Schuldenprobleme unter Kontrolle oder zum Teil gelöst. Entscheidend hierfür war die wirksame internationale Zusammenarbeit von Gläubiger- und Schuldnerländern, von internationalen Organisationen und Banken, die dafür gesorgt hat, daß trotz der asiatischen Finanzkrise die Schuldenprobleme einzelner Länder nicht zu einer Krise des internationalen Finanzsystems wurden. Bei aller Notwendigkeit, die Verschuldungssituation insbesondere in den am höchsten verschuldeten Entwicklungsländern in den Griff zu bekommen, muß auch gesehen werden, daß die Verschuldung an sich kein Makel ist; denn jedes aufstrebende Unternehmen wäre schlecht beraten, wenn es in der Entwicklungsphase seines Unternehmens ohne Kreditaufnahme arbeiten würde. Auch die Auslandsverschuldung ist zur Sicherstellung des notwendigen Zustroms internationalen Kapitals ein normaler und ökonomisch sinnvoller Vorgang. Dies setzt jedoch voraus, daß mit diesem Geld tragfähige Investitionen getätigt und Produktivitätssteigerungen erwirtschaftet werden, durch die im Endeffekt der Schuldendienst bedient werden kann. ({0}) Die langjährigen Erfahrungen mit teilweise gescheiterten Ansätzen für eine wirtschaftlich und politisch vernünftige Strukturanpassungspolitik in vielen Entwicklungsländern haben gezeigt, daß dauerhaftes Wachstum nur auf der Grundlage einer marktorientierten Politik und durch Eigenanstrengungen der Schuldnerländer insgesamt erreicht werden kann. Schuldenerleichterungen ohne durchgreifende Reformprozesse in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Entwicklungsländer sind keine Grundlage zur dauerhaften Lösung der Finanzprobleme. ({1}) Ich begrüße es daher ausdrücklich, daß dieser zentrale Aspekt in dem vorliegenden Koalitionsantrag aufgegriffen wurde. Trotz der finanziellen Sonderbelastung infolge der deutschen Wiedervereinigung hat sich die frühere Bundesregierung mit Unterstützung unserer Fraktion nachträglich für eine umfassende Entlastung hochverschuldeter und armer Entwicklungsländer eingesetzt. Gegenüber den am wenigsten entwickelten Ländern hat Deutschland unter unserer Mitverantwortung Forderungen aus der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit von über 9 Milliarden DM erlassen. Darüber hinaus wurde im Rahmen multilateraler Umschuldungsvereinbarungen gegenüber Entwicklungsländern auch auf Forderungen aus Handelsgeschäften in einer Gesamthöhe von 3 Milliarden DM verzichtet. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist überdies der Auffassung, daß pauschale Schuldenerlasse auch unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten keine befriedigende Lösung bilden. ({2}) Die Erfahrungen aus vier Entwicklungsdekaden haben gezeigt, daß Ent- bzw. Umschuldungsmaßnahmen in der Regel nur dann einen wirkungsvollen Beitrag zur Erreichung des Zieles der nachhaltigen Entwicklung leisten können, wenn sie gleichzeitig mit wirtschaftlichen InHans-Christian Ströbele itiativen verbunden sind. Auch insofern stimmen wir mit dem Ansatz des Koalitionsantrages überein. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt die Forderung, das bestehende bilaterale und multilaterale Instrumentarium zur Erleichterung von Schulden besonders verschuldeter Entwicklungsländer weiterzuentwickeln und vor allem den Kreis der zugangsberechtigten Länder zu erweitern. Ferner gibt es immer auch aktuelle Situationen. Da ist zwischen Soforthilfe, Krediten und Schuldenerlaß stets ein Zusammenhang herstellbar. Nehmen wir als Beispiel die vom Wirbelsturm „Mitch“ betroffenen Länder, die durch diese Katastrophe in ihrer Entwicklung um viele Jahre zurückgeworfen wurden. Hier gibt es aus unserer Sicht keine Alternative zum Schuldenerlaß, zumal ein Land wie Honduras sowieso zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas zählt. Denken wir an die heute vom Kosovo-Elend, also an die von den Folgen der Flucht und Vertreibung betroffenen Anrainerstaaten Albanien und Mazedonien. Soweit das Thema Schuldenerlaß hier überhaupt ein zentrales Thema ist, muß es als Teil der Maßnahmen verstanden werden, die ergriffen werden, um die Folgen des Flüchtlingselends für die wirtschaftliche und sozialpolitische Entwicklung dieser Länder abzumildern oder sogar umzukehren. In Mazedonien geht es darum, dem Land trotz wachsender ethnischer Konflikte und extremer Belastungen der innenpolitischen Situation durch die Flüchtlinge zu helfen, einen eigenen marktwirtschaftlichen und demokratischen Entwicklungsweg zu konsolidieren. ({3}) Albanien - das wurde vorhin bereits gesagt -, nach wie vor das Armenhaus Europas, wo es zum Teil hoffnungsvolle Entwicklungsanstrengungen gibt, sollten wir angesichts der großen Hilfsbereitschaft darin unterstützen, die Lasten des Flüchtlingselends weiter zu mildern. ({4}) Bei der Entschuldung muß also für jedes Entwicklungsland im Hinblick auf seine spezifische Entwicklungssituation eine angemessene Antwort gefunden werden. ({5}) Ein genereller Schuldenerlaß ist nach wie vor nicht sinnvoll, ({6}) da dann die Gerechten und die Ungerechten gleichbehandelt werden. Gute Regierungsführung im Rahmen eines demokratischen und, Herr Kollege Ströbele, eines marktwirtschaftlichen Entwicklungsweges muß mit Kraft unterstützt werden. Der differenzierte Umgang mit dem Thema „Entschuldung“ muß gesichert werden. Unsere Fraktion hat sich bereits vor einem guten halben Jahr, gegen Ende der letzten Legislaturperiode, in einem Entschließungsantrag für die HIPC-Initiative ausgesprochen und dafür plädiert, das bestehende biund multilaterale Entschuldungsinstrumentarium behutsam fortzuentwickeln. Nach unserer Auffassung ist diese Initiative ein wesentlicher Schritt, um hochverschuldete arme Länder substantiell von ihren erdrückenden Schulden zu entlasten, damit sie ihre wirtschaftlichen Reformprogramme und auch die Maßnahmen zur Armutsbekämpfung auf den Weg bringen können. Diese Initiative fügt sich in den Rahmen der von uns mitgetragenen internationalen Schuldenstrategie ein, die die wirtschaftliche Reform der Schuldnerländer und eine Verbesserung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorsieht. Insofern begrüßen wir auch die in dem vorliegenden Antrag enthaltene Aufforderung an die Bundesregierung, sich für eine Verbesserung der volkswirtschaftlichen Effizienz der hochverschuldeten Länder einzusetzen und dafür zu sorgen, daß Handelshemmnisse abgebaut werden. Die im Koalitionsantrag geforderte Umwandlung von Altschulden in den sogenannten Gegenwertfonds, insbesondere beim zukünftigen Erlaß von Forderungen aus der ehemaligen DDR, ist zu begrüßen. Die frühere Bundesregierung hat mit Zustimmung unserer Fraktion bereits Schuldenumwandlungen von Forderungen gegen Umweltschutzmaßnahmen und Armutsbekämpfung in Höhe von 310 Millionen DM geleistet. Selbstverständlich sollte von diesem Instrument insbesondere bei den Ländern Gebrauch gemacht werden, die von Naturkatastrophen heimgesucht wurden. Ebenfalls im Gegensatz zum vorliegenden Antrag sind wir der Ansicht, daß zukünftig von dem Instrument nicht rückzahlbarer Zuschüsse grundsätzlich nicht mehr, sondern eher weniger Gebrauch gemacht werden sollte. Auch hier zeigt die Erfahrung, daß vernünftige Kreditkonditionen zu verantwortlichem Umgang mit den Mitteln und somit zu einer höheren Effizienz der entwicklungspolitischen Projekte führen. ({7}) Das gleiche gilt für die Vergabe von Darlehen der internationalen Finanzinstitutionen. Wir meinen, daß in begründeten Einzelfällen zwar erhebliche Konzessionen hinsichtlich der Marktkonditionen gemacht werden können, auf die Marktkonformität der Maßnahmen jedoch nicht völlig verzichtet werden sollte. Die Forderung nach einer stärkeren Einbindung des Privatsektors bei der Vorbeugung und Lösung internationaler Finanzkrisen hingegen verstehen wir als einen Anstoß, die von der F.D.P.-Bundestagsfraktion seit langem geforderte privatwirtschaftliche Komponente in der Entwicklungspolitik weiter zu fördern. Unter diesen erwähnten Vorbehalten und unter Zurückstellung von Bedenken in Einzelfragen stimmen wir dem Koalitionsantrag zu. ({8}) Joachim Günther ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Adelheid Tröscher.

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Günther, daß Sie unserem Antrag zustimmen, ist eine große Freude und eine frohe Botschaft für uns alle. Auf breiter Ebene ist allmählich die Erkenntnis gewachsen, daß wir diese Entschuldungsinitiative brauchen. Wir wissen alle, daß auf diesem Gebiet etwas erfolgen muß und daß diese Initiative Erfolg haben muß. Unter uns Entwicklungspolitikern gibt es natürlich Nuancen in den Auffassungen und Differenzen - das ist klar -, aber insgesamt ist der Keil der gemeinsamen Sicht, was die Entschuldung dieser ärmsten Länder anbelangt, recht breit. Die Entschuldungsinitiative muß Erfolg haben, denn seit dem Beginn der „Schuldenkrise“ hat sich an der Verschuldung vieler Staaten kaum etwas geändert. Für viele Entwicklungsländer hat sich die Situation allerdings noch verschärft. Dies führt dazu, daß die Entwicklungschancen vieler Länder durch die anhaltende öffentliche Verschuldung massiv beeinträchtigt sind. Anstatt zufließende Mittel in den Bereichen Armutsbekämpfung und Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen einsetzen zu können, werden diese Mittel hauptsächlich für die anstehenden Schuldendienste verwendet. Das erinnert mich an Familien, die sich so verschuldet haben, daß sie sich eigentlich gar nichts mehr leisten können und nur noch von Graupensuppe leben, damit sie die Schulden, die sie angehäuft haben, bezahlen können. Hier muß geholfen werden. Wir müssen Mittel für die Armutsbekämpfung haben. Wir müssen Mittel für die Grundbildung haben. Wir müssen Mittel für Umweltschutz- und Infrastrukturmaßnahmen sowie in ganz besonderem Maße für die Frauenförderung haben; denn letztere bleibt auf der Strecke, wenn wir diese Gelder anders nutzen können. Überschuldung ist zu einem der am meisten entwicklungshemmenden Probleme geworden. Selbst die Weltbank hat das längst begriffen und neue Initiativen gestartet. James Wolfensohn imponiert mir in diesem Punkte sehr. Ich hoffe nur, daß er es fertigbringt, die Weltbank insgesamt so zu reformieren, daß sie der Entwicklungspolitik auf lange Sicht dient und dies diesen Ländern zugute kommt. Der von der Weltbank eingeschlagene Weg, einen internationalen Fonds zur Entschuldung der multilateralen Forderungen zu schaffen, könnte wegweisend sein für die Entschuldung privater und bilateraler Forderungen. Die bisherigen Bemühungen von IWF und Weltbank gegenüber den hochverschuldeten armen Ländern sind kleine Schritte in die richtige Richtung. Dennoch sind beide auch weiterhin gefordert, innovative Maßnahmen zu ergreifen, um die Belastungen der armen Schuldnerländer auf ein tragbares Niveau zu reduzieren. Eine Aufrechterhaltung der vollen Finanzforderung ist nicht zu rechtfertigen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Menschen in den Entwicklungsländern ihre Chancen zu einer umfassenden Entwicklung nicht nehmen wollen, müssen wir jetzt neue Initiativen ergreifen und von unserer Seite aus zur Entschuldung dieser Länder beitragen. Die Ministerin hat einige Länder genannt, die zuerst von dieser Initiative erfaßt werden sollen. Manche haben schon Angst davor, daß jetzt alle Länder auf einen Schlag entschuldet werden sollen. Ich denke, wir werden uns das ganz genau überlegen und die Kriterien dahin gehend entsprechend anwenden, welche Länder an die Reihe kommen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der letzten Legislaturperiode Vorschläge zur Entschuldungsproblematik erarbeitet und in den Deutschen Bundestag eingebracht. Wir hatten seinerzeit die Vorschläge der Weltbank begrüßt, einen internationalen Fonds für die 40 ärmsten Länder einzurichten. Dieser Fonds sollte unseres Erachtens unverzüglich auf einer internationalen Schuldenkonferenz im Hinblick auf Umsetzung und Konzeption diskutiert und geprüft werden. Wir haben dazu auch eine Reihe von Fragen formuliert. Hierzu gehören etwa, gegenüber welchen Ländern der Fonds Entschuldungen durchführen könnte, welche Kriterien zugrunde gelegt werden sollten - es ist uns allen ja sehr wichtig, daß es einen Kriterienkatalog für Entschuldungsmaßnahmen gibt -, ob im Zuge von Entschuldungen Gegenwertfonds für entwicklungspolitische Maßnahmen in den betreffenden Ländern eingerichtet werden sollen - ich bin froh, daß diese Gegenwertfonds immer mehr auf die Zustimmung anderer Parteien treffen -, wie man sicherstellt, daß die Entschuldungsprogramme auch wirklich der breiten Bevölkerung zugute kommen und welche Anteile am Fonds durch Einlagen der internationalen Finanzinstitutionen, IWF und Weltbank vor allen Dingen, aber auch den regionalen Entwicklungsbanken selbst, durch einen Teilverkauf der IWF-Goldreserven, durch eine Erhöhung von Sonderziehungen und gegebenenfalls durch bilaterale Einlagen abgedeckt werden könnten. Hinzu kommt, daß es sinnvoll ist, in bestimmten Fällen der Entwicklungsfinanzierung diese nur noch in Form von Zuschüssen zu gewähren. Das wäre für die betreffenden Länder sicher sehr viel besser. Darüber hinaus sollten wir prüfen, wo es noch mehr Spielräume für Entschuldungsmaßnahmen gibt, vor allem dann, wenn der Schuldendienst armer Entwicklungsländer nicht ihrer Leistungsfähigkeit entspricht und deshalb Investitionen in Entwicklung verhindert. Auf deutsch: Mit neuen Krediten werden alte Schulden bezahlt. Das ist absurd. Dies kann nicht so weitergehen; dies müssen wir ändern. ({1}) Daher begrüße ich es außerordentlich - ich bin wirklich sehr froh darüber -, daß die neue Bundesregierung das aufgegriffen hat. Hier muß ich die Ministerin wirklich loben. Denn sie hat das von Anfang an zu ihrem Thema gemacht und das bis zu dieser Entschuldungs2848 initiative durchgezogen. Ich hoffe sehr, daß Sie damit Erfolg haben werden. ({2}) Hier geht es darum, daß die Menschen in den hochverschuldeten Ländern eine neue Chance für nachhaltiges Wachstum haben und Innovationen und eine sozial gerechte und ökologisch verträgliche Entwicklung eröffnet bekommen. Mit der Kölner Schuldeninitiative hat die Bundesregierung die Anregung der vielen entwicklungspolitisch engagierten Einzelpersonen und Organisationen in unserem Land, die sich seit Jahren für eine weitgehende Entschuldung der Entwicklungsländer einsetzen, aufgegriffen. Beispielhaft seien die zahlreichen Gruppen, Initiativen, NGOs, Kirchengemeinden und Entwicklungsorganisationen an dieser Stelle einmal erwähnt, die sich im Rahmen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ zusammengeschlossen haben. Ich finde, das ist eine einmalige Bürgerbewegung. Man sollte das wirklich auch einmal ganz deutlich sagen. ({3}) - Und sie loben; natürlich. Wir begrüßen deswegen die Vorschläge der Bundesregierung, die Vorlaufzeit für Schuldenerlasse im Rahmen der HIPC-Initiative für die ärmsten hochverschuldeten Länder zu verkürzen, den Ländern bis zum Jahr 2000 Klarheit über den Zeitpunkt des Schuldenerlasses zu verschaffen, die Leistungsfähigkeit bzw. das Entwicklungspotential jedes einzelnen von der Verschuldung betroffenen Staates stärker zu berücksichtigen, zu insgesamt abgestimmten Vorgehensweisen im Pariser Club zu kommen und den Außenwirtschaftssektor in den Entwicklungsländern durch Finanzierung von Beratungsprojekten in der Entwicklungszusammenarbeit zu stärken. Dazu gehören die NGOs, dazu gehören aber auch unsere staatlichen Einrichtungen. Ich frage mich, warum sie eigentlich vor Ort nicht wirklich gut zusammenarbeiten sollten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Initiative der Bundesregierung setzt die Bundesrepublik Deutschland ein Zeichen der Solidarität und der Partnerschaft. Das zeigt, daß wir uns zusammen mit unseren G-7Partnern und internationalen Finanzinstitutionen in Zeiten fortschreitender Globalisierung wirklich zusammentun können und uns für die Belange der hochverschuldeten ärmsten Entwicklungsländer einsetzen. Dazu gehört auch, daß die Schuldnerländer Maßnahmen hinsichtlich der Stärkung der Demokratie und der Partizipation, der Wahrung der Menschenrechte, von „good governance“ - und dazu gehört natürlich das leidige Thema Korruption - in all seinen Aspekten und der Rechtsstaatlichkeit ergreifen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Entwicklung braucht Entschuldung. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, begrüßen daher außerordentlich die Gipfelinitiative, die sich positiv auf die Lebenssituation von Millionen von Menschen in vielen Ländern auswirken kann und auswirken wird. Ich lade Sie, alle Fraktionen dieses Hauses, ein, dem Antrag der Koalitionsparteien zuzustimmen, damit die Entwicklungspolitiker wie so oft - warum nicht auch hier? - mit einer Stimme sprechen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen! Frau Ministerin! In Ihrer Koalitionsvereinbarung ist zu lesen: „Internationale Entschuldungsinitiativen für die ärmsten und höchstverschuldeten Länder werden unterstützt.“ Zumindest diesem einen Satz zur Entwicklungspolitik folgen mit der angekündigten Schuldeninitiative 1999 nun erste, wenn auch außerordentlich zaghafte Schritte. Das ist gut so, aber - das müssen Sie auch zugeben - das Versprechen war ja auch bescheiden und unkonkret genug. Selbst die jetzt eingeleiteten Schritte lassen strukturell wie quantitativ leider wenig Innovatives und Neues erkennen. Auch das muß, denke ich, gesagt werden. Statt dessen bewegen Sie sich in der Praxis - ich denke, das hat die Rede des Kollegen Hedrich deutlich gemacht im wesentlichen in der Logik und den Spielräumen der bisherigen Regierung. Und diese waren längst nicht hinreichend, gaben oft keine überzeugenden Antworten auf die Herausforderungen, mit denen wir auf Grund einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung, Armut und Krieg in weiten Teilen der Erde konfrontiert sind. Ein erster Schritt also, für den Sie sich nicht allzu dolle auf die Schulter klopfen sollten, gerade wenn wir uns vor Augen halten, daß er ohne den Druck der mittlerweile über 500 Organisationen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ sicher nicht zustande gekommen wäre. Denn es sind, wie so oft, die NGOs, die dafür gesorgt haben, daß ein Problembewußtsein überhaupt erst entstanden ist, daß Blockaden überwunden und von der Politik praktische Konsequenzen gezogen wurden. Aber genau diese Initiativen, meine Damen und Herren, sind es auch, die sich inzwischen sehr kritisch zur Kölner Schuldeninitiative geäußert haben, sowohl was den Umfang als auch was die politischen Eckwerte dieses Vorstoßes betrifft. In einer Erklärung von WEED heißt es etwa: Einen radikalen Plan für Schuldenerlasse stellt sie - also die Initiative ebensowenig dar, wie sie einen neuen Start für eine zukunftsfähige Entwicklung einleiten wird. Eine glaubwürdige Rolle als Vorreiter in der internationalen Schuldenpolitik kann die Bundesregierung nur dann für sich reklamieren, wenn sie konsequent ihre bilateralen Handlungsmöglichkeiten ausschöpft und sich für weitreichende Schuldenerlasse und strukturelle Reformen auf der multilateralen Ebene einsetzt. Sie wissen so gut wie ich: Insbesondere bilateral hätten mit dem Haushaltsentwurf 1999 deutlichere Zeichen gesetzt werden müssen. Ich nenne hier nur einige Stichpunkte: zum Beispiel den sofortigen und hundertprozentigen Erlaß für die ärmsten Staaten über die 80-Prozent-Quote des Pariser Clubs hinaus oder die konsequente Streichung der DDR-Schulden in Höhe von 5,5 Milliarden DM, deren Legitimität durchaus nicht nur von uns angezweifelt wird und die sich gegebenenfalls, etwa bei undemokratischen Regimen, zumindest in Gegenwertfonds mit einer sinnvollen Zielsetzung und Kontrolle umwandeln ließen. Darüber hinaus sind Schritte längst überfällig hinsichtlich einer konsequenten Reform der Kreditvergabe über Hermes-Bürgschaften mit Zielrichtung Transparenz und Nachhaltigkeit, also nach sozialen, entwicklungspolitischen und ökologischen Kriterien. Schließlich machen genau diese Kredite bekanntlich einen Löwenanteil der bilateralen Forderungen der Bundesrepublik aus. Und last, but not least ist längst überfällig, worauf auch der Kollege Hedrich hingewiesen hat: Dem Ziel, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für öffentliche Entwicklungshilfe einzusetzen, werden wir mit diesem Haushalt wahrscheinlich nicht näherkommen, sondern das befürchte ich - wir werden uns davon weiter entfernen. Damit werden auch die notwendigen Zuschüsse für hochverschuldete arme Länder in weite Ferne rücken. Eines nämlich muß klar sein: Entschuldung darf nicht auf Kosten des eh schon sehr beschränkten Etats der Entwicklungszusammenarbeit gehen. Sagen Sie mir nicht, daß das nicht zu bezahlen sei von einem Staat, dessen Verteidigungshaushalt milliardenschwer ist und der täglich Millionen Mark für einen irrsinnigen und perspektivlosen Krieg aus dem Fenster wirft! Wann, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition und natürlich auch von CDU/CSU und F.D.P. - das frage ich Sie ernsthaft -, hat die Bundesrepublik in ihrer Geschichte jemals soviel Geld für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, gegen Armut und Verelendung sowie zur Krisenprävention und Friedenssicherung eingesetzt wie für die Finanzierung der Bundeswehr und, wie in den letzten Jahren, für verschiedene internationale Militäreinsätze? Wenn ich nicht irre, hat allein die Bundesrepublik 16 Milliarden DM zur Finanzierung des Irak-Krieges beigesteuert; das macht rund zwei Haushalte des BMZ aus. Das muß man sich einmal vorstellen. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich will dennoch nicht bestreiten, daß Sie sich, wie Ihrem Antrag zu entnehmen ist, schon eines Teils der Kritik angenommen und versucht haben, diese im Forderungsteil zu verarbeiten. Es bleibt aber weiterhin unklar, in welchem Zeitraum damit begonnen werden soll. Wann, wenn nicht jetzt mit dem Haushalt 1999, soll mit ersten Schritten in Richtung Abbau bilateraler Schulden begonnen werden? Ich möchte noch einen weiteren Aspekt ansprechen, und zwar die Frage der Verantwortung für die hohe Schuldenlast, unter der viele Staaten leiden und die in der Regel von der dortigen Bevölkerung ausgebadet wird. Die hohe Schuldenlast liegt nämlich mitnichten allein bei den ärmsten und hochverschuldeten bzw. bei den am wenigsten entwickelten Staaten, wobei ich natürlich nicht die Verantwortung der häufig wiederum von den Industrienationen gestützten Eliten in diesen Ländern abstreiten will. Dennoch: Die Industriestaaten des Nordens mit ihrer kolonialen Vergangenheit und ihrer überwiegend gewinn- und eigennutzorientierten Gegenwart, die Geberländer und multilateralen Geberinstitutionen wie IWF und Weltbank tragen eine wesentliche Verantwortung für die Schuldenkrise, die nun schon seit Ende der 70er Jahre anhält. Dieser Verantwortung müssen sie sich endlich stellen und ihr im Sinne der Menschen dort gerecht werden. Das betrifft insbesondere Deutschland als einen der größten Geber und als Anteilseigner an den multilateralen Geberinstitutionen. Die in langwierigen und zähen Verhandlungen ausgehandelten Erleichterungen und Umschuldungen haben in der Vergangenheit nachweislich keinen Neuanfang für Länder wie zum Beispiel Nicaragua - mit inzwischen 29 Umschuldungsabkommen - oder für die afrikanischen Staaten gebracht. Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank haben die Schuldenspirale statt dessen weitergedreht und zum Teil sozioökonomische Abraumhalden zurückgelassen. Wer das heute noch leugnet, der fällt sogar hinter den zaghaften Lernprozeß zurück, den die Weltbank derzeit in der Entschuldungsfrage durchmacht, weshalb mit Blick auf den IWF eigentlich nur noch gesagt werden kann, daß seine sogenannten Strukturanpassungsprogramme schlichtweg abgeschafft gehören und statt dessen seitens der Geberländer und -institutionen endlich mit dem Aufbau eines fairen Insolvenzrechts begonnen werden muß. ({0}) Aber mit einer einmaligen Entschuldung allein - ich denke, da herrscht fraktionsübergreifend Einigkeit werden die meisten Länder nicht vom Tropf kommen. Zahlreiche Maßnahmen und Programme müssen diesen Prozeß flankieren. So zum Beispiel müssen Weltbank und IWF, das gesamte Instrumentarium sowie der Kriterienkatalog des Schuldenmanagements grundsätzlich reformiert werden, muß sich der IWF aus der Entwicklungszusammenarbeit zurückziehen, muß eine TobinTax eingeführt werden, tut eine internationale Bankenaufsicht not und muß der Handel mit risikoreichem Kapital unterbunden oder zumindest restriktiv flankiert werden. ({1}) Außerdem darf die Entwicklungspolitik nicht in dem Sinne zusätzlich konditioniert werden - dies ist vorhin angeklungen -, daß sie zu einem von den Reichen diktierten Korsett für die Armen wird. Das hätte mit einer Partnerschaft wenig zu tun. Diese, so denke ich, streben wir gemeinsam an. Letztendlich bedeutet all das nichts anderes, als daß die Bundesrepublik gemeinsam mit den anderen Industrienationen zukünftig endlich bereit sein muß, über schöne Worte und temporäre Betroffenheit hinaus wirkliche Schritte zur Herstellung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung zu unternehmen - nicht mehr und nicht weniger. Das heißt, die Ungleichgewichte sind aktiv abzubauen und die noch verbliebenen Strukturen dürfen nicht durch Druck zu wirtschaftlicher Liberalisierung und ökologischem und sozialem Standortwettbewerb zerschlagen werden. Im Gegenteil, der Schutz von regionalen und eigenständigen Wirtschaftskreisläufen und Entwicklungsansätzen in den Ländern des Südens und des Osten muß akzeptiert und ausgeweitet werden. Das sind Rahmenbedingungen, die in Ihrem Antrag leider deutlich zu kurz kommen. Den Teufelskreis der Unterentwicklung, zu dem die Überschuldung unstrittig gehört, werden wir aber nur so durchbrechen können. Danke. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.

Frank Hempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003145, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in Vorbereitung des G-7-Gipfels in Deutschland die Kölner Schuldeninitiative ergriffen. Ziel ist es, den ärmsten hochverschuldeten Entwicklungsländern durch zusätzliche Schuldenerleichterungen zu helfen. Die Fraktion der SPD begrüßt ausdrücklich diesen Schritt. Die Bundesregierung verbindet mit dieser Initiative die nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung in den ärmsten Entwicklungsländern. Viele entwicklungspolitisch engagierte Nichtregierungsorganisationen, Gruppen, Kirchen und Einzelpersonen haben sich im Rahmen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ zur Entschuldungsproblematik geäußert. Die Bundesregierung hat die Hinweise dankbar in ihrer Initiative aufgegriffen. Ihre Initiative richtet sich an arme Entwicklungsländer mit einer Schuldenlast, die so hoch ist, daß die zu zahlenden Zinsen und Tilgungen eine nachhaltige und auf die Beseitigung von Armut und Ungerechtigkeit gerichtete Entwicklung stark behindern. Die Überschuldung der armen Länder ist unter anderem eine Folge von ungewöhnlichen wirtschaftlichen Belastungen der Vergangenheit. Beispielhaft seien der Rückgang der Rohstoffpreise, hohe internationale Zinsen, aber auch die mangelnde Entwicklungsorientierung der Schuldnerregierungen genannt. Die unvorsichtigen Kreditvergabepolitiken öffentlicher und privater Gläubiger taten ihr übriges. Ein weiterer Aspekt der Überschuldung und ihrer Ursachen ist am Beispiel der Länder im südlichen Afrika bisher weitestgehend außer acht gelassen worden. Ich spreche von den sogenannten Apartheidschulden. Ich bitte, meine folgenden Ausführungen als Denkanstoß zu nehmen. Mir ist selbstverständlich bewußt, daß Südafrika selbst nicht für die HIPC-Initiative in Frage kommt, da es nicht zu den ärmsten Ländern gehört. Die Politik des Apartheidregimes hatte jedoch Auswirkungen auf die Nachbarstaaten. Was sind nun Apartheidschulden? Thabo Mbeki, designierter Nachfolger Nelson Mandelas in Südafrika, sagte: Das herrschende Apartheidregime bürdete dem Land eine beispiellose Schuldenlast auf, um durch deren Übernahme das Machtverhältnis während der Übergangsphase von der Apartheid zur Demokratie zugunsten der antidemokratischen Gruppierungen zu verschieben und die demokratische Bewegung zu schwächen. Von der internationalen Öffentlichkeit bislang kaum wahrgenommen, geht nach Meinung von Finanzexperten ein hoher Anteil der Verschuldung der Länder im südlichen Afrika auf das Konto des ehemaligen Apartheidsystems. ({0}) Damit beschränken sich die Apartheidschulden nicht nur auf Südafrika und seine unverantwortliche Schuldenpolitik. Jahrelang destabilisierte es die sogenannten Frontstaaten, die ein Opfer von Rebellenbewegungen wurden, wie zum Beispiel der Renamo in Mosambik und der Unita in Angola. Die Stellvertreterkriege wurden massiv von Südafrika unterstützt und verwüsteten die gesamte Region. Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen. Einer ganzen Generation wurde eine schulische Ausbildung vorenthalten. Aber auch Simbabwe, Sambia und Tansania waren Zielscheibe des Apartheidterrors und litten stark unter der von Südafrika verhängten Handelsblockade. Zwar gehören zu der 14köpfigen Staatengruppe der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas, SADC, mit Südafrika und Mauritius die reichsten und proportional am wenigsten verschuldeten Länder des Kontinents. Aber mit Angola, der Republik Kongo, mit Malavi, Mosambik, Sambia und Tansania gehören auch die ärmsten der hochverschuldeten Länder des Südens zu ihren Mitgliedern. Gewiß, Mißwirtschaft und Korruption sind auch Ursachen der Verschuldung in diesen Ländern. Das damalige Apartheidregime Südafrikas ist jedoch durch seine Destabilisierungspolitik mitverantwortlich zu machen. Bei der Frage der Entstehung von Schulden und Armut in der Region ist das auf alle Fälle zu berücksichtigen. Ich unterstütze ausdrücklich, daß beim Zugang zur HIPC-Initiative eine Erleichterung angestrebt wird. Die bisher geforderten sechs Jahre erfolgreicher Durchführung eines Strukturanpassungsprogramms sind zu lange und unakzeptabel. In den Anhörungen des Ausschusses ist darauf hingewiesen worden. Das Institut Südwind sei hier stellvertretend genannt. Eine Halbierung des Zeitraumes sollte angestrebt werden. Ich begrüße, daß die Bundesregierung dieses Problem erkannt hat und an einer Verkürzung arbeitet. Frau Ministerin hat dies in ihrer Rede bestätigt. Ich freue mich, daß die Bundesregierung grundsätzlich ihre Bereitschaft zum Erlaß der Ex-DDRForderungen erklärt hat. Dabei handelt es sich ja um einen Sonderfall der bilateralen Handelsschulden. Mosambik, aber auch Angola sind beispielsweise davon betroffen. Die Umwandlung der Ex-DDR-Forderungen in Gegenwertfonds für Vorhaben der Armutsbekämpfung oder der Stärkung der Demokratiebewegungen in den ärmsten Ländern ist ein wichtiger Ansatz. Gerade in Mosambik und Angola müssen wir dabei auf folgende Entwicklungsziele achten: daß es erstens zu einer Konsolidierung des Friedens- und des Versöhnungsprozesses kommt, daß zweitens die Demokratisierung der Gesellschaft und der Aufbau der Zivilgesellschaft vorangetrieben werden, daß drittens die ökonomische und soziale Reintegration von Flüchtlingen, Vertriebenen, demobilisierten Soldaten, Kriegsversehrten und kriegstraumatisierten Kindern erfolgt, daß viertens die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigt vorangetrieben wird und daß fünftens die Armutsbekämpfung im Auge behalten wird. Dies erfordert hohe Anstrengungen der in Frage kommenden Länder. Unsere Initiative verschafft ihnen mehr finanziellen Spielraum, um das anzupacken. Generell ist jedoch zu sagen, daß wir den Regierungen, denen wir eine Hilfe in Aussicht stellen, sehr genau auf die Finger schauen müssen. Wir erwarten selbstverständlich „good governance“ in all seinen Formen wie die Bekämpfung der Korruption sowie die Wahrung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Es ist auch nicht hinzunehmen, wenn Regierungen von Staaten, die zu den ärmsten Ländern Afrikas gehören, in Kampfhandlungen im Kongo involviert sind, was selbstverständlich auch für Angola gilt. Überproportionale Rüstungsausgaben sind dabei ebenfalls zu hinterfragen. Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, die Bundesregierung greift all diese Aspekte in ihrer Initiative auf. Es ist festzustellen, daß für die ärmsten verschuldeten Entwicklungsländer ein Weg aus ihrer Verschuldung hin zu einer nachhaltigen Entwicklung aufgezeigt wird. Die Initiative ist ein Schritt in die richtige Richtung, und ich bedanke mich ausdrücklich bei Ministerin Heidi Wieczorek-Zeul für ihr Engagement in der Sache. Statt wie in der Vergangenheit restriktiv geht die neue Bundesregierung die Problematik sehr konstruktiv an. Herzlichen Dank noch einmal an die Frau Ministerin sowie Dank an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ihnen, lieber Herr Kollege Hempel, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede im Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Ralf Brauksiepe.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bedrückend hohe Verschuldung vieler gerade auch sehr armer Entwicklungsländer gehört sicherlich zu den traurigsten Erfahrungen, die wir in der Entwicklungspolitik der letzten Jahrzehnte gemacht haben. Hier sollten wir gemeinsam nach Lösungswegen suchen. Ich erkenne deshalb ausdrücklich an, daß die rotgrüne Bundesregierung mit ihrer Entschuldungsinitiative für den G-8-Gipfel in Köln die Politik der früheren Bundesregierung konsequent fortsetzt und ihren Kurs der Entschuldungs- und Umschuldungspolitik weiter betreibt. Deshalb hat der Kollege Hedrich bereits für die CDU/CSU-Fraktion erklärt, daß wir an unserem grundsätzlichen Ja zu einer Politik der Schuldenerleichterung und des Schuldenerlasses gerade für die Ärmsten der Armen entschieden festhalten. Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hatte deswegen auch im Bereich des bi- und multilateralen Schuldenerlasses für die ärmsten Länder schon in den letzten Jahren dafür gesorgt, daß immerhin über 9 Milliarden DM an Schulden nicht zurückgezahlt werden müssen. Ich glaube, man muß das hier doch noch einmal in Erinnerung rufen, weil in manchen Reden von Vertretern der Regierungsfraktionen der Eindruck erweckt wurde, es fange mit der Entschuldung jetzt erst an. ({0}) Ich muß allerdings auch feststellen, daß Ihre Entschuldungsinitiative darüber hinaus eigentlich kaum neue Akzente enthält. Da, wo neue Akzente gesetzt werden, halte ich Zweifel an ihrer Sinnhaftigkeit für angebracht. Ich komme in diesem Zusammenhang auf die Vorstellung in Ihrer Initiative zurück, einen Schuldenerlaß für die ärmsten Entwicklungsländer grundsätzlich nicht mehr erst nach einer Frist von sechs Jahren, sondern bereits nach drei Jahren zu gewähren. Ich glaube nicht, daß man ernsthaft erwarten kann, daß bereits nach drei Jahren der Nachweis nachhaltiger Reformbemühungen erbracht ist. Das ist im übrigen kein Sonderproblem der Entwicklungsländer. Herr Kollege Schuster, Sie haben angemahnt, daß man nicht nur auf die Entwicklungsländer zeigen sollte. Ich will das gerne tun: Wir haben in den letzten Jahren in Deutschland eine Reihe von Reformen durchgeführt, von denen anerkannte internationale Organisationen wie die OECD gesagt haben: Genau diese Reformen gehen in die richtige Richtung. Wir müssen aber feststellen, daß Sie die Reformen, die die internationalen Organisationen für richtig halten, innerhalb von recht kurzer Zeit zurückgenommen haben. ({1}) Das heißt, wenn wir auf Kredite angewiesen wären, würde man uns ebenfalls sagen: Ihr habt im letzten halben Jahr Schritte unternommen, die eure internationale Kreditwürdigkeit erheblich herabsetzen. So ist die Lage. Man kann also sagen, daß drei Jahre keine allzu lange Zeit für Reformen sind. Diese Feststellung kann man auch bezüglich der eigenen Situation treffen. CDU und CSU hegen große Sympathie für die Initiativen nicht zuletzt kirchlicher Gruppen und anderer Nichtregierungsorganisationen, die sich unter dem Stichwort „Erlaßjahr 2000“ für einen Schuldenerlaß stark machen. Diese Initiativen leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Bewußtseinsbildung in unserem Land. Das Bewußtsein dafür, daß in der Frage der Überschuldung der Entwicklungsländer etwas getan werden muß, ist zweifellos unerläßlich. Ich finde es im übrigen schon bemerkenswert, wenn in diesem Zusammenhang von Misereor auch ein qualifizierter Schuldenerlaß in der Form gefordert wird, daß freiwerdendes Geld in Projekte für die Armen, zum Beispiel im Gesundheits- und Bildungsbereich, gesteckt werden soll. Diese Haltung ist nicht weit entfernt von unserer Vorstellung von Gegenwertfonds, mit denen Gelder in Entwicklungsländer in sinnvolle Projekte und Maßnahmen geleitet werden sollen. Es geht eben nicht um einen pauschalen Schuldenerlaß ohne Wenn und Aber, von dem allein gerade die Menschen in den Entwicklungsländern nichts hätten. Ob Sie von den Regierungsfraktionen nun die Forderungen der Kirchen und Nichtregierungsorganisationen wirklich in dem Maße aufgegriffen haben, wie Sie für sich in Anspruch nehmen, halte ich im übrigen für fragwürdig. Auf Grund vieler Gespräche mit Initiatoren und auf Grund ihrer eigenen offiziellen Publikationen weiß ich, daß sie Ihre Initiativen nicht für weitgehend genug halten. Ich halte diesen Standpunkt für menschlich verständlich und kritisiere deshalb Ihre Politik in diesem Punkt nicht. Sie haben jetzt in der Regierungsverantwortung - anders als früher - auch mit der Notwendigkeit zu tun, das Wünschenswerte mit dem in Einklang zu bringen, was auch sachgerecht ist. Bei der Frage, was sachgerecht ist, muß man sich sicherlich noch einmal vor Augen führen, was denn eigentlich die Ursachen der heutigen Verschuldensproblematik sind, worin die heutigen Probleme im wesentlichen liegen und welche Lösungsansätze man daraus ableiten kann. Wenn wir das in seriöser Weise tun wollen, dann können wir natürlich nicht so vorgehen, wie es Ihr Schweriner Koalitionspartner in seinem Antrag vorschlägt. Er erweckt in seinem Antrag den Eindruck, als hätte der Internationale Währungsfonds 1917 die Oktoberrevolution gewonnen und wäre deshalb für die russische Politik der letzten 80 Jahre und für die Rußlandkrise von heute verantwortlich. So einfach kann man es sich eben nicht machen. ({2}) Das mit Abstand meiste Geld haben wir im übrigen in den letzten Jahren für die Überwindung Ihrer Hinterlassenschaften ausgegeben und nicht für Kriege und Konflikte anderswo in der Welt. Das sei noch einmal in Erinnerung gerufen. ({3}) Der Ausgangspunkt der internationalen Verschuldungskrise war ja nun einmal die großzügige sowohl öffentliche als auch private Kreditvergabe an Entwicklungsländer insbesondere in den siebziger Jahren, als das Geld noch ein bißchen lockerer saß. Es ist ja kein Zufall, daß die Verschuldungsproblematik an Hand der Probleme Mexikos im Jahre 1982 öffentlichkeitswirksam wurde, das heißt an Hand der Verschuldungsprobleme eines Landes, das im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern noch relativ wohlhabend war und ist. Deswegen trifft ganz objektiv die Feststellung zu, daß Verschuldung nicht automatisch das größte Armutsproblem ist. Erst später nach ähnlich fortgeschrittenen lateinamerikanischen Schwellenländern gerieten auch ärmere Entwicklungsländer verstärkt in den Sog der internationalen Verschuldungskrise. Zunächst einmal waren diejenigen Länder besonders stark betroffen, die zuvor in die vergleichsweise glückliche Lage gekommen waren, überhaupt als kreditwürdig angesehen zu werden und insofern in der Entwicklung schon relativ weit fortgeschritten zu sein. Das Problem ist doch gewesen, daß das erhaltene Geld schlecht angelegt worden ist, daß es in einer ineffizienten Verwaltung versickert ist, daß es infolge von Korruption und Vetternwirtschaft veruntreut oder in Prestigeobjekten versandet ist, daß es Opfer einer dirigistischen Politik des Staates geworden ist, der sich viel zu stark in die Wirtschaft zum Nachteil der Menschen eingemischt hat, und daß - auch das gehört zur Wahrheit das Geld auf Grund vielfach noch kolonialbedingter, für die Entwicklungsländer ungünstiger Handelsstrukturen nicht die erforderliche und erwünschte Wirkung erzielen konnte. Das Zusammenspiel einer undifferenzierten großzügigen Kreditvergabe mit dem ineffizienten Mitteleinsatz hat also zu der Verschuldung beigetragen. Das ist der objektive Befund. Es kann nicht um Schuldzuweisung an irgendeine Seite gehen. ({4}) Was sind denn die heutigen Hauptprobleme der verschuldeten Länder? Das Problem ist doch nicht, daß die Schulden einfach zurückbezahlt werden müssen. Wenn das so wäre, dann wären Verschuldungskrisen zumindest vorübergehend recht schnell beendet, sobald ein Land seine Zahlungsunfähigkeit erklären würde. Dann wäre der Handlungsbedarf gar nicht so groß, den man zur Bekämpfung dieser Schuldenkrise hätte. Aber das Problem ist ja nicht nur, daß das Geld zurückgezahlt werden muß. Vielmehr ergibt sich als Konsequenz aus dem ineffizienten Einsatz der erhaltenen Kredite das Problem, daß diesen Ländern heute neues Geld fehlt Geld, das sie dringend brauchen, um neue entwicklungsfördernde Maßnahmen finanzieren zu können. Deshalb warne ich in diesem Zusammenhang vor übertriebenen Hoffnungen in die Wirkungen des von Ihnen angesprochenen Internationalen Insolvenzrechts. Ich verspreche mir davon nicht allzuviel. Denn letztlich würde ein solches Insolvenzrecht bzw. seine Inanspruchnahme erst einmal voraussetzen, daß das jeweilige Land seine Zahlungsunfähigkeit erklärt. Wenn Sie für öffentliche und gerade für private Gläubiger Anreize setzen wollen, neues Geld zu geben, dann müssen Sie, so glaube ich, davon ausgehen, daß das ähnlich wie im privaten Leben und im privaten Insolvenzrecht abläuft: Wenn Sie erst einmal erklären, daß Sie die alten Schulden nicht zurückzahlen können, dann ist das nicht die beste Voraussetzung, um an neues Geld zu kommen. Unabdingbar für die notwendige Vertrauensbildung zur Vergabe weiterer Kredite und nicht rückzahlbarer Zuschüsse ist deshalb der Nachweis ernsthafter und nachhaltiger Reformanstrengungen in den Entwicklungsländern selbst. An dieser Voraussetzung, die wir in unserem Antrag klar formuliert haben, führt im Rahmen von Schuldenerleichterung und Schuldenerlaß für die ärmsten Länder kein Weg vorbei. ({5}) Wir, CDU und CSU, sprechen uns darüber hinaus dafür aus, bei der Schuldenerleichterung multilateral vorzugehen. Die frühere Bundesregierung hat dazu bereits dankenswerte Initiativen ergriffen. Denn ansonsten liefen wir Gefahr, nur den berühmten Tropfen auf den heißen Stein bereitzustellen. Wenn wir den Nachweis ernsthafter und nachhaltiger Reformanstrengungen verlangen, dann bedeutet das konsequenterweise, daß wir zu Einzelfallentscheidungen über Schuldenerleichterung und Schuldenerlaß kommen müssen - je nachdem, ob wir den Nachweis als erbracht erachten oder nicht. Wenn ich in Ihrem Antrag aber lese, daß Sie umfassende Eigenanstrengungen der Schuldnerländer und ein mit den internationalen Finanzinstitutionen abgestimmtes Programm fordern, dann ist mein Eindruck, daß wir in diesem Punkt in der Tat nicht weit auseinander sind. Ich stelle mit großem Interesse fest - der Kollege Günther hat es schon angesprochen -, daß mittlerweile auch Sie sich die notwendige Liberalisierung des Welthandels auf die Fahnen schreiben und verlangen, daß Handelshemmnisse im Sinne der ärmsten Entwicklungsländer verringert werden. Wenn ich an die entwicklungspolitischen Diskussionen der vergangenen Jahre denke, dann erinnere ich mich, das von Vertretern Ihrer Parteien auch schon ganz anders gehört zu haben. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie dringend warnen: Wenn Sie von der notwendigen Liberalisierung sprechen, dann holen Sie bitte nicht undifferenziert die Keule der angeblich oder tatsächlich fehlenden ökologischen und sozialen Standards heraus. Über diese Standards haben wir in Anhörungen im Ausschuß ja schon diskutiert. Häufig kann ein Entwicklungsland nun einmal eine bestimmte Zeit lang unsere ökologischen und sozialen Standards noch nicht erfüllen. Ich warne deshalb dringend davor, sich bequem zurückzulegen und wie das häufig diskutiert wird - zu sagen, wir können unsere Märkte in Deutschland und in Europa weiter dichthalten, weil andere unsere Ansprüche an Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und vieles andere mehr noch nicht erfüllen. Das kann eben nicht die Lösung der Probleme sein. ({6}) Ein wesentlicher Lösungsbeitrag liegt sicherlich auch darin - diese Einschätzung teilen wir mit Ihnen -, daß wir gemeinsam Druck dahin gehend ausüben müssen, daß der rückläufige Trend öffentlicher Entwicklungsfinanzierung in den OECD-Staaten gestoppt wird. Das ist wahr, und so kann Ihr Antrag sicherlich abschließend behandelt werden. Sie können uns als CDU und CSU zu Ihren Unterstützern zählen - Herr Kollege Hedrich hat Ihnen bereits dieses Angebot gemacht -, wenn Sie nach dem erfolglosen Versuch der letzten Monate erneut den Versuch unternehmen, den BMZ-Etat entsprechend zu steigern. Wir wollen Ihnen dabei helfen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Für die Bundesregierung spricht nun die Staatssekretärin Dr. Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die heutige Debatte ist für all diejenigen, die sich seit Jahrzehnten entwicklungspolitisch engagieren, ein kleiner Triumph, Herr Kollege Schuster, und Grund zur Freude. Ich verhehle nicht meine ganz persönliche Genugtuung darüber, die ich mit alten Weggefährten aus Oppositionszeiten, wie der gesamten Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, den Aktivisten der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ oder einigen Kolleginnen und Kollegen auf dieser Seite des Hauses, teile. Herr Brauksiepe, daß Sie sich jetzt auf die Gruppen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ beziehen, freut mich sehr. Es freut mich auch, daß mit Ihnen und dem Kollegen Weiß endlich einmal CDU-Kollegen in das Haus eingezogen sind, die sich diesen kirchlichen Gruppen nahe fühlen. ({0}) Mit der Kölner Schuldeninitiative hat die neue Regierung den dringend notwendigen Kurswechsel vollzogen. Damit wird ein Versprechen eingelöst, das meine Fraktion und die Fraktion der SPD im Koalitionsvertrag gegeben haben. Der Grundsatz unserer gemeinsamen Politik lautet: Internationale Entschuldungsinitiativen für die ärmsten und höchstverschuldeten Länder werden unterstützt. Genau das tun wir. Wir lösen eine Bremse, die die alte Regierung in der internationalen Schuldenpolitik viel zu lange fest angezogen hatte. Herr Kollege Hedrich, da hilft auch jegliche nachträgliche Beschönigung nichts. Es ist hinlänglich bekannt, daß sich die alte Regierung regelmäßig für restriktive Lösungen eingesetzt hat. Ich verkenne nicht, daß unter den Vorgängerregierungen bereits Schulden im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit erlassen wurden. Seit 1979 waren es rund 9 Milliarden DM. Auch möchte ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Verdienste des verstorbenen ehemaligen Entwicklungsministers Hans Klein würdigen. Hinsichtlich der multilateralen Schulden, die die ärmsten Länder zum Beispiel bei IWF, Weltbank oder Regionalbanken haben, bewegte sich die alte Regierung jedoch keinen Millimeter, und dies, obwohl sie doch selbst 1995 im Konzert der G 7-Staaten IWF und Weltbank beauftragt hatte, ein umfassendes Konzept zur Lösung der multilateralen Schuldenprobleme der ärmsten und am höchsten verschuldeten Länder vorzulegen. 1997 betrug die Schuldenlast der ärmsten Länder allein rund 200 Milliarden US-Dollar. Wer könnte bestreiten, daß die zu zahlenden Zins- und Tilgungsleistungen eine wirtschaftlich effiziente, ökologisch verträgliche und sozial gerechte Entwicklung behindern? In einem Land wie Mosambik liegt der Schuldenstand um 500 Prozent über den Exporteinnahmen. In Tansania ist die Verschuldung so hoch, daß jeder Mann, jede Frau und jedes Kind mit einer Summe verschuldet ist, die ihrem Gesamteinkommen von zweieinhalb Jahren entspricht. Herr Kollege Hedrich, Sie haben Angola als Beispiel angeführt. Ich meine, da haben Sie haarscharf danebengegriffen; denn Angola erfüllt überhaupt nicht die reformerischen Voraussetzungen und wird sich für die HIPC-Initiative nicht qualifizieren. UNDP schätzt, daß staatliche Finanzmittel, die heute in die Schuldenrückzahlung fließen, ausreichten, um allein in Afrika 21 Millionen Kindern das Leben zu retten und über 90 Millionen Mädchen und Frauen eine Grundbildung zu sichern. Nachhaltigkeit bedeutet Zukunftssicherung für jetzige und kommende Generationen in gemeinsamer Verantwortung, insbesondere auch in der internationalen Schuldenpolitik. Die rotgrüne Regierung stellt sich dieser Verantwortung trotz der prekären Finanzlage und der Haushaltslöcher, die die alte Regierung hinterlassen hat, damit die Politik der Gläubiger in Zukunft Entwicklung fördert und nicht verhindert. Die multilateralen Schulden sind die drückendste Last für die betroffenen Länder; denn zum einen liegt ihr Anteil an den langfristigen Gesamtschulden mittlerweile bei 37 Prozent, und zum anderen müssen diese Schulden bevorzugt behandelt werden. Der Bundesrepublik Deutschland kommt zur Lösung dieses Problems eine besondere Bedeutung zu, gehören wir doch zu den wichtigsten Anteilseignern bei IWF und Weltbank. ({1}) Die Bundesregierung ist allerdings keinesfalls so vermessen, vom Kölner Weltwirtschaftsgipfel eine radikale Lösung des Schuldenproblems zu erwarten. Aber: Mit unserer Schuldeninitiative gehen wir einen Schritt in die richtige Richtung; denn sie zielt darauf ab, die HIPC-Initiative, die Entschuldung der ärmsten und hochverschuldeten Länder, auszuweiten und zu beschleunigen. Ich verschweige nicht, daß sie mir an der einen oder anderen Stelle nicht weit genug geht. Nach dem Weltwirtschaftsgipfel werden wir uns intensiv mit den Fragen des internationalen Insolvenzrechtes - das wurde hier schon angesprochen -, mit dem schrittweisen Erlaß der Schulden der ehemaligen DDR - mit dem Vorschlag der Ministerin in bezug auf Albanien haben wir schon den ersten Schritt getan -, mit der Reform der Strukturanpassungsmaßnahmen und mit den staatlichen Exportbürgschaften beschäftigen müssen. Ich möchte aber auch all jene warnen, die glauben, man könne mit einem vollständigen Schuldenerlaß die Probleme der Dritten Welt auf einen Schlag lösen. Schuldenerlaß ist ein Beitrag zur Bekämpfung der Armut. Ich glaube, darin sind wir alle hier uns einig. Aber damit dieses Ziel erreicht werden kann, nämlich die Bekämpfung der Armut, muß der Schuldenerlaß in eine Entwicklungsstrategie und in Reformmaßnahmen eingebettet sein. Diese müssen ein menschenwürdiges Leben, gesellschaftliche Pluralität und technologische Innovationen sowie nachhaltiges breitenwirksames Wirtschaftswachstum fördern. Das bedeutet: Die betroffenen Länder müssen zum Beispiel Vetternwirtschaft und Korruption bekämpfen, nationale Finanzinstitutionen reformieren und sie von klientilistischen und politischen Einflüssen lösen, die Menschenrechte respektieren und die Teilhabe der Bevölkerung an Entscheidungen sichern. Eine solche Politik werden wir im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit fördern. Ihnen, Herr Kollege Hedrich, sei zum Schluß noch gesagt: Wir tun dies mit einem Haushalt, der über dem Plafond von 1998 liegt. Dies möchte ich zum Schluß noch einmal betonen, weil Sie vorhin etwas anderes behauptet haben. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention gebe ich nun dem Abgeordneten Hedrich das Wort.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Um Ihre letzte Bemerkung aufzugreifen: Der Haushalt 1999 liegt unter dem Ist des Haushaltes 1998. Daran ändert auch die Intervention der Kollegin Eid nichts. ({0}) - Ich habe nur den Sachverhalt genannt, mehr nicht. Es ging nicht um diese Frage, sondern um die Initiative für die am höchsten verschuldeten armen Länder, also um die sogenannte HIPC-Initiative. Dazu kann man nur feststellen: Die Bundesregierung, der Bundeskanzler und übrigens auch der damalige Arbeits- und Sozialminister, hat auf dem Kopenhagener Gipfel 1995 als erste Regierung darauf hingewiesen, es gehe nicht mehr, daß die Entschuldung nur auf bilateraler Ebene erfolge; vielmehr müßten sich die internationalen Finanzorganisationen ebenfalls an diesen Maßnahmen beteiligen. Darauf wollte ich zur Klarstellung aufmerksam machen. Die Kollegin Eid hat übrigens nicht völlig unrecht, wenn sie darauf verweist, daß insbesondere das Finanzministerium sehr restriktiv verfahren ist. Das Ministerium hatte zum Teil aber auch nicht unrecht. In der HIPCInitiative hatten wir uns auf bestimmte Länder verständigt, die als erste angegangen werden sollten. Dann haben unsere französischen Freunde zum Beispiel durchgesetzt, daß ein Land wie Elfenbeinküste nachgeschoben wurde, von dem man nur sagen kann, daß das dortige korrupte Regime Geld verschwendet und die Umwelt schädigt. Wir sollen auch noch die schlechte Politik dieses Landes mit Entschuldungsmaßnahmen finanzieren. Aber auch wenn Länder die Kriterien erfüllten, mußte man feststellen, daß die Vorsorge der internationalen Gemeinschaft nicht verhindern konnte, daß diese Länder ihre freigewordenen Finanzmittel falsch verwendeten. Ich komme zum dritten Mal auf das Beispiel der Ministerin zu sprechen: Ein Land wie Uganda hat die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft bekommen. Als Dank dafür kauft man dort mehr Waffen und interveniert beim Bürgerkrieg im Kongo. Wenn wir so etwas nicht verhindern, dann ist all das, was wir hier gemeinsam diskutiert haben, für die Katz. Darauf wollte ich noch einmal hingewiesen haben. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dagmar Schmidt.

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002780, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit Entschuldung Entwicklung fördern und Entwicklung möglich machen, das wollen wir alle mit Entwicklungspolitik erreichen. Wie können aber die Schuldenerlasse für die ärmsten Länder auf bestwirksame Weise wirklich den Armen zugute kommen? Welche Perspektiven haben hochverschuldete Länder ohne die Streichung von Forderungen? Wir diskutieren heute die Entschuldungsinitiative, die die Bundesregierung auf dem Gipfel in Köln vorschlagen wird und die genau diese Fragen anpackt. Insofern stellt sie einen Meilenstein in der deutschen Entwicklungspolitik dar. Es werden neue Akzente gesetzt. ({0}) Spät, aber hoffentlich nicht zu spät reagieren wir endlich auf die derzeitige Verschuldungskrise, die nun schon 17 Jahre andauert. Endlich begreift eine Bundesregierung, daß die Verschuldungsproblematik uns alle angeht. Die Schuldenfalle ist der Grund für die Nichtentwicklung zahlreicher Länder. Es muß auch gesehen werden, daß sie das Potential für eine drohende internationale Finanzkrise enthält. Wir handeln also nicht nur gönnerhaft, sondern auch im wohlverstandenen Eigeninteresse. Es sind daher neue, zusätzliche Initiativen notwendig, und da es sich vorrangig um ein Problem der multilateralen Institute handelt, sollte von diesen auch die Initiative ausgehen. Dieser Satz meines ehemaligen CDU-Kollegen Feilcke stammt aus der entwicklungspolitischen Debatte vom Februar 1996. ({1}) Weil das schon so lange her ist - immerhin drei Jahre -, möchte ich den Satz wiederholen: Es sind daher neue, zusätzliche Initiativen notwendig, und da es sich vorrangig um ein Problem der multilateralen Institute handelt, sollte von diesen auch die Initiative ausgehen. ({2}) Warum habe ich gerade diesen Satz herausgegriffen? Der aktuelle CDU/CSU-Antrag spricht sich für eine konsequente Fortsetzung der bisherigen Entschuldungsund Umschuldungspolitik aus. ({3}) Für mich hieße das, in alten Bremsspuren weiter bremsen. ({4}) Seit 1996 ist nichts weiter passiert. Ich erinnere an Ihre Position im EU-Ministerrat. Es konnte ja auch nichts passieren angesichts der Grundeinstellung der alten Regierung. Die Sachlage sahen und sehen wir anders. Bei uns folgen Taten. Zwei Pflöcke sind eingeschlagen, der eine von den Kirchen und NGOs durch ihre Kampagne „Erlaßjahr 2000“ - diese bemerkenswerte Initiative hat für eine breite Akzeptanz künftiger Schuldenerlasse in der Bevölkerung gesorgt; wir sind den Initiatoren dafür sehr dankbar - und der andere durch die Kölner Schuldeninitiative der Bundesregierung. Auf dem Gipfel werden nicht nur wirtschafts- und finanzpolitische Themen isoliert behandelt, sondern endlich Aufgaben und Instrumente der Finanzpolitik mit denen der Entwicklungspolitik verzahnt. Die Leinwand zwischen den beiden Pflöcken bildet der Antrag von SPD und Grünen. Hier wird ausführlich projiziert, daß in der Schuldeninitiative der Impuls für erstens nachhaltiges Wachstum, zweitens Innovation und drittens eine sozial gerechte und ökologisch verträgliche Entwicklung der ärmsten Länder liegt. Wir sind uns natürlich darüber im klaren, daß dieser Impuls allein nicht reicht. Wir brauchen flankierende entwicklungspolitische Maßnahmen. Wir brauchen ein nicht nur staatliches Problembewußtsein für Verschuldung in der Entwicklungsarbeit. Hier sind auch die privaten Gläubiger gefordert, verantwortungsbewußter mit ihren Schuldnern umzugehen. Gerade um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, müssen erstens Mittel gewissenhafter vergeben werden, zweitens Kriterien einer nachhaltigen Entwicklung stärker berücksichtigt werden und darf es drittens keine Risikoabsicherung ohne ökologische, soziale und entwicklungspolitische Auflagen mehr geben, denn damit heizen wir Verschuldung nur noch mehr an. Unsere Regierung will auch mit den Instrumenten der Außenwirtschaftsförderung die Finanzierung von entwicklungspolitischen Projekten fördern. Wir müssen nach meiner Auffassung aber verhindern, daß sich Trittbrettfahrer an die verschuldeten Länder heranmachen und sie erneut zu Ausgaben veranlassen, die absolut nichts mit entwicklungspolitischen Maßnahmen und mit Armutsbekämpfung zu tun haben. ({5}) Aber auch Korruption, teilweise in Verbindung mit Hermes-Absicherung, trägt nicht selten zu einer unnötigen Verschuldung bei. Manche Entwicklungsprojekte wären ohne Bestechungsgelder nie realisiert worden, so der Flughafen in Kamerun. Hätte das BMZ bei den Hermes-Krediten von seinem Vetorecht Gebrauch machen können, hätte das Land 700 Millionen DM weniger Schulden gemacht. ({6}) Das entspricht der in fünf Jahren geleisteten Entwicklungshilfe für dieses Land. Wir sind nicht die Oberlehrer der Welt, die den Ländern Vorschriften machen. Allerdings müssen sich die Länder auf die Bekämpfung von sozialen Ungerechtigkeiten, Armut und Umweltproblemen und auf die Beachtung demokratischer Grundsätze einlassen. Auflagen - da stimmen wir wohl alle überein - müssen sein. Längst nicht alle Partner sehen in der Armutsbekämpfung ein vorrangiges Ziel. In der Initiative liegt jetzt eine große Chance, nämlich den HIPC-Ländern wieder Luft zum Atmen für innerstaatliche Gestaltung und damit zur Armutsbekämpfung zu geben. ({7}) Nun noch ein paar Worte zu DDR-Altschulden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, das ist leider nicht mehr möglich. Sie müssen jetzt zum Schluß kommen.

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002780, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich weiß, daß Sie etwas zuviel Text hatten. Das habe ich gesehen. ({0})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002780, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hinter dem § 24 des Einigungsvertrages kann man sich wunderbar mit einer Fundamentalablehnungshaltung verstecken. Man kann aber auch politisch handeln und Schuldenerlasse oder -erleichterungen bedenken. Das müssen wir in diesem Fall tun. Wir dürfen nicht die Möglichkeiten, die sich hier eröffnen, pauschal in den Wind schreiben. Ich appelliere an alle ängstlichen Buchhalterseelen: Legen Sie Vor- und Nachteile auf die Waage, und kommen Sie zu dem Schluß: Entwicklung braucht Entschuldung. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu einer Entschuldungsinitiative anläßlich des Weltwirtschaftsgipfels der G-7-/G-8-Staaten in Köln; Drucksache 14/794. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der F.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen worden. ({0}) Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Entschuldung armer Entwicklungsländer; Drucksache 14/785. Wer stimmt dafür? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Enthaltung der F.D.P. gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Umfassender Schuldenerlaß für einen Neuanfang“; das ist die Drucksache 14/800. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., Bündnis 90/ Die Grünen und SPD gegen die Stimmen der PDS ab- gelehnt worden. Ich rufe die Zusatzpunkte 7a und 7b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Edzard SchmidtJortzig, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schutzes parlamentarischer Beratungen - Drucksache 14/183 Dagmar Schmidt ({1}) Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2}) Innenausschuß Rechtsausschuß b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Sabine Jünger, Petra Pau, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Bannmeilenregelung - Drucksache 14/516 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({3}) Innenausschuß Rechtsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktionen der F.D.P. und der PDS jeweils fünf Minuten erhalten sollen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Fraktion legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf zum Schutz der parlamentarischen Beratungen auch in Berlin vor. Damit bringen wir als erste Fraktion einen konstruktiven Vorschlag für eine Erneuerung, Verbesserung und Liberalisierung der sogenannten Bannmeilenregelung ein. Eine gänzliche Abschaffung einer solchen Regelung zum Schutze der parlamentarischen Beratungen, wie sie von den Grünen und der PDS gefordert wird, kommt allerdings für die F.D.P. nicht in Frage. ({0}) Sie hat sich in Bonn als notwendig erwiesen. Ich erinnere nur an die Demonstrationen anläßlich der Verabschiedung der Änderungen des Asylrechts oder im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses vor 18 Jahren. Das hat doch gezeigt, daß wir auch in Berlin eine solche Regelung brauchen. Die Beratungen des Parlaments müssen weiter unbeeinträchtigt von gewalttätigen Ausschreitungen möglich sein. Ein demokratischer Rechtsstaat muß die freie Willensbildung des Parlaments sichern. Die Parlamentarier müssen - quasi ohne Druck der Straße - frei beraten und entscheiden können. ({1}) Ziel des F.D.P.-Gesetzentwurfes ist der Schutz des Parlaments und seiner Beratungen und damit der der demokratischen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Es geht nicht darum, Bürger aus dem Umfeld der Abgeordneten zu verbannen, wie es der Name dieses Gesetzes fälschlicherweise zum Ausdruck bringt. Deswegen soll der Begriff „Bannmeile“ nicht mehr verwendet werden. Es geht auch nicht um Objektschutz, bei dem unabhängig vom Einzel fall oder einer tatsächlichen Beeinträchtigung der Parlamentsarbeit Demonstrationen grundsätzlich ausgeschlossen wären. Bei dem F.D.P.Entwurf geht es vielmehr um einen Funktionsschutz. Das heißt, er ermöglicht eine flexible Handhabung - je nachdem, ob die einzelnen Demonstrationen das Parlament bei seiner Arbeit wirklich behindern oder nicht. ({2}) Der Entwurf trägt im übrigen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung. Demonstrationen in dem geschützten Bereich bedürfen einer Zulassung. Sie erfolgt durch das Bundestagspräsidium - nicht durch den Präsidenten und auch nicht, wie bisher, durch den Bundesinnenminister. Dadurch ist gesichert, daß ein gewisser Konsens vorhanden sein muß, damit eine solche Entscheidung erfolgen kann. Die Zulassung soll ausgesprochen werden, wenn eine Beeinträchtigung der parlamentarischen Beratungen nicht zu befürchten ist, und zwar insbesondere in sitzungsfreien Zeiten. Denn dann gibt es eigentlich nichts zu schützen. Es geht ja nicht um den Schutz der Gebäude. Bisher waren Demonstrationen innerhalb der Bannmeile grundsätzlich verboten. Die Zulassung von Ausnahmen lag im Ermessen des Bundesinnenministers. Aus dem bisherigen Straftatbestand der Bannmeilenverletzung wird eine Ordnungswidrigkeit, um damit der Polizei nach dem sogenannten Opportunitätsprinzip die Möglichkeit zu differenziertem Eingreifen zu geben. ({3}) Die Aufforderung zur Verletzung der Bannmeile bleibt weiterhin strafbar. ({4}) Der Umfang des befriedeten Bezirks orientiert sich unmittelbar an den Ratschlägen der Polizei, in diesem Falle also denen der Berliner Polizei. Er ist auf den Schutzzweck des Gesetzes zugeschnitten und berücksichtigt die Möglichkeiten der Polizei, diesen Schutz auch wirklich zu gewährleisten. Die polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten nach allgemeinem Versammlungsrecht und Maßnahmen des Objektschutzes bleiben natürlich von diesem Gesetzentwurf unberührt. Der Gesetzentwurf befaßt sich nur mit dem Schutz des Bundestages. Ob und inwieweit der Bundesrat einen Schutz seiner Arbeits- und Funktionsfähigkeit in Berlin für erforderlich hält, sollte seiner eigenen Entscheidung überlassen bleiben. Gegebenenfalls könnte in den parlamentarischen Beratungen eine solche Regelung aufgenommen werden. Das gleiche sollte für das Bundesverfassungsgericht gelten. Darüber müssen wir uns einigen. Dazu müßte es Gespräche mit dem Bundesrat geben. Die F.D.P. ist der Auffassung, daß der Schutz der parlamentarischen Tätigkeit in Berlin in größtmöglichem Einvernehmen behandelt werden sollte. Der Gesetzentwurf bietet eine Grundlage für konstruktive Gespräche mit allen Fraktionen in diesem Hause. Deswegen hoffe ich, daß wir in dieser Frage einen Konsens erzielen werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Abschließend bleibt mir, einen Dank an unseren früheren Kollegen und Bundestagsvizepräsidenten Burkhard Hirsch auszusprechen, ({5}) der diesen Gesetzentwurf im Auftrag des damaligen Präsidiums im wesentlichen schon in der letzten Legislaturperiode erarbeitet hatte. ({6}) Meine Bitte: Behandeln Sie diesen Gesetzentwurf mit dem Ziel, eine einvernehmliche Lösung des gesamten Hauses zustande zu bringen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Dieter Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich dem Dank an den Kollegen Hirsch anschließen, der diesen Gesetzentwurf in der Tat ganz maßgeblich in der letzten Legislaturperiode mitgeprägt hat. Der Gesetzentwurf, Herr Solms, den Sie eingebracht haben, ist ein gutes Beispiel dafür, daß die Opposition sehr wohl Einfluß auf die Gesetzgebung haben kann, wenn sie vernünftige Vorschläge macht. ({0}) - Ich bitte das als den Versuch einer humorvollen ironischen Bemerkung zu diesem Gesetzentwurf, den ich öffentlich immer als eine brauchbare und ernstzunehmende Gesprächsgrundlage bezeichnet habe, zu verstehen. Dieser anerkennenswerte Gesetzentwurf ist für uns Herr Solms, ich weiß nicht, ob Sie das wissen - der Auslöser geworden, uns hinzusetzen und uns diesen Gesetzentwurf vorzunehmen, um ihn noch ein bißchen zu verbessern. Ich will hervorheben, was an dem Gesetzentwurf positiv und gut ist. Es ist gut, daß wir die Rechtslage insoweit verändern, als in dem Entwurf der F.D.P. ein geschützter Bezirk erfaßt wird, der sich räumlich auf das Notwendige erstreckt, auf nicht mehr. Beispielsweise fehlt der Schutz des Bundeskanzleramts. Die Bannmeile oder der befriedete Bezirk schützt das Parlament in seiner Funktionsfähigkeit und nicht das wichtige Bundeskanzleramt oder andere Ministerien. Darauf wollen wir uns auch beschränken. In dem Gesetzentwurf, den wir auf der Grundlage Ihres Gesetzentwurfs, Herr Solms, vorlegen werden, bleibt es bei der räumlichen Erstreckung, die Sie gewählt haben. Sie ist sorgfältig bedacht worden, sie ist gut. Wir haben nur eine kleine Feinabstimmung in einem Straßenbereich vorgenommen, ansonsten ist die Erstreckung so, daß wir einen Konsens erzielen werden. Wir werden ihn sogar mit Herrn Ströbele erzielen, der sich noch überlegt, ob auch er dem Gesetzentwurf eines Tages zustimmen wird. Ich glaube, wir haben eine gute Chance, daß wir eine breite Mehrheit für den Entwurf bekommen. Ich würde mir sehr wünschen, Herr Solms - es geht hierbei nun wirklich nicht um irgendeine Prestigeangelegenheit -, daß wir, wenn es um Angelegenheiten des gesamten Parlaments geht, im Parlament breite Mehrheiten finden. Das gilt für Statusfragen der Abgeordneten, Herr Solms, und für Diäten. Das gilt aber auch für parlamentsrechtliche Regelungen wie beispielsweise für eine Regelung der Bannmeile oder eines befriedeten Bezirks. Ich glaube, daß wir bei der Bannmeile einen breiten Konsens finden werden. Ich will aber, weil wir auch ein wenig fachlich diskutieren sollten, gleich auf ein, zwei Punkte hinweisen, an denen ich meine, daß das, was wir, die Bündnisgrünen und die SPD, in einem Entwurf, der inzwischen durch unsere Arbeitsgruppen gelaufen ist, der die Fraktionen noch durchlaufen muß, den Sie in den nächsten Tagen bekommen werden und zu dessen Diskussion wir Sie einladen werden - wir werden gemeinsam darüber reden müssen - an Veränderungen vorgenommen haben, überzeugender ist. Ausnahmegenehmigungen für Demonstrationen, für Versammlungen innerhalb der Bannmeile sollte nicht der Parlamentspräsident, sondern wie bislang der Innenminister im Einvernehmen mit dem Präsidium erteilen; denn es ist nicht gut, wenn wir den Bundestagspräsidenten zu einem Streitgegner vor einem Verwaltungsgericht machen. Ihre Fraktion hat vor einiger Zeit eine solche Situation erleben müssen: Da hat eine Partei in einem anderen Rechtsbereich, nämlich bei der Parteienfinanzierung, legitimerweise den Bundestagspräsidenten verklagt. In eine solche Situation möchte ich das Präsidium nicht bringen. Die Sicherheitsbehörde ist das Innenministerium. Die Belange des Bundestages werden durch eine Einvernehmensregelung sichergestellt. Ich glaube, das ist die richtige Regelung. Sie gilt derzeit und hat sich bewährt; wir sollten sie nicht ändern. Herr Solms, wir werden Sie und Herrn Schmidt-Jortzig überzeugen, daß die derzeitige Regelung die bessere ist - bei aller Wertschätzung für Ihren, wie ich finde, ansonsten sehr gelungenen Entwurf. Zum zeitlichen Erstreckungsbereich: Ich finde es sehr wichtig, daß die Bannmeile nur dann gilt - das ist in Ihrem wie auch in unserem Entwurf vorgesehen; das ist wichtig -, wenn das Parlament tagt, also nicht in der sitzungsfreien Zeit. Im übrigen sollte man das Ganze relativ entspannt und gelassen diskutieren. Der Reichstag, der Deutsche Bundestag, das Gebäude Reichstag wird das meistbesuchte Gebäude Deutschlands werden, übrigens mit Recht. Das Haus unserer Demokratie soll ein Magnet, ein Anziehungspunkt sein, so wie das jetzt beim Tag der offenen Tür der Fall war. Nur wenn Parlamentsberatungen stattfinden, soll der engere Bereich um das Parlament herum demonstrationsfrei sein, damit das Parlament seine Entscheidungen in völliger Freiheit treffen kann. Damit haben wir hier in Bonn gute Erfahrungen gemacht. Wir sollten einige gute Erfahrungen aus Bonn mit nach Berlin nehmen. Ich räume ein - deswegen bin ich auch dafür, das Thema niedriger zu hängen -: Es gibt innerhalb und außerhalb Deutschlands demokratische Parlamente, die ohne eine Bannmeilenregelung auskommen; das will ich hier freimütig anerkennen. Ich glaube aber, daß die Bannmeilenregelung hier in Bonn stilbildend gewesen ist. Man sollte die Sinnhaftigkeit einer solchen Regelung im übrigen nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Verletzung, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Achtung diskutieren. Ich weiß von Hunderten von Demonstrationen, die hier in Bonn am Rande der Bannmeile stattgefunden haben, ohne daß diese durch die Polizei verteidigt werden mußte. Die Leute haben akzeptiert, daß man überall in Bonn demonstrieren kann, auch in Parlamentsnähe, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze und nur zu einer bestimmten Zeit. Man darf eben nicht demonstrieren, wenn das Parlament hier tagt. Im übrigen ist der Deutsche Bundestag ein publikumsoffener Bereich. Er hat gerne Bürger als Zuhörer, Zuschauer und Gäste. Nur in ganz bestimmten Bereichen soll nicht demonstriert werden. Was viele Menschen nicht wissen: Auch in der Bonner Bannmeile werden Demonstrationen genehmigt, nämlich wenn die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht beeinträchtigt wird. Das wird auch in Berlin so sein. Wir wollen eine Regelung über einen befriedeten Bezirk in Berlin, die die Funktionsfähigkeit des Parlaments gewährleistet und gleichzeitig grundrechtsfreundlich ist. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist ein zentrales, konstitutives Grundrecht unserer Demokratie. Deswegen sollte es sich in einer Regelung über einen befriedeten Bezirk wiederfinden. Wir haben die erste Sitzung in Berlin ohne Bannmeilenregelung abgehalten. Jedoch war der engere Bereich um den Reichstag an diesem Tag interessanterweise abgeschirmt. Ob das so ganz richtig war, weiß ich nicht. Die Frage stelle ich in den Raum. Ich habe dazu keine abgeschlossene Meinung. Ich weiß nicht, ob das vorauseilender Gehorsam gegenüber dem Gesetzgeber war, der noch gar nicht gesprochen hat. Es gab eine Abschirmung, ohne daß eine Bannmeilenregelung vorhanden gewesen wäre. Man hat sich offenbar des Versammlungsrechtes bedient. Alles in allem will ich das aber nicht kritisieren. Wir sind ja alle miteinander sehr beeindruckt von der Eröffnung des Bundestages im Reichstagsgebäude - ein schönes Gebäude, das noch nie so schön war wie in der Gestalt, die es jetzt gefunden hat. Es hat sehr viel Zuspruch durch die Öffentlichkeit erfahren. Wir werden Ihnen, Herr Solms, anbieten, im Juni mit diesem Gesetzgebungsverfahren zu Rande zu kommen und es dann auch zu beenden. Herr Hörster, die letzten Sätze gehen an Ihre Adresse. Denn das, was an die F.D.P. gerichtet ist, gilt natürlich auch für die größte Oppositionspartei, die CDU/CSU. Es wäre schön, wenn wir uns auch mit Ihnen auf eine vernünftige Regelung einigen könnten. Ich sichere Ihnen ausdrücklich zu, daß die Gespräche Verhandlungen sind und nicht etwa ein Diktat. Wir werden um eine vernünftige Regelung ringen. Ich bitte, zu berücksichtigen, daß die Regelung, die in Berlin gelten wird, im wesentlichen dem entsprechen wird, was wir in Bonn erfolgreich und vernünftig gestaltet haben. Insofern handelt es sich nur um eine verfassungskonforme Weiterentwicklung, moderat und vernünftig. Ich hoffe, daß eine solche Regelung einerseits dem Parlament dient, andererseits aber nicht ausschließt, daß in der Nähe des Parlamentes das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit natürlich auch in Zukunft gilt. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr SchmidtJortzig hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet. Bitte.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Ich möchte die sehr sachliche Argumentation des Kollegen Wiefelspütz in einem Punkt aufgreifen und erläutern, welche Überlegung hinter unserem Vorschlag steht, für die Entscheidung über eine Ausnahmegenehmigung den Bundestag in Gestalt seines Präsidiums vorzuschlagen. Der Ansatz, daß es sich nicht um einen starren Objektschutz handelt - aus rein ordnungs- und sicherheitspolitischen Aspekten heraus -, sondern daß wir lediglich differenzierten Schutz der Funktion „parlamentarische Beratung“ bieten wollen, ist neu. Für uns sind zwei Erwägungen, die miteinander verwandt sind, bedeutsam dafür gewesen, das Präsidium als entscheidende Stelle vorzuschlagen. Erstens. Was die parlamentarische Funktion - die Funktion „Beratung in einem demokratischen Staat“ schädigt, stört oder eben nicht stört, kann am besten das Parlament selbst entscheiden. Damit verwandt ist zweitens der Aspekt der Autonomie: Wenn es um Parlamentsangelegenheiten geht, sollte sich das Parlament in allem Selbstbewußtsein dazu bekennen, die Entscheidung selbst auf sich zu nehmen, auch wenn das unter Umständen strittige Entscheidungen verlangt. Das steht dahinter. Aber wir werden dazu noch im einzelnen ins Gespräch kommen. Ich freue mich, daß Sie ausdrücklich Gesprächsbereitschaft signalisieren. Vielen Dank. ({0})

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Schmidt-Jortzig, an dieser Frage wird die Einigung sicherlich nicht scheitern. Wenn ich es aber richtig wahrgenommen habe, ist auch das gegenwärtige Präsidium mit deutlicher Mehrheit dafür, daß es diese Entscheidung nicht alleine zu treffen hat, sondern das die Entscheidung wie in der Vergangenheit eher beim Innenminister liegt, daß aber Einvernehmen mit dem Präsidium hergestellt werden muß, so daß das letzte Wort in dieser Angelegenheit immer der Bundestag hat. Aber wir werden das diskutieren. Ich will eine kleine Ergänzung machen: Inzwischen hat es Gespräche mit Bundesrat und Bundesverfassungsgericht gegeben. Informell gibt es auch eine Einigung. Selbstverständlich haben wir den Wünschen des Verfassungsorgans Bundesverfassungsgericht und des Verfassungsorgans Bundesrat Rechnung zu tragen. Die Einigung ist schon erzielt, so daß wir das alles mit einbinden könnten. Wir sollten dies in breiter Mehrheit gemeinsam regeln und auf diese Weise signalisieren, daß wir dann, wenn es um das Parlament geht, einen breiten Konsens erarbeiten und sicherstellen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Hörster.

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum Sinn und Zweck eines Gesetzes zum Schutze der parlamentarischen Beratungen ist von dem Kollegen Solms und von dem Kollegen Wiefelspütz eigentlich alles vorgetragen worden, so daß ich diese hehren Erwägungen und Grundsätze nicht zu wiederholen brauche. Ich kann mich dem, was gesagt wurde, insoweit nahtlos anschließen. Auch ich halte den Gesetzentwurf, den die F.D.P. zu dieser Frage hier eingebracht hat, trotz der Federführung des Kollegen Hirsch für durchaus diskussions- und erwägenswert. ({0}) Gleichwohl will ich folgendes sagen, weil bei anderen Beratungsgegenständen, die uns zu diesem Tagesordnungspunkt vorliegen, anders angedeutet worden ist: Ein solcher Gesetzentwurf verfolgt ja nicht das Ziel, der politischen Diskussion oder dem politischen Streit aus dem Wege zu gehen. Vielmehr hat ein Gesetz zum Schutze der parlamentarischen Beratungen lediglich den Zweck, daß darauf geachtet wird, daß das Parlament den notwendigen tatsächlichen und - wenn man so will körperlichen Freiraum hat, den es braucht, um seine Beratungen ungestört durchzuführen. Wenn man sich die Ergebnisse der umfangreichen Anhörung, die der Geschäftsordnungsausschuß im Jahre 1993 auf Grund eines Gesetzentwurfes der damaligen Gruppe Bündnis 90/Die Grünen zur Abschaffung der Bannmeile durchgeführt hat, anschaut, dann wird man finden, daß dies dort geradezu bestätigt wird. Es geht nicht um die Abschaffung der politischen Kultur; es geht nicht um die Verhinderung von politischen Auseinandersetzungen, sondern schlicht und einfach darum, dem Parlament einen ungestörten Freiraum für seine nach der Verfassung gebotenen Entscheidungen zu ermöglichen. Ich will einige Anmerkungen unter praktischen und rechtlichen Gesichtspunkten machen, von denen ich meine, daß wir sie miteinander erörtern müssen. Denn ich glaube schon, daß es sinnvoll wäre, wenn die demokratischen Kräfte in diesem Haus in dieser Frage zu einem Konsens kämen. Das würde ich für unglaublich wichtig halten. Als erste möchte ich die Frage der räumlichen Abgrenzung des Bezirks nennen. Das sehe ich ziemlich emotionslos, und ich nehme an, daß das in meiner Fraktion genauso sein wird. Die Frage, ob man das Kanzleramt einbezieht oder nicht, halte ich nicht für eine Glaubensfrage. Man sollte sie auch nicht unter diesem Gesichtspunkt diskutieren. Das ist allenfalls eine polizeitaktische Frage. Da müssen uns Fachleute beraten. Auch wenn die Regierung gewechselt hat: Ich hätte, wenn die Polizeitaktiker uns empfehlen, das aus praktischen Erwägungen mit in die Bannmeile hineinzunehmen, nichts dagegen, das auch jetzt zu machen. Etwas schwieriger verhält es sich mit der Streichung der Strafvorschrift des § 106 a Abs. 1 des Strafgesetzbuches, mit der der Verstoß gegen das Schutzgut der Handlungsfähigkeit des Parlaments zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird. Es gilt dann nämlich nicht mehr das Legalitätsprinzip, das Staatsanwaltschaften und Polizei eine eindeutige Handlungsanleitung gibt. Vielmehr gilt dann, wenn es sich nur noch um eine Ordnungswidrigkeit handelt, das Opportunitätsprinzip, und dann muten wir der Polizei und den Staatsanwaltschaften zu, im Kern darüber zu entscheiden, ob ein Eingreifen zum Schutz der Entscheidungsfreiheit des Parlamentes erforderlich ist oder nicht. Ich glaube, über diese Frage muß man sehr intensiv nachdenken, weil mit der neuen Regelung die Handlungsfreiheit des Parlamentes zu einem minderen Schutzgut herabgestuft wird. Es ist für mich auch nicht ganz logisch, daß dann die Anstiftung zur Bannkreisverletzung wiederum eine Straftat sein soll. Mir erscheint die konkrete Verletzung des Bannkreises doch etwas schwerwiegender als die Anstiftung dazu. Ich finde, hierüber müssen wir genau beraten. Denn nach welchen Kriterien sollen Polizei und Staatsanwaltschaften entscheiden, ob die parlamentarischen Beratungen durch eine Bannkreisverletzung beeinträchtigt worden sind oder nicht oder ob sie in Gefahr geraten, beeinträchtigt zu werden? Mir scheint, daß diese Frage in der Praxis nicht einfach zu entscheiden sein wird. Es gibt Leute, die darüber nachgedacht haben, ob man, um die Flexibilität zu erhöhen, nicht auch den § 106 a StGB von einem Offizialdelikt zu einem Antragsdelikt umgestalten sollte. Davon würde ich aber dringend abraten, weil wir als Parlament dann in die Schwierigkeit gerieten, Antragsteller zu sein und je nach ideeller Nähe zu denjenigen, die die Bannkreisverletzung begangen haben, für oder gegen sie zu entscheiden. Das halte ich für nicht praktikabel und würde davon abraten. Deswegen finde ich, daß wir alles, was an praktischen Auswirkungen mit dieser Regelung zusammenhängt, doch noch einmal genau unter die Lupe nehmen müssen, und zwar nicht zu dem Zweck, Streit zu erzeugen, sondern um einfach zu schauen, ob das, was wir in das Gesetz hineinschreiben, auch praktikabel ist. Das gleiche gilt für die Frage, ob man das Bannmeilengesetz oder das Gesetz zum Schutz der parlamentaDieter Wiefelspütz rischen Beratungen so ausgestalten sollte, daß es in den nach unseren Plänen sitzungsfreien Zeiten nicht gilt. Ich fände das recht spannend: Das Präsidium hat eine Demonstration genehmigt, und dann wird eine Sondersitzung des Bundestages oder mehrerer parlamentarischer Gremien beantragt; diejenigen, die demonstrieren wollen, haben tausende Leute organisiert, die die Demonstration durchführen sollen. Dann soll das Präsidium vor dem Problem stehen - im übrigen dann aber auch die Genehmigungsbehörde, wenn man es bei dem alten Recht läßt -, eine solche Demonstration zu unterbinden und zu sagen: Sie darf jetzt nicht stattfinden. Das scheint mir ein sehr gewagtes Unterfangen zu sein. Ich meine, es tut der Demonstrationsfreiheit und dem Demonstrationsrecht keinen Abbruch, wenn man sich solcher Schwierigkeiten auch in den sitzungsfreien Zeiten enthebt, indem man sagt: Demonstriert außerhalb der Bannmeile, dann seid ihr jedenfalls mit eurer Meinungsäußerung aus dem Schneider. Warum muß denn unbedingt in der Bannmeile demonstriert werden? Man kann das ja überall tun. Wir kommen dann auch aus den Schwierigkeiten heraus, in konkreten Fällen auf einmal genötigt zu sein, Demonstrationen zu verweigern, zu untersagen, zu verhindern, obwohl diejenigen, die demonstrieren wollen, alle ihre Vorbereitungen getroffen haben. Ich finde also, es gibt ein paar Punkte, über die wir sachlich und ruhig nachdenken müssen. Ich bedanke mich, Herr Kollege Wiefelspütz, daß Sie auch die CDU/CSU-Fraktion in Ihre Beratungen einbeziehen wollen. Vielleicht ist das - wenn ich so an das Staatsbürgerschaftsrecht denke, wo man ja keinen Wert darauf legte, uns einzubeziehen - ein bißchen ein neuer Stil. Aber immer wenn es um Geschäftsordnungsangelegenheiten geht, wird es etwas freundlicher, etwas anders, so daß ich tatsächlich auf eine fraktionsübergreifende Lösung zu hoffen wage. Der Ordnung halber will ich abschließend nur noch hinzufügen, daß ich den Gesetzentwurf der PDS, der ja auch Beratungsgegenstand ist, weder hinsichtlich seiner Zielsetzung noch hinsichtlich seiner Begründung für ernsthaft erörterungsbedürftig halte. ({1}) Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist ja immer eine wichtige Aufgabe der Opposition, der Regierung und der Regierungskoalition Beine zu machen. So verstehe ich auch, daß dieser Antrag heute hier aufgesetzt worden ist: Der Bundestag zieht jetzt bald um, und da wollen Sie diese gesetzliche Regelung einführen. Der Kollege Wiefelspütz hat darauf hingewiesen, daß wir ja seit langem in vielen sehr ernsten Diskussionen mit vielen Sachverständigen - auch aus der Polizei - aus Bund und Ländern dabei sind, eine solche Regelung zu gebären, die von allen getragen werden kann. Es ist sicher richtig, uns ein bißchen Beine zu machen. Nur, ich sage Ihnen: In diesem Falle bin ich froh, daß Sie das nicht eher gemacht haben und auch noch nicht eher Erfolg hatten. So hatten wir die Gelegenheit, am letzten Montag einmal zu sehen: Wie ist es denn in Berlin ohne Bannmeile? Mir wurde vorher gesagt - ich habe hier einen Aufruf der Fachgemeinschaft Bau, die dort zu großen Demonstrationen aufgerufen hat -: Das sind auch so Rechte, und die kommen da mit Baufahrzeugen; 300 oder 500 haben sie angekündigt, und da sind möglicherweise 5 000 oder 10 000 Leute - und keine Bannmeile! Das muß man sich einmal vorstellen! Außerdem sind wir jetzt im Krieg, und es gibt viele, die etwas gegen den Krieg haben. Die kommen auch alle nach Berlin. Das wird ganz fürchterlich. Nun haben wir das alles letzten Montag erlebt. Beide Demonstrationen haben stattgefunden. Die Demonstration der Fachgemeinschaft Bau fand im wesentlichen auf der Straße des 17. Juni statt; sie ging bis zum Brandenburger Tor. Dort standen auch die Baufahrzeuge; die konnte man besichtigen. Die Demonstranten hatten Plakate mit und haben Parolen gerufen. Die andere Demonstration fand sehr viel näher statt, vis-à-vis dem Reichstag. Es gab ein Sperrgitter, und dahinter haben diese Demonstranten ihre Meinung kundgetan. - Hat das irgend jemanden vom Bundestag an seiner Arbeit im Reichstag gehindert? Doch niemanden. Mich hat es nicht gehindert, Sie auch nicht. Im Gegenteil, das ist lebendige Demokratie. ({0}) Heute morgen kam ich hier aus dem Bundestag. Fünf Meter vom Gebäude entfernt stand eine Frau, die Plakate hochhielt. Andere standen um sie herum. Ich habe sie gefragt: Sie sind doch wohl nicht mehr als zwei Personen? Nein, hat sie gesagt, ich bin alleine. Die anderen gehören nicht zu mir. Sie stehen nur um mich herum und gucken. - Ja, habe ich gesagt, wenn Sie drei wären, dann wäre dies eine unerlaubte Versammlung. Das wäre strafbar. Dann müßten Sie aufpassen, daß Sie nicht vor dem Amtsgericht in Bonn landen. ({1}) Sie hat immer wieder betont, sie sei alleine. Ob sie nun wirklich allein war, weiß ich nicht. Das aber zeigt doch die Absurdität sowohl der alten Regelung als auch der von Ihnen jetzt vorgeschlagenen. Sie sollten gemeinsam mit uns überdenken, ob es nicht in den alten westlichen Demokratien, auf die wir zu Recht immer gucken, Beispiele dafür gibt, daß es anders geht. Schauen Sie einmal nach England und Frankreich, nach London und Paris! Dort gibt es keine Bannmeile, auch in den USA nicht. Das sind Beispiele für ein funktionierendes demokratisches Leben. Bilder, auf denen vor dem Kapitol in Washington 500 000 Menschen für die Gleichheit der Menschen, gegen RassendiskriminieJoachim Hörster rung und ähnliches demonstrieren, gingen nicht um die Welt, wenn es dort eine Bannmeile gäbe. Die gibt es aber dort nicht und in vielen anderen Staaten auch nicht. Noch ein weiteres Argument: Die neuen Bundesländer, auch CDU-geführte Bundesländer, haben es nach Diskussionen überwiegend abgelehnt, Bannmeilen zu errichten. So gibt es etwa bei Herrn Biedenkopf in Dresden keine Bannmeile. Dieses Länder haben uns von ihren Erfahrungen berichtet, und diese sind alle positiv. Warum wollen wir dahinter zurückfallen? Was wird mit dem Platz der Republik, dem berühmtesten Platz in der neuen Bundesrepublik, dem Platz mit den berühmtesten Freiheitsdemonstrationen, dem Platz, auf dem Hunderttausende gewesen sind, als Willy Brandt, als Ernst Reuter und andere dort immer am 1. Mai gesprochen haben? Warum wollen wir die neue, die Berliner Republik mit einem grundsätzlichen Verbot von Demonstrationen auf dem Platz der Republik beginnen? ({2}) Ich denke, die Abgeordneten brauchen ein bißchen mehr Mut und ein bißchen mehr Selbstbewußtsein. Sie sind ja nicht schutzlos, wenn es kein Bannmeilengesetz gibt. Im Strafgesetzbuch gibt es weitere Vorschriften, zum Beispiel in § 105 und § 106 b, die die Funktionsfähigkeit des Parlaments meiner Ansicht nach ausreichend schützen. Wir sind noch in der Diskussion, wir verabschieden noch kein Gesetze. Deshalb mein Appell: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Freien Demokratischen Partei, überlegen Sie sich doch einmal, ob Sie wirklich einen solchen Antrag einreichen und zur Debatte stellen wollen oder ob wir uns nicht auf etwas anderes einigen können. Danke sehr. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege Roland Claus von der PDS-Fraktion das Wort.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der F.D.P. ist unseres Erachtens ein Schritt in die richtige Richtung. Er bedeutet gegenüber der gegenwärtigen Bannmeilensituation eine erhebliche Verbesserung. Wir meinen aber, daß dies ein zu kleiner Schritt ist. Gemessen an dem großen Schritt, nach Berlin zu gehen, müßte er noch ein klein wenig weiter gehen, um den Herausforderungen gerecht zu werden. Aber wir alle haben eine Alternative, nämlich den PDS-Gesetzentwurf zur Aufhebung der Bannmeilenregelung. Sie alle, die Sie von der Sache eine Menge verstehen, wissen selbstverständlich, daß die Aufhebung keineswegs einen gesetzlosen Raum schafft. Selbstverständlich wissen auch Sie, Herr Kollege Solms - im Augenblick: Herr Präsident -, daß gewalttätige Auseinandersetzungen, die Sie in Ihrer Rede als Problem beschworen haben, auch auf anderer rechtlicher Grundlage unterbunden werden können. Noch ein Stück weiter geht der Kollege Hörster, wenn er mit Blick auf die Bannmeilenregelung den Konsens der Demokraten im Bundestag beschwört. Ich muß ihn einmal fragen, ob er angesichts der Tatsache, daß es nur noch in vier westeuropäischen Demokratien Bannmeilen gibt, die anderen westeuropäischen Parlamentarier von dem Konsens der Demokraten ausnimmt. ({0}) Bannmeilenregelungen bedeuten immer Einschränkung demokratischer Rechte, besonders des Versammlungsrechtes. Aber - das muß noch hinzugefügt werden - sie setzen immer auch die Strafe für diejenigen fest, die sich an diese Regelungen nicht halten. Nun schlägt die F.D.P. vor, eine historisch überlebte Regelung etwas aufzubessern - wie gesagt, nicht unerheblich. Wir meinen, die Bannmeile wird nicht dadurch zeitgemäß, daß sie ein wenig modernisiert wird. Dieser alte Zopf gehört nicht zum Barbier von Berlin; vielmehr gehört dieser alte Zopf mittelalterlicher Rituale abgeschnitten. ({1}) Das schlägt Ihnen die PDS mit ihrem Gesetzentwurf vor. Ich verweise auf die ausführliche Begründung unseres Gesetzentwurfes. An die Adresse der neuen Bundesregierung sage ich: Wir hätten von Ihnen schon erwartet, daß Sie sich mal der Überlegung nähern, ob man nicht eine Aufhebung der Bannmeilenregelung betreiben könnte. Wenn der Redner der SPD zu unserem Gesetzentwurf rein gar nichts zu sagen hat, so, als wäre er überhaupt nicht vorhanden, dann ist das eine gewisse Ignoranz, die ich nicht nur auf unsere Fraktion beziehe, sondern die natürlich auch mit den Erwartungen der Gesellschaft an den Berlin-Umzug zu tun hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Claus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, natürlich.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Claus, ich bin strikt gegen den Gesetzentwurf Ihrer Fraktion, ({0}) wenn Sie das tatsächlich wissen wollen. Ich finde das, was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vorgelegt haben, nicht besonders erwähnenswert. Das ist ja auch mein gutes Recht. Ich möchte Sie darauf hinweisen - weil Sie gerade von der neuen Bundesregierung gesprochen haben -: Dies ist kein Thema der Bundesregierung. Die DiskusHans-Christian Ströbele sion über die Bannmeile oder über einen befriedeten Bezirk ist Sache des Parlamentes. ({1}) Ich würde mich strikt dagegen verwahren - das ist mein Verständnis von Parlamentarismus; auch das aller anderen Kollegen -, wenn die Bundesregierung dem Parlament Vorschriften über die Regelung des befriedeten Bezirks machte. Das geht auf gar keinen Fall. Wir fragen da schon mal die Meinung der Sicherheitsbehörden ab, aber die Bannmeilenregelung ist eine konstitutive Angelegenheit des Parlamentes. Wer wären wir denn, wenn wir das anderen überließen? Ich räume ein, daß das in einem anderen deutschen Staat einmal anders war. Dort hat das alles die Regierung geregelt, weil es dort kein wirkliches Parlament gab. ({2}) Dieses Parlament, Herr Claus, ist ein richtiges Parlament und nimmt sich das Recht, eigene Angelegenheiten in eigener Autonomie zu entscheiden. ({3})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

In dieser Frage, Herr Kollege, besteht zwischen uns keine Differenz. Ich denke, Sie wissen das. Ihr Hinweis auf DDR-Zustände kommt für mich auch nicht überraschend. Ich kann mich sehr gut an die Zustände vor zehn Jahren erinnern, als quasi die ganze DDR von einer Bannmeile umgeben war. Ich kann mich gut erinnern, wie diese plötzlich weg war und wie ich in Halle an der Saale, in Sachsen-Anhalt, Abend für Abend und Demonstration für Demonstration die erste Adresse für die berechtigte Kritik der Bürgerinnen und Bürger an den Zuständen war. Das war eine bittere Lehre; sie hat sich mir für lange Zeit eingeprägt. Ich möchte diesen Vorgang, den ich als geistige Befreiung erlebt habe, nicht so schnell wieder aufgehoben sehen und nicht durch Belehrungen über Verantwortung gemindert wissen. ({0}) Ich möchte einmal auf den historischen Ursprung des Bannmeilenbegriffs im deutschsprachigen Raum zurückblicken. Vielleicht hilft uns das bei der heutigen Entscheidung. Woher stammt dieses kuriose Wort? Der Begriff reicht in das 13. Jahrhundert zurück, als sich deutsche Städtegründer in Schlesien und Mähren der Konkurrenz der Bauern beim Handeltreiben erwehren wollten. Sie haben die Töpfer, die Bürstenmacher und die Besenbinder von den Toren ihrer Stadt ferngehalten. ({1}) Im 19. Jahrhundert haben England und besonders Preußen eine Bannmeile um die Parlamente geschaffen. Hier ging es nicht mehr um die Besenbinder, sondern um das Abwehren protestierender Demokratinnen und Demokraten. Wenn man sich das einmal vor Augen hält, sind Bannmeilen in der Tat unzeitgemäß. Ich sagte bereits, daß nur vier westeuropäische Demokratien dieses Instrument noch kennen. In den neuen Ländern gibt es die Bannmeile nur in Thüringen. Ich erinnere mich sehr gut daran - ich sage dies an die Damen und Herren der F.D.P. gewandt -, daß wir im Landtag von Sachsen-Anhalt zu Beginn der ersten Wahlperiode einen Antrag der F.D.P.-Fraktion behandelt haben, eine solche Bannmeile einzurichten. 1991 haben wir nach gründlicher Diskussion im Innenausschuß in aller Friedfertigkeit und aller Gemeinsamkeit, auch in aller Stille und Gründlichkeit diesen Gesetzentwurf beerdigt. Wir haben gesagt, so etwas bräuchten wir in Sachsen-Anhalt nicht, und haben gemeint, dies könne ein Signal aus den neuen Ländern sein, das vielleicht von der Bundespolitik aufgenommen wird. Das ist unsere Hoffnung auch jetzt noch. Deshalb sollten wir die Chance mit dem Umzug nach Berlin nutzen und einen alten preußischen Hut entsorgen. Es paßt doch auch nicht zusammen! In allen Fraktionen waren am Montag - vor drei Tagen - in Berlin die freundlichsten Fensterreden an die Berlinerinnen und Berliner zu hören, in denen wir zum Ausdruck gebracht haben, daß wir gern bei ihnen sein und mit ihnen zusammenkommen wollen und daß wir die Begegnung suchen. Nun, am Donnerstag, erklären wir ihnen, daß ihr Versammlungsrecht eingeschränkt werde und daß sie eine Bannmeile bekämen, die auch noch besonders bedeutsame historische Stätten betrifft. Man muß nur einmal „Ein weites Feld“ von Günter Grass lesen, um zu erkennen, welche Bedeutung dieses Terrain für die Stadt hat. Bannmeilen um Parlamente ziehen immer die Gefahr nach sich, daß sie auch Bannmeilen in den Köpfen mit sich bringen, womit solche Gesetze auf ihre geistigen Urheber zurückschlügen. Eigentlich sind solche Gesetze „bannmeilenweit“ vom wirklichen Leben entfernt. Dem können Sie dadurch entgehen, daß Sie dem Gesetzentwurf der PDS zur Aufhebung der Bannmeile zustimmen. Anderenfalls - das ist aber nicht allzu ernst gemeint können Sie dann vielleicht noch einmal die alten Schilder verwenden, die es in Berlin gab und auf denen steht: „Ende des demokratischen Sektors“. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf Drucksachen 14/183 und 14/516 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 8 auf: 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut Büttner ({0}), Margarete Späte, Dr. MiDieter Wiefelspütz chael Luther, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten und Mahnmalen zur Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer - Drucksache 14/656 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Kultur und Medien ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen ({2}), Angelika KrügerLeißner, Eckhardt Barthel ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Antje Vollmer, Volker Beck ({4}), Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konzeption zur Förderung und Festigung der demokratischen Erinnerungskultur - Drucksache 14/796 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Kultur und Medien ({5}) Rechtsausschuß Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hartmut Koschyk von der CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das vehemente Eintreten des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien, des Staatsministers Naumann, für die Kombination eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas mit einem umfangreichen und kostspieligen Dokumentationsannex hat die deutsche Gedenkstättenlandschaft in erhebliche Unruhe versetzt. Das machte die Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am Dienstag dieser Woche in Berlin deutlich. Einhellig wiesen die als Sachverständige angehörten Leiter von bestehenden Gedenkeinrichtungen darauf hin, daß eine zusätzliche Gedenk- und Forschungsstätte neben einem Mahnmal nicht notwendig sei, weil deren Aufgaben schon in anderen Einrichtungen, zum Teil in unmittelbarer Nähe, wahrgenommen würden. Vielmehr - so das Votum der Angehörten sollten die bestehenden Gedenk- und Forschungseinrichtungen stärker gefördert werden. Der Kombinationsvorschlag von Staatsminister Naumann gibt daher Grund genug, über die Ausstattung und weitere Förderung bestehender Gedenkstätten nachzudenken. Der vorliegende Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion zur „Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten und Mahnmalen zur Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer“ fordert deshalb ein Engagement des Bundes in diesem Bereich, das die Vielfalt und Dezentralität der Gedenkstättenlandschaft in Deutschland erhält und ihr eine Zukunft gibt. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Vorstellungen über ein Beteiligungskonzept des Bundes an vorhandenen Gedenkstätten vorzulegen. Wir sind sehr gespannt, ob daraus wirklich ein umfassendes Gedenkstättenkonzept wird. Monumentalität ist auch bei Gedenkeinrichtungen kein Wert an sich. Gedenkeinrichtungen müssen auf wissenschaftlich, museologisch und gedenkstättenpädagogisch fundierten Vorstellungen beruhen. Hierbei gilt sicher: Historische Ereignisse lassen sich nicht unwirksam machen; die Erinnerung an sie läßt sich nicht verdrängen. Die Deutschen bleiben aufgefordert, mit der Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen und ihre Opfer zu leben: an die Diktatur der Nationalsozialisten sowie an die SED-Diktatur. Bei der Erinnerung an diese Ereignisse kann es nicht um eine letztlich fruchtlose, selbstquälerische Haltung gehen. Das Erinnern an die beiden Diktaturen muß vielmehr Teil eines demokratischen Selbstverständnisses im vereinten Deutschland sein. Es muß das Bewußtsein für Freiheit, Recht und Demokratie schärfen; denn beide Diktaturen waren sich in der Ablehnung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einig. Die Aufklärung über die geschichtlichen Tatsachen, über die beiden Diktaturen in Deutschland, muß zum Kern eines antitotalitären Selbstverständnisses gehören, dem sich der größte Teil der Deutschen verpflichtet weiß. Gedenkstätten sollen das Erinnern und Gedenken an die Diktaturen und ihre Opfer ermöglichen und lebendig erhalten. Sicher ist die Errichtung und das Betreiben von derartigen Gedenkstätten grundsätzlich Ländersache. Aber gleichwohl kann sich der Bund an solchen Gedenkstätten beteiligen, sofern gesamtstaatliche Bezüge oder eine gesamtstaatliche Verantwortung nicht abweisbar sind. Weil die neuen Länder mit der Erhaltung und vor allem mit der notwendigen Umgestaltung bestehender Gedenkstätten nach der Herstellung der deutschen Einheit überfordert waren, hat sich der Bund auf Grund einer Konzeption des Haushaltsausschusses vom März 1993 zunächst für 10 Jahre bereit erklärt, sich an Gedenkstätten in den neuen Ländern und in Berlin zu beteiligen. Der Umbau und die Neuausrichtung vor allem der ehemaligen „nationalen Gedenkstätten der DDR“ waren dabei ein besonderes Erfordernis. So mußten die bereits von der DDR betriebenen Gedenkstätten Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück nach Herstellung der deutschen Einheit inhaltlich neu gestaltet werden. Es bedarf natürlich kaum der Erwähnung, daß sich in den von der DDR betriebenen Gedenkstätten kein Hinweis auf die Zeit fand, in der sie sowjetische Speziallager waren. Die Konzeption vom März 1993 kann nur als ein erster Schritt hin zu einer umfassenden Gedenkstättenkonzeption verstanden werden, denn die bisherige Beteiligung des Bundes an diesen Gedenkstätten erfolgt mehr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms unter restriktiven Kriterien, die ich hier im einzelnen nicht nennen will. Die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ in der 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages hatte die Aufgabe und den Auftrag übernommen, aufbauend auf dem bestehenden Beteiligungskonzept des Bundes, eine umfassende Konzeption vorzulegen. Dieser Auftrag wurde in einem großen Konsens aller Fraktionen dieses Hauses - mit Ausnahme der PDS - erledigt. Der Bundestag hat die Empfehlungen in der letzten Legislaturperiode entgegengenommen. Die Handlungsempfehlungen, zu denen die Enquete-Kommission gekommen ist, sehen ein abgestuftes Förderkonzept unter Beteiligung des Bundes für die bereits in der Förderung enthaltenen Einrichtungen, aber auch für zahlreiche weitere Gedenkeinrichtungen vor. Die CDU/CSU-Fraktion sieht in dieser von der Enquete-Kommission der vergangenen Legislaturperiode vorgelegten Gedenkstättenkonzeption nach wie vor eine wichtige Orientierungshilfe für die Befassung des 14. Deutschen Bundestages und seines Ausschusses für Kultur und Medien, aber auch für die Bundesregierung. ({0}) Die Empfehlungen wollen die Dezentralität und die Vielfalt von NS-Gedenkstätten und Erinnerungsstätten an die SED-Diktatur in Deutschland erhalten. Es geht den Empfehlungen nicht um eine staatlich verordnete Geschichtsphilosophie; es geht auch nicht nur um die finanzielle Beteiligung. Vielmehr müssen auch das vorhandene private Engagement vieler Menschen in den und für die Gedenkstätten und die Tätigkeit zahlreicher privater Initiativen und Opferorganisationen ein notwendiges Fundament erhalten. Die Bewahrung und die Unterstützung der Gedenkstättenarbeit ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die in einer Zusammenarbeit von staatlicher, aber auch kommunaler Seite sowie von privaten Initiativen und Vereinen sinnvoll geleistet werden kann. Die Heterogenität der Trägerschaften und das von unterschiedlichster Seite stammende individuelle und vereinsmäßige Engagement müssen erhalten bleiben. Allerdings - auch das ist zu sagen - fußt unser Gemeinwesen auf Werten und Anschauungen, die sozusagen als Minimalkonsens betrachtet werden und die auch für die Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten gelten müssen. Die vom Bund zu unterstützenden Gedenkeinrichtungen müssen zur Festigung des demokratischen Selbstbewußtseins, des freiheitlichen Rechtsempfindens und des antitotalitären Konsenses in Deutschland beitragen. Diktaturen dürfen nicht verharmlost und legalisiert werden, wie das die Geschichtspolitik der PDS und ihr nahestehender Organisationen regelmäßig versucht. ({1}) In einem weiteren Punkt - auch darauf will ich heute hinweisen - haben sich die Empfehlungen der EnqueteKommission als weitsichtig erwiesen. Angesichts der erschreckenden Bilder über die Vertreibung Hunderttausender Menschen aus dem Kosovo hat eine Empfehlung der Enquete-Kommission für mich eine besondere Aktualität, nämlich die, das Denkmal für die Opfer von Flucht und Vertreibung in Berlin in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes aufzunehmen - ein Denkmal, das an die Millionen deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung erinnert und das sicher auch als ein Mal der Mahnung gegen jede Art von Vertreibung und Entwurzelung von Menschen in der Gegenwart und Zukunft verstanden werden kann. ({2}) Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, alsbald eine überarbeitete Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten vorzulegen und der durch die Anhörung des Kulturausschusses am 20. April bezeugten Verunsicherung in der deutschen Gedenkstättenlandschaft zu begegnen. Bei der Vorlage dieses Konzeptes sollte die Bundesregierung den fachlich überzeugenden und im politischen Konsens ausgesprochenen Empfehlungen der Enquete-Kommission des letzten Bundestages Rechnung tragen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat die Kollegin Angelika KrügerLeißner von der SPD-Fraktion das Wort. Bitte schön.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Erinnern darf nicht aufhören, denn ohne Erinnerung gibt es weder Überwindung des Bösen noch Lehren für die Zukunft. So formulierte es Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Proklamation des 27. Januar zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Feste Daten und Gedenktage sind für unser historisches Gedächtnis eine wichtige Stütze - um so mehr, wenn die Erinnerung über Generationen fortdauern soll. Aber nicht nur Tage, auch Orte stützen unsere Erinnerung. Vor wenigen Tagen, am 18. April, habe ich bei den Gedenkfeiern zum 54. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen selbst erlebt, wie stark Gedenktage, vor allem aber authentische Orte, wirken und berühren können. Ich habe aber auch gesehen, wie fast 60 Jahre nach den schrecklichen historischen Ereignissen Menschen an den Ort ihres Leidens zurückkehrten, Überlebende, Angehörige und ihre Kinder, aber auch viele interessierte Bürger kommen an diese Orte, um an den Gräbern, den wirklichen und den symbolischen, die Toten und Ermordeten zu ehren und ihrer zu gedenken. Die Überlebenden, die letzten Zeitzeugen, fragen uns immer drängender: Was wird aus diesen Orten? Was wird mit der Erinnerung, wenn wir nicht mehr sind? Sind sie dem Vergessen preisgegeben? - Das sind Fragen an uns, die Nachgeborenen. Unsere Aufgabe ist es, die Verantwortung für die Erinnerung zu übernehmen. Dies müssen wir tun, solange die Botschaft der Zeitzeugen noch lebendig ist - im ganz unmittelbaren Sinne. ({0}) Die Koalitionsfraktionen begrüßen daher ausdrücklich die Absicht der Bundesregierung, ein Konzept zur Förderung der Gedenkstätten in der Bundesrepublik vorzulegen. Wir sehen es mit großer Genugtuung, daß für dieses Konzept die Empfehlungen der EnqueteKommission „Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozeß der Deutschen Einheit“ aus der vergangenen Legislaturperiode zur Grundlage gemacht werden sollen. Dies ist für uns Sozialdemokraten deshalb eine Genugtuung, weil in den Empfehlungen die langjährigen Anträge und Aktivitäten der SPD-Fraktion seit den 80er Jahren ihren Niederschlag gefunden haben. Es sollte aber für uns alle eine Genugtuung sein, weil diese Empfehlungen auf einem Konsens aller Fraktionen dieses Hauses beruhen. Ich hoffe, daß wir bei unseren Beratungen und Entscheidungsfindungen diesen wertvollen Konsens aus der Enquete-Kommission, der insbesondere mit dem Namen Siegfried Vergin verbunden ist, fortführen. ({1}) Die Suche nach einer Zukunft für die Erinnerung, das Bewahren des Andenkens an die Opfer zweier Diktaturen in Deutschland eignet sich aus meiner Sicht in keiner Weise für parteipolitische Instrumentalisierung. Die Bewahrung der Erinnerung ist eine Aufgabe und Verpflichtung für uns alle in ganz Deutschland. ({2}) Die Empfehlungen der Enquete-Kommission sind dabei eine gute Grundlage für unsere weitere Arbeit. Sie beruhen auf Erkenntnissen und langjähriger Zusammenarbeit mit den Ländern, Gedenkstätten und Experten. Am Dienstag haben uns die Leiter der Gedenkstätten im Kulturausschuß mitgeteilt, daß sie diesen Empfehlungen voll zustimmen. Aber auch Opferverbände, Wissenschaftler und Fachleute sind vom Konzept der EnqueteKommission überzeugt. Wir sollten dieses Lob für ein Gremium des 13. Deutschen Bundestages als Verpflichtung für unsere jetzige Arbeit betrachten. Hier wurden Maßstäbe gesetzt. ({3}) In voller Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Enquete-Kommission sehen wir Sozialdemokraten in den Gedenkstätten an den authentischen Orten die stärksten Pfeiler der Erinnerungskultur in Deutschland. Wir verfügen in Deutschland über eine einzigartige dezentrale Gedenkstättenlandschaft. Diese Landschaft ist gekennzeichnet von der Vielfalt der historischen Bezüge, sei es bei den Gedenkstätten zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft, sei es bei denjenigen zur SEDDiktatur. Die dezentrale Vielfalt der Gedenkstätten macht übrigens sehr anschaulich, daß sich die historische Verantwortung nicht auf wenige zentrale Standorte konzentrieren kann. Die Gesichter der Diktaturen zeigen sich gerade in den Machenschaften und Verbrechen vor Ort. Die Schreibtische der Täter, die Gefängnisse und Lager, vor allem aber die Leidenswege der Opfer, die Zeugnisse ihrer Erniedrigung waren über das gesamte Land verteilt. Die Vielfalt der Gedenkstätten in Deutschland ist aber auch das Ergebnis des bürgerschaftlichen Engagements von vielen, insbesondere jungen Menschen. Ohne diese bürgerschaftliche Verankerung bliebe das Erinnern angeordnet, letztlich hohl. Viele wissen: Wir haben in der ehemaligen DDR mit solchen Verordnungen unsere ganz besonderen Erfahrungen gesammelt. Wir Sozialdemokraten erwarten daher ein deutliches Zeichen der Bundesregierung zur Sicherung und Förderung dieser gewachsenen demokratischen Erinnerungskultur. Ich freue mich deshalb, daß unser Kulturstaatsminister Naumann bei seinem Besuch in der Gedenkstätte Sachsenhausen im Januar dieses Jahres erklärt hat, daß die Förderung der Gedenkstätten für die Bundesregierung höchste Priorität hat. ({4}) Hier kann also ohne weiteres das erarbeitete Konzept der Enquete-Kommission zur Grundlage gemacht werden; denn das Rad muß nicht neu erfunden werden. Als Eckpunkte einer Gedenkstättenkonzeption sehen wir deshalb folgende Aufgabenstellungen an: Erstens. Die Gedenkstätten als authentische Orte mit ihrem historischen Erbe, mit den Zeugnissen und Sachbeweisen für die Verbrechen des Nationalsozialismus und für das Unrecht des Stalinismus müssen weiter zu Lernorten, zu lebendigen Orten der Erinnerung entwikkelt werden. Die Gedenkstätten an Orten der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind heute Botschafter der Humanität. Dort wird die Geschichte des unsäglichen Leids der Opfer so vermittelt, daß es auch mit dem Herzen erfahren und begriffen werden kann. Verbunden mit dieser emotionalen Betroffenheit können diese Orte historisches Wissen vermitteln, das eine Beziehung zur Gegenwart schafft, moralische Sensibilität und politische Verantwortung ermöglicht. Daraus folgt zweitens, daß die Gedenkstätten an den authentischen Orten für diese Aufgabenwahrnehmung eine angemessene und verläßliche Finanzierung brauchen. Für den Bund muß dies heißen, daß die bisher begrenzte institutionelle Förderung der Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung in den neuen Ländern unbefristet über das Jahr 2003 fortgeführt wird. ({5}) Drittens. Ebenso müssen die Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung in den alten Ländern, zum Beispiel Dachau, Neuengamme und Bergen-Belsen, künftig in diese institutionelle Förderung aufgenommen werden. ({6}) Ich erinnere daran: Die Bundesförderung für die Gedenkstätten in den neuen Ländern hat insbesondere Buchenwald - aber hoffentlich bald auch Sachsenhausen dank der Umgestaltung nach 1990 zur maßstabsetzenden Einrichtung gemacht. Hier kann der Westen vom Osten lernen. ({7}) Viertens. Ich gebe zu bedenken, daß in Anerkennung der dezentralen Gedenkstättenlandschaft der Bund künftig auch Einzelprojekte im Wege der Projektförderung mit unterstützen und dafür einen Fonds einrichten sollte. Möglicherweise müssen wir dringend auch Sondermittel bereitstellen, um den bedrohlichen Verfall der authentischen Orte - ich denke hier wieder ganz besonders an Sachsenhausen - zu stoppen. Fünftens. Wir sehen die Gedenkstättenförderung selbstverständlich als eine gemeinsame Aufgabe des föderalen Staates an. Das heißt, auch die Länder sind weiterhin in der Pflicht, die Gedenkstättenarbeit zu fördern. Diese gemeinsame Förderung ist nicht nur ein Gebot des Föderalismus, sondern auch ein Zeichen, daß sich alle Ebenen des Staates der historischen Verantwortung bewußt sind. ({8}) Sechstens. Schließlich erwarten wir eine gezielte Unterstützung für die Gedenkstätten zur SED-Diktatur, die sich oftmals noch in einem sehr schwierigen Aufbaustadium befinden. Meine Damen und Herren, wir wissen: Die Gedenkstätten sind auch als Orte der Aufklärung, Forschung und Bildung heute unersetzlich geworden. Sie stehen aber vor dem schweren Einschnitt des Wegfalls der Zeitzeugen. Dieser Verlust der Zeitzeugenschaft betrifft unsere gesamte demokratische Erinnerungskultur. Daher ist es um so wichtiger, daß die Gedenkstätten zu modernen zeithistorischen Museen entwickelt werden. Für künftige Generationen wird nämlich nur die Vermittlung von Wissen zu einem Gedenken führen können. Aufklärung und Bildung sind daher die großen Aufgaben für die Zukunft der Erinnerung. Und genau hier wirken die Gedenkstätten mit ihrer langjährigen pädagogischen und wissenschaftlichen Kompetenz. ({9}) Wir wissen: Die Jugendbegegnungsstätten in den Gedenkstätten sind lange ausgebucht. Die Gedenkstätten verzeichnen seit Jahren einen großen Zuwachs an Besuchern. Heute sind diese Gedenkstätten zu lebendigen Orten der Auseinandersetzung mit der Geschichte, aber auch mit der Gegenwart geworden. Der verantwortungsvolle Umgang mit Geschichte, die Aufklärung an den Gedenkstätten, vor allem aber die zahlreichen Jugendbegegnungen dort sind ein Stück Wertevermittlung und Demokratieerziehung. An den Gedenkstätten liegt die Zukunft der Erinnerung kommender Generationen. Bei den Gedenkstätten, an den authentischen Orten, ist all das vorhanden, was der Erinnerung eine Zukunft gibt. Schaffen wir gemeinsam ein Netzwerk gegen das Vergessen, geknüpft von Schulen, Wissenschaft, Politik, Bürgerschaft und eben den Gedenkstätten! Dieses Netzwerk muß uns auch etwas wert sein, nicht zuletzt eine seriöse und verläßliche Finanzierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, sorgen wir mit einer neuen Gedenkstättenkonzeption dafür, daß die Gedenkstätten ihre wichtigen Aufgaben sachgerecht erfüllen können! Verknüpfen wir diese Verantwortung auch mit dem Willen, ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin zu schaffen, das sich in die Landschaft der gewachsenen demokratischen Erinnerungskultur einreiht! Diese Erinnerungskultur zu festigen und vorzuführen, so wie es in unserem Antrag steht, sollte uns Verpflichtung sein. Integriert in eine Gesamtkonzeption gegen das Vergessen sollten wir am Haus der Erinnerung, das es längst gibt, weiterbauen. Sein Fundament ist das bürgerschaftliche Engagement, und seine Etagen sind die zahlreichen Gedenkstätten an den authentischen Orten. Daran mitzuarbeiten war stets unser Anliegen. Das soll es bleiben. Danke. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Hans-Joachim Otto von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist durchaus bemerkenswert, welchen Stellenwert Gedenkstätten momentan in der politischen Agenda unseres Landes haben. Wichtig aber ist, daß wir in Deutschland nicht nur über das Holocaust-Mahnmal sprechen, sondern auch über die zahlreichen Gedenkstätten an authentischen Orten, die sich zum Teil in jammervollem Zustand befinden. Es mag eine modische Wortschöpfung sein, von der „demokratischen Erinnerungskultur“ zu sprechen, aber ich teile ausdrücklich die Einschätzung, daß Erinnern und Gedenken in einem engen Zusammenhang mit der Kultur stehen. Umgekehrt und zugespitzt formuliert: Eine der Voraussetzungen für einen Kulturstaat ist die Fähigkeit und Bereitschaft seiner Bürger, sich der eigenen wechselvollen Geschichte stets bewußt zu sein und sich zu ihr zu bekennen. Dies gilt nun leider in besonderem Maße für uns Deutsche. Wir gedenken beispielsweise nicht nur des Lebenswerkes Johann Wolfgang von Goethes und anderer großer Dichter und Denker, sonAngelika Krüger-Leißner dern auch der beiden Diktaturen in unserem Land und deren zahlreicher Opfer. Meine Damen und Herren, Gedenkstätten haben immer eine Doppelfunktion: Sie erinnern an Vergangenheit und weisen zugleich in die Zukunft. Indem sie an historische Ereignisse oder Persönlichkeiten erinnern, enthalten sie im Positiven wie im Negativen Lehren auch für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln. Sie alle kennen das berühmte Zitat: Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gewinnen. Demokratische Erinnerungskultur streitet deshalb gegen die sich leider ausbreitende Geschichtslosigkeit. Notwendige Bestandteile demokratischer Erinnerungskultur sind also nicht nur Gedenkstätten und Mahnmale, schon gar nicht Dokumentationszentren und Bücherwände, sondern nicht zuletzt auch geschichtliche Bildung. Es ist schon ein Problem, eigentlich mehr als das, nämlich eine Schande, welch geringen Raum der Geschichtsunterricht inzwischen in den Lehrplänen der meisten Länder einnimmt. Geschichtskenntnisse schaffen erst den Boden für das Interesse an Gedenkstätten. Die besten Erläuterungen, Museen und Dokumentationszentren nützen gar nichts, wenn Menschen wegen fehlendem Geschichtsbewußtsein ihre Gedenkstätten erst gar nicht aufsuchen. Wir appellieren deshalb in erster Linie an die Länder. Sie haben in doppelter Hinsicht eine primäre Kompetenz und Verantwortung, nämlich für Kultur und für Bildung. Der Bund kann und will die Länder aus dieser Primärverantwortung nicht entlassen. Der Bund hat aber durchaus im Sinne des viel beschworenen kooperativen Föderalismus eine sekundäre bzw. Mitverantwortung für die Gedenkstätten zu übernehmen, die eine gesamtgesellschaftliche Rolle spielen. Da bin ich mir mit Ihnen einig. In diesem Sinne halten wir den Bericht der alten Bundesregierung zur Förderung von Gedenkstätten aus dem Jahre 1997 unverändert für eine gute und angemessene Grundlage. Ich habe bisher eigentlich wenig überzeugende Kritik gegen diesen Bericht gehört. ({0}) Wir sollten zunächst einmal davon ausgehen, daß nicht sehr viel daran zu ändern ist. Aber dieser Bericht muß selbstverständlich überprüft und aktualisiert werden. Die Ankündigung der neuen Bundesregierung, eine Gesamtkonzeption zur Förderung und Festigung der demokratischen Erinnerungskultur zu erarbeiten, nehmen wir mit Interesse und Offenheit zur Kenntnis. Wir haben uns allerdings angewöhnt - angewöhnen müssen -, die neue Bundesregierung nicht an ihren hehren Ankündigungen, sondern an ihren realen Taten zu messen. Für eine solche Zurückhaltung geben gerade unsere täglichen Erfahrungen mit anderen wohlgesetzten Worten des Herrn Kulturbeauftragten Dr. Naumann immer wieder Anlaß. Keine Frage ist es, daß die verdienstvolle Arbeit der Enquete-Kommission und ihre Vorschläge Berücksichtigung bei unseren weiteren Überlegungen finden müssen. Dies gilt insbesondere für die Auflistung von besonders bedeutsamen Gedenkstätten in den neuen Bundesländern, die sicherlich zum großen Teil die Unterstützung und Förderung auch des Bundes verdienen. ({1}) - Ich bedanke mich. ({2}) Der Bericht der Enquete-Kommission enthält allerdings auch Punkte, über die wir uns einmal in Ruhe Gedanken machen sollten. Insofern will ich einige zarte Fragezeichen machen. Es erstaunt mich, offen gesagt, wenn ausgerechnet die Enquete-Kommission zur Überwindung der Folgen der SED-Diktatur und auch Sie, verehrte Kollegin Krüger-Leißner, die bisherige, wie ich meine, sinnvolle Konzentration der Förderung des Bundes auf Gedenkstätten in den neuen Bundesländern aufgeben und nunmehr eine bundesweite Förderung einführen wollen. Vielleicht wäre es sehr viel sinnvoller, in den neuen Bundesländern größere Schwerpunkte zu setzen. Fragwürdig erscheint mir auch, wenn die EnqueteKommission die zeitliche Befristung der Bundesförderung auf zehn Jahre bereits jetzt aufheben und in eine Dauerförderung übergehen will. Ich meine, da sollten wir noch Feinarbeit leisten. Diese Punkte können wir in Ruhe im Ausschuß besprechen. Ich möchte jedenfalls, um das ganz klar zu sagen, die Länder aus ihrer Primärverantwortung für Kultur und damit auch für Gedenkstätten nicht so pauschal und schnell entlassen. Hier bedarf es noch einiger Gespräche, die wir sicherlich im Konsens führen werden. Das hoffe ich jedenfalls. Abschließend noch ein Punkt, der uns besonders am Herzen liegt. Ich freue mich sehr, daß sich auch beide Vorredner Gedanken darüber gemacht haben, wie wir mehr bürgerschaftliches Engagement bei der Errichtung, vor allem aber bei der Unterhaltung von Gedenkstätten initiieren können. Zu Recht weist der Bericht der Enquete-Kommission darauf hin, daß viele Gedenkstätten erst aus dem Engagement von Vereinen, Bürgerinitiativen oder einzelnen Menschen heraus entstanden sind. ({3}) Unsere Aufgabe liegt nun darin, zusätzliche Anreize für solche privaten Initiativen zu schaffen. Es wird Sie sicherlich nicht überraschen, wenn ich hierin ein wichtiges Betätigungsfeld für Stiftungen sehe. ({4}) Denn Stiftungen sind auf eine Verstetigung von Engagement angelegt, was gerade im Sinne einer dauerhaften Sicherung und Betreuung von Gedenkstätten von großem Vorteil ist. Fortschreibung und Aktualisierung der Gedenkstättenkonzeption ist eine Aufgabe, bei der wir uns, liebe Frau Kollegin Krüger-Leißner, in einem fraktionsübergreifenden Konsens bewegen sollten; das ist ganz klar. Ich signalisiere Ihnen, daß sich die F.D.P.-Fraktion ohne Scheuklappen und ohne Einengungen in voller Offenheit an dieser Diskussion beteiligen wird. Wir werden konHans-Joachim Otto ({5}) struktiv an der Fortschreibung des Gedenkstättenkonzepts mitarbeiten. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort die Kollegin Antje Vollmer von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegt in der Natur dieses Themas, daß es sich nicht für parteipolitische Debatten eignet. Das hat auch keiner getan, und das finde ich gut. Die Gedenkstätten brauchen die Unterstützung des ganzen Hauses. Die vorliegenden Anträge haben signalisiert, daß wir uns alle darum bemühen müssen und wollen. An realen Taten, Herr Kollege Otto, wird nicht nur die jetzige Regierung gemessen, sondern muß auch die vorherige gemessen werden, die den Bericht der Enquete-Kommission schon vorliegen hatte und daraus schon Schlüsse folgern konnte. Interessant ist, daß diese Debatte wie die Debatte über das Holocaust-Denkmal in einem ganz besonderen Zeitraum stattfindet. Sie findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem die Stimme der wirklichen Zeugen, der wenigen Überlebenden, schwächer, leiser und seltener wird. Gerade deswegen ist es so wichtig, über die Gedenkstätten zu sprechen. Wenn die wirklichen Zeugen nicht mehr reden können - manch einer fragt sich natürlich, ob man sie in der Zeit, in der sie noch reden konnten, nicht zuwenig angehört hat -, ({0}) dann müssen Steine, Bilder und Baracken sprechen und uns von dem berichten, was man sich aus eigener Phantasie gar nicht vorstellen könnte. Deswegen begrüße ich diese Debatte außerordentlich. Weil ich sie begrüße, möchte ich noch ein paar Worte zu der Anhörung, die wir in dieser Woche hatten, sagen: Da ist seitens der Vertreter der Gedenkstätten eine merkwürdige Verunsicherung geäußert worden, um nicht von einer gewissen Konkurrenz zu dem Projekt des Holocaust-Mahnmals zu sprechen. Wir sollten uns alle darum bemühen, diese Verunsicherung nicht zu schüren, sondern ihr entgegenzutreten. ({1}) So wie in dieser Woche in Berlin möchte ich allen Vertretern der Gedenkstätten, die natürlich wie immer Sorgen um ihre eigene Existenz haben - das hat auch seine Vorgeschichte -, sagen, daß sie nicht geschwächt werden, sondern außerordentlich gestärkt werden, wenn dieses Land und diese Republik darüber diskutiert, dieses Gedenken auch an einer ganz wesentlichen sichtbaren Stelle, im Zentrum der Metropole, an einem ganz herausgehobenen Ort in Berlin stattfinden zu lassen. Ich glaube, daß die Republik, die sich in ihrem Zentrum dieser Geschichte stellt, auch mit ihren Gedenkstätten an historischen Orten besser und sorgfältiger umgehen wird. Da besteht für mich keine Alternative. Das eine wird vielmehr das andere bestärken. Dies sollte man den Vertretern der Gedenkstätten deutlich sagen. ({2}) Gedenkstätten haben natürlich ihre Geschichte, auch ihre Zeitgeschichte. Dies ist eine Geschichte - sie ist im Osten und im Westen deutlich unterschiedlich -, angesichts deren Verlauf man viel über frühere Generationen und ihr Verhältnis zu unserer Vergangenheit begreifen kann. Im Westen, so muß man sagen, war diese Geschichte vielfach sehr mühselig. Das Gedenken ist gerade nicht von staatlicher Seite, sondern auf Grund des Engagements der Bürger entstanden, die auf teilweise sehr entbehrungsreiche Weise Gedenkstätten aufgebaut haben, wie zum Beispiel in Stukenbrock, Bergen-Belsen und Dachau. Das heißt, das Gedenken hat mit den Menschen vor Ort begonnen, die sich auf Grund der historischen Spuren und des Unfaßbaren, daß dies in ihrer Umgebung entstanden ist, dafür verantwortlich gefühlt haben. Erst allmählich und dann immer stärker ist dies auch ein Thema der öffentlichen Debatten geworden. Es scheint so, als ob sich die Bundesrepublik auf ihrer westlichen Seite lange Zeit nicht zugetraut hätte, sich diesen historischen Orten auch offiziell zu stellen. Im Osten wiederum - auch hier kann man Schale um Schale der Geschichte, der Erinnerung abheben - gab es ein staatlich verordnetes, aber sehr selektives Gedenken. Gedacht wurde nicht der Opfer in ihrer ganzen Breite und in ihren unterschiedlichen Spektren. Es wurde vielmehr eine Art Hierarchie der Opfer errichtet. Einen besonderen Erinnerungswert erhielt also der verfolgte kommunistische Kämpfer. Andere wurden dabei fast gar nicht mehr erwähnt. Erwähnt wurde auch nicht die Nachgeschichte, die Sonderlager der sowjetischen Besatzungsmacht oder der SED-Diktatur. An dem Verlauf dieser Geschichte im Westen wie im Osten kann man über die Schwierigkeit, sich der ganzen Geschichte zu stellen, viel begreifen. Die Enquete-Kommission hat eine, wie ich finde, sehr solide Arbeit gemacht. Ich begrüße, daß Sie uns Empfehlungen gegeben hat, die in den beiden heute vorliegenden Anträgen erwähnt werden. Das sind einerseits allgemeine Grundsätze, an die ich noch einmal erinnern will, daß also ehrenamtliche und professionelle Arbeit im Rahmen der Gedenkstättenkultur gleich wichtig ist, daß der dezentrale und plurale Charakter der Gedenkstättenlandschaft nicht durch falschen Zentralismus gestärkt werden darf und daß vor allen Dingen die Arbeit der Gedenkstätten international vernetzt sein muß. Das ist außerordentlich wichtig. Welches waren denn die ersten Gruppen, die zu den kleinen Gruppen vor Ort gekommen sind? Das waren oft internationale Gruppen, die gesagt haben: Wir trauen uns wieder an diesen furchtbaren Ort. Grundsätze der Beteiligung des Bundes sind ebenfalls im Enquete-Bericht festgehalten: Die Gedenkstätten müssen sich an einem historischen Ort befinden, Hans-Joachim Otto ({3}) dessen Bedeutung der Bevölkerung bewußt ist. Die Authentizität des Ortes ist wichtig. Die Arbeit der Gedenkstätten soll durch das Engagement der Opferverbände verstärkt werden, und diejenigen, unter denen besonders viele Opfer waren, sollen eine besondere Rolle einnehmen. Das Land, in dem die Gedenkstätte steht, soll an der Finanzierung beteiligt sein. Interessant und sehr wichtig finde ich den Vorschlag, einen wissenschaftlichen Beirat beim BMI für die Förderanträge für die Gedenkstätten einzurichten. ({4}) - Das war die Empfehlung in diesem Bereich. Ich meine, daß gerade ein solcher besonderer Beirat, der auch die Sensibilität besitzt, mit diesen Gruppen umzugehen. ({5}) - Ich war noch nicht zu Ende. Das haben wir jetzt neu geordnet. Wir haben das auch insofern neu geordnet, als der Staatsminister dies als eine seiner ersten Initiativen aufgegriffen und gesagt hat: Wir werden das vorrangig behandeln. ({6}) Daß es diesen Beirat gibt, daß wir es nicht mehr wie so oft in Entschädigungsfragen mit dem Finanzministerium zu tun haben, ist außerordentlich wichtig. Deswegen wollte ich das hervorheben und diese Anregung besonders betonen. Im einzelnen gibt es Empfehlungen in diesem Bericht der Enquete-Kommission, nämlich daß Sachsenhausen und die Stiftung „Topographie des Terrors“ zu 50 Prozent vom Bund und von den Ländern gefördert werden sollen, daß die Gedenkstätte Münchner Platz Dresden - das ist eine Gedenkstätte, die nur sehr wenig bekannt ist, in der aber über 1 000 Tschechen hingerichtet wurden - und die Gedenkstätte für die Opfer der NSEuthanasie vom Bund gefördert werden sollen, ebenso wie die internationalen Jugendbegegnungsstätten. Ich weiß aus meiner Arbeit in Dachau, wie schwer es gerade die Jugendbegegnungsstätten gehabt haben. Ich glaube, gerade diese brauchen, wenn wir die Erinnerung an die nächste Generation weitergeben wollen, außerordentlich große, starke und sichtbare Unterstützung vom Bund. ({7}) Ich glaube, daß die Gedenkstätten vom Willen der Bürger dieser Republik leben, die Geschichte als Teil der Voraussetzung unserer Demokratie zu begreifen. Deswegen unterstütze ich auch die Idee, Stiftungen aufzufordern, sich hier zu engagieren. Es ist ein Stück der besonderen Selbstvergewisserung der Demokratie in Deutschland, daß wir die Bürger nicht außen vor lassen, sondern als wesentlichen Teil dieser Erinnerungsarbeit verstehen. ({8}) Ich will noch einen letzten Satz sagen. Lassen Sie uns nicht vergessen, daß wesentliche Gedenkstätten, die Teil unserer Geschichte sind, nicht auf deutschem Boden stehen, sondern insbesondere in Polen. Ich selbst bin das erstemal in den 60er Jahren in Auschwitz gewesen und danach regelmäßig noch einige Male. Ich habe gesehen, wie sich Schicht um Schicht grauen Staubs auf den grauenhaften Dokumenten abgelagert und das Bild immer wieder verändert hat. Ich habe auch gemerkt, daß es für die Polen sehr schwer ist, dieses unglaublich große Lager im Sinne einer Gedenkstätte zu erhalten. Ich glaube, daß wir, wenn wir uns jetzt über den Erhalt für Gedenkstätten bei uns unterhalten, diese anderen Gedenkstätten nicht vergessen sollten. Daran sieht man das wirklich gigantische Ausmaß der Verbrechen, die man vor den Augen der deutschen Bevölkerung verheimlichen wollte. Das gehört dazu, wenn wir über dieses Thema reden. Danke. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Fink von der PDS-Fraktion das Wort.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es scheint eine gewisse Zusammenarbeit in dem Ausschuß für Kultur und Medien zu geben, da die meisten Mitglieder dieses Ausschusses hier reden. Ich kann mich sehr vielem von dem anschließen, was hier gesagt wurde. Ich möchte aber sehr konkret von einigen Erfahrungen berichten, die auch Ergänzung für die Anträge sein können. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, daß nicht alle neuen Bundesländer in der Lage sind, die von der Bundesregierung erwartete Summe für die Gedenkstättenerhaltung aufzubringen und in ihre Landeshaushalte aufzunehmen. Das hat zur Folge, daß diese Länder auch nicht die entsprechenden Bundesmittel bekommen. Deshalb können zum Beispiel im Land Brandenburg in den KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück wichtige Erhaltungsarbeiten nicht mehr realisiert werden. ({0}) Dadurch besteht in Ravensbrück die Gefahr, daß das Gelände des Konzentrationslagers, auf dem Betriebsanlagen in einmaliger Weise erhalten geblieben sind, die ein beredtes Zeugnis vom Zusammenwirken von SS und deutscher Industrie ablegen, nicht angemessen in die Gedenkstätte einbezogen werden kann. Gleiches gilt für das fast vergessene Jugend-KZ Uckermark, weil dieses Gelände nach dem Krieg durch die Sowjetarmee genutzt wurde und deshalb nicht als Erinnerungsstätte in der DDR zur Verfügung stand. Das Gelände ist jetzt frei, die Erinnerungsstätte muß neu errichtet werden. Weil die Mittel fehlen, mußten wichtige ForschungsergebDr. Antje Vollmer nisse vergangener Jahre unveröffentlicht bleiben. Sie alle wissen: Langfristige Forschungsarbeit ist mit ABMStellen nicht zu leisten, ({1}) sosehr sie für den einzelnen als Alternative zur Arbeitslosigkeit der einzige Ausweg sind. Die Anhörung der Gedenkstättenleiter zum Holocaust-Denkmal am 20. April im Reichstag in Berlin - sie ist schon mehrfach erwähnt worden - machte deutlich, daß es allen bis auf Buchenwald an Haushaltsmitteln für den elementaren Erhalt der Gebäude mangelt, ganz zu schweigen von der Finanzierung von Forschungsarbeiten und pädagogischen Mitarbeitern. Alle betonen hingegen, daß die Besucherzahlen gestiegen sind, besonders die Zahl Jugendlicher. Viele ehemalige Häftlinge führen als Zeitzeugen - 86jährige, 88jährige, im letzten Jahr sogar ein 90jähriger - durch die Gedenkstätten und berichten von ihrer Vergangenheit. Authentischere Zeugen gibt es nicht. ({2}) Viele ehrenamtliche Bürgerinnen und Bürger sind zu Führungen bereit und entlasten somit die kleine Zahl der unterbezahlten hauptamtlichen Mitarbeiter. Bei denen möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe zu Zeiten der DDR an 20 Workcamps mit Gruppen vom Bund der Antifaschisten und mit Aktion Sühnezeichen in Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück teilgenommen. Die Synode meiner Berlin-Brandenburger Kirche hat allen Pfarrern empfohlen, diese Gedenkstätten mit ihren Konfirmanden zu besuchen. Eine ganze Konfirmandengeneration ist in diesen Gedenkstätten geschult worden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Auswahl von Gedenkstätten, denen gesamtstaatliche Bedeutung zukommt, sind dringlich Ergänzungen nötig. Ich denke vor allem an die KZ-Gedenkstätten Dachau und Neuengamme, in denen von westlichen Alliierten Nazitäter interniert wurden, wie es die SMAD auf Alliiertenbeschluß hin auch getan hat. Wenn die fatale Nachnutzung in Buchenwald und Sachsenhausen mit großem finanziellen Aufwand so ausführlich dokumentiert wurde, sollte eine Dokumentation für Dachau und Neuengamme nicht unterlassen werden. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern auch die der dortigen Gedenkstättenleiter. ({4}) Unvollständig sind die Empfehlungen der EnqueteKommission auch in bezug auf die bisher vergessenen Opfergruppen. Es gibt in Buchenwald jetzt ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma, aber es gibt zum Beispiel keinen Gedenkort für Euthanasieopfer, die etwa in Brandenburg, Grafeneck, Hartheim, Sonnenstein und Hadamar ermordet wurden. Ausdrücklich unterstützen möchte ich den Staatsminister Naumann in den bei der Anhörung zum Holocaust-Mahnmal hier in Bonn angesprochenen Bemühungen um eine Öffnung des Archivs des Internationalen Roten Kreuzes in Arolsen. Der Zugang zu diesem Archiv würde demokratische Erinnerungskultur in Sachen NS-Forschung und damit die Arbeit der Gedenkstätten in erheblichem Maße voranbringen. Doch das muß auch finanziert werden. Meine Damen und Herren, in Erinnerung bringen möchte ich noch - das muß an diesem Ort gesagt werden dürfen, ohne einen Parteiendisput heraufzubeschwören -, daß die SED/PDS auf ihrem außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989 beschlossen hat, sich dafür einzusetzen - ich zitiere wörtlich - „daß den Opfern stalinistischer Opfer ein bleibendes Gedenken in unserer Gesellschaft bewahrt wird“. Das heißt für mich auch, der Opfer in den Gefängnissen Hohenschönhausen und Waldheim zu erinnern und zu mahnen. ({5}) Erinnerungskultur ist für mich eine rückhaltlose Aufdeckung des Verlaufs der Geschichte, und deshalb kann es keine Gleichsetzung geben zwischen dem SEDRegime, das sich ohne Blutvergießen aufgegeben hat, und der Nazidiktatur, die - wir wissen das ja alles - in einem bisher nicht gekannten Ausmaß Menschenleben aus allen Erdteilen vernichtet hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Fink, kommen Sie bitte zum Schluß!

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lassen Sie uns doch historisch gewissenhaft bleiben - um der Opfer willen. Die nächste Generation wird uns dafür historisch-kritisch zur Verantwortung ziehen. Ich unterstütze beide Anträge. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition und der CDU/CSU, untersetzen Sie Ihren Antrag mit der Forderung nach Bundesmitteln in einer diesen Aufgaben angemessenen Höhe, um dem Anspruch einer demokratischen Erinnerungskultur zu genügen! ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Gerd Weisskirchen von der SPD-Fraktion das Wort.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kann gar nicht anders sein: Dieses Thema kann nur konsensual behandelt werden - das zeigt auch die Debatte -, und das ist gut so. Deswegen werden wir alle uns darauf freuen können, daß Sie, Herr Staatsminister Naumann, in den nächsten Tagen oder Wochen ein geschlossenes Gesamtkonzept vorlegen werden. Auf der Grundlage dessen, was er uns vorlegen wird, werden wir im Ausschuß gemeinsam miteinander darüber reden, welche Schwerpunkte wir setzen werden. Staatsminister Naumann kann auf sehr gute Ergebnisse zurückgreifen. Er kann auf das zurückgreifen, was die Vorgängerregierung vorgelegt hat. Er kann darauf zurückgreifen, daß die Enquete-Kommission unter dem Vorsitz von Rainer Eppelmann eine wirklich hervorragende Arbeit gemacht hat. Lieber Herr Kollege Koschyk, Sie waren mit dabei; für uns hat Siegfried Vergin verantwortlich daran gearbeitet. Ich finde, das ist ein wirklich gutes Fundament. Dieses gute Fundament, das in der letzten Legislaturperiode erarbeitet worden ist, ist für uns eine Verpflichtung, neue Elemente zu schaffen, damit wir dem gerecht werden, worauf es jetzt ankommt, nämlich dem schwierigen Paradigmenwechsel, der in der Debatte beschrieben worden ist. In diesem historischen Einschnitt, wo keine Zeitzeugen mehr da sein werden, wo das, was sie an individuellem Gedächtnis, an Wissen, an Erkenntnissen über eine schreckliche Zeit mitgeben können, vergeht und uns zurücklassen, kommt es darauf an, diesen ungeheuren Schatz von Erfahrungen und Erkenntnissen zu nutzen und in ein kulturelles Gedächtnis zu verwandeln. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Noch einmal: Ich finde, wir haben eine phantastische Grundlage. Ich wünsche mir, daß diese konsensual geführte Debatte auf den verschiedenen Stufen auch konsensual bleibt. Denn das ist ein wichtiger Punkt, den wir gemeinsam festhalten dürfen - Frau Kollegin Vollmer, Sie haben darauf hingewiesen -: Wenn Sie sich die Geschichte der Gedenkstätten in Deutschland, besonders in der Bundesrepublik Deutschland, in Deutschland West, in Deutschland alt - wenn ich das einmal so sagen darf -, anschauen, dann werden Sie feststellen, daß sie als Kerne des Wissens um die Vergangenheit entstanden sind. Sie wurden zunächst weniger vom Staat gefördert. Vielmehr wurden sie gegen manchen Widerstand der bundesstaatlichen Strukturen, auch der Länder als eine Verankerung dessen installiert, was niemals vergehen darf, nämlich als eine Verankerung der Zivilität der Opfer, die in der Stunde der Gefahr in den Konzentrationslagern, in den Stätten, in denen sie grausam behandelt worden sind, ein Zeichen der Zivilität gegenüber einer ungeheuren Diktatur gesetzt haben. Das haben sie geschaffen, und auf der Grundlage dieses bürgerschaftlichen Engagements müssen wir weiterarbeiten. ({0}) Wir danken also diesen Initiatoren, die die Gedenkstätten aufgebaut haben. Mit unendlicher Mühe arbeiten sie seit vielen Jahren daran, dem Gedenken immer wieder neues Leben zu geben. Ihre Leistungen sind unersetzlich. Jetzt kommt es darauf an, daß der demokratische Kulturstaat, also auch der kulturföderale Staat, in der Lage ist, dies aufzunehmen, dieses Wissen als Schatz zu nutzen, um das, was an Erfahrung, Wissen und Fähigkeiten vorhanden ist, in die Zukunft zu transportieren. Es ist nämlich die Fähigkeit, dieses bürgerschaftliche Engagement der einzelnen, die als Opfer zunächst darüber empört gewesen sind, daß niemand anders als sie selbst das in die Hand nehmen mußte. Sie haben diesen Kern des Erinnerns gegen das Vergessen gebildet. Dieser Kern muß jetzt vom demokratischen Kulturstaat verantwortlich aufgegriffen werden. Deswegen bin ich froh darüber, daß wir gemeinsam den Konsens dahin gehend suchen wollen, daß dann auch die Komplementarität der Förderung, auch der finanziellen Förderung, erhalten bleibt. Wir wissen alle, daß wir da manches auch mit den Ländern werden bereden müssen. Wir werden also ein Gleichgewicht zwischen denen, die bürgerschaftliches Engagement leisten, den Ländern - übrigens auch den Gemeinden - und dem Bund finden müssen. Wenn uns das gelingt - ich bin fest davon überzeugt, daß dies gelingt -, dann, glaube ich, werden wir das schaffen, worauf es ankommt, nämlich die authentischen Erfahrungen in die Gegenwart hineinzunehmen und in die Zukunft mitzunehmen. Die Enquete-Kommission hat alle deutschen Formen der Erinnerung an beide deutsche Diktaturen gesichtet, hat sie bewertet und hat an uns Empfehlungen gerichtet. Sie greifen wir nun auf. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein wesentliches Problem aufmerksam machen, das auch hier in der Debatte schon zweimal aufgetaucht ist, nämlich das Problem, wie denn die beiden deutschen Staaten ich sage das jetzt etwas verkürzt -, nämlich die vergangene DDR und die Bundesrepublik Deutschland, mit ebenjenem Wissen in der ersten Phase ihrer Gründung umgegangen sind. Da gab es auf der einen Seite - wenn man das einmal so sagen darf - einen staatlich verordneten Antifaschismus. Ich bin sehr froh darüber, daß Sie auch über die Folgen dessen kritisch nachdenken. Das sind ja gestanzte Schablonen, die vom Staat vorgegeben worden waren. Aber dieser Antifaschismus hat die ganze Fülle der Ungeheuerlichkeit dessen, womit es die Opfer zu tun hatten, nicht erfaßt. Auf der anderen Seite gab es - wir im Westen sollten auch selbstkritisch sein - so etwas wie einen aufgesetzten Antitotalitarismus in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland. Auch er war so etwas wie eine Schablone, allerdings nicht staatlich verordnet. Aber er ist in der Kommunität der Geschichtswissenschaftler so erarbeitet worden. Jetzt kommt es darauf an, daß wir etwas Neues konstruieren. Denn beide Schablonen taugen nicht mehr als Grundlage für unseren Staat. ({1}) Das meine ich in dem Sinne, daß wir keine Schablonen mehr haben wollen. Also weder der staatlich verordnete Antifaschismus noch der aufgesetzte Antitotalitarismus wird uns in diesem Punkt helfen, sondern - jetzt komme ich genau zu dem zurück, was uns die Opfergruppen zeigen - es kommt darauf an, eine neue Form des antitotalitären Konsenses, wie Jürgen Habermas das genannt hat, nämlich eines wirklich antitotalitären Verständnisses, zu erarbeiten. Dies aber erwächst aus der Zivilgesellschaft selbst, erwächst aus der Betroffenheit der Opfer und erwächst aus dem individuellen Gedächtnis und der Erinnerung der Opfer. Jetzt kommt es darauf an, dieses individuelle Gedächtnis zu transformieren, zu verwandeln in das kulturelle Gedächtnis derer, die geGert Weisskirchen ({2}) meinsam in einer Gesellschaft zusammenleben. Das ist eine andere Zugangsperspektive, also nicht mehr, wenn Sie so wollen, von oben herab, sondern von unten herauf, aus der Gesellschaft. Aber das wird ein schwieriger Prozeß werden. Das sehen wir auch an allen Debatten. Ich empfehle zum Beispiel, sich das Buch von Helmut Dubiel anzuschauen, das jüngste, das er geschrieben hat. „Niemand ist frei von der Geschichte“, so ist der Titel dieses Buches. Das ist wohl wahr. Aber worauf es doch ankommt, ist, daß eben jene Grundlage, die neu zu erarbeiten ist, keine Grundlage mehr ist, die - noch einmal - von oben herab zu formulieren wäre, sondern eine, die von unten herauf zu formulieren ist - und übrigens eine, von der ich verstehe, daß wir als Parlament einen Beitrag dazu leisten können, nicht in dem Sinne, daß wir der Gesellschaft zu definieren hätten, wie sie sich in diesem Veränderungsprozeß selbst versteht, sondern einen Beitrag im, so würde Habermas dann sagen, gesellschaftlichen Diskurs, also in der gesellschaftlichen Selbstverständigung, schaffen. Was wäre diese gesellschaftliche Selbstverständigung? Ich würde sie so formulieren: daß Freiheit und Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenwürde, Solidarität und Menschenrechte die Grundlage ebenjenes neuen Selbstverständnisses einer zivilen Gesellschaft werden müßten. Das ist übrigens das, was uns die Opfer ja auch sagen, was sie uns aus ihrer furchtbaren Erfahrung der Ungeheuerlichkeit zweier Diktaturen mitgeben. Allerdings - da gebe ich Ihnen recht, darüber müßten wir dann neu debattieren - ist die Erfahrung jener zweiten Diktatur manchmal auch verknüpft mit jener der ersten Diktatur. Was mich immer sehr erschreckt hat, war die Tatsache, daß manche der Zwangsanstalten, die früher Konzentrationslager waren, dann leider von der SED genutzt und genommen worden sind als die vergleichbaren - nicht in der Grausamkeit - Zwangsanstalten, wo die Freiheit in die Gefängnisse geworfen worden ist. Auch darüber müßte man noch einmal neu debattieren, inwiefern jene beiden Diktaturen und die Kritik an ihnen diejenigen sind, die Freiheit verunmöglicht haben. Das ist, glaube ich, der entscheidende Kern, worauf es meiner Meinung nach ankommt, nämlich: Die Zivilität einer Gesellschaft mißt sich daran, wie beständig die aktive und demokratische Bürgerschaft daran arbeitet, die Verhältnisse gewaltfrei zu verändern. Wenn ich damit schließen darf: Fortschritt, auf den zu hoffen ist, kann durch nichts und niemanden garantiert werden als durch das eigenverantwortliche Handeln eines jeden einzelnen. Immer nur das eigenverantwortliche Handeln eines jeden einzelnen konstituiert Freiheit. Ohne Freiheit ist eine demokratische Gesellschaft niemals lebensfähig. Das haben uns die Opfer gezeigt. In deren Verantwortung und der Verantwortung dessen, was sie uns über die Zeiten hinweg erzählen, stehen wir. Ich hoffe, wir werden dieses Konzept in diesem Sinne gemeinsam erarbeiten. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kollegin Margarete Späte von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Margarete Späte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002802, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! „Wer sich der Vergangenheit nicht erinnert, lebt ohne Zukunft.“ Ich war 22 Jahre alt, als ich diesen Satz in einen Granit einmeißelte und diesen Stein unübersehbar auf den Ausstellungsplatz unserer Bildhauerwerkstatt im Süden des Bezirkes SachsenAnhalt stellte. Das war 1980. Es ist zwei Tage her, daß im Berliner Reichstag die erste Sitzung des Deutschen Bundestages stattfand, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, nach der Öffnung des Brandenburger Tores, durch das ich immer wieder gehe - so auch an jenem Tag - mit dem Gefühl, frei zu sein, dankbar für diese große Chance in meinem wiedervereinten Deutschland. ({0}) Erinnern an das, was geschah; Gedenken all derjenigen, die dafür gekämpft haben, daß wir heute in einem freiheitlich demokratischen Staat leben können! Wie unendlich die Dimensionen dessen sind, was nach zwei Diktaturen in Deutschland geschah, zeigt auch die gegenwärtige Diskussion zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Gerade deshalb ist es so wichtig, sich immer wieder dessen zu erinnern, dessen zu gedenken, zu mahnen und zu bewahren. Ich möchte mich heute in meinem Redebeitrag besonders den authentischen Orten der zweiten Diktatur in unserem Lande widmen. Wieviel Erinnern brauchen wir? Wieviel Zeitzeugnisse dieser jüngsten Vergangenheit sind uns Mahnung? Wieviel Gedenken ist uns wichtig? Die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ hat einvernehmlich eine unendlich wichtige Arbeit geleistet, deren Stellenwert man auf Grund des am 17. Juni 1998 vorgelegten Berichts nicht hoch genug einschätzen kann. Dafür möchte ich den Mitgliedern dieser Kommission heute nochmals danken. In Kapitel VI dieses Berichts, „Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer“, wird auf die vom Deutschen Bundestag 1994 formulierten Kriterien, nach denen sich der Bund an Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung beteiligen kann, ausführlich eingegangen. Der damalige Obmann der SPD in der EnqueteKommission, Markus Meckel, sagte vor einem Jahr: In unserem Abschlußbericht werden wir auch Vorschläge für die Förderung von Gedenkstätten, die an die Opfer von SED-Unrecht erinnern, vorlegen. Wir sind der Ansicht, daß sich der Bund nicht, wie bisher geplant, zehn Jahre nach der Einheit aus der Förderung zurückziehen darf. Gert Weisskirchen ({1}) Es ist mir wichtig, Ihnen, Herr Staatsminister Naumann, diese Forderung heute ganz groß auf Ihr Arbeitspapier zum Gesamtkonzept für die unter Bundesverwaltung stehenden Denkmäler und Gedenkstätten zu schreiben, an dem Sie seit Januar - zunächst nur für zwei Wochen, nun aber bis zum Sommer diesen Jahres arbeiten und über das wir sicherlich noch diskutieren werden. Die Umsetzung dessen sollte für Sie eine wichtige Aufgabe sein. Mit welch immer wieder bedrückender Aktualität uns die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit in der ehemaligen DDR einholt, zeigt die gestern durch die Nachrichten verbreitete Meldung, daß an einem weiteren Ort, in Diesdorf, nördlich von Berlin, durch die GauckBehörde einmal mehr aufgeklärt werden konnte, welch perfide Werkzeuge von der Stasi erdacht wurden. Für den Kampf gegen den „westlichen Imperialismus“ entwickelte man Terrorkampfmittel wie Sprengtextilien westlicher Produktion, die, zog man sie an, am Leibe explodieren sollten, auch Miniatombomben, um die westliche Stromversorgung lahmzulegen und Atomkraftwerke zu sabotieren. In einer Dienstanweisung steht: Auf lautloses Töten ist besonderer Wert zu legen. Viele Menschen aus meiner Heimat leiden noch heute unter den Folgen des damals geschehenen Unrechts. Wir müssen den vollen Umfang des Unrechts erkennen. Wir dürfen nichts vergessen. Heute, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung, hat die Natur, hat die jüngere Geschichte unseres Landes Gras über den Grenzstreifen, über die innerdeutsche Grenze wachsen lassen, auch über den Todesstreifen. Es darf aber kein Gras über unsere Erinnerungen wachsen. Es darf sich nie mehr wiederholen, was in 40 Jahren DDR-Regime passiert ist. ({2}) Deshalb möchte die CDU/CSU-Fraktion alles daransetzen, um die Zeugnisse der SED-Vergangenheit zu dokumentieren und authentische Stätten des Geschehens den nachfolgenden Generationen in Erinnerung zu halten. Nur in einer intensiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sehe ich eine Chance für unser wiedervereinigtes Deutschland, die teilweise verzerrte Wahrnehmung durch eine unterschiedliche Erinnerungskultur in Ost und West in Einklang mit der Wirklichkeit zu bringen. Der Weg zur inneren Einheit ist nur über die Aufarbeitung der Vergangenheit zu erreichen. Wir können unsere gemeinsame Zukunft nicht auf Irrtümern, Erinnerungslücken, Beschönigungen und Legenden aufbauen. Wir brauchen die authentischen Zeugnisse der DDR-Vergangenheit; sie müssen den Menschen zugänglich gemacht werden. Fakten statt Legenden! Beweise, Dokumente und Originalschauplätze gegen das Vergessen! Die Vermittlung historischen Wissens an diesen authentischen Orten muß von Generation zu Generation der jeweils neu zu gestaltenden Selbstvergewisserung mitmenschlicher und demokratischer Grundlagen individuellen und gesellschaftlichen Handelns dienen. Ohne eine menschliche Vorstellung von den betroffenen und leidenden Menschen, ohne menschliche Anteilnahme bleibt die Erinnerung eine bloße Abstraktion von Fakten. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Gedenkstätten und Mahnmale besonders deutlich. Weil uns die Förderung und der Erhalt eben jener Gedenkstätten in den neuen Ländern besonders am Herzen liegt, fordert die CDU/CSU mit dem vorliegenden Antrag eine finanzielle Beteiligung des Bundes an den Kosten für den Erhalt dieser Gedenkstätten, die entsprechend den Empfehlungen der Enquete-Kommission an den Bundestag und an die Bundesregierung festgeschrieben wurden und unstreitig den Tatbestand gesamtstaatlicher Bedeutung erfüllen. Diesen Empfehlungen möchte die CDU/CSU mit ihrem Antrag besonderen Nachdruck verleihen. Wir gehen dabei noch einen Schritt weiter, nämlich daß insbesondere die Gedenkstätte Normannenstraße in Berlin, die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit dem Grenzdenkmal Hötensleben und die Gedenkstätte Münchner Platz Dresden zusätzlich und dauerhaft in den Forderungskatalog und damit in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes aufgenommen werden und dadurch deren dauerhafte Förderung mit Bundesmitteln zum Erhalt dieser Gedenkstätten langfristig sichergestellt wird. Das Haus I in der Normannenstraße in Berlin als ehemaliger Sitz des Ministeriums für Staatssicherheit symbolisiert wie kein anderer Ort in Deutschland authentisch und grauenhaft den lautlosen Terror des MfS der 70er und 80er Jahre. Dieses Haus ist damit exemplarisch für die spezifische Form der politischen Verfolgung im System der DDR-Diktatur. Es war Mielkes Brutstätte für psychischen und physischen Terror. Schon oft bin ich mit Besuchern aus meinem Wahlkreis dort gewesen. Angesichts der kühlen und geschmacklos spießig-muffigen Inneneinrichtung sind viele ernüchtert. Es hat den Anschein, als lösten sich nacheinander mehrere Eisenbänder von den Herzen. Es wird jedoch immer wieder bedrückend still, wenn die Menschen direkt vor den erdachten Instrumenten psychischen und physischen Terrors stehen, von denen sie sich bisher nur selten ein Bild machen konnten, und wenn die Zeichen und Zeugnisse persönlichen Leids, der Trennungen der Mütter von ihren Kindern, der isolierten Gefangenschaft und der Ungewißheit des einzelnen über sein Schicksal einem heute vor Augen führen, was erst vor wenigen Jahren inmitten des eigenen Lebensumfeldes mit Menschen geschah, die nicht bereit waren, Unfreiheit und Unrecht hinzunehmen. Dieses stille Entsetzen der heutigen Besucher, vermischt mit Wut, Trauer, aber auch mit dem neuen bewußten Erleben von Recht und Freiheit, ist eine Form der sehr persönlichen Auseinandersetzung mit den Folgen einer selbst erlebten Diktatur, wie man sie nur an einem solchen Ort begreifbar und erfaßbar machen kann. Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit dem Grenzdenkmal Hötensleben ist ebenfalls von großer historischer Bedeutung. Marienborn war bis 1990 der größte innerdeutsche und alliierte Kontrollpunkt und Grenzübergang. Millionen von Reisenden haben ihn auf ihrem Weg über die Transitstrecke nach Berlin sowie im deutsch-deutschen Reiseverkehr passiert. Die ehemalige Grenzübergangsstelle Marienborn wurde am 13. August 1996 als Gedenkstätte vom Land Sachsen-Anhalt eingerichtet und wird bisher auch allein durch das Land finanziert. Marienborn ist nicht nur ein Symbol für die Teilung Deutschlands, sondern durch seine Lage an der Nahtstelle zwischen den beiden Systemblöcken gleichzeitig ein Synonym für die Teilung Europas. Von daher erachten wir die Erhaltung und Pflege gerade auch dieser Gedenkstätte als Aufgabe von Bund und Land als besonders wichtig. Die Gedenkstätte Münchner Platz Dresden ist das dritte Projekt. Im Landgerichtsgefängnis am Münchner Platz in Dresden waren ab 1934 Sondergerichte und Senate des Volksgerichtshofes ansässig. Die NSGerichtsbarkeit sprach hier über 2 000 Todesurteile aus und vollstreckte sie auch hier. Mehr als 1 000 Tschechen wurden an diesem Ort hingerichtet. Nach Kriegsende bis 1953 vollstreckten dort sowjetische Militärtribunale Todesurteile. Das Landgerichtsgefängnis in Dresden war darüber hinaus bis 1956 Schauplatz für Urteilsvollstrekkungen durch DDR-Gerichte. Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat sich bereits in der vergangenen Legislaturperiode zur Verantwortung des Bundes für eine Vielzahl von Gedenkstätten in den neuen Ländern bekannt und sich an deren Erhalt und Pflege mit Bundesmitteln beteiligt. Wegen der erst jetzt wieder zugänglichen Archive und Datenmaterialien besteht in diesem Bereich ein besonders großer Forschungsbedarf. Die Zugänglichkeit von authentischen Orten ehemaliger Verfolgung und Inhaftierung ist Mahnung und gleichzeitig Gedenken an die Opfer der Diktatur. Den Opfern widerfährt nicht nur durch materielle Entschädigung ein wenig Gerechtigkeit, sondern auch dadurch, daß sie wissen, die Orte ehemaliger Verfolgung und Inhaftierung werden immer wieder der jungen Generation Zeitzeugnis und Mahnung sein. ({3}) Wir können Unrecht nicht wiedergutmachen, aber wir können Zeichen guten Willens setzen. Deshalb möchten wir diese Gedenkstätten als Zeugnisse der Vergangenheit erhalten und sie dauerhaft im Gedenkstättenkonzept des Bundes festschreiben. Uns muß bewußt sein: Maßstab für die Glaubwürdigkeit der Politik eines wiedervereinten Deutschlands wird der Umgang Deutschlands mit seinen Gedenkstätten sein. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei- sung der Vorlagen auf Drucksachen 14/656 und 14/796 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der CDU/CSU auf Drucksa- che 14/656 soll zusätzlich dem Rechtsausschuß über- wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 9 a bis c auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine weitere Unterstützung der Atomkraftwerke Khmelnytsky 2 und Rivne 4 in der Ukraine - Drucksache 14/795 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Auswärtiger Ausschuß b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela Marquardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Investitionen der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in Khmelnytsky 2 und Rivne 4 - Drucksache 14/708 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten KurtDieter Grill, Dr. Klaus W. Lippold ({2}), Cajus Caesar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Festhalten an den Zusagen zum Bau von sichereren Ersatzreaktoren in der Ukraine - Drucksache 14/819 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Monika Griefahn von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns wieder einmal wenige Tage vor einem Gedenktag. Am Montag jährt sich der Tag des Unglücks von Tschernobyl zum 13. Mal. Die Regierungen der G-7-Staaten und die Europäische Kommission haben im Dezember 1995 in Ottawa in einem Memorandum of Understanding ein Programm beschlossen, mit dem sie die Ukraine unterstützen, die Atomkraftwerke, die um Tschernobyl herum noch in Betrieb sind, im Jahre 2000 zu schließen. Wir wollen der Ukraine helfen, daß sie dann Alternativen für ihre Energieversorgung zur Verfügung hat. Wir unterstützen dieses Memorandum. Wir unterstützen die G-7-Staaten. Wir wollen das Aus von Tschernobyl im Jahre 2000. ({0}) Aber wir wollen diesen Ausstieg ganz, also nicht mit Ersatzatomkraftwerken, sondern mit einem GuDKraftwerk und Energieeinspartechnologien. ({1}) Das entspricht auch der Least-cost-Lösung, die in dem Memorandum of Understanding beschrieben worden ist. Der hier zur Debatte stehende Antrag, den SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebracht haben, bedeutet also nicht, daß wir aus der Gemeinschaft der G-7/G-8Staaten ausscheren, sondern daß wir gemeinsam mit den G-7/G-8-Staaten versuchen, den günstigsten Weg für eine neue Energieversorgung in der Ukraine zu finden. In der Zwischenzeit haben sich auch andere europäische Parlamente dafür ausgesprochen, die geplanten alternativen Atomkraftwerke in Khmelnytsky und Rivne durch Gaskraftwerke und Energieeinsparung zu ersetzen. In Großbritannien haben beide Häuser Anträge gegen die Unterstützung des Weiterbaus eingebracht. In Dänemark gibt es jetzt wieder eine starke Mobilisierung im Parlament. In Österreich ist die Regierung nicht bereit, den Bau der Atomkraftwerke zu finanzieren. Selbst in Slowenien haben sich jetzt Abgeordnete zusammengetan und wollen ihre Regierung auffordern, andere Energieversorgungsmöglichkeiten in der Ukraine voranzubringen. Das sind ermutigende Signale. Es ist ein politisches Signal aus Europa, Anlagen, wie wir sie mehrfach in osteuropäischen Ländern haben, nicht mehr zu unterstützen, sondern statt dessen eine Energieversorgung in diesen Staaten mit auf den Weg zu bringen, wie wir sie auch hier in der Bundesrepublik auf den Weg bringen wollen. Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regierungserklärung heute morgen das besondere Verhältnis zwischen der NATO und der Ukraine angesprochen. Diese angestrebte Partnerschaft betrachte ich als äußerst wichtig für stabile Verhältnisse in Europa. Deswegen ist die Bundesrepublik besonders verpflichtet, die Ukraine dabei zu unterstützen, ihren Energiesektor und ihre Wirtschaft zu reformieren. ({2}) Wir wollen deshalb die Bundesregierung ermutigen, in Verhandlungen mit den anderen Ländern genau diesen Weg einzuschlagen, nämlich ein Gas- und Dampfkraftwerk zu finanzieren, Energieeffizienz und Energiesparmaßnahmen zu fördern. Die entsprechenden Kosten wären geringer als die, die in dem ursprünglichen Antrag für den Bau alternativer Atomkraftwerke in der Ukraine veranschlagt sind. Um die Situation zu verdeutlichen: Wenn wir uns die Studien anschauen, die zum Beispiel die Europäische Entwicklungsbank vorgelegt hat, dann kommen wir zu dem Schluß, daß der Fertigbau der beiden Reaktorblökke etwa 1,8 Milliarden Dollar kostet. Die Errichtung eines Gas- und Dampfkraftwerks würde nur etwa 1 Milliarde Dollar kosten, also rund 800 Millionen Dollar weniger. Außerdem wäre der Zeitraum für die Erstellung wesentlich kürzer: Es wird damit gerechnet, daß die Fertigstellung des Gas- und Dampfkraftwerks etwa zwei Jahre dauern würde, während die Fertigstellung der Atomkraftblöcke etwa zwischen drei und fünf Jahre einige sagen: sogar bis zum Jahre 2006 - dauern würde. Über allem steht die Sicherheit. Dies ist ein ganz wichtiges Kriterium; denn wir wissen alle, daß die Atomkraft nicht fehlerfreundlich ist. Dies kann bei einem Gas- und Dampfkraftwerk wirklich ausgeschlossen werden. ({3}) Ich möchte noch eine wichtige Bemerkung zu den Zahlungen machen: Im gesamten Energiesektor der Ukraine wurden 1998 nur 16,7 Prozent aller Rechnungen bar, 60 Prozent durch Tauschgeschäfte und 23 Prozent überhaupt nicht bezahlt. Atomstrom wurde zu 4,5 Prozent in bar, zu 53 Prozent durch Tauschgeschäfte und zu 40 Prozent gar nicht bezahlt. Das bedeutet, daß die Kredite von der Europäischen Entwicklungsbank, an der die Bundesrepublik Deutschland mit 190 Millionen Dollar beteiligt wäre, sowie andere Kredite wie HermesKredite, die sich auf insgesamt etwa 880 Millionen DM belaufen würden, nur durch Stromreimporte ausgleichbar wären. Das gilt natürlich auch für ein Gaskraftwerk. Aber angesichts der niedrigeren Kosten ist die Wahrscheinlichkeit, daß der geringere Kredit zurückgezahlt werden kann, tatsächlich höher. Diese Gesichtspunkte sprechen dafür, daß wir die Regierung auf diesem eingeschlagenen Weg unterstützen. Ich denke, daß wir diesen Ansatz verfolgen sollten, und bin sehr froh, daß wir diesen Antrag gemeinsam eingebracht haben. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Griefahn, Sie haben am Schluß Ihrer Rede gesagt, es spreche alles dafür, die Regierung auf ihrem Weg zu unterstützen. Es muß zunächst aber festgehalten werden, daß die offiziellen Stellungnahmen der Bundesregierung, sowohl die Stellungnahmen des Bundeskanzleramtes als auch die des Bundesfinanzministeriums, der Europäischen Entwicklungsbank in London eine klare Unterstützung für den Bau von K 2 und R 4 in der Ukraine signalisiert haben. Die Europäische Entwicklungsbank hat sich ausweislich der Berichterstattung und den sonstigen Informationen, die mir vorliegen, ausdrücklich noch einmal versichert, wie denn die Haltung der G-7-Staaten ist. Wenn ich richtig informiert bin, dann ist es so, daß Herr Kutschma für die Bundesregierung deutlich gemacht hat, daß man an den gegebenen Zusagen festhält. Der Punkt ist: Wenn die Regierung von Ihnen unterstützt würde, bedürfte es des Antrages nicht. Also gibt es offensichtlich doch eine Veränderung, die durchaus mehr Fragen aufwirft, als daß sie Antworten gibt. ({0}) - Das ist ja unbestritten. Ich reagiere doch nur auf das, was heute festgestellt worden ist, Frau Ganseforth. Die Widersprüche darf ich wohl noch aufzeigen. Der Deutsche Bundestag hat sich vor nicht allzu langer Zeit in der Drucksache 13/8391 - das sind die Unterlagen zur Agenda 2000 - mit der Frage „Osteuropa und nukleare Sicherheit“ beschäftigt. Vielleicht schauen Sie einfach einmal in dieses Dokument hinein, das Sie im Bundestag befürwortet haben. Es ist ganz interessant, daß Sie ein Dokument unterschrieben haben, in dem es - bezogen auf die Frage der Kernkraftwerke, die unter Einsatz sowjetischer Technologie errichtet wurden und internationalen Sicherheitsnormen nicht genügen heißt: Sie einfach stillzulegen, wäre keine Lösung, denn sie stellen nicht alle dasselbe Risiko dar, und die Kosten für den Aufbau einer alternativen Energieversorgung wären äußerst hoch. Einige Bewerberländer haben bereits mit dem Bau neuer Kernkraftwerke begonnen, da sie dies als den kostengünstigsten Weg zur Deckung des wachstumsbedingt steigenden Energiebedarfs und zur Erreichung von Unabhängigkeit im Energiesektor ansehen. Die Union steht unter dem Gebot des Schutzes von Leben und Gesundheit ihrer jetzigen und künftigen Bürger. Das bedeutet, daß die Bewerberländer uneingeschränkt an den Bemühungen mitwirken sollten, die Nuklearsicherheit in ihrem Land auf internationales Niveau zu bringen. Genau das ist der entscheidende Punkt im Hinblick auf Ihre Initiative: Man steht in der Ukraine doch nicht am Beginn des Baus von zwei Kernkraftwerken, sondern mittendrin! Es ist interessant, daß wir als Abgeordnete eine Einladung der Gesellschaft für Reaktorsicherheit zu einem Seminar über Gesetzgebungsverfahren und Aufsicht auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie mit osteuropäischen Parlamentariern und Behörden bekommen und Sie zur gleichen Zeit alle Maßnahmen ergreifen, um in Osteuropa Sicherheit im Vollzug und im Betrieb von Kernkraftwerken zu gewährleisten. ({1}) - Natürlich ist das ein Widerspruch, und zwar insofern, als Sie heute den Eindruck erwecken, als würden in der Ukraine Kernkraftwerke gebaut, von denen ein besonderes Risiko für uns oder für die Ukrainer ausginge. Das ist nicht der Fall. ({2}) Sie haben sich - ich meine das Dokument, das wir gestern auch im Ausschuß vorliegen hatten - der Europäischen Union angeschlossen, und Sie entziehen nicht nur der Ukraine, sondern auch der internationalen Vereinbarung, die ja mit gutem Gewissen so verantwortet und geplant worden ist, im Grunde genommen ein Stück des Bodens, auf dem sie steht. Es ist richtig, wenn der Bundeskanzler wie heute morgen auf die besondere Bedeutung der Ukraine hinweist. Laut Berichten in der „Berliner Zeitung“ und im „Handelsblatt“ sowie nach dort zitierten Aussagen des Chefs der Europäischen Entwicklungsbank hat der Bundeskanzler deutlich gemacht, daß die Verpflichtung zum Bau der Kernkraftwerke in der Ukraine von der Bundesregierung eingehalten wird. Es wird noch eines klaren Wortes der Bundesregierung bedürfen, denn nach dem deutschfranzösischen Treffen ist es in interessanter Weise zu unterschiedlichen Darstellungen in der Öffentlichkeit gekommen: einmal seitens des Finanzministeriums und einmal seitens des Bundesumweltministeriums. Wenn ich richtig informiert bin, legen die Franzosen großen Wert darauf, daß Deutschland in der einmal begonnenen Verantwortung bleibt und sich ihr nicht entzieht. ({3}) - Ach, wissen Sie, Ihre Vergleiche taugen nicht so wahnsinnig viel, weil Sie letztlich auch an einem Punkt sind - ich sage das unter Berücksichtigung manch anderer Diskussion, die wir in diesem Hause führen -, an dem Sie über die Frage entscheiden müssen, was andere Länder zu entscheiden haben und inwiefern wir darauf Einfluß nehmen. Wenn Sie sich einmal den Anteil Deutschlands an der Gesamtfinanzierung ansehen, dann finde ich, daß der Deutsche Bundestag etwas zurückhaltender mit der Frage umgehen muß, ob er von sich aus entscheidet, was in der Ukraine gebaut werden darf und was nicht. ({4}) Denn wir haben es mit einem Land zu tun, in dem seit noch nicht allzu langer Zeit in eigenständigen Parlamenten Entscheidungen zur Energiepolitik getroffen werden können. Die Frage von Gasreaktoren ist mit Sicherheit auch unter psychologischen Gesichtspunkten eine Frage anderer Abhängigkeiten, als Sie sie für die Kernenergie hier skizzieren. Ich meine, daß es der Bundesregierung und auch diesem Hause gut ansteht, die der Ukraine gegebenen Zusagen nicht mitten in einem Verfahren zurückzuziehen, deren Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit - wenn ich das richtig sehe - durchaus noch geprüft werden; so ist es ja nicht. Ich plädiere namens meiner Fraktion dafür, daß wir der Ukraine die Möglichkeit einräumen, selbst zu entKurt-Dieter Grill scheiden, und dabei sicherstellen, daß das, was dann gebaut wird, so sicher ist, daß auch wir damit umgehen können. Ich meine, dies ist der richtige Weg und nicht die Art und Weise, wie Sie versuchen, auf die Dinge Einfluß zu nehmen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Michaele Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur wenige wissen, daß in Jugoslawien in der Nähe von Belgrad ein Atomkraftwerk steht. Das ist eine weitere Sorge, die ich mir mache, wenn ich an den Krieg denke. Wir wissen nicht, wie die politische Situation in 10 oder 20 Jahren in der Ukraine sein wird. Das ist für mich ein Grund, warum man in dieser Region keine Atomkraftwerke finanzieren sollte. ({0}) Es gibt einen zweiten Grund. Warum sollten wir Atomstrom aus Kraftwerken russischer Bauart finanzieren, der auf Grund der Liberalisierung des Energiemarktes dann für 1,2 Pfennig nach Deutschland transportiert wird, wodurch deutsche Arbeitsplätze vernichtet werden? Das ist ein zweiter Grund. ({1}) Ich nenne einen dritten Grund. Diese Atomkraftwerke sind nicht sicher. Herr Grill, Ihre Bundesregierung hat Stendal mit dem Argument abgeschaltet, diese Technik sei nicht akzeptabel. ({2}) - Sie haben auch Greifswald abgeschaltet. Es wird, wenn dieser Plan umgesetzt wird, gravierende Mängel im Feuerschutz, bei der Beständigkeit der Druckbehälter und im Kontrollsystem geben. Das westliche technische Niveau, das auch noch keine Sicherheit garantiert, aber auf jeden Fall besser ist, ist nicht gewollt. Es ist bei diesem Bau auch nicht möglich. Hinzu kommt, daß den Arbeitern zum Teil monatelang kein Gehalt ausgezahlt wird. Das heißt, die Gefahr menschlichen Versagens ist hier wesentlich größer als anderswo. ({3}) Die Entsorgungsfrage ist ungelöst. Die Berge von Plutonium wachsen an, wobei es eine Mafia gibt, die das in aller Herren Länder verscherbelt. Die Sicherheitsfrage ist auch ein Grund, warum man dort keine AKWs bauen oder finanzieren sollte. Monika Griefahn hat einen vierten Grund genannt: Es ist auch billiger, wenn wir dort GuD-Kraftwerke oder Energieeinsparungen finanzieren. Immerhin soll der deutsche Bundesbürger ungefähr 3,5 Milliarden DM an Steuergeldern aufbringen. Das sollte dann auch in einer sinnvollen Weise verwendet werden. Die Finanzierung von K 2 und R 4 widerspricht dem Wortlaut des „memorandums of understanding“, weil es eben nicht die finanziell günstigste Möglichkeit ist. Das sind vier gute Gründe dafür, warum wir diesen Antrag gestellt haben, vier gute Gründe, warum diese Bundesregierung im Verhältnis zur alten Bundesregierung eine Kurskorrektur vornehmen sollte. Weil wir so gute und überzeugende Gründe haben, Herr Grill, kommen Sie jetzt nur noch mit Hilfsargumenten. Ich möchte zwei davon aufgreifen. Das eine Argument ist - das haben Sie schon im Ausschuß und auch hier wieder angeführt -, wir greifen in die Souveränität der Ukraine ein. Zunächst einmal werden die Auswirkungen eines GAU auch unsere Souveränität beeinflussen; denn radioaktive Strahlen kennen keine Grenzen, und auch wir werden die Folgen tragen müssen. ({4}) Deswegen gibt es ja auch völkerrechtliche Verständigungen über die Sicherheit bei Atomkraftwerken und dergleichen mehr. Zweitens war es doch genau umgekehrt. Ich möchte aus einem Brief des Präsidenten der Ukraine, Leonid Kutschma, vom 11. Mai 1998 an Tony Blair zitieren, in dem er - ins Deutsche übersetzt; er hat natürlich Englisch geschrieben - schreibt: Das Vorhaben, diese Kraftwerke fertigzustellen, wurde von den westlichen Partnern vorgeschlagen, als Alternative zum ukrainischen Vorhaben eines Gas- und Dampfturbinenkraftwerks bei Slavutic. ({5}) Genauso ist es. Sie haben in die Souveränität eingegriffen, indem Sie mit der Macht des Geldes die ukrainische Regierung dazu gezwungen haben, AKWs und nicht ein GuD-Kraftwerk zu bauen. In der Ukraine sind 90 Prozent der Bevölkerung gegen AKWs. Nach den Erfahrungen von Tschernobyl ist das auch keine Überraschung. Auch die ukrainische Regierung wollte etwas anderes. Sie haben als Gehilfe von Siemens mit der Macht des Geldes die Ukraine dazu gezwungen. Das ist ein Eingriff in die Souveränität. Wir kehren jetzt zu einem offenen Verfahren zurück. Ich komme zu Ihrem zweiten Hilfsargument. In Ihrem Antrag behaupten Sie, daß Trittin die Zusage für die Mitfinanzierung des Sarkophags von Tschernobyl zurückziehen will. Die Vereinbarung über westliche Hilfe für den Sarkophag des Unglücksblocks 4 von Tschernobyl steht aber in keinerlei Zusammenhang mit dem „memorandum of understanding“ von 1995; vielmehr beruht sie auf einem separaten Abkommen von 1997. Zu keinem Zeitpunkt - das möchte ich hier ganz deutlich betonen; ich habe mit Herrn Trittin telefoniert; die Staatssekretärin sitzt dort und kann Ihnen das bestätigen - hat das BMU in Frage gestellt, daß der Sarkophag für den zerstörten Block 4 von Deutschland mit finanziert wird - im Gegenteil. Das Memorandum sieht nur die Schließung der Blöcke 1 bis 3 als Gegenleistung für die Schaffung von Ersatzoptionen vor, egal ob es sich um nukleare oder nicht nukleare handelt. Auch von diesem Versprechen ist die Bundesregierung nicht abgerückt, und sie wird davon auch nicht abrücken. Deswegen ist Ihr Antrag eine absolut infame Unterstellung. Im Namen der Bundesregierung, des Umweltministeriums und unserer beiden Fraktionen weise ich sie entschlossen zurück. ({6}) Ich bin sehr froh über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Ich danke auch dem Umweltministerium, dem Auswärtigen Amt, dem Finanzministerium und auch dem Bundeskanzleramt, daß sie bereit sind, in diesem Punkt mit uns zusammen eine Kurskorrektur vorzunehmen. Es kommt jetzt sehr viel Arbeit auf sie zu, weil es darum geht, diese Zielvorstellung auch diplomatisch umzusetzen. Der Ukraine muß man die Sorgen nehmen, daß jetzt nichts mehr finanziert wird. Man muß mit ihr als Partner sprechen. Man muß mit den G-7-Staaten reden, so daß sich die Position insgesamt ändert. Das wird nicht einfach sein, insbesondere deswegen, weil es parallel zum Kosovo-Krieg und der geplanten Friedensinitiative geschehen soll, an der die Ukraine teilnehmen soll. Aber ich glaube, es wird gelingen. Man muß dabei kein diplomatisches Porzellan zerschlagen. Ich habe zutiefst Vertrauen in unsere Ministerien. Diese Kurskorrektur war notwendig. Weitere Projekte dieser Art stehen auf der Tagesordnung. Auch die werden wir hier diskutieren und konsequent verfolgen. Wir haben die Möglichkeit, ein neues Kapitel internationaler Energiepolitik aufzuschlagen und zu signalisieren, daß es Alternativen zu diesen veralteten Technologien gibt. Andere, neue Technologien sind preiswerter, umweltfreundlicher, beherrschbarer und gerade deshalb für einen weltweiten Einsatz geeignet. Ich möchte auch meinen Kollegen von der SPD, Michael Müller, Monika Griefahn und Horst Kubatschka, außerordentlich für diesen gemeinsamen Antrag danken. Wir haben es wirklich gut gemacht. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulrike Flach von der F.D.P.-Fraktion.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Hustedt, ich muß Ihnen entschieden widersprechen. Was uns mit dem Datum vom 20. April in geradezu überfallartiger Form von Rotgrün auf den Tisch geflattert ist, zeigt zum wiederholten Male, daß sich diese Regierung in der Energiepolitik in die Isolation begibt. ({0}) Nachdem sich Herr Trittin mit Paris und London in Sachen Wiederaufbereitung angelegt hat, will sich die Regierung jetzt - auch da widerspreche ich Ihnen entschieden - aus dem Konsens der G-7-Staaten zur Modernisierung der Kraftwerkstechnik in der Ukraine verabschieden. Die PDS hat ihren Antrag wenigstens rechtzeitig eingereicht. Aber, ehrlich gesagt, das ist auch schon das einzig Positive, was ich daran finden kann. Sie sprechen selbst davon, daß die beiden Kraftwerke fast fertiggestellt sind. In der Tat, sie sind zu 80 Prozent fertig. Wenn Sie jetzt die Kredite zurückziehen, dann wird das Projekt, genauso wie Sie es planen, scheitern. Erklären Sie mir bitte einmal die Wirtschaftlichkeit des Vorhabens, ein zu 80 Prozent fertiges Projekt abzubrechen und an seine Stelle den Neubau von Gaskraftwerken zu setzen! Was kann geschehen? Die Ukraine wird bilateral mit Rußland verhandeln, um kostengünstige Lösungen zur Fertigstellung von K 2 und R 4 zu finden. Solche Verhandlungen, das wissen wir, finden bereits statt. Oder Tschernobyl wird weiter betrieben, auch eine uns allen sicherlich nicht sehr genehme Entwicklung. Kurz, mit der Kündigung der Kredite erreichen Sie Ihr politisches Ziel nicht; Sie brechen Verträge, schädigen die deutsche Exportwirtschaft und machen die Bundesrepublik zu einem unsicheren Kantonisten in einem europäischen Konsortium. ({1}) Bei der Kreditvergabe, Herr Matschie, ist Deutschland ja nicht alleine. Für die Modernisierung von K2 und R4 hat sich ein französisch-russisch-deutsches Konsortium qualifiziert. Haben Sie, Frau Griefahn, mit Frankreich und Rußland über das gesprochen, was Sie uns hier heute vorlegen? ({2}) Sind diese Staaten bereit dazu oder gar begeistert von Ihrem Vorschlag, Gaskraftwerke zu bauen? - Ich glaube es nicht, Frau Hustedt. Haben Sie einmal daran gedacht, welche Wirkung Sie mit solchen Anträgen in der Ukraine erzielen? Wir binden diesen wichtigen Staat in europäische Programme ein und brechen sie kurz vor Ende der Projekte wieder ab. Wie können wir von anderen Staaten die erheblichen Vorleistungen erwarten, die sie für einen EU-Beitritt erbringen sollen, wenn Sie sich wie die Axt im Walde aufführen? ({3}) Ich darf bei dieser Gelegenheit auch noch einmal an die heutige Rede des Bundeskanzlers erinnern, in der er die Ukraine erwähnt hat und darauf hingewiesen hat, daß man partnerschaftlich mit ihr umgehen sollte. Er endete mit Bezug auf die osteuropäischen Staaten: Aber sie wollen und sie brauchen auch wirtschaftliche und soziale Stabilität. Diese, das wissen wir alle, ist besonders von der Energieversorgung abhängig. Also: morgens schöne Reden für die Medien und abends Anträge, die genau dieses Ziel konterkarieren. ({4}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Sicherheit sagen. Frau Hustedt, Sie versuchen K2 und R4 aus ureigenstem ideologischen Interesse in die Nähe von Schrottkisten zu rücken, die wir in Osteuropa mit wachsender Sorge beobachten. Hier handelt es sich aber nicht um Schrott - da stimme ich Herrn Grill zu -, sondern um Druckwasserreaktoren modernerer russischer Bauart. Diese sind dem westlichen Sicherheitsniveau wesentlich näher, da können Sie noch so leidend schauen. ({5}) Der Kredit, um den es hier geht, zielt darauf ab, die Technik weiter dem westlichen Sicherheitsniveau anzupassen. Die ursprünglich vorgesehene russische Leittechnik soll durch moderne westliche Sicherheitstechnik ergänzt und ersetzt werden. Das wissen Sie genauso gut wie wir. Auch die F.D.P. will keine Monostrukturen im Energiesektor - es kann nicht nur die Kernenergie geben, da sind wir uns absolut einig -, sondern wir wollen einen vernünftigen Energiemix, auch in der Ukraine. Mit Ihren Anträgen schaden Sie allerdings diesem Ziel. Sie isolieren Deutschland weiter in der Energiepolitik, Sie werden als Vertragspartner unberechenbar und schädigen die deutsche Exportwirtschaft. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Eva-Maria BullingSchröter von der PDS-Fraktion das Wort.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 26. April jährt sich die Katastrophe von Tschernobyl. Heute haben wir die Möglichkeit, durch die Annahme des Antrages von SPD und Grünen, keine Kredite für den Export von Atomtechnologie in die Ukraine bereitzustellen, ein Zeichen dafür zu setzen, daß es uns Ernst ist, aus der Atomkraft auszusteigen. ({0}) Nun soll man ja sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Deshalb lassen Sie mich sagen: Ein wenig hat natürlich die PDS schon mitgeholfen, daß heute das Haus diese Debatte führt. Man braucht sich nur das Datum unserer Drucksache anzuschauen; Frau Flach hatte das ja schon bemerkt. Außerdem hatte ich schon im Herbst letzten Jahres einen diesbezüglichen Brief an den damaligen Finanzminister Oskar Lafontaine geschrieben. Vielleicht sind Sie aber auch den dankenswerten Appellen der NGOs wie Urgewald und WEED gefolgt, die sich in dieser Sache aktiv engagiert haben und immer noch engagieren. Nun gut, uns ist es lieber, wir stimmen einem Antrag der Regierungskoalition zu, als daß diese einen inhaltlich identischen Antrag von uns ablehnt. Positiv festzuhalten bleibt: Offensichtlich sind Sie noch nicht beratungsresistent; das läßt hoffen. Hoffen wir, daß wir auch in Fragen des heimischen Atomausstieges weiterkommen. Die PDS-Fraktion hat am Dienstag beschlossen, einen Gesetzentwurf zur Beendigung der Wiederaufbereitung zum 1. Januar 2000 einzubringen. Die zeitliche Nähe der Beratung zum christlichen Pfingstfest läßt mich hoffen, daß Ihnen vielleicht der Heilige Geist rechtzeitig in die Glieder fährt und wir auch dort zu einem positiven Ergebnis kommen. ({1}) Nur eines darf nicht passieren: daß, während die Anträge im parlamentarischen Verfahren sind, anderweitig Fakten geschaffen werden. Daher möchte ich schon die öffentliche Zusage von Herrn Finanzminister Eichel einfordern, daß er sich auch ohne förmlichen Beschluß des Hauses an die politischen Intentionen der Anträge gebunden fühlt. Ich erwarte hier eine Antwort. Umweltminister Trittin hat sich am 15. April dazu entsprechend erklärt. Er hat in einem Interview betont, wir müßten für die Sicherung des Sarkophags in Tschernobyl finanzielle Mittel bereitstellen und der Ukraine und anderen Staaten bei der Lösung ihrer Energieprobleme helfen, ohne sie in die nukleare Sackgasse zu führen, auch wenn wir Siemens das Geschäft vermasseln. Ich denke, das ist richtig. Es gibt Alternativen, wie den Bau von Gaskraftwerken, die ökologisch vertretbar sind, und es gibt auch in Osteuropa Potential zur Energieeinsparung und Effizienzsteigerung. Das ist der Weg, den wir gehen müssen. Noch ein Abschlußsatz zu Herrn Grill. Er sprach von Souveränität; Frau Hustedt hat das schon aufgegriffen. Ich würde mir wünschen, daß dieses Parlament die Souveränität anderer Länder, die Sie betonen, auch in anderen Fragen ernst nehmen würde, ({2}) zum Beispiel in der Frage des Krieges in Jugoslawien. Noch ein Satz dazu: Es gab in der letzten Legislaturperiode eine Besprechung mit Vertretern des Umweltministeriums aus der Ukraine. Ich habe das schon im Umweltausschuß berichtet. Sie waren einstimmig der Meinung, daß sie alternative Energien wollen. Aber sie haben aus eigener Kraft nicht die Möglichkeit, diese alternativen Energien zu finanzieren. Sie werden von den großen Banken erpreßt; wir kennen das. Ich denke, mit diesem Antrag ist ein Schritt in die richtige Richtung gemacht. Deswegen plädiere ich für Zustimmung. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner hat das Wort der Kollege Horst Kubatschka von der SPD-Fraktion.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe immer gemeint, den Bayern obliege das Recht, auf den Putz zu hauen. Aber Frau Kollegin Flach, Sie haben heute bewiesen, daß auch Sie das können. ({0}) Es sind schon große Worte, wenn Sie von überfallartigen Anträgen sprechen. Da muß ich Ihnen natürlich sagen, daß Sie offenbar nicht die Presseberichte der letzten Zeit gelesen haben. Auch dort ist das die ganze Zeit diskutiert worden. Der Begriff Überfall klingt in diesem Zusammenhang wirklich recht gewaltig. Kollege Michael Müller hat mir gerade gesagt, er habe seit Montag 1 200 Zuschriften zu diesem Thema bekommen. Bei den Bürgern ist das Thema also angekommen, bei Ihnen nicht. Zu Ihnen, Herr Kollege Grill. Sie haben gesagt, von den Kernkraftwerken in der Ukraine gehe kein besonderes Risiko aus. Das habe ich schon einmal gehört: vor 1986, vor Tschernobyl. Damals hat man gesagt: kein Risiko, vergleichbarer Standard wie bei uns. Dann ist der Reaktorunfall in Tschernobyl passiert. Man sollte mit diesen Argumenten doch etwas vorsichtig sein. Wir Sozialdemokraten sind davon überzeugt, daß die heutige Atomtechnik keine Zukunft hat. ({1}) Was wir nicht für zukunftsfähig halten, dürfen wir auch anderen nicht finanzieren. Deswegen bitten wir die Bundesregierung im vorliegenden Antrag, bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung darauf hinzuwirken, daß keine Kredite für die Atomkraftwerke K 2 und R 4 vergeben werden. - K 2 und R 4 sind übrigens keine Kürzel für Berge und Automarken. Außerdem bitten wir die Bundesregierung, die Ukraine beim Aufbau einer effizienteren und sichereren Energieversorgung ohne Atomkraft zu unterstützen. Auf den außenpolitischen Hintergrund ist bereits meine Kollegin Griefahn eingegangen. Bei der Atomtechnik geraten wir in einen gewissen Widerspruch. Auf der einen Seite steht die Souveränität von Staaten, auf der anderen Seite stehen die grenzüberschreitenden Auswirkungen von GAUs. Seit Tschernobyl wissen wir: Sie sind europaweit. Herr Kollege Grill, wir wollen nicht in das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine eingreifen. Wir wollen vielmehr selbst bestimmen, was wir finanzieren und was wir nicht finanzieren. ({2}) Die Ukraine befindet sich in einer schwierigen Situation. 44 Prozent ihres Strombedarfes werden durch Kernenergie abgedeckt. Trotzdem ist die Bevölkerung gegen Atomkraft. Die schlimmen Erfahrungen von Tschernobyl wirken. Die beiden Kernkraftwerke K 2 und R 4 sind zu 80 Prozent fertiggestellt. Schöne Bauhüllen! Die Befürworter eines Weiterbaus argumentieren, auch die restlichen 20 Prozent müßten noch geschafft werden. Dabei wird übersehen, daß die Hauptmasse der Finanzierung, nämlich über 3 Milliarden DM, jetzt erbracht werden muß. Mit dem Bau der beiden Kernkraftwerke wurde in den 80er Jahren begonnen. Nach Tschernobyl wurde der Bau unterbrochen. Die lange Bau- und Stillstandszeit wirkt negativ auf die Kernkraftwerke und deren Sicherheit. Vor diesem Hintergrund ist jetzt noch - auch aus finanziellen Gründen - ein Umstieg möglich und vor allem sinnvoll. Es bestehen außerdem begründete Zweifel, ob der in diesen Kernkraftwerken produzierte Strom in der Ukraine überhaupt benötigt wird. Die Vermutung liegt nahe, daß der dort produzierte Strom nach Westeuropa exportiert wird. Der würde dann zu Dumpingpreisen verkauft werden und unseren Standort gefährden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden jetzt nach Alternativen fragen. Die Ukraine wollte eigentlich eine Alternative - Frau Kollegin Hustedt hat darauf hingewiesen -: Sie wollte GuD-Kraftwerke. Diese Technik wäre billiger, zuverlässiger und vor allem sicherer. Sie hätte auch den Vorteil, daß sie schrittweise ausgebaut werden könnte, wenn ein etwaiger Bedarf vorhanden wäre. Zwei große Kernkraftwerke von je 1 000 MW sind in diesem Zusammenhang sehr unflexibel. Der Bau bindet außerdem Finanzen, und zwar 3 Milliarden DM. Dieses Geld fehlt beim Einstieg in eine andere Energieversorgung. Nun noch zum Antrag der CDU/CSU: Nach Aussage der CDU/CSU stehen die Reaktoren kurz vor ihrer Fertigstellung. Das ist schlicht und einfach falsch. Die Fertigstellung dauert noch mindestens bis zum Jahre 2004. Die Kernkraftwerke sind also kein Ersatz für Tschernobyl. In der Begründung des CDU/CSU-Antrages wird auf die Sarkophag-Sicherung in Tschernobyl eingegangen. Ich muß sagen: Da bringen Sie zwei Probleme durcheinander. Das ist ein ganz anderes Problem, dessen Lösung wir auf internationaler Ebene angehen sollten. Dies wäre viel wichtiger als der Weiterbau dieser beiden Kernkraftwerke. Ich weiß, die Situation für die Bundesregierung ist schwierig: Die G-7-Staaten hatten zunächst den falschen Weg eingeschlagen. Jetzt muß umgesteuert werden. Ich möchte zum Schluß noch auf zwei Punkte eingehen: Erstens. Die Reaktoren wären in Westeuropa nicht genehmigungsfähig. Sie würden bei uns nie gebaut werden. Zweitens. Außer in Japan wird zur Zeit in keinem der anderen G-7-Staaten ein neues Atomkraftwerk geplant. Die meisten Industriestaaten verabschieden sich still aus dieser nicht zukunftsfähigen Technik. Wir sollten sie in der Ukraine nicht finanzieren. Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/795, 14/708 und 14/819 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/795 soll zusätzlich an den Ausschuß für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt der heutigen Sitzung, Tagesordnungspunkt 10, auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Roland Claus, Wolfgang Gehrcke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ({0}) - Drucksache 14/554 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({1}) Innenausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Frau Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten - noch verbliebenen - Damen und Herren! Wie in der Begründung unseres Gesetzentwurfs näher ausgeführt, drohen Schadensersatzansprüche von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern des NSRegimes mit dem 13. Mai dieses Jahres zu verjähren. Damit wäre den Betroffenen der Rechtsweg vor deutschen Gerichten verschlossen. 10 Millionen Frauen und Männer wurden vom HitlerRegime zu Zwangsarbeit ohne adäquate Vergütung und unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen gezwungen. Der Hauptprofiteur war die deutsche Industrie, deren Reichsverband 1933 dem Nazi-Regime mit einer Adolf-Hitler-Spende für die Sicherung der Wirtschaft vor Störungen und politischen Schwankungen gedankt hat. Es ist deshalb höchste Zeit, daß sich die an der Zwangsarbeit beteiligte deutsche Wirtschaft sowohl zu ihrer moralischen Schuld als auch zu ihrer finanziellen Verantwortung bekennt. ({0}) Wir begrüßen die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, auch wenn diese für viele Opfer viel zu spät kommt. Bisher gibt es hierzu jedoch mehr Fragen als Antworten. Es ist äußerst fraglich, ob bis zum 1. September, dem 60. Jahrestag des Überfalls auf Polen, eine für alle Betroffenen gerechte Lösung gefunden wird. Seit der gemeinsamen Erklärung des Bundeskanzlers und einiger Unternehmen vom 16. Februar sind bereits zehn Wochen verstrichen, ohne daß konkrete Konturen zu erkennen sind. Dies bestätigt auch die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion. Darin heißt es unter anderem: Die genaue Ausgestaltung der Stiftungsiniative liegt jedoch naturgemäß, da es sich um ein freiwilliges Projekt handelt, maßgeblich in den Händen derjenigen Unternehmen, die die Mittel zu ihrer Finanzierung aufbringen werden. Daher kann die Bundesregierung weder Angaben zum Einzahlungsschlüssel, zur Ausgestaltung der zu errichtenden Kontrollorgane noch zur Höhe der humanitären Hilfsleistungen im Einzelfall machen. Entsprechendes gilt für den Zeitplan zur Errichtung der Stiftungsinitiative. Zur geplanten Bundesstiftung können ebenfalls keine Angaben gemacht werden, da die Initiative bei SPD und Bündnis 90/Die Grünen liegt. Danach ist noch alles offen. Man kann den Betroffenen jedoch nicht zumuten, daß ihnen der Rechtsweg ohne die Sicherheit versperrt wird, daß eine angemessene Entschädigung aus einem noch nicht existenten Fonds fließen wird. Viele der Betroffenen sind zur Zeit nach anfänglicher Hoffnung extrem verunsichert. In einem Brief der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ an die Bundestagsabgeordneten aus Nordrhein-Westfalen zur ersten Sitzung im Reichstag heißt es: Unsere Organisationen stellen nun mit Sorge fest, daß wieder Ruhe eingekehrt zu sein scheint und die Schaffung der im Koalitionsabkommen versprochenen Einrichtungen für Entschädigung nicht vorankommt. Es steht somit nach Auskunft der die Stiftungsinitiative begleitenden Bundesregierung noch nicht fest, ob und, wenn ja, wann eine solche Stiftung wirklich ins Leben gerufen wird, wie die konkrete Ausgestaltung ausHorst Kubatschka sieht, welche Gruppen von ehemaligen Zwangsarbeitern davon erfaßt sein werden und welche nicht, und das zu einem Zeitpunkt, an dem zu befürchten steht, daß die Verjährungsfrist abläuft. Diese Gefahr sehen auch die Betroffenen und ihre Rechtsbeistände. Nicht umsonst wurden in den letzten Wochen umfangreiche Klagen vor deutschen Gerichten eingereicht. Wenn die Verjährungsfrist nicht geändert wird, ist zu erwarten, daß bis zum 13. Mai viele weitere solcher Klagen folgen werden. Durch die vorgeschlagene Fristverlängerung kann dieser unwürdige Zustand, daß die Opfer von Zwangsarbeit 54 Jahre nach Ende des Kriegs noch zum letzten Mittel der Klage greifen müssen, vermieden werden. Eine solche Gesetzgebungsmaßnahme stört auch nicht den Gang der Verhandlungen, sondern befördert ihn sogar. Durch das Offenhalten des Rechtswegs werden die Betroffenen eben nicht gezwungen, überstürzt zu klagen. Das ist für sie nach so langer Zeit mit erheblichen Kosten, einem großen Prozeßrisiko und viel unnötiger Aufregung verbunden. Bei einer angemessenen Entschädigung auf dem Stiftungswege werden sie deshalb nicht zum letzten Mittel der gerichtlichen Geltendmachung greifen. Es ist somit nicht zu befürchten, daß dann über geleistete Zahlungen hinaus noch geklagt wird. Diese Position teilen auch die Verfolgtenverbände. Meine Damen und Herren, in Anbetracht unserer Verantwortung den Opfern gegenüber und angesichts der von mir geschilderten und weiterer Versäumnisse hält es die Fraktion der PDS für erforderlich, den Tag der Verjährung von Ansprüchen aus Zwangsarbeit neu festzulegen. Der 8. Mai 2005, also der 60. Jahrestag der Beendigung der nationalsozialistischen Herrschaft, wäre dem politischen Gewicht der Angelegenheit angemessen. Die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit und die Interessen der Beteiligten bleiben gewahrt. Sie gebieten das Offenhalten des Rechtsweges für einen bestimmten, überschaubaren Zeitraum zugunsten eines Personenkreises, der im NS-Staat maßlos entrechtet und von der Bundesrepublik bislang vernachlässigt wurde. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Joachim Stünker von der SPD-Fraktion das Wort.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu später Stunde debattieren wir über ein ernstes und wichtiges Thema. Ich hoffe, daß die leeren Reihen nicht gleichsam Synonym dafür sind, welche Bedeutung das Hohe Haus diesem Thema in den nächsten Wochen und Monaten beimessen wird. ({0}) Meine Damen und Herren, den Opfern der NSGewaltherrschaft angemessene Entschädigungen zu gewähren bleibt die fortwährende Aufgabe auch des vereinigten Deutschlands. ({1}) Das gilt für die staatlichen Institutionen in besonderer Weise; das gilt aber auch für die Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft. ({2}) Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen diese Aufgabe leisten. Es ist eine Aufgabe des gesamten deutschen Volkes. Wir müssen uns dabei auch immer wieder bewußt machen - und gelegentlich vielleicht auch kritisch und leise hinterfragen -, inwieweit begangenes NS-Unrecht durch staatliches Handeln und normative Rechtssetzung überhaupt jemals im eigentlichen Wortsinne wiedergutgemacht werden kann; ({3}) denn das Ausmaß der Verletzung der Würde des Menschen, seiner Freiheit und seiner persönlichen Integrität läßt sich letztendlich nicht in geldwerter Entschädigung ausdrücken oder gar aufwiegen. Der Deutsche Bundestag diskutiert in diesen Wochen und auch heute abend, in welcher Form den Opfern des Holocaust mit einem in unserer wiedervereinigten Hauptstadt Berlin zu errichtenden Mahnmal oder Denkmal auch für zukünftige Generationen würdig und bleibend gedacht werden kann. Da ist es, wie ich meine, Aufgabe und Verpflichtung zugleich, zumindest den noch lebenden Opfern des NS-Unrechtsregimes für das erlittene Unrecht, für die massenhafte Verletzung ihrer Menschenwürde die Hilfe zuteil werden zu lassen, die heute nach über 50 Jahren menschlich noch möglich ist. ({4}) In der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen heißt es daher unter der Überschrift „Rehabilitierung und Entschädigung“: Die neue Bundesregierung wird ... unter Beteiligung der deutschen Industrie eine Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ auf den Weg bringen. Meine Damen und Herren, Sie können sicher sein: In diesem Sinne werden die Koalitionsfraktionen in diesem Hohen Hause auch initiativ werden. ({5}) Wir würden der Bedeutung dieser Aufgabe aber, wie ich meine, nicht gerecht werden und es wäre völlig unangemessen und unzumutbar, wollte der Gesetzgeber die heute noch lebenden Opfer von Zwangsarbeit in der NSZeit nunmehr auf das Zivilrecht und damit, Frau Kenzler, sozusagen auf die Rechtsordnung für den Normalfall verweisen, das heißt verweisen auf die individuelle Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen die Firmen oder Privatpersonen bzw. deren Rechtsnachfolger, die die Zwangsarbeiter seinerzeit beschäftigt haben. Das durch Zwangsarbeit erlittene Unrecht kann nach meiner Überzeugung nicht im Wege der zivilrechtlichen Subsumtion wiedergutgemacht werden. Bereits die zivilrechtliche Analyse möglicher individueller Ansprüche zeigt, daß sich bei Anlegen normaler zivilrechtlicher Maßstäbe nicht sicher sagen läßt, ob und welche Ansprüche auch nur dem Grunde nach gegen Unternehmen oder Privatpersonen bestehen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben. Die Rechtslage ist insoweit äußerst komplex. Das gilt sowohl für mögliche Ansprüche aus Vertrag, Geschäftsführung ohne Auftrag, zivilrechtlicher Aufopferung, Delikt oder ungerechtfertigter Bereicherung. Das gilt aber bereits ebenso für die Frage der zivilprozessualen Zulässigkeit derartiger Klagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst bei Annahme zum Beispiel eines deliktischen Ersatzanspruches dem Grunde nach: Wie sollte heute, nach über 50 Jahren, ein deutscher Richter, der die NS-Zeit nur aus dem Geschichtsunterricht kennt, zum Beispiel bei der Prüfung eines Schmerzensgeldanspruches der Höhe nach gemäß § 847 BGB im Einzelfall das Ausmaß des erlittenen Unrechts unter dem Gesichtspunkt der Genugtuungs- und Ausgleichsfunktion unseres Schadensersatzrechtes angemessen abwägen? Dies ist insbesondere deshalb mit unübersehbaren Problemen behaftet, da die Zwangsarbeiter in ganz unterschiedlichen Bereichen der Wirtschaft, der Landwirtschaft und selbst in privaten Haushalten eingesetzt worden sind. Auch ihre Behandlung ist unterschiedlich gewesen. Während Betroffene aus Westeuropa vergleichbare Löhne wie Deutsche erhielten, bekamen insbesondere Ostarbeiter keine oder nur geringe Bezahlung. Am schlechtesten ging es den jüdischen Sklavenarbeitern. Von ihnen sind die meisten in der Zwangsarbeit zu Tode gekommen. Das heißt: Ersatzansprüche für die Abkömmlinge? Nach welchem Maßstab? Ich meine, ein für die Opfer entwürdigender Vorgang; aber auch eine für den zur Entscheidung berufenen Richter mit der erlernten Subsumtionstechnik kaum zu leistende Aufgabe. Zu welch unterschiedlichen Einzelergebnissen würde es dabei von Gericht zu Gericht kommen! Auch dies ist eine nicht zumutbare Folge der zivilrechtlichen Lösung. Zudem kämen in einem Zivilrechtsstreit in vielen Verfahren kaum lösbare Probleme der Beweisführung und der Beweislast angesichts des Zeitablaufs von Jahrzehnten seit dem zu beurteilenden Sachverhalt hinzu. Quälend lange Verfahren, womöglich durch mehrere Instanzen, wären die notwendige Folge. Es würde Jahre dauern, bis sich eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung herausgebildet hätte. Diese Zeit ist nicht mehr gegeben, für die überwiegende Mehrheit der Opfer von NS-Zwangsarbeit bereits auf Grund ihres Lebensalters nicht mehr. Für die Bundesrepublik Deutschland ist diese Zeit über fünf Jahrzehnte nach dem begangenen Unrecht und dem Ende der NS-Diktatur aber gleichfalls nicht mehr gegeben. Unser Ansehen würde national und international Schaden nehmen. Die zunehmenden öffentlichen und politischen Reaktionen aus dem Ausland sowie die in den USA vermehrt erhobenen Sammelklagen belegen dies mit Nachdruck. Im übrigen gibt es worauf Sie zu Recht hingewiesen haben - Sammelklagen zwischenzeitlich auch vor deutschen Gerichten. Es ist daher zu meiner Überzeugung der falsche Ansatz, die angemessene Entschädigung von noch lebenden Zwangsarbeitern aus der NS-Zeit unter dem Gesichtspunkt einer Sonderregelung über die Verjährung möglicher deliktischer Ansprüche von NS-Zwangsarbeitern zu diskutieren, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, den die PDS heute eingebracht hat. Damit komme ich auch zu dem eigentlichen Inhalt der uns vorliegenden Initiative der PDS-Fraktion. Durch Ergänzung des § 852 Abs. 1 BGB sollen deliktische Ansprüche aus geleisteter Zwangsarbeit in Deutschland bzw. des Einflußgebietes während des nationalsozialistischen Unrechtsregimes von 1933 bis 1945 unabhängig von der dreijährigen Verjährungsfrist erst am 8. Mai des Jahres 2005 verjähren. Hierdurch soll nach Auffassung der PDS, wie eben ausgeführt worden ist, der in Kürze drohende Ablauf der Verjährungsfrist verhindert werden. Aber bereits die Prämisse ist meines Erachtens höchst zweifelhaft. Zum einen ist es der Systematik des BGB fremd, innerhalb ein und desselben Anspruchstypus unterschiedliche Fallgruppen des Verjährungseintrittes zu begründen. Zum anderen: Entweder sind die Ansprüche bereits verjährt, nämlich wenn die dreijährige Verjährungsfrist gilt, oder aber, wenn die 30jährige Verjährungsfrist gilt, wir haben, von 1990 an gerechnet, bis zum Jahre 2020 Zeit. Die Verjährungsfrist für Ansprüche aus unerlaubter Handlung im Sinne des Gesetzesantrags zu verlängern macht, wie ich ausgeführt habe, zudem nur Sinn, wenn wir die Betroffenen wirklich auf den Zivilrechtsweg und die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche verweisen wollten. Das kann, wie ich versucht habe auszuführen, jedoch nicht ernsthaft erwogen werden. Jedem Betroffenen würde ein quälender Zivilprozeß mit einem unter Umständen völlig unbefriedigenden und unangemessenen - möglicherweise negativen - Ergebnis zugemutet. Ebenso würde den in Anspruch genommenen deutschen Unternehmen und Privatpersonen über Jahre ein nicht hinnehmbarer Zustand der Rechtsunsicherheit zugemutet. Aus diesem Grunde vermag die SPD-Fraktion dem Gesetzentwurf der PDS nicht zuzustimmen. Es ist der falsche Weg zu dem sicherlich gewünschten Ergebnis. Es muß vielmehr unsere Aufgabe sein, eine Lösung zu finden, bei der es auf die Zivilrechtslage und damit letztlich auch auf die Verjährungsfrage überhaupt nicht ankommt. Nach meiner Überzeugung ist es daher die Aufgabe dieses Hohen Hauses, neue, originäre Ansprüche jedes Betroffenen für eine angemessene individuelle Entschädigung zu schaffen. ({6}) Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt daher die diesbezüglichen Bemühungen der Bundesregierung, unter EinJoachim Stünker beziehung deutscher Unternehmen eine Stiftungsinitiative „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ auf den Weg zu bringen. Diese Initiative der Wirtschaft versteht sich als unmittelbare gesellschaftliche Ergänzung zur staatlichen Wiedergutmachungspolitik der vergangenen Jahre. Sie soll Rechtssicherheit und Rechtsfrieden schaffen und dazu beitragen, den Ruf und das Ansehen unseres Landes und der deutschen Wirtschaft zu schützen. Hiermit müssen wir am Ende des Jahrhunderts gesamtgesellschaftlich ein abschließendes materielles Zeichen setzen, ein Zeichen aus Solidarität, Gerechtigkeit und Selbstachtung. ({7}) - Wir sind ja dabei. Mit dieser Stiftungsinitiative sollten drei Ziele verfolgt werden: erstens eine Antwort auf die moralische Verantwortung aus den Bereichen der Zwangsarbeiterbeschäftigung zu geben, zweitens aus diesem Verständnis der NS-Vergangenheit humanitäre und zukunftsweisende Projekte zu fördern und drittens dadurch eine Grundlage zu schaffen, um Klagen, insbesondere Sammelklagen, zu begegnen und Kampagnen gegen den Ruf unseres Landes und unserer Wirtschaft den Boden zu entziehen. Diese Initiative könnte aus zwei gleichgewichtigen Teilen bestehen. Der erste Teil ist ein humanitärer Fonds zugunsten von ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen NS-Geschädigtengruppen; der zweite Teil ist eine geeignete Zukunftsstiftung für Projekte, die eine Beziehung zur Veranlassung dieses Fonds haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte es zum Abschluß noch einmal betonen: Die Zeit drängt. Auch diese Initiative sollte mit Unterstützung des Deutschen Bundestages - ebenso wie die Diskussion über das Holocaust-Denkmal - noch in diesem Jahr zu einem erfolgreichen Abschluß kommen, damit angesichts des hohen Alters der Betroffenen noch in diesem Jahr schnell und wirksam geholfen werden kann. Helfen können wir aber in diesem Fall mit einer fragwürdigen Verlängerung der Verjährungsfrist in § 852 BGB nicht. Die gesamte Initiative dieses Hauses muß darauf gerichtet sein, mit dazu beizutragen, den Opfern neue und, wie ich meine, originäre Ansprüche zu verschaffen. Schönen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Stünker, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede vor dem Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch. ({0}) Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Frage der Entschädigung für Zwangsarbeit während des zweiten Weltkriegs beschäftigt den Deutschen Bundestag seit vielen Jahren. So hat zum Beispiel auf Aufforderung des Bundestags die Bundesregierung in der 11. Wahlperiode über private Initiativen berichtet, die im Zusammenhang mit Zwangsarbeit während des zweiten Weltkriegs ergriffen wurden. In einer Entschließung vom 31. Oktober 1990 hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, zu prüfen, ob eine Fondslösung für Entschädigungsleistungen an Zwangsarbeiter aus dem zweiten Weltkrieg möglich ist, außerdem Kontakt mit der Privatwirtschaft aufzunehmen und sie zu fragen, ob sie zu solchen Leistungen bereit ist, und die Höhe der benötigten Mittel festzustellen. Der entsprechende Bericht der Bundesregierung wurde am 21. Januar 1992 abgegeben. In seiner Entschließung vom 24. Februar 1994 hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, umfassend über bisherige Wiedergutmachungsleistungen deutscher Unternehmen zu berichten, ferner alle Unternehmen anzuschreiben, bei denen oder bei deren Rechtsvorgängern Zwangsarbeiter beschäftigt worden sind, und diese Unternehmen aufzufordern, nach Möglichkeiten zu suchen, eine der gegründeten Stiftungen finanziell zu unterstützen. Dabei hat der Deutsche Bundestag seine Aufforderung an Bundesregierung und Wirtschaft bekräftigt, daß insbesondere diejenigen Unternehmen der deutschen Wirtschaft, in denen oder in deren Rechtsvorgängern Zwangsarbeiter tätig waren, finanzielle Beiträge zu den gegründeten Stiftungen leisten sollten. Die Bemühungen um eine Fondslösung sind, wie jeder weiß, im vollen Gange, und ich hoffe, daß sie möglichst bald zu einem zufriedenstellenden Abschluß gebracht werden können. Denn wir alle sind uns einig, daß diesen Menschen großes Unrecht zugefügt worden ist, das mit Geld ohnehin nicht im eigentlichen Sinne wiedergutzumachen ist. Was den vorliegenden Antrag der PDS angeht, so möchte ich hierzu folgendes feststellen: Der Antrag der PDS beschränkt sich inhaltlich nur auf die Frage der Verjährung nach § 852 BGB, also auf Schadenersatzansprüche aus unerlaubter Handlung. Eine solche Beschränkung ist für mich nicht nachvollziehbar. Denn Individualansprüche können sich auch aus anderen Rechtsgründen ergeben, zum Beispiel zivilrechtliche oder öffentlich-rechtliche Aufopferungsansprüche oder Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung. ({0}) - Herr Kollege, das Stichwort Nachbesserung ist ja, glaube ich, das meistgebrauchte Wort in dieser neuen Legislaturperiode. Es steht Ihnen also nichts im Wege, Ihren Antrag nachzubessern. Rechtlich beruht der Antrag der PDS auf einer Mindermeinung in der Literatur, nach der die Verjährungsfrist des § 852 BGB durch die in der Nachkriegszeit herrschende Rechtsauffassung gehemmt worden sei, nach der individuelle Ansprüche von Zwangsarbeitern ausgeschlossen waren: Die Gerichte haben damals, in der Nachkriegszeit, Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter unter Berufung auf § 5 Abs. 2 des Londoner Schuldenabkommens vom 27. Februar 1953 als „zur Zeit unbegründet“ abgewiesen. Die damals herrschende Meinung vertrat die Ansicht, es sei völkerrechtlicher Grundsatz, daß der aus Kriegs- und Besatzungshandlungen erwachsende Schaden nur durch Reparationen von Staat zu Staat unter Ausschluß von individuellen Ansprüchen abzugelten sei. Deshalb - so die Mindermeinung - wäre auf jeden Fall die Verjährung aus Rechtsgründen entsprechend § 202 BGB gehemmt gewesen. Dies - so weiter die Mindermeinung - gelte aber nur bis zur Verkündung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 1996. In dieser Entscheidung das Bundesverfassungsgericht in einem obiter dictum festgehalten, daß es keine Exklusivität zwischenstaatlicher Vereinbarungen zur Regelung von kriegsbedingten Entschädigungszahlungen gibt, sondern daß Ansprüche, die das deutsche Recht gewährt, daneben bestehen können. Dieser Auffassung steht meines Erachtens jedoch entgegen, daß § 202 BGB hier kaum anwendbar sein dürfte. § 202 BGB betrifft die Hemmung der Verjährung aus Rechtsgründen und beruht auf dem Gedanken, daß die Zeit, während der der Gläubiger den Anspruch wegen rechtlicher oder tatsächlicher Hindernisse vorübergehend nicht geltend machen kann, bei sachgerechter Interessenabwägung nicht in die Verjährungsfrist einbezogen werden darf. § 202 BGB greift auch dann ein, wenn der Geltendmachung des Anspruchs ein vorübergehendes rechtliches Hindernis entgegensteht, das nicht auf einer Einrede im technischen Sinn beruht. Hierbei muß das rechtliche Hindernis aber auf seiten des Schuldners vorliegen. Zweifel an der Rechtslage oder eine anspruchsfeindliche ständige Rechtsprechung sind aber nach ganz herrschender Meinung keine Hemmungsgründe im Sinne der §§ 202 oder 203 BGB, da ansonsten jede Änderung in der ständigen Rechtsprechung auf längst abgeschlossene Sachverhalte zurückwirken würde und beispielsweise Ansprüche, denen eine unrichtige ständige Rechtsprechung entgegensteht, auf diese Weise praktisch unverjährbar wären. Schon aus diesen Gründen ist demnach der PDS-Antrag abzulehnen. Im übrigen glaube ich - und auch da stimme ich mit meinem Vorredner überein -, daß den Betroffenen mit einer Fondslösung besser geholfen werden kann als mit langwierigen, kostspieligen und juristisch äußerst komplizierten Gerichtsverfahren, die wir gerade diesem Personenkreis nicht zumuten sollten. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Winfried Nachtwei vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Jahren haben wir als Bündnis 90/Die Grünen die Verbände der Opfer massiv unterstützt, wenn sie in Klagen gegen Firmen oder die damalige Bundesregierung ihre Ansprüche geltend machen wollten. Wie bekannt, hat die alte Bundesregierung und zur damaligen Zeit auch die deutsche Industrie nicht die notwendige Verantwortung für die Opfer übernommen. Das gilt für die neue Bundesregierung nicht mehr. Wir drängen bei der Industrie darauf, daß möglichst schnell und unbürokratisch die dort früher eingesetzten Zwangsarbeiter eine Entschädigung bekommen, und zwar durch die Bildung eines Fonds, der möglichst eng mit einer zweiten Initiative verkoppelt werden muß: mit der in der Koalitionsvereinbarung festgelegten Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“. Wir stehen seit vielen Jahren in engem Kontakt mit den Verfolgtenverbänden in Deutschland, mit internationalen jüdischen Opferverbänden und auch mit Verfolgtenverbänden in Osteuropa sowie mit diplomatischen Vertretungen osteuropäischer Staaten. Dabei ist deutlich geworden, daß wegen des hohen Alters und der Armut vieler Opfer der folgende Grundsatz praktisch Allgemeingut ist: Wir dürfen die Opfer nicht in neue juristische Verfahren mit ungewissem Ausgang schicken, die über viele Jahre dauern und deren Ende sie nicht mehr erleben werden. Und wir wissen, daß viele Opfer die Kosten eines solchen Verfahrens nicht tragen können. Von daher haben die Opferverbände, insbesondere wenn es sich um Initiativen aus Osteuropa handelte, die Verfahren vor deutschen Gerichten vor allem als eine Form der Öffentlichkeitsarbeit angesehen, um auf ihre berechtigten Anliegen aufmerksam zu machen. Das ist ihr gutes Recht; wir unterstützen sie auch weiterhin dabei. Wir haben sie auch in den letzten Jahren darauf aufmerksam gemacht, welche neuen, aber auch sehr begrenzten rechtlichen Chancen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1996 eröffnet hat. Allerdings haben wir den Betroffenen nie Illusionen gemacht, daß sie im Prozeß auch Recht bekommen werden. Wer sich nämlich mit der komplizierten Materie einigermaßen auskennt, der kann niemanden ermuntern, einfach ein mal in einen solchen Prozeß zu gehen. Wenn wir nun versuchten, das BGB so zu reformieren, daß die Verjährungsfrist verlängert wird, nährten wir die Illusion, die Opfer würden auf dem Klageweg zu ihrem Recht kommen, und das noch in einem überschaubaren Zeitraum. Wir sind da aber sehr skeptisch. Die Industrie hat schon jetzt angekündigt, daß sie dann den Instanzenweg beschreiten würde. Eine rechtskräftige Entscheidung über alle Instanzen wird nach bisherigen Erfahrungen fünf bis acht Jahre benötigen. Ob die Opfer dies durchhalten, ist völlig offen. Schließlich aber wollen wir der Industrie keinen Vorwand dafür schaffen, nichts in den Industriefonds oder in die Bundesstiftung zu zahlen. Dies würde unweigerlich passieren. Man würde wiederum sagen: Wir warten ab, wie das Gesetz genau aussieht, für welche Bereiche es paßt usw. Die Industrie würde wieder - so auch die Äußerungen wegen der in den USA anhängigen Verfahren - mit dem Argument kommen: Wir können nichts in einen Fonds zahlen, wenn wir nicht wissen, ob wir nicht zeitgleich auch noch verklagt werden. Genau dieses Schlupfloch der angeblich notwendigen Rechtssicherheit wollen wir der Industrie nicht bieten. Auch wir ärgern uns darüber, daß die deutsche Industrie mit diesem Argument offenbar nach wie vor hantiert, wenn es um die in den USA anhängigen Klagen geht, für die übrigens die deutschen Verjährungsfristen überhaupt keine Bedeutung haben. Aus all diesen Gründen, und zwar ausdrücklich nur zum Schutz der Opfer, haben wir den Weg der Bundesstiftung gewählt und drängen wir die Industrie zu ihrem Fonds. Wir wollen die Opfer nicht weiter auf den Klageweg verweisen und ihnen Illusionen über eine aussichtsreiche Gerichtsentscheidung machen. Wir wollen eine politische Lösung, die die Verantwortung des Parlaments, der Bundesregierung, auch der Länder und Kommunen sowie der Privatwirtschaft umfaßt. Deshalb werden wir diesen Gesetzentwurf der PDS nicht unterstützen. Nehmen wir hinzu, daß die PDS zum gleichen Thema just vor einer Woche einen unausgereiften Gesetzentwurf - damals zum Einkommensteuergesetz - eingebracht hat, stellen wir ernsthaft die Frage, ob mit diesen eilig eingebrachten Vorstößen die Initiative der deutschen Industrie und der Bundesstiftung torpediert werden sollen. ({0}) Die ehemaligen Zwangsarbeiter brauchen endlich eine würdige und angemessene Entschädigung. Der Gesetzentwurf der PDS leistet dazu leider keinen konstruktiven Beitrag. Im Gegenteil! Danke. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner hat der Kollege Rainer Funke von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der PDS beschäftigt sich zweifellos mit einem sehr ernst zu nehmenden Problem, nämlich der Schadensersatzforderung für Zwangsarbeit während des zweiten Weltkriegs. Dieses Problem ist virulent geworden nicht nur durch einzelne Klagen früherer Zwangsarbeiter vor deutschen Gerichten - diese sind in der Regel abgewiesen worden, zumindest in zweiter Instanz -, sondern auch durch Sammelklagen einiger Geschädigter in den USA. Es ist auch nicht abzuschätzen - auch das muß einbezogen werden -, in welchem Verhältnis die Sammelklagen, möglicherweise auch deren Erfolg, zu den späteren Regelungen in der Bundesrepublik stehen werden. Es ist zu begrüßen, daß diese Probleme 54 Jahre nach Kriegsende gelöst werden sollen. Die PDS versucht dies über die Verjährungsfrist. Ich glaube, daß der Weg der Koalitionsfraktionen richtiger ist, nämlich die Lösung über eine Bundesstiftung. ({0}) Dieses Problem auf die juristische und dann noch auf die zivilrechtliche Ebene zu schieben, dürfte im Ergebnis wenig sachdienlich sein. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, daß eigentlich politische Problemstellungen durch noch so gute Gesetze wohl kaum geregelt werden können. Das sage ich auch ausdrücklich als Jurist. Juristisch stellen sich nämlich so viele Fragen, daß man sie in der Kürze der Zeit gar nicht lösen kann. Darauf hat der Kollege Stünker in seiner beachtenswerten Rede zu Recht hingewiesen. Ich erspare mir, auf Ihre Rede im einzelnen einzugehen, weil Sie, Herr Kollege Stünker, fast alles aufgelistet haben. Ich möchte nur zusätzlich auf das Verhältnis zwischen Völkerrecht, insbesondere der Regelungen des Londoner Schuldenabkommens, und den zivilrechtlichen Ansprüchen der Betroffenen hinweisen. Man spricht ja von der Exklusivität des Völkerrechtes. Dann stellt sich die Frage, inwieweit das Zivilrecht noch betroffen sein kann. Muß es nicht eine generelle Lösung der Kriegsfolgenregelung geben, so wie es im Londoner Schuldenabkommen vorgesehen ist? Auch mit dieser Frage müssen wir uns sicherlich in dieser Legislaturperiode beschäftigen. Die Anspruchsgrundlagen - vom Deliktrecht über das Bereicherungsrecht bis hin zum Arbeitsrecht - sind so umfangreich und so schwierig, daß ich nicht wage zu beurteilen, wie die Gerichte in fünf, acht oder zehn Jahren entscheiden werden. Das ist in der Tat, Herr Kollege Nachtwei, den Betroffenen auch nicht zuzumuten. Deswegen glaube ich, daß der gerichtliche Weg der falsche Weg wäre. Insoweit schließe ich mich dem Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion an. Hier muß ein politischer Weg gefunden werden. Diesen Weg werden wir gemeinsam in den Beratungen des Bundestags finden. Ich hoffe, daß wir dann zu einer allseits befriedigenden Lösung gelangen werden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/554 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 23. April 1999, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.