Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist
eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
dem Kollegen Dr. Theodor Waigel, der heute seinen
60. Geburtstag begeht, im Namen des Hauses unsere
herzlichsten Glückwünsche aussprechen.
({0})
Sodann teile ich mit, daß der Kollege Wilhelm Dietzel am 12. April 1999 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Als sein Nachfolger hat
der Abgeordnete Wolfgang Steiger am 15. April die
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich
begrüße den Kollegen Steiger, der bereits Mitglied in
der 13. Wahlperiode war, herzlich.
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste
vorliegenden Punkte zu erweitern:
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun
({2}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: 50 Jahre Nordatlantisches Bündnis - Drucksache 14/792 ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen
vom 21. Dezember 1995 über den Beitritt der Republik
Österreich, der Republik Finnland und des König-
reichs Schweden zu dem Übereinkommen über die Be-
seitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Ge-
winnberichtigungen zwischen verbundenen Unter-
nehmen - Drucksache 14/748 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht
Braun ({4}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Für
eine sofortige Verhängung umfassender Handelssank-
tionen gegen Jugoslawien - Drucksache 14/793 -
c) Beratung des Antrags der Abeordneten Gabriele Fograscher, Adelheid Tröscher, Günter Oesinghaus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Kerstin Müller
({5}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN: UN-Sondergeneralversammlung -
5 Jahre nach der Konferenz für Bevölkerung und
Entwicklung in Kairo - Aktive Bevölkerungspolitik in
der Entwicklungszusammenarbeit - Drucksache 14/797 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred Gebhardt,
Heidi Lippmann-Kasten, Dietmar Bartsch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS: Ausschluß des Ein-
tritts Minderjähriger in die Bundeswehr - Drucksache
14/551 -
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred Gebhardt,
Carsten Hübner, Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der PDS: Einsatz von Kindern als Sol-
daten wirksam verhindern - Drucksache 14/552 -
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann,
Brigitte Adler, Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele,
Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Gegen den Einsatz von Kindern als Soldaten in bewaffneten Konflikten - Drucksache 14/806 ZP4 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung
des Bundessozialhilfegesetzes - Drucksachen 14/389,
14/474, 14/820 - ({6})
ZP5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Hal-
tung der Bundesregierung als Bauherr zu Schwarzarbeit
und außertariflicher Beschäftigung auf den Baustellen des
Bundes in Berlin und zu den Auswirkungen auf die Be-
schäftigungssituation im Baugewerbe Berlins und Bran-
denburgs sowie die ostdeutsche Bauwirtschaft insgesamt
ZP6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen
Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert Blüm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Entschul-
dung armer Entwicklungsländer - Initiativen zum G8-
Gipfel in Köln - Drucksache 14/785 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner,
Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke-Reymann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Umfassender
Schuldenerlaß für einen Neuanfang - Drucksache
14/800 -
ZP7 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann
Otto Solms, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des
Schutzes parlamentarischer Beratungen - Drucksache
14/183 -
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Evelyn
Kenzler, Sabine Jünger, Petra Pau, Dr. Gregor Gysi und
der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Bannmeilenregelung Drucksache 14/516 ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert Weisskirchen
({7}), Angelika Krüger-Leißner, Eckhardt Barthel
({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Antje Vollmer, Volker Beck ({9}),
Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konzeption zur Förderung
und Festigung der demokratischen Erinnerungskultur
- Drucksache 14/796 -
ZP9 a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine weitere Unterstützung
der Atomkraftwerke Khmelnytsky 2 und Rivne 4 in
der Ukraine - Drucksache 14/795 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela Mar-
quardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi und
der Fraktion der PDS: Investitionen der Europäischen
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in Khmel-
nistky 2 und Rivne 4 - Drucksache 14/708 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill,
Dr. Klaus W. Lippold ({10}), Cajus Julius Caesar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU:
Festhalten an den Zusagen zum Bau von sicheren
Ersatzreaktoren in der Ukraine - Drucksache 14/819 ZP10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun
({11}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Entlassung der
Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Gila
Altmann ({12}) - Drucksache
14/798 -
ZP11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr.
Christa Luft, Dr. Evelyn Kenzler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS: Zahlungsforderungen schneller
durchsetzen - Zahlungsmoral bekämpfen - Drucksache
14/799 -
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll,
soweit erforderlich, abgewichen werden.
Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungs-
punkt 8 a bis c - es handelt sich um Anträge zu
öffentlichen Gelöbnissen der Bundeswehr - abzusetzen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
5. a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-
deskanzlers anläßlich des 50. Jahrestages
der Gründung der Nordatlantikpakt-Orga-
nisation
b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NATO-Gipfel in Washington und Weiterentwicklung des Bündnisses
- Drucksache 14/599 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({13})
Verteidigungsausschuß
c) Beratung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU
Die Handlungsfähigkeit der Nordatlantischen Allianz für das 21. Jahrhundert
sichern
- Drucksache 14/316 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({14})
Verteidigungsausschuß
d) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Europäische Sicherheitsarchitektur statt
Dominanz der Nordatlantischen Allianz
- Drucksache 14/454 ({15}) Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({16})
Verteidigungsausschuß
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({17}), Rainer Brüderle, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
50 Jahre Nordatlantisches Bündnis
- Drucksache 14/792 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß ({18})
Auswärtiger Ausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! An diesem
Wochenende werden die Staats- und Regierungschefs
der NATO-Mitgliedstaaten in Washington zusammenkommen. Eigentlich war vorgesehen, dort feierlich ein
Jubiläum zu begehen, nämlich daß vor 50 Jahren der
Nordatlantikvertrag unterzeichnet wurde.
50 Jahre NATO, das können gerade wir Deutsche
nicht hoch genug schätzen. Das sind 50 Jahre Entwicklung in Frieden, in Freiheit und Demokratie. Nicht die
militärische Bilanz, die es zu ziehen gilt, ist wirklich
wichtig. Das Entscheidende bei der Bewertung ist: Die
NATO war von Beginn an und ist heute mehr denn je
ein Bündnis auf dem Boden gemeinsamer Werte. Eine
Zukunft hat die NATO angesichts der heutigen Weltlage
gerade als Bündnis für Frieden, für Demokratie und gerade jetzt bewiesen - für Menschenrechte.
Wir haben gesehen: Die Gefahr bewaffneter Konflikte und kriegerischer Auseinandersetzung besteht vor
allen Dingen dort, wo es an Demokratie mangelt und wo
Diktatoren ihren Völkern ihren Willen aufzwingen wollen und sich entsprechend verhalten. Diese Erkenntnis
bestimmt das Handeln der NATO als Verteidigungsgemeinschaft. Deshalb werden wir uns an diesem Wochenende nicht in triumphalen Festlichkeiten ergehen.
Der Krieg im Kosovo steht heute im Vordergrund der
Politik der Allianz. Er wird naturgemäß auch auf dem
Gipfel in Washington die entscheidende Rolle spielen.
Schon um ihrer Glaubwürdigkeit als Wertegemeinschaft willen war die NATO gezwungen, gegen Massenvertreibung und Massenmord im Kosovo vorzugehen. An dieser Situation hat sich nichts verändert. Die
Allianz mußte und muß deutlich machen, daß sie nicht
bereit ist hinzunehmen, daß ein Teil Europas in Unterdrückung und Barbarei zurückfällt.
({0})
Deshalb wird der Gipfel auch auf eindrucksvolle Weise
zeigen, wie fest die NATO-Mitgliedstaaten in diesem
gemeinsamen Willen zusammenstehen. Es wird ein
Gipfel der Gemeinsamkeit werden.
Präsident Wolfgang Thierse
Die Völkergemeinschaft hat - wir haben das hier häufig diskutiert - nichts unversucht gelassen, die Krise im
Kosovo mit diplomatischen Mitteln beizulegen. Alle
Bemühungen um eine friedliche Lösung sind jedoch an
der unnachgiebigen Härte und dem verbrecherischen
Willen der Belgrader Führung gescheitert. Deshalb
mußte gehandelt werden, und deshalb muß weiter gehandelt werden. Dem Diktator Milosevic, der gegen die
albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo nach wie
vor mit brutalsten Mitteln vorgeht und auf das Recht des
Stärkeren setzt, mußte gezeigt werden, daß die Schwachen in der NATO einen starken Verbündeten für die
Durchsetzung ihrer unveräußerlichen Rechte, der Menschenrechte, haben.
({1})
Gleichzeitig, meine Damen und Herren - auch das ist
sichtbar und soll hier ausgesprochen werden -, tut die
Allianz das ihr Mögliche, um das Elend der Vertriebenen, so gut es eben geht, zu mildern. Sie hat die angrenzenden Staaten, die unter den Strömen der Deportierten
und der Flüchtlinge am meisten zu leiden haben, logistisch und finanziell unterstützt, und sie wird das auch
weiterhin tun. Die NATO hat auch selbst für Zehntausende von Flüchtlingen Notunterkünfte zur Verfügung
gestellt und damit bewiesen, daß sie in der Lage ist,
nicht nur militärisch, sondern auch und gerade zutiefst
humanitär zu agieren.
Schließlich haben sich viele Staaten - Deutschland
übrigens wieder einmal an vorderster Stelle - bereit
erklärt, Flüchtlinge vorübergehend aufzunehmen. Ich
teile die Kritik all derjenigen, die sich gelegentlich enttäuscht über den Willen des einen oder anderen Partners
in Europa geäußert haben, es in gleicher Weise zu halten, was die - ich betone: vorübergehende - Aufnahme
von Flüchtlingen angeht.
({2})
Das Bündnis war und ist aber - es ist wichtig, auch
dies immer wieder zu betonen - jederzeit bereit, auf
glaubwürdige, das heißt verifizierbare Signale zu reagieren. Eine politische Lösung des Konflikts im Kosovo
und in Jugoslawien bleibt das Ziel aller unserer Bemühungen.
({3})
Die militärischen Aktivitäten sind Mittel zum Zweck,
sie sind nicht Selbstzweck. Das zu unterstreichen ist mir
wichtig.
In Übereinstimmung mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen und der gesamten Europäischen Union
hat die NATO ihre Bedingungen für eine Suspendierung der Luftschläge genannt. Angesichts der öffentlichen Diskussion möchte ich sie noch einmal sehr deutlich
herausstellen: Erstens geht es uns um die unverzügliche
Beendigung aller Gewaltakte, zweitens um den Rückzug
aller militärischen Kräfte, der Sonderpolizeikräfte sowie
der paramilitärischen Einheiten aus dem Kosovo und
drittens um die Stationierung internationaler Streitkräfte,
damit die Vertriebenen ohne Furcht in ihre Heimat zurückkehren können. Dies, meine Damen und Herren, sind
die Bedingungen, die akzeptiert sein müssen und deren
Umsetzung verifizierbar begonnen sein muß, bevor die
Luftschläge ausgesetzt werden können.
({4})
Deshalb und weil die Forderungen identisch sind,
unterstützt die Bundesregierung die Initiative des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 9. April 1999.
Die politischen Gremien der NATO-Staaten, allen voran
der Bundesaußenminister, sind unermüdlich bemüht,
eine politische Lösung und damit die Rückkehr an den
Verhandlungstisch zu erreichen. Aber dies geht eben nur
auf der Basis glasklar formulierter Bedingungen, die erfüllt sein müssen. Es liegt nach wie vor ausschließlich
an der jugoslawischen Führung, die internationalen Forderungen ohne Abstriche anzunehmen und umgehend
mit ihrer Umsetzung zu beginnen.
Uns kommt es unverändert auch darauf an, Rußland
zu einer aktiven Rolle bei der Suche nach einer friedlichen Lösung zu bewegen. Ich bin davon überzeugt, daß
eine dauerhafte Befriedung des Balkans im ureigensten
Interesse nicht nur der Europäischen Union, sondern
auch Rußlands liegt. Unser langfristiges Ziel muß und
wird es sein, eine demokratische und damit wirklich
friedliche Entwicklung in der gesamten Region sicherzustellen. Dazu gehört ohne jeden Zweifel neben einer
sicherheitspolitischen auch eine ökonomische Perspektive für die Staaten Südosteuropas.
({5})
Europäische Union, OSZE und NATO werden sich im
Rahmen einer gemeinsamen Strategie für die gesamte
Region um die Eingliederung dieser Staaten in die euroatlantischen Strukturen bemühen.
Deutschland hat bei dem Einsatz der NATO im Kosovo seinen Anteil an der gemeinsamen Verantwortung
übernommen. Unser Beitrag ist nicht nur selbstverständlicher Ausdruck unserer Bündnissolidarität. Nein,
gerade wir Deutschen haben auch vor dem Hintergrund
unserer eigenen Geschichte die Verpflichtung, im Rahmen der Gemeinschaft demokratischer Staaten für Frieden und Sicherheit und gegen Unterdrückung, Vertreibung und Gewaltanwendung einzutreten.
Wir alle wissen, daß unsere Soldaten bei diesem Einsatz ein hohes persönliches Risiko tragen. Auch im
Rahmen dieser Debatte sei ihnen deswegen für ihren
aufopferungsvollen Dienst ausdrücklich gedankt.
({6})
Das gilt übrigens auch für alle anderen Deutschen, die
auf dem Balkan Hilfe leisten. Auch sie setzen täglich ihr
Leben ein, um der leidenden Bevölkerung vor Ort Hilfe
zu geben.
({7})
Mehr als vier Jahrzehnte hat der Ost-West-Gegensatz die europäische Geschichte geprägt. Dieser Gegensatz ist heute Gott sei Dank überwunden. Auf dem Gipfel in Washington - das ist wirklich ein Stück Zeitgeschichte - werden wir drei neue Verbündete begrüßen:
Polen, die Tschechische Republik und Ungarn, drei
Staaten, die noch vor zehn Jahren Mitglieder des Warschauer Paktes gewesen sind. Uns Deutschen war die
Aufnahme dieser drei neuen Mitglieder eine besondere
Verpflichtung.
({8})
Wir haben und werden nicht vergessen, welchen unschätzbaren Beitrag gerade diese drei Völker geleistet
haben, als es uns um die Wiedererlangung der staatlichen Einheit ging. Ohne die feste Verankerung
Deutschlands in der Atlantischen Allianz wäre die Einheit - auch das gilt es, zu erkennen - nicht gelungen.
({9})
Die Öffnung des Bündnisses nach Mittel- und Osteuropa ist Teil unseres Wirkens für eine gesamteuropäische Friedensordnung. Frühere Gegner sind unsere
Partner geworden. Gemeinsam wollen wir nun eine
strategische Vision für eine Friedens- und Stabilitätsordnung entwickeln, die auf den Werten von Menschenrecht, Gerechtigkeit, demokratischer und sozialer
Entwicklung basiert.
Dabei ist die Verantwortung Europas gewachsen. Die
europäischen Staaten können nur dann ihrer gestärkten
Bedeutung wirklich gerecht werden, wenn sie eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln. Natürlich werden wesentliche Elemente des neuen strategischen Konzeptes in der Kontinuität der NATO-Tradition seit 1949 stehen. Kernfunktion wird auch in Zukunft die Verteidigung des Bündnisgebietes bleiben. Gleichzeitig bildet die NATO weiterhin das Fundament für ein stabiles Sicherheitsumfeld.
Wie bisher ist die Allianz das zentrale Konsultationsforum der Verbündeten.
Im überarbeiteten strategischen Konzept wird zusätzlich eine neue Kernfunktion verankert werden. Sie wird
Antwort auf die neuen Herausforderungen für das
Bündnis geben. Angesichts der neuen Bedrohungen muß
es unser vordringliches Ziel sein, die Sicherheit und die
Stabilität auf unserem Kontinent zu stärken. Die durch
die Allianz gewährte Mitwirkung der USA und deren
Präsenz in Europa bleiben wesentliche Voraussetzung
für die Sicherheit auf unserem Kontinent.
({10})
Nach Überwindung des Ost-West-Konflikts gilt heute
mehr denn je: Sicherheit kann immer weniger durch militärische Mittel allein geleistet werden. Eine moderne
Sicherheitspolitik muß Frieden und wirtschaftlichsoziale Entwicklung zusammendenken. Das verstehe ich
unter effizientem Krisenmanagement und wirksamer
Krisenprävention. Auch deshalb geht es im Kosovo
nicht einfach darum, einen militärischen Sieg zu erringen. Es geht um eine politische und wirtschaftliche Perspektive für den gesamten Balkanraum.
({11})
Europa hat dabei bereits eine Rolle übernommen, die
seiner gewachsenen Verantwortung, vor allen Dingen
seiner gewachsenen ökonomischen Verantwortung in
der Welt angemessen ist. Indem dieses Europa bereit ist,
Verantwortung für die Durchsetzung der Menschenrechte, für Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu übernehmen, leistet Europa im Rahmen der Allianz seinen
Beitrag für eine politische Definition unseres Kontinents: als ein Europa der Menschen und der Rechte der
Menschen.
Meine Damen und Herren, schon bald nach dem Fall
des Eisernen Vorhanges hat das Bündnis das Angebot
einer umfassenden Zusammenarbeit an die Staaten des
ehemaligen Warschauer Paktes gerichtet. Mit dem
Nordatlantischen Kooperationsrat - seit 1997 dem
Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat - wurde ein neues
Gremium der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit ins
Leben gerufen. Es bezieht neben der Russischen Föderation und der Ukraine auch alle anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sowie die jungen
Demokratien in Mittel- und Osteuropa ein.
Die 1994 begründete Partnerschaft für den Frieden
wurde das erfolgreichste Programm des Bündnisses
überhaupt. In Bosnien stand diese Partnerschaft vor ihrer
ersten großen Bewährungsprobe. Sie hat diese Probe
eindrucksvoll bestanden. Heute gewährleistet die Allianz gemeinsam mit Rußland und anderen Partnern die
Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton für
Bosnien und Herzegowina. Mit dem Abkommen von
Dayton konnten unsägliche Grausamkeiten in diesem
leidgeprüften Land beendet werden. Die Aufstellung der
IFOR-Truppen und deren Weiterführung als SFORTruppen sind heute ein beispielgebendes Modell für das
Engagement der NATO bei der Bewältigung von Krisen.
Auf dem NATO-Gipfel werden wir ein Bündel von
Initiativen verabschieden, um die Partnerschaft für den
Frieden noch handlungsfähiger zu machen. Es wird darauf ankommen, die Zusammenarbeit zwischen den
Streitkräften der Partnerstaaten weiter zu verbessern.
Gleichzeitig wollen wir die zivilen Aspekte der Allianz
ausbauen. Zusammenarbeit über Grenzen hinweg heißt
für das Bündnis aber nicht nur, für den Dialog offen zu
sein. Es heißt auch, für neue Mitglieder die Tür offenzuhalten. Die Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns am 12. März 1999 hat deutlich gemacht: Die NATO war und ist kein geschlossener Club,
und sie darf es auch nicht werden. Auf dem Gipfel werden wir interessierten Kandidaten Wege aufzeigen, sich
bereits jetzt intern auf eine mögliche Mitgliedschaft vorzubereiten. Dabei werden wir sie tatkräftig unterstützen.
({12})
Wir wollen auch das besondere Verhältnis zwischen
der NATO und der Ukraine weiter vertiefen. Durch die
1997 in Madrid verabschiedete Charta über die Partnerschaft zwischen der NATO und der Ukraine hat das
Bündnis deren besondere Bedeutung hervorgehoben. In
Washington wird nun das erste Gipfeltreffen der NATOUkraine-Kommission stattfinden. Dabei werden wir unterstreichen: Das Bündnis wird auch in Zukunft die
Entwicklung einer stabilen, unabhängigen Ukraine unterstützen.
Ob es sich um die Heranführung an die Mitgliedschaft oder - wie im Falle der Ukraine - um eine verstärkte Partnerschaft handelt, eines steht dabei immer im
Vordergrund: Die betreffenden Staaten suchen militärische Sicherheit. Aber sie wollen und sie brauchen auch
wirtschaftliche und soziale Stabilität. Ein Export politischer Stabilität macht unseren Kontinent insgesamt
sicherer. Niemand in Europa sollte diesem Prozeß mißtrauisch begegnen. Das gilt auch und gerade für Rußland. Die Russische Föderation bleibt der wichtigste
Sicherheitspartner der Allianz.
Die enge Einbindung Rußlands in die Verantwortung
für die europäische Sicherheit ist und bleibt wesentlicher
Bestandteil der Politik des Bündnisses.
({13})
Der mit der NATO-Rußland-Grundakte ins Leben gerufene NATO-Rußland-Rat hat sich als ein wertvolles
Instrument des Dialogs und der Kooperation bewährt. In
den vergangenen zwei Jahren ist es uns gelungen, den
NATO-Rußland-Rat mit Leben zu füllen. Gerade in den
Bereichen, in denen das Bündnis und Rußland nicht
einer Meinung waren, hat dieses Forum immer wieder
eine wichtige Rolle gespielt. In vertrauensvoller Zusammenarbeit erhielt Rußland die Möglichkeit, die
Denk- und Arbeitsweise der Allianz von innen heraus
kennenzulernen. Wir wollen diese Zusammenarbeit
weiter ausbauen. Auch Rußland sollte die Chancen einer
Fortsetzung des seit Ende März ausgesetzten Dialogs im
Rahmen des NATO-Rußland-Rates erkennen. Dabei
muß allerdings auch Rußland selbst seiner Verantwortung gerecht werden, konstruktiv bei der Herstellung europäischer Sicherheit mitzuwirken. Das sage ich besonders im Hinblick auf die Kosovo-Krise, bei deren Lösung Rußland eine aktive Rolle spielen sollte.
Meine Damen und Herren, die Gründung der NATO
vor 50 Jahren war ein einmaliger historischer Einschnitt.
Erstmals haben Europa und Amerika, „alte“ und „neue“
Welt sich zusammengefunden, um gemeinsam die europäischen Werte zu verteidigen, die universale Werte
geworden sind: Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Für uns Deutsche und für die gesamte Europäische Union gibt es zu dieser Westbindung politisch, aber
auch kulturell keine Alternative. Die transatlantische
Partnerschaft kann jedoch nur gedeihen, wenn sie der
gewachsenen europäischen Verantwortung Rechnung
trägt. Das wird übrigens auch von unseren amerikanischen Freunden so gesehen.
Wir wollen ein neues Europa für die neue NATO,
und wir wollen die neue NATO für das neue Europa.
Das gemeinsame Europa hat in den vergangenen Jahren
große Schritte hin zu einer unumkehrbaren wirtschaftlichen und politischen Einheit getan. Ein großer Teil der
Europäischen Union hat durch die Einführung einer gemeinsamen Währung einen genuinen Akt gemeinsamer
Souveränität vollzogen.
Nun geht es in Europa um zweierlei: Um die Vertiefung und Erweiterung der Union und um eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen
Namen verdient, sowie die Herausbildung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsdimension als eines
unabdingbaren Stützpfeilers in diesem Prozeß.
Die Verträge von Maastricht und Amsterdam eröffnen uns dafür neue, bisher nicht gekannte Handlungsmöglichkeiten. Der Europäische Rat wird gegenüber der
Westeuropäischen Union eine Leitlinienkompetenz in
verteidigungspolitischen Fragen haben. Die Europäische Union braucht in Zukunft auch eine eigene militärische Entscheidungsstruktur. Dabei wollen wir keinesfalls bestehende Strukturen verdoppeln. Aber mit
dem Vorschlag, das Amt des Generalsekretärs der Westeuropäischen Union dem Hohen Vertreter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU in Personalunion zu übertragen, wollen wir ein sichtbares Zeichen dafür setzen, daß Europa künftig auch in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen wirklich mit
einer Stimme sprechen kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist in der
Allianz unumstritten, daß internationale Militäreinsätze über das Bündnisgebiet hinaus eine eindeutige
völkerrechtliche Grundlage zur Voraussetzung haben.
Ich will deshalb an dieser Stelle sagen, daß ich die Argumente derjenigen, die eine solche Grundlage im Fall
des NATO-Einsatzes im Kosovo für nicht gegeben halten, durchaus respektieren kann. Aber nach sorgfältiger
Abwägung halte ich sie für falsch. Ich glaube, daß die
völkerrechtliche Grundlage des NATO-Einsatzes zur
Eindämmung einer humanitären Katastrophe gegeben ist
und daß sie ausreichend ist.
Das Völkerrecht trifft eindeutige Vorkehrungen für
die Behandlung von Flüchtlingen und ihr Recht auf
sichere Rückkehr in ihre Heimat. Ich betone: Niemand
ist daran interessiert, die Vereinten Nationen als Gremium der Völkerverständigung und der Krisenbewältigung
zu entwerten. Im Gegenteil: Deswegen habe ich den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, zum
Treffen mit den europäischen Staats- und Regierungschefs vergangene Woche in Brüssel eingeladen, und
deshalb begrüße ich ausdrücklich die Bereitschaft des
Generalsekretärs, an einer friedlichen Lösung des Kosovo-Konflikts nach wie vor mitzuwirken.
({14})
Ich freue mich darüber, daß ich Kofi Annan nächste
Woche in Berlin zu weiteren Gesprächen, nicht zuletzt
über die Lösung der Kosovo-Krise, empfangen kann.
Meine Damen und Herren, hinsichtlich der Achtung
vor den Vereinten Nationen besteht im Bündnis Konsens. Die NATO ist keine Allianz, in der ein Partner den
anderen seine Meinung diktiert. Sie ist und bleibt eine
Wertegemeinschaft. Deshalb sind wir Partner dieses
Bündnisses, und deshalb übernehmen wir im Rahmen
dieses Bündnisses Verantwortung. Wir tun dies nicht
und niemals, weil wir dazu gezwungen wurden. Wir tun
dies aus tiefer Überzeugung und aus der Erfahrung, daß
wir uns auf die NATO beim Einsatz für unsere gemeinsamen Werte immer verlassen konnten und auch in Zukunft verlassen können.
({15})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollege Volker Rühe.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Als die NATO vor etwa einem Jahr
das Datum für ihr Treffen in Washington festlegte, standen drei Ziele fest: Das Bündnis wollte 50 Jahre erfolgreicher Friedenspolitik würdigen; die NATO wollte ihre
drei neuen Mitglieder feierlich begrüßen, und sie wollte
bestätigen, daß weitere folgen; die Allianz wollte ihre
künftigen Aufgaben bestimmen und einen neuen strategischen Konsens präsentieren.
Das Gipfeltreffen wird jetzt von der Kosovo-Krise
überschattet. Das Bündnis braucht eine nüchterne Bestandsaufnahme auf höchster Ebene über das, was in den
letzten vier Wochen geschehen ist. Von Washington
muß nach Meinung der Union ein richtungweisendes
Signal ausgehen, wie Amerika, Europa und Rußland im
konstruktiven Miteinander die Krise beilegen wollen,
wie einer durch Vertreibung und Krieg verwüsteten Region geholfen werden kann und wie dem Balkan
schließlich Frieden und Stabilität gegeben werden können.
Es geht um einen politisch-militärischen Gesamtansatz. Wenn Krieg oder militärische Auseinandersetzung die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln ist,
dann ist dies immer die Fortsetzung von Politik. Das
muß im Vordergrund stehen. Wir müssen uns zum Beispiel selbstkritisch fragen, ob die Selbstdarstellung der
NATO, wie sie täglich durch Militärsprecher und militärische Videos aus Brüssel kommt, diesem Gesamtansatz
- der Bundeskanzler hat es zu Recht gesagt: es ist ein
politisches Bündnis auf der Grundlage gemeinsamer
Werte - immer gerecht wird. Das ist für unsere Öffentlichkeit wichtig. Aber es zeigt sich auch, daß es noch
wichtiger für die Öffentlichkeit der neuen Teilnehmerstaaten ist. Deswegen begrüße ich es ausdrücklich, wenn
dieser politisch-militärische Gesamtansatz wieder voll in
den Mittelpunkt gestellt wird.
({0})
Dennoch sollte über diese aktuellen Herausforderungen nicht der Blick auf die Leistungen der NATO in den
letzten 50 Jahren verstellt werden. Ich stelle fest: Die
NATO hat allen Grund an ihrem 50. Geburtstag stolz
auf den erfolgreichen Schutz von Frieden und Freiheit in
Europa und auf die transatlantische Bindung, die vielen
Belastungen getrotzt hat, zu sein.
({1})
Sie werden es mir gestatten, einen Schlenker vom
50. Geburtstag der NATO zu einem 60. Geburtstag zu
machen: Theo Waigel, der das Glück hatte, im Westen
Deutschlands aufzuwachsen und als Politiker zu wirken,
feiert diesen Geburtstag; er hat sein politisches Leben im
Bündnis verbracht und für dieses Bündnis in einer Zeit
gearbeitet, in der es keine Schönwetterperiode gab: Er
erlebte die deutsche Wiederbewaffnung, die hier in
Bonn im alten Plenarsaal in einer leidenschaftlichen
Auseinandersetzung durchgesetzt wurde
({2})
- nicht leider, sondern dieser Beschluß war die Grundlage für all das, was wir heute im wiedervereinigten
Deutschland gemeinsam genießen können -,
({3})
die Kuba-Krise, die Bedrohung des freien Westberlin wir hätten Anfang dieser Woche nicht gemeinsam im
Reichstag zusammenkommen können, wenn damals dieses Bündnis nicht entschieden auf die Bedrohung des
freien Berlin reagiert hätte -,
({4})
den NATO-Doppelbeschluß - es war nicht leicht, dazu
zu stehen ({5})
- ich sage später noch etwas dazu, im Augenblick würdige ich noch Theo Waigel und spreche nicht das abweichende Verhalten anderer in der Vergangenheit an -, in
den letzten Jahren, nach der deutschen Wiedervereinigung die Bereitschaft Deutschlands, ein gleichberechtigter Partner zu sein, die Wiedervereinigung Europas
und jetzt die schwierige Situation der NATO auf Grund
der Kosovo-Krise. Meinen herzlichsten Glückwunsch an
Theo Waigel zum 60. Geburtstag! Ein Leben im und für
das Bündnis!
({6})
Die NATO und die Europäische Union haben im
westlichen Europa einen Stabilitätsraum geschaffen,
der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Die Kraft der
Atlantischen Allianz hat dem Übel der klassischen europäischen Machtpolitik ein Ende bereitet. All das darf
man in der jetzigen Situation nicht vergessen. Bei der
Gründung der NATO hatte niemand auf die Überwindung der Teilung des Kontinents zu hoffen gewagt, die
durch den Umbruch in den letzten zehn Jahren vollendet
werden konnte. Auch hieran hat die Atlantische Allianz
einen entscheidenden Anteil, ebenso an der Wiedervereinigung Deutschlands und an der Wiedervereinigung
Europas, die jetzt politisch geschieht. Die NATO hat
aber auch bewiesen, daß sie in der Lage ist, flexibel auf
die neuen politischen und strategischen Aufgaben und
Herausforderungen durch eine innere Reform und durch
die Öffnung für neue Mitglieder zu reagieren.
Es ist schon ein wenig tragisch, daß der Zeitpunkt,
auf den sich die Völker Mittel- und Osteuropas aus vollem Herzen gefreut hatten, nämlich Mitglied der NATO
zu werden, durch die Kosovo-Krise überschattet wird.
Deswegen möchte ich auch an dieser Stelle einmal den
polnischen Schriftsteller Andrzej Szczypiorski zitieren,
der deutlich macht, worum es in diesem Zusammenhang
geht. Diese Aussage muß auch die Grundlage für die
nächsten Jahre bleiben. Er hat gesagt:
Es gibt kein Europa ohne die Gotik von Krakau und
Prag, ohne den Dresdener Zwinger, ohne die Brükken von Budapest und ohne Leipzig, das früher die
Hauptstadt des europäischen Buches war. Die
Westeuropäer erlagen einer süßen und ziemlich bequemen Täuschung, daß Big Ben, die Gassen von
Siena, die Anhöhe von Montmartre, der Dom von
Worms genügen, um die Geschichte, die Tradition
und die Kultur Europas für die Zukunft zu erhalten.
Er führte weiterhin aus:
Wir waren in diesem europäischen, politischen
Osten nicht taub und blind. Wir hörten Big Ben in
London läuten, wir sahen von einer weiten Entfernung die Kolonnade von Bernini und den Eiffelturm und die alten Häuser von Lübeck.
Sie gestatten mir die Bemerkung, daß mir das letzte besonders gut gefällt.
Wir werden in den nächsten Jahrzehnten nur dann
den politischen Kurs halten, wenn wir uns weiterhin von
diesem Grundton leiten lassen. Das gilt auch für Jugoslawien.
Ich war in der zweiten Hälfte der 80er Jahre oft und
gezielt, vor allen Dingen mit Hans-Peter Repnik, in Jugoslawien. Wir haben dort gespürt, welche Gefahren
sich abzeichneten, als die Autonomie der Vojvodina und
des Kosovo zerstört wurde. Aber erinnern wir uns an die
internationale Stellung Jugoslawiens. Damals waren
Polen, Ungarn und Tschechien im Warschauer Pakt weit
zurück, sowohl politisch als auch ökonomisch, und als
Beitrittskandidaten für die Europäische Union überhaupt
nicht im Gespräch. Aber die Hälfte der Gespräche hat
sich mit der Frage beschäftigt, wie es mit den Chancen
Jugoslawiens auf einen Beitritt zur Europäischen Union
steht. Im Süden gab es ja schon Griechenland als Mitglied.
Deswegen sage ich an dieser Stelle - das muß man
sich vor Augen führen -: Die Politik von Milosevic ist
nicht nur eine verbrecherische Politik gegen die Muslime in Europa, ob es die Bosniaken oder die Kosovaren
sind; es ist auch eine verbrecherische Politik gegen das
Interesse des serbischen Volkes, in Europa seinen richtigen Platz zu finden.
({7})
So großartig es für Polen, Ungarn und Tschechien ist,
daß sie zur Zeit über einen Beitritt verhandeln, so tragisch ist es für Jugoslawien, daß es, obwohl es schon
weiter war, im Augenblick keine Beitrittsverhandlungen
führen kann und von der Zukunft Europas wieder weiter
weggerückt ist. Es liegt in unserem Interesse, die in
Westeuropa erreichte Stabilität auf ganz Europa auszuweiten. Das gilt auch für den Balkan. Deshalb muß die
NATO bei ihrem Gipfeltreffen ein deutliches Zeichen
setzen, daß ihre Tür auch für weitere Beitritte offenbleibt.
Stabilität werden wir für das gesamte Europa aber
nur dann haben, wenn Rußland daran als verantwortungsvoller Partner teilhat. Das ist der Grundgedanke
der strategischen Partnerschaft mit Rußland. Aber sie
bleibt Papier, wenn sie nicht auch auf beiden Seiten
gelebt wird. Ich war ja ein bißchen an der Schaffung
des NATO-Rußland-Rats beteiligt. Herr Bundeskanzler, Sie haben zu Recht dessen Bedeutung hervorgehoben. Aber ist es nicht ein Fehler, wenn in einer so zugespitzten Situation, wie wir sie vor fünf Wochen hatten, dieser NATO-Rußland-Rat nicht zusammentritt
und statt dessen Primakow im Flugzeug über dem Atlantik über die bevorstehenden militärischen Aktionen
informiert wird? Ich mache mir keine Illusionen über
die Möglichkeiten, die es dort gegeben hätte. Aber gerade in einer so schwierigen Situation sollte die Bereitschaft von NATO und Rußland bestehen, das gemeinsam zu leben.
({8})
Das wichtigste Ziel der strategischen Partnerschaft ist
es, Krisen und Konflikte in Europa nach Möglichkeit
gemeinsam zu bewältigen. Deshalb ist es richtig und
notwendig, mit der russischen Regierung in engem
Kontakt zu bleiben und nach gemeinsamen Lösungsmöglichkeiten im Kosovo-Konflikt zu suchen. Ich
möchte hier ausdrücklich zum einen, was der bayerische
Ministerpräsident Edmund Stoiber mit Karl Lamers in
Moskau besprochen hat, und zum anderen die gute Zusammenarbeit mit der Bundesregierung in dieser Frage
noch einmal loben. Ich glaube, was dort an Gesprächen
geführt worden ist, war im deutschen Interesse.
({9})
Rußland muß seinen Einfluß auf den jugoslawischen
Präsidenten wahrnehmen, um die Beendigung von Vertreibung und Völkermord, den Rückzug der serbischen
Streitkräfte und Sondereinheiten sowie den Einsatz einer
internationalen Schutztruppe zu erreichen. Wie es das
tut, wird auch großen Einfluß auf Rußlands künftiges
Verhältnis zum Westen haben und ausschlaggebend dafür sein, ob sich ein partnerschaftliches Verhältnis entwickelt, das auch Belastungen in schwierigen Zeiten
standhält.
Deutschland ist heute nur noch von Freunden umgeben. Das wurde möglich, weil sich die Regierung unter
Konrad Adenauer mit ihrer Richtungsentscheidung für
die Westintegration, für die Wiederbewaffnung und für
den Beitritt zur NATO gegen den erbitterten Widerstand
der Sozialdemokraten durchgesetzt hatte. Die Grünen
gab es bei dieser Auseinandersetzung noch nicht. Aber
es war auch eine große Leistung, daß Herbert Wehner,
Helmut Schmidt und andere dann den Kurs der Sozialdemokratie korrigiert haben, damit in diesen wichtigen
Grundfragen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik wieder die Chance für eine neue Gemeinsamkeit entstehen konnte.
Deutschland wurde Mitglied einer Allianz, die sich in
den letzten 50 Jahren als der stabilste Staatenverbund
erwiesen hat. Daß unser Land heute nur noch von
Freunden umgeben ist, wurde auch möglich, weil die
Bundesrepublik Deutschland unter Helmut Kohl zum
NATO-Doppelbeschluß gestanden und damit eine gefährliche Erosion des Bündnisses vermieden hat.
({10})
Der NATO-Doppelbeschluß ist übrigens ein erfolgreiches Beispiel dafür, wie durch eine überzeugende Mischung von militärischem Druck sowie politischen Angeboten und Lösungsvorschlägen Krisen überwunden
werden können, wenn diese Politik mit Ausdauer und
Überzeugungskraft betrieben wird. Heute ist die Zahl
der Nuklearwaffen in Europa um 90 Prozent und die der
konventionellen Streitkräfte um 40 Prozent niedriger als
zur Zeit des NATO-Doppelbeschlusses. Dies war möglich, weil wir in dieser schwierigen Situation zum Bündnis und seinen Beschlüssen gestanden haben.
({11})
Ich will keine Polemik betreiben; aber über die Geschichte darf man sprechen:
({12})
Rot und Grün waren damals auf der Straße, um diese
Politik zu bekämpfen.
({13})
Ich halte fest: Es ist gut, daß wir uns durchgesetzt haben.
({14})
Wenn ich mir die jetzige Konstellation anschaue, Herr
Bundeskanzler, dann habe ich eine Hoffnung und Bitte ich will nicht darüber spekulieren, wie die Verhältnisse
wären und wer auf der Straße wäre, wenn es hier eine
andere Regierung gäbe;
({15})
ich anerkenne die Leistung, die mit der Wahrung der
Kontinuität der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik
verbunden ist -: Wenn hier in der Regierung wieder
einmal andere sitzen,
({16})
sollten diejenigen, die jetzt Verantwortung für die Außen- und Sicherheitspolitik dieses Landes tragen, nicht
wieder auf die Straße gehen.
({17})
Wir haben schließlich dafür gesorgt, daß das wiedervereinigte Deutschland auch in der schwierigen Frage
der militärischen Krisenbewältigung zu einem berechenbaren und zuverlässigen Bündnispartner wurde.
Ich frage mich angesichts der jetzigen Situation manchmal, ob es nicht richtig ist, zu sagen: Wer in schwieriger
Zeit zur NATO gestanden sowie wichtige und richtige
Beschlüsse durchgesetzt hat, kann jetzt auch die Gelassenheit haben, zu sagen, was er tut und was er nicht tut.
Genau so verhält sich die Union. Ich bin der Meinung, daß Zuverlässigkeit etwas sehr Wichtiges ist. Aber
es darf nicht die einzige und überwiegende Eigenschaft
sein, an der Deutschland gemessen wird. Wir müssen
unser eigenes Gewicht einbringen. Deswegen finde ich
es gut, daß von seiten der Union, aber auch der Freien
Demokraten immer wieder ein klares Wort zu dem gesagt worden ist, was wir zum Beispiel im Zusammenhang mit einer drohenden militärischen Eskalation und
einem Einsatz von Bodenkampftruppen machen werden
und was wir nicht machen werden. Wir können dies tun,
weil wir in schwieriger Situation immer wieder zum
Bündnis gestanden haben.
({18})
Das, was ich in bezug auf das deutsche Gewicht festgestellt habe, gilt auch für die Ausgestaltung des neuen
strategischen Konzepts der NATO. Gestalten kann
man nur, wenn man die konzeptionelle Initiative hat und
für die anderen Bündnismitglieder ein innovativer Gesprächspartner ist, der die sich herausbildende Politik
von Anfang an mit vorantreibt. Wer seine Rolle darauf
beschränken würde, schließlich einem Konsens beizutreten, hat seine gestalterischen Möglichkeiten eingeschränkt oder aufgegeben.
Die NATO braucht ein strategisches Konzept, das die
richtige Balance zwischen Bewahren und Erneuern findet. Natürlich muß die NATO die Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung bewahren. Daraus erwächst Stabilität
auf dem Kontinent. Die Hauptaufgabe der NATO war
also immer die Verteidigung oder Abschreckung gegenüber potentiellen Aggressoren. Das ist und bleibt der
Kern des Washingtoner Vertrages.
Zugleich muß sich die NATO zu einer Gemeinschaft
verändern, die nicht nur ihr Territorium, sondern auch
gemeinsame Interessen verteidigt, die für die Stabilität
in und für Europa von Belang sind. Ich glaube, die beste
Formel, die es gibt, ist noch immer die, in Europa und
für Europa für Sicherheit zu sorgen. Der Feind von
heute und morgen heißt Instabilität. Die Krisenherde auf
dem Balkan, im Kaukasus, im Nahen Osten und in
Nordafrika bergen Gefahren auch für uns in Europa. Das
strategische Umfeld Europas im Auge zu behalten ist
somit eine selbstverständliche Notwendigkeit. Wer aber
deshalb die Allianz als weltweites Interventionsbündnis
karikieren will, hat nichts von der Welt, in der wir leben,
und von der Wahrnehmung unserer Interessen für die
Sicherheit in und für Europa verstanden. Darum geht es.
({19})
Für die Übernahme größerer Verantwortung bei der
Bewältigung von Krisen und Konflikten muß Europa
handlungsfähiger werden. Solange Europa geteilt war,
lag es nahe, daß sich die größte Energie nach innen
richtete. Europas Beitrag zur kollektiven Sicherheit beVolker Rühe
stand aber nicht nur in Truppen für die NATO. Eine besondere Leistung lag auch in seiner Fähigkeit zur Integration, weil mit ihr alte Konfliktmuster überwunden
und zugleich Demokratie, Prosperität und Stabilität gefestigt wurden.
Deswegen sage ich: Das gemeinsame Korps in Stettin
von Deutschland, Polen und Dänemark, in dem die Soldaten dieser drei Länder integriert zusammenarbeiten,
schafft mehr Frieden für Europa als manche quantitative
Truppenzusammenstellung. Wenn wir überall in Europa
ein Konzept wie das für das deutsch-niederländische
Korps, das Eurokorps in Straßburg oder das Stettiner
Korps durchsetzen könnten, dann müßten wir uns keine
Sorgen um die Stabilität und Sicherheit in Europa machen; denn dann ist das Vertrauen gewachsen.
({20})
Europa muß aber als strategischer Partner noch stärker nach außen schauen. Ich stimme mit Ihnen überein,
Herr Bundeskanzler, wir brauchen die Vereinigten
Staaten von Amerika auch im 21. Jahrhundert in Europa. Sie werden aber nicht in Europa bleiben, wenn sie
ein hilfloses Europa vorfinden. Es geht nicht nach dem
Motto „Je schwächer wir sind, um so eher werden die
Amerikaner in Europa bleiben“. Wir werden die Amerikaner im 21. Jahrhundert nur in Europa binden können,
wenn wir ein gleichgewichtiger strategischer Partner
sind. Das ist ganz wichtig.
({21})
Ich erinnere mich im übrigen an die Debatten über das
Eurokorps, das Helmut Kohl zusammen mit François
Mitterrand gegen viele Skeptiker durchgesetzt hat. Manche Nationen - die Engländer und Amerikaner - haben
dazu gefragt: Vertreibt ihr nicht die Amerikaner aus Europa, wenn ihr europäische Strukturen aufbaut? Ich glaube,
inzwischen hat jeder begriffen, daß das Gegenteil richtig
ist. Nur wenn wir die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität stärken und Strukturen aufbauen, werden wir eine größere Rolle spielen können. Nur dann, wenn
wir einmal eine Krise ohne die Amerikaner lösen können,
sind wir ein wichtiger strategischer Partner und binden die
Vereinigten Staaten auch in Zukunft in Europa.
({22})
Ich muß allerdings sagen, daß Europa auch allen Anlaß zur Selbstkritik hat. Ich will nicht darüber sprechen,
wie man die Überlegungen zu einem Ölembargo oder
die Tatsache, daß noch während des Bombenkriegs Öl
geliefert worden ist, bewertet.
({23})
Dazu könnte ich manches sagen. Man muß sehr sorgfältig darüber nachdenken, ob es gerechtfertigt ist, das Leben von Soldaten zu gefährden, wenn man nicht in der
Lage ist, so etwas vorher zu unterbinden.
({24})
Ich weiß, daß Klaus Kinkel als Außenminister noch
vor einem Jahr einen Kampf über Monate hinweg geführt und gesagt hat: Bevor es um militärische Dinge
geht, müssen wir wenigstens dafür sorgen, daß die
Fluglinien unterbunden werden. - Viele der europäischen Partner, die heute Bomben werfen, waren aus
ökonomischen Interessen nicht bereit, ihre Fluglinien
nach Belgrad zu unterbinden. Das ist nicht in Ordnung,
das ist kein einsdrucksvolles Verhalten der Europäer.
({25})
Für die neuen Mitglieder der NATO ist durch die Kosovo-Krise die Zeit der Bewährung schneller als erwartet gekommen. Man kann für die Beiträge, die dort geleistet werden, nur dankbar sein. Im Hinblick auf die
Debatte in Tschechien möchte ich aber auch sagen: Die
Situation in Tschechien ist hinsichtlich der öffentlichen
Meinung schwierig. Das bestätigt all diejenigen, die gesagt haben: Bewertet neue Mitglieder nicht danach, wie
modern ihre Panzer und Flugzeuge - haben sie amerikanische Flugzeuge oder die modernsten deutschen Panzer? - sind. Was sie in unser Bündnis einzubringen
haben, ist vor allen Dingen eine öffentliche Meinung,
die in Krisensituationen zur NATO steht.
Wir sollten deswegen sehr vorsichtig darüber sprechen. Man kann erklären, warum es mit der öffentlichen
Meinung in Tschechien so schwierig ist. Das sollte uns
aber auch dazu führen, daß wir uns erneut auf die
eigentlichen Stärken und Notwendigkeiten der NATO
besinnen. Eine Flugzeug- oder Panzermodernisierung
bei den neuen Mitgliedstaaten kann ruhig etwas warten.
Was wir aber brauchen, ist das Stehen der öffentlichen
Meinung auch in den neuen Beitrittsstaaten zur NATO
in einer schwierigen, einer zugespitzten internationalen
Situation.
({26})
Das Bündnis hat alle Instrumente, um handeln zu
können. Aber Instrumente können eine weitsichtige und
konsistente Politik mit klaren Zielen nicht ersetzen. Das
zeigt auch die Kosovo-Krise. Es darf nicht dazu kommen, daß der NATO als Folge des Krisengeschehens nur
noch der Zwang zum Handeln bleibt und die Initiative
verlorengeht. Der Schlüssel zum Erfolg und damit zu
Frieden und Stabilität liegt im zeitgerechten, entschiedenen Handeln. Zum richtigen Verständnis gleichberechtigter strategischer Partnerschaft zwischen Europa und
Amerika gehört auch, darauf Einfluß zu nehmen und zugleich handlungsbereit zu sein, wenn es politisch geboten ist.
Die deutsche Stimme hat ein ungeheures Gewicht,
Herr Bundeskanzler. Ich persönlich hätte es zum Beispiel nicht unbedingt als Kompliment empfunden, wenn
mir als Verteidigungsminister ständig gesagt worden
wäre: Du bist aber wirklich zuverlässig.
({27})
- Das war jetzt wirklich nicht böse gemeint; das können
Sie dem Duktus, glaube ich, entnehmen. Ich habe die öffentliche Meinung im Westen verfolgt.
Jetzt kommt es darauf an, daß Deutschland zuverlässig zu den Entscheidungen steht und auch das unterstützt, was wir noch unter der Vorgängerregierung beschlossen haben. Es kommt aber auch darauf an, daß wir
unser eigenes Gewicht einbringen - das ist größer als
das von anderen -, damit Amerika, Europa und Rußland
versuchen können, einen Weg aus dieser schwierigen
Krise zu finden. Darum geht es in dieser Situation.
Vielen Dank.
({28})
Ich erteile Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist schon richtig: Die NATO ist die erfolgreichste politische und militärische Allianz, die wir kennen. Sie feiert ganz zu Recht ihren 50. Geburtstag. Genauso klar ist, daß dieser Gipfel in Washington von den
Ereignissen im Kosovo überschattet wird. Folglich wird
er auch nüchtern gehalten sein.
Die Allianz ist in ihrer Substanz, auch in ihrem
Selbstverständnis, selten so herausgefordert worden wie
gerade in den Tagen, in denen sie ihren Geburtstag feiert. Sie ist politisch, sie ist militärisch, sie ist übrigens
auch moralisch herausgefordert. Im übrigen macht genau dieser Konflikt deutlich, warum die NATO im heutigen und auch im künftigen Europa als Eckpfeiler von
Frieden und Sicherheit unentbehrlich und unersetzlich
ist.
Die Allianz hat in den letzten Jahren sehr flexibel und
politisch klug auf ein grundlegend verändertes sicherheitspolitisches Umfeld reagiert: Sie hat ihre Strukturen
reformiert, sie hat die Zusammenarbeit mit anderen
euro-atlantischen Institutionen intensiviert, sie hat sich
für neue Mitglieder geöffnet, und sie hat die Kooperation mit neuen Partnern vorangetrieben. Aus dieser Entwicklung ist die NATO gestärkt hervorgegangen. Sie hat
ihre Rolle als zentraler Stabilitätsanker in einem sich
wandelnden Europa eindrücklich untermauert - auch
angesichts neuer Herausforderungen und Risiken.
Es ist also diese neue NATO, die sich zusammen mit
ihren Partnern im früheren Jugoslawien für Frieden und
für Sicherheit engagiert. Es zeigt sich auch in diesem
Konflikt, daß keine andere Organisation so wie die
NATO über Mechanismen zur politischen Konsultation,
zur diplomatischen, aber auch zur militärischen Durchsetzung von Zielen verfügt, wenn andere Möglichkeiten
nicht vorhanden sind und wenn man Krisen effektiv begegnen will. Keiner anderen Organisation in Europa ist
es möglich, ein Regime wie das in Belgrad in die
Schranken zu weisen. Keine andere Organisation verfügt
- das haben die Erörterungen mit dem UNHCR sehr
deutlich gemacht - über die Logistik und die Ressourcen, in kurzer Zeit Hunderttausende von Vertriebenen
mit Unterkunft, Verpflegung und medizinischer Hilfe zu
versorgen.
Unbeschadet dieser Leistungsfähigkeit füge ich hinzu: Man sollte sich in Zukunft auch darauf konzentrieren, originäre Aufgaben anderer internationaler Institutionen ebenso ernst zu nehmen und diese in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu stärken. Das betrifft zum
Beispiel die Vereinten Nationen.
({0})
Das ist ja auch der Grund dafür, weshalb die Bundesrepublik Deutschland in dieser Hinsicht an einer Stärkung
der Vereinten Nationen interessiert ist.
Es waren weitsichtige Staatsmänner, die die NATO in
den ersten Stunden nach dem zweiten Weltkrieg konzipiert haben. Die zentralen Artikel des Washingtoner
Vertrages spannen einen weiten Bogen vom Europa der
unmittelbaren Nachkriegszeit bis in das 21. Jahrhundert.
Das sollte, so hat der damalige kanadische Außenminister gesagt, mehr sein als ein altmodisches Militärbündnis. Auch wenn es in den ersten Jahrzehnten der
NATO, jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung,
primär um militärische Abwehr einer realen Bedrohung
ging: Die NATO war nie - und sie wird es auch in Zukunft nie werden - ein Bündnis lediglich zur Abwehr
einer militärischen Bedrohung. Ein solches Bündnis wäre ja mit dem Verschwinden dieser Bedrohung in sich
selbst zusammengefallen.
Nein, die NATO zeichnet ein höchst modernes und
umfassendes Verständnis von Sicherheit aus. Das hat sie
zusammengeführt, hat sie zusammengehalten und wird
sie auch in Zukunft prägen. Wirtschaftlicher Aufschwung, innenpolitische Stabilität und äußere Sicherheit gehörten nicht nur in den Augen der Gründungsväter untrennbar zusammen. In diesem Sinne umfassende
Sicherheitspolitik zu betreiben, das ist in der Vergangenheit hier und da dem einen oder anderen durchaus
schwergefallen; es hat sich aber sehr bewährt. Regelmäßige und vertrauensvolle politische Konsultationen,
ständiges Bemühen um Konsensfindung und vor allen
Dingen das feste Fundament gemeinsamer Werte, ausgedrückt in den Vorstellungen von Freiheit, Demokratie
und Gerechtigkeit - das hat im April 1949 die zwölf
Nationen zusammengeführt, die die NATO gründeten,
und das hält ihre 19 Mitglieder auch heute noch zusammen.
Ich füge hinzu, daß wir in Deutschland der Atlantischen Allianz außerordentlich viel verdanken. Ich sage
das - Bemerkungen des Kollegen Rühe aufgreifend - als
Vertreter einer Partei, die sich mit dem Beitritt
Deutschlands zur Allianz und mit dem deutschen Beitrag zur Allianz durchaus schwergetan hat. Aber, Herr
Kollege Rühe, ich könnte jetzt mit leisem Spott hinzufügen: Man muß die Geschichte schon insgesamt betrachten; Sie haben nur über einen Teil geredet. Ich erinnere
mich daran, daß, um mich höflich auszudrücken, auch
„gewisse andere politische Kräfte“ mit Kooperation,
Konsultation, Abbau von Spannungen, Gewaltverzicht
und ökonomischer Zusammenarbeit - also den Elementen, die wir heute in einem großen Konsens als die geVolker Rühe
meinsamen Eckpfeiler einer umfassenden Sicherheitspolitik begreifen - ihre Schwierigkeiten hatten, in einer
eigenartigen Verbindung zwischen Albanien, Vatikan
und CDU/CSU in Deutschland.
({1})
Dies, um auch diesen Teil der Geschichte noch in Erinnerung zu halten.
Aber wie auch immer: Von heute aus betrachtet waren die Politik der Westintegration und die Ostpolitik
am Ende doch zwei Seiten einer außerordentlichen erfolgreichen Medaille. Ich finde, wir sollten in Deutschland diesen Konsens nicht nur im historischen Rückblick, sondern auch für die Zukunft aufrechterhalten.
({2})
Um noch einmal die Weitsicht zu betonen: Es war der
amerikanische Präsident Truman, der schon 1948, vor
der Gründung der NATO, vehement für eine Perspektive
der deutschen NATO-Mitgliedschaft plädiert hat. Die
NATO ohne ein demokratisches und friedliches
Deutschland konnten sich insbesondere auch unsere
amerikanischen Freunde - nicht nur sie, aber insbesondere auch sie - auf Dauer gar nicht vorstellen. Wir in
Deutschland jedenfalls sind anerkanntes Mitglied der
westlichen Wertegemeinschaft geworden, haben dabei
Sicherheit, Souveränität, Gewicht, Ansehen und am Ende auch die Einheit gewonnen.
Ich sage das im Zusammenhang mit einer historischen Parallele. Wir feiern in diesem Jahr ja nicht nur
den 50. Geburtstag der NATO, sondern auch den
50. Geburtstag unserer eigenen Verfassung, die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und den zehnten
Jahrestag des Falles der Mauer, des Wegfalls der alten
Grenzen zwischen Ost und West, nicht nur in unserem
Land. Wir wissen sehr genau, was wir, gerade mit Blick
auf diese Ereignisse, der Nordatlantischen Allianz, aber
auch der Europäischen Union, unseren Freunden und
Partnern im Westen, unseren Partnern, auch unseren
Freunden im Osten Europas zu verdanken haben. Also
sind auch Frieden, Freiheit, Demokratie und Einheit
in Deutschland selbst mit dem historischen Erfolg der
Allianz verbunden. Die NATO hat Grund, stolz zu sein,
wir auch.
Nun reicht es aber nicht, die Erfolge der Vergangenheit zu würdigen. Also werden in Washington auch
richtungsweisende Entscheidungen mit Blick auf die
Herausforderungen, denen wir uns in Zukunft gegenübersehen, zu treffen sein. Das wird sich in dem neuen
strategischen Konzept ausdrücken; mit ihm werden
Auftrag und Selbstverständnis der Allianz bis weit ins
nächste Jahrhundert festgelegt. Wir haben uns - ich
weiß sehr genau, woher die Formulierung von Sicherheit
und Stabilität in Europa und für Europa kommt - als
Bundesregierung in diesen Prozeß intensiv und aktiv
eingeschaltet. Es ging uns nicht nur um die militärischen
Fähigkeiten der NATO, sondern auch darum, die Kooperation im Rahmen der Partnerschaft für den Frieden
auszubauen und auch auf veränderte Krisenursachen
reagieren zu können. Es geht dabei nicht nur um Fragen,
die mit der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu tun haben, sondern auch um andere. Ich
will vier Punkte nennen.
Erstens. Die kollektive Verteidigung und die transatlantische Bindung bleiben die unverzichtbaren Wesensmerkmale der Allianz. Gleichzeitig wird sie sich
- wir haben versucht, das so gut wie irgend möglich
voranzubringen - auch den neuen Aufgaben stellen, die
sich im Zusammenhang mit Sicherheit und Stabilität im
euro-atlantischen Raum ergeben: Partnerschaft und Kooperation, Konfliktverhütung und Krisenmanagement.
Das wird im strategischen Konzept der NATO mit unserer vollen Unterstützung - übrigens auch mit unserer Initiative - einen entsprechenden Ausdruck finden. Dahinter steckt, daß wir zwischen zwei Möglichkeiten zu
entscheiden haben: Entweder warten wir, bis krisenhafte
Entwicklungen mitsamt ihren Folgen bei uns angekommen sind, oder wir treten ihnen dort entgegen, wo sie
entstehen.
Die Linie der Bundesregierung ist klar: Krisenvorbeugung muß dort ansetzen, wo Krisen selbst entstehen,
und dafür braucht man ein breites Spektrum politischer
wie militärischer Reaktionsmöglichkeiten und die entsprechenden Fähigkeiten dazu. Deshalb ist es gut, daß
im neuen strategischen Konzept Krisenprävention und
Krisenmanagement einen viel höheren Stellenwert haben werden als in der Vergangenheit. Wir begrüßen und
fördern das ebenso ausdrücklich wie die Kooperation
mit anderen internationalen Organisationen.
({3})
Zweitens. Es gibt im Bündnis einen breiten Konsens
darüber, daß NATO-Einsätze der internationalen Krisenbewältigung einer unbezweifelbaren Rechtsgrundlage bedürfen und in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen stehen
müssen. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen. Ich
ergänze das mit dem Hinweis, daß im neuen strategischen Konzept entgegen mancher Debatte in den letzten
Monaten genau dies ausdrücklich verankert sein wird,
nämlich daß die NATO ihr Handeln auf der Grundlage
des Völkerrechts und in Übereinstimmung mit der
Charta der Vereinten Nationen entwickeln wird.
Wir werden gleichzeitig die Bereitschaft bekräftigen,
Friedenseinsätze unter der Autorität der Vereinten Nationen oder in Verantwortung der OSZE durchzuführen;
das wäre dieselbe unbezweifelbare völkerrechtliche
Grundlage. Entwicklungen wie im Kosovo kommen
hinzu. An der völkerrechtlichen Grundlage des Einsatzes
der NATO besteht kein Zweifel; es besteht aber auch
kein Zweifel - das haben wir ja hier im Hohen Hause
schon einige Male erörtert -, daß wir uns in einem objektiven Zielkonflikt befinden, übrigens die Charta der
Vereinten Nationen und das Völkerrecht auch. Denn wir
sehen an einer Entwicklung wie im Kosovo - und nicht
nur dort -, daß die Prinzipien, die die Charta und das
Völkerrecht tragen, nämlich die Souveränität der Staaten
und die Ächtung zum Beispiel von schwersten VerbreBundesminister Rudolf Scharping
chen gegen die Menschlichkeit, in einen Konflikt miteinander geraten können, jedenfalls dann, wenn in einem
Staat entsprechende Vorgänge - Mord, Massenmord,
Vertreibung, am Ende Völkermord - stattfinden.
Drittens. Die NATO wird verdeutlichen, daß Europa
mehr Verantwortung übernimmt, und Europa wird klarmachen, daß es dazu willens und fähig ist. Das Problem,
wenn es überhaupt eines innerhalb der NATO gibt, ist ja
nicht die amerikanische Stärke, sondern die europäische
Schwäche hinsichtlich neuer Herausforderungen und der
ihnen adäquaten Handlungsmöglichkeiten. Also wollen
wir die europäischen Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten stärken, und zwar in doppelter Hinsicht: erstens innerhalb der Allianz selbst - das sind Fragen, die
zwischen NATO und WEU vereinbart werden - und
zweitens, indem wir die europäische Handlungsfähigkeit
im Rahmen der Europäischen Union verstärken.
Für Deutschland ist eine solche Entwicklung eigentlich nicht schwer nachzuvollziehen. Die Bundesrepublik
Deutschland hat neun Nachbarn. Mit sieben von ihnen
sind wir in einem gemeinsamen militärischen Bündnis
verbunden - nicht mit der Schweiz, nicht mit Österreich,
wie wir wissen. Mit sechs von diesen sieben NATOPartnern und Freunden haben wir mittlerweile multinationale Verbände oder Einheiten oder werden sie in
Kürze haben. Der einzige Nachbar, mit dem wir solche
Verbindungen nicht haben, ist die Tschechische Republik. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich sagen, daß
wir hoffen, daß sich das in möglichst naher Zukunft bitte
auch ändern möge, damit wir mit allen unseren Nachbarn multinationale Einrichtungen, Verbände und Verbindungen haben.
({4})
Meine Damen und Herren, völlig zu Recht erwarten
unsere amerikanischen Freunde, daß Europa solidarisch
einen größeren Teil der gemeinsamen Lasten übernimmt, und zwar insbesondere dort, wo europäische Interessen und Verantwortlichkeiten zuallererst berührt
sind. Der Aufbau eines europäischen Pfeilers innerhalb der NATO wird seit langem gefordert. Er hat auch
viel Zeit erfordert. Aber jedenfalls halte ich für unbestreitbar, daß Europa ohne Verdopplung von Institutionen oder Strukturen in einer ausgewogeneren transatlantischen Partnerschaft mehr Gewicht erhalten soll und
muß, ganz konkret und auch sehr praktisch.
Das hat dann übrigens eine vierte Auswirkung: Das
Bündnis wird ja im Rahmen der Überprüfung seines
strategischen Konzeptes auch die Richtlinien für die
Streitkräfte anpassen und die militärischen Fähigkeiten
mit Blick auf ein erweitertes Aufgabenspektrum optimieren.
Wir sehen im Zusammenhang mit dem Kosovo im
früheren Jugoslawien, daß multinationale Krisenbewältigung veränderte und höchste Anforderungen an Personal und an Material stellt. Bestimmte Schlüsselfähigkeiten - in einer fast militärisch-technokratischen Sprache würde man sie Mobilität, Verlegungsfähigkeit,
Durchhaltefähigkeit, Nachhaltigkeit eines Einsatzes
nennen - gewinnen entscheidende Bedeutung. Wer eine
schnelle und effektive Reaktion auf Krisen will, muß
sich solchen Schlüsselfähigkeiten und ihrer Entwicklung
zuwenden.
Das neue strategische Konzept und seine Vorgaben
für die Bündnisstreitkräfte sowie entsprechende Gipfelinitiativen werden jedenfalls die entscheidende Orientierungslinie auch für die Arbeit der Kommission zur gemeinsamen Sicherheit und zur Zukunft der Bundeswehr
sein. Diese Kommission wird unmittelbar nach dem
Gipfel in Washington ihre Arbeit am 3. Mai aufnehmen.
Allein der Termin, aber viel mehr als dieser Termin, soll
deutlich machen, daß Deutschland auch in Zukunft auf
eine enge zeitliche und inhaltliche Verzahnung von
NATO-Entwicklung und der Entwicklung der eigenen
Streitkräfte entscheidenden Wert legt.
Ulrich de Maizière, der frühere Generalinspekteur,
hat 1982 gesagt: „Eine Armee, die glaubt, fertig zu sein,
ist bereits veraltet.“ Das galt damals, und das gilt auch
heute. Jedenfalls lehren uns diese Wochen, wie wichtig
es ist, über moderne, flexible und einsatzfähige Streitkräfte zu verfügen. Aber - da stimme ich dem Kollegen
Rühe ausdrücklich zu - auch die im technischen Sinne
modernste Armee ist nichts wert, wenn in ihr nicht
gleichzeitig von dem Auftrag für Frieden, Freiheit und
Menschenrechte überzeugte Soldatinnen und Soldaten
motiviert und leistungsfähig ihren Dienst leisten. Das
sollten wir ausdrücklich anerkennen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich will kurz resümieren:
Das Bündnis war in den letzten 50 Jahren die wichtigste
Grundlage für unsere, die Freiheit und Sicherheit der
Deutschen und der Europäer. Die NATO wird auch in
den nächsten Jahrzehnten die wichtigste Grundlage für
eine sichere, freiheitliche und stabile Entwicklung in
Europa sein, soweit es um die Herausforderungen an unsere Sicherheit geht. Sie wird zunehmend stärker auf
eine enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Union
und den anderen internationalen Institutionen angewiesen sein, und sie wird das in eigener Kompetenz und
durch Zusammenarbeit mit anderen Staaten oder internationalen Institutionen leisten können, und zwar auf der
Grundlage unveränderter gemeinsamer Werte, auf der
Grundlage auch gemeinsamer Interessen und im Rahmen einer festen transatlantischen Partnerschaft, die ja
Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks verbindet,
die auf der Welt eine hohe Bedeutung haben, nicht von
der Zahl ihrer Bevölkerung her, aber von ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Freiheit und von ihren festen demokratischen Grundlagen her.
Mit der Stärkung der NATO wird immer die Stärkung
dieser Grundlagen verbunden sein; denn die militärischen, die sicherheitspolitischen Belange sind nicht von
den freiheitlichen und stabilen demokratischen Grundlagen zu trennen.
({6})
Ich erteile dem
Fraktionsvorsitzenden der F.D.P., dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Am Vorabend der Vertragsunterzeichnung des Nordatlantikpaktes, am 3. April
1949, hatte der amerikanische Präsident Truman die
Außenminister Kanadas und Westeuropas zu sich gebeten und ihnen eindringlich erklärt, daß jede alliierte
Politik, die dem deutschen Wiederaufbau keinen hinreichenden Spielraum lasse, diese Nation in die Arme der
UdSSR treiben könne, und zu einer Politik ermutigt, die
den deutschen wirtschaftlichen Wiederaufbau möglich
macht, die Entwicklung demokratischer Institutionen
beschleunigt und die alten - so will ich es jetzt ausdrükken - sowjetischen Absichten aktiv bekämpft.
Am nächsten Tag wurde dieser Vertrag von
12 Gründungsstaaten unterzeichnet. Freiheit, gemeinsames Erbe, Zivilisation, Grundsätze der Demokratie,
Freiheit der Person, Herrschaft des Rechts - das waren
die Grundzüge, auch die Entschlossenheit, sich für diese
einzusetzen.
Ich erwähne dies, weil - im wahrsten Sinne des
Wortes - am Vorabend deutlich geworden ist, was das
Bündnis für uns bedeutet. Dieses Bündnis hat eine gewaltige erzieherische Wirkung auf billigen Nationalismus gehabt. Es hat eine Renationalisierung der Sicherheits- und Außenpolitik verhindert und damit den
Grundstein für unsere heutigen Chancen gelegt.
({0})
Das bedeutet für uns Deutsche mehr als für manch anderen europäischen Nachbarn; denn durch dieses Bündnis
ist aus unserem Land, einem Land der Geschlagenen,
wieder ein Land mit Gewicht und Vertrauen geworden.
Wir unterschätzen das heute.
Im übrigen erfolgte mit diesem Bündnis die deutsche
Vereinigung. Es ist bemerkenswert, daß die deutsche
Vereinigung im wesentlichen im Zeichen dieses Bündnisses, der europäischen und internationalen Orientierung Deutschlands, vor sich gegangen ist, auch im Zeichen des Grundgesetzes. Der tiefste Bruch im Osten
wurde mit der höchsten Beständigkeit im Westen verbunden. Das ist sehr bedeutsam.
Vorhin hat der Kollege Rühe die Frage gestellt - darauf darf man in einer solchen Debatte ruhig rekurrieren -,
wer in bestimmten Phasen auf der Straße war und auf der
Straße sein würde. Wer so redet, wie wir es heute alle getan haben - das sage ich an alle politischen Grundrichtungen gewandt -, der kann eigentlich für nichts anderes auf
die Straße gehen als für die zutiefst historische Erkenntnis, daß mit diesem Bündnis unsere Werteordnung konstituiert und gesichert worden ist.
({1})
Allen, die das in Zweifel ziehen, müssen wir entgegentreten. Es geht nicht um die Bündnis- und Außenpolitik
Deutschlands; das ist für uns Staatsräson. Daran hat sich
nach der Vereinigung unseres Landes nichts geändert.
Das Bündnis hat im übrigen Beständigkeit im Wandel
bewiesen. Auf dem Gipfel von Rom im Jahr 1991 wurde quasi eine neue NATO proklamiert. Alle Staaten
waren sich völlig im klaren, daß die Strukturen des
Bündnisses geändert werden müssen, daß ein EuroAtlantischer Partnerschaftsrat auf den Weg gebracht
werden muß, daß das Prinzip der kooperativen Sicherheit hinzugefügt werden muß, daß es einen NATORußland-Rat, eine NATO-Ukraine-Kommission, eine
„Charta über eine besondere Partnerschaft“ geben muß.
Jedem ist dies klar.
Wir müssen die Anstrengung unternehmen - alle Abgeordnete aus allen Fraktionen -, der nachfolgenden
jungen Generation deutlich zu machen, daß dies ein unverzichtbarer Pfeiler der deutschen Politik ist; er ist unverrückbar.
({2})
Polen, die Tschechische Republik, Ungarn - Länder, die
sich nach Sicherheit gesehnt haben und die keinen
Rückfall mehr wollten, sind heute unsere Partner.
Wahr ist aber auch: Heute, im Jubiläumsjahr, befindet
sich das Bündnis ganz eindeutig in der schwierigsten
Phase, seit es besteht. Es ist auch wahr, daß dann, wenn
wir scheiterten, nicht nur die Glaubwürdigkeit der
NATO verloren wäre, sondern auch die Folgen für die
gesamte globale Stabilität unübersehbar wären. Es geht
jetzt um mehr als nur um eine regional begrenzte Problemlösung, die schon längst nicht mehr den Erfordernissen gerecht wird. Es geht um eine schwere Prüfung
der NATO. Die NATO muß sich im wahrsten Sinne des
Wortes vergewissern. Freiheit und andere zivilisatorisch
unverzichtbare Errungenschaften sind zweifelsfrei
Grundwerte, die sie verteidigen muß. Die humanitäre
Hilfe und das Abwehren einer humanitären Katastrophe sind die Ziele, die jedermann klar vor Augen
hat.
Die Mittel, die dafür eingesetzt werden, sind die der
Ultima ratio. Über ihren Einsatz wird nach langen Verhandlungen und nach offenen Diskussionen in demokratischen Gesellschaften entschieden. Aber man muß
auch offen ansprechen: Wer sich selbst vergewissern
will, wer die Notwendigkeiten zum Handeln sieht, wer
weiß, daß im Falle des Nichthandelns die Folgen für die
globale Stabilität und auch für die amerikanische Führungsmacht unabsehbar wären, der darf keinen Moment
daran zweifeln - to whom it may concern -, im Rahmen
des Selbstvergewisserungsprozesses den Partnern in der
NATO und der EU mitzuteilen, daß über solche Einsätze
nicht nur fünf Minuten debattiert werden kann. Man
muß auch klarmachen, daß ein umfassendes Handelsembargo notwendig ist, wenn man Soldaten in einen
Krieg schickt, und daß es unvertretbar ist, mit dem Hinweis auf ökonomische Interessen gleichzeitig weiterhin
Öl zu liefern. Die Bundesregierung muß das mit aller
Emotionalität auch sagen dürfen.
({3})
Kein NATO-Mitgliedsland kann rechtfertigen, Güter
außerhalb der humanitären und medizinischen Erfordernisse nach Jugoslawien zu liefern, die den Zielen, für die
die NATO eintritt, nämlich die Verhinderung einer humanitären Katastrophe, zuwiderlaufen.
Es ist für uns unbestreitbar, daß die westliche Führungsmacht, die Vereinigten Staaten, nicht nur für die
heutige demokratische Stabilität, sondern auch für den
wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes viel getan hat.
Für die Freien Demokraten muß ich das nicht wiederholen. Uns ist völlig klar, daß die Führungsmacht der
Vereinigten Staaten - dies haben nahezu alle Krisen gezeigt; auch wenn es manchmal Fehleinschätzungen der
amerikanischen Administration gab - notwendig ist und
ihre Präsenz in Europa unverzichtbar ist.
Das liegt im übrigen auch im Interesse der amerikanischen Gesellschaft. Je weiter man dort in den mittleren
Westen kommt, desto geringer sind die Kenntnisse über
die europäische Situation. Die Präsenz der Vereinigten
Staaten und ihrer Gesellschaft in Europa durch Soldaten
ist auch deshalb erforderlich, damit sich die Amerikaner
immer selber ein Bild über Europa machen können und
nicht nur auf die Informationen der Zeitungen an der
Ostküste angewiesen sind. Es geht also um viel mehr als
nur um die Präsenz von Soldaten.
Aber - auch das sei gesagt - es kann keinen Automatismus beim Einsatz militärischer Mittel geben, den
die NATO in Gang setzt, nur weil ihn die amerikanische
Führungsmacht für notwendig erachtet. Militärische
Mittel müssen im Konsens der gesamten NATOGemeinschaft eingesetzt werden, nicht durch Automatismen, die die Administration des größten Bündnispartners irgendwann auslösen kann.
Damit muß auch die parlamentarische Mandatierung klar sein, und zwar im engeren Sinne als bei vielen
anderen Fragen, die wir hier erörtern. Das geschieht
nicht auf Grund eines grundsätzlichen Mißtrauens, sondern aus der Verantwortung für die deutschen Soldaten
heraus. Die Mandatierung sollte im übrigen auch für
humanitäre Einsätze vorgeschrieben werden, damit die
Soldaten und ihre Familien immer die Sicherheit haben,
daß das deutsche Parlament den Einsatz für richtig hält.
Vorsichtig zu sein ist politisch besser.
({4})
Nach Meldungen, die heute morgen über den Ticker
kamen, berichtet die „Washington Post“, Generalsekretär Solana habe gefordert, daß sämtliche Optionen auf
dem Tisch liegen müßten, bevor man über den Einsatz
von Bodentruppen im Kosovo entscheiden könne.
Sämtliche Optionen liegen immer auf dem Tisch. Aber
es darf trotzdem kein Automatismus entstehen: Das
Parlament der Bundesrepublik darf nicht mit der Begründung, daß sämtliche Optionen auf dem Tisch gelegen hätten, in eine Entscheidungssituation kommen, in
der es über eine bestimmte Option gar nicht mehr beschließen könnte. Ich lege Wert darauf, daß die Parlamente der Mitgliedstaaten der NATO Optionen legitimieren, niemand anders. Optionen dürfen nicht durch
einen Automatismus in irgendwelchen Stäben zu Beschlüssen werden.
({5})
Wir alle wissen - der Bundeskanzler, der Verteidigungsminister und der Kollege Rühe haben es ausgedrückt -, daß ohne Rußland eine politische Lösung des
Kosovo-Konflikts nicht zu erreichen sein wird. Wenn
wir den Vorabend der NATO-Gründung, den 3. April
1949, betrachten, als es darum ging, Deutschland nicht
in die Arme der UdSSR zu treiben, dann sehen wir
deutliche Unterschiede zum Jubiläumsjahr. Die alte Frage hat sich aufgelöst. Die Frage an die NATO heißt
heute, ob sie in Kenntnis des Erfordernisses einer politischen Lösung nach zwischenzeitlichem Einsatz militärischer Mittel zu einer Initiative findet, die Rußland ein
Stück Handlungsspielraum gibt, so daß es zur Problemlösung beitragen kann. Wir müssen daran ein großes Interesse haben; an einer Sicherheitspartnerschaft mit
Rußland - das macht das Jubiläumsjahr überdeutlich führt kein Weg vorbei.
Das wird nicht allein die NATO erreichen können.
Dazu brauchen wir ein Zusammenspiel aller euroatlantischen Institutionen. Die deutsche Ratspräsidentschaft - der Bundeskanzler drückte es in der Regierungserklärung aus - weiß das. Sie ist sich dieser Aufgabenstellung bewußt.
Ich muß allerdings auch mit Blick auf die letzte Debatte feststellen, daß mir die aktiven Schritte nicht so
recht deutlich werden, nachdem in vielen Zeitungen der
Fischer-Plan publiziert worden war. Rückblickend auf
die Debatte in der letzten Plenarwoche hatte ich den
Eindruck, jetzt bespricht der Bundeskanzler die Vorschläge des Bundesaußenministers mit den europäischen
Regierungschefs. Zu meiner Verwunderung ist das dort
aber anscheinend nicht erörtert worden. Es gab lediglich
die sehr zurückhaltende Erklärung der NATO, es handele sich um einen Diskussionsvorschlag, über den noch
nicht gesprochen worden sei. Auch die amerikanische
Seite erklärte sich, soweit man es den Zeitungen entnehmen konnte, äußerst zurückhaltend zu einem Diskussionsbeitrag, der in der westdeutschen Blätterlandschaft
hingegen als von Kofi Annan abgesegnet - das meine
ich jetzt gar nicht abträglich - dargestellt wurde.
Ich hatte den Eindruck, Grundlage des Fischer-Plans
sei mindestens ein Kabinettsbeschluß. Der Bundeskanzler erklärte aber, es sei ein begrüßenswerter Vorstoß
des Außenministers. Das soll mir nun alles recht sein,
nur möchte ich endlich einmal wissen, wann sozusagen
Butter bei die Fische kommt.
({6})
Wie will die Bundesregierung damit jetzt weiter umgehen? Wenn Sie morgen zu dem Jubiläumstreffen reisen, kann hinterher nicht wieder eine Erklärung abgegeben werden, wie wir sie nach dem Treffen der europäischen Regierungschefs entgegennehmen mußten: Es ist
nicht besprochen worden. Gerade weil zwischen uns und
der amerikanischen Führungsmacht überhaupt keine
Zweifel an der beiderseitigen Zuverlässigkeit auftreten,
ist es unser legitimes Recht als NATO-Mitgliedsland,
das die EU-Ratspräsidentschaft in dieser schwierigen
Situation mit einsetzen kann, der amerikanischen Führungsmacht und den anderen NATO-Verbündeten mit
aller Kraft deutlich zu machen, daß sich nach unserer
Überzeugung jetzt folgende Fragen stellen: Was geschieht außerhalb der täglichen Briefings? Welche politischen Lösungen stellt man sich am Ende auch nach
einer Einbindung Rußlands vor? Wie beurteilt man die
heutigen Chancen, politische Lösungen zu erreichen?
Wie konkret werden Konzepte, die über einen Waffenstillstand hinausreichen, mit anderen weiter erörtert?
Es muß ja jedermann folgendes klar sein: Je länger
militärische Aktionen andauern, desto notwendiger wird
es, dann auch wieder vornehmlich politisch zu agieren.
Dafür genügt mir die Publikation der FischerVorschläge in deutschen Zeitungen allein nicht.
({7})
Ich will etwas über die späteren politischen Verhandlungen erfahren. Das sage ich nicht als Vorwurf,
sondern deswegen, weil ich nicht so viele Gespräche mit
namhaften Staatsmännern führen kann, wie es der Bundeskanzler und der Außenminister tun; ich sage nur, daß
es mir nicht deutlich wird. Es gehört gerade zum Charakterbild des Bündnisses, zwar ein kollektives Sicherheitsbündnis zu sein, aber immer die militärischen Mittel als Ultima ratio zu sehen und in erster Linie über Instrumente zu verfügen, die es dem Bündnis erlauben, zu
politischen Problemlösungen zu kommen.
({8})
Dieser Charakter des Sicherheitsbündnisses muß jetzt
ausgefüllt werden. Das Bündnis muß seine Fähigkeit
unter Beweis stellen, wieder mehr zu politischen Problemlösungen zu kommen. Wir streiten hier nicht darüber, ob meine Aufforderung an Sie, Ihre Position bezüglich politischer Problemlösungen mehr in Verhandlungen als auf Pressekonferenzen deutlich zu machen,
unbillig ist, nur weil ich Ihnen nicht zutrauen würde, daß
Sie nicht die gleiche Blickrichtung haben. Über diesen
Punkt streiten wir hier nicht. Ich bin überzeugt, daß auch
Sie am Ende die Notwendigkeit politischer Problemlösungen sehen.
({9})
- Auch in einer solchen Debatte darf die Opposition
deutlich machen, daß ihr die Publikation des Plans nicht
reicht, wenn sich dahinter nicht festgefügte Verhandlungspositionen verbergen.
({10})
Wir sollten in diesen Diskussionen nicht den Eindruck
erwecken, als seien die anderen sozusagen die Päpste,
aber wir dürften uns nicht kritisch zu Ihren Vorschlägen
äußern. Überhaupt können Sie von Glück sprechen, daß
Sie es mit einer solchen Opposition zu tun haben! Das
will ich einmal deutlich sagen.
({11})
Ich will, daß sich in der jetzigen Situation der deutsche Beitrag nicht auf die innenpolitische Bedeutung beschränkt, nämlich den einen Koalitionspartner bei der
Stange zu halten. Ich will, daß der Vorschlag in den entsprechenden NATO-Gremien mit der vollen Unterstützung der gesamten Bundesregierung vorangetrieben
wird. Das ist der entscheidende Punkt, der beachtet werden muß.
({12})
Ich will die Fraktion der SPD ansprechen:
({13})
Sie könnten mit verschiedenen Abschnitten der frühen
Nachkriegspolitik der Bundesrepublik Deutschland,
auch wenn wir damals über verschiedene Punkte streitig
diskutiert haben, durchaus Ihren parteipolitischen Frieden machen. Heute muß jeder anerkennen, daß der erste
Schritt der Nachkriegspolitik unter Konrad Adenauer
nicht falsch, sondern unverzichtbar notwendig und richtig war. Umgekehrt könnten viele aus der Union mehr
oder weniger leichten Herzens sagen: Ja, wir sind nicht
gerne aus der Regierung ausgeschieden, aber wir müssen zugeben, es war wohl richtig, daß die Regierung
unter Brandt und Scheel Schritte in Richtung Osteuropa
unternommen hat, um so dem deutschen Volk über die
Tabuschwelle der Oder-Neiße-Linie hinwegzuhelfen.
({14})
Heute müßten die Grünen eigentlich sagen: Das Eintreten für die Ziele, für die wir während der Entstehung
der grünen Bewegung auf die Straße gegangen sind, hat
darunter gelitten, daß die Stabilitätsgesichtspunkte der
Nachkriegsgeschichte und die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland nicht beachtet wurden; unser Blick
war nicht durch die tiefen Erkenntnisse aus der deutschen Geschichte geprägt, die sich nie mehr wiederholen
darf.
Wir haben heute die Chance, die von mir skizzierte
Politik umzusetzen. Deshalb sind wir selbstbewußt genug, die Bundesregierung aufzufordern, im Rahmen dieses Konsens nachdrücklich auf eine konzeptionelle Lösung zu drängen und keine Hemmungen zu haben, entsprechende Vorschläge unseren NATO-Partnern zu unterbreiten. Als gleichberechtigter Partner in einem
Bündnis müssen wir der amerikanischen Führungsmacht
vorgreiflich deutlich machen, daß es für uns bei allen
strategischen Überlegungen keinen Automatismus geben
kann, weil die deutsche Nation, die militärische Entscheidungen im Hinblick auf diese Region mittragen
muß, die Geschichte anders zu bewerten hat, als dies
unter kühlen administrativen Gesichtspunkten der Fall
ist. Dies muß vorgreiflich gesagt werden, damit wir
nicht irgendwann von Vorschlägen militärischer Stäbe
überrascht werden, die wir dann politisch nicht mehr
diskutieren können. Darum geht es uns.
({15})
Ich erteile das Wort
Bundesaußenminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Folgt man
der heutigen Debatte, so muß man feststellen, daß Parlamentsdebatten für die Geschichtsschreibung nur bedingt tauglich sind. Dies erklärt sich aus der Tatsache,
daß Parlamentsdebatten im wesentlichen interessengeleitet sind.
({0})
- Ich komme auf die verschiedenen Aussagen zurück,
Herr Kollege Glos. Sie sollten es aber eher als eine
positive Entwicklung begreifen, daß ehemalige NATOGegner oder NATO-Kritiker heute NATO-Generalsekretär bzw. Bundesaußenminister sind. Dazu haben
Sie durch den Gang in die Opposition ja Erhebliches
beigetragen.
({1})
Ich komme jetzt gar nicht aus parteipolitischen Gründen auf die Geschichte zurück, sondern möchte auf ein
Element des Widerspruchs in der europäischen Sicherheitspolitik hinweisen, das seit der Gründung der
NATO die ganze Nachkriegszeit hindurch bis in die Gegenwart hinein - konstitutiv ist. Das ist ein Widerspruchselement, das man gerade am heutigen Tag nicht
ignorieren sollte, wenn man über die zukünftige Politik
der NATO und über die zukünftige Sicherheits- und
Außenpolitik in Europa spricht. Der erste Generalsekretär der NATO, Lord Ismay, hat das Gründungsprogramm der NATO in einem sehr einprägsamen Satz zusammengefaßt. Lord Ismay sagte damals, Zweck der
NATO sei es, „to keep the Americans in, the Russians
out and the Germans down“. Das heißt, der Zweck sei
es, nach dem zweiten Weltkrieg die Amerikaner in
Europa zu halten, die Russen draußen zu halten und die
Deutschen unten zu halten. Dieses Programm galt bis
zum Ende des kalten Krieges.
Was Sie heute vergessen haben zu erwähnen, ist die
Tatsache, daß Deutschland zu Beginn gar nicht in der
NATO war. Das hatte nicht nur damit zu tun, daß die
NATO den ehemaligen Kriegsgegner und Feind
Deutschland noch nicht wollte, sondern vor allen Dingen damit, daß es ursprünglich einen Widerspruch zwischen der anglo-britischen Gründung der NATO und
dem deutsch-französischen Versuch der Gründung der
Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gab. Dieser
Widerspruch zwischen der Bindung Deutschlands - von
seinem Sicherheitsinteresse her - an die transatlantische
Achse und der gleichzeitigen Bindung Deutschlands
- vom seinem europäischen Interesse her - an die
deutsch-französische Achse ist bis heute ein konstitutives Element geblieben und macht die sicherheitspolitische Orientierung der Bundesrepublik über alle Regierungen hinaus aus. Diesen Widerspruch in eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Außenpolitik und in
eine Stärkung der europäischen Säule innerhalb der
NATO aufzulösen wird demnach die entscheidende
Herausforderung der kommenden Jahre sein.
({2})
Herr Rühe, ich verstehe ja, daß Sie bundesrepublikanische Geschichte als Parteigeschichte darstellen.
({3})
- Die Union hat viele Gründe, das zu verknüpfen; das ist
jetzt wirklich nicht polemisch gemeint. - Sie hätten aber
einige Punkte hinzufügen müssen: Alle hier sitzenden
Parteien haben, wenn man die bundesrepublikanische
Geschichte insgesamt anschaut, ihre innerparteiliche
Entwicklung gegen die Entwicklung dieser Geschichte
gesetzt. Sie haben die ganzen zehn Jahre der Ostpolitik
nicht erwähnt und auch nicht die Tatsache, daß diese
Politik entscheidend zur Herausbildung des europäischen Sicherheitssystems beigetragen hat.
({4})
Diese Ostpolitik war konstitutiv. Daß Sie die Änderung
der Politik der Union, nachdem sie 1982 wieder an die
Regierung gekommen ist und diesen ganzen Kurs hintangestellt hat, und daß Sie die Debatten um den Atomwaffensperrvertrag - „intergalaktisches Versailles“ hieß
es damals - nicht erwähnen, verstehe ich. Wenn man
aber die Geschichte bemüht, dann sollte man sie der
Wahrhaftigkeit halber als Ganzes erwähnen und dann
muß man dies alles hinzufügen. Denn das sind konstitutive Elemente: Ohne die Ostpolitik und ohne die Entspannungspolitik hätte es den ganzen Prozeß hin zu
Gorbatschow und letztlich auch den Prozeß hin zur
deutschen Einheit nicht gegeben. Das wissen Sie ganz
genau.
({5})
Das ist aber nur eine Anmerkung, denn ich stimme
allen Rednern zu: Die europäische Sicherheit wird in der
Tat ganz entscheidend durch die Anwesenheit der USA
geprägt. Der Dreiteiler von Lord Ismay - die Amerikaner drin, die Russen draußen und die Deutschen unten
zu halten - gilt heute nicht mehr. Wenn wir über das
transatlantische Sicherheitsbündnis sprechen, müssen
wir über die konstitutiven Bedingungen der Zukunft reden. Dabei gibt es ein gemeinsames Interesse: Ich behaupte, in einem sich vereinigenden Europa - und wenn
man vorausschaut, selbst dann, wenn Europa eines Tages als politisches Subjekt tatsächlich vereinigt ist wird es sicherheitspolitisch gesehen notwendig sein, daß
die USA dauerhaft in Europa präsent bleiben.
Wir befinden uns nicht in einer insularen Lage. So
richtig und wichtig es ist, zu erkennen, daß europäische
Sicherheit von Rußland abhängt, so ist es noch um ein
Vielfaches wichtiger zu erkennen, daß wir den transatlantischen Brückenbogen auf Dauer sicherstellen müssen, weil europäische Sicherheit ohne die USA schlechterdings nicht herstellbar ist.
({6})
- Das ist nicht die Rede für den 13. Mai, sondern das ist
meine Überzeugung. Das zeigt einmal wieder, mein
Lieber, wie doch der außenpolitische Nachwuchs Ihrer
Fraktion noch bemüht ist, die parteipolitischen Eierschalen abzustreifen; das muß ich Ihnen ehrlich sagen.
({7})
- Das hat doch nichts mit Arroganz zu tun. Der Zwischenruf paßt an der Stelle einfach nicht; geben Sie es
doch zu.
Wir diskutieren hier über die zukünftige europäische
Sicherheitsarchitektur. Ich bin der festen Überzeugung,
daß wir eine Sicherheitsarchitektur entlang von drei Bögen brauchen. Wir brauchen das sich vereinigende Europa, das als politisches Subjekt hergestellt wird. Ich unterstütze in diesem Zusammenhang nachdrücklich alle, die
gesagt haben, daß die europäische Säule gestärkt werden
muß. Gerade der Kosovo-Konflikt macht doch klar - ich
möchte das aufnehmen, was verschiedene Vorredner gesagt haben -, daß es vor allen Dingen auch um das politische Gewicht der Europäer im Bündnis geht, das heißt
darum, inwieweit wir unsere eigenen politischen Interessen im Bündnis zum Tragen bringen können.
Es müssen doch aber auch alle diejenigen, die eine
neue Vorstellung von der NATO hatten - die die NATO
sozusagen als neue Plattform unter Hintanstellung anderer Plattformen, wie etwa der der Vereinten Nationen -,
begreifen, daß eine politische Lösung im Kosovo - ich
hoffe sehr, daß es eine solche Lösung gibt - ohne Rußland nicht herstellbar ist, daß wir diesen zweiten Sicherheitsbogen, nämlich die Einbindung Rußlands in die
europäische Sicherheit im Bündnis über die Kooperation
zwischen NATO und Rußland, aber auch über die Kooperation zwischen EU und Rußland brauchen, daß eine
politische Lösung, wenn es zu massiven Konflikten oder
sogar zum Krieg gekommen ist, nur mit Rußland möglich ist. Das ist eine klare Absage an diejenigen, die in
den vergangenen Jahren der Überzeugung gewesen sind,
man könne dies allein auf NATO-Plattform machen.
({8})
Bei dem Krieg im Kosovo - ich möchte dies nochmals hervorheben -, geht es nicht nur um Moral und
nicht nur um die schwerste Mißachtung der Menschenrechte, sondern im Kosovo geht es vor allem um die
Frage, in welchem Europa der Zukunft wir leben wollen.
Dort geht es um europäische Sicherheit.
Die vergangenen Wochen haben intensive Konsultationen auch und gerade mit den Nachbarstaaten mit sich
gebracht. In vielen Kommentaren wird gegenwärtig das
19. und frühe 20. Jahrhundert beschworen, wird auf die
hegemonialen Eingriffe der europäischen Großmächte in
das auseinanderbrechende Osmanische Reich Bezug genommen. Das alles ist heute nicht mehr die politische
Realität. Wo gibt es einen hegemonialen Anspruch welcher Macht im Kosovo? Gibt es einen europäischen hegemonialen Anspruch oder einen transatlantischen oder
amerikanischen hegemonialen Anspruch? Nichts dergleichen ist der Fall.
Wenn ich mir anschaue, was die Nachbarländer dort
wollen, so muß ich sagen: Sie wollen zur EU, und sie
wollen Sicherheit in der NATO. Albanien, Mazedonien,
Kroatien, Slowenien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien,
alle diese Länder wollen in das Europa der Integration. Das ist der entscheidende Punkt. Milosevic steht
hier gegen das Europa der Integration. Er vertritt eine
Politik des extremen Nationalismus, eine Politik der
Gewalt und der Vergangenheit. Wenn man ihn machen
läßt, dann wird das Europa der Integration in dieser Region dauerhaft gefährdet. Das ist neben den Menschenrechtsprinzipien, neben unseren Grundwerten der entscheidende Punkt dafür, warum Milosevic so nicht weitermachen kann und darf.
({9})
Ich füge an dieser Stelle hinzu: Es wird von entscheidender Bedeutung sein, daß wir eine politische Lösung
finden. Herr Kollege Gerhardt - ich möchte Sie direkt
ansprechen -, da machen Sie sich nur keine Sorgen. Es
geht hier nicht darum, daß irgend etwas in die Zeitungen
gebracht wird. In den Zeitungen wird heute alles diskutiert. Vielmehr sage ich Ihnen: Wir haben dieses Konzept gerade auf der außerordentlichen NATO-Ratstagung mit allen unseren wichtigen Bündnispartnern
ausführlich diskutiert. Seitdem spielt dies in den ständigen Telefonkonferenzen, in direkten Treffen und auch
bei der Vorbereitung der entsprechenden Schlußdokumente eine entscheidende Rolle.
Ich möchte Ihnen noch einmal sagen: Alle Vorschläge, die ich bisher gehört habe, beziehen sich letztendlich
auf dieses Konzept, und zwar nicht, weil wir besonders
klug sind, sondern weil wir die fünf Punkte zur Grundlage gemacht haben. Wenn Sie diese fünf Punkte operationalisieren, dann stoßen Sie zuerst auf die Frage der
Einbeziehung Rußlands. Was heißt Einbeziehung Rußlands, wenn man es nicht therapeutisch, sondern real
meint? Einbeziehung Rußlands heißt, daß Rußland seine
Selbstblockade im VN-Sicherheitsrat aufgibt und daß
wir als erstes eine Resolution nach Kapitel VII im VNSicherheitsrat bekommen. Das ist der erste Schritt.
Wenn wir diese Resolution haben - der Bundeskanzler hat vorhin drei der fünf Kernpunkte genannt -, dann
ist die erste Voraussetzung der völlige Abzug der bewaffneten Streitkräfte, der Paramilitärs und der Sonderpolizei aus dem Kosovo. Wenn dieser Abzug beginnt,
dann halten wir es in der Tat für angemessen und übrigens auch für praktisch notwendig, daß eine Waffenruhe
beginnen kann - allerdings nie mehr durch das Vertrauen auf Worte, sondern nur noch durch Taten verifiziert und daß es, wenn innerhalb der festgesetzten Frist der
Abzug abgeschlossen ist, nicht nur zur Implementierung
einer internationalen Friedenstruppe kommt, sondern zu
einem dauerhaften Schweigen der Waffen, damit die
Voraussetzung für eine Übergangsverwaltung geschafBundesminister Joseph Fischer
fen wird und die Flüchtlinge zurückkehren können.
Wenn es zu einer politischen Lösung kommt, dann wird
man diese Forderungen letztendlich in jedem Konzept
wiederfinden müssen, weil es die Konsequenz der Umsetzung der fünf Punkte ist. Genau das ist der deutsche
Vorschlag.
({10})
- Der jetzige Stand ist, daß wir gegenwärtig auf genau
dieser Grundlage über das Gipfeldokument diskutieren,
daß wir versuchen, auf dieser Grundlage mit dem VNGeneralsekretär, der sich Gott sei Dank in eine ähnliche
Richtung bewegt und die Initiative übernommen hat, zu
diskutieren, daß wir darüber noch vorgestern abend mit
unseren Bündnispartnern in Paris gesprochen haben und
daß wir dies auch mit der amerikanischen Seite tun.
Was Sie gesagt haben, hört sich in der Tat schön an.
Wir bedanken uns dafür, daß wir eine solche Opposition
haben. Da stimme ich Ihnen zu. Aber eines möchte ich
Ihnen gleich ins Protokoll diktieren: Die innenpolitische
Debatte in den angelsächsischen Ländern läuft anders.
Es ist nicht so, daß da nur die Administration einen anderen Kurs fährt; vielmehr diskutiert auch der Kongreß
anders. Das muß ich Ihnen nicht erzählen, das wissen
Sie sehr genau. Dasselbe gilt selbstverständlich für die
innenpolitische Debatte in Großbritannien. Das heißt,
daß sich vieles, was es an Vorschlägen gibt, in der ganz
anderen innenpolitischen Prioritätensetzung sehr wichtiger Bündnispartner stößt. Das muß man bei alldem bedenken.
({11})
- Das ist ein normaler Vorgang. Nur, bei allem Respekt, Sie müssen bedenken: Die Gewichtsverhältnisse
spielen schon eine Rolle. Wir waren in der Regel mit
vier bis sechs Flugzeugen bei insgesamt mehr als 400
Flugzeugen beteiligt. Ich sage das, um klarzumachen,
was die Gewichtsverhältnisse bei der politischen Entscheidungsfindung betrifft.
Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur versichern, daß
wir mit allem Nachdruck an einer politischen Lösung
arbeiten. Wir dürfen uns einer militärischen Eskalationslogik in diesem Punkt nicht beugen. Wir führen
keinen Krieg gegen Serbien und gegen das serbische
Volk.
({12})
Was wir wollen, ist die Durchsetzung von Menschenrechten, von Humanität gegen eine Politik der ethnischen Kriegführung. Das müssen und werden wir durchsetzen, weil ein Beugen, ein Wegducken vor dieser
Politik Milosevics keinen Frieden, sondern noch mehr
Krieg, noch mehr Vertreibung und noch mehr Zerstörung bedeuten würde. Das haben die vergangenen zehn
Jahre gezeigt.
({13})
Lassen Sie mich zum Schluß noch ganz kurz den Bezug zwischen neuer NATO und anderen Sicherheitsorganisationen ansprechen. Wer sich die Konsequenz der
jetzigen Entwicklung anschaut, wer sieht, wie wichtig es
ist, daß der VN-Generalsekretär wieder eine aktive Rolle
spielt, wer sieht, wie wichtig es ist, daß Rußland in den
Versuch, eine Friedenslösung für den Kosovo zu finden,
eingebunden wird, der erkennt, daß manches an der Debatte über die neue NATO in den letzten Jahren verkürzt
geführt wurde.
Die NATO ist keine Alternative zu den Vereinten
Nationen. Sie ist eine regionale Sicherheitsorganisation.
Sie zu überfordern würde bedeuten, sie zu gefährden.
Ich glaube, das macht jetzt auch der Kosovo klar.
Die Reformdebatte der NATO über das neue Konzept
wird unmittelbar zu einer Debatte über zwei weitere Organisationen führen müssen: über die Rolle der OSZE wir haben im Kosovo gesehen, daß sie nicht mehr nur
eine Alternative darstellt, sondern eine wichtige Komplementärfunktion zum Sicherheitsbündnis NATO unter
den neuen Bedingungen nach dem Ende des kalten
Krieges wahrnimmt, und daß ihr Instrumentarium dringend fortentwickelt werden muß - und über eine interessengeleitete Reform der Vereinten Nationen, die vor
dem Tabu der Wahrnehmung des Gewaltmonopols
durch den Sicherheitsrat nicht haltmachen darf. Es geht
nicht darum, das Gewaltmonopol in Frage zu stellen,
aber der Gewaltmonopolinhaber - ich bin nachdrücklich
für das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates in den internationalen Beziehungen des 21. Jahrhunderts - muß
sich auch bestimmten Verpflichtungen unterwerfen, damit dieses Gewaltmonopol nicht auf nationalen, sondern
auf internationalen Interessen gründet; dieses muß auch
in den verschiedenen Chartas der Vereinten Nationen
umgesetzt werden.
({14})
Ich möchte es Ihnen an einem Beispiel verdeutlichen: Wir vertreten die Ein-China-Politik, und dies wie ich denke, das ganze Haus - aus Überzeugung. Daß
sich Peking darüber aufregt, wenn Mazedonien Taiwan
anerkennt, kann ich aus Sicht der nationalen Position
Pekings nachvollziehen. Ob es aber im Interesse des Sicherheitsrates, des Gewaltmonopolinhabers in der internationalen Politik, liegt, daß eine sinnvolle VN-Friedensmission in Mazedonien nicht verlängert wird, weil
aus einer aus meiner Sicht berechtigten nationalen Verärgerung heraus ein Veto eingelegt wird, daran habe ich
große Zweifel. Ich glaube nicht, daß so der Gewaltmonopolinhaber Sicherheitsrat unter den Bedingungen
des 21. Jahrhunderts wirklich funktionieren kann.
({15})
Die gegenwärtige Diskussion über die Frage, was
völkerrechtlich zulässig ist oder nicht, ist aus meiner
nicht-juristischen, aber politischen Sicht eine Formaldebatte. Warum? Weil der Sicherheitsrat im Fall des Kosovo schlicht und einfach hätte handeln müssen. Ich wäre froh gewesen, wenn wir eine Resolution nach Kapitel VII bekommen hätten. Ich hoffe, daß jetzt unter EinBundesminister Joseph Fischer
beziehung Rußlands eine entsprechende Resolution zustande kommt; denn alle vorherigen Resolutionen führen
auf diesen Punkt hin. Insofern ist für mich die Frage
nach einer neuen Strategie der NATO nicht die Frage,
ob eine Alternative zu den Vereinten Nationen und ihren
möglichen Reformen geschaffen wird, sondern letztere
sind eine der Voraussetzungen für eine regionale Sicherheitsorganisation für und in Europa. Eine Überdehnung der NATO würde sie meines Erachtens gefährden.
Deswegen müssen wir diese Reformdebatte auch in
Richtung OSZE und VN führen und zu entsprechenden
Beschlüssen kommen.
({16})
Das Wort hat nun
Kollege Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll und anständig gewesen, wenn die NATO ihr Gipfeltreffen, ihre Feierlichkeiten und die Verabschiedung einer neuen NATOStrategie verschoben hätte.
({0})
Ich befürchte, daß dieser NATO-Gipfel unter dem Zeichen des Krieges steht und sich in Diskussionen über
den Krieg erschöpfen wird.
Wir reden über eine NATO, die Krieg führt, Krieg in
Europa, Krieg ohne Mandat der UNO, Krieg unter
Bruch ihrer eigenen Charta, Krieg ohne ein politisches
Konzept. Wir hören dieser Tage von der US-Außenministerin, daß sich jetzt - ebenso wie sich in der Vergangenheit das Militärische der Diplomatie unterordnen
mußte - die Diplomatie dem Militärischen unterordnen
muß. Wir reden von einer NATO und der Rolle unseres
Landes in diesem Bündnis, über die der Altbundeskanzler Helmut Schmidt sagte - ich zitiere ihn -, „gegängelt von der USA, haben wir das internationale
Recht und die Charta der Vereinten Nationen mißachtet“. Daß ausgerechnet ich einmal Helmut Schmidt gegen Gerhard Schröder ins Felde führen würde, wäre mir
selbst in meinen schlimmsten Träumen nicht in den Sinn
gekommen.
({1})
Die alte NATO gibt es nicht mehr. Eine neue NATO
hat sich der Welt vorgestellt. Sie will sich auf ihrem
Gipfeltreffen Ende des Monats eine neue Strategie geben. Das Vorhaben soll nicht gefährdet werden. Ich darf
Ihnen dazu aus der „New York Times“ zitieren: „Ein
vermasselter Einsatz könnte das Bestreben ernsthaft gefährden, für die NATO eine neue Rolle bei Friedenserhaltung und Krisenmanagement zu formulieren.“
Man kann auch nachlesen, was der US-Senator
McClaim geschrieben hat: „Wir müssen diesen Konflikt
gewinnen, egal was es kostet.“ Der Sicherheitsberater
des US-Präsidenten, Samuel Berger, nannte in der „International Herald Tribune“ vom 24. März als einen der
Hauptgründe für die Bombenangriffe „die Demonstration, daß die NATO es ernst meint“.
In der Tat - das will ich bedauernd feststellen - hat
sich die Politik dem Militärischen untergeordnet. Die
militärische Logik folgt eigenen Gesetzen. Ob es der
Bundestag will oder nicht: Wir werden hier vor der Frage stehen, ob wir dem Einsatz von Bodentruppen zustimmen sollen. Alle Überlegungen der Regierung gehen
in Richtung Eskalation. Als nächstes soll eine Seeblokkade Jugoslawiens folgen. Die Debatte über die militärische Eröffnung von Korridoren für die Rückkehr von
Flüchtlingen heißt doch im Klartext Einsatz von Bodentruppen. Wie werden Sie diese Frage dann beantworten?
Jedes neue Dementi von den Regierungsbänken wird
immer zweideutiger. Zugleich nehmen die Forderungen
aus Washington an Eindeutigkeit zu. Wie war es in dieser Woche im „Spiegel“ zu lesen? „Die Amis wollen
den Krieg.“
Nein, auf dem NATO-Gipfel gibt es wenig zu feiern.
Es gibt aber allen Anlaß, darüber nachzudenken, wie
dieser Irrsinn beendet werden kann.
({2})
Ich sage Ihnen voraus - wir werden darüber reden können -, daß der jetzt eingeschlagene Weg, die jetzt eingeschlagene Politik der NATO etwas fertigbringt, was die
Linken 50 Jahre nicht geschafft haben. Diese Politik ist
der Anfang vom Ende der NATO. Aber bedanken werde
ich mich dafür nicht; der Preis ist mir entschieden zu
hoch.
({3})
Daß die NATO ihre Strategie nach dem Ende des
kalten Krieges, nach der Aufhebung der Spaltung der
Welt in zwei Pole, nach der Auflösung des Warschauer
Paktes neu durchdenken muß, versteht sich von selbst.
Erinnern wir uns noch an die Diskussion über ein gemeinsames Haus Europa? Denken wir überhaupt noch
ernsthaft darüber nach, daß Sicherheit nur gemeinsame
Sicherheit sein kann? Erscheint uns heute nicht der Kern
des neuen Denkens - das sich eng mit dem Namen Gorbatschow verbindet -, die Interessen der Kontrahenten,
ja des möglichen Gegners in die eigenen Überlegungen
aufzunehmen und Demütigungen zu vermeiden, unwirklich?
Lassen Sie mich aus einem Papier zitieren, das sich
wie eine Botschaft aus einer anderen Welt liest:
Die neue Bundesregierung hält an dem Ziel der
vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest und wird sich in Zusammenarbeit
mit den Partnern und Verbündeten Deutschlands an
Initiativen zur Umsetzung dieses Ziels beteiligen.
Und weiter:
Zur Umsetzung der Verpflichtungen zur atomaren
Abrüstung aus dem Atomwaffensperrvertrag wird
sich die neue Bundesregierung für die Absenkung
des Alarmstatus der Atomwaffen sowie für den
Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen.
Das, Kolleginnen und Kollegen von Rotgrün, ist Ihr Koalitionsvertrag. Schon vergessen? Oder glauben Sie noch
daran? Mich zumindest hat es sehr berührt, daß Michael
Gorbatschow im Zusammenhang mit der Osterweiterung
der NATO schrieb, er fühle sich „vom Westen verraten“
und die NATO-Erweiterung sei „eine Absage an ein
neues europäisches Sicherheitssystem“.
Wie viele werden sich noch verraten fühlen, wenn auf
dem NATO-Gipfel aus der heutigen NATO, die sich als
Bündnis zur kollektiven Verteidigung ihrer Mitgliedstaaten versteht, eine Militärmacht wird, die künftig
Militäreinsätze außerhalb des Bündnisgebietes planen
und durchführen soll, wenn die NATO künftig weiterhin
Militäreinsätze auch dann vornimmt, wenn dafür kein
konkretes UN-Mandant vorliegt, sie sich also selbst
mandatiert - die Fraktion der CDU/CSU unterstützt dies
ja in ihrem Entschließungsantrag ausdrücklich -, und
wenn schließlich die NATO ausdrücklich an ihrer atomaren Strategie einschließlich der Option des nuklearen
Ersteinsatzes - auch dies fordert die CDU/CSU - festhält? Vom Bundesaußenminister war bereits zu lesen,
daß sein diesbezüglicher Vorstoß auf dem Gipfel nicht
zur Diskussion stehen wird.
Eine Fortschreibung der NATO-Strategie in die
Richtung einer neuen NATO entfernt die NATO auch
von den eigenen Grundlagen. Ich will dies seitens meiner Fraktion festhalten. Der geltende NATO-Vertrag
stellt keinen rechtlich unbegrenzten Handlungsrahmen
für beliebige politische und militärische Zwecke dar.
Die NATO ist nach dem Vertrag eine Organisation zur
kollektiven Selbstverteidigung ihrer Mitgliedstaaten.
Nur dazu haben die Parlamente der Mitgliedstaaten bei
der Inkraftsetzung des NATO-Vertrages ihre Zustimmung erteilt.
Die PDS-Fraktion ist der Auffassung, daß die NATO
zugunsten solcher ziviler Organisationen wie die der
UNO und der OSZE abgebaut werden sollte. Im gleichen Umfang, wie die UNO gestärkt und die OSZE
endlich handlungsfähig wird, kann die NATO zurückgenommen werden.
({4})
Um solche Optionen überhaupt aufrechterhalten zu können, fordern wir, daß es bei den bisherigen vertraglichen
Regelungen bleibt, daß die NATO sich nicht globalisiert
und selbst mandatiert und daß endlich auch wieder
ernsthaft über Abrüstung nachgedacht wird. In diesem
Sinne sind wir für eine gemeinsame europäische Außenund Sicherheitspolitik. Denn es ist schädlich, wenn in
der Welt nur ein starker politischer und militärischer Pol
vorhanden ist.
({5})
Die NATO ist, historisch gesehen - verschiedene
Kolleginnen und Kollegen haben etwas zur geschichtlichen Entwicklung gesagt -, kein Kind der Anti-HitlerKoalition und keine Schlußfolgerung des Sieges über
den Faschismus. Das ist die UNO. Die NATO ist ein
Produkt des kalten Krieges, und das wirkt bis heute fort.
({6})
Der kalte Krieg hat seine Spuren auch im Wertekatalog,
in den Wertvorstellungen, der NATO tief eingegraben.
Inwieweit die Ambitionen der NATO, europäische
Grundwerte, nämlich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - dies hat einmal der Kanzler zitiert; ich füge
hinzu: Schwesterlichkeit ({7})
- danke -, für sich in Anspruch nehmen zu können, tatsächlich glaubwürdig sind, wenn es um Menschenrechte
geht, darf nicht nur im Hinblick auf den NATO-Partner
Türkei getrost hinterfragt werden. Zu oft haben auch
NATO-Länder - in der Logik der Blockkonfrontation brutale Diktatoren unterstützt, Vertreibung geduldet,
Folter akzeptiert und demokratisch gewählte Regierungen gestürzt.
Lassen Sie mich - nicht nur mit Blick auf das Kosovo; aber dies gilt selbstverständlich auch dort - sagen:
Keine Ideologie, keine Interessen, keine Heilsmissionen
rechtfertigen Unterdrückung, Vertreibung und Terror.
({8})
Unterdrückung, Vertreibung und Terror - wo auch immer, ob in der Türkei oder im Kosovo - müssen auf Absage und Widerstand stoßen. Dies muß eindeutig und
schroff erfolgen.
({9})
Menschenrechte aber werden nicht durch Krieg verteidigt. Kein politisches Problem unserer Zeit wird
durch Krieg gelöst. Krieg vernichtet Menschenrechte;
Krieg verroht, befördert Aggressionen. Bomben sind
ebensowenig wie Vertreibung in der Lage, Menschen
dazu zu bringen, solidarisch miteinander zu leben. Jeder
Tag Krieg, so meine Furcht, bringt uns einer politischen
Lösung nicht näher, sondern führt weg von ihr.
({10})
Deshalb noch einmal: Die Bombenangriffe müssen
sofort eingestellt und mit Hilfe der UNO Friedensgespräche in Gang gesetzt werden. Die serbischen Armeesicherheitskräfte und Sonderpolizeien müssen sofort zurückgenommen, die UCK entwaffnet und eine - auch
von der UNO - gesicherte Rückkehr der Flüchtlinge
möglich gemacht werden.
({11})
Dem Kosovo ist eine weitestgehende Autonomie einzuräumen. Mit Hilfe der OSZE und der UNO muß rasch
eine Balkan-Friedenskonferenz vorbereitet und umfassende Aufbauhilfe geleistet werden. Europa muß sich
den Balkanländern öffnen, wenn wir Konflikte und Krisen mindern wollen.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir im
Zusammenhang mit den historischen Rückblicken noch
ein Wort zu einem aktuellen Problem: Der Bundesverteidigungsminister hat - nicht heute, sondern in vorangegangenen Reden und mit ihm ein Teil der Presse - das
Drama der Kosovo-Albaner mit dem der Juden im DritWolfgang Gehrcke
ten Reich verglichen. In diesem Zusammenhang ist von
KZs, von Selektion und Zwangsarbeit die Rede. Das
Bild provoziert geradezu den Vergleich zwischen
Auschwitz und Kosovo. Dieser Vergleich ist unangemessen und falsch.
Lassen Sie mich an dieser Stelle den Fernsehjournalisten Gerd Ruge aus einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ zitieren, der davor warnt:
Die Gleichsetzung Holocaust und Kosovo kann
schließlich dazu führen, daß man fast alles machen
darf.
Im Kosovo werden die Albaner verfolgt und vertrieben. Diese Tatsache allein ist schlimm genug; sie ist
eine europäische Tragödie. Der Kosovo ist aber nicht die
Rampe von Auschwitz, auf der die Verfolgten Europas
selektiert und ins KZ getrieben wurden.
Auschwitz steht für den industriellen Massenmord an
den europäischen Juden und an allen, die die Nazis als
Untermenschen bezeichneten, ein Massenmord, den die
damalige Regierung, die SS und die deutsche Industrie
- dafür steht im Zusammenhang mit Auschwitz namentlich die IG Farben - in Absprache und gemeinsam vornahmen.
Der Vergleich zwischen dem Kosovo und Auschwitz
relativiert die Einmaligkeit dieses Menschheitsverbrechens, mehr noch: Der Vergleich nährt die Vorstellung,
die Geschichte wiederhole sich; nur diesmal steht
Deutschland auf der richtigen Seite, und die anderen
sind die Hitlers.
So verwandelt sich der jetzige Krieg gegen Jugoslawien unter der Hand zur Sühne für Auschwitz. Dieser
Krieg wird zur deutschen Wiedergutmachung für den
industriellen Massenmord am europäischen Judentum,
an Sinti, Roma und Slawen.
Kollege Gehrcke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?
Darf ich den Satz zu
Ende bringen? Dann gerne, Herr Kollege Meckel. - Mit
diesem Krieg würde endlich der Begriff „Deutschland
denken heißt Auschwitz denken“ aufgelöst, und danach
stünde Deutschland sauber da. Diese Umbewertung der
deutschen Geschichte wäre in der Tat eine geistigmoralische Wende, viel tiefer als die, die Altkanzler
Kohl angestrebt und vorangebracht hat.
({0})
Bitte sehr, Herr Kollege Meckel.
Herr Kollege Gehrcke, können Sie mir zustimmen, daß es vielleicht doch sehr problematisch ist, solche Reflexionen historischer Vergleiche in einer Situation anzustellen, in der die Opfer im
Kosovo unter fürchterlichsten Bedingungen leben, vertrieben und umgebracht werden? Ich halte es in dieser
Debatte für zynisch, sich im Angesicht dieser Opfer eine
Reflexion darüber zu leisten, ob es so schlimm sei wie in
Auschwitz.
({0})
Herr Kollege Meckel,
das war nicht meine Reflexion. Ich habe gerade davor
gewarnt, solche historischen Vergleiche anzustellen,
({0})
die nicht von mir und meiner Fraktion, sondern von den
Kollegen Ihrer Fraktion gemacht wurden.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zum
Schluß noch eine sehr persönliche Bemerkung auch für
die Kollegen meiner Fraktion machen: Viele in diesem
Hause haben ihre Zerrissenheit in dem schwierigen Abwägungsprozeß deutlich gemacht. Ich kenne die Prozentzahlen, die viele Kollegen von der SPD und den
Grünen genannt haben: 49 Prozent hier, 51 Prozent dort.
Ich nehme für mich persönlich und für die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion in Anspruch, daß wir
uns den Abwägungsprozeß nicht leichter gemacht haben
als andere Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause.
({1})
Wir träumen immer noch den großen Traum des Dr.
Martin Luther King von einer Welt, in der man solidarisch leben kann.
({2})
Es war unser Gewissen und nichts anderes, was uns
nein zu diesem Krieg und nein zu dieser NATOKonzeption sagen ließ.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich gebe das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Michael Glos.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren Parlamentarische
Staatssekretärinnen und Staatssekretäre! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann gut verstehen, daß die
Regierung den Saal verläßt, wenn die PDS spricht. Ich
muß aber daran erinnern, daß es eine Rede des Partners
in Mecklenburg-Vorpommern, eine Rede des Wunschpartners in Thüringen und eine Rede des Tolerierungspartners aus Sachsen-Anhalt war.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu Beginn
dieser Woche hat der Deutsche Bundestag erstmals im
Reichtstag in Berlin getagt. Es war ein Tag der Freude.
Gemeinsam haben wir den Fall der Mauer und die
glücklich wiedererlangte Vereinigung unseres Vaterlandes gewürdigt. Die Einheit Deutschlands in Freiheit
wurde erst durch die NATO ermöglicht; daran müssen
wir an diesem Tag denken. Deswegen sind 50 Jahre
NATO fünf gute Jahrzehnte für Deutschland.
({1})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, steht an
erster Stelle nicht eine Schmähung der NATO, sondern
ein aufrichtiger und tiefempfundener Dank an unsere
Partner und Freunde: Danke, daß ihr auch in schwieriger
Zeit verläßlich an der Seite der Bundesrepublik
Deutschland gestanden seid und die Bündnisverpflichtungen in keiner Krise in Frage gestellt habt.
({2})
Wir sagen auch den Soldaten des Bündnisses danke,
die auf deutschem Boden stationiert und bereit waren,
notfalls mit ihrem Leben für unsere Freiheit einzustehen.
Danke sagen wir vor allen Dingen auch den amerikanischen Soldaten, die weitab von ihrer Heimat - teilweise
ohne ihre Familie - lange Zeit in unserem Land geblieben sind. Sie sind heute eine wichtige transatlantische
Brücke. Der Umzug in das ferne Deutschland hat für sie
sehr oft Opfer bedeutet.
Ich weiß aus persönlicher Anschauung aus meinem
Wahlkreis, wo immer große amerikanische Garnisonen waren und heute noch sind, daß die amerikanischen
Soldaten geschätzte Mitbürger und Mitbürgerinnen waren und sind. Ich denke in dieser Stunde vor allen Dingen an die drei gekidnappten amerikanischen Soldaten,
die normalerweise in Schweinfurt in meinem Wahlkreis
stationiert sind, die jetzt aber in serbischer Gefangenschaft sind und deren Bilder wir im Fernsehen vorgeführt bekommen haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nur unter
dem Schutzschild NATO war der Wiederaufstieg unseres Landes in Frieden und in Freiheit zum wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand denkbar. Ich glaube, auch
daran sollten wir denken.
Ich erinnere mich sehr genau, daß die erste Demonstration meines Lebens, an der ich teilgenommen habe,
nicht gegen die NATO, sondern für die Amerikaner war,
die damals sehr viele Truppen aus Kitzingen nach Kuweit verlegt haben. Wir haben spontan eine Demonstration für diejenigen organisiert, die dort Freiheit und
Menschenwürde verteidigt haben. Der damalige SPDOberbürgermeister Kitzingens hat sich geweigert mitzutun. Das möchte ich erwähnen; wenn wir schon bei
der Geschichte sind, müssen wir auch mit geschichtlichen Wahrheiten operieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere
Mitgliedschaft bei der NATO war ein Meilenstein für
unsere Souveränität nach der Katastrophe des zweiten
Weltkrieges. Wir feiern den 50. Jahrestag der NATO in
einer schwierigen Zeit. Wir müssen uns daran erinnern,
daß Bündnisse keine Schönwetterveranstaltungen sind.
Unsere Bündnispartner haben die Bündnisverpflichtungen in der Zeit des kalten Krieges eingehalten. Deswegen muß auch das geeinte Deutschland zu seinen
Bündnisverpflichtungen stehen. Wir haben inzwischen
als ganz normales Land gleichberechtigt und gleichgewichtig Verantwortung für das Bündnis übernommen.
Das ist heute im Deutschen Bundestag - Gott sei Dank Konsens zwischen allen demokratischen Parteien.
Wir müssen auch daran erinnern, daß wir beim Einsatz unserer Soldaten im Kosovo Bündnisverpflichtungen übernommen haben. Es ist gut, daß alle demokratischen Parteien - die PDS lasse ich aus gutem Grund
weg ({3})
hinter unseren Soldaten stehen. Ob dies allerdings noch
bei allen Fußtruppen der Regierungsparteien so ist, das
weiß ich nicht.
({4})
Zu Äußerungen zum Beispiel aus Amerika heißt es,
das seien Übersetzungsfehler. Aber auch, wenn ich mir
Äußerungen von Parlamentarischen Staatssekretären
und Staatssekretärinnen anhöre, muß ich sagen - ohne
das überbewerten zu wollen -, daß die Unterstützung
unserer Soldaten inzwischen leider stark in Zweifel gezogen worden ist.
({5})
Es ist schon vom Kollegen Gerhardt angesprochen
worden: Unsere Soldaten haben Anspruch darauf, daß
sie nicht in einer rechtlichen Grauzone operieren. Es gibt
derzeit - jeder kann es nachverfolgen - sehr viele Diskussionen darüber, in welcher Form wir uns in Albanien
mit unseren Soldaten stärker beteiligen sollen und, wie
ich meine, auch müssen, insbesondere zur Abwendung
humanitärer Katastrophen.
Ich habe mich gewundert, daß wir heute im Deutschen Bundestag keinen Antrag auf den Tisch bekommen haben, der die Dinge eindeutig und genau regelt.
Der wäre von uns unterstützt worden. Da frage ich mich
schon, ob nicht auch deswegen auf den Antrag verzichtet worden ist - man kann das gerne anschließend richtigstellen -, weil man sich der Gefolgschaft der eigenen
Fußtruppen nicht mehr sicher gewesen ist.
({6})
Die Bündnisverpflichtung Deutschlands ist ein hohes
Gut. Sie ist das Fundament deutscher Außenpolitik. Ich
freue mich, daß wir einen zumindest verbal lernfähigen
Außenminister haben. Deutsche Sonderwege darf es
nach der Lehre der Geschichte nicht mehr geben. Das
sehen Gott sei Dank auch die Bürgerinnen und Bürger
unseres Landes so. Auf die Frage, ob Deutschland weiterhin der NATO angehören soll, antworteten jüngst
82 Prozent uneingeschränkt mit Ja. Das halte ich für erfreulich. Vor allem die Jugend sagt ja zur NATO. Die
Zustimmung der 18- bis 24jährigen - gerade die jungen
Männer dieses Alters müßten notfalls dafür einstehen liegt bei 90 Prozent. Auch das ist, so glaube ich, ein
Grund zur Freude. Das läßt hoffen, daß wir als
Deutschland im nächsten Jahrhundert einen besseren
Weg gehen, als das in diesem Jahrhundert der Fall war,
daß wir auf der richtigen Seite mit dabei sind.
({7})
Für uns von der CSU war die NATO zu allen Zeiten
die Überlebensversicherung für Frieden und Freiheit.
Zentrale Fragen waren im Bundestag oft umstritten; ich
will das hier nicht noch einmal alles aufzählen. Aber es
gehört nun einmal zur geschichtlichen Wahrheit, Herr
Bundeskanzler, daß Ihre Partei gegen die Westintegration und gegen die Wiederbewaffnung unseres Landes
gewesen ist. Die heutigen Regierungsparteien haben vehement den historischen NATO-Doppelbeschluß bekämpft und in Kauf genommen, daß ihr eigener Bundeskanzler gehen mußte.
({8})
- War es anders?
({9})
Dann können Sie es anschließend vielleicht erklären.
Ich freue mich jedenfalls darüber, daß sich diese
Überzeugungen geändert haben. Zumindest den führenden Politikerinnen und Politikern traue ich dies zu. Ich
traue denen, die vorne sitzen, auch zu, daß sie die Angst,
die sie vor den eigenen Reihen haben, ein Stück überwinden. Gerade deswegen hätte ich mir gewünscht, daß
wir hier im Deutschen Bundestag über das vorhin Angesprochene abstimmen. Ich könnte jetzt noch einmal die
Mittel und Methoden aufzählen, mit denen die NATO
früher bekämpft worden ist. Das führt uns letztendlich
nicht weiter. Wir als Christen wissen: Im Himmel ist
mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über
99 Gerechte.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Daß ich von Ihnen noch einmal Absolution erhalte!)
- Wenn Sie es so sehen, dann verzichte ich darauf, vorzulesen - ich habe die „Frankfurter Allgemeine“ vom
5. März 1990 dabei -, was Lafontaine dazu gesagt hat.
({0})
Lassen wir es weg, daß Sie, Herr Schröder, ihm damals
beigepflichtet haben. Letztendlich geht es immer um die
Zukunft. Wir müssen die Zukunft aus der Erfahrung der
Vergangenheit heraus bewältigen.
Ich möchte an dieser Stelle zweifach gratulieren: Ich
gratuliere Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl zur Auszeichnung in den Vereinigten Staaten zum „Mann des
Jahrzehntes“.
({1})
Ich gratuliere dazu, daß er der einzige Amerikaner ist,
der die Freiheitsmedaille - ({2})
- Es ist gut, daß wir wachsame Parlamentarierinnen und
Parlamentarier haben: Er ist der einzige Nichtamerikaner - wenn ich das „Nicht“ verschluckt habe, verzeihen
Sie es mir bitte -, der die Freiheitsmedaille erhalten
hat. Ich finde, das ist gleichzeitig eine Auszeichnung für
Deutschland, daß wir zu unseren Zeiten - ich hoffe, das
bleibt so - immer ein kalkulierbarer Partner gewesen
sind.
({3})
Ich gratuliere auch Theo Waigel, der heute seinen
60. Geburtstag feiert. Er gehört zu den Staatsmännern,
die es ermöglicht haben, daß Helmut Kohl diese Politik
hat gestalten können. Er stand an seiner Seite, war im
Kaukasus dabei und hat entscheidende Weichenstellungen unseres Landes, vor allen Dingen die festere Integration in Europa durch die Einführung des Euro, geleistet. Ich bedanke mich selbstverständlich auch bei Herrn
Kinkel.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zu diesem
elenden Krieg, dessen Zeugen wir ständig sind. Das
Bündnis steht heute in der Bewährungsprobe, auch als
Wertegemeinschaft. Milosevic führt Krieg gegen das
eigene Volk, und Milosevic darf diesen Krieg nicht gewinnen. Die Bilder der letzten Wochen führen uns vor
Augen, wie grausam das Verbrechen der Vertreibung
ist.
({5})
Bei vielen Vertriebenen in unserem Land werden wieder
Erinnerungen an die Schrecken, die man selbst durchlebt
hat, wach. Deutschland steht hier ohne Zweifel an der
Seite der Bündnispartner, und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung in dieser Frage
unterstützt. Unser gemeinsames Ziel muß es natürlich
sein, eine weitere Eskalation dieses Krieges mit ganzer
Kraft zu vermeiden.
Es gehört zu den bitteren Realitäten dieser Welt, daß
sich Gewalt oft nur mit Gegengewalt stoppen läßt. Allerdings sind nicht alle Krisen immer nur gewaltsam zu
bewältigen. Deswegen sollten wir auch nach friedlichen
Lösungen suchen und um friedliche Lösungen ringen.
Aber das muß dann in der Weise geschehen, daß die
Vorschläge dort vertreten werden, wo sie vertreten werden können. Ich wünsche dem Außenminister mehr Erfolg, als er bis jetzt gehabt hat. Es hat keinen Sinn, Vorschläge zu verkünden, von denen man den Eindruck hat,
sie würden manchmal nur „just for show“ für die Presse
oder aber auch zur Beruhigung der eigenen Partei gemacht.
({6})
Ich glaube, wir sollten an dieser Stelle auch einmal
daran denken, daß sich viele Menschen bei uns im Land
Sorgen machen - auch auf Grund der geschichtlichen
Dimensionen, die gerade auf dem Balkan immer mitspielen. Deswegen finde ich es gut, wenn das Verhältnis
zu Rußland wieder gepflegt wird, wenn man sich nicht
chauvinistisch benimmt, wenn man dort vor Ort ist, und
wenn man nicht mehr sagt: Schluß mit dem Scheckbuch;
wir wollen nicht mehr einfach nur zahlen wie Kohl. Was weiß ich, wie die Sprüche alle gelautet haben.
Ich begrüße es, daß Stoiber dort war und mit den russischen Partnern gesprochen hat. Es ist sicher auch gut,
wenn Herr Tschernomyrdin sich jetzt auch bemüht, dieses slawische Brudervolk - es handelt sich nicht um die
Menschen dort; es handelt sich in erster Linie um Herrn
Milosevic - davon zu überzeugen, daß es so, wie es jetzt
läuft, nicht weitergehen kann.
Die Situation, in der wir jetzt sind, ist natürlich auch
eine Nagelprobe für die Regierungsfähigkeit nicht nur
der Sozialdemokraten. Sie, Herr Bundeskanzler, sind ja
in dieser Beziehung - um ein Wort zu gebrauchen, das
derzeit umgeht - ein „Scheinselbständiger“, und zwar
nicht im sozialversicherungsrechtlichen Sinne.
({7})
Vielmehr meine ich damit, daß Sie nur so weit gehen
können, wie Frau Radcke, Frau Röstel, Frau Altmann,
Herr Trittin - wie sie alle heißen - Sie letztendlich gehen lassen. Ich kann Ihnen nur wünschen, daß Sie Ihre
Handlungsfähigkeit dort wiedergewinnen. Wir können
Ihnen nicht alle Probleme abnehmen und für Sie nicht
alle Probleme lösen. Gerade unsere Soldaten haben Anspruch darauf, daß das ganze deutsche Parlament - lassen wir einmal die Kommunisten weg - hinter ihnen
steht, insbesondere auch die Kolleginnen und Kollegen
aus den Regierungsparteien.
({8})
Ich möchte zum Schluß noch eine Bitte äußern, Herr
Bundeskanzler. Wir sollten unsere Soldaten gerade in
dieser Zeit nachhaltig vor Verunglimpfungen schützen.
Die politische Konjunktur - Volker Rühe hat ja vorhin
ein Beispiel dafür gebracht - kann ja wieder einmal umschlagen. Deswegen sollten wir das, was die CDU/CSU
und die F.D.P. im letzten Bundestag eingebracht haben
- das ist leider nicht zu Ende beraten worden; es ist der
Diskontinuität zum Opfer gefallen -, nämlich Bestimmungen für den Ehrschutz der Soldaten, gemeinsam wieder einbringen. Das ist schon im Ausschuß beraten worden. Das kann man schnell und direkt beschließen, und
man hat mehr Frieden mit der Gesellschaft als durch eine
solch komplizierte Geschichte wie die, ein neues Staatsbürgerschaftsrecht im Hauruckverfahren zu machen.
({9})
Wir Europäer müssen - das ist heute schon gesagt
worden; insbesondere auch vom Kollegen Rühe und
vom Kollegen Gerhardt; es hat keinen Widerspruch gegeben; die Regierung ist der gleichen Meinung - sicher
in Zukunft eine größere, eine stärkere Rolle in der
NATO übernehmen. Wir sind dazu bereit. Wir sind zu
allen Zeiten dazu bereit gewesen und werden auch in
Zukunft bereit sein, die Grundsätze, die der NATO zugrunde liegen und die die Demokratien Europas als
Stabilitätsinstrumente einsetzen, zu schützen und zu
verteidigen. Und wenn wir Bündnispartner in der NATO
bleiben, haben wir eine gute Perspektive für das nächste
Jahrtausend. Nützen wir sie!
({10})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Gernot Erler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Runde Geburtstage - das zeigt
diese Debatte - verleiten zu Rückblicken. Manch einen
verleiten sie auch zu einem nochmaligen Schlagen vergangener Schlachten, wie man an den Beiträgen der
Kollegen Rühe bis Glos in bezug auf Wiederbewaffnung
und NATO-Doppelbeschluß sehen konnte.
({0})
Ich möchte hier einen Aspekt ansprechen, Herr Glos, der
uns vielleicht auch in der Erinnerung etwas näher zusammenbringt.
({1})
In Deutschland muß ja der Blick auf die besondere Bedeutung der NATO-Mitgliedschaft für den deutschen
Weg in die westliche Staatengemeinschaft fallen.
Elf Jahre nach dem Krieg holte der Eintritt in die
NATO die Bundesrepublik von der Strafbank weg,
machte sie vom Angeklagten zum Partner. Aber da hatte
der Kalte Krieg schon begonnen. Die DDR wurde Partner des anderen Bündnisses, das wir „Warschauer
Pakt“ nannten. Und für 33 Jahre lief die waffenstarrende Systemgrenze mitten durch Deutschland. Mauer und
Stacheldraht wurden zum Synonym des deutschen
Schicksals in der Nachkriegszeit, für viele einzelne
Menschen wurden sie zum Verhängnis.
Ich behaupte: Für kein anderes NATO-Land hatte die
Bündnismitgliedschaft eine solche prägende Bedeutung
wie für Deutschland. Man kann sagen: Unsere Integration in die westliche Allianz war für die ganze deutsche
Nachkriegsgeschichte konstitutiv und existentiell: konstitutiv im Sinne unserer Rückkehr in eine westliche Interessen- und Wertegemeinschaft nach den Verbrechen
der Nazi-Zeit und der Ausgrenzung als Folge davon,
existentiell als einzige Quelle von Sicherheit in unserer
Position als Frontstaat an der Grenze zweier antagonistischer Systeme.
Weil wir über die NATO Reintegration gewonnen
haben, besteht bei uns ein besonderes Verständnis für
die Transformationsstaaten in Ost- und in Südosteuropa,
die heute ihren Wunsch und ihr Drängen nach Mitgliedschaft in der Allianz als Chance zur Integration in Europa verstehen. Unsere eigene geschichtliche Erfahrung
auf beiden Seiten der heute verschwundenen Systemgrenze macht uns sensibel, gibt uns eine besondere Verantwortung, wenn es um den Erweiterungsprozeß der
NATO geht.
Als das Bündnis im Juli 1997 hierzu Entscheidungen
zu treffen hatte, wurde die SPD-Bundestagsfraktion dieser Verantwortung gerecht, indem sie eine Entschließung vorlegte, die drei Stichworte hervorhob: VermeiMichael Glos
dung neuer Grenzen in Europa, Partnerschaft mit Rußland und Fortsetzung des Abrüstungsprozesses. Diese
Positionsbestimmung hat bis heute nichts an Aktualität
verloren.
({2})
Bei dem Erweiterungsprozeß des Bündnisses, der
jetzt mit der Aufnahme von drei neuen Mitgliedern begonnen hat, bleibt die Vermeidung neuer Grenzlinien
quer durch Europa die vordringlichste Aufgabe. Wir
unterstützen insofern das Konzept, das wir im GipfelDokument von Washington erwarten, nachdem die Allianz für die neuen Mitglieder offenbleibt, aber sich jetzt
nicht bereits auf eine zweite oder dritte Runde festlegt.
Diese Behutsamkeit ist klug. Sie vermeidet Rückstellungseffekte und Ausgrenzungsgefühle. Wir gewinnen
damit Zeit. Diese müssen wir aktiv nutzen, um ein Gesamtkonzept für Sicherheit und Stabilität in Europa
zu entwickeln, in das der Erweiterungsprozeß der Allianz eingebaut ist, und Strategien, wie an den Außengrenzen des Bündnisses als Integrationsraum trennende
Grenzen zu vermeiden sind.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Zwischen Polen
und der Ukraine läuft heute die Grenze zwischen NATO
und Nicht-NATO. Morgen wird dort die Grenze zwischen EU und Nicht-EU laufen, und damit werden in
Polen die Regeln des Schengener Abkommens gelten.
Die Grenze zwischen Polen und der Ukraine ist heute
aber auch eine Brücke für den Austausch von Menschen
und Waren, von grenzüberschreitenden Arbeitsverhältnissen, aber auch von politischen Ideen und von Kulturen. Diese Grenze - und es gibt viele ähnliche Grenzen
in Osteuropa und in Südosteuropa - darf nicht hermetisch werden. Die Brückenfunktion muß erhalten bleiben.
({3})
Die Behutsamkeit des Erweiterungsprozesses gibt uns
und den zahlreichen neuen Kandidaten auch die Chance,
von jetzt zu sammelnden Erfahrungen zu profitieren.
Vor wenigen Wochen haben wir Polen, Tschechien
und Ungarn in das Bündnis aufgenommen. Wir hätten
uns gewünscht, daß unsere neuen Partner nicht als erstes
in die bisher schwerste Bewährungsprobe des Bündnisses geraten, die sich mit dem Namen Kosovo verbindet.
Ich möchte hier unsere Anerkennung und unseren Dank
dafür zum Ausdruck bringen, wie die drei neuen Partner
diese Bewährungsprobe im Moment bestehen.
({4})
Namentlich möchte ich Ungarn erwähnen, das einzige NATO-Land mit einer direkten Grenze zur Bundesrepublik Jugoslawien, ein Land, das sich Sorgen machen
muß um 350 000 Landsleute jenseits der Grenze, in der
Vojvodina, wo heute Bomben einschlagen. Wieviel näher, wieviel existentieller ist der furchtbare Konflikt in
diesem Donauland, dieser Konflikt, der doch schon bei
uns zahlreiche Risse in der öffentlichen Meinung, in den
Parteien, ja, in den einzelnen Menschen selbst erzeugt!
Wir haben eine Bringschuld an Solidarität gerade gegenüber diesem Land, das eine so positive Rolle - dies
ist heute vom Bundeskanzler noch einmal gewürdigt
worden - bei dem deutschen Einigungsprozeß gespielt
hat, nun unversehens Nachbar eines schrecklichen Geschehens wird und die Verantwortung doch voll trägt.
Ich möchte diese Solidarität - ich hoffe, im Namen des
ganzen Hauses - hier im Deutschen Bundestag zum
Ausdruck bringen.
({5})
Bezüglich des Kosovo-Konflikts haben wir unseren
Respekt noch für einen anderen Nachbarn im Osten auszudrücken - das ist auch in der Debatte in der letzten
Woche geschehen -, nämlich für die Russische Föderation. Wir wissen, Moskau lehnt die Luftangriffe auf
Serbien ab, verhält sich jedoch besonnen und macht
politische Vermittlungsversuche, auf die sich viele
Hoffnungen gründen. Das ist nicht selbstverständlich;
denn wir kennen Rußlands Probleme hinsichtlich der
Osterweiterung der NATO.
Zu den guten Erfahrungen, die wir in diesen Tagen
machen, zählen wir den Erfolg der NATO-RußlandGrundakte vom 27. Mai 1997 und ihre Umsetzung.
Gerhard Schröder hat es schon gesagt: Der ständige
NATO-Rußland-Rat hat sich bewährt. Ich erinnere an
die letzte Irak-Krise. In einer Zeit, wo Moskau die Botschafter aus Washington und London abzog, ist die Alltagsarbeit in dem ständigen NATO-Rußland-Rat fortgesetzt worden. Das ist ein guter Weg. Ich möchte das in
diesem Satz zusammenfassen: Zur Zukunft der NATO
gehört unverzichtbar die Partnerschaft mit Rußland und
deren weiterer Ausbau.
({6})
Das erwarten wir auch von den Dokumenten des bevorstehenden NATO-Gipfels.
Meine Kolleginnen und Kollegen, in der Grundakte
wurden auch Zusagen zur Abrüstung gemacht, namentlich zur konventionellen Abrüstung, zur Anpassung
des KSE-Vertrages. Das war ein schwieriger Prozeß.
Ich bin sehr froh, daß es gelungen ist, daß trotz dieser
Schwierigkeiten noch rechtzeitig vor dem NATO-Gipfel
ein Kompromiß zustande kam, ein Erfolg der KSE.
({7})
Das war möglich auf der Basis von konstruktiven deutschen Beiträgen.
Ich möchte hier einen Namen nennen. In diesen Tagen verabschiedet sich der langjährige deutsche Chefabrüster, Botschafter Dr. Rüdiger Hartmann, aus seinem
politischen Leben im Dienste der Bundesrepublik. Sein
Name ist eng mit diesem Erfolg verbunden. Ich möchte
ihm von dieser Stelle aus herzlich für seine Arbeit danken.
({8})
Der Abrüstungsprozeß muß auf anderen Gebieten
weitergehen. Es ist trotz mehrerer großer Abrüstungsverträge noch nicht überall der Weg begonnen worden,
sie auch umzusetzen. Es gibt noch immer viel zu viele
Atomwaffen auf diesem Planeten. Es ist noch nicht gelungen, ihre weitere Verbreitung mit allen damit verbundenen Gefahren aufzuhalten.
Ob Nonproliferation, wie es genannt wird, eine
Chance bekommt, hängt auch davon ab, wie überzeugend die offiziellen Atomstaaten ihren Abrüstungsverpflichtungen nachkommen und welche Rolle das westliche Bündnis den Atomwaffen zumißt. Hier ist die
NATO-Strategie gefragt.
Es gibt bei uns eine Sorge: Wenn wir sagen, wir
brauchen Atomwaffen auch, um Angriffe mit nichtatomaren Waffen abzuwehren, dann stellt sich die Frage,
wie wir anderen Ländern erklären und sie davon überzeugen können, daß sie keine Atomwaffen brauchen.
Hier gibt es ein Überzeugungsproblem im Hinblick auf
das Ziel der Nichtverbreitung. Dieses Problem müssen
wir lösen. Deshalb haben wir Bedarf an Diskussionen
über die künftige Strategie der Allianz angemeldet.
Es ist erfreulich, daß zu diesem Thema jetzt sehr vorsichtige Formulierungen in das Strategiepapier der Allianz aufgenommen wurden. Es ist noch erfreulicher, daß
in dem Gipfeldokument - wir begrüßen das - ein Auftrag zur Prüfung genau des Aspekts, der in der Öffentlichkeit „first use“ genannt wird, enthalten sein wird.
Das ist wichtig; denn wenn die Strategie der Nichtverbreitung scheitert, dann werden wir vor neuen
Rüstungswettläufen stehen. Diese wollen wir alle nicht.
({9})
Zusammenfassend möchte ich hier erklären: Wir sind
uns der Bedeutung der NATO für den politischen Weg
Deutschlands nach dem Krieg und für seine europäische
Reintegration bewußt. Wir sind aus inhaltlicher Überzeugung verläßliche Partner im Bündnis. Wir sehen eine
gute Zukunft für das westliche Bündnis, einschließlich
einer breiten öffentlichen Akzeptanz, wenn es gelingt,
die von mir genannten drei Rahmenbedingungen und
Begleitstrategien zu stärken. Ich fasse sie zusammen:
Sie heißen Einbindung in ein europäisches Gesamtkonzept von Sicherheit und Stabilität, mit dem neue Grenzlinien quer durch Europa vermieden werden und mit
dem unsere Fähigkeit zur präventiven Friedenspolitik
und zur Konfliktprävention verstärkt wird.
Der zweite Aspekt betrifft den Ausbau der Partnerschaft mit der Russischen Föderation und auch mit der
Ukraine.
Der dritte Aspekt betrifft schließlich die Fortsetzung
der Abrüstungspolitik mit neuen Anstrengungen und
Initiativen, mit dem Ziel der Nichtverbreitung von
Atomwaffen im Zentrum.
Wir freuen uns, daß diese Elemente in den Formulierungen der neuen NATO-Strategie und in anderen Gipfeldokumenten in angemessener Weise zum Ausdruck
kommen werden. Das wissen wir heute schon. Das ist
ein Erfolg von stiller, aber engagierter Diplomatie zur
Vorbereitung des Gipfels. Auch hier gab es zahlreiche
engagierte deutsche Beiträge. Auch für diese Arbeit haben wir hier zu danken.
({10})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Helmut Lippelt, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge, über die wir heute eigentlich diskutieren wollen, sind Wochen vor dem 24. März 1999 verfaßt
worden. Aus dem ursprünglich beabsichtigten Jubiläumsgipfel ist jetzt ein Arbeitstreffen geworden. Sätze
wie die von „der NATO als dem erfolgreichsten Sicherheits- und Verteidigungsbündnis der Geschichte“ bleiben uns heute leicht im Munde stecken. Denn wir wissen, daß sich die NATO in ihrer tiefsten Krise befindet,
wenn ich auch nicht so weit wie der Kollege Gehrcke
gehen möchte, der jetzt schon den Anfang ihres Endes
eingeleitet sieht.
Die NATO befindet sich in dieser Krise, weil sich
zwischen ihren Mitteln und Möglichkeiten einerseits
und den politischen Zielen andererseits eine wachsende
Inkongruenz entwickelt hat, wie es der ehemalige EUBosnien-Beauftragte Carl Bildt formulierte: daß ihre
hochentwickelte Technologie der Präzisionsbomben und
-raketen eben nicht die mordende und brandschatzende
Soldateska treffen konnte, ja nicht treffen kann und sie
in ihrem Geschäft sogar noch vorantreibt.
Die NATO befindet sich in einer Krise, weil sich die
Selbstdefinition der NATO als einer Wertegemeinschaft
immer schwieriger in geeignete Mittel übersetzen läßt
und weil sich die Abwehr des Völkermords im Kosovo, von deren Notwendigkeit wir doch alle überzeugt
sind, eben nicht in der Form des 3. September 1939
vollzieht, als England und Frankreich dem expansiven
Rassenwahn eines deutschen Diktators ein entschiedenes
Halt entgegenriefen und vom Appeasement zum Krieg
übergingen.
Heute übertragen wir der NATO 14 Flugzeuge und
delegieren die Kriegführung an einen Apparat NATO.
Eine solche Delegation führt dann zu der perversen
Trennung von Krieg und Geschäft, wie wir sie in der
Frage der Erdöllieferungen gerade erlebt haben. Allen
Vorstellungen von Alternativen zur Kriegführung wird
hohngesprochen; die Glaubwürdigkeit der NATO steht
auch an diesem Punkte ganz entschieden in Frage.
({0})
Es entspricht - das ist absolut richtig - unserem Verfassungsverständnis von parlamentarischer Kontrolle
und Verantwortung, daß wir Auftrag und Mandat genau
definieren und limitieren. Dennoch müssen wir zur
Kenntnis nehmen, daß unser Einfluß auf die Art und
Weise der Kriegführung begrenzt und in Relation zu
den der NATO übertragenen Mitteln, nämlich den
14 Flugzeugen, zu sehen ist. Unserer historischen ErfahGernot Erler
rung, die wir eigentlich einzubringen hätten und die besagt, daß ein Bombenkrieg auch kontraproduktiv sein
kann und den Graben zwischen Diktator und Volk nicht
aufreißt, sondern überbrückt, können wir nicht in der
notwendigen Weise Geltung verschaffen. Wir sind der
Eskalation der Kriegführung ausgeliefert. Vorstellungen
- ich trage sie hier als meine ganz persönliche Meinung
vor - von einer Kombination von Festigkeit in den Zielen, verbunden mit einer Konzentration der Kriegführung im Kosovo, die alles tut, um die Flüchtlinge dort zu
retten, und einer Deeskalation der Kriegführung gegenüber dem übrigen Serbien, die sich als oberstes Ziel setzen würde, die Loyalität zum Diktator aufzubrechen,
haben wenig Chancen.
Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen zur Kriegführung der NATO nun noch einige Bemerkungen zu
den inhaltlichen Fragen, die in Washington zur Verabschiedung anstehen:
Erstens. Klar dürfte doch wohl sein, daß die Vorstellungen, die um den Begriff einer neuen NATO als der
Organisation des Krisenmanagements schlechthin kreisen, hinfällig geworden sind. Die NATO sollte bleiben,
was sie in ihrer Kernfunktion ist: ein atlantischeuropäisches Sicherheits- und Stabilitätsbündnis.
Wer in diesen Wochen Gelegenheit zu Gesprächen mit
Politikern außerhalb dieses Raums hatte, der weiß, daß
das Mißtrauen gegenüber der NATO als einem Herrschaftsinstrument der hochindustrialisierten Länder des
Westens gewachsen ist - trotz aller Verständigungsmöglichkeiten in bezug auf den Kosovo-Konflikt.
Zweitens. Der Verzicht auf die UN-Mandatierung
bei der NATO-Intervention muß eine absolute Ausnahme bleiben. Er bedarf der Heilung, und zwar von beiden
Seiten: auch von seiten des UN-Sicherheitsrats, in dem
die Ausübung eines Vetos stärker an die Prinzipien der
internationalen Gemeinschaft zu binden und von den
nationalen Interessen eines einzelnen Sicherheitsratsmitglieds zu lösen ist. Die Bundesregierung ist mit der
verstärkten Einbeziehung Rußlands und des UNGeneralsekretärs in diese Richtung vorangegangen. Wir
unterstützen sie darin und ermutigen sie, in diesem Sinne fortzufahren.
Drittens. Die sich wandelnde NATO - ich sage das
im Gegensatz zu dem vorhin über die sogenannte neue
NATO Gesagten -, die NATO der Kooperation in ihren
vielfältigen Formen von NATO-Rußland-Rat, NATOUkraine-Charta und Partnership for Peace, ist in jeder
Weise auf diesem Wege zu bestärken. Das bedeutet: Die
Öffnung der NATO muß in steter Wechselwirkung mit
der Vertiefung der Einbindung Rußlands stehen. Die
Risiken der gegenwärtigen Situation haben eben auch
damit zu tun, daß die NATO, die im Kosovo zugunsten
der Menschenrechte interveniert, in den Augen der russischen Elite eben die NATO der Osterweiterung ist.
Diese Wunden sind noch lange nicht verheilt. Um so
höher ist es der Bundesregierung als Verdienst anzurechnen, daß sie sich in Kontinuität zur Politik des früheren Bundeskanzlers um die vertiefte Einbindung
Rußlands bemüht.
Viertens. Die NATO muß wieder verstärkt die NATO
der Abrüstung, auch der nuklearen Abrüstung und des
KSE-Prozesses werden. Auch wenn die Diskussion zu
„first use“ auf dem Washingtoner Gipfel wohl keine
Rolle spielen wird, so erwarten wir uns doch den Arbeitsauftrag für ihre anschließende Fortsetzung.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei
all dem soll nicht vergessen werden, daß dies der erste
Gipfel der 19 mit voller Partizipation unserer direkten
östlichen Nachbarn ist. Auch und gerade zu der KosovoProblematik haben sie viel zu sagen. Dies soll und muß
ein Signal auch für die Völker des ehemaligen Jugoslawien sein - nicht im Sinne einer Zukunft in der NATO,
wohl aber im Sinne einer Zukunft in Europa, die auch
einem demokratischen Kosovo in einem demokratischen
Serbien offensteht.
({1})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Markus Meckel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum 50. Jahrestag ihrer Gründung ist
die NATO in aller Munde, aber nicht wegen ihrer Verdienste und nicht wegen dieses Jubiläums, sondern wegen des Krieges im Kosovo, wo die NATO versucht,
dem Morden und den Vertreibungen durch das Milosevic-Regime Einhalt zu gebieten und ein Ende zu setzen.
Vor knapp zehn Jahren, am Ende des Kalten Krieges,
glaubten viele noch, die NATO könne sich in naher Zukunft auflösen und in einem System gemeinsamer
Sicherheit in Europa aufgehen. Auch ich hatte anfangs
noch diese Hoffnung. Heute jedoch ist deutlich: Außer
der NATO mit ihren militärischen Fähigkeiten gibt es
niemanden in Europa, der nach dem Scheitern aller
politischen Bemühungen fähig wäre, Milosevic in den
Arm zu fallen und sein verbrecherisches Treiben zu beenden.
Hätten wir nicht die NATO, wir müßten sie erfinden.
Ich glaube nicht, daß die NATO heute in einer Krise
steckt. Sie steht vielmehr vor großen und schwierigen
Herausforderungen, die heute bewältigt werden müssen.
Wir brauchen die NATO nicht etwa - das unterstellen
ihr heute noch viele - als ein Instrument zur Durchsetzung hegemonialer Interessen der reichen Länder des
Nordens, sondern wir brauchen sie als Stabilitätsanker in
Europa zur Verteidigung der westlichen, also der demokratischen Staatengemeinschaft sowie zum Schutz vor
Mord und Vertreibung, die wir nach Bosnien nun im
Kosovo wieder in schrecklichster Weise erleben müssen.
Wir merken auch, wie schwer nach dem Scheitern der
politischen Bemühungen selbst der militärische Schutz
dieser Menschen ist.
Durch die kollektive Verteidigungsbereitschaft der
NATO und die Integrationsleistung der Europäischen
Gemeinschaft konnte in der Nachkriegszeit in Westeuropa eine Zone der Sicherheit und des Wohlstandes
geschaffen werden. Damit konnte ein neues Kapitel in
der europäischen Geschichte aufgeschlagen werden. Dazu gehört auch - dieser Punkt ist ganz wichtig für uns Dr. Helmut Lippelt
die Schaffung einer stabilen Demokratie - zunächst
nicht in ganz Deutschland, sondern nur im Westen
Deutschlands. Nach 1990 wurde die Demokratie dann
auch im Osten unter den Bedingungen möglich, die wir
alle kennen.
Angesichts der Bedrohung durch die kommunistischen Diktaturen des Ostens hat die NATO durch die
Fähigkeit kollektiver Verteidigung diese Integrationsleistung erbracht, die gerade der Europäischen Union dies ist der eigentlich zentral wichtige Punkt für die
Gesellschaften - die Integration der Staaten und ihrer
Gesellschaften ermöglicht hat.
Der Antrag der Koalition, der Ihnen, meine Damen
und Herren, heute vorliegt, würdigt die Leistungen der
NATO in ihrer Geschichte und beschreibt Erwartungen,
wie die NATO den Herausforderungen europäischer
Sicherheit begegnen soll. Sie werden es vielleicht für
bemerkenswert halten, daß diese positive Würdigung der
NATO und ihrer Entwicklung von einer Koalition vorgelegt wird, deren Parteien in der Vergangenheit in bestimmten Phasen ein durchaus kritisches Verhältnis zur
NATO und ihrer Strategie hatten. Auch ich selbst - in
der DDR aufgewachsen - hatte, obwohl ich nun wirklich
nicht ein Parteigänger der SED und ihrer Helfershelfer
war, in den 80er Jahren ein kritisches Verhältnis zur
NATO. In welchen Positionen ich falsch lag oder vielleicht auch nicht, kann an dieser Stelle nicht verhandelt
werden; das gehört ins historische Seminar.
Die Würdigung der NATO, an der mir sehr liegt, soll
sich heute insbesondere auf die Rolle und die Bedeutung
der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges beziehen.
Die NATO war nach 1990, nach dem Wegfall der akuten Bedrohung durch die Sowjetunion, der Garant dafür,
daß es eben keinen Rückfall und nicht den Versuch gibt,
Sicherheit und Verteidigung wieder national zu organisieren. Denn das hätte eine hohe Instabilisierung nicht
nur Ost-, sondern auch Westeuropas bedeutet.
Die NATO hat sich 1990 und in den Jahren danach
gründlich verändert. 1991 gab sie sich ein neues strategisches Konzept - damals erstmals öffentlich -, um
Durchsichtigkeit und Vertrauen zu schaffen. Seitdem hat
sich die Welt weiter verändert: durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und durch den Aufbau verbindlicher Kooperationsstrukturen mit Rußland und mit der
Ukraine; davon ist heute schon ausführlich gesprochen
worden. Diese Kooperationsstrukturen und diese
Dimensionen der NATO, die eben nicht nur militärisch
handelt, sondern ganz wesentliche politische und zivile
Funktionen hat, stellen die Aufgabe der NATO dar,
Sicherheit und Stabilität für den transatlantischen Raum
zu schaffen und nicht - wie manche befürchten und andere durchaus hoffen - weltweit zu agieren.
Für die Sicherheit Europas ist, wie wir alle betonen,
die Kooperation mit Rußland und der Ukraine von
zentraler Bedeutung. Auch das ist heute mehrfach angesprochen worden. Dazu gehört - nicht in Spannung,
sondern komplementär, wie ich meine - die Frage der
Öffnung und der Möglichkeit für andere Staaten, der
NATO beizutreten. Nach 1990 war es ja nicht die Initiative der NATO, sich nach Osten zu erweitern; vielmehr
hat es eine Weile gedauert, bis die Mitgliedstaaten bereit
waren, dem Drängen der Staaten Ostmitteleuropas nachzukommen und sich neuen Mitgliedern zu öffnen. Seit
einigen Wochen sind Polen, Tschechien und Ungarn
gleichberechtigte Mitglieder. Das ist nicht nur für diese
Länder wichtig, sondern auch für Europa. Denn die
Länder kommen damit aus einer Zwischenlage heraus,
die ihnen in der Geschichte verheerende Beziehungen
bescherte. Sie wollten nichts anderes als Deutschland:
im Westen verankert zu sein, um damit die Möglichkeit
und Freiheit zu haben, zum Osten kooperative Strukturen aufzubauen.
({0})
In Washington wird die NATO deutlich machen, daß
die Tür offenbleibt. Es wird gut sein, daß das nicht nur
abstrakt behauptet, sondern durch die Nennung von
Staaten konkretisiert wird, die entsprechend ihrem eigenen Wunsch eine Perspektive der Mitgliedschaft haben
sollen. Wichtig ist es deshalb, Kooperationsmöglichkeiten mit der NATO für die daran interessierten Staaten
über die bisherigen Instrumente hinaus zu stärken. Deswegen ist sehr zu begrüßen, wenn die NATO künftig in
„Membership Action Plans“ die Heranführung beitrittswilliger Staaten noch tatkräftiger als bisher unterstützt.
1991 hatte sich, wie gesagt, die NATO ein Konzept
gegeben; nun gibt sie sich ein neues. Wichtig ist, daß die
Kooperationsstrukturen ganz zentral in dieses Konzept
eingebaut sind - und ebenso die neuen Aufgaben, vor
denen wir heute in Europa stehen, nämlich auch außerhalb des Bereichs der NATO für Frieden, für Freiheit
und für Rechte, für Völkerrecht und für die Rechte der
Menschen, einzutreten. In Bosnien übrigens - das war
der erste Ort, an dem die NATO außerhalb ihres Territoriums militärisch aktiv wurde - geschah das nicht allein,
sondern gemeinsam mit Nicht-NATO-Staaten, insbesondere auch mit Rußland. Man vergesse nicht, daß diese Zusammenarbeit in Bosnien trotz aller Krisen, Fragen
und Spannungen, die es heute zwischen Rußland und der
NATO gibt, bis jetzt funktioniert und wirksam ist.
Sicherheit hat viele Dimensionen. Darüber ist in den
letzten Jahren in unserem Hause viel gesprochen worden. Es ist deutlich, daß viele unterschiedliche Institutionen nicht nur Europas, sondern weltweit - allen voran
die Vereinten Nationen, aber eben auch die OSZE, der
Europarat und nicht zuletzt die Europäische Union ganz wesentliche Dimensionen der Sicherheit zum
Thema haben, daß sie sogar besser damit umgehen können als die NATO, weil sie die Kompetenzen dazu haben und weil dieses Thema eben wirtschaftliche, soziale,
kulturelle und politische Dimensionen hat.
Entscheidend ist - dies ist eine zentrale Frage -, daß
der Frieden künftig durch eine Zusammenarbeit der
NATO mit diesen Institutionen wirklich gesichert wird.
Wir lernen nicht zuletzt in Bosnien, daß Frieden durch
militärische Mittel nicht geschaffen werden kann, sondern daß dadurch nur die Voraussetzungen für Frieden
geschaffen werden können, indem Mord und Gewalt
Einhalt geboten wird.
Deshalb ist es für die Zukunft sehr wichtig, daß der
zivile und auch der politische Friedensprozeß in Gang
gebracht werden und daß dafür übrigens auch die notwendigen Ressourcen bereitgehalten werden. Es ist
durchaus so, daß die Ressourcen für militärische Aktivitäten sehr schnell bereitgestellt werden, daß es uns allen aber sehr viel größere Mühe macht, die erforderlichen Mittel für die ebenfalls notwendigen zivilen Aktivitäten sowohl in finanzieller Hinsicht wie auch in Form
ausgebildeter Beobachter beizusteuern. Auch das ist eine
- leider nicht so gute - Erfahrung aus Bosnien.
Für die NATO wird es in Zukunft eine zentrale Rolle
spielen, daß die ihr angehörenden Länder gemeinsam
handeln. Sie ist eine Konsensgemeinschaft. Manche in
unserem Land glauben ja, sie sei ein Aggressionspotential. Ich halte dies wirklich für eine falsche Aussage. Ich
verweise auf die Schwierigkeiten beim Konsensprozeß
innerhalb der NATO und darauf, daß es in der NATO
eben nicht darum geht, daß alle Mitglieder Gefolgsleute
einer Führungsmacht sind, der sie bedingungslos folgen.
In demokratischen Staaten sind Mehrheiten und Regierungen nur dann möglich, wenn man einen Konsens gefunden hat. Dies ist, gerade wenn es darum geht, militärische Gewalt anzuwenden, nicht so einfach. Deshalb
ist, glaube ich, allein von der Struktur her gewährleistet,
daß die demokratische Staatengemeinschaft nicht aufgrund hegemonialer Interessen Krieg führt. Vielmehr
geht es darum - ich bin gleich am Ende meiner Ausführungen, Herr Präsident -, Recht durchzusetzen, Menschen zu helfen, den Menschen und ihren Rechten entgegenzukommen bzw. dem Morden und der Vertreibung
ein Ende zu bereiten. Deshalb ist es wichtig, daß eine
große Mehrheit in diesem Hohen Hause zur NATO und
zu ihren Bemühungen steht, den Menschen im Kosovo
zu helfen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Karl A. Lamers.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute,
50 Jahre nach Gründung der NATO, können wir feststellen: Die Nordatlantische Allianz ist das erfolgreichste Bündnis der Geschichte. Sie ist die größte Friedensbewegung.
({0})
Es ist schon bemerkenswert, daß sie heute selbst von ihren einstigen Gegnern gepriesen und hoch gelobt wird,
also von denen, die mittlerweile in Deutschland regieren
und für die Handlungsfähigkeit des Bündnisses Verantwortung tragen. Das ist gut so.
Die NATO ist unstreitig eine Friedens- und Wertegemeinschaft. Sie stand und steht zu Grundsätzen wie
Freiheit, Recht und Demokratie. Sie steht für den Frieden. Dank schulden wir insbesondere unseren Verbündeten. Durch die entschlossene Friedenspolitik der
NATO erhielt zunächst der westliche Teil Deutschlands
die Chance, ein demokratisches, stabiles parlamentarisches Regierungssystem aufzubauen.
40 Jahre später, in der historischen Stunde 1989 und
1990, als die Mauer brach und der Eiserne Vorhang fiel,
waren die Festigkeit und Geradlinigkeit der Freunde in
NATO und Europäischer Union der Schlüssel dafür, daß
sich auch im östlichen Teil unseres Vaterlandes Demokratie, Parlamentarismus, Freiheit und Selbstbestimmung durchsetzen konnten.
Aber heute frage ich: Was wäre geschehen, wenn sich
im Jahre 1983 die damalige Bundesregierung unter
Helmut Kohl dem Druck der Friedensbewegung gebeugt
hätte? Er tat es nicht, er stand wie ein Fels in der linken
Brandung.
({1})
- Auch die Damen und Herren der PDS sollten zuhören,
dann könnten sie aus dieser Geschichtsbetrachtung
vielleicht noch etwas lernen. - Wie wäre die deutsche
Geschichte verlaufen, wenn die NATO einseitig abgerüstet hätte, wie Sie es in Ihrem unsäglichen Antrag heute
wieder fordern?
({2})
Welche Folgen hätte es für Deutschland und Europa gehabt, wenn wir die atomare Bedrohung durch sowjetische SS-20-Raketen akzeptiert hätten? Eines ist klar:
Wir hätten die historische Stunde am vergangenen
Montag, die Rückkehr des frei gewählten Parlaments
des wiedervereinigten Deutschlands in den Reichstag in
Berlin - eine freie Stadt ohne Mauer, ohne Stacheldraht
und ohne DDR-Schießbefehl - wahrscheinlich nicht erlebt.
({3})
Daraus folgt: Festigkeit, nicht Nachgiebigkeit, sichert
Freiheit. Die NATO kann heute auf eine stolze Bilanz
verweisen. Ihre Anziehungskraft als Wertegemeinschaft,
als Stabilitätsraum und als militärischer Integrationsfaktor ist auch nach 50 Jahren ungebrochen. Deshalb
sind wir aufgerufen, alles zu tun, um die Attraktivität
aufrechtzuerhalten und zu steigern.
Wir sollten uns in dieser Stunde aber auch durchaus
daran erinnern, daß wir, die CDU/CSU, einen großen
Anteil an der Geschichte unseres Landes in 36 Jahren
Regierungsverantwortung tragen und daß wir die
Grundlage für die NATO und für die Bundeswehr geschaffen haben, die es sonst so vielleicht gar nicht geben
würde. Bei besonderen geschichtlichen Entwicklungen
war die CDU/CSU stets die berechenbare politische
Kraft in Deutschland. Berechenbarkeit ist ein wichtiger
Faktor der Politik, national und international.
({4})
Wir haben Kurs gehalten. Ich frage Sie: Was wäre
heute, wenn in den entscheidenden Schicksalsjahren
nach dem zweiten Weltkrieg Rotgrün in tiefer ideologischer Zerstrittenheit die Vergangenheit gestaltet hätte,
Herr Außenminister? Könnten Sie dann als Außenminister mit der Kraft von heute die Gegenwart meistern
und die Zukunft gestalten? Ich glaube, nein. Was wäre
heute in Deutschland - die Frage ist aufgeworfen worden -, wenn wir in der Regierung und Sie in der Opposition wären? Das ist für mich eine Frage der politischen
Glaubwürdigkeit.
({5})
Für uns gilt, daß wir als Opposition nicht bekämpfen,
was wir als Regierung für richtig gehalten haben.
({6})
Wir sind staatstragend.
({7})
Auf die CDU/CSU kann sich Deutschland verlassen. In
einer beeindruckenden Rede hat Wolfgang Schäuble,
unser Fraktionsvorsitzender, die Leitlinien unserer
Sicherheits- und Außenpolitik auf der Münchener Sicherheitskonferenz dargelegt und definiert.
Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert geht es für die
NATO um die Wahrung gemeinsamer euro-atlantischer
Interessen in und für Europa. Das neue strategische
Konzept muß an den bewährten allianzpolitischen
Grundsätzen festhalten: kollektive Verteidigung als
Kernfunktion des Bündnisses, Annahme der großen sicherheitspolitischen Herausforderungen, die Übernahme
neuer Aufgaben: Kooperation, Stabilitätstransfer und
Krisenbewältigung. Daß das Bündnis reformfähig ist,
haben wir mit einem weitreichenden Abrüstungs-, Organisations- und Partnerschaftskonzept bewiesen.
Ich möchte an diesem Tage ausdrücklich auch das
würdigen, was Volker Rühe in seiner Zeit als Verteidigungsminister geleistet hat, als er immer wieder mit
großer Klarheit und Stringenz wertvolle Impulse in das
Bündnis gegeben hat. Bundeswehr und NATO sind dadurch heute für die großen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft gerüstet.
({8})
Jetzt brauchen wir ein neues strategisches Konzept.
Ich frage Sie mit Blick auf die Anträge, die heute vorliegen: Wo sind die unverrückbaren politischen Überzeugungen der Grünen und zum Teil auch der SPD? Ich
meine nicht tagespolitisch bedingte aktuelle Positionen,
sondern solche, die über den Tag hinaus reichen. Das
unterscheidet CDU/CSU und - mit Verlaub - F.D.P. von
den Regierungsfraktionen. Bei uns formt sich Tagespolitik aus Grundsätzen und Überzeugungen. Ob sich,
Herr Außenminister, durch Ihre Politik in der Tiefe Ihrer
grünen Bewegung dauerhaft tragfähige Überzeugungen
bilden, daran habe ich erhebliche Zweifel. Dafür müssen
Sie an der Basis noch viel arbeiten.
Wer wie wir auf dem Boden der Außen- und Sicherheitspolitik der heutigen Regierung steht, darf auch Kritisches anmerken. Ich nehme Ihnen ab, Herr Außenminister, daß Sie für sich persönlich Kasernenbesetzungsund Belagerungsmentalität überwunden haben. Ich frage
mich aber schon, was eigentlich geschehen ist, und auch
manche Ihrer Freunde fragen sich das, Freunde, mit denen Sie vor Jahren und Jahrzehnten vor US-Kasernen
Fackelwachen abgehalten, Sitzblockaden durchgeführt
und Protestdemos organisiert haben.
({9})
- Ich weiß, wovon ich spreche. Ich komme aus Heidelberg, einer Stadt mit einem US-Hauptquartier, wo wir
das alles erlebt haben.
({10})
Gerade jüngst hat mir einer aus Ihrer Partei gesagt, daß
er es sich nicht habe träumen lassen,
({11})
seinen Joschka, wie er sich ausdrückte, einst als Außenminister im feinsten Nadelstreifen zu erleben, garniert
mit einem Freundschaftskuß für die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright. Das ist schon ein
weiter Weg - vom Saulus zum Joschka.
({12})
- Nein, mich sollen Sie auch nicht küssen, das würde ich
mir verbitten. - Damit Sie mich aber nicht falsch verstehen: Ich finde es gut, daß Sie mit der Übernahme des
Amtes des Außenministers ein solches Maß an Erkenntnis und neuer Einsicht in das gewonnen haben, was
politisch und moralisch richtig und notwendig ist. Das
hat so kaum einer für möglich gehalten. Helmut Kohl,
meine Damen und Herren, hat einmal gesagt: Europa ist
eine Sache von Krieg und Frieden. Darauf habe ich von
Ihrer Seite nur Gelächter gehört. Heute sagen Sie, Herr
Außenminister, lapidar: Kohl hat recht. - Das finde ich
in Ordnung.
({13})
Lassen Sie mich zu den Anträgen konkret folgendes
sagen:
Erstens. Ich halte es, Herr Außenminister, für absolut
schädlich und politisch falsch, daß die Bundesregierung
und insbesondere Sie, Herr Fischer, versucht haben, die
nukleare Ersteinsatzoption der NATO im neuen strategischen Konzept zu verwässern oder gar zu streichen.
Wir müssen auch in Zukunft einen Angreifer im ungewissen darüber lassen, wie wir als Bündnispartner reagieren. Nur so gewinnen wir auch in Zukunft Sicherheit
und Freiheit.
({14})
Nach unserer Überzeugung würde eine solche Änderung
die Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses erheblich
schwächen. Deshalb meine Bitte, an der bewährten Abschreckungsstrategie des Bündnisses festzuhalten.
Zweitens. Ein wichtiger Punkt, über den wir im
Bündnis Konsens erreichen müssen, ist die völkerrechtliche Legitimation des Bündnisses für Krisenreaktionseinsätze auch außerhalb des Bündnisgebietes.
Wie wichtig das ist, zeigt doch der Konflikt im Kosovo.
Dr. Karl A. Lamers ({15})
Ich meine, es besteht Einigkeit darüber, daß wir einen
solchen Einsatz nach Möglichkeit auf einen Beschluß
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen stützen
müssen. Es muß aber auch Einigkeit darüber bestehen,
daß die NATO, wenn Menschenrechte verletzt werden
und ihr Handeln im Einklang mit dem Völkerrecht steht,
handeln muß. Sonst setzt sie sich dem Vorwurf aus, untätig zuzuschauen. Auch hier erwarten und verlangen
wir klare Positionen und Aussagen.
Die NATO ist für uns Friedensgarant. Sie muß mit
den anderen großen kollektiven Sicherheitssystemen,
den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und
der WEU, zusammenwirken, denen in diesem Zusammenhang wichtige Aufgaben zukommen. Eine einseitige
Hervorhebung der OSZE, Herr Minister, lehnen wir allerdings ab.
Die NATO muß sich für andere öffnen. Von Washington muß das Signal ausgehen, daß die Tür für solche offenbleibt, die ihre Zukunft in der Nordatlantischen
Allianz suchen. Dieses klare Signal muß von Washington ausgehen.
({16})
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum
Schluß sagen, daß wir Europäer aufgerufen sind, für
eine gerechte Lasten- und Pflichtenverteilung im
Bündnis mehr Verantwortung zu tragen.
Heute, zwei Tage vor dem NATO-Gipfel, steht die
NATO auf dem Balkan vor einer der größten Herausforderungen seit ihrem Bestehen. Ich bin überzeugt, daß
wir aus dieser Prüfung gestärkt hervorgehen, wenn wir
geschlossen sind, wenn wir im Bündnis einig bleiben,
wenn wir deutlich machen, daß die NATO keine
Schönwetterorganisation ist, sondern ein Bündnis, das
über Menschenrechte und Werte nicht nur spricht, sondern diese im Ernstfall auch beherzt verteidigt.
Auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert dürfen Diktatoren, die in zynischer Weise Menschenrechte verletzen
und sich über das geltende Recht stellen, keine Chance
haben. Amerika und Europa müssen auch in Zukunft in
einer Allianz des Friedens und als Garant unserer gemeinsamen Sicherheit zusammenstehen.
Ich danke Ihnen.
({17})
Ich gebe das Wort
der Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das
strategische Konzept, das in den nächsten Tagen veröffentlicht werden wird, wird mit Sicherheit nicht der
Schlußpunkt einer sehr wichtigen Debatte sein, die wir
auch heute hier führen. Dieses Konzept wird der Ausgangspunkt für die Fortentwicklung der NATO sein, und
wir werden die Debatte engagiert begleiten.
Der Gipfel wird - das haben viele gesagt - vom gegenwärtigen Krieg im Kosovo überschattet. Die Folgen
des Kosovo-Krieges für die zukünftige Entwicklung und
auch für die Strategie der NATO müssen sorgfältig beobachtet und analysiert und dürfen nicht unterschätzt
werden.
Ich sage dies vor dem Hintergrund, daß wir uns aus
meiner Sicht heute in einer extrem schwierigen Situation
befinden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens. Wir befinden uns, was die internationalen Beziehungen und
das Völkerrecht betrifft, an einem Wendepunkt. Es geht
um die Frage der Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen und der Anerkennung der Tatsache,
daß die Transnationalisierung auch Folgen für die Weiterentwicklung des Völkerrechts haben wird. Diese ist
politisch offen, und wir müssen uns in jeder einzelnen
konkreten Situation entsprechend verhalten, um den
Zielkonflikt im größtmöglichen Konsens zu lösen.
Zweitens. Wir, die Bundesrepublik Deutschland und
die NATO - ich sage das als Grüne ganz bewußt -, sind
in einem Krieg. Wir sind zum ersten Mal seit 1945 an
einem Krieg in Europa beteiligt. Dieser Krieg und unser
Verhalten in diesem Krieg werden Auswirkungen auf
die europäische Sicherheitsarchitektur und auf die transatlantischen Beziehungen haben. Die NATO als Wertegemeinschaft und als diejenige Organisation, die internationale Sicherheitspolitik effektiv betreiben kann,
steht hier in einer ganz besonderen Verantwortung. Es
ist unser Ziel, gestaltend darauf einzuwirken. Ich sage
hier ganz deutlich: Die Frage der Glaubwürdigkeit wird
sich nach diesem Krieg stellen, nämlich dann, wenn wir
- die Bundesregierung, aber auch die NATO - entscheiden müssen, wie wir uns ganz ähnlichen Konflikten gegenüber selbst im eigenen Bündnis - ich nenne als Beispiel das Kurdenproblem in der Türkei - verhalten. Zukünftig wird es ein Verschließen der Augen nicht mehr
geben können.
({0})
Vor diesem historischen Hintergrund möchte ich einige Punkte ansprechen, in denen sich die Verantwortung der NATO für Stabilität, für Vertrauensbildung,
aber auch für Abrüstung in besonders prägnanter Weise
ausdrückt.
Zunächst zu der völkerrechtlichen Frage: Die Luftschläge der NATO, die wir jetzt in der fünften Woche
durchführen, finden auf einer völkerrechtlich nicht ausreichenden Grundlage statt. Wenn es darum geht, das
Völkerrecht weiterzuentwickeln, um aus der Sackgasse
herauszukommen und früher nichtmilitärisch agieren zu
können, wäre es ein Fehler, so zu tun, als wenn wir jetzt
eine klare völkerrechtliche Grundlage hätten. Wir haben
sie nicht. Wir werden das Völkerrecht modifizieren
müssen, um stärker internationale humane Politik betreiben zu können. Dieses Dilemma möchte ich offen
ansprechen.
({1})
Nach dem Gipfel werden wir beginnen müssen, diese
Diskussion ohne Scheuklappen, aber verantwortlich zu
Dr. Karl A. Lamers ({2})
führen. Denn wir wissen, daß wir uns damit auf ein
schwieriges Gebiet der internationalen Diplomatie begeben.
Ich will an dieser Stelle auf die internationalen sicherheitspolitischen Institutionen eingehen. Die NATO
als Wertegemeinschaft ist an den Inhalten, Normen und
Verfahren der UNO-Charta orientiert. Das ist im Washingtoner Vertrag so festgehalten, und er durchzieht
das strategische Konzept der NATO, das verabschiedet
wird, wie ein roter Faden. Das ist auch gut so.
Wir wollen daran festhalten - dafür müssen wir geradestehen -, daß das, was im Kosovo heute nicht vermeidbar ist, eine dezidierte Ausnahme bleibt und nicht
zum Alltagsgeschäft wird. Wir wollen eine Arbeitsteilung zwischen den Institutionen. Das heißt, wir wollen,
daß die NATO das macht, was sie können soll und was
sie können muß. Aber wir wollen natürlich auch, daß
das Gewaltmonopol der UNO gestärkt, die UNO reformiert und das Vetorecht abgeschafft wird. Denn wir sehen, daß es auf die aktuellen Konflikte und Kriege der
Zukunft keine Antworten mehr gibt. Wir brauchen die
Stärkung der OSZE, damit wir sagen können, daß die
NATO als Militärbündnis erst dann zum Einsatz kommt,
wenn die internationale Staatengemeinschaft keine Instrumente und Antworten mehr findet.
({3})
Dazu gehört auch die Verantwortung der NATO, ihren
Weg richtig weiterzugehen, nämlich in Kooperation mit
Rußland Stabilität in Gesamteuropa zu verfolgen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle - das kann nicht
ausgelassen werden - auf den Krieg im Kosovo eingehen. Wir führen zur Zeit eine problematische Diskussion, was den Einsatz von Bodentruppen betrifft. Ich
glaube, daß es falsch ist, zu sagen „Wir wollen diesen
Einsatz nicht“ und zu befürchten, daß es dann doch irgendwann dazu kommt. Ich habe die Sorge, daß durch
das Unterlassen einer Diskussion über den Einsatz von
Bodentruppen bzw. durch die Art und Weise, wie diese
Diskussion möglicherweise doch geführt wird, ein
wichtiges Fenster für politische Initiativen verengt wird.
Herr Lamers, wenn Sie die Grünen dahin gehend kritisieren, sie seien noch nicht in der Realität angekommen, kann ich Ihnen nur antworten: Ich habe Angst davor, daß wir - ähnlich wie vor fünf Wochen, als wir vor
der Alternative standen, ethnische Säuberungen oder
NATO-Luftschläge zu akzeptieren - jetzt vor einer neuen Alternative stehen: vor der Eskalation des Militärischen, also vor einem militärischen Automatismus, der
sich - mit allen fatalen Konsequenzen, was die Spaltung
der Sicherheit Europas betrifft - bis hin zu einem Einsatz von Bodentruppen in Serbien ausdehnen könnte,
oder aber der Initiative, die die rotgrüne Bundesregierung im Bündnis nach vorne getrieben hat: Rußland befindet sich wieder mit uns im Dialog. Kofi Annan ist
wieder Teil der Diplomatie, um diesen Krieg nicht auf
militärischem Wege, sondern durch einen Waffenstillstand zu beenden. Herr Lamers, die Realität ist, auch
wenn Sie sie nicht erkennen wollen, anders. Die „Berliner Zeitung“ schreibt heute: „Europäer wollen Friedensplan Fischers für Kosovo übernehmen“. Das ist es,
was wir forcieren müssen, nicht eine leichtsinnige Debatte, die letztlich dazu führt, daß wir, ohne daß wir es
überhaupt wollen, in einen Bodenkrieg geraten, den wir
übrigens auch nicht verantworten können.
({4})
Ich komme zum Schluß: Der zentrale Ansatz für eine
zukunftsfähige Sicherheitspolitik muß ein Konzept präventiver Sicherheitspolitik sein. Das heißt, daß Sicherheitspolitik in ihren vielfältigen Dimensionen in ein außenpolitisches Konzept eingebunden wird, in dem den
Vereinten Nationen und der OSZE nicht nur verbal eine
wichtige Rolle zugewiesen wird nach dem Motto: OSZE
first. Wir müssen vielmehr zulassen und ermöglichen,
daß sie diese Rolle tatsächlich spielt.
({5})
Ich nenne hier beispielsweise den kooperativen Ansatz
für Gesamteuropa und Rußland, den rüstungskontrollpolitischen Ansatz - denn wir dürfen auch dann, wenn
wir Krieg führen, die Abrüstung nicht vergessen - und
eine Politik, die auf Grund der bestehenden atomaren
Gefahr, die möglicherweise wieder näherrückt, abrüstungspolitische Aufgaben vor Augen hat.
Wenn wir es schaffen, diesen Konsens in Europa zu
stabilisieren und über Europa hinauszutragen und der
Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen endlich Einhalt zu gebieten, dann kommen wir vielleicht
wieder zu dem Punkt zurück, daß wir sagen können, daß
das Europa der Zukunft friedlich sein wird. Diesen Weg
gehen wir hoffentlich alle gemeinsam.
Danke.
({6})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Peter Zumkley.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich nach den bisherigen
Debattenbeiträgen vor allem den militärischen und sicherheitspolitischen Aspekten widmen.
Durch die Allianz sind die Bündnispartner in der Lage, sich auf gemeinsame, insbesondere verteidigungsund sicherheitspolitische Positionen zu verständigen.
Dies ist von genauso großer Bedeutung wie die Streitkräfte der Mitgliedstaaten, die als Garant für die militärische europäische Sicherheit und - in der Vergangenheit - für die Verhinderung militärischer Auseinandersetzungen im Rahmen der Ost-West-Konfrontation
dienten.
Die Allianz verzeichnet aber auch zwei außergewöhnliche politische Erfolge in einem: die Integration
von westeuropäischen Staaten, die über Jahrhunderte
nach Dominanz und Kräfteausgleich gestrebt und dabei
häufig verlustreiche, blutige Kriege geführt hatten, und
eine vertraglich vereinbarte transatlantische Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft zwischen den
Demokratien Nordamerikas und Europas.
Neben vielen zum Beispiel in Politik und Administrationen tatkräftig für die Ziele der NATO tätigen
Menschen, in der Vergangenheit und in der Gegenwart,
sind wir auch allen militärischen und zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr seit ihrem Bestehen und ihrer Zugehörigkeit zur NATO für die Bewältigung ihrer oft nicht leichten Aufgabe und ihren
Beitrag zum Frieden und zur Freiheit zu Dank verpflichtet.
({0})
In einem Zeitraum von etwa zehn Jahren wurden
Strategien und Konzeptionen politisch und militärisch
auf die neuen Entwicklungen umgestellt. Die NATO
entwickelt sich auch heute weiter, wie die Verabschiedung des neuen strategischen Konzepts auf dem
Washingtoner Gipfel an diesem Wochenende zeigen
wird. Das sicherheitspolitische Umfeld wandelt sich.
Heute stehen wir vor einer Fülle neuer Risiken. Die Gefahr von heute ist die Instabilität - aus unterschiedlichen
Gründen - in einigen Ländern und Regionen. Tief wurzelnde ethnische, religiöse und nationalistische Kräfte
münden, wie schmerzhaft zu erfahren ist, in zerstörerische Konflikte, die uns letztlich alle bedrohen. Das trifft
auch auf Europa zu, wie die Lage auf dem Balkan zeigt.
Die NATO befindet sich im Anpassungsprozeß gegenüber einem neuen Risikospektrum. Die politischen
und militärischen Strukturen der Allianz werden neu gegliedert und gestrafft. Sie werden so verändert, daß das
Bündnis auf der Basis einer starken transatlantischen
Partnerschaft das geänderte Spektrum seiner Aufgaben
wirksamer bewältigen kann. Die Streitkräfte wurden
nicht unerheblich reduziert. Die Stufen der Alarm- und
Einsatzbereitschaft wurden herabgesetzt. Die Streitkräfte
wurden umgegliedert, so daß sie weiterhin zur kollektiven Verteidigung befähigt sind und den neuen Aufgaben
im Rahmen der Krisenbewältigung gewachsen bleiben.
Der Anpassungsprozeß ist noch nicht abgeschlossen.
Das Bündnis muß diesen Prozeß mit Entschlossenheit
und Augenmaß weiter fortsetzen. So müssen die Sicherheit und der Frieden im euroatlantischen Raum weiterhin kontinuierlich stabilisiert bleiben sowie der Dialog
und die Zusammenarbeit der gleichberechtigten Partner
ausgebaut und vertieft werden.
Die Öffnung der NATO nach Osten ist ein wichtiger Schritt. Die Beitritte Polens, Ungarns und der
Tschechischen Republik zur NATO schaffen zusätzliche, auch militärische Sicherheit. Die neuen Mitgliedstaaten sind fest in Europa verankert. Gerade wir Deutschen erhalten mit unseren östlichen Nachbarn verläßliche Bündnispartner.
Die Motivation ihrer Soldaten zur Zusammenarbeit
mit westlichen Partnern ist bemerkenswert. Ihre Ausrüstung und Bewaffnung sind überwiegend russischer
Herkunft und entsprechen nur zum Teil den Bündnisanforderungen. Dies muß angemessen berücksichtigt und
auch in Kauf genommen werden, damit unsere neuen
Partner nicht überfordert werden.
Vor allem kommt es darauf an, ihre Kommunikationsfähigkeit und Interoperabilität allmählich zu verbessern. Dabei müssen sie angemessen unterstützt werden.
Dieser Prozeß wird länger dauern, vielleicht zehn Jahre
oder sogar mehr. Die Tür zur NATO muß für weitere
neue Mitglieder offenstehen, sofern sie die Anforderungen des Bündnisses erfüllen, die Zeit reif und das Bündnis aufnahmefähig ist. Grundsätzlich stärken neue Mitglieder die Sicherheit in Europa und bereichern das
Bündnis als Ganzes.
Die Gründungsakte zwischen der NATO und Rußland, die NATO-Ukraine-Charta sowie die gemeinsamen Übungen im Rahmen der „Partnerschaft für den
Frieden“ bilden eine solide Basis für eine gute militärische Zusammenarbeit. Allein in 1998 wurden 26 PfPÜbungen zwischen der NATO und osteuropäischen
Staaten durchgeführt. Die Bundeswehr war an
15 Übungen mit allen Teilstreitkräften beteiligt.
({1})
Die gemeinsame Übungstätigkeit umfaßte militärische
Manöver, friedensunterstützende Maßnahmen, humanitäre Operationen sowie Such- und Rettungseinsätze.
Diesen Weg müssen wir weiterverfolgen.
({2})
Bei den gemeinsamen Übungstätigkeiten wird Verständnis für Zusammenarbeit geweckt, das es zu festigen
und weiterzuentwickeln gilt. Darüber hinaus wird Vertrauen geschaffen, werden Mißverständnisse vermieden
und gegenseitige Vorurteile abgebaut.
Das Krisen- und Konfliktpotential in Europa macht
deutlich, wie notwendig der Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität ist.
Europa muß in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
eigenständiger und handlungsfähiger werden, ohne sich
von der Nordatlantischen Allianz zu entfernen. Dann
kann es seiner sicherheitspolitischen Verantwortung in
Europa besser gerecht werden und zu einer gerechten
Lastenteilung innerhalb des Bündnisses beitragen. Dies
bedeutet für uns als Konsequenz aber weitere Anstrengungen und Leistungen in angemessenem Verhältnis zu
denen unserer Bündnispartner.
Viele Jahre lang haben unsere Verbündeten unserem
Land Sicherheit gegeben. Heute beteiligen wir uns gemeinsam mit unseren Bündnispartnern an der Sicherstellung der Verteidigungsfähigkeit, der Krisenbewältigung, dem Schutz von Menschenrechten und humanitären Hilfsaktionen. Zukünftig muß sich das Bündnis allerdings mehr um die Fähigkeit zur Konfliktprävention
bemühen. In diesem Zusammenhang, Herr Kollege Glos
- er ist im Moment nicht da -,
({3})
begrüßen wir die offensichtliche Absicht der NATO und
von Nicht-NATO-Staaten, den Flüchtlingen in Albanien
durch Entsendung zusätzlicher, dafür geeigneter Soldaten noch wirksamer als bisher zu helfen. Kaum jemand
wird sich einer derartigen humanitären Hilfe vor Ort
verschließen können.
({4})
Wir sehen einem entsprechenden Antrag der Bundesregierung entgegen und setzen auf eine breite Zustimmung
des Parlaments. Der Erfolg der NATO wird auch künftig
davon abhängen, ob es ihr weiterhin gelingt, beharrlich
und unbeirrt ihr Ziel aufrechtzuerhalten, Frieden, kooperative Sicherheit und demokratische Stabilität im gesamten Europa zu fördern.
Nicht zuletzt ist die Bundeswehr eines der wichtigen
Instrumente deutscher Außen-, Sicherheits- und Bündnispolitik. Es führt kein Weg daran vorbei, daß die
Streitkräfte im Bündnis - also auch unsere Bundeswehr
- weiterhin gut ausgebildet und für die Aufgabenbewältigung wirksam ausgestattet werden, daß der bestmögliche Schutz für unsere Soldaten sichergestellt und ihre
Integration in unsere Gesellschaft erhalten bleibt.
({5})
Das Wort hat der
Kollege Christoph Zöpel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich
auch vor dem Hintergrund dieser Debatte die Geschichte
der NATO und ihreWirkung auf Europa als eine Wechselwirkung zwischen militärischer Anstrengung und
deren Grenzen sowie erfolgreicher Abrüstungspolitik
und erfolgreicher Friedensbewegungen darstellen.
Der Erfolg der NATO für Europa beruhte auf atomarer Abschreckung; das war der Kern. Das hat uns sicher
gemacht, die Menschen in Osteuropa nicht. Die NATO
konnte nicht verhindern, daß Stalin und seine Nachfolger in Osteuropa - auch mit militärischer Gewalt - machen konnten, was sie wollten. Im Gegensatz zu Ihnen,
Frau Beer, halte ich den derzeitigen Krieg in Jugoslawien nicht für den ersten in Europa. Der erste war die
Invasion der Sowjetunion in Prag; den konnte die
NATO nicht verhindern.
({0})
Daß ähnliches in Polen nicht geschah, lag an der Besonnenheit eines - wenn auch tragisch verstrickten - Generals, nämlich des Generals Jaruzelski.
Das Ende des Kommunismus dann war einerseits
sicherlich auch ein politischer Erfolg der NATO und
ihrer Rüstung. Aber andererseits wäre das Ende des
Kommunismus nicht möglich gewesen ohne die friedliche Revolution der Menschen dort. Auch die war nötig,
nicht nur die NATO.
({1})
Nach dem Ende des Kommunismus kam dann der für
mich vielleicht größte Erfolg der NATO: die gigantische
Abrüstungsleistung in Europa. Herr Kollege Rühe, Sie
können stolz darauf sein - ich glaube, Sie sind es -, daß
Sie in dieser Zeit der Abrüstungserfolge Verteidigungsminister sein konnten. Eine Million weniger Soldaten
auf deutschem Boden! Aber die Freude über diesen Abrüstungserfolg hat auch damit zu tun, daß wir vorher
- zu Recht - erschrocken waren über die bizarre Überrüstung, die der kalte Krieg mit sich gebracht hatte.
({2})
Wer darauf hingewiesen hatte, hatte ebenso recht wie
der, der für die NATO stritt.
Die meisten Staaten in Mittelosteuropa und Südosteuropa begannen dann, sich auf den friedlichen Weg
hin zu Menschenrechten, Demokratie und nach Europa
zu machen - mit einer wiederum besonders bizarren
Ausnahme: Milosevic in Jugoslawien. Warum wir jetzt
betroffen sind? Weil sich die heutige Situation
Deutschlands und anderer NATO-Staaten von der vor
1989 unterscheidet. Vor 1989 hatten wir nicht die Möglichkeit, zu entscheiden, ob wir den Tschechen helfen.
Heute haben wir diese Möglichkeit. Damit ist der Friedensfortschritt gleichzeitig auch wieder ein Schritt hin
zu neuen, viel schwierigeren Entscheidungen, die wir
unter der Ägide der atomaren Abschreckung nicht zu
treffen hatten. Damit sind wir heute - das müssen wir
sehen - konfrontiert.
Ich sehe den Erfolg des militärischen Engagements
der NATO in Jugoslawien voraus und komme zu den
Perspektiven: Wir werden daran gemessen werden, ob
wir Europäer nach dieser Intervention bereit sind, unsere
Europapolitik hinsichtlich der Integration neuer Mitglieder zu ändern. Nach Kosovo darf die Frage nicht mehr
lauten „Wer darf in die Europäische Union?“, sondern
muß es heißen: Wir wollen sie alle in Europa haben.
({3})
Die NATO war nur so erfolgreich, weil eine andere
gigantische Friedensleistung historischer Dimension
stattfand: das Ende möglicher Kriege in Westeuropa
durch die europäische Integration. Die Vollendung der
europäischen Integration bedeutete das Ende der Kriege
in ganz Europa für alle seine Staaten.
Dieses Europa braucht dann auch - dies lernen wir
jetzt deutlicher denn je - seine eigene Sicherheitsidentität.
({4})
An der zu arbeiten kann nicht mehr wenigen Beamten
überlassen werden, sondern wird eine eminent politische
Aufgabe.
({5})
Wenn wir das so formulieren, stellt sich die Frage
nach dem Verhältnis zu Rußland und anderen Staaten
der ehemaligen Sowjetunion. Ich versuche, hier eine Vision zu malen: Ich kann mir vorstellen, daß der nördliPeter Zumkley
che Teil der nördlichen Erdhalbkugel in einer Perspektive von 20 Jahren dadurch bestimmt wird, daß drei föderale Staatswesen mit je sicherlich unterschiedlicher Sicherheitsidentität - die Vereinigten Staaten von Amerika, die Europäische Union und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, in welcher Formation auch immer -,
miteinander sicherheitspolitisch in Partnerschaft verbunden, dafür sorgen, daß auf der reichen nördlichen
Halbkugel dieser Welt keine Kriege mehr ausgetragen
werden können. Das muß die Vision sein.
({6})
Wenn wir das im Blick haben, kommt die letzte Aufgabe notwendig in die Diskussion: Diese NATO muß
dann auch sagen, wie sie sich zu anderen Staaten in dieser Welt verhält. Man darf nicht darüber hinweggehen.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, der
Kollege Klose, hat berichtet, daß Inder und Pakistani der
Intervention der NATO im Kosovo nun wirklich nicht
begeistert zustimmen. Vielmehr taucht die Frage auf,
was das für den Weltfrieden bedeutet.
Unbeschadet des Primats der Vereinten Nationen, an
dem Sozialdemokraten nie einen Zweifel hatten, gibt es
eine weitere Aufgabe. Die NATO darf und muß allen
anderen Staaten der Welt weiterhin sagen: Wir lassen
nicht zu, daß wir angegriffen werden. Vermutlich würdet ihr einen Angriff im Ernstfall auch nicht überstehen
können; denn es gibt noch atomare Waffen. Aber wir
müssen auch deutlich machen: Wann immer die NATO
oder NATO-Staaten irgendwo intervenieren, muß die
Verhältnismäßigkeit der sicherheitspolitischen Mittel
gelten. Das parteiübergreifende Grummeln über das,
was die Vereinigten Staaten und Großbritannien im Irak
tun, bestätigt das jetzt ja auch. Es muß also ein deutliches Signal sein. Wenn sich die NATO oder NATOStaaten außer zur Verteidigung irgendwo engagiert, muß
der Satz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel gelten.
Der Einsatz dieser Mittel muß an die Prinzipien der
Humanität gebunden sein. Das wird auf Dauer nur
erreichbar sein, wenn diese NATO bereit ist, Sicherheitspartnerschaften mit welchen Ländern dieser Welt
auch immer einzugehen, wenn sie es denn wollen. Dies
am Schluß einer NATO-Debatte in Zeiten der Globalisierung zu sagen, halte ich für erforderlich. Herzlichen
Dank.
({7})
Ich schließe die
Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlagen auf den Drucksachen 14/599, 14/316, 14/454
({0}) und 14/792 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/454 ({1}) soll an
den Auswärtigen Ausschuß und den Verteidigungsausschuß, aber nicht an den Rechtsausschuß überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich ({2}), Friedrich Merz, Ilse
Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Deutschland muß verläßlicher Partner in
europäischer Raumfahrt bleiben
- Drucksache 14/655 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3})
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Ilse Aigner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Auf der
Ministerratskonferenz der Europäischen Raumfahrtagentur ESA am 11. und 12. Mai in Brüssel stehen
richtungweisende Entscheidungen über die zukünftigen
europäischen Raumfahrtaktivitäten an. Hierzu gehören
im wesentlichen die Leistungssteigerung der Ariane 5
zur Anpassung an die Markterfordernisse, die Nutzung
der internationalen Raumstation und die Fortführung des
wissenschaftlichen Erdbeobachtungsprogramms. Gleichzeitig soll in Brüssel über kommerziell ausgerichtete
Leitprojekte, die im nationalen Förderprogramm vorgesehen sind, wie zum Beispiel über Multimedia-Satellitentechnologie, entschieden werden.
Vor diesem Hintergrund setzt sich die CDU/CSUBundestagsfraktion mit dem heutigen Antrag entschieden dafür ein, daß die international eingegangen Verpflichtungen am europäischen Raumstations-Entwicklungsprogramm von Deutschland auch in Zukunft eingehalten werden. Die erforderlichen Mittel der deutschen Beteiligung in Höhe von rund 2,5 Milliarden DM,
die noch von der früheren Bundesregierung für die Jahre
1998 bis 2004 vorgesehen wurden, müssen bereitgestellt
werden.
({0})
Deutschland hat im europäischen Verbund mit 41 Prozent Beteiligung die führende Rolle beim Raumstationsprogramm, und dies muß auch so bleiben.
Die bereits erfolgten Budgetkürzungen von rund 30
Millionen DM wie die noch geplanten Kürzungen bei
der Raumfahrt gefährden die deutsche Beteiligung bei
den neuen Projekten auf europäischer Ebene, vor allem
aber schränken sie den deutschen Arbeitsanteil an wichtigen technologischen Vorhaben stark ein. Ohne eine
Aufstockung des deutschen ESA-Beitrages von zur Zeit
970 Millionen DM im Jahre 1999 bzw. 980 Millionen
DM im Jahre 2000 können etliche deutsche Firmen, zum
Beispiel die DASA und zahlreiche Mittelständler, ab
dem Jahr 2000 nicht mehr mitforschen. Die Regierung
Schröder verengt damit den Spielraum in wichtigen Feldern der Raumfahrtanwendungen und gefährdet Arbeitsplätze, weil die deutschen Beiträge fehlen.
({1})
Es wäre doch schon ein Witz, am Bau eines Labors im
Weltraum beteiligt zu sein, dann aber nicht mehr die
finanziellen Mittel zu haben, dieses Labor auch entsprechend zu nutzen.
Viele Projekte auf europäischer Ebene können ohne
deutsche Beteiligung voraussichtlich gar nicht realisiert
werden. Ohne das Wissen der DASA und der MAN
Technologie wäre an die Weiterentwicklung der Ariane5 nicht zu denken. Nur mit eigenen Trägerraketen können wir Europäer im Zukunftsmarkt Satellitennavigation und Erdbeobachtung mitmischen. Im Moment
transportieren die Amerikaner mehr als 60 Prozent aller
Satelliten, militärische wie kommerzielle, ins All und
übernehmen mit Neuentwicklungen die Führungsposition. Damit gerät Europa erneut in amerikanische Abhängigkeit. Langfristig bedeutet das auch den Verlust von
hochqualifizierten Arbeitsplätzen in Deutschland. Mit
einer leistungsstärkeren Ariane 5 mit wiederzündbarer
Oberstufe würde die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit
europäischer Raumtransportsysteme gegenüber der
amerikanischen und russischen Konkurrenz gesichert.
Für den Zeitraum von 2001 bis 2005 wird mit einem
Bedarf an Satellitenstarts von 60 bis 90 pro Jahr gerechnet. Die Satelliten werden größer und schwerer. Das
heißt, die Trägerrakete Ariane muß in wenigen Jahren
11 Tonnen statt jetzt 6 Tonnen tragen können.
Frankreich ist mit 45 Prozent Beteiligung bei Ariane
führend. Deutschland hat sich bisher an allen ArianeProgrammen mit 20 Prozent beteiligt. Bezogen auf die
Ariane-5-Weiterentwicklung bedeutet das die Bereitstellung von 100 Millionen DM zusätzlich für die Jahre
2000 bis 2003.
Weiterhin muß die Bundesregierung die angemessene
Beteiligung Deutschlands am Erdbeobachtungsprogramm der ESA sicherstellen. In der Erdbeobachtung ist
die deutsche Industrie bei Erforschung, Integration und
dem Test von kompletten Satellitensystemen federführend. Dies muß für Wissenschaft wie auch für kommerzielle Anwendungen weiterentwickelt werden.
Auch muß der Aufbau eines europäischen satellitengestützten Navigationssystems GNSS unterstützt werden. Damit soll die Abhängigkeit von dem amerikanischen GPS und dem russischen Glonass-System, deren
Peilsignale verschlüsselt sind und unter militärischer
Verfügungsgewalt stehen, verhindert werden.
({2})
Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist eine der forschungsintensivsten Schlüsselbranchen unserer Volkswirtschaft. Direkt und indirekt arbeiten 100 000 Menschen in der deutschen Raumfahrt. Rund 95 Prozent der
Arbeitsplätze entstehen außerhalb der eigentlichen
Raumfahrtindustrie, und zwar vor allem in der mittelständischen Wirtschaft. Das bedeutet im Klartext: Jeder
Arbeitsplatz in der Raumfahrtindustrie ermöglicht statistisch in den Folgemärkten, etwa bei Dienstleistern und
Endgeräteherstellern, mehr als zehn weitere Arbeitsplätze.
Auf Grund technologischer Innovation ist hier ein beachtlicher Wachstumsmarkt entstanden, der die Kommerzialisierung der Raumfahrt ermöglicht und fördert.
Besondere Marktpotentiale ergeben sich in den Bereichen Kommunikation und Satellitentechnik und auch in
interdisziplinären Bereichen wie Mikro- und Optoelektronik, Meßsteuer- und Regeltechnik, Robotik und
Software-Technologie. Hier finden sich hervorragende
Zukunfts- und Wachstumsmärkte für deutsche Weltraumunternehmen. Europaweit setzte diese Branche
1997 knapp 5 Milliarden Euro um.
Kommerzielle Anwendungen von Satellitennavigation nutzen der Sicherheitspolitik, dem Verkehr, dem
Umweltschutz und dem Multimedia-Bereich. Vor diesem Hintergrund ist es eine wichtige Aufgabe der Forschungspolitik, die Arbeitsteilung zwischen öffentlichen
und privaten Akteuren für die Zukunft zu definieren und
besonders bei der Anwendung der Satellitentechnik den
Übergang von staatlicher in private Zuständigkeit zu
planen. Für die Erschließung künftiger Märkte sind deshalb gemeinsame Anstrengungen zwischen Staat und
Wirtschaft in Form einer Private-Public-Partnership erforderlich.
Betrachten wir doch einmal das Ungleichgewicht in
den öffentlichen Forschungs- und Entwicklungsbudgets
von Europa und den USA: Während in den USA 1997
mehr als 10,7 Milliarden Euro für die Raumfahrt ausgegeben wurden, waren es in Frankreich 1,86, in Italien
0,44 und in Deutschland 0,69 Milliarden Euro. Den
amerikanischen Raumfahrtaufwendungen in Höhe von
mehr als 10 Milliarden Euro stehen also knapp 3 Milliarden Euro auf europäischer Ebene gegenüber.
Um der Gefahr eines Substanzverlustes beim technologischen Know-how, aber auch um der zunehmenden
Abhängigkeit von den Wettbewerbern in den USA entgegenzuwirken, müssen verstärkt europäische Strukturen geschaffen werden. Europa muß sich dem internationalen Wettbewerb stellen, indem es seine Kapazitäten
weiterentwickelt und gleiche Marktzugangschancen
schafft. Die aktuellen Wettbewerbsbedingungen auf den
Weltmärkten lassen keine Zweifel darüber zu, daß eine
enge Zusammenarbeit in Europa nicht nur eine Chance,
sondern eine Überlebensbedingung für die Raumfahrtindustrie bedeutet.
({3})
Für nahezu alle Großprojekte gilt, daß sie allein in nationaler Kompetenz kaum noch mit vertretbarem Aufwand realisiert werden können, sondern europäische Zusammenarbeit erfordern. Im Vergleich zu den wesentlich
geschlossener auftretenden Amerikanern leiden die
Europäer unter dem vergleichsweise kleinen und zersplitterten Markt. Die Bereitschaft, Abhängigkeiten einIlse Aigner
zugehen und Selbständigkeiten aufzugeben, steht einer
konkurrenzfähigen Produktionsstruktur in Europa noch
immer im Wege.
Airbus, Arianespace und Eurocopter sind Beispiele
erfolgreicher europäischer Zusammenarbeit und eine
solide Basis für die Zukunft. Nur eine europäische Luftund Raumfahrtindustrie, die technologisch anspruchsvolle und finanziell ausreichende Entwicklungsmöglichkeiten hat, ist wettbewerbsfähig und auch für amerikanische oder asiatische Partner interessant. Dazu ist eine
politische Flankierung der industriellen Bemühungen
notwendig. Eine gemeinsame europäische Raumfahrtpolitik muß sich deswegen auch immer als Instrument
europäischer Sicherheits-, Wirtschafts- und Verkehrspolitik verstehen.
Die USA verstehen die Raumfahrt übrigens auch als
machtpolitisches Instrument: Das GPS ist zum Beispiel
auch ein sicherheitspolitisches Instrument. US-amerikanische Trägerkapazitäten stehen nur ausländischen
Kunden zur Verfügung, die politisches „Wohlverhalten“
zeigen. Erdbeobachtungsdaten der US-Aufklärung werden selbst NATO-Partnern nur in beschränktem Umfang
zur Verfügung gestellt. Forschungskooperationen und
gemeinsame Technologieentwicklungen können jederzeit auf Weisung der US-Regierung gestoppt werden.
Immer teurere und komplexere Systeme machen zunehmend internationale Kooperationen notwendig. Mit
Rußland, der Ukraine, mittel- und osteuropäischen sowie einigen fernöstlichen Ländern ergeben sich interessante Möglichkeiten der Zusammenarbeit, technologische Kompetenz und Produktionskostenvorteile miteinander zu verbinden.
Sogar Bundeskanzler Schröder ist sich dieser Notwendigkeit bewußt. Er sagte kürzlich, anläßlich der
Übergabe des Raumfahrtlabors Spacelab an die DASA
am 16. April in Bremen, daß Rußland verstärkt in wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit eingebunden werden müsse, und betonte gleichzeitig, daß
die Bundesregierung alle international eingegangenen
Verpflichtungen in der bemannten - oder befrauten Raumfahrt auch erfüllen werde. Das läßt mich noch hoffen, Herr Bundeskanzler.
Finanzielle Engpässe dürfen nicht dazu führen, daß
sich Deutschland von den neusten Entwicklungen abkoppelt und so den Anschluß an das Technologiefeld
Raumfahrtmarkt verliert.
({4})
Deswegen fordern wir die Regierung auf: Auf der Ministerratskonferenz in Brüssel muß eine angemessene
finanzielle deutsche Beteiligung vorgesehen werden.
Die europäischen Mitgliedstaaten der ESA benötigen die
versprochene deutsche Unterstützung, um die vorgesehenen Programme politisch und finanziell mitzutragen
und verwirklichen zu können.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die
Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau
Edelgard Bulmahn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Zwei Ziele bestimmen die Weltraumpolitik der Bundesregierung. Das erste Ziel ist, mit den finanziellen Fehlplanungen meines
Vorgängers in bezug auf die Weltraumforschung fertig
zu werden
({0})
- das ist leider so - und die Ministerratstagung zum Erfolg zu führen, ohne den deutschen Beitrag zur Europäischen Weltraumorganisation über Gebühr zu erhöhen.
Das zweite Ziel ist es - dies ist aus meiner Sicht das
mittelfristig wichtigste Ziel -, Raumfahrt als Dienstleistung für exzellente Forschung und für kommerzielle
Anwendung zu fördern und dabei mit den Steuermitteln
so effizient wie möglich umzugehen.
({1})
Die Weltraumforschung hat in der Politik der Bundesregierung einen hohen Stellenwert. Ich möchte das
an Hand zweier Zahlen deutlich machen: Der Anteil der
Förderung der Raumfahrt insgesamt - die Projektförderung mit ESA, denn auch die ESA-Beiträge sind Projektförderungsmittel, und die institutionelle Förderung am Forschungshaushalt des BMBF beträgt 16 Prozent.
Das ist der weitaus größte Forschungstitel überhaupt.
Nur auf die Projektförderung bezogen, beträgt der Anteil
der Förderung der Raumfahrtforschung sogar 30 Prozent. Das unterstreicht die Priorität der Weltraumforschung in diesem Haushalt. Das unterstreicht aber
gleichzeitig auch das Potential zur Optimierung.
Mein Ziel ist es, in der Raumfahrt Strukturen zu
schaffen und zu fördern, die eine ganz klare wirtschaftliche Perspektive haben und eine wissenschaftliche Exzellenz ermöglichen. Wenn wir das erreichen wollen,
dann stellt sich die Frage, wo das Problem zur Zeit liegt.
Das Problem liegt darin, daß 1995 die alte Bundesregierung beschlossen hatte, daß Deutschland 41 Prozent der
Finanzierung des ESA-Beitrages zur Raumstation übernimmt. Das ist im übrigen fast doppelt soviel wie unsere
durchschnittliche Beteiligung an allen anderen ESAProgrammen. Der deutsche Beitrag zu diesem Projekt
steigt demzufolge von 260 Millionen DM 1998 über
474 Millionen DM im Jahre 2001 auf sogar 556 Millionen DM im Jahre 2003. Das bedeutet einen Anstieg um
rund 300 Millionen DM gegenüber 1998, zu dem wir
rechtlich verpflichtet sind.
({2})
Allein diese Zahlen machen deutlich, daß die Kosten für
diese Steigerung zum Beispiel höher sind als die Ausgaben des BMWF für die gesamte Projektförderung im
Bereich der Biotechnologie im Jahre 2003. Wir sind uns
darüber einig, daß die Biotechnologie auch ein wichtiger
Zukunftsbereich ist. Das sind keine Peanuts, über die
wir hier reden, zumindest nicht nach meinem Verständnis vom Umgang mit Steuermitteln.
Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
werden in der Finanzplanung von Herrn Rüttgers keinerlei Vorsorge dafür finden, daß sich Deutschland an
sinnvollen Projekten wie an der Weiterentwicklung der
Ariane 5 plus beteiligt.
({3})
Sie werden keinerlei finanzielle Vorsorge dafür finden,
daß sich Deutschland an der Fortsetzung der Erdbeobachtung beteiligt. Das ist aus meiner Sicht auch ein
wichtiges Programm. Das nenne ich, Herr Mayer, eine
unsolide Finanzpolitik der alten Bundesregierung, die
wir leider auch auf anderen Feldern immer wieder vorgefunden haben.
({4})
Wenn ich mir, Herr Mayer, die letzte von der alten
Bundesregierung beschlossene mittelfristige Finanzplanung anschaue - die Daten liegen ebenso wie die Beschlüsse vor; sie können Sie alle einsehen -, dann muß
ich feststellen, daß die alte Bundesregierung ESABeiträge in Höhe von 970 Millionen DM bis zum Jahre
2001 eingeplant hatte. Dazu ist keinerlei Vorsorge getroffen worden.
({5})
Wenn Sie, meine Damen und Herren in der Opposition,
der jetzigen Regierung vorwerfen, sie lasse die Raumfahrt im Stich, nachdem Sie in der Vergangenheit massiv gekürzt haben und eine Finanzplanung vorgelegt haben, die keinerlei Vorsorge beinhaltet, sondern ein
finanzielles Chaos bedeutet, das Sie jetzt kritisieren,
dann kann ich nur dazu sagen, daß Sie damit heute Ihre
Taten von gestern kritisieren. Dazu gehört schon einiges
an Chuzpe.
({6})
Ich schlage vor, daß wir zu einer sachlichen Auseinandersetzung zurückkehren, weil ich den Eindruck habe,
daß wir in der Zielsetzung in vielen Punkten übereinstimmen. Wir sollten außerdem zu einer sachlichen
Auseinandersetzung zurückkehren, weil es wirklich um
viel Geld geht, über dessen Verwendung wir miteinander entscheiden müssen. Das Geld kann nicht zweimal
ausgegeben werden.
In der Vorbereitung der Ministerratskonferenz
der Europäischen Weltraumorganisation am 11. und
12. Mai 1999 werden wir versuchen, die wichtigen und
sinnvollen Projekte der Raumfahrt zu erhalten. Wir
wollen das Wissenschaftsprogramm der ESA weiterführen. Wir wollen vor allen Dingen eine angemessene
Teilnahme Deutschlands am Projekt „Ariane 5 plus“, für
das bisher, wie gesagt, überhaupt keinerlei Vorsorge getroffen worden ist.
({7})
Wir wollen im Rahmen unserer Möglichkeiten auch eine
Beteiligung an dem Programm zur Erdbeobachtung.
Schließlich müssen wir auch unseren Verpflichtungen in
der bemannten Raumfahrt nachkommen.
({8})
Es wird nicht einfach sein, dies alles unter einen Hut zu
bringen. Es wird nur dann funktionieren, wenn alle Beteiligten daran mitwirken.
Wir wollen angemessene Korrekturen, ohne dabei
unsere Verpflichtungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Wir wollen insbesondere nicht, wie es ein Berater
eines großen deutschen Raumfahrtkonzerns in einem
Schreiben an den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses vorgeschlagen hat, die Max-Planck-Gesellschaft, die
Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die FraunhoferGesellschaft für eine falsch angelegte Raumfahrtpolitik
finanziell büßen lassen.
({9})
Wir haben mehr Haushaltsmittel als die Vorgängerregierung in unsere mittelfristige Finanzplanung eingestellt.
Aber es muß bei einer moderaten Erhöhung bleiben.
Ich habe Gespräche mit Vertretern der deutschen
Wissenschaft und der deutschen Industrie geführt und
habe mich dabei zusammen mit allen Beteiligten darum
bemüht, durch Einsparen und Strecken von Mitteln eine
Lösung für das von der alten Bundesregierung angerichtete Dilemma zu finden.
In Gesprächen mit Frankreich und Großbritannien in der nächsten Woche folgt noch ein Gespräch mit Belgien - habe ich versucht, Lösungen zu finden. All diese
Gespräche - das kann ich so zusammenfassen - stimmen mich gedämpft optimistisch, daß wir hier zu einer
Lösung kommen. Aber ich sage auch ganz deutlich, daß
wir noch nicht über den Berg sind.
Ich wünsche mir, daß wir eine möglichst parteiübergreifende Haltung entwickeln können, um unseren Partnern in der ESA deutlich zu machen, daß wir es mit unserem Beitrag zur Lösung der Krise ernst meinen, aber
auch von unseren Partnern in der ESA einen angemessenen Beitrag erwarten.
({10})
Meine Damen und Herren, die Wirtschaft hat einen
größeren Beitrag zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben zu leisten. Es muß ein Anliegen der Wirtschaft
sein, überzeugende Ansätze und Konzepte für innovative Dienstleistungen auf Gebieten wie der Satellitennavigation und der Satellitenkommunikation, bei den Trägerraketen und sowie eingeschränkt auch bei der Erdbeobachtung zu liefern. Bei vorhersehbarer Marktrentabilität,
wie es etwa bei der Satellitennavigation ganz klar der
Fall ist, müssen die Unternehmen eine größere Verantwortung für die Finanzierung der Programme und eine
Beteiligung an den Risiken übernehmen. Die Bündelung
der Kräfte, wie sie sich teilweise in der europäischen
Luft- und Raumfahrtindustrie vollzieht, schafft hierfür
übrigens auch eine gute Voraussetzung.
Wachsende Verantwortung sehe ich aber nicht nur
auf seiten der Wirtschaft, sondern auch auf seiten der
wissenschaftlichen Nutzer. Wir müssen gemeinsam
Vorschläge entwickeln, wie wir die Eigenverantwortung
der Wissenschaft für den Betrieb und die Nutzung
raumgestützer wissenschaftlicher Infrastrukturen stärken
können. Die Raumfahrtinvestitionen insgesamt müssen
sich stärker am Bedarf der fachlichen Nutzer ausrichten.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, zwei
Ziele bestimmten unsere Weltraumpolitik. Wenn das erste Ziel sein muß, nach der Fehlentwicklung auf der Ministerratstagung von 1995 und nach der gescheiterten
Ministerratstagung im Jahr 1998 in diesem Jahr zu einer
für alle Beteiligten akzeptablen Lösung zu kommen, so
lautet das zweite und eigentliche Ziel: Wir wollen
Raumfahrt als Dienstleistung für exzellente Forschung
und für kommerziell nutzbare Anwendungen. Wir wollen keine politischen Luxusprojekte, sondern wir wollen
wissenschaftlich und wirtschaftlich sinnvolle Projekte.
Dazu brauchen wir mittelfristig einen neuen Ansatz sowohl in der ESA als auch in der nationalen Raumfahrtpolitik.
Alle Projekte in der Raumfahrt müssen sich denselben Kriterien wie Projekte in anderen Bildungs- und
Forschungsbereichen unterwerfen. Diese Kriterien sind:
wissenschaftliche Qualität im richtigen Verhältnis zu
finanziellem Aufwand und kommerziellem Nutzen. Das
richtige Verhältnis, das ich meine, sollte auch eine angemessene Beteiligung der industriellen Nutznießer widerspiegeln.
Experimente unter Schwerelosigkeit ja, aber alles,
was im Raum mit Robotern billiger als mit Menschen zu
machen ist, sollten wir den Robotern überlassen. Sie
brauchen jedenfalls keine immens teuren Lebenserhaltungssysteme und erzielen in vielen Fällen den gleichen
Effekt zu wesentlich niedrigeren Kosten. Darüber hinaus
- auch das ist dabei ein wichtiges Ziel - können solche
Technologien auch auf der Erde nutzbringend angewandt werden, wie man gerade jetzt auf der Industriemesse gut beobachten kann; ich denke beispielsweise an
die Fernwartung. Raumfahrt muß rational und nicht nur
als Medienschau von Astronauten geplant werden, auch
wenn ich deren Leistung sehr wohl anerkenne und respektiere.
({11})
Erdbeobachtung zur Klimaforschung ja, aber auch
hier in Relation zu anderen Aufwendungen und Notwendigkeiten, beispielsweise zu der notwendigen Beschaffung von Höchstleistungsrechnern, um Klimamodelle effizienter und aussagekräftiger zu machen.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Thomas Rachel?
Selbstverständlich.
Frau Ministerin, Sie
haben deutlich zu machen versucht, daß das Neue an Ihrer Politik darin bestehe, im Bereich der Raumfahrt kein
Medienspektakel für Astronauten zu organisieren und
zugleich zu einer rationellen, durchgerechneten Raumfahrtpolitik zu kommen. Wie verträgt sich das damit,
daß sich Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einem
riesigen Medienzirkus beim Empfang des USAstronautenveteranen John Glenn im Kanzleramt hat
feiern und ablichten lassen, während Sie dabei sind, den
Raumfahrthaushalt zu kürzen?
Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß die Ministerratskonferenz von 1995 der ESA, die Sie gerade kritisiert haben, auf Grund der Initiative Ihres Vorgängers, Jürgen
Rüttgers, dazu geführt hat, daß das sogenannte Konzept
„design to budget“ eingeführt wurde, daß also im Bereich der Raumfahrt wirtschaftlich gehandelt werden
muß? Ist Ihnen ferner bekannt, daß dieses Konzept
schon ganz konkrete Folgen aufweist? Denn der Röntgenastronomie-Satellit Abrixas, der am 28. dieses Monats in das Orbit gesandt wird, wird einen um einen
Faktor 10 niedrigeren Kostenaufwand als der Vorgänger
Rosat haben. Das heißt: Wir befinden uns auf einem
wirtschaftlich vernünftigen Kurs. Ich finde es insofern
etwas billig - das müssen Sie selbst einräumen -, daß
Sie diese politische Wende hin zu einer vernünftigen
Raumfahrtpolitik plötzlich in Frage stellen.
Herr Kollege Rachel, Sie haben sich zu einer Zwischenfrage gemeldet.
Das waren drei Fragen: ob ihr das bekannt ist.
Herr Kollege Rachel, ich möchte keine Diskussion mit Ihnen führen.
Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und
Forschung.
Herr Kollege Rachel, erstens ist es
falsch, daß ich den Weltraumtitel kürze. Im Gegenteil:
Ich erhöhe ihn gegenüber der mittelfristigen Finanzplanung der alten Bundesregierung.
Zweitens besteht das wichtigste Ziel meiner Politik
im Unterschied zur alten Regierung darin, daß ich die
Weltraumforschung insgesamt auf die beiden Ziele wissenschaftliche Exzellenz und kommerzielle Nutzung
ausrichten möchte. Ich bin sehr davon angetan, daß diese Zielsetzung in einem Gespräch mit den Vertretern der
deutschen Industrie wie auch mit den Vertretern der
Wissenschaftsorganisationen auf eine sehr positive Resonanz gestoßen ist und daß sich alle Beteiligten darin
einig waren, daß meine Vorschläge einen sinnvollen
Weg darstellen.
({0})
Herr Kollege Rachel, ich möchte auch Ihre weiteren
Fragen beantworten. Ich bin durchaus der Auffassung,
daß die Verwirklichung des Konzepts „design to budget“ ein wichtiges Ziel ist, das leider noch nicht erreicht
worden ist. Ich gehe nachher noch auf diesen Punkt ein.
Ich habe vorhin schon gesagt, daß es mir wichtig ist,
daß das gesamte Parlament der ESA gegenüber deutlich
macht, daß wir nicht gewillt sind, hinzunehmen, daß die
ESA die Finanzplanung überschreitet, so wie das leider
immer wieder der Fall gewesen ist, und daß wir nicht
gewillt sind, den hohen Anteil der administrativen Kosten der ESA weiterhin hinzunehmen. Es wäre mir sehr
lieb, wenn man in diesem Punkt eine breite Übereinstimmung im Parlament erreichen könnte, was bisher
eigentlich immer der Fall war.
({1})
Diese Ziele sind gegenüber der ESA leider immer
noch nicht durchgesetzt worden. Sie werden aber nicht
nur von der deutschen Regierung, sondern auch von unseren europäischen Partnern verfolgt. Ich würde es für
ziemlich fatal halten, wenn man von diesen Zielen mit
dem Verweis, daß sie vereinbart, leider aber noch nicht
erreicht worden seien, Abstand nehmen würde.
Auch ich selbst habe den Astronauten Glenn empfangen, weil ich seine persönliche Leistung durchaus anerkenne.
({2})
Ich bin der Meinung, daß wir in der Weltraumforschung insgesamt - auch das ist eine Einschätzung, die
unsere Partner teilen - die kommerziellen Marktchancen
besser nutzen müssen, als das in der Vergangenheit der
Fall gewesen ist. Diese Nutzungsmöglichkeiten liegen
vor allen Dingen im Bereich der Telekommunikationssatelliten und der Navigationssatelliten. Ich halte es für
fatal - ich sage ganz offen: ich finde es bedauerlich, aber
es ist leider so -, daß Europa gerade in diesen wichtigen
Anwendungsbereichen im Grunde genommen zehn Jahre verspielt hat. Ich hätte mir gewünscht, daß wir schon
Ende der achtziger Jahre - wir haben häufig im Parlament miteinander darüber diskutiert - diese Priorität gesetzt hätten.
({3})
Das war leider bei den damaligen Mehrheitsverhältnissen nicht möglich.
Ich hoffe aber, daß wir jetzt die richtige Weichenstellung vornehmen; denn wir wollen die Steuermittel
auch zum Nutzen der Menschheit einsetzen. Dazu gehört sowohl die Nutzung von Telekommunikation und
Erdbeobachtung wie auch die Grundlagenforschung.
({4})
Meine Damen und Herren, Erdbeobachtung zur
Klimaforschung, ja, das ist ein wichtiges Ziel. Aber dieses Ziel muß in Relation zu Aufwendungen und Notwendigkeiten stehen. Grundlagenforschung - dies habe ich schon in meiner Antwort auf die Zwischenfrage
gesagt - ja, denn der Weltraum ist eines der wichtigsten
Themen für Erkenntnisse über physikalische Zusammenhänge unserer Welt und damit über die Entstehung
des Weltalls. Auch dafür müssen wir Finanzmittel bereitstellen.
Kommerzielle Anwendungen der Raumfahrt, beispielsweise bei der Satellitennavigation: ja, das wollen
wir im Rahmen einer Public-Private-Partnership. Ich
hoffe, daß es uns bei Galileo wirklich gelingt, das jetzt
endlich zu machen und nicht nur darüber zu reden. Ich
meine eine Public-Private-Partnership, bei der die Nutzer der Satellitennavigation das Raumfahrtsegment entscheidend mitfinanzieren und die öffentliche Hand die
Rahmenbedingungen schafft, die wir dafür brauchen.
Trägerraketen: ja, aber mit einer unternehmerischen
Perspektive und finanzieller Mitverantwortung der Industrie in der Entwicklung.
({5})
Meine Damen und Herren, das sind unsere Prioritäten. Wir werden diese Prioritäten nur dann erfüllen können, wenn die Forschung bei der Prioritätensetzung
mitwirkt. Das gilt vor allem bei der Entscheidung, ob
Projekte besser durch die Raumfahrt oder ob sie besser
auf der Erde durchgeführt werden können. Dieses Ziel
läßt sich zur Zeit im Rahmen der eingefahrenen Spielregeln der ESA - in der Bundesrepublik ist das im übrigen
etwas anders - nur äußerst mühsam erreichen. Wir werden die Vorhaben nur dann verwirklichen können, wenn
unsere Unternehmen Prioritäten dort setzen, wo sich
neue Märkte mit interessanten wirtschaftlichen Perspektiven entwickeln. Schließlich werden wir diese Prioritäten nur erfüllen, wenn die Europäische Weltraumorganisation für Reformen offen ist, um die Entscheidungssituation transparent und nachvollziehbar zu machen und
um das, was als Ziel beschrieben worden ist, endlich erreichen zu können.
Ich möchte ein Zitat vortragen, das aus meiner Sicht
noch immer die Situation beschreibt:
Die ESA kennt unsere Anforderungen. Bislang habe ich allerdings nicht den Eindruck, daß sie die
Brisanz dieser Fragen und dieses Anliegens vollständig erkannt hat und mit dem notwendigen
Nachdruck arbeitet.
Dieses Zitat stammt aus der Rede meines Vorgängers in
diesem Amt aus der Bundestagsdebatte vom 29. März
1995. Leider trifft es nach wie vor den Punkt.
Lassen Sie uns gemeinsam an den notwendigen Korrekturen arbeiten, damit wir den Steuerzahlern guten
Gewissens sagen können: Wir gehen sparsam mit eurem
Geld um. Wir investieren es in Projekte, die für den
Fortschritt der Wissenschaft notwendig sind, für unsere
wirtschaftliche, gesellschaftliche und technologische
Entwicklung Sinn machen und deshalb Priorität erhalten
müssen. Das, meine Herren und Damen, nenne ich eine
rationale Politik auf dem Gebiet der Weltraumforschung. Dafür werbe ich um Unterstützung.
Vielen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Martin Mayer das
Wort, bitte sehr. - Sie dürfen dann antworten, Frau
Ministerin, wenn Sie möchten.
({0})
- Dürfen, nicht müssen!
Frau
Bundesministerin, Sie haben die Raumfahrtpolitik der
alten Bundesregierung in scharfer Weise kritisiert und
dabei auch mich als Mitglied der damaligen Regierungskoalition angesprochen. Das ist ja die alte Platte.
Dazu möchte ich drei Bemerkungen machen.
Erstens. Sie könnten den Haushalt, den wir in der
nächsten Sitzungswoche verabschieden, nicht so gestalten, wenn nicht die Regierung Kohl/Waigel
({0})
durch ihre solide Finanz- und Wirtschaftspolitik
({1})
die Grundlage dafür gelegt hätte, daß die Steuereinnahmen wieder besser sprudeln.
Zweitens. In der europäischen Raumfahrtpolitik gab
es gerade in den letzten zehn Jahren einen Umbruch zu
bewältigen, der beispiellos ist und der dadurch bedingt
ist, daß sich die Verhältnisse in der Welt gewandelt haben und daß Europa von einer autarken Weltraumpolitik
Abschied genommen und sich in die internationalen
Verbünde integriert hat.
Drittens. Es ist Aufgabe der Regierung, die Prioritäten im einzelnen zu setzen. Sie haben vorhin von Zukunftstechnologien und von der Zukunft in der Raumfahrt gesprochen. Es ist absolut unverständlich, daß sich
die Bundesrepublik Deutschland offenbar nicht an der
Fortführung der Entwicklung der zentralen Zukunftstechnologie der Raumtransportsysteme - ich meine die
wiederverwendbaren Systeme - beteiligt.
Sie reden von Zukunft, aber in Wirklichkeit verspielen Sie die Zukunft!
({2})
Frau Ministerin, Sie
möchten antworten? - Bitte sehr.
({0})
Ich bringe nur die notwendige Geduld
auf, die wir - das wissen Sie doch seit langem, Herr Hirche - bei dieser Technik haben müssen. Geduld muß
man in der Politik manchmal auch haben.
Herr Mayer, es ist falsch, wenn Sie sagen, die Bundesrepublik wolle sich nicht an der Weiterentwicklung
der Trägertechnologien beteiligen. Gerade weil ich das
will, habe ich Gespräche mit den Unternehmen, mit der
Wirtschaft, mit den Wissenschaftsorganisationen und
auch mit den europäischen Partnerländern geführt.
Leider ist es aber so, daß die alte Bundesregierung
keinerlei finanzielle Vorsorge für die Beteiligung an diesen Projekten getroffen hat. Deshalb muß ich dieses ungeordnete Erbe - dabei handelt es sich im übrigen um
das Zitat eines Unternehmens - jetzt ordnen. Ich glaube,
daß das gelingen kann und auch gelingen wird; denn ich
habe den Eindruck, daß alle Beteiligten bereit sind, dabei mitzumachen. Wir übernehmen unseren Teil der
Verantwortung. Die anderen Beteiligten - Wirtschaft,
ESA-Partner und Wissenschaftsorganisationen - müssen
ihren Teil der Verantwortung übernehmen.
Einen kleinen letzten Hinweis kann ich mir nicht verkneifen, Herr Mayer. Als Sie über das finanzielle Erbe
sprachen und sagten, wie gut dies geordnet sei, lachte
nicht nur die Koalition, sondern auch eine ganze Reihe
von Oppositionsabgeordneten.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: In diesem Feld habe ich
wirklich ein ungeordnetes Erbe vorgefunden. Es wird
sehr schwierig sein, dieses Erbe so zu ordnen, daß wir
wichtige Chancen nicht verspielen. Da ich dies verhindern möchte, haben wir diese Gespräche geführt. Daher
werde ich auch bei den ESA-Verhandlungen zu erreichen versuchen, daß wir zu einer Verständigung kommen, damit die Beteiligung an der Weiterentwicklung
der Ariane gewährleistet ist, damit wir uns an der Erdbeobachtung entsprechend beteiligen können - dies
halte ich ebenfalls für ein wichtiges Feld -, damit wir
das Wissenschaftsprogramm fortführen können und damit wir - so, wie ich es gesagt habe - in Zukunft wirklich ein verläßlicher ESA-Partner sind, und zwar nicht
nur auf dem Papier, sondern auch in der konkreten
finanziellen Planung.
Vielen Dank.
({1})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bündnis 90/Die Grünen stehen zur Raumfahrt. Sie
werden vielleicht staunen, meine Damen und Herren
von der Opposition. Wir sind nicht technikfeindlich, wie
Sie der Öffentlichkeit immer wieder weismachen wollen.
({0})
Allerdings - das unterscheidet uns von der blinden
Technikhörigkeit der vergangenen Jahrzehnte - haben
wir andere, sehr gut begründete Bewertungsmaßstäbe.
Andere Gewichtungen in der Raumfahrt werden uns
auch zu anderen Schwerpunktsetzungen bei der Mittelvergabe führen.
Unverzichtbar ist für uns die Erderkundung aus
dem Weltall.
({1})
Erdbeobachtungen von Satelliten geben uns umfassend
und dringend benötigte Daten für die Umweltveränderungen und die Umweltzerstörungen auf dieser Erde.
({2})
In Umweltkonferenzen, zum Beispiel zum Klimaschutz,
sind durch Satelliten gewonnene Daten eine wichtige
Verhandlungsgrundlage. Dieses Feld einfach anderen
Staaten zu überlassen hieße, die eigene Verhandlungsposition zu schwächen. Damit würde im Falle der jetzigen Bundesregierung ein bedeutender Anwalt der Umwelt in eine ungünstige Verhandlungsposition gebracht.
Auch die Landwirtschaft und die Entwicklungshilfe
profitieren in zunehmenden Maße von der Satellitentechnik. Die Grundlagenforschung für die Stillung des
menschlichen Wissensdurstes gibt wichtige Rückschlüsse auf die Stellung des Menschen im Universum. Spannende Fragen stellen sich bei der Erkundung des Planetensystems und beim Blick in die Tiefen des Alls. Besonders positive Beispiele astronomischer Grundlagenforschung sind das Weltraumteleskop Hubble oder der
neue Röntgensatellit. Allerdings ist bei der Stillung dieses Wissensdurstes darauf zu achten, daß wir das Leben
auf der Erde nicht gefährden.
Ein besonders negatives Beispiel, das die alte Bundesregierung mit zu verantworten hat, ist die Verwendung von Plutonium in Raumsonden. Cassini wird im
August beim Swing-by-Manöver um die Erde Leben auf
diesem Planeten gefährden. Die bestehende Gefahr einer
radioaktiven Verseuchung legt den Gedanken nahe, die
Sonde besser in die Sonne umzuleiten, als ein großes Risiko einzugehen. Es war schon unverantwortlich, diese
Sonde zu bauen und zu starten. Entweder hätte die alte
Bundesregierung auf Alternativantriebe setzen sollen
oder so lange warten müssen, bis adäquate Antriebe zur
Verfügung stehen.
Als Erblast der alten Bundesregierung hat die bemannte Raumfahrt einen finanziellen Stellenwert, der
ihr unter dem Gesichtspunkt des wissenschaftlichen
Nutzens nicht zusteht. Daran werden wir leider nichts
ändern können, da wir die völkerrechtlich verbindlichen
Verträge einhalten müssen. Angesichts knapper Haushaltskassen stehen alle Ausgaben unter einem hohen Legitimationszwang. Ausgaben mit geringer Nutzungseffizienz sind gegenüber dem Steuerzahler schwer zu rechtfertigen.
({3})
Der Bürger fordert mit Recht, daß sein Geld so sinnvoll wie möglich ausgegeben wird.
({4})
- Hören Sie nur zu! - Wir sollten daher jeden noch so
kleinen Spielraum nutzen, die Kosten für die Raumstation zu senken. Notfalls sollte auch zeitweise auf eine
Nutzung verzichtet werden, bevor man, etwas polemisch
ausgedrückt, anfängt, Astronauten Tischtennis spielen
zu lassen, um die Flugbahn des Balles unter der Bedingung der Mikrogravitation beobachten zu können.
({5})
Ich will damit nicht in Zweifel ziehen, daß es selbstverständlich auch in der Raumstation sinnvolle Forschung
gibt. Ich bin Ihnen, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, dankbar, daß Sie die Diskussion über die Zukunft der Weltraumfahrt mit Ihrem Antrag ein Stück weit
wieder in Gang gebracht haben. Aber leider geht Ihr Antrag in die falsche Richtung. Falsche Schwerpunktsetzungen der Vergangenheit sollen nochmals verstärkt werden.
Sie treten dafür ein, daß der Staat immense Summen in
die Weltraumtechnik investiert, die Industrie sich über
Geschenke der Politik freut und die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen nicht gestellt wird.
In der deutschen Raumfahrtpolitik hat es Tradition,
daß weitreichende Entscheidungen über Programme mit
langfristigen Bindungswirkungen auf unzureichender Informationsbasis gefällt wurden. Insbesondere das Parlament als eigentlicher Souverän verfügte allenfalls über
bruchstückhaftes und oftmals selektiv aufbereitetes Wissen. Dies wird die neue Bundesregierung ändern.
({6})
Es werden unter anderem Entscheidungen getroffen
über die Nutzung sowie den weiteren Ausbau der Raumstationen, über die Weiterentwicklung der Ariane-5Rakete, über die Entwicklung künftiger Raumtransportsysteme, was früher unter den Schlagworten „Hermes“
und „Sänger“ lief. Die Forderungen der ESA bergen erhebliche finanzielle Risiken, die die Bundesregierung
zum Glück für die Steuerzahler und die Forschungslandschaft nicht eingehen wird. Ich werde die Probleme im
folgenden einzeln ansprechen.
Die Raumstation hat aus forschungspolitischer Sicht
keine Priorität. Die Effizienz der eingesetzten Forschungsmittel ist gering. Von der Kernfusion vielleicht
abgesehen, gibt es wohl kaum einen Bereich, in dem für
jede Forschungsmark weniger Forschungsoutput erwartet werden kann.
({7})
Die Überlegungen der Bundesregierung, hier Kosten
einzusparen, werden daher von unserer Fraktion ausdrücklich begrüßt.
({8})
- Nicht vollständig. Wir wollen eine Senkung der
Mittel.
({9})
- Hören Sie zu, ich gehe weiter darauf ein. - Ich hoffe
sehr, daß die Entscheidung der alten Bundesregierung,
einen zu großen deutschen Finanzierungsanteil zu übernehmen, gemeinsam mit den europäischen Partnern
noch nach unten korrigiert werden kann.
So lautet meine Antwort: Wir sind nicht strikt dagegen; wir wollen nur geringere Mittel, eine Streckung
dieser Aufwendungen über einen längeren Zeitraum
hinweg, damit dieser Finanzierungsbuckel im wesentlichen in den Griff bekommen werden kann.
({10})
- Sie ist ja teilweise schon oben, wie Sie wissen.
Zur Ariane. Die staatliche Finanzierung der Weiterentwicklung sollte so gering wie möglich ausfallen. Es
ist zu begrüßen, daß die Regierung auch hier die Kosten
senken will. Die Industrie - da sind wir uns einig - muß
stärker an den Kosten beteiligt werden. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Ariane 4 Gewinne abwirft und die
Amerikaner die Finanzierung ihrer Trägersysteme mehr
und mehr privatisieren, sollte auch die europäische Industrie ihren Beitrag leisten und nicht nur die Hand aufhalten. Die Gegenfinanzierung der Forderungen in Ihrem Antrag ist vollkommen unklar. Bezeichnenderweise
ist davon in Ihrem Antrag auch gar keine Rede. Sicher
ist nur das eine, daß an anderer Stelle Forschungsmittel
eingespart werden müßten. 100 Millionen DM in der
Forschung einzusparen - so hoch läge nach Ihren Forderungen der jährliche Aufwuchs mindestens - hieße, daß
sinnvolle andere Forschungsmaßnahmen mit hoher
Wahrscheinlichkeit nicht durchgeführt werden.
({11})
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wollen, daß die Mittel für die Erderkundung gestrichen werden, dann sagen Sie das auch. Sagen Sie uns
aber wenigstens, wo Sie die Schwerpunkte in der Finanzierung setzen.
({12})
- Es geht angesichts knapper Haushaltsmittel einfach
nicht an, daß für einen Bereich ein übermäßiger Aufwuchs vorgesehen wird, der nicht finanzierbar ist.
({13})
Wir haben die Forschungsmittel erhöht und werden
sie sinnvoll auch in Technologien einsetzen, wo wir
einen Aufwuchs wünschen.
({14})
Ich nenne Ihnen beispielsweise neue Energieträger,
Brennstoffzellen und vieles andere mehr, was Sie ja
auch wünschen. Aber wo Sie die Mittel für die Gegenfinanzierung herbekommen, ist mir unklar.
({15})
Auf der Tagesordnung der Ministerratskonferenz
steht auch die Entwicklung weiterer Raumfahrttransportsysteme. Was sich hier so unscheinbar liest, ist
eigentlich - ich erwähnte es schon - die klammheimliche Wiederauferstehung der Raumtransporter Hermes
und Sänger. Mit gutem Grund wurden beide Projekte
nach einer intensiv geführten Diskussion in den 90er
Jahren bereits beerdigt. Nun soll es anscheinend ohne
Diskussion zu einem neuen Anlauf kommen. Mit der
unscheinbaren Bezeichnung Atmospheric Reatmospheric Administrator soll der Einstieg gelingen. Statt über
solche weitreichenden und unglaublich teuren Projekte
im vorhinein zu diskutieren und zu entscheiden, verfolgen Sie hier eine Salamitaktik. Schritt für Schritt soll an
die Transportsysteme herangegangen werden. Man
steigt mit ein paar Dutzend Millionen ein, geht dann auf
einige hundert Millionen und zielt auf einige Milliarden
ab. Wenn wir hier nicht aufpassen, werden die Kosten
steigen wie eine Rakete.
Hermes, der Traum der Franzosen, und Sänger, der
Traum deutscher Technokraten, dürfen nicht durch die
Hintertür eingeführt werden. Entweder will man diese
Systeme, dann soll man das auch laut sagen und zur
Diskussion stellen, oder man will sie nicht, dann soll
man auch kein Geld in sie investieren. Die Bundesregierung tut daher gut daran, hier keine Gelder zu verschwenden.
({16})
Bündnis 90/Die Grünen empfehlen der Bundesregierung, die Ausgaben für die bemannte Raumfahrt möglichst niedrig zu halten, um Spielräume für eine nachhaltige Forschungspolitik zu lassen. Konkret bedeutet
dies:
({17})
- Aber sehr.
({18})
- Aber nicht im Detail.
({19})
Die Bundesregierung sollte versuchen, einen degressiven Finanzierungsmodus für die Raumstation durchzusetzen, der eine jährliche Kürzung der Mittel um 5 bis
10 Prozent beinhaltet. Damit werden wir Anreize für
eine stärkere Anwendungsorientierung sowie für die
kommerzielle Nutzung der Raumstation geben.
Nach 16 Jahren Raumfahrtpolitik, die von übertriebenen und teuren Projekten geprägt war, ist es an der Zeit,
neue Akzente zu setzen. Im Sinne einer modernen Forschungs- und Innovationspolitik sollte die Bundesregierung einen Dialog mit Herstellern und Nutzern von
Raumfahrtsystemen initiieren, um auf diese Weise zukunftsfähige Szenarien für die Entwicklung und Nutzung von Raumfahrtechnik zu entwickeln. Ich weiß, daß
Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU und F.D.P., mir grundlos Technikfeindlichkeit
vorwerfen. Technik ist elementar, und dies gilt auch für
Teile der Weltraumfahrt. Wir wollen nur, daß die ForHans-Josef Fell
schungsmittel dort eingesetzt werden, wo sie helfen
können, Probleme zu lösen.
Folgende Felder der Weltraumforschung - ich
hatte sie eingangs bereits angerissen - halten wir für besonders wichtig: erstens die Atmosphären- und Klimaforschung, die wichtige Beiträge zur Diagnose von Klimaveränderungen oder auch zur Wettervorhersage beisteuern kann; zweitens die Erdbeobachtung, die unter
anderem zur Diagnose von ökologierelevanten Prozessen genutzt werden kann. Dort, wo Flugzeuge die Beobachtungstätigkeit effizienter gestalten können, sollten
diese aber Priorität haben, weil sie billiger sind.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Entwicklung von Solarbetrieben in Flugzeugen zur Erderkundung in den USA hinweisen. Es ist grundsätzlich
sinnvoll, die Nutzer an den Kosten zu beteiligen. Im
Falle des BMU und BMZ bestehen aber keine finanziellen Spielräume, um die mitunter hohen Kosten dekken zu können. Hier muß die Bundesregierung insgesamt Vorsorge leisten und darf nicht einfach eine Mittelverschiebung vom Forschungsministerium zum Umweltministerium verlangen. Ansonsten besteht die Gefahr, daß die Erdbeobachtung und Klimaforschung nicht
mehr finanziert werden können.
Drittens. Die extraterrestrische Forschung, die zur
Erweiterung unseres Wissens über unser Planetensystem
und den Weltraum beiträgt, halten wir für nötig. Das
Wissensbedürfnis des Menschen in diesem Bereich ist
so tiefgehend, daß es ein Armutszeugnis wäre, auf dieses Engagement zu verzichten.
Ich denke, wir vom Bündnis 90/Die Grünen halten
die Raumfahrt für wichtig und zukunftsträchtig. Die
Schwerpunkte müssen allerdings am Nutzen für die
Menschheit ausgerichtet werden. Daher werden wir den
Antrag der CDU/CSU für ein undifferenziertes Fordern
nach dem technisch Machbaren, ohne daß Sie sich Gedanken gemacht hätten, wo angesichts knapper Haushaltskassen sinnvolle Schwerpunkte zu setzen wären,
({20})
nicht unterstützen. Statt dessen werden wir Frau Bulmahn in ihrem Bemühen unterstützen, die Raumfahrtpolitik der neuen Bundesregierung effizienter auszurichten, als es in den letzten zehn Jahren geschehen
ist.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({21})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Jürgen Möllemann, F.D.P.Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hatte bereits am 2. März dieses Jahres die
Bundesregierung aufgefordert, die Leistungen an die
europäische Weltraumorganisation im Haushaltsplan
1999 um 50 Millionen DM zu erhöhen. Der Antrag der
CDU/CSU folgt dieser parlamentarischen Initiative der
F.D.P. Das begrüße ich naturgemäß.
({0})
Ich hoffe, daß dem auch entsprochen wird.
Es ist jetzt gerade wieder deutlich geworden, natürlich auch durch die Publikationen in den vergangenen
Wochen und durch Einlassungen mehr oder weniger direkter Art in den Ausschüssen - ich denke an den geschätzten Kollegen Fischer, der uns gleich noch seine
Besorgnisse vortragen wird -, daß es bei dem Thema,
um das es hier geht, innerhalb der rotgrünen Regierung
und der Koalition doch beachtliche Meinungsverschiedenheiten gibt. Herr Fell, auf eine solche Aussage, daß
Sie die Ministerin sehr, aber nicht im Detail unterstützen, muß man erst kommen. So kann man es auch sagen.
Das ist, glaube ich, das Leitmotiv dieser Tage, von Frau
Altmann über Herrn Trittin bis zu Ihnen, daß Sie die
Ministerin sehr unterstützen, aber leider nicht im Detail.
({1})
- Es wird noch schlimmer. Wollen Sie das noch näher
erklären?
Frau Bulmahn hat zu Beginn ihrer Ministerzeit bedauert, daß sich die frühere Entscheidung nicht rückgängig machen ließe, einen erheblichen Teil der verfügbaren Mittel in die bemannte Raumfahrt zu stecken.
Sie haben, Frau Bulmahn, keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß Sie jedenfalls von der bemannten
Raumfahrt nichts halten, auch wenn Sie heute angefangen haben, nach dem Motto „Und sie bewegt sich doch“
hier argumentativ als Raumgleiter in Erscheinung zu
treten.
({2})
Bei der feierlichen Übergabe des ersten Raumfahrtlabors Spacelab am 16. April hat der Bundeskanzler versprochen, daß die Bundesregierung gegenüber der bemannten Raumfahrt „alle internationalen Verpflichtungen, die wir eingegangen sind, auch erfüllen wird“ nicht einige und das eine oder andere Detail nicht, sondern alle. Deswegen wird er sich entscheiden müssen,
ob er sein Versprechen halten will, das er gegeben hat,
oder seine Ministerin.
({3})
- Es geht nicht, daß man sich im Rahmen von internationalen Konferenzen oder feierlichen Anlässen ohne
Wenn und Aber - manchmal auch ohne Wenn und „Laber“ - hinter bestimmte Verpflichtungen stellt und dann,
wenn es konkret wird, davon spricht, im Detail meine
man das nicht ganz so. Das beschädigt unsere Interessen.
({4})
Frau Kollegin Bulmahn, die Weltraumforschung,
auch die bemannte Weltraumfahrt, ist - um Sie zu zitieren - kein „Spielzeug für große Jungs“,
({5})
sondern ein Kernbereich unserer zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit in vielen Bereichen, zum Beispiel in der
Satellitenkommunikation und Satellitennavigation.
Sie hat auch für unsere Sicherheitspolitik eine strategische Bedeutung.
Wir sind in diesen Tagen beispielsweise im Kosovo wir diskutieren darüber manchmal ein wenig verklausuliert - auf die Aufklärung unsererseits durch langsam
fliegende Drohnen angewiesen. Amerika hat ganz andere Übersichtsmöglichkeiten. Ich habe auch nach den
Einlassungen von Verteidigungsminister Scharping das
Gefühl, daß eben doch nicht alle über die gleichen Informationen verfügen können. Europa ist trotz aller
Loyalität im Bündnis gut beraten, sich den gleichen
Erkenntnisstand selbst zu verschaffen. Das geschieht
parallel zur Umsetzung der Idee einer europäischen
Sicherheitspolitik.
({6})
Die Wettbewerbsfähigkeit wird in Zukunft immer mehr
davon abhängen, wer auf der Welt einen Informationsvorsprung hat. Das gilt nicht nur für fast alle Wirtschaftsbereiche, sondern auch für die Sicherheitspolitik.
Deswegen hat sie einen so hohen Stellenwert.
Herr Fell, ich denke, es war nicht Ihre Absicht, aber
Sie haben indirekt darauf hingewiesen, was Ihr Problem
und das Ihrer ganzen Koalition ist. Sie haben versprochen - Ihr größerer Partner mehr als Sie, aber Sie indirekt auch - und für die Zeit nach den Wahlen angekündigt, Sie würden die Mittel für investive Aufgaben, die
Zukunftsinvestitionen im Bereich von Bildung und Forschung, verdoppeln. Wenn der Bereich, von dem wir
jetzt sprechen, keine Zukunftsinvestition im Sinne Ihrer
Definition ist, dann wüßte ich gerne, was eine
Zukunftsinvestition ist.
Sie sind überhaupt nicht auf dem Wege, Mittel in diesem Bereich zu verdoppeln. Sie sagen sogar, wer in diesem Bereich eine Erhöhung der Mittel fordere, müsse in
anderen Bereichen des gleichen Komplexes kürzen. Das ist doch keine neue Prioritätensetzung.
({7})
Wenn Sie das gemeint haben, als Sie Ihren Wählerinnen
und Wählern gesagt haben: „Wenn wir an der Regierung
sind, werden wir die Mittel für Zukunftsinvestitionen im
Bildungs- und Forschungsbereich verdoppeln“ und Sie
jetzt die Mittel innerhalb dieses Bereichs nur hin- und
herschieben, dann ist das nicht in Ordnung. Das ist unredlich.
Wir werden Sie auf jedem anderen Gebiet immer
wieder an Ihr Versprechen erinnern müssen. Man kann
nicht mit einem an die Jugend, an die Wissenschaft und
an die Forschung gerichteten Versprechen die Wähler
für sich gewinnen und anschließend nur mit Ausreden
kommen.
({8})
- Sie haben dieses Versprechen gegeben. Sie werden
daran gemessen. Kommen Sie doch nicht damit, zu sagen: Andere haben dies und jenes getan. - Das haben
Sie doch kritisiert. Sie halten sich nicht an Ihr Versprechen. Herr Fell war so freundlich, direkt darauf hinzuweisen und zu sagen, jedwede Steigerung in dem hier
zur Rede stehenden Bereich müsse im Bildungs- und
Forschungsetat zu Kürzungen führen. Das ist Kraftlosigkeit. Das ist außerdem Unredlichkeit angesichts dessen, was Sie angekündigt haben.
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
Aber selbstverständlich.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Lieber Herr Kollege Möllemann,
halten Sie eine Erhöhung der Mittel in diesem Jahr im
Bildungs- und Forschungsbereich um rund 900 Millionen DM tatsächlich für unredlich angesichts dessen, daß
in den letzten Jahren unter Ihrer Regierungsverantwortung keine Erhöhung, sondern eine Kürzung stattgefunden hat und daß die neue Regierung hiermit ein herausragendes Signal gesetzt hat, das in dieser Form in den
letzten Jahren nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen war?
({0})
Frau Präsidentin,
ich möchte mich kurz vergewissern: Ich habe doch die
Geschäftsordnung richtig in Erinnerung, daß eine solche
Frage und meine Antwort darauf nicht auf meine Redezeit angerechnet werden?
({0})
- Das ist gut. Deswegen möchte ich Ihre Frage gründlich beantworten.
Es sei denn, daß Sie
Ihre Ausführungen so unendlich ausdehnen, daß ich
meine, die Frage sei beantwortet. Im Moment haben Sie
die Chance, die Frage zu beantworten, Herr Kollege.
Albert Einstein,
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat
einmal gesagt: Es gibt zwei Dinge auf dieser Welt, die
unendlich sind, die menschliche Dummheit und das
Weltall. Beim letzteren bin ich mir nicht mehr so ganz
sicher. Ich werde die Beantwortung nicht unendlich ausdehnen.
Zu Ihrer Frage, Herr Kollege: Sie wissen, daß der
Haushalt, den wir im Mai in zweiter und dritter Lesung
verabschieden werden, wenn Sie alle in den zuständigen
Ausschüssen getroffenen Entscheidungen berücksichtigen, natürlich nicht auch nur ansatzweise eine Steigerung der Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung in einer Größenordnung von etwa 20 Prozent
vorsieht. Etwa die müßten es sein, wenn Sie die Ausgaben in einer Legislaturperiode verdoppeln wollen.
Wir werden, wenn die Bereinigungssitzung, die heute
stattfindet, berücksichtigt wird, nach dem, was ich höre,
eine Steigerungsrate von maximal etwa 5 Prozent haben.
Das sind zwar 5 Prozent Steigerung, aber diejenigen, die
eine Verdoppelung in einer Legislaturperiode versprochen haben, wissen, daß viermal fünf Prozent 20 Prozent
sind. Wir haben dieses Versprechen doch nicht gegeben.
Sie haben es gegeben, Sie haben damit Wähler gefangen, und Sie schleichen sich jetzt davon!
({0})
Sie können doch nicht sagen: Ein kleines Hügelchen
ist auch ein Hügelchen. Das beeindruckt doch niemanden.
({1})
- Nein, ich bin schon zu lange dabei, als daß ich Ihnen
diese Bauernfängertricks noch durchgehen lassen könnte. Sie müssen sich schon an Ihren eigenen Worten und
Versprechungen messen lassen.
({2})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die
europäische Weltraumorganisation ESA möchte in den
Jahren 1999 bis 2006 insgesamt 11,8 Milliarden DM in
Raumfahrtvorhaben investieren, jeweils ein Drittel für
anwendungsbezogene Vorhaben, Startsysteme und wissenschaftliche Projekte. Ich glaube, es besteht in der Tat
ein außerordentliches politisches, strategisches und wirtschaftliches Interesse, die wissenschaftliche und industrielle Kompetenz Europas in diesen Feldern zu sichern
und auszubauen. Ein falsches politisches Signal aus
Deutschland darf nicht dazu führen, daß solche gesamteuropäischen Projekte scheitern.
Mir ist aufgefallen, daß unser Kollege Fischer im
Ausschuß ein großes Interesse daran hatte, daß wir uns
im Ausschuß mit diesem Thema noch vor der Konferenz
am 11. und 12. Mai beschäftigen. In seiner Einlassung
war er von der Sorge geprägt - so einfühlsam bin ich
ihm gegenüber natürlich, weil ich ihn schon so lange
kenne -, daß sich da ein falscher Trend abzeichnen
könnte. Als ich dann die Äußerungen von Gerhard
Schröder gelesen habe: Mit mir nicht, und wenn nötig,
werde ich das auch der zuständigen Ministerin vermitteln, habe ich mir gedacht, es muß offenbar eine Besorgnis geben, die Fischer und Schröder verbindet.
Sie versuchen, hier so zu tun, als gäbe es den Disput
gar nicht. Frau Bulmahn, Sie wollten eine andere Linie,
als in der Aussage des Kanzlers zum Ausdruck kommt:
Wir werden alle eingegangenen Verpflichtungen einhalten. Darauf hingewiesen zu haben ist das bleibende
Verdienst des Kollegen Fischer, das bleibende Verdienst
dieser Debatte. Hier können Sie sich nicht davonstehlen.
({3})
Es muß sichergestellt werden, daß für die Beteiligung
am europäischen Raumstationsentwicklungsprogramm
2,5 Milliarden DM zur Verfügung stehen, daß die Weiterentwicklung der Ariane 5 mit und nicht ohne
Deutschland sichergestellt wird, daß der Aufbau eines
europäischen satellitengestützten Navigationssystems
nicht gefährdet wird und daß eine angemessene Beteiligung Deutschlands am Erdbeobachtungsprogramm der
ESA möglich ist.
Eine letzte Bemerkung: Ich möchte natürlich auch
gern - ich glaube, darauf könnte sich in der Tat ein Konsens zwischen Koalition und Opposition, jedenfalls was
die F.D.P. angeht, erstrecken -, daß man methodisch
ähnlich wie beim Airbus-Programm sagt: Dort, wo der
Staat mit erheblichen Mitteln hilft, daß profitable Zukunftsentwicklungen möglich werden, soll derjenige, der
davon profitiert, später in besonderer Weise Rückzahlungen leisten und mit dazu beitragen, daß neue zukunftsorientierte Wege wieder finanziert werden können. Subventionen, die zweckgebunden, zielgerichtet,
zeitlich begrenzt und, wo durch Ertrag möglich, rückzahlbar sind, haben einen anderen Charakter. Darüber
sollten wir uns verständigen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Thomas Rachel, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die neue
Forschungsministerin Edelgard Bulmahn hat bei ihrem
Amtsantritt vollmundig erklärt, daß sie die Rolle von
Forschung und Entwicklung stärken will.
({0})
Doch die deutsche Raumfahrt merkt nichts davon. Im
Gegenteil: Bereits in der ersten Sitzung des Forschungsausschusses haben Sie, Frau Ministerin Bulmahn, erklärt, daß Sie es für falsch halten, viel Geld für die bemannte Raumfahrt auszugeben. Damit haben Sie in der
Raumfahrtpolitik bewußt einen politischen Richtungswechsel gegenüber Ihrer Vorgängerregierung vorgenommen. Die alte Regierungskoalition stand hinter der
Raumfahrt, weil sie eine strategisch wichtige Industrie
für unser Land ist; das ist auch richtig so. Die Tatsache,
daß Ihre Bundestagskollegen Bodo Seidenthal und Lothar Fischer einen Brandbrief an den Kanzler geschrieben haben, weil sie vor den falschen Entscheidungen
dieser Regierungskoalition warnen wollten, zeigt, daß
Sie auf dem Irrweg sind.
({1})
Nun versuchen Sie, Ihrem Vorgänger Fehler unterzuschieben. Damit lenken Sie aber nur von Ihren eigenen
politischen Fehlentscheidungen ab. Die Raumfahrt ist
der einzige Bereich im Forschungshaushalt, in dem es
erhebliche Kürzungen gegeben hat. Der frühere Forschungsminister Rüttgers hatte im Haushaltsentwurf für
1999 1 Milliarde DM für die ESA vorgesehen. Diese
Mittel hat Rotgrün um 30 Millionen DM auf 970 Millionen DM gekürzt. Rüttgers hatte für den nationalen
Raumfahrthaushalt 326 Millionen DM vorgesehen. Mit
dem Rotstift haben Sie 16 Millionen DM gestrichen.
Das heißt, die erste Amtshandlung der neuen rotgrünen
Bundesregierung besteht darin, die Raumfahrtmittel um
insgesamt 46 Millionen DM zu streichen. Genau das
kritisieren wir.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilsberg?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Hilsberg, bitte.
Herr Kollege Rachel, Sie
operieren hier mit Scheinzahlen. Ich möchte Sie bitten,
zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie in der Zeit, als Sie an
der Macht waren, als Sie an der Regierung waren, den
Etat für die Raumfahrt Jahr für Jahr systematisch herruntergefahren haben. Wir haben es jetzt das erste Mal
mit unserer Regierung geschafft, den Etat zu verstetigen,
wodurch eine verläßliche Grundlage für Raumfahrtpolitik überhaupt geschaffen wurde, verläßlicher als zu Zeiten, in denen Sie an der Regierung waren. Die Zahlen,
mit denen Sie operieren, sind reine Planzahlen. Das war
Wahlkampf. Ich bitte Sie, zur sachlichen Arbeit hier im
Bundestag zurückzukehren.
({0})
Das sollte er eigentlich in Form einer Frage sagen. Das ist so gerade noch
gelungen, Herr Kollege. - Bitte sehr, Herr Kollege Rachel.
Ich bin mir sicher,
daß die Präsidentin, die gerade so großzügig festgestellt
hat, daß das eine Frage war, mindestens so großzügig
sein wird, wenn ich versuche, das zu beantworten.
({0})
Nein, Herr Kollege
Hörster, das stimmt nicht.
Sie haben das Wort, Herr Rachel. Bitte sehr.
Ich bedanke mich. Lieber Herr Kollege Hilsberg, Sie haben von Scheinzahlen gesprochen. Meine Damen und Herren, liebe
Freunde,
({0})
liebe Kolleginnen und Kollegen des Bundestages, muß
sich nicht jede Regierung, unabhängig von ihrer parteipolitischen Färbung, an den Zahlen für einen Haushalt
messen lassen, die entweder von ihr selbst oder von ihrer Vorgängerregierung vorgelegt wurden?
({1})
Jawohl, so ist es. Das ist ein Faktum. Ich habe die Zahlen dabei und kann sie Ihnen zeigen. Ich meine, Sie
sollten dazu stehen. Der Haushaltsentwurf für 1999 von
Jürgen Rüttgers hat für die ESA 1 Milliarde DM vorgesehen; Sie kürzen um 30 Millionen DM auf 970 Millionen DM. Das ist das Faktum. Das ist eine Kürzung. Das
ist ein Minus.
({2})
Das erinnert mich an „brutto/netto“. Sie haben damit
Ihre Erfahrungen.
Im nationalen Raumfahrthaushalt - ich beantworte
noch immer Ihre Frage, Herr Hilsberg - haben Sie von
326 Millionen DM auf 310 Millionen DM gekürzt, also
um 16 Millionen DM. Auch das ist eine eindeutige Kürzung. Das Ganze haben Sie vor dem Hintergrund gemacht, daß Forschungsministerin Bulmahn in den verschiedensten Bereichen von Bildung und Forschung in
diesem Jahr 800 Millionen DM mehr ausgeben kann,
Herr Kollege Hilsberg, wozu wir Ihnen gratulieren können.
({3})
Aber ist es nicht wahr, daß die Raumfahrt am Haushalt
von 15 Milliarden DM rund 10 Prozent ausmacht? Wäre
es dann nicht naheliegend, daß Sie bei den Haushaltssteigerungen von 800 Millionen DM 10 Prozent, sprich:
80 Millionen DM, mehr für die Raumfahrt ausgeben?
Das tun Sie aber nicht. Das kritisieren wir.
({4})
Das zeigt: Sie haben ein gestörtes Verhältnis zur
Raumfahrt. Sie geben ein falsches politisches Signal,
auch gegenüber den internationalen Partnern. Sie wollen
die Raumfahrt austrocknen. Nachdem uns die neue
Bundesregierung schon in der Energiepolitik um jedes
Ansehen gebracht hat, ist Rotgrün dabei, das gleiche
auch in der Raumfahrtpolitik zu machen. Das ist ein falscher Politikansatz.
({5})
Nun klagt Frau Bulmahn über mangelnden finanziellen Handlungsspielraum. Das ist im Bereich der Raumfahrt unglaubwürdig. Denn der Mangel ist politisch gewollt. Stolz verweisen Sie - ich kann es nur noch einmal
sagen - auf die Steigerung des Gesamthaushaltes um
800 Millionen DM. Im Bereich der Raumfahrt lassen Sie
die Steigerung nicht nur unter den Tisch fallen, sondern
Sie kürzen. Das werden wir kritisieren.
Im gleichen Atemzug kritisieren Sie die eingegangenen Verpflichtungen für den Bau der Raumstation. In
der Presse finden wir, auch im Vorfeld der Ministerratskonferenz, nicht ein einziges positives Wort von Ihnen
zu dem Bau der Raumstation. Sie haben gerade sogar
von „Fehlentwicklungen“ auf der Ministerratskonferenz
1995, wo der Bau der Station beschlossen wurde, gesprochen. Das ist schon ein starkes Stück. Denn die SPD
hat, übrigens im Gegensatz zu den Grünen, zusammen
mit der damaligen christlich-liberalen Regierungskoalition im Parlament dem Regierungsabkommen für die
internationale Raumstation zugestimmt. Sie haben richtig gehört: Sie haben ihm zugestimmt. Darüber hinaus
heißt es in dem Antrag der SPD-Fraktion vom 5. März
1996, Drucksache 13/3974 - ich zitiere -:
Die Entscheidungen, die die ESA-Mitgliedstaaten
Ende 1995 getroffen haben, werden vom Bundestag
grundsätzlich begrüßt. Sie sind geeignet, der Wissenschaft und der Industrie die nötige Planungssicherheit zu vermitteln.
Wer damals dem Projekt einer internationalen Raumstation zugestimmt hat, heute aber davon nichts mehr
wissen will, der macht sich unglaubwürdig.
({6})
Die Raumstation wird sich nicht vollständig kommerziell tragen - das wußten wir -, aber sie ist eine globale
Zusammenarbeit auf internationaler Forschungsebene.
Die internationale Raumstation ist aber auch eine Art
Friedensdividende des beendeten kalten Krieges. Denn
diejenigen Ingenieure, die vor zehn Jahren an den
sowjetischen Atomraketen gearbeitet haben, bringen
heute ihr Know-how für diese friedliche Raumstation
ein.
Frau Bulmahn, nehmen Sie sich doch einmal ein Beispiel an
Wo waren
Sie eigentlich in Bremen? Früher haben Forschungsminister mit dem Kanzler zusammen die Raumfahrt besucht. Der Bundeskanzler hat in Bremen die Raumfahrt
als Beispiel für globale Zusammenarbeit gewürdigt. Mit
Blick auf die Raumstation hat er - ich zitiere - festgestellt: „Die einstigen Blöcke sind Partner geworden.“
Die Raumfahrt, so Schröder, trage zur politischen Stabilisierung der internationalen Situation bei. Was hören
wir von der Forschungsministerin? „Es geht nicht darum, was den großen Jungs Spaß macht, sondern darum,
was allen nutzt“, sagte sie stolz dem Wochenmagazin
„Focus“.
Lassen Sie mich in aller Deutlichkeit sagen: Raumfahrt ist nicht das überteuerte Spielzeug altgewordener
Jugendlicher. Ihre vor allem gegen die Raumstation
zielende Äußerung ist schon eine ziemliche Frechheit.
Sie ist eine Verhöhnung unserer deutschen Astronauten
Ulf Merbold und Thomas Reiter,
({0})
die bereits auf der MIR-Station wichtige Vorarbeiten
geleistet haben. Sie ist ein Affront gegenüber den Wissenschaftlern, die in diesem Bereich tätig sind, und sie
ist eine Beleidigung der DASA-Mitarbeiter in Bremen,
die diese Raumstation bauen.
Bundeskanzler Schröder hat im Gegensatz dazu die
DASA-Beschäftigten gelobt - ich zitiere aus seiner
Rede -: „Sie können stolz darauf sein, ,Columbus‘ machen zu dürfen.“ Zugleich polemisieren Sie gegen den
Bau dieser Raumstation. Diese Doppelstrategie werden
wir nicht durchgehen lassen.
({1})
Die Unionsfraktion erwartet von der rotgrünen Bundesregierung, daß sie das Nutzungskonzept der Raumstation weiterentwickelt und die finanziellen Voraussetzungen dafür schafft, daß sich Deutschland an der Nutzung angemessen beteiligen kann. Es darf doch nicht die
widersinnige Situation entstehen, daß wir Deutschen uns
zwar am Bau der Station beteiligen, aber vom Boden aus
zusehen müssen, wie die Japaner, die Russen, die Kanadier, die Franzosen und die Italiener das von Deutschen
mitfinanzierte Weltraumlabor nutzen.
Wir wollen die enge Kooperation mit Frankreich
im Bereich der Ariane-5-plus-Programme fortsetzen.
Wir sind für das Erdbeobachtungsprogramm der ESA
und möchten, daß sich Deutschland in einer Art und
Weise beteiligt, daß die Übernahme von Systemführerschaften für unsere Industrie möglich ist, weil dadurch
Arbeitsplätze gesichert werden. Deutschland soll sich in
zukunftsträchtigen Technologieprogrammen engagieren,
die auf kommerzielle Raumfahrtanwendungen in der
Tele- und Breitbandkommunikation zielen.
Für eine sachgerechte Vorbereitung der Nutzung der
Raumstation ist auch die Fortführung der ESA-Mikrogravitationsaktivitäten unter deutscher Beteiligung erforderlich. Wenn ich mir die Beratungen im BMBF, die
Versuche der Bundesregierung anschaue, das ESAWissenschaftsprogramm aufzuweichen, dann sage ich
ganz deutlich: Sie sind zu beenden.
({2})
Denn gerade das Wissenschaftsprogramm ist eine zutiefst staatliche Aufgabe, bei der in der Bundesrepublik
Deutschland wir Politiker gefordert sind. Hier stehen wir
in der Pflicht, und wir sollten diese europäische Zusammenarbeit fortsetzen.
({3})
Interessant ist das große Interesse unserer europäischen Partner an Technologieprogrammen für wiederverwendbare Träger; Kollege Mayer hat es angesprochen. Es ist ökonomisch und ökologisch sinnvoller, wiederverwendbare Trägerraketen zu benutzen. Es wäre
doch geradezu ein Treppenwitz, wenn sich die Bundesregierung unter Beteiligung der Grünen für die Einwegversion Ariane und gegen die Mehrwegversion einer
wiederverwendbaren Trägerrakete ausspräche. Steigt
Deutschland aus, verbaut es seine Zukunftschancen auf
diesem wichtigen Feld. Herr Fell, hier sind Sie von den
Grünen mit gefordert. Zeigen Sie in dem Bereich einmal
Flagge!
({4})
Sehr geehrte Damen und Herren, Zitat: Sackgasse ins
All. So betitelte das Wochenmagazin „Focus“ einen Artikel über die Forschungs- und Raumfahrtpolitik von
Frau Bulmahn. Sackgasse ins All: Der Satz sagt deutlich, was Ihrer Weltraumpolitik fehlt, nämlich eine in
die Zukunft gerichtete Vision, die über kurzfristiges Abarbeiten eingegangener Verpflichtungen hinausgeht.
({5})
Das ist kein politischer Luxus. Hier geht es um die technologische Kompetenz unserer Industriegesellschaft und
um die Innovationsfähigkeit Deutschlands. Wenn wir
uns von strategischen Optionen abschneiden, wird unser
Land im 21. Jahrhundert den Anschluß an die Zukunft
verpassen. Das hat übrigens nicht nur Auswirkungen auf
uns, sondern auf ganz Europa, wenn durch Einsparungen
am falschen Platz gemeinsame Projekte, beispielsweise
bei den ESA-Programmen, platzen: Arbeitsplätze gehen
verloren; die kommerzielle Nutzung neuer Weltraumprojekte, unser wichtiges gemeinsames Anliegen, würde
ohne uns stattfinden.
Unser Fazit ist: Die Bundesregierung darf nicht als
Bremser der europäischen Raumfahrt auftreten, und
deswegen erwarten wir von Ihnen eine andere Politik.
Herzlichen Dank.
({6})
Nun hat das Wort
der Kollege Lothar Fischer.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Thomas Rachel, ich hätte es ja begrüßt, wenn die CDU/CSU, als sie
noch in der Regierungsverantwortung war, eine Planung
vorgelegt hätte, die ihrem heutigen Antrag gerecht geworden wäre. Das war aber nicht der Fall.
({0})
Das sagt alles über die Ernsthaftigkeit Ihres Antrages.
({1})
Vorhin ist erwähnt worden, daß Bodo Seidenthal und
ich einen Brief an den Bundeskanzler geschrieben haben. Dazu sage ich: Selbstverständlich haben wir das
getan.
({2})
In diesem Brief haben wir darauf hingewiesen, welche
Konsequenzen es für andere wichtige Projekte hat, wenn
so viel Geld bis zum Jahre 2003 für Zwecke der internationalen Raumstation gebunden ist. Das waren die
Punkte. Wir haben dabei auch einige Projekte angesprochen, wie zum Beispiel die Ariane. Dazu werde ich aber
nachher noch kommen.
({3})
Ich möchte allerdings zu deinem Beitrag, lieber Thomas, etwas sagen, weil du aus unserem Antrag vom
März 1996 zitiert hast, der übrigens einstimmig von allen Arbeitsgruppen und einstimmig von der Fraktion beschlossen worden ist. Du hast eine Passage zur Station
zitiert, du hast aber verschwiegen, welche Voraussetzungen dort auch noch genannt werden, daß nämlich andere wichtige Programme finanziell nicht erdrückt werden dürfen, zum Beispiel das nationale Weltraumprogramm. Wir alle waren uns darin einig, daß das nationale Weltraumprogramm nicht so stark zurückgefahren
werden darf. Dafür haben wir früher 40 Prozent der gesamten Mittel für das Raumfahrtprogramm aufgewendet, und heute sind es noch 20 Prozent. Das ist Ihrer
Politik zu verdanken. Im übrigen ist das Parlament nicht
gefragt worden, ob es mit dieser prozentualen Zahl einverstanden ist. Wir waren dafür, daß sich Deutschland
an der Station beteiligt, weil wir für eine internationale
Kooperation waren. In der CDU waren doch welche dagegen - nicht die F.D.P. -, die gesagt haben: Das russische politische System ist instabil, und die technischen
Systeme sind nicht kompatibel.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Möllemann?
Ja.
Herr Möllemann,
bitte sehr.
Frau Präsidentin,
ich möchte den Kollegen Fischer fragen: Habe ich Sie
jetzt richtig verstanden, daß Sie zusammen mit dem
Kollegen Seidenthal den Brief an den Bundeskanzler geschrieben haben, weil Sie über die CDU/CSU beunruhigt waren, oder könnte es so sein, daß Sie den Brief an
Ihren Bundeskanzler und Parteivorsitzenden geschrieben
haben, weil Sie die stille Sorge beschlichen hat, daß die
seinerzeit einmütige Haltung, wie sie in Arbeitsgruppen,
Arbeitskreisen und Fraktion einstimmig - Sie haben, als
Sie daran erinnerten, ja auch in die richtige Richtung
geguckt - beschlossen wurde, jetzt von Teilen der Sozialdemokratie in Frage gestellt wird? Kann es sein, daß
dieser Eindruck richtig ist?
Sie hätten gern
ein klares Ja auf diese Frage. Ich muß Sie leider enttäuschen.
({0})
Ich bin seit 1980 hier im Bundestag und dort unter anderem Berichterstatter für Luft- und Raumfahrt. Wenn
man sich so lange mit einem Thema beschäftigt, hat man
in der Sache ein bißchen mehr Detailkenntnisse als andere, die das nicht tun. Für Bodo Seidenthal trifft das
genauso zu. Aus diesem Grund haben wir schon eine
Vorwarnung
({1})
oder eine sachliche Hintergrundinformation aussprechen
wollen. Das ist ja auch völlig legitim.
({2})
- Was ihr mit dem „Zukunftsminister“ Rüttgers erlebt
habt, darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
Wir wissen, daß an der Raumfahrtindustrie mittelbar
100 000 Arbeitsplätze hängen, direkt etwa 6 000. Wir
sind der Ansicht, Raumfahrt kostet nicht nur Geld, sondern sie bringt auch Geld und schafft, was wir brauchen:
Arbeitsplätze. Sie entfaltet mittlerweile eine starke
Breitenwirkung. Deshalb gilt für meine Fraktion, daß die
wissenschaftliche, technologische und industrielle Kompetenz erhalten und ausgebaut werden muß. Die Raumfahrt hat sich an Programmen zu orientieren, die eine
wissenschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung vorweisen. Sie ist Dienstleistung.
Am 11./12. Mai findet die Ministerratskonferenz
statt, die über die weiteren Ziele der europäischen
Raumfahrt entscheiden wird. Sie findet zu einer Zeit
statt, die für uns sehr schwierig ist. Über den maroden
Haushalt, den die neue Regierung übernommen hat, ist
ja vorhin von dem Kollegen Mayer schon einiges ausgesagt worden. Die Regierung Kohl hat im Raumfahrtbereich Entscheidungen getroffen, die bewirken, daß in
den Etats bis zum Jahr 2003 wenig Spielräume für eine
innovative Politik vorhanden sind.
({3})
Im Gegenteil: Andere Länder haben finanziell Luft, so
zum Beispiel Frankreich, Italien oder auch Belgien.
Frankreich beteiligt sich mit 27 Prozent an der Raumstation, die Deutschen mit 41 Prozent. Da liegt mit ein
Grund, warum diese Länder mehr Luft für andere hervorragende Projekte haben.
Ursprünglich wurde von einigen eine umfassende europäische Autonomie im Weltraum angestrebt. Auf
diesem Trip sind Sie ja lange gewesen, obwohl alle anderen erkannt haben, daß das eine anachronistische Forderung ist. Dann wurde das Raumfahrtprogramm nach
und nach abgespeckt: keine Planung, keine Strategie.
Nicht umsonst hat die Regierung Kohl seit 1986 die
Vorlage des 5. Weltraumprogramms immer wieder hinausgezögert und letztendlich abgelehnt. Bis heute haben
wir noch keine Fortschreibung des 4. Weltraumprogramms.
Die Folgen dieser Politik bekommen wir jetzt zu spüren. Die Kritik der Opposition an dem Haushaltstitel ist
also mehr als unredlich. Seit Jahren haben Sie diesen
Etat einerseits als Steinbruch mißbraucht, andererseits
sind Sie kostspielige langfristige Verpflichtungen eingegangen. Der ESA-Titel ist von 1,3 Milliarden DM im
Jahr 1993 auf 970 Millionen DM im Jahr 1998 heruntergefahren worden. Diese 330 Millionen DM, ohne Berücksichtigung eines Inflationsausgleichs, fehlen pro
Jahr.
Thomas Rachel war früher ein vehementer Befürworter der Raumfahrt. Einige haben ihm in dieser Frage
aber systematisch das Rückgrat entfernt.
Was müssen wir also tun? Wir müssen uns in der
Raumfahrtpolitik umorientieren. Erstens. Wir wollen
mehr Raumfahrt fürs Geld. Die Strukturen, vor allem in
der ESA, sind neu zu überdenken. Dies wird schon fast
so lange gefordert, wie ich Mitglied des Bundestages
bin; das sind jetzt 18 Jahre. Jetzt wird es höchste Zeit,
das umzusetzen.
Zweitens. Die Raumfahrt ist keine alleinige Staatsveranstaltung. Auch die Industrie ist in der Pflicht. Sie
fordert doch den Abbau von Subventionen; diese gibt es
aber nicht nur im sozialen Bereich. Wir müssen auf
„private public partnership“ drängen. Im Satellitenbereich gibt es das schon.
({4})
Im übrigen: Bei Ariane 1 bis Ariane 4 hat der Staat
die Forschung und Entwicklung finanziert, und die Industrie hat sie produziert. Ab Ariane 5 beteiligt sich die
Industrie an der Forschung und Entwicklung. Mit 105
Millionen ECU, also 200 Millionen DM - das soll an
dieser Stelle einmal gesagt werden -, steigt sie bei der
Ariane 5 plus ein.
({5})
- Seit wann bist du Unternehmer? Das habe ich gar
nicht gewußt.
({6})
Ich begrüße es, wenn die Bundesregierung versucht,
die Kosten für die Raumstation zu senken, indem sie das
Bauprogramm streckt. Natürlich wissen wir, daß durch
eine Streckung am Ende die Kosten etwas höher sein
werden. Aber eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.
Die Weiterentwicklung der Ariane 5 hat erste Priorität; sie muß weiterhin konkurrenzfähig bleiben. Im übrigen: Etwa 3 000 hochqualifizierte Arbeitskräfte sind in
Deutschland am Bau von Ariane 4 und Ariane 5 beteiligt. Auf europäischer Ebene sind es 14 000.
Ariane 4 und Ariane 5 gewährleisten einen eigenständigen Zugang Europas in den Weltraum. Als Europa
noch keine Trägerrakete hatte, ist folgendes passiert:
1972 wurde in Europa der Kommunikationssatellit
Symphonie gebaut, den die Amerikaner in den Orbit geschossen haben, unter der Bedingung, daß er nicht
kommerziell genutzt wird. Das war der Grund, warum
sich die Europäer entschieden haben, ein eigenes Trägersystem zu entwickeln. - Das war 1972.
Lothar Fischer ({7})
Und heute? Im November 1998 sind im USamerikanischen Kongreß Gesetze eingebracht worden,
wonach der Technologietransfer im Satellitenbereich nur
unter ganz strengen Voraussetzungen erfolgen soll: Das
Außenhandels- und das Verteidigungsministerium müssen zustimmen. Satellitentransporte werden also behandelt wie Waffenexporte. Das geht natürlich an die
Substanz der europäischen Trägerrakete Ariane. Ariane
hat einen Weltmarktanteil am Transport von kommerziellen Satelliten in Höhe von 60 Prozent.
({8})
Die Raumfahrt umfaßt nicht nur Raketen und bemannte Stationen, sondern auch Satelliten. In diesem
Zusammenhang denke ich an die Erdbeobachtung und
die Satellitennavigation. Dazu werde ich aber nichts sagen, da mein Kollege und Freund Bodo Seidenthal dazu
nachher noch nähere Ausführungen macht.
Ich wünsche mir für diesen Bereich, daß genügend
Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit die Durststrecke bis 2003 keine bleibenden Schäden hinterläßt.
Hier gilt es, Märkte zu entwickeln und zu erobern. Das
ist richtig verstandene Innovationspolitik, weil sie sich
an den Arbeitsplätzen der Zukunft orientiert.
Recht schönen Dank.
({9})
Jetzt hat das Wort
der Kollege Norbert Hauser, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor fast 20 Jahren
warfen Kritiker der damaligen indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi vor, für den Preis eines Satelliten
könne man allen Indern eine Schale Reis geben. Ihre
Antwort lautete darauf: „Wenn sie die einmal gegessen
haben, bleibt alles beim alten, während ich mit einem
einzigen Satelliten mehrere Millionen Menschen lehre,
Reis anzubauen, damit sie jeden Tag essen können.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der rotgrünen
Koalition, soviel Verständnis und Sinn für die Möglichkeiten moderner Technologien wünschen wir uns alle
auch von Ihnen.
({0})
Alles, was mit Zukunft und Fortschritt zu tun hat,
stößt bei Ihnen zunächst einmal auf Skepsis und Ablehnung. Biotechnik, Gentechnologie bis hin zum Transrapid sind beredte Beispiele. Leider gilt dies auch für die
Weltraumforschung. Es wäre besser, Sie diskutierten
mehr über die Chancen dieser Technologien, als permanent ihre Risiken zu betonen.
({1})
Wir Menschen brauchen Ziele und Visionen. Gerade
die Luft- und Raumfahrt bietet solche Visionen.
({2})
Was vor 20 Jahren unvorstellbar war, gehört heute bereits zum Alltag. Erinnern Sie sich daran, als sich die
US-Amerikaner nach dem Sputnik-Schock das Ziel
setzten, als erste Menschen den Mond zu betreten. Eine
ganze Nation brach auf. Leider ist bei Ihnen von Aufbruchstimmung nichts, aber auch gar nichts zu spüren.
Sie sind von einer Buchhaltermentalität geprägt.
({3})
Ihre Ziele und Visionen bestehen darin, zu versichern, daß Sie internationale Verträge einzuhalten gedenken. Dieses Versprechen wird hier schon wieder relativiert. Der Kollege Fischer hat sich vorgenommen,
Kosten zu senken. Sie, Herr Kollege, wollen Kosten
durch das Strecken von Mitteln senken. Im gleichen Satz
haben Sie darauf hingewiesen, daß sich durch diese
Strekkung die Kosten erhöhen. Dies ist wahrlich eine
grandiose Rechnung: Senkung der Kosten durch Erhöhung der Kosten. Ich gratuliere Ihnen zur Erfindung
einer neuen Grundrechenart.
({4})
Wenn Sie sich dauerhaft von der Weltraumforschung
verabschieden - wie Sie es hier angedeutet haben -,
dann verspielen Sie einen wichtigen Eckpfeiler für die
Entwicklung Deutschlands. Wenn es nach Ihnen ginge,
Herr Fischer, säße Christoph Kolumbus noch heute im
spanischen Santa Fé und würde noch immer von dem
Seeweg nach Indien träumen.
({5})
Wie wichtig Visionen und ihre Umsetzung sind, sieht
man in der heutigen Zeit. Erinnern Sie sich an die 60er
und 70er Jahre. Der Weltraum war Experimentierfeld im
kalten Krieg. Heute bauen Japaner, Amerikaner, Kanadier, Russen und Europäer gemeinsam eine bemannte
Weltraumstation. Nicht nur die Grenzen auf der Erde
wurden durchlässiger. Sie sind im Weltraum sogar
überwunden worden. Die internationale Zusammenarbeit im Weltraum ist ein wichtiger Beitrag gerade
auch zur politischen Stabilität in der Welt. Auf den Feldern der internationalen Zusammenarbeit wächst das
gegenseitige Vertrauen. Vor allem in diesen Tagen wird
vor dem Hintergrund der Ereignisse in Jugoslawien
schmerzlich deutlich: Zur internationalen Zusammenarbeit gibt es keine Alternative.
({6})
Sie laufen zur Zeit Gefahr, sich aus der europäischen
und damit auch aus der internationalen Raumfahrtpolitik
auszugrenzen. In ungefähr fünf Jahren soll in der internationalen bemannten Weltraumstation ISS die Arbeit
beginnen. Dann werden die Früchte jahrelanger Forschung und Arbeit geerntet und eine weitere Ära in der
Weltraumforschung eingeläutet. Wissenschaft und Industrie sind aufgerufen, die Möglichkeiten der internationalen Raumstation zu nutzen. Es wäre ein schwerer
Fehler, wenn sich Deutschland ausgerechnet jetzt aus
Lothar Fischer ({7})
der bemannten Raumfahrt zurückzöge. Wir fordern die
Bundesregierung auf, gemeinsam mit unseren Partnern
die Früchte der jahrelangen gemeinsamen Arbeit zu
ernten.
({8})
- Nein, Herr Kollege, es ist heute schon mehrfach angesprochen worden, und ich glaube, es muß ein weiteres
Mal gesagt werden: Sie sind mit Maßstäben angetreten,
haben mit Maßstäben Wahlkampf geführt und haben
sich zu Beginn ihrer Regierungsarbeit mit Maßstäben
vorgestellt, denen zu entsprechen Sie heute nicht mehr
in der Lage sind.
({9})
Heute versuchen Sie, sich mit Hinweisen auf die Vergangenheit aus der Verantwortung zu stehlen. Regierungsverantwortung zu übernehmen heißt doch, Verantwortung zu tragen. Sie haben gesagt, Sie wollten
zwar nicht alles anders, aber vieles besser machen. Bis
heute haben Sie nichts besser gemacht, meine Damen
und Herren.
({10})
Luft- und Raumfahrt heißt mehr, als nur Raketen ins
All zu schießen, um interessante Experimente durchzuführen. Es geht vielmehr um Forschungsergebnisse, die
für den Alltag von großer Wichtigkeit sind - ich spreche
hierbei nicht von der Entwicklung der Teflonbeschichtung für Bratpfannen, die an dieser Stelle immer herangezogen wird.
Denken Sie an die Telemedizin. Spezialisten finden
sich über Kontinente zusammen, um komplizierte Operationen vorzubereiten. Nicht mehr der Kranke, der Patient, muß reisen; Fachkenntnisse und Röntgenbilder reisen via Satellit von Klinik zu Klinik. Nicht weit von uns
entfernt, im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln-Porz, sind aus der Raumfahrt die Voraussetzungen entwickelt worden, um alten Menschen und
Risikopatienten ihre gewohnte Umgebung zu erhalten
und den Einzug in ein Heim zu vermeiden sowie Kleinkinder vor dem frühen Kindstod zu bewahren. Meine
Damen und Herren von der Skeptikerkoalition, stehen
Sie hier nicht abseits! Helfen Sie mit, diese Forschungen
zum Wohle der Menschen zur Anwendungsreife zu führen!
Auch der Umweltschutz lebt von der Raumfahrt.
Klimaveränderungen, Wüstenbildung und die Veränderung der Eismassen an den Polen werden über Satellit
analysiert und können so besser bekämpft werden.
Wettervorhersagen sind ohne Satelliten heute undenkbar. Anfang der 90er Jahre wurden auf Grund von metereologischen Satellitenbeobachtungen eine Million Menschen evakuiert und so vor dem Wirbelsturm „Andrew“
bewahrt, der kurze Zeit später Florida verwüstete. Rückschlüsse auf Analysen unter Bedingungen in der Schwerelosigkeit führten bereits in der Vergangenheit ebenso
zu Einsparungen bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe wie neuartige Legierungen und Schmelzverfahren,
die zu einer Gewichtsreduzierung der fertigen Produkte
in der Automobil- und Luftfahrtindustrie führten. Auch
sie hatten ihren Ursprung in der Weltraumforschung.
Durch die Beobachtungen aus dem Weltraum ist es
möglich, Mißernten im Vorfeld zu bekämpfen und damit Hungersnöte zu vermeiden. Auch die Verhinderung
der Ausbreitung von Pflanzenkrankheiten ist dank der
Satellitentechnik heute möglich. Die Weltraumforschung ist also auch ein Beitrag zur internationalen
Solidarität.
Weltraumforschung bedeutet schließlich die Schaffung von Arbeitsplätzen. Insgesamt leben über 110 000
Menschen und ihre Familien von der Raumfahrtindustrie. Vor allem mittelständische Unternehmen sind in
diesem Bereich tätig. Es ist die Pflicht der Bundesregierung, diesem wichtigen Industriezweig die notwendige
Hilfe zukommen zu lassen.
Die Unterstützung der Luft- und Raumfahrt ist auch
ein Bündnis für Arbeit. Daran sollte die Bundesregierung immer denken. Die Luft- und Raumfahrt ist also
ein wichtiger Beitrag für die Sicherung der Zukunft
Deutschlands.
Ein Beitrag zu dieser Zukunft ist auch der von der
CDU/CSU vorgelegte Antrag. Stimmen Sie daher zu! Es
gibt keinen Grund, es nicht zu tun.
({11})
Ich hoffe, daß der Weltraum bei SPD und Grünen nicht
zu einem Mikrokosmos verkommt, der in den politischen Debatten keine Rolle mehr spielt.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Bodo Seidenthal. Bitte sehr.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Herr Hauser, ich
würde Ihnen gerne am Anfang meiner Rede antworten,
werde dies aber erst zum Schluß tun.
Lassen Sie mich mit etwas Grundsätzlichem beginnen - diesen Punkt haben auch Sie erwähnt; wir ziehen
aber andere Schlüsse daraus -: Noch nicht einmal
30 Jahre ist eines der größten Abenteuer der Menschheit
jung, nämlich die Landung auf dem Mond. Es vergingen
nur 12 Jahre vom Start des Satelliten Sputnik bis Neil
Armstrong bei der Landung auf dem Mond gesagt hat,
daß es nur ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber
ein großer Sprung für die Menschheit sei.
Wir wissen, Herr Hauser: Flüge zum Mond finden
heute nicht mehr statt; der Wettstreit der Systeme hat
dem kommerziellen Wettbewerb und der globalen Zusammenarbeit Platz gemacht. Heute müssen wir uns bezüglich der Raumfahrtentwicklungen den aktuellen Herausforderungen der Menschheit stellen und die Prioritäten daran orientieren. Was aber - diese Frage will ich
Ihnen nicht vorenthalten - machen Sie? Sie bringen
einen Antrag ein, mit dem Sie den Eindruck erwecken,
daß die jetzige Bundesregierung und die zuständige
Norbert Hauser ({0})
Ministerin alles falsch machen und die falschen Prioritäten setzen.
({1})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, kommen mir wie jemand vor, der ein Haus
angezündet hat und anschließend nach der Feuerwehr
ruft.
({2})
Denn es war Ihr Zukunftsminister Jürgen Rüttgers, der
ein Raumfahrtprogramm erstellt hat, das programmatisch und planerisch unausgewogen war, die falschen
Prioritäten gesetzt hat, Mittel gebunden und darüber
hinaus wichtige Bereiche mit Zukunftsperspektive vernachlässigt hat. Damit Sie nicht sagen können, es handele sich sozusagen um eine SPD-gefärbte Aufstellung,
will ich erwähnen, daß es eine Aufstellung des DLR ist.
Diese Fehler haben Sie in der Vergangenheit gemacht.
Wenn Sie auf die neuen Herausforderungen eine Antwort geben können, dann sind wir gemeinsam auf dem
richtigen Weg.
({3})
Mit Ihrem Programm, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wäre die Zukunft der Raumfahrt
auf Jahre blockiert worden. Sie haben nämlich selbst die
Ampel auf Rot gestellt. Sie haben, wie es der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen einmal
formuliert hat, seit 1993 eine dramatische Kluft zwischen politischen Ansprüchen - Herr Hauser, hören Sie
zu - und finanziellen Planungen in der Raumfahrtpolitik
entstehen lassen. Daran sollten Sie sich erinnern.
({4})
Ihre öffentlichen Klagen über die Vernachlässigung
der Raumfahrt - Ihre Rede war ein Beispiel dafür - sind
scheinheilig. Sie haben doch Jahr für Jahr die Kürzungen des Raumfahretats mitbeschlossen. Ich bin der Ministerin dankbar, daß sie vorhin in ihrer Rede die Fehlplanungen und die jahrelang aufgeschobenen Aufräumungsarbeiten in der Raumfahrtpolitik eindrucksvoll
beschrieben hat.
({5})
Da mein Kollege Lothar Fischer unter anderem schon
einige grundsätzliche Ausführungen zur ESA, zu der
Weiterentwicklung der Ariane 5 und zur Bindung immenser Mittel durch die alte Regierung für die internationale Raumstation gemacht hat, möchte ich zu zwei
konkreten Punkten Stellung nehmen: zu den kommerziellen erfolgreichen Raumfahrtmärkten - dazu zählen,
wie einige es schon gesagt haben, die Satellitenkommunikation und die Satellitennavigation - und der Erdbeobachtung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich bin mir nicht schlüssig und wanke hin und her:
Brauchen Sie eine Brille, ein Hörgerät oder funktioniert
bei Ihnen noch nicht einmal das Kurzzeitgedächtnis?
({6})
Die Ministerin hat vorhin eindeutig gesagt, daß wir die
eben von mir erwähnten Schritte durchführen wollen.
Dafür haben Sie, wenn wir da genau hineinschauen,
keine - ({7})
- Sie haben nichts eingeplant, Herr Rachel. Herr Möllemann, zu Ihnen komme ich zum Schluß meiner Rede
auch noch.
Sehr geehrte Frau Ministerin, liebe Edelgard Bulmahn, Ihren Ausführungen zufolge ist die neue Bundesregierung entschlossen, unter veränderten finanziellen
Rahmenbedingungen Fehlentwicklungen der Regierung
Kohl zu korrigieren und eine Raumfahrtpolitik zu gestalten, die - darauf kommt es unserer Meinung nach
an - auf wirtschaftliche Perspektiven und wissenschaftliche Kompetenz setzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der alten Regierungskoalition, eines möchte einmal
nachfragen: Was haben Sie eigentlich dagegen, daß für
Experimente zukünftig das Kriterium der wissenschaftlichen Exzellenz gelten soll?
({8})
Sie sind es doch gewesen, die das früher immer formuliert haben. Jetzt macht es Edelgard Bulmahn, und schon
haben Sie etwas dagegen, weil es aus der verkehrten
Richtung kommt.
({9})
Frau Ministerin, ich sage Ihnen für das, was ich gerade ausgeführt habe und was Sie wollen, die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion zu. Ich möchte Sie
bitten, den genannten Punkten Ihre besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
({10})
Es war, Frau Aigner, ein fataler Fehler der Regierung
Kohl, mit ihren Weichenstellungen kommerziell erfolgreiche Raumfahrtmärkte - darum geht es Ihnen doch
auch immer - den USA und anderen Ländern zu überlassen.
({11})
Insbesondere auf den Gebieten der Satellitenkommunikation, der Satellitennavigation und der dazugehörigen
Produktketten wurden in der Vergangenheit wichtige
wirtschaftliche Entwicklungen verschlafen. Das wird bei
uns und mit Edelgard Bulmahn nicht passieren.
({12})
Das größte kommerzielle Potential der Raumfahrtindustrie liegt in den raumfahrtgestützten Diensten, insbesondere der Telekommunikation, der schon erwähnten
Erdbeobachtung und der Navigation. Wer über den Zugang zum All verfügt, hat - darauf lege ich Wert - die
Möglichkeit, diese Dienste auszuüben, und kann, wenn
er die Möglichkeiten exklusiv besitzt, andere von der
Produktion solcher lukrativen Dienstleistungen ausschließen oder sie durch überhöhte Preise bzw. ungünstige Konditionen daran hindern, in diese Geschäftsfelder einzudringen.
({13})
- Herr Möllemann, Ihre Tränen - ({14})
Was haben Sie denn in der Vergangenheit bei den Verhandlungen mit Amerika gemacht? Amerika hat gesagt,
die Europäer dürfen nicht ran. Herr Kollege Möllemann,
Sie haben nichts auf den Weg gebracht - leider.
({15})
Frau Ministerin, ich habe Sie so verstanden, daß Sie
alles dafür tun wollen, daß die deutsche Industrie ihre
gute Wettbewerbsposition auf den genannten Gebieten
behält und weitere Marktpotentiale erschließen kann.
Das technologische Ziel muß darin bestehen, daß
Deutschland in der Raumfahrt im internationalen Maßstab weiterhin kompetent vertreten ist und vor allem in
wichtigen Hochtechnologiebereichen den Anschluß behält.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wiese
({0})?
Nein, ich gestatte keine
Zwischenfrage, weil ich es nämlich nicht einsehe, Frau
Präsidentin, daß wir - wie Lothar Fischer es gesagt hat über diese Dinge seit 1987 im Bundestag diskutieren
und die neue Opposition so tut, als ob das alles verkehrt
wäre. Wir können darüber demnächst im Ausschuß reden.
({0})
- Diskutieren wir es also dort
({1})
- Ich habe keine Angst vor der Öffentlichkeit. Ich werde Ihnen, Herr Fischer, auch noch sagen, warum ich
keine Angst vor der Öffentlichkeit habe.
Kurzum: Der von Ihnen genannte Public-PrivatePartnership-Gedanke, Frau Bulmahn, ist nach unserer
Auffassung ein Schritt in die richtige Richtung. Ich gehe
davon aus, daß sich die Nutzer dem nicht verschließen
werden.
Der Markt der Satellitenkommunikation ist in der
kommerziellen Raumfahrt am weitesten entwickelt und
läßt im Jahr 2000 weltweit ein Volumen von zirka
60 Milliarden US-Dollar erwarten. Die höchste Wertschöpfung - insofern stimmen wir ja teilweise überein wird bei der Vermarktung von Endgeräten und Dienstleistungen erzielt. Deshalb muß die zentrale Zielsetzung
des zukünftigen Kommunikationsprogramms eine erfolgreiche Beteiligung der Industrie am internationalen
Wettbewerb sein.
Die Satellitennavigation als Schlüsselelement eröffnet der Mobilitätsgesellschaft eine Fülle von kommerziellen Anwendungen und Dienstleistungen für alle Anwendungsgebiete der Luftfahrt, Schiffahrt und des
Landverkehrs. In Deutschland liegen die kommerziellen
Umsätze im Raumfahrtsegment und bei Endgeräten, vor
allem wegen der Autonavigation, bei zirka 580 Millionen DM pro Jahr. Wir erwarten im Jahre 2003 einen
Umsatz von 1,3 Milliarden DM. Die eingesetzten Komponenten - das habe ich schon deutlich zu machen versucht - stammen hauptsächlich aus den USA.
Das Dienstleistungsangebot in Deutschland, das auf
diesem GPS beruht, nimmt laufend zu. Es leistet schon
heute einen wichtigen Beitrag für ein integriertes Gesamtverkehrssystem, das zum Beispiel zur effizienten
Nutzung der Verkehrsinfrastruktur, zur Erhöhung der
Verkehrssicherheit, zur Verlagerung des Verkehrs von
der Straße auf umweltfreundliche Verkehrsmittel und
zur Vermeidung von Umweltbelastungen führt.
Insgesamt hat die europäische Industrie hieran bisher
nur einen Anteil von 5 Prozent am heutigen Weltmarkt
inne. Wegen des amerikanischen Militärmonopols sind
europäische Anbieter aus wesentlichen Bereichen der
Wertschöpfungskette ausgeschlossen.
Um sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien, hat die
EU-Kommission das Galileo-Programm vorgeschlagen,
das den Aufbau eines europäischen Satellitennavigationssystems vorsieht. Dies ist eine Aufgabe des Verkehrsministerrates. Ich möchte schon heute davor warnen, auf der ESA-Konferenz Nägel mit Köpfen machen
zu wollen. Es wäre aber wichtig, ein Signal für eine
positive politische Grundsatzentscheidung zu geben.
({2})
Die Erdbeobachtung setzt auf Kontinuität in diesem
wichtigen Feld angewandter Raumfahrt in Deutschland.
Der deutsche Beitrag leitet sich nicht nur aus umweltpolitischen, sondern - wegen der starken Stellung der
deutschen Industrie in diesem Segment - auch aus industriepolitischen Interessen Deutschlands her. Deshalb,
Frau Ministerin, möchte ich Sie bitten, dafür zu sorgen,
daß die deutsche Beteiligung an diesem Programm Priorität erhält.
({3})
- Der Bitte wird entsprochen. Wenn Sie den Ausführungen der Ministerin richtig zugehört hätten, Herr Möllemann, dann wüßten Sie dies.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich möchte Ihnen noch einen wichtigen Punkt vorhalten:
Ihre Bundesregierung - da sieht man wieder einmal, wie
ernst Sie das alles genommen haben - hat, was die ausreichende und angemessene Nutzung von Satellitendaten
angeht, kläglich versagt. Die Daten wurden nämlich auf
Halde produziert und nur in geringem Umfang als Datenquelle genutzt. Sie haben nichts dafür getan, daß dieses teure Investment etwas bringt. Wir gehen davon aus,
daß gerade satellitengestützte Informationssysteme zukünftig einen angemessenen Anteil haben werden.
Abschließend, Herr Rachel, komme ich auf Sie zu
sprechen.
Ihre Redezeit ist
aber abgelaufen, Herr Kollege.
Jawohl, Frau Präsidentin.
Ich nehme das zur Kenntnis.
Herr Rachel, als Sie 1994 im Ausschuß für Forschung
und Technologie Ihre ersten Ausführungen zu diesem
Thema gemacht haben, hatte ich den Eindruck, daß Sie
wirklich ein Kämpfer für die Raumfahrt sind. Herr Rachel, Sie sind als Löwe gesprungen und als Bettvorleger
gelandet. Deshalb sind Ihre heutigen Ausführungen
nicht glaubwürdig.
({0})
Es ist langsam an der Zeit, daß sich die Opposition
hinter die Ministerin stellt und daß Sie, Herr Rachel,
Ihre Beschimpfungen - teilweise waren es sogar Beleidigungen -, die Sie im „Handelsblatt“ vom 1. März geäußert haben, endlich zurücknehmen.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank für Ihr Entgegenkommen.
({1})
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Rachel.
Frau Präsidentin!
Sehr geehrter Herr Kollege Seidenthal, wir haben in den
letzten Jahren verschiedentlich Gelegenheit gehabt, über
die Raumfahrt zu diskutieren. Auch wenn man in einer
argumentativen Schwäche ist, sollte man nicht dazu
übergehen, den Kollegen etwas zu unterstellen, was
nicht richtig ist. Ich glaube, daß gerade die Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion, der ich angehöre, in den
letzten Jahren bewiesen hat, daß sie sich sehr wohl einmal, wenn das von einem Parteifreund geführte Ministerium keine die Raumfahrt so unterstützende Position
einnehmen wollte, wie wir es uns gewünscht haben, für
eine solche eingesetzt hat. Dies haben wir im Gegensatz
zu Ihrer Fraktion getan, die dadurch geglänzt hat, daß sie
keinerlei Haushaltsänderungsanträge eingebracht hat.
Wir haben beispielsweise im letzten Haushalt erreicht,
daß die entsprechenden Haushaltsmittel von 970 Millionen DM auf 1 Milliarde DM erhöht wurden. Insofern
weise ich Ihre persönlichen Unterstellungen mit aller
Entschiedenheit zurück.
({0})
Es liegen keine
weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Ausspra-
che.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/655 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a bis 15f sowie
die Zusatzpunkte 3a bis 3f - es handelt sich um Über-
weisungen im vereinfachten Verfahren - auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Staatsangehörigkeitsrechts
- Drucksache 14/744 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Überweisungsgesetzes
- Drucksache 14/745 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({1})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. Dezember 1997 über wirtschaftliche Partnerschaft, politische Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den Vereinigten
Mexikanischen Staaten andererseits
- Drucksache 14/684 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und
Beschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens ({3})
- Drucksache 14/626 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4})
Rechtsausschuß
e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Dehnel, Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({5}), Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 14/544 Bodo Seidenthal
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({6})
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Tourismus
f) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Änderung der Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages
- Drucksache 14/542 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
ZP3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 21. Dezember 1995 über
den Beitritt der Republik Österreich, der Re-
publik Finnland und des Königreichs Schwe-
den zu dem Übereinkommen über die Beseiti-
gung der Doppelbesteuerung im Falle von
Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen
Unternehmen
- Drucksache 14/748 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({7}), Rainer Brüderle, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Für eine sofortige Verhängung umfassender
Handelssanktionen gegen Jugoslawien
- Drucksache 14/793 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({8})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Fograscher, Adelheid Tröscher, Günter Oesinghaus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika
Köster-Loßack, Kerstin Müller ({9}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE
GRÜNEN
UN-Sondergeneralversammlung - 5 Jahre
nach der Konferenz für Bevölkerung und
Entwicklung in Kairo - Aktive Bevölkerungspolitik in der Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksache 14/797 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({10})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred
Gebhardt, Heidi Lippmann, Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Ausschluß des Eintritts Minderjähriger in die
Bundeswehr
- Drucksache 14/551 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuß ({11})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fred
Gebhardt, Carsten Hübner, Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Einsatz von Kindern als Soldaten wirksam
verhindern
- Drucksache 14/552 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({12})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Kortmann, Brigitte Adler, Hermann Bachmaier,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gegen den Einsatz von Kindern als Soldaten
in bewaffneten Konflikten
- Drucksache 14/806 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({13})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Beratung von Vorlagen ohne
Aussprache.
Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 16a auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Aufhebbare Einhundertachtunddreißigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste
- Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 14/264, 14/305 Nr. 2.2, 14/729 Berichterstattung: Abg. Rolf Hempelmann
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung
ist angenommen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 b auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({15}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Privatisierung von Bundesbeteiligungen
hier: Veräußerung der Geschäftsanteile an der
Heimstätte Rheinland-Pfalz GmbH, Organ
der staatlichen Wohnungspolitik, Mainz
- Drucksachen 14/186, 14/305 Nr. 1.1, 14/657 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Jacoby
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Uwe-Jens Rössel
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Auch diese Beschlußempfehlung ist
angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um Zusatzpunkt 12 zu erweitern. Es handelt
sich um Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses. Über diese Vorlagen soll sofort ohne Aussprache
entschieden werden. Sind Sie mit dieser Erweiterung
einverstanden? - Es ist so beschlossen.
Damit rufe ich zunächst Zusatzpunkt 12 a auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 38 zu Petitionen
- Drucksache 14/814 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 38 ist angenommen.
Zusatzpunkt 12 b:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 39 zu Petitionen
- Drucksache 14/815 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einigen Enthaltungen ist die Sammelübersicht 39 angenommen.
Zusatzpunkt 12 c:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 40 zu Petitionen
- Drucksache 14/816 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Bei einigen Gegenstimmen ist die Sammelübersicht 40 angenommen.
Zusatzpunkt 12 d:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 41 zu Petitionen
- Drucksache 14/817 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Bei einigen Gegenstimmen und einigen
Enthaltungen ist die Sammelübersicht 41 angenommen.
Zusatzpunkt 12 e:
Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 42 zu Petitionen
- Drucksache 14/818 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Bei einigen Enthaltungen ist auch die
Sammelübersicht 42 angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten
Gesetzes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes
- Drucksachen 14/389, 14/474 ({21})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({22})
- Drucksache 14/820 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thea Dückert
Es liegen Änderungsanträge der Fraktionen der
CDU/CSU und der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Brigitte Lange, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute über drei Änderungen des Sozialhilfegesetzes zu beraten und zu entscheiden. Es geht einmal darum, daß die Übergangsregelung für die Bemessung der Regelsätze um zwei Jahre
verlängert werden soll. Das steht so im Gesetzentwurf
der Bundesregierung. Zum zweiten geht es um eine
Verwaltungserleichterung bei Widerspruchsbescheiden
für die Länder und Kommunen. Dann hat die SPDFraktion einen Ergänzungsantrag gestellt, bei dem es
darum geht, Modellvorhaben für die Einführung von
Pauschalierungen zu ermöglichen. Dazu gibt es einen
Änderungsantrag der CDU/CSU-Fraktion.
Ich habe nicht vor, heute eine Grundsatzdiskussion
über die Sozialhilfe anzufangen, obwohl uns die bedrükkenden Fakten durchaus bewußt sind, insbesondere was
die Empfängerzahlen, die Zusammensetzung der Empfänger und die Kosten anbetrifft. Ich denke, wir werden
in diesem Jahr noch Gelegenheit haben, das miteinander
zu diskutieren.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Mir geht es heute nur darum, insbesondere die Änderungen zu erläutern, die strittig sind und in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Zunächst geht es dabei um
die Fristverlängerung bei der Festsetzung der Regelsätze. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir 1996 zum erstenmal Regelungen zum Aufbau und zur Anordnung
der Regelsätze in das Sozialhilfegesetz hineingenommen. Die Entscheidung über die Zusammensetzung und
die Höhe der Regelsätze ist nicht unwichtig. Sie wirkt in
sehr viele gesellschaftliche Bereiche hinein.
Der Regelsatz wirkt erstens finanzpolitisch auf die öffentlichen Haushalte des Bundes und der Länder. Auf
Bundesebene wirkt er sich auf die Höhe des steuerlichen Grundfreibetrages aus, bei den Kommunen
hängen davon die Ausgaben für die Sozialhilfeempfänger ab. Diese Ausgaben sind in den letzten Jahren immens gestiegen. Somit betreffen Änderungen auch den
Finanzausgleich, der zwischen Bund und Ländern beraten werden muß.
Zweitens gibt es wirtschaftspolitische Auswirkungen,
da der Zusammenhang mit dem Lohneinkommen beachtet werden muß. Das sogenannte Lohnabstandsgebot steht ja im Sozialhilfegesetz drin. Der Streit, ob man
eher die Sozialhilfe senken oder darüber nachdenken
soll, wie Löhne gestaltet werden können, damit Beziehern und ihren Familienangehörigen ein existenzsicherndes Einkommen gewährleistet werden kann, ist
noch nicht ausgestanden.
Drittens hat es familien- und viertens sozialpolitische
Bedeutung, denn wir entscheiden darüber, was wir denen, die nicht in der Lage sind, selber ihr Existenzminimum zu sichern, zugestehen wollen. Es geht also um
das Mindestexistenzniveau. Dieses Niveau ist auch die
Orientierungsgrundlage für andere Transfereinkommen.
All diese Entscheidungen, bei denen wir die unterschiedlichsten Auswirkungen bedenken müssen, unterliegen jedoch dem in § 1 BSHG formulierten Gebot der
Menschenwürde: Sozialhilfe muß
dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens ... ermöglichen, das der Würde des Menschen
entspricht.
Wir halten es für angemessen, auch für selbstverständlich, daß nach einem Regierungswechsel eine neue
Regierung die Möglichkeit haben muß, die Entscheidung zur Festsetzung und Fortschreibung des Regelsatzes gründlich, sorgfältig und in angemessener Frist zu
treffen.
({0})
Selbst wenn Sie darauf hinweisen, daß bereits Gutachten
vorliegen, halte ich entgegen, daß es dennoch wichtig
ist, daß die Regierung diese Gutachten selber wertet und
ihre Konsequenzen daraus zieht. Insofern stimmen wir
einer Verlängerung der Frist um maximal zwei Jahre zu
und lehnen Ihren Vorschlag, sie auf ein Jahr zu begrenzen, ab. Wenn es schneller gehen sollte, ist das in Ordnung; aber zunächst einmal muß dieser Entscheidungsspielraum geschaffen werden.
Uns ist es natürlich klar, daß damit die Fortschreibung der Regelsätze in der bisherigen Weise erfolgt. Wir
wissen auch, daß sie zwischen 1993 und 1996 gedeckelt
wurden und daß ab 1997 die Erhöhung der Sätze in der
gleichen Weise wie in der gesetzlichen Rentenversicherung geschieht.
Wir haben damals diese Entscheidung als Kompromiß mitgetragen. Sie wurde uns nachträglich dadurch
erleichtert, weil die Preissteigerungsraten in den Bereichen, die sich auf die Regelsätze auswirken, erträglicher
ausfielen, als wir befürchtet hatten. So hat sich diese
Fortschreibung nicht so gravierend ausgewirkt. Da wir
davon ausgehen können, daß die Renten in den nächsten
beiden Jahren stärker steigen als bisher, halten wir auch
die Verlängerung der Fortschreibung für vertretbar.
Erläutern möchte ich Ihnen auch unseren Vorschlag,
dem Wunsch der Länder zu entsprechen und Modellvorhaben für Pauschalierungen zuzulassen. Wir verfolgen
damit zwei Ziele. Einmal geht es darum, die Autonomie
von Sozialhilfeempfängern zu erhalten und zu stärken,
wo es geht. Wir hoffen, soweit es bei den nicht gerade
üppig bemessenen Beträgen überhaupt möglich ist, ein
wenig mehr Entscheidungsfreiheit für das eigene Haushalten zu ermöglichen. Zum zweiten geht es uns darum,
die Effizienz der Verwaltung zu verbessern und die
möglicherweise freiwerdenden Ressourcen für die individuelle Beratung der Sozialhilfeempfänger zu nutzen.
Es geht nicht darum - das betone ich noch einmal
ausdrücklich; es kann auch gar nicht darum gehen -,
Leistungen zu senken. Es bleibt beim Prinzip der Bedarfsdeckung. Wir haben das ausdrücklich in unsere
Regelungen hineingeschrieben.
({1})
Einsparungen sind durch Pauschalierungen also nicht zu
erwarten; eher das Gegenteil. Denn die Pauschalen müssen so bemessen sein, daß sie eine große Zahl der Empfänger umfassen und daß nicht dauernd Ausnahmeregelungen geschaffen werden müssen, die aber - auch das
betone ich - nach wie vor möglich sein müssen.
Wir legen auch Wert darauf, daß die Pauschalen für
die jeweiligen Leistungen gesondert bestimmt werden
und auf ihre Tauglichkeit geprüft werden können. Deshalb lehnen wir den Änderungsvorschlag der CDU/CSU
ab, eine Gesamtpauschale zu ermöglichen. Dann kann
man nämlich nicht mehr die einzelnen Pauschalen auf
ihre Tauglichkeit überprüfen. Ganz abgesehen davon
würde es auch § 22 des Bundessozialhilfegesetzes
widersprechen.
Wir erhoffen uns von der Einrichtung mehrerer Pauschalen, daß Verwaltungsaufwand eingespart wird und
dadurch mehr Zeit zur individuellen Beratung möglich
ist, die in den letzten Jahren hat zurückstehen müssen,
weil die Sozialamtsmitarbeiter so viele Fälle zu bearbeiten hatten, daß sie wenig Zeit für den einzelnen zur
Verfügung hatten. Dadurch wären vielleicht auch mehr
Erfolge zu verzeichnen, Hilfebezieher in Arbeit zu vermitteln. Diese erfolgreiche Vermittlung kann dann mittelfristig tatsächlich zu Einsparungen führen, wenn es
uns gelingt, den Zustrom zu den Sozialhilfeämtern zu
verringern, denn sonst ist es eine Sisyphusarbeit. Wir
brauchen also Veränderungen im Arbeitsmarktbereich,
aber auch bei den vorrangigen Leistungen.
Ich verstehe, daß die CDU/CSU in den Antrag hineinschreiben möchte, daß die freiwerdenden Zeitressourcen für die Verwaltung verwendet werden sollen,
und daß sie nicht dazu beitragen möchte, möglicherweise Stellen zu sperren. Aber da endet die Kompetenz des
Bundes; wir können nicht in die Verwaltungen der Länder und Kommunen hineinregieren.
Pauschalen sind nichts Neues. Wir haben sie bereits
im Gesetz verankert. Wir haben Regelsätze, Mehrbedarfszuschläge, Blindengeld und Pflegegeld. Das alles
sind gesetzlich festgelegte Pauschalen. Aber es gibt auch
Pauschalen, die einzelne Sozialhilfeträger bereits erprobt
haben, zum Beispiel bei der Bekleidung. Diese können
in die neuen Modellvorhaben einbezogen werden.
Voraussetzung dafür ist eine Rechtsverordnung der
jeweiligen Landesregierung, damit länderspezifische
Ansätze zugelassen werden können, aber andererseits
auch eine vergleichbare Auswertung der Modelle gewährleistet ist. In diese begleitende Auswertung müssen
die Wohlfahrtsverbände unbedingt einbezogen werden.
Damit meinen wir, den Bedenken dieser Verbände Rechnung zu tragen und ihren Einwand, die Hilfe in besonderen Lebenslagen von der Pauschalierung auszunehmen,
nicht berücksichtigen zu müssen. Deshalb lehnen wir
Ihren Änderungsvorschlag in diesem Bereich ab.
Die SPD-Fraktion wird die Modellvorhaben kritisch
begleiten. Wir hoffen, daß sie nicht nur dazu beitragen,
Verwaltungshandeln zu optimieren, sondern daß wir
damit vor allen Dingen die Situation von Sozialhilfebeziehern verbessern können.
Danke.
({2})
Ich erteile dem
Kollegen Peter Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Vorgeschichte
dieses siebten Änderungsgesetzes zum Bundessozialhilferecht ist, wie ich meine, ein Musterbeispiel für das angeblich so entschlossene und klare Handeln der neuen
rotgrünen Koalition.
Ich möchte den wichtigsten Punkt, die Pauschalierungsregelung, herausgreifen. Nachdem Fachleute darüber seit vielen Jahren diskutiert haben, hat BadenWürttemberg im Mai vergangenen Jahres einen entsprechenden Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht.
Im Herbst vergangenen Jahres hat die neue rotgrüne
Koalition in ihre Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben, sie wolle Modellvorhaben bezüglich einer
Pauschalierung der Sozialhilfe ermöglichen. Dann hat
Baden-Württemberg im Bundesrat eine Entscheidung in
der Sache beantragt, weil man sich angeblich einig gewesen sei. Diese wurde abgelehnt.
Im Januar dieses Jahres ist dann vom Arbeitsministerium ein Referentenentwurf an die entsprechenden Verbände und interessierten Fachleute geschickt worden.
Darin war ein eigener Regelungsvorschlag zur Pauschalierung enthalten. Im Februar haben wir den diesbezüglichen Entwurf der Bundesregierung bekommen. Darin
stand plötzlich nichts mehr davon.
Daraufhin folgte die Sitzung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung, in der die Koalition flugs per Tischvorlage die Pauschalierung wieder
zum Leben erweckt hat. Der entscheidende Satz - das
möchte ich erwähnen -, der den Unterschied zwischen
der Gesetzesinitiative Baden-Württembergs und dem
einstigen Referentenentwurf markierte, nämlich daß eine
Pauschalierung nur mit ausdrücklicher Zustimmung des
Sozialhilfeempfängers möglich ist, fehlte. Nach diesem
Zickzackkurs befinden wir uns heute in der zweiten und
dritten Lesung des vorliegenden Entwurfes zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes.
Meine Damen und Herren, wenn sich die weitergehenden Pauschalierungen in der Sozialhilfe, die wir,
wenn das Gesetz in Kraft tritt, zunächst einmal in einem
Modellvorhaben erproben werden - wozu wir in der Tat
auch die kritische Begleitung sowohl der kommunalen
Spitzenverbände als auch der Wohlfahrtsverbände als
auch der Selbstinitiativen der Sozialhilfeempfänger
brauchen -, bewähren, stellen sie in der Tat eine Revolutionierung des bisherigen Systems des Sozialhilfebezugs dar. Während die laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt in der Sozialhilfe seit dem Inkrafttreten
des ursprünglichen Gesetzes durch den Regelsatz quasi
pauschaliert sind, findet auf den Sozialämtern bis zum
heutigen Tag ein oft hartnäckiger und verbitterter Kampf
um kleine Beiträge für den Kauf zum Beispiel von Kleidung, Hausrat, Möbeln, Radios, Fernsehgeräten und anderem statt.
({0})
Obwohl es bestimmte Richtlinien gibt, besteht bei den
einzelnen Trägern der Sozialhilfe eine sehr unterschiedliche Praxis dahin gehend, was dem einzelnen Sozialhilfeempfänger tatsächlich gewährt wird.
Eines kommt noch hinzu: Bis zu 40 Prozent der Entscheidungen im Hinblick auf den Bezug von einmaligen
Leistungen werden rechtlich angefochten. Das heißt, es
kommt in einem Großteil der ergangenen Sozialhilfeentscheidungen zu Widerspruchsverfahren oder gerichtlichen Auseinandersetzungen. Dieses zum Teil unwürdige
Gezerre und Gerangel wollen wir beenden.
({1})
Die Zielsetzung ist, daß jedem Sozialhilfeempfänger
ein berechenbares Haushaltsbudget zur Verfügung steht,
daß er wirtschaftliche Eigenverantwortung praktizieren
muß und daß er die Möglichkeit erhält, für die persönliche Lebensführung Prioritäten zu setzen. Das ist eine
konkretere Ausgestaltung dessen, was wir heute auch im
Sozialhilferecht unter der Würde des Menschen verstehen. Dieser Weg zu mehr Selbständigkeit des einzelnen
Sozialhilfeempfängers führt über eine Pauschalierung
aller Elemente der Hilfe zum Lebensunterhalt, also auch
der Kosten für die Unterkunft.
Aber auch für die Sozialhilfeträger, das heißt für unsere Städte und Landkreise, ergibt sich eine erhebliche
Veränderung. Die Verwaltung der Sozialhilfe wird wesentlich vereinfacht. Personalkapazitäten werden frei,
die für den weiteren Ausbau der Hilfen zum Ausstieg
aus der Sozialhilfe dringend gebraucht werden.
Die frühere Bundesregierung aus CDU/CSU und
F.D.P. hat bereits mit ihren Änderungen im Sozialhilfegesetz Wege aufgezeigt, wie Sozialhilfebezieher verstärkt wieder Arbeit erhalten können, statt den Sozialhilfebezug zu konservieren.
({2})
Die Pauschalierung, die wir jetzt einführen wollen, setzt
für die Aufgaben der Beratung, der Hilfe zum Ausstieg
aus der Sozialhilfe und der Hilfe zur verstärkten Arbeitsvermittlung weitere Kapazitäten und Kräfte frei.
Ich will noch einmal ausdrücklich klarstellen - Frau
Lange, da sind wir uns vollkommen einig -: Die angestrebte Pauschalierung der Hilfen zum Lebensunterhalt ist kein Vehikel für versteckte Leistungskürzungen,
sondern sie ist das Instrument für vermehrte und verbesserte Hilfen zum Ausstieg aus der Sozialhilfe. Deshalb
wollen wir diese Zielsetzung ausdrücklich in das Gesetz
hineinschreiben und bedauern, daß die Koalition das
ablehnt.
({3})
Das neue Instrument der Pauschalierung muß allerdings auf einer klaren Rechtsgrundlage stehen. Deshalb
haben wir eine Reihe von Änderungsanträgen eingebracht, die diesem Ziel dienen. Wir wollen den bei jedem Hilfeempfänger bestehenden Rechtsanspruch auf
individuell bedarfsgerechte Hilfe in einen Gesamtrechtsanspruch auf ein bedarfsdeckendes Budget ausgestalten.
Ich verstehe nicht, daß Sie einen Widerspruch hervorrufen und sagen: Wir wollen kein Gesamtbudget. Wenn
Sie das ernsthaft nicht wollen
({4})
- so steht es aber im Gesetz -, dann ist die Reform, die
Sie jetzt machen, umsonst. Die von uns gemeinsam angestrebten Verwaltungskosteneinsparungen wird es
dann voraussichtlich nicht geben.
Der Städte- und Gemeindebund hat eine klarstellende
gesetzliche Formulierung empfohlen. Wer eine solche
Klarstellung ablehnt, muß sich den Vorwurf gefallen
lassen, daß er bewußt Unklarheiten hinnehmen will.
Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man Ihre
Gesetzesbegründung liest.
Unserer Auffassung nach ist die von uns vorgeschlagene Regelung notwendig, um Rechtsstreitigkeiten zwischen Sozialhilfeträgern und Hilfeempfängern zu vermeiden. Gesetze sollen Klarheit schaffen und nicht zu
mehr Gerichtsprozessen führen.
({5})
Wir sind weiterhin der Auffassung, daß eine Pauschalierung von Hilfen in besonderen Lebenslagen
eigentlich nicht sachgerecht eingeführt werden kann.
Das zeigt sich vor allen Dingen bei den Hilfen für
Behinderte, bei denen es so große Unterschiede gibt
und bedarfsgerechte Einzelfallentscheidungen notwendig sind, so daß es schlichtweg umöglich ist, hierfür allgemeine Pauschalen festzulegen.
Meine Damen und Herren, wir sind uns mit der
Koalition einig: Wir wollen die Pauschalierung der Sozialhilfeleistungen. Wenn Sie den Änderungsanträgen
der CDU/CSU zustimmen würden, würde Ihr Gesetz
noch besser werden. Deswegen stellen wir sie heute
noch einmal zur Abstimmung.
({6})
Unabhängig von dem Thema Pauschalierung bleibt
die Aufgabe, ein neues Bedarfsbemessungsschema für
die Sozialhilfe zu finden. Frau Lange hat dazu einige
grundsätzliche Ausführungen gemacht. Mit dem heutigen siebten Änderungsgesetz wird nur eines gemacht:
Die bisherige Übergangsregelung wird noch einmal um
zwei Jahre verlängert. Wir finden, hier will die neue
Bundesregierung unverhältnismäßig viel Zeit schinden;
denn die noch von Horst Seehofer in Auftrag gegebenen
Rechtsgutachten liegen vor und können ausgewertet
werden. Sie können möglichst bald in einen neuen Regelungsvorschlag umgesetzt werden. Wir sind deshalb
der Auffassung, daß bereits im kommenden Jahr ein entsprechendes Gesetz vorliegen könnte.
Ich habe ein gewisses Verständnis, verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen, daß Sie, nachdem Sie zum Beispiel bei den
630-Mark-Jobs und bei der Scheinselbständigkeit unausgegorene, unsoziale und nicht handhabbare Gesetze
auf den Weg gebracht haben, jetzt die neue Langsamkeit
als Motto für Ihr Regierungshandeln entdecken.
({7})
Regierungsverantwortung wird aber übernommen, um
zu handeln, und nicht, um abzuwarten und Tee zu trinken. Deshalb fordern wir dieses Handeln von Ihnen.
Es liegt an den Bundesländern, das neue Sozialhilferecht durch entsprechende Rechtsverordnungen umzusetzen. Ich erwarte einen produktiven Wettbewerb unter
den Ländern, damit wieder mehr Menschen aus der Sozialhilfe herausfinden, Hilfen zur Arbeit geschaffen
werden und so letztlich auch der finanzielle Handlungsspielraum unserer Städte und Landkreise wieder erweitert werden kann.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Herr Weiß, auch ich gehöre zu denjenigen, die sehr gern
Tee trinken. Es kann aber aus meiner Sicht keine Rede
Peter Weiß ({0})
davon sein, daß wir angesichts dessen, was Sie uns hinterlassen haben, abwarten wollen.
({1})
Die jetzt zu beschließenden Änderungen des Bundessozialhilfegesetzes sind ein erster Schritt. Es ist hier
schon davon gesprochen worden, daß es dringend nötig
ist, Änderungen, insbesondere am Mechanismus der
Festlegung der Regelsätze, vorzunehmen.
Die Hilfe zum Lebensunterhalt dient heute nicht
mehr der Absicherung einzelner Personen, die vorübergehend in eine persönlich schwierige Lage geraten sind.
Dafür waren diese Hilfen ursprünglich aber gedacht;
man erinnert sich kaum noch daran. Heute sichern wir
den Lebensunterhalt für eine ständig steigende Zahl von
Menschen, darunter mehr als eine Million Kinder.
Meine Damen und Herren, die Regierung hat sich
zum Ziel gesetzt, dem ein Ende zu machen. Es soll
Schluß sein mit einer Sozialhilfe, die das Überleben
sichert, aber nicht Leben vor allem im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe gewährleistet. Dazu braucht es
nicht nur mehr Geld, sondern auch endlich die Möglichkeit, sich nicht mehr dem entwürdigenden Verfahren
zum Beantragen eines Wintermantels oder Kühlschrankes aussetzen zu müssen.
Dazu sind die vorliegenden Erhebungen der alten Regierung leider nicht befriedigend verwendbar. Die in der
Vergangenheit vor dem Hintergrund der in diesem Jahr
ablaufenden Regelung zur Regelsatzanpassung erzeugten Gutachten und Datenreihen hatten zum großen
Teil die Zielrichtung, Leistungen einzuschränken. Genau
das haben Sie in den letzten Jahren auch gemacht:
Sanktionen zu begründen und die Last der Schuld an
ihrer Situation weitgehend den Hilfesuchenden in die
Schuhe zu schieben. Die immer wieder geführten Debatten um Mißbrauch im Bereich der Sozialhilfe waren
für diese Ausrichtung untrügliches Zeichen. Ich glaube,
wir haben sehr wohl die Verpflichtung, hier unter einem
anderen Vorzeichen neue Möglichkeiten zu suchen.
Die Koalition will auf der Basis der in den nächsten
zwei Jahren anstehenden Arbeit zu diesem Thema solide
Mechanismen der Regelsatzbemessung und -anpassung
erzeugen, die insbesondere dem Prinzip der Bedarfsdeckung entsprechen und die auch den Umfang einbezogener Kosten neu und zeitgemäß definieren. Dabei
werden die zahlreichen und in ihrer Spannbreite weit
streuenden Gutachten, insbesondere von Sozialhilfeträgern sowohl aus dem öffentlichen wie auch aus dem
freien Trägerbereich, genau zu analysieren sein.
Mit der ebenfalls im Änderungsantrag enthaltenen
Möglichkeit neuer Pauschalen in der Sozialhilfepraxis
verbinden wir vor allem die Hoffnung, daß die Einsparung in der Verwaltung zu einer qualitativ besseren,
breiteren Beratung für die Hilfesuchenden führt. Diese
Ausweitungen sind aus unserer Sicht dringend geboten.
Eine Studie von Diakonie und Caritas führte unter anderem zu dem Ergebnis, daß eine sehr hohe Zahl von Menschen die ihnen nach dem Sozialhilfegesetz zustehenden
Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Sie schämen
sich, zum Sozialamt zu gehen, oder aber sie wissen
überhaupt nichts von den Möglichkeiten der Sozialhilfe.
Unser Anliegen muß sein, diesen Menschen mit für sie
annehmbarem Rat zur Seite zu stehen. Eine Beratung,
die diese Menschen auch erreicht, muß möglich werden.
Auch dafür schaffen wir hier die Grundlage.
Wir sind uns durchaus bewußt, daß dies alles ein erster Schritt ist. Aber - Sie haben es angesprochen - wir
müssen eine solide Grundlage schaffen. Wir müssen den
Menschen zu mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, zu mehr Selbstbestimmung und mehr Eigenverantwortung verhelfen. Teilhabe an der Gesellschaft heißt
nicht: „Ich darf mitmachen“, sondern: „Ich will mitgestalten.“ Hier haben wir noch viel Arbeit vor uns, die
gewährleisten soll, daß dies tatsächlich geschehen kann.
Lassen Sie mich zum Schluß noch sagen, die Kinder
und Jugendlichen betreffend, die von Sozialhilfe leben:
Wir werden im Herbst dieses Jahres das Familienentlastungsgesetz neu zu regeln haben. Auch hierbei wird es
darauf ankommen, daß nicht fortgesetzt wird, was die
Vorgängerregierung gemacht hat, nämlich Kinder immer mehr in Armut zu treiben. Es wird darauf ankommen, deutlich zu machen, daß, wenn wir von Familienentlastung reden, auch diejenigen Kinder gemeint
sind, die von Sozialhilfe leben. Diese müssen hinreichend berücksichtigt werden. Die Gesellschaft darf
Ausgrenzung nicht mehr in Kauf nehmen, wie wir das in
den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt haben. Wir
brauchen für die Zukunft unserer Gesellschaft Miteinander, Teilhabe und Gerechtigkeit, und das in aller Konsequenz.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der
Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Gesetzentwurf beweist aus meiner Sicht erneut die offensichtliche Regierungsunfähigkeit der Koalition.
({0})
Es ist in der Tat sonderbar: Mal nehmen Sie sich zuwenig Zeit, überstürzen Ihre Gesetzgebung ohne Rücksicht auf die Auswirkungen - Stichworte: 630-MarkVerträge, Scheinselbständigkeit -, und hier und heute
haben Sie es plötzlich überhaupt nicht eilig, lassen sich
Zeit, obwohl alle Voraussetzungen für eine politische
Entscheidung - genau darum geht es nämlich hier vorliegen. Offensichtlich haben Sie nicht den Mut zu
entscheiden. Sie verschaffen sich mit der Verlängerung
der Übergangsfristen um zwei Jahre bis zur Neugestaltung der Bemessungsgrundlagen ganz offensichtlich
Luft. Sie spielen auf Zeit.
({1})
Wir sind der Ansicht, daß ein Jahr für die Vorbereitung der Neugestaltung vollkommen ausreichend wäre,
zumal in der letzten Legislaturperiode bereits in erheblichem Umfang Vorarbeiten geleistet wurden. Ich stimme
zu, Frau Lange: Eine neue Regierung muß die Möglichkeit haben, sich das einmal in Ruhe anzuschauen. Aber
ich glaube, ein Jahr ist sehr viel Zeit. Alle Beteiligten,
die Betroffenen wie die Kommunen, haben ein Anrecht
darauf, zu wissen, wie es in diesem Bereich in Zukunft
weitergehen soll. Ich hätte es vor diesem Hintergrund
auf jeden Fall begrüßt, wenn Sie auf den Kompromißvorschlag von CDU/CSU im Ausschuß eingegangen wären.
Durch die Verlängerung des Ankoppelns der Erhöhung der Regelsätze an die Entwicklung der Renten in
den alten Bundesländern entstehen Kosten bei den
Kommunen. Meine Damen und Herren von SPD und
Grünen, Sie mögen die Kosten als gering bezeichnen.
„Gering“ ist aber ein relativer Begriff. Schon jetzt macht
die Sozialhilfe einen nicht unerheblichen Anteil der
Kommunalhaushalte aus.
Ich erinnere daran - man muß das immer im Gesamtzusammenhang sehen -, daß die Kommunen in diesem
Jahr auch eine Tariferhöhung in nicht unerheblichem
Umfang zu verkraften haben. Diese Tariferhöhung kam
im übrigen unter massiver Mithilfe eines ehemaligen
Ministers Ihrer Regierung zustande. Die Verlängerung
der Übergangsfristen belastet jetzt die kommunalen
Haushalte erneut. Für mich betreiben Sie damit eine
Politik zu Lasten der Kommunen - eine Politik, die Sie
selbst der Regierung Kohl noch vor wenigen Monaten
vorgeworfen haben.
({2})
Ich begrüße an dieser Stelle aber ausdrücklich die
vorgesehene Experimentierklausel. Eine verstärkte
Einführung von Pauschalierungen führt zu einer stärkeren Orientierung der Sozialhilfe am tatsächlichen Bedarf. Es ist daher aus unserer Sicht verstärkt auf
Pauschalierungen zurückzugreifen. Dennoch muß, nicht
zuletzt im Interesse der Betroffenen, Rechtssicherheit
herrschen. Aber auch hier haben Sie versagt, sich konstruktiven Vorschlägen verschlossen. Ich hoffe nur, daß
es nicht auf Grund dieser Ignoranz zu schlicht unnötigen Rechtsstreitigkeiten zwischen Sozialhilfeempfängern und Sozialhilfeträgern kommt, obwohl ich es - so
muß ich ganz offen sagen - befürchte. Auch hier bot der
Änderungsantrag von CDU und CSU im Ausschuß
einen Ansatzpunkt für einen möglichen Kompromiß.
Daher kann und muß ich zusammenfassen: Erstens.
Die Regierung legt ein Gesetz vor, mit dem sie sich Zeit
nimmt, die sie eigentlich schlichtweg nicht bräuchte.
Zweitens. Dieses Gesetz belastet die Kommunen in aus
meiner Sicht nicht zu akzeptierenden Weise. Drittens.
Die vom Grundsatz her positive Experimentierklausel
zur Erprobung von Pauschalierungen schafft Rechtsunsicherheit.
Das sind drei schwerwiegende Gründe für die Fraktion der F.D.P., dieses Gesetz heute abzulehnen. Ich
kann nur hoffen, daß wir in Zukunft bei der dann anstehenden grundlegenden Neufassung im Interesse aller
Beteiligten, nicht zuletzt der Kommunen, zielführender
ans Werk gehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Grehn, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Eigentlich war nach den vielen
Aussagen zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu erwarten,
daß die erste legislative Maßnahme der neuen Regierung
im Bereich Sozialhilfe ein gutes Signal für die Armen in
diesem Land sein würde. Was nun vorgelegt wird, bringt
erneut belastende Mißtöne in den Wohlklang der Worte
von sozialer Gerechtigkeit.
Erstens. Für die Betroffenen heißt soziale Gerechtigkeit zuallererst eine bedarfsorientierte Festsetzung der
Regelsätze. Die Fortsetzung der Deckelung der Regelsätze in Form der willkürlichen Anpassung an die Veränderung der Renten für weitere zwei Jahre hat nichts,
aber auch gar nichts mit einer gerechten Bestimmung
der Regelsätze zu tun. - Es ist richtig, Frau Lange. Bedarfsdeckung steht zwar drin; aber Deckelung hat damit
nichts zu tun.
Das ist auch sehr weit von dem entfernt, was das
Bundesverfassungsgericht mit seiner im Januar veröffentlichten Entscheidung zum sozialhilferechtlich definierten Existenzminimum ausgeführt hat. Wir lehnen die
Fortsetzung dieser Deckelung ab.
Mit Ihrem Entwurf überholen Sie geradezu die Konservativen und die Liberalen, die es in den Jahren seit
1993 geschafft haben, die Unterdeckelung auf fast
18 Prozent zu treiben. Auch auf Grund der Auswirkung
der Ökosteuer werden Sie es in den nächsten zwei Jahren schaffen, die Unterdeckelung um weitere 7 Prozent
zu erhöhen. Damit koppeln Sie die Sozialhilfeempfänger
weiter vom gesellschaftlichen Fortschritt ab. Die Aussage, Sie wollten den Bedarf sichern, wird damit eher zu
einer Art platonischer Liebeserklärung.
Zweitens. Es gibt wahrlich dringenderen Handlungsbedarf, als eine Experimentierklausel für neoliberale
Eigenverantwortungsstrategien einzuführen. Pauschalen
können sinnvoll sein, aber Pauschalen um der Pauschalen willen sind widersinnig. Regelsätze sind bereits Pauschalen. Wie unzulänglich sie sind, das ist hinreichend
bekannt, und in welchem Schneckentempo sie erhöht
werden und nach welchen fiskalischen Interessen sie gedeckelt werden, ist ebenfalls hinlänglich bekannt. Aber
nun die Tür zu öffnen für eine Pauschalierung von Hilfen in besonderen Lebenslagen oder für die Kosten der
Unterkunft ist völlig unakzeptabel.
({0})
Das widerspricht der inneren Logik der Hilfen in besonderen Lebenslagen genauso, wie es angesichts der Realität auf dem Wohnungsmarkt und der Preisgestaltung
am Wohnungsmarkt nicht realisierbar ist.
Deshalb sage ich Ihnen: Ziehen Sie Ihren Entwurf zurück, und fassen Sie ihn unter dem Gesichtspunkt der
sozialen Gerechtigkeit neu. Entsprechende Zuarbeiten
stehen Ihnen aus den Wohlfahrtsverbänden, den Betroffenenorganisationen und auch in Gestalt des Änderungsantrages der PDS ausreichend zur Verfügung.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Herr Weiß, die
Revolutionierung durch Pauschalen findet bereits seit
geraumer Zeit statt. Ich nenne etwa die Bekleidungspauschalen. Das Hinausschieben von Anpassungen, das
Vertrösten der Betroffenen ist eine Sache, aber Vorlagen
einzubringen, die den Notwendigkeiten widersprechen
oder die halbherzig sind, das ist eine ganz andere Sache.
Das trifft die Betroffenen.
({1})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Bundessozialhilfegesetzes auf den Drucksachen 14/389 und 14/820. Es liegen Änderungsanträge
der Fraktionen der CDU/CSU und der PDS vor.
Zunächst stimmen wir mit Einverständnis der Antragsteller über den Änderungsantrag der Fraktion der PDS
auf Drucksache 14/821 ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Damit ist der Änderungsantrag gegen die Stimmen der
PDS abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung. Die Fraktion der CDU/
CSU hat Einzelabstimmung über eine Reihe von Vorschriften verlangt.
Ich rufe Art. 1 Nr. 1 und Art. 1 Nr. 2 Buchstabe a auf.
Ich bitte diejenigen, die den genannten Vorschriften zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind diese Vorschriften gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b auf. Hierzu liegt auf
Drucksache 14/825 unter Buchstabe a ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Art. 1 Nr. 2 Buchstabe b ist
mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung
der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Art. 1 Nrn. 3 bis 7 auf. Ich bitte diejenigen,
die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist Art. 1
Nrn. 3 bis 7 bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Art. 1 Nr. 8 in der Ausschußfassung auf.
Hierzu liegt auf Drucksache 14/825 unter Buchstabe b
ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag
ist gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. bei
Enthaltung der PDS abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die Art. 1 Nr. 8 in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Art. 1 Nr. 8
ist in der Ausschußfassung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU,
F.D.P. und PDS angenommen.
Ich rufe Art. 1 Nrn. 9 und 10 in der Ausschußfassung
auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Art. 1 Nrn. 9 und 10 sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU bei Nichtbeteiligung
der F.D.P. und Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Art. 2, Einleitung und Überschrift in der
Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die aufgerufenen Vorschriften
sind bei Enthaltung der PDS angenommen. Damit ist die
zweite Beratung abgeschlossen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung! Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS
angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung
auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung als Bauherr zu
Schwarzarbeit und außertariflicher Beschäftigung auf den Baustellen des Bundes in Berlin
und zu den Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation im Baugewerbe Berlins und
Brandenburgs sowie die ostdeutsche Bauwirtschaft insgesamt
Das Wort hat als erste für die Fraktion der PDS die
Kollegin Petra Pau.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen! Am Montag haben wir gemeinsam den neuen, den modernisierten Reichstag als
Sitz des Bundestages eingeweiht. Auf Nachfragen von
Journalistinnen und Journalisten, wie mir das Gebäude
denn gefalle, habe ich gesagt: Die Politik und damit
auch wir als Politikerinnen und Politiker werden zu tun
haben, werden uns sehr strecken müssen, um die Transparenz dieses Hauses und der Kuppel auf dem Reichstag in unserem täglichen Tun auch nur halbwegs zu erreichen.
({0})
- Die Gegenstimme gegen eine Ausführung des Baus
sagt doch noch lange nichts gegen die Bewunderung des
Bauwerks, Frau Kollegin.
({1})
Ich gebe zu, ich habe an diesem Montag auch meine
Befürchtungen wiederholt, daß dieser Reichstag, unser
zukünftiger Arbeitsplatz, liebe Kollegen, auf einem sehr
unsozialen Fundament steht. Nicht nur die Fachgemeinschaft Bau Berlin/Brandenburg, die am Montag ja unweit des Reichstages demonstriert hat, hat gegen
Schwarzarbeit am Reichstag und auf weiteren Bundesbaustellen in Berlin protestiert.
({2})
- Es geht sofort los, Kollege, alles nachweisbar - bis hin
zu den geprellten Bauarbeiterinnen und Bauarbeitern,
die jetzt hochverschuldet wieder zu Hause in Griechenland sind. Immer wieder waren diese Unregelmäßigkeiten mediale Themen. Dumpingvorwürfe, mangelnder
Arbeitsschutz, unmenschliches Arbeitszeitregime und
anderes mehr an Bundesbauten sind inzwischen hundertfach mit Name und Adresse belegt. So berichtete das
ARD-Magazin „Report“ am 1. März 1999 über mafiöse
Strukturen sowie - ich erlaube mir zu zitieren - „Lug
und Trug auf Regierungsbaustellen“. Ausländische Bauarbeiter, die zu Dumpinglöhnen illegal angestellt, in
baufälligen Unterkünften untergebracht und letztendlich
ohne Entlohnung nach Griechenland zurückgeschickt
wurden, wurden nicht nur zitiert, sondern kamen persönlich zu Wort.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wir alle kennen den Slogan, Berlin sei die Baustelle
Europas und im übrigen die Werkstatt der Einheit der
Bundesrepublik. Zugleich aber müssen wir zur Kenntnis
nehmen, daß die Arbeitslosigkeit im Baugewerbe der
Region inzwischen jenseits der 30-Prozent-Marke liegt.
Jeder, der dies gegenüberstellt, wird ermessen können,
welche Auswirkungen die hier beschriebenen Vorgänge
gerade in dieser Region haben. Auch Fremdenhaß haben
wir erleben müssen. Ich erinnere nur an die zwei britischen Bauarbeiter in Mahlow, von denen heute einer
querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt. Gerade deshalb
möchte ich hier klarstellen: Ausbeutung bleibt Ausbeutung, und Dumpinglöhne bleiben Dumpinglöhne, ganz
unabhängig davon, welchen Paß die Betroffenen in der
Tasche haben.
({3})
Fremdenhaß, wie er auch im Aufruf einiger Vertreter
der Fachgemeinschaft Bau zumindest angelegt war, ist
das untauglichste Mittel, gegen Lohndumping und diese
Methoden vorzugehen.
({4})
Dies sage ich auch mit Blick auf die zitierte Fachgemeinschaft, die in einer Erklärung am Montag meinte,
der Reichstag sei dem deutschen Volke gewidmet, nicht
aber europäischen Wanderarbeitern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kaum ein Redner
hat am Montag in der Sitzung versäumt, auf die Symbolik der Tatsache hinzuweisen, daß der Architekt für den
Umbau des Reichstages nicht Bürger der Bundesrepublik ist, daß also dieser neue Reichstag, unser Arbeitsplatz, ein gemeinsames Werk ist. Ich finde, er hätte noch
viel mehr Symbolik verdient gehabt: Bauarbeiter aus
Ost- und West-, aus Nord- und Südeuropa hätten an diesem Reichstag zu gleichen, menschenwürdigen Bedingungen bauen sollen. Wir sollten alles daransetzen, daß
von den übrigen Bundesbaustellen ein solches Beispiel
aus der Hauptstadt Berlin ausgeht.
({5})
Es gibt schwere und anhaltende Vorwürfe gegenüber
dem Bauherren. Deshalb interessiert uns schon, welche
Haltung die Bundesregierung zu Schwarzarbeit und außertariflicher Beschäftigung auf Bundesbaustellen in
Berlin bezieht.
Auf eine Kleine Anfrage der PDS an das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu
den „Berichten über Unregelmäßigkeiten auf Baustellen
des Bundes“, Drucksache 14/519, kam erst die Bitte um
Terminaufschub. Es hieß, man müsse erst umfangreich
recherchieren. In der vergangenen Woche dann, pünktlich zur Einweihung des Reichstagsgebäudes, folgte die
Antwort der Bundesregierung - nach langer Recherche
kurz und knapp: Die zuständige Bundesbaugesellschaft
habe versichert, alles sei gut. Detaillierte Antworten zu
diesen Vorwürfen erübrigen sich also. Im übrigen habe
der Bundestag auch noch ein Aufsichtsgremium.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluß.
Sofort. Nur noch ein Schlußsatz an
die Vertreter der Regierung.
Ich bewerte diese Antwort so: Erstens. Sie haben die
Brisanz des Problems überhaupt nicht erkannt und die
Probleme der betroffenen Beschäftigten nicht zur
Kenntnis genommen.
Zweitens. Sie halten die erhobenen Vorwürfe für so
nebensächlich, daß Sie ausgerechnet die Beschuldigten
zu den Kronzeugen gegen diese Vorwürfe machen, anstatt tatsächlich die schon in Briefen an die Betroffenen
angekündigten rechtlichen Prüfungen einzuleiten.
Drittens. Sie haben demonstriert, was Sie tatsächlich
unter dem Aufbau Ost verstehen.
Frau Kollegin, Sie
müssen jetzt wirklich zum Schluß kommen.
Damit bin ich am Schluß.
({0})
Für die Bundesregierung spricht der Kollege Großmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag
der PDS zur Abhaltung einer Aktuellen Stunde muß
unter dem Gesichtspunkt, daß bereits alle Fakten zu diesem Thema sehr umfangreich in Kleinen Anfragen, aber
auch in einem Bericht an den Haushaltsausschuß besprochen worden sind, schon sehr verwundern. Praktisch
im Abstand von vier Wochen haben wir darüber berichtet, was für Kontrollen auf den Baustellen in Berlin
durchgeführt wurden und mit welchem Erfolg. Es gab
zwei Kleine Anfragen der PDS. Es gab noch im Januar
dieses Jahres auf Anregung der Kollegin Frau Luft einen
Bericht an den Haushaltsausschuß, in dem ausführlich
dargelegt worden ist, wie oft die Kontrollen auf den
Bundesbaustellen in Berlin durchgeführt wurden und
mit welchen Ergebnissen. Auf diesen Bericht, der den
Mitgliedern des Hauses vorgelegt worden ist und der an
für sich auch der PDS bekannt sein müßte, werde ich
später noch ausführlicher eingehen. Zunächst möchte ich
zwei Sätze aus ihm zitieren:
Grundsätzlich ist zu registrieren, daß auf den Bundesbaustellen die festgelegten Verstöße von der
Anzahl her geringer sind als auf den übrigen Baustellen.
({0})
- Dazu werde ich gleich noch etwas sagen.
Bezüglich des Vorwurfs, der in der „Report“Sendung, die Sie zitiert haben, erhoben wurde, es gebe
mafiose Strukturen, kommt der Bericht zu dem Ergebnis:
Die Sonderprüfgruppe hat keine mafiosen Strukturen im Baubereich aufdecken können.
Alle wissen, daß es fast unmöglich ist, auf den Baustellen Vorfälle völlig auszuschließen, die in die oben
beschriebene Richtung weisen und die wir von vielen
Einzelfällen her kennen. Trotzdem hat gerade der Bund
- darauf wird in dem Bericht eingegangen, und das
sollten Sie zur Kenntnis nehmen - besonders intensiv
darüber gewacht, daß eben solche Vorfälle ans Tageslicht gebracht werden und daß die entsprechenden Firmen mit Bußgeldern belegt werden. Wenn ich jetzt die
Einzelmaßnahmen einmal Revue passieren lasse, dann
muß ich feststellen, daß man dem Bund keine Fahrlässigkeit vorwerfen kann. Wir müssen vielleicht zusammen darüber nachdenken, wie man Kontrollen und
Strukturen unter Umständen noch verbessern kann.
Wahrscheinlich müssen wir dafür noch einmal Gesetze
verändern.
Zunächst einmal ist am 1. März 1996 das Gesetz über
zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz,
in Kraft getreten, um die tiefgreifenden Störungen der
Wettbewerbsbedingungen auf dem Baumarkt zu lindern.
Zielsetzung dieses Gesetzes war und ist es, daß ausländische Arbeitgeber, die Arbeitnehmer auf Baustellen in
Deutschland entsenden, zumindest hinsichtlich der besonders wettbewerbsrelevanten Arbeitsbedingungen,
nämlich hinsichtlich des Lohns und der Gewährung von
Urlaub, denselben rechtlichen Verpflichtungen unterworfen werden wie die deutschen Arbeitgeber.
Ein Jahr später, am 7. Juli 1997, ist zusätzlich zu dieser gesetzlichen Regelung eine weitere Sanktionsmöglichkeit eingeführt worden, und zwar auf Grund eines
Erlasses des ehemaligen Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Diese Tariftreueerklärung gilt ab dem genannten Datum auf den Baustellen des Bundes und damit auch auf denen in Berlin.
Danach müssen sich Auftragnehmer in einer gesonderten Vereinbarung zur Einhaltung der tarifvertraglichen
und öffentlich-rechtlichen Bestimmungen bei der Ausführung von Baumaßnahmen verpflichten. Insbesondere
haben sich die Auftragnehmer vertraglich ergänzend
zur Einhaltung der für sie geltenden tarifvertraglichen
Bestimmungen bzw. der Mindestentgeltregelungen des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes zu verpflichten. Der
Auftragnehmer darf einen Nachunternehmer nur unter
der Voraussetzung beauftragen, daß dieser eine gleichlautende Erklärung gegenüber dem Auftragnehmer abgibt.
Schließlich hat sich der Auftragnehmer auch zu verpflichten, Subunternehmer nur unter der Voraussetzung
zu beauftragen, daß dieser sich zur Zahlung von Vertragsstrafen an den Auftraggeber bei entsprechenden
Verstößen verpflichtet. Der Verstoß gegen diese Verpflichtung wird mit einer Vertragsstrafe sanktioniert.
Die Vereinbarung sieht als Kontrollmöglichkeit vor, daß
der öffentliche Auftraggeber zur Durchführung von
Stichprobenkontrollen Einblick in die Lohnabrechnung
von Auftragnehmern bzw. Nachunternehmern nehmen
darf.
Schließlich wurde eine weitere Möglichkeit zur Bekämpfung von illegaler Beschäftigung geschaffen. Am
1. März 1998 ist unter der Trägerschaft des Landesarbeitsamtes Berlin/Brandenburg - auch das ist in dem
Bericht an den Haushaltsausschuß deutlich dargestellt
worden - die Projektgruppe „Bekämpfung illegaler Beschäftigung auf den Baustellen des Bundes in Berlin“
eingesetzt worden. Die über 40 Mitarbeiter der Sonderprüfgruppe Bund haben - das war der Stand Mitte Dezember 1998 - 200 Außenprüfungen auf 56 verschiedenen Baustellen des Bundes durchgeführt. Dabei wurden 8 527 Arbeitnehmer von 2 744 Unternehmen geprüft. Im Rahmen dieser Überprüfungen wurden Zuwiderhandlungen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz,
Zuwiderhandlungen nach dem SGB III, Zuwiderhandlungen nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Vergehen nach dem Ausländergesetz bzw. Beihilfe zum
Verstoß gegen das Ausländergesetz überprüft. Schließlich wurde auch Leistungsmißbrauch überprüft. Diese
Überprüfungen haben bei einer Reihe von Fällen dazu
geführt, daß das Landesarbeitsamt und damit die zuständigen Arbeitsämter über mögliche Verdachtsmomente
informiert worden sind. Die Arbeitsämter gehen diesen
Verdachtsmomenten nach.
Bisher habe ich nur das referiert, was unter Federführung der alten Bundesregierung gemacht worden ist.
Darüber hinaus hat die neue Bundesregierung zu Beginn
dieses Jahres ein Gesetz zur Generalunternehmerhaftung
vorgelegt. Das heißt, wir wollen in Kenntnis der Tatsache, daß die bisher eingeführten Möglichkeiten unter
Umständen nicht völlig ausreichen und daß wir noch
mehr tun müssen, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen, eine Durchgriffshaftung ermöglichen. Diese besagt, daß jeder Generalunternehmer,
der Subunternehmer für sich arbeiten läßt, wissen muß,
daß wir ihn für den Fall haftbar machen, daß er oder seine Subunternehmer sich an bestimmte Regularien nicht
halten. Im Gesetz geregelt sind dabei der Mindestlohn
und die Beiträge zur Sozialkasse, also zwei ganz wesentliche Punkte, die zu Wettbewerbsverzerrungen geführt haben.
Als SPD-Bundestagsfraktion - ich gebe kurz einmal
die Positionen wieder, die ich als wohnungspolitischer
Sprecher in der letzten Legislaturperiode vertreten habe
- wollten wir vergabefremde Aspekte in das Vergaberechtsänderungsgesetz einführen, zum Beispiel die Tariftreueerklärung. Sie wissen selbst, daß die CDU/CSU
und die F.D.P. das damals abgelehnt haben. Über den
Vermittlungsausschuß ist zumindest eine Öffnungsklausel erwirkt worden, so daß die Tariftreueerklärung gesetzlich abgesichert werden kann. Diese Maßnahme hat
sich übrigens im Freistaat Bayern hervorragend bewährt.
Daher sollten wir wirklich darüber nachdenken, sie bundesweit einzuführen.
Faßt man das Ganze zusammen, dann wird man feststellen, daß über die Instrumentarien, über die wir schon
seit längerem verfügen, aber auch über neue Gesetze,
Erlasse und Verordnungen immer wieder versucht worden ist, die Zahl des mißbräuchlichen Einsatzes von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf Baustellen zu
minimieren. Auch wenn wir über nach wie vor auftretende Vorfälle, die ans Tageslicht kommen, sehr besorgt
sind, läßt sich sagen, daß wir auf den Baustellen des
Bundes deutlich besser als auf allen anderen Baustellen
dafür gesorgt haben, daß diese Verstöße in der Minderheit bleiben.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich
bin schon beim letzten Satz.
Wir sind gerne bereit, darüber nachzudenken, wie
weitere Gesetze und Verordnungen aussehen könnten
und wie wir die Handhabbarkeit der bestehenden Vorschriften noch verbessern können.
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Dietmar Kansy.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema
der Aktuellen Stunde ist nicht aktuell, sondern ein Dauerbrenner in verschiedenen Gremien des Bundestages.
Seit Jahren beschäftigen sich sowohl die Baukommission des Deutschen Bundestages, was die Parlamentsbauten betrifft, als auch der frühere Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau gemeinsam mit der
Regierung mit diesem Thema. Herr Staatssekretär
Großmann hat eben die ganze Palette von Sanktionsmöglichkeiten vorgetragen; ich möchte das nicht wiederholen.
Das Thema ist für uns als Parlament über alle Parteigrenzen hinweg wichtig. Wenn wir nicht nachweisen
können, daß auf den Baustellen des Bundes - sei es, daß
wir als Bundestag bauen oder daß wir aufpassen, wie die
Regierung baut - nicht gegen geltendes Recht verstoßen
wird, dann können wir uns angesichts der bedenklichen
Entwicklung auf dem Bau nicht rechtfertigen.
Ich will mir die Antwort jetzt nicht zu einfach machen. Ich habe am Freitag auf Bitte von Bundestagspräsident Thierse mit dem Veranstalter der Demonstration,
mit der Fachgemeinschaft Bau, und später mit der Sonderprüfgruppe Bund beim Landesarbeitsamt Berlin/Brandenburg gesprochen. Ich habe mir noch einmal
die Fakten vorlegen lassen und habe in diesem Zusammenhang leider festgestellt - die PDS ist darauf hereingefallen -: Immer wieder zu behaupten, das Reichstagsgebäude, das zwecks Kontrollen mit Stacheldraht umgeben ist und zwischenzeitlich fast wie eine Gefängnisbaustelle aussah, sei sozusagen die Inkarnation von
Schwarzarbeit in Deutschland, ist die falsche Politik und
liegt nicht im Interesse der eigenen Sache. Jetzt erfolgt
nämlich nach der 17. die 18. Überprüfung, die die gleichen Ergebnisse liefern wird, aber die die Probleme, die
wir zur Zeit am Bau haben, nicht löst. Diese Probleme
sind nämlich struktureller Art, die weit über das Bauen
des Bundes in Berlin hinausgehen.
({0})
Staatssekretär Großmann hat schon Zahlen genannt.
Ich will einmal die Zahlen des letzten Jahres in bezug
auf unsere Baustellen nennen: Wir haben im Rahmen
von 338 Außenprüfungen 4 300 Arbeitgeber und rund
15 000 Arbeitnehmer überprüft. Staatssekretär Großmann hat schon gesagt, daß es sich bei den Verstößen
auf unseren Baustellen nicht nur um Verstöße hinsichtlich des Mindestlohnes und der Schwarzarbeit, sondern
auch um Verstöße hinsichtlich der Meldepflicht nach
dem Ordnungsrecht handelt. Was der Staatssekretär
weiter sagt, ist ebenfalls richtig: Unsere Baustellen weisen im Vergleich zu anderen Baustellen wesentlich weniger Verdachtsfälle auf. Es kann uns aber nicht automatisch zufriedenstellen, wesentlich besser als andere zu
sein. Die Frage an uns lautet vielmehr: Warum gibt es
diese Verstöße auf Bundestagsbaustellen überhaupt?
Bei rund 10 Prozent der Überprüfungen gab es Verdachtsfälle, die in der angesprochenen Fernsehsendung,
die ich nicht näher kommentieren will, aber bewußt oder
unbewußt falsch dargestellt wurden. Dazu sage ich: Ein
Verdachtsfall ist noch kein erhärteter Fall. Wiederum
nur 10 Prozent der Verdachtsfälle führen letzten Endes
dazu, daß Strafanzeigen erstattet werden oder Ordnungswidrigkeiten festgestellt werden. Ich sage noch
einmal: Die Situation, daß bei einem Prozent der Überprüfungen Verstöße vorliegen, kann uns nicht zufriedenstellen. Wir müssen uns deshalb überlegen, wie wir zukünftig auch noch dieses eine Prozent an Verstößen
vermeiden.
Wir müssen uns im Bundestag über dieses Problem
über alle Fraktionsgrenzen hinweg unterhalten. Die verehrten Kollegen vom Haushaltsausschuß sagen mir als
dem Vorsitzenden der Baukommission nicht: Mein lieber Kansy, wir sind dir sehr dankbar, wenn du sicherstellst, daß jeder nach deutschem Tarif und nicht nur
nach Mindestlohn gemäß Entsendegesetz bezahlt wird.
Sie fragen vielmehr: Warum baut ihr als Bundestag
eigentlich teurer - sofern es überhaupt der Fall ist - als
die anderen?
Diese Schizophrenie findet sich auch in der Öffentlichkeit. Dieselbe Zeitung, die Montag schreibt: „Unerhört! Während nebenan der Unternehmer X für soundso
viel DM pro Quadratmeter baut, baut der Bund für 5
oder 10 DM mehr“, schreibt am Dienstag: „Skandal:
Schwarzarbeiter auf Bundesbaustellen!“ - Das ist die
Wahrheit.
({1})
Man müßte einmal in den Fachausschüssen überlegen, ob man nicht schon bei Submissionen - damit wird
fachchinesisch die Situation umschrieben, daß die verschiedenen Aufträge durch Fachleute überprüft werden
- erkennbar machen kann, ob nicht irgendwelche Gewerke angeboten werden, die so weder zu Tariflöhnen
noch zu Löhnen nach dem Entsendegesetz überhaupt erstellt werden können, bei denen also die Schwarzarbeit
und die Einbeziehung von Subunternehmern von vornherein einkalkuliert worden sind.
Wir sollten die Demonstration und auch diese Aktuelle Stunde durchaus zum Anlaß nehmen - dies sage ich
auch im Namen der CDU/CSU -, über diese Problematik nachzudenken. Ich bitte aber alle Beteiligten, dabei
nicht mit Totschlagsargumenten zu arbeiten, sondern
sich mit der wirklichen Situation auf den Baustellen
vertraut zu machen. Obwohl wir uns als Deutscher Bundestag schon freiwillig genauen Kontrollen unterwerfen,
sollten wir dennoch versuchen, den Mißbrauch noch
mehr abzustellen.
Ich sage zum Schluß in Richtung aller Fraktionen:
Wir haben mit großer Mehrheit den Vertrag von Maastricht und den Vertrag von Amsterdam beschlossen. Wir
haben uns gefreut, als die Grenzen nach Ost- und Südosteuropa aufgingen.
Kollege Kansy, ich
muß auch Sie an die Redezeit erinnern.
Wir haben,
Frau Kollegin Pau, tatsächlich 70 000 legale Fremdarbeiter auf Berliner und Brandenburger Baustellen. Das
alles gehört zur Wahrheit. Vielleicht gelingt es uns ja
- über die Fraktionsgrenzen hinweg - in diesem Zusammenhang noch ein Stück mehr Sicherheit zu schaffen.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin Franziska
Eichstädt-Bohlig das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte Ihnen, Herr Kansy, ausdrücklich
dafür danken, daß Sie dem Thema überfraktionelle
Nachdenklichkeit gegeben haben, denn auch ich halte es
für sehr wichtig, daß wir die dahinterstehenden Probleme sehr ernsthaft diskutieren.
Tatsache ist, daß wir in Berlin zur Zeit Großbaustellen des Bundes - des Bundestages und der Bundesregierung - mit einem Bauvolumen von über 5 Milliarden
DM und trotzdem eine anhaltend hohe Arbeitslosigkeit
im Baugewerbe haben: In dieser Branche sind in Berlin
und in Brandenburg etwa 40 000 Arbeitnehmer arbeitslos. Tatsache ist auch - darauf haben schon meine Vorredner hingewiesen -, daß in einer Reihe von Fällen dubiose Firmen, untertarifliche Bezahlung, Schwarzarbeit
und illegale Beschäftigung aufgedeckt worden sind.
Ich warne aber entschieden davor, die Legende zu
stricken, die Bundesbaustellen seien ein Hort von mafiosen Strukturen und illegaler Arbeit. Eines möchte ich
ganz konkret sagen, Frau Kollegin Petra Pau: Der Fall
der Firma Octopus, die ihre Leistungen nicht erbracht
und ihre Arbeitnehmer nicht bezahlt hat, ist ein Problem.
Das kommt aber leider hin und wieder am Bau vor. Ich
finde das überhaupt nicht gut oder schön; jedoch halte
ich es für äußerst problematisch, das dem Bauherrn
Bund in einer Form anzuhängen, wie Sie es getan haben.
Ich glaube, wir haben die Verantwortung, uns nicht gegenseitig einzelne Sensationsfälle vorzuhalten, sondern
die strukturellen Probleme anzugehen.
Herr Kansy, Sie haben die Fälle angesprochen. Ich
möchte noch einmal darauf hinweisen, daß es auch spezifische Probleme der Bundesbaustellen gibt. Das sind
riesige Großbaustellen. Sie haben sehr enge Zeit- und
Ablaufpläne; sie haben sehr große Bau- und Vergabelose. Daraus folgt natürlich, daß dort überwiegend Großunternehmen zum Zuge kommen und nicht - wie sich
das die Fachgemeinschaft Bau gewünscht hat - der
Mittelstand. Dadurch haben wir das Problem - das sollten wir uns schon bewußt machen - der Subunternehmensstruktur und die Tendenz, daß die mittleren Unternehmen überwiegend als Subunternehmen eingesetzt
werden und deshalb Preise und Löhne enorm drücken
müssen.
Das aber ist ein Problem, das wir nicht allein lösen
können, obwohl ich dafür bin, immer wieder darauf zu
achten, daß die Baulose etwas mittelstandsfreundlicher
„gestrickt“ werden - was dann natürlich Auswirkungen
auf die Zeit- und Ablaufpläne hat. Es geht aber auch um
ein Stück Verantwortung der Anbieter und der Fachgemeinschaft Bau bzw. der entsprechenden Organisationen
in anderen Regionen. Wir haben uns immer wieder gewünscht - und das auch so in der Baukommission vorgetragen -, daß die Bieter 60 Prozent der angebotenen
Leistungen selbst erbringen sollen, um die Subunternehmensstruktur auszutrocknen. Bei solchen Großbaustellen geht das jedoch nur dann, wenn sich die Mittelständler vermehrt zu Bietergemeinschaften und Arbeitsgemeinschaften zusammenfinden. Das wollte ich als
Beispiel anführen; es ist also beiderseitiges Entgegenkommen angebracht.
Diese Regierung hat sich schon große Mühe gegeben,
das Problem strukturell weiter zu entschärfen. Wir haben im Dezember das Entsendegesetz entfristet, wir haben die Durchgriffshaftung für Generalunternehmer eingeführt - das heißt: Sie haften auch für die Einhaltung
der Tarife sowie für die Entrichtung der Sozialabgaben
und Steuern ihrer Subunternehmen -, und wir haben inzwischen die Möglichkeit, Tarifregelungen auch auf
nichttarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu
erstrecken. Das alles sind Instrumente zur Stärkung der
gerechten Entlohnung und solider Tarif- und Abgabenstrukturen.
Mir ist wichtig, zu sagen, daß wir bei der Diskussion
nicht nur zurück-, sondern auch in die Zukunft schauen
müssen. In Berlin stehen in den nächsten Jahren noch
eine Reihe von Baumaßnahmen des Bundes an. Zum
überwiegenden Teil werden diese Baumaßnahmen in
Zukunft kleiner und überschaubarer. Daher empfehle ich
sehr, daß sich der Bund, vertreten durch das Bundesbauministerium und die BBB, das Bundesbauamt, die
Berliner Verbände und die Gewerkschaften noch einmal
zusammensetzen, um in Form eines runden Tisches oder
als Teil des Bündnisses für Arbeit zu prüfen, wie die Beschäftigungssituation unter Einbeziehung mittelständischer Unternehmen im Raum Berlin und Brandenburg
effektiver und konstruktiver gestaltet werden kann.
Ich glaube, es wäre ein gutes Zeichen, wenn der Bund
deutlich machte, daß er die Kooperation sucht. Das setzt
bei den Firmen aber auch die Bereitschaft voraus, bei
der Entlohnung, den Tarifen, den Sozialabgaben und
Steuern ihrerseits Transparenz zu zeigen und einen konstruktiven Umgang zu ermöglichen.
({0})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in die Thematik einsteige, möchte ich klar sagen: Schwarzarbeit
kann und darf in der Bundesrepublik Deutschland nicht
geduldet werden. Sie ist ein Krebsübel unserer Gesellschaft und deswegen ein wichtiges Thema, das hier diskutiert werden muß.
Schwarzarbeit verzerrt den Wettbewerb. Schwarzarbeit stellt die Finanzierungsgrundlagen unserer Solidarsysteme in Frage. Deswegen ist es nur richtig, wenn wir
uns die Frage stellen, wie sie bekämpft werden kann.
({0})
Lohndumping ist, genauer besehen, kein eigenständiges
Thema, sondern gehört zu diesem Komplex. Aus meiner
Sicht sind es letztlich die gleichen Ursachen, die zu beiden Erscheinungen führen. An diesen Ursachen gilt es
anzusetzen.
Deswegen hilft es nicht weiter, daß die PDS die Einweihung des neuen Plenarsaals in Berlin zum Anlaß
nimmt, hier mit Pathos eine Aktuelle Stunde zum Thema
Schwarzarbeit auf den Baustellen des Bundes einzufordern.
({1})
- Wenn Sie wirklich den Verdacht hegen, Frau Kollegin
Pau, meine Damen und Herren von der PDS, die Bundesregierung - alt oder neu - fördere die Schwarzarbeit,
und wenn es Ihnen wirklich um mehr Beschäftigung
geht, dann frage ich mich, warum Sie nicht schon sehr
viel früher Alarm geschlagen haben, sondern auf die
Fertigstellung des Reichstages und den Baufortschritt
auf den anderen Baustellen des Bundes gewartet haben.
Das macht doch letztlich keinen Sinn.
Ich glaube, von den Fakten her gibt es wenig Angriffsfläche. Die Kollegen Kansy und Eichstädt-Bohlig
haben bereits das Nötige gesagt. Wenn wir die Gelegenheit nutzen, darüber zu reden, was Politik im allgemeinen zur Vermeidung von Schwarzarbeit tun kann, dann
hat diese Aktuelle Stunde am Ende vielleicht doch noch
ein lohnendes Ergebnis.
Was also sind die Ursachen der Schwarzarbeit? Wie
entsteht sie? Zunächst einmal muß man wohl sagen, daß
das Bild vom Unternehmer, der durch Hinterziehung
von Steuern und Sozialabgaben seinen Gewinn maximieren will, ebenso einfach wie falsch ist. Es ist oft,
etwa in ertragsschwachen Unternehmen, eher die Not,
die zu illegalen Gestaltungen führt. Nicht wenige Unternehmen könnten am Markt nicht mehr existieren, wenn
sie ihre Leistungen unter Einrechnung aller fälligen
Steuern und Sozialabgaben anbieten würden.
Es ist auch schon deswegen nicht richtig, die Verantwortung allein bei den Unternehmen abzuladen, weil zur
Schwarzarbeit immer zwei gehören, nämlich jemand,
der die Schwarzarbeit anbietet, und jemand, der die
Schwarzarbeit nachfragt, Herr Kollege Kutzmutz. Das
gilt für die Kunden-Lieferanten-Beziehung ebenso wie
für die Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehung. Das muß
man hier auch einmal sagen.
({2})
Ich wage die Behauptung - ich spreche jetzt über
Schwarzarbeit allgemein -, daß in den allermeisten Fällen auf der einen oder anderen Seite oder auf beiden
Seiten Privathaushalte beteiligt sind. Deshalb muß,
wenn wir über Schwarzarbeit reden, die Frage auch lauten: Weshalb lassen sich denn so viele Privathaushalte
- um es anschaulich zu machen - zum Beispiel von
einem angeblichen Bekannten auf Freundschaftsbasis
- wir wissen alle, wie diese „Freundschaften“ zustande
kommen - das Bad fliesen, anstatt hierfür den örtlichen
Fliesenlegermeister oder sein Unternehmen zu beschäftigen? Die Antwort lautet: Weil ihnen dessen Arbeitskraft schlicht zu teuer ist. Wer fünf Stunden arbeiten
muß, um sich eine Handwerkerstunde leisten zu können,
sucht eben oft nach Alternativen. Ein großer Teil des
Baumarktbooms kann auf diesen Sachverhalt zurückgeführt werden.
({3})
- Daß Sie das wissen, Herr Gilges, ist mir klar. Ich will
Ihre Kompetenz gar nicht bestreiten. Aber Herr Kollege
Gilges, wir sollten hier die Ursachen der Schwarzarbeit
diskutieren und nicht die Tatsache der Existenz von
Schwarzarbeit als solcher - so schlimm Schwarzarbeit
auch ist. Wer Schwarzarbeit und Lohndumping bekämpfen will, der muß im Endergebnis die Standortdebatte
führen. Die Arbeitskosten in Deutschland sind zu hoch;
sie müssen gesenkt werden.
({4})
Das Problem besteht darin, daß sich die Politik der
jetzigen Regierung im Kreise dreht, anstatt wirksame
Schritte zu gehen. Wegen zunehmender Schwindeligkeit
können die Verantwortlichen keinen klaren Gedanken
mehr fassen. Dies belegen sehr offenkundig die Ergebnisse Ihrer bisherigen Gesetzgebung und das anschließende Herumgeeiere, Stichwort: Scheinselbständigkeit
bzw. 630-Mark-Jobs.
Zum Ende meines Beitrages in dieser Aktuellen
Stunde muß ich leider eines voraussagen: Wenn die
Politik der Bundesregierung den gleichen Kurs beibehält, den sie heute verfolgt, dann werden wir uns in Zukunft noch häufiger, auch ohne Reichstagsgebäude und
Bundesbauten, mit dem Thema Schwarzarbeit befassen
müssen - dann in den Bereichen Gastronomie, Zeitungswirtschaft und Gebäudereinigung, um nur einige zu
nennen. Die Grundsteine dafür haben das BMA und
Herr Riester leider schon gelegt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Renate Rennebach.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! 16 Jahre lang regierten
F.D.P. und CDU/CSU, und plötzlich ist Schwarzarbeit
ein Problem der Regierung. Die ganze Zeit vorher war
es das nicht.
Seit längerer Zeit führe ich als Berliner Abgeordnete
Gespräche mit dem für die Berliner Baustellen zuständigen Gewerkschaften IG BAU und IG Metall sowie mit
dem Landesarbeitsamt und mit der für die Kontrollen
zuständigen AD BAU - jetzt auch in Zusammenarbeit
mit dem Staatssekretär Andres und Frau Janz aus meiner
Fraktion.
Ich kenne die Mißstände wie illegale Beschäftigung
und erhebliche Verstöße gegen die Arbeitssicherheit
beim Bau. Daher hat es mich schon verwundert, daß
ausgerechnet nach einer Unternehmerdemo gegen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, gegen Verbesserung des
Kündigungsschutzes, aber auch gegen Lohndumping
und Schwarzarbeit am Bau die PDS diese Aktuelle
Stunde jetzt beantragt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der heftigste Protest
der Fachgemeinschaft Bau richtete sich am Montag gegen die jetzige Bundesregierung, die mit ihrer Politik
das Recht auf dem Arbeitsmarkt wiederhergestellt hat.
Im übrigen: Eine Stuckfirma, Mitglied der Fachgemeinschaft, hat die meisten ihrer regulären Arbeitnehmer
entlassen, um mit billigen portugiesischen Arbeitnehmern - unter Tarif - weiter zu arbeiten. Also hat die
Fachgemeinschaft auch gegen Mißstände in den eigenen
Reihen protestiert.
Es sind ebenfalls die Arbeitgeber, die der IG Metall
seit längerer Zeit Tarifverträge in einigen Bereichen versagen. Auch deshalb gibt es Bestrebungen des Arbeitsministers Walter Riester, die Tarifverträge im Bereich
Bau für allgemeinverbindlich zu erklären. Zusätzlich
fordern die Gewerkschaften, daß ein besonderer Mindestlohn neu festgesetzt wird. Der bisherige, so niedrig
er schon ist, wird insbesondere in den neuen Ländern
immer wieder unterlaufen.
Die Kontrollen auf den Baustellen gehen unvermindert weiter. Die Perversion liegt hier auf der Hand, Kolleginnen und Kollegen: Die Arbeitgeber treiben Mißbrauch, und die Zahlerinnen und Zahler von Beiträgen
an die Bundesanstalt für Arbeit finanzieren die Kontrollen. Die Ermittler von Hauptzollamt und LKA stoßen
laut eigener Aussage auf eine ungeheure kriminelle
Energie. 30 000 Bauarbeiter in der Region sind arbeitslos.
Nun möchte ich ein paar Zahlen des Landesarbeitsamtes Berlin/Brandenburg nennen - ich betone, daß ich
vom gesamten Bau Berlin/Brandenburg spreche und
nicht nur von Bundesbaustellen; denn der Skandal geht
ja weiter -: Im Jahr 1998 fanden 16 176 Außenprüfungen statt. Dabei wurden 52 000 Arbeitnehmer überprüft.
An Bußgeldern wurden 18,9 Millionen DM verhängt. Im
Jahre 1999 wurden bis jetzt 1 793 Arbeitgeber überprüft.
Das Ergebnis ist, daß es bei 21 Arbeitgebern Meldeverstöße gab. Davon betroffen waren 59 Arbeitnehmer.
183 Arbeitgeber wurden bei Mindestlohnunterschreitung
angetroffen. Betroffen waren 427 Arbeitnehmer. Arbeiten ohne erforderliche Arbeitsgenehmigung gab es bei
38 Arbeitgebern. Davon betroffen waren 60 Arbeitnehmer. Von unerlaubter Arbeitnehmerüberlassung waren
192 Arbeitnehmer betroffen - allein in diesem Jahr.
Die Bundesregierung hat das Entsendegesetz entfristet und die Bußgelder erhöht. Dies ist geltendes
Recht seit dem 1. Januar 1999. Gleichzeitig gibt es neuDr. Heinrich L. Kolb
erdings die Generalunternehmerhaftung. Das haben wir
hier schon an verschiedenen Stellen gehört. Es ist aber
schwierig, Kolleginnen und Kollegen, ein seit 16 Jahren
immer mehr verfeinertes Freibeutertum in der Branche
durch politische Maßnahmen von heute auf morgen zu
beseitigen.
({1})
Nun noch kurz zum Thema Bundesbaustellen: Die
Verträge hat die alte Bundesregierung geschlossen.
Teilweise hat sie die Verantwortung auf die Bundesbaugesellschaft abgewälzt. Die wiederum sieht trotz Mängelberichten bei Kontrollen - kürzlich mußte die Arbeit
auf der Baustelle Bundeskanzleramt wegen Verstößen
gegen die Arbeitssicherheit teilweise gestoppt werden -,
trotz entdeckter Verstöße gegen Tariftreue und trotz entdeckter Schwarzarbeit - zugegeben, weniger als auf anderen Baustellen, aber das Problem bleibt trotzdem keinen Grund zum Handeln und weist dieses als Bagatelle und völlig normal aus.
({2})
Während die alte Bundesregierung untätig blieb,
verschließt die neue, rotgrüne Bundesregierung nicht die
Augen vor den Machenschaften der Bauunternehmer.
Neben den vorgetragenen Gesetzesmaßnahmen hat sie
gleichzeitig das Zugangsrecht für Gewerkschaften auf
den Bundesbaustellen erleichtert, um so eine bessere
Kontrolle auch von dieser Seite her zu ermöglichen. Seit
Juli 1998 sieht die Baustellenverordnung Sicherheitskoordinatoren vor. Für alte Baustellen gilt dies allerdings
nur auf freiwilliger Basis. Debis am Potsdamer Platz hat
dies freiwillig eingeführt. Ich wünschte mir von der
Bundesbaugesellschaft, wenn ich als Mitglied einer Regierungsfraktion einmal einen Wunsch an die Bundesbaugesellschaft äußern darf, daß auch sie auf freiwilliger
Basis Sicherheitskoordinatoren einstellen und mit gutem
Beispiel auch für andere Bauten vorangehen würde.
({3})
Zum Schluß noch ein Zitat aus der „Märkischen Allgemeinen“ vom 16. April 1999:
Trotz aller zur Schau getragenen Entschlossenheit,
illegale Beschäftigung zu bekämpfen, blieb eine
gewisse Skepsis. „Es ist fraglich, ob Kontrollen
wirklich einen Gesetzesbruch verhindern können
oder ob dazu nicht die Gesellschaft verändert werden muß.“
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter
Friedrich.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung sind nicht nur
in Berlin und Brandenburg ein Thema, aber speziell da,
weil die Baustellen, wie wir gehört haben, dort besonders groß sind und es, wie wir am Montag gesehen haben, dort besonders viele gibt. Aber, meine Damen und
Herren, die Bekämpfung von Schwarzarbeit und von
illegaler Beschäftigung ist bundesweit eine Daueraufgabe im Vollzug der bestehenden Gesetze.
({0})
Darauf haben die Kollegen Kolb und Kansy bereits hingewiesen.
Es geht nämlich darum, daß sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze dadurch zerstört werden und
verlorengehen, daß Unternehmen, die sich an Recht und
Ordnung, an Gesetze halten, im durch Schwarzarbeit
und illegale Beschäftigung verzerrten Wettbewerb nicht
bestehen können. Deswegen hat die frühere Bundesregierung eine ihrer wichtigsten Aufgaben immer darin
gesehen, neue Umgehungsmöglichkeiten zu bekämpfen
und den fairen Wettbewerb aufrechtzuerhalten.
({1})
Beispiele hat Ihr Staatssekretär ja heute zuhauf genannt.
Dennoch wird uns dieses Problem noch einige Zeit
erhalten bleiben, jedenfalls so lange, wie ein massiver
Unterschied bei den Realeinkommen zwischen den Ländern Mittel- und Osteuropas und beispielsweise Berlin
besteht. Ich möchte darauf hinweisen, daß wir insbesondere das Thema, wie es dem Mittelstand beispielsweise
nach dem Beitritt von Polen und Tschechien zur EU ergehen wird, unbedingt in den Blick nehmen und Übergangsfristen bis zur vollkommenen Freizügigkeit gegenüber diesen neu beitretenden Staaten festlegen müssen.
Die hohe Kaufkraft der D-Mark - darüber muß man sich
im klaren sein - wird weiterhin ihre Sogwirkung speziell
in Richtung Polen und Tschechien entfalten. Dieses
Problem trifft mittelständische Unternehmen in Berlin
und Brandenburg ebenso wie in Hof, Marktredwitz oder
im Bayerischen Wald. Verständlich also, daß die Mittelständler und ihre Beschäftigten auf die Straße gehen, so
wie es am Montag in Berlin geschehen ist.
Frau Rennebach, es ist eigentlich unglaublich, daß
Sie in die gleiche Kerbe wie der Bundesbauminister
schlagen, der, von der „Leipziger Volkszeitung“ auf diese Demonstrationen angesprochen, folgendes sagte:
Diese Tarifgemeinschaft Bau, die das organisiert
hat, ist eine Arbeitgebervereinigung. Und interessanterweise eine, die gegen Kündigungsschutz und
Lohnfortzahlung war. Also, da ist auch Heuchelei
im Spiel.
({2})
Im Klartext heißt das: Wer die Politik von Rotgrün zu
kritisieren wagt, wird abgestraft, indem man seine beRenate Rennebach
rechtigten Anliegen nicht mehr ernst oder nicht mehr zur
Kenntnis nimmt.
({3})
Diese Art und Weise, mit kritischen Geistern umzugehen, ist nicht in Ordnung. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer in diesem
Land, gerade im Mittelstand, längst in einem Boot sitzen. Vielleicht könnte Ihnen das auch der Kollege Wiesehügel, wenn er einmal zu solchen wichtigen Debatten
käme, bestätigen.
({4})
Diese Regierung verschärft das Problem der
Schwarzarbeit durch eine katastrophale Gesetzgebung
bei den 630-Mark-Jobs und durch die Rücknahme der
Flexibilisierung am Arbeitsmarkt. Die bayerische Staatsregierung hat in einer Bundesratsinitiative einen durchdachten Vorschlag zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung und der Schwarzarbeit gemacht. Dieser
Vorschlag sah unter anderem die Einrichtung eines
Außendienstes bei den zuständigen Behörden für verdachtsunabhängige Kontrollen, die Stärkung der Prüfungsmöglichkeiten der Handwerkskammern und die
Einführung eines steuerlichen Abzugsverfahrens für die
Lohnsteuer vor, wenn ausländische Subunternehmer beauftragt werden. Statt diese wichtigen Überlegungen
einmal aufzunehmen, schmort Rotgrün lieber im eigenen
ideologischen Saft.
({5})
Der gut durchdachte bayerische Vorschlag zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung ist am 19. März von
der rotgrünen Mehrheit im Bundesrat abgelehnt worden.
({6})
Statt dessen treiben Sie mit Ihrer falschen Politik immer
mehr Menschen in die Schwarzarbeit. Ich frage mich, ob
Sie sich eigentlich darüber im klaren sind, welche verheerenden Auswirkungen Ihre Mehrwertsteuererhöhungsphantasien insbesondere auf die Bauindustrie und
das Handwerk hätten.
({7})
Hören Sie endlich auf, Symptome zu bekämpfen;
bekämpfen Sie endlich die Ursachen! Runter mit den
Steuern und Abgaben, Schluß mit dem Abkassieren bei
Bürgern und Unternehmern,
({8})
mehr Freiheit für tarifpolitische Gestaltung - das sind
die besten Mittel gegen Schwarzarbeit.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die
Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Weil sich die Zustände auf den Baustellen, und
zwar nicht nur auf den Bundesbaustellen, sondern auf
allen Großbaustellen, in den letzten Jahren so katastrophal entwickelt haben, haben wir immer wieder über
dieses Problem gesprochen und auch sprechen müssen.
Handeln konnten wir als rotgrüne Bundesregierung allerdings erst ab letztem Herbst. Die alte Bundesregierung hat sich - das haben wir ihr auch immer wieder
klargemacht - nicht zu wirklich wirksamen und verbindlichen Schritten zum Schutz der Tarifautonomie
durchringen können. Sie hat statt dessen zugelassen, daß
der Bausektor zum Experimentierfeld für Lohn- und Sozialdumping gemacht worden ist.
({0})
Die neue Bundesregierung hat unmittelbar nach
Amtsantritt wichtige Schritte gegen die Mißstände auf
den Baustellen unternommen. Zu ihren ersten gesetzlichen Maßnahmen gehörte - das war absolut dringend
und richtig -, das bis dahin ausgesprochen löchrige Entsendegesetz, das für „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“
sorgen sollte, zu entfristen, die Allgemeinverbindlicherklärung für Tarifverträge zu Mindestlöhnen auch im
Konfliktfall zu ermöglichen und die Durchgriffshaftung
für den Generalunternehmer festzuschreiben, damit die
Verantwortung des einzelnen Arbeitgebers für Sozialversicherung und für tarifliche Arbeitsbedingungen nicht
mehr in einer unübersichtlichen Kette von Sub- und
Subsubunternehmen verschwinden kann.
({1})
Das waren wichtige und längst überfällige Schritte,
die aber erstens nicht von einem Tag auf den anderen ihre Wirkung entfalten können - erst recht nicht in der
völlig verfahrenen Situation in Berlin - und zweitens
allein nicht ausreichen, um die Probleme auf den Baustellen zu lösen. Da wird Weiteres notwendig sein, und
darüber sind wir uns im klaren; Weiteres ist auch geplant.
({2})
- Das werde ich gleich noch tun. - Die Probleme, vor
denen wir stehen, sind nämlich immens. Ich behaupte
nicht - was Sie offensichtlich unterstellen -, daß mit
dem Akt der Regierungsübernahme schon alles in Ordnung sei oder in Ordnung sein könne.
({3})
Ich sehe die Kritik an den Zuständen auf den Baustellen keineswegs als Kritik an Rotgrün, wie es Kollege
Friedrich eben bezeichnet hat. Für die Zustände am
Reichstag können Sie uns in Mithaftung nehmen, wie
man uns alle dafür in Mithaftung nehmen kann. Aber ich
glaube nicht, daß die Aufträge im Rahmen des ReichsDr. Hans-Peter Friedrich ({4})
tagsumbaus erst seit Oktober letzten Jahres vergeben
worden sind. Dann hätten wir in kurzer Zeit wirklich
viel erreicht, und so schnell ist selbst Rotgrün nicht.
({5})
Es geht hier um Probleme, bei denen auch Ihre Verantwortung nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden kann, da auch das ein Ergebnis der Politik der letzten Jahre ist. Es herrscht nämlich seit Jahren auf den
Baustellen übelstes Lohn- und Sozialdumping. Oft liegen die Löhne - das gilt leider immer noch - bei 5 bis
10 DM in der Stunde. Die Unterbringung ist miserabel,
wird aber dennoch zu Wucherpreisen vom Lohn, der im
Fall der offiziellen Überprüfung immer dem gesetzlichen Mindestlohn entspricht, abgezogen. Zum Teil werden die Unterbringungskosten direkt einbehalten.
Von vernünftigem Arbeits- und Unfallschutz kann
dabei keine Rede sein. Der Sicherheitsingenieur Jürgen
Rubarth sprach noch im September 1998 unter Bezug
auf die Berliner Baustellen von Daimler von einem
Chaos und hat beschrieben, daß dort zwei Drittel der
Menschen ohne Sicherheitsschuhe und Helm arbeiten
und daß Monteure auf zusammengebundenen Leitern
„turnen“. Ich zitiere ihn: „Wie da gearbeitet wird, ist
nicht mehr zu verantworten, ist ein rechtsfreier Raum.“
Hier müssen die Kontrollen verstärkt werden. Denn
solche Arbeitssituationen können und werden wir nicht
hinnehmen, weder auf Bundesbaustellen noch auf irgendwelchen anderen Baustellen.
({6})
Der Grund dafür ist die unglaublich scharfe Unterbietungskonkurrenz am Bau. Die Arbeitssicherheit bleibt da
schnell auf der Strecke, genau wie die Qualität der Arbeit, von der sozialen Absicherung oder der tariflichen
Bezahlung der Beschäftigten gar nicht zu reden.
Zwischen General-, Sub- und Subsubunternehmern,
Arbeitnehmern aus Werkvertragskontingenten und solchen aus der EU blühen nach wie vor Scheinselbständigkeit und illegale Leiharbeit.
({7})
- Das Gesetz gilt seit dem 1. April 1999. Natürlich wird
es auch auf die Scheinselbständigkeit am Bau Auswirkungen haben. Wir hoffen, daß wir mit dem Gesetz gegen die Scheinselbständigkeit genau wie mit dem Eingriff, den wir beim Entsendegesetz vorgenommen haben, dazu beitragen, daß die Menschen wieder in vernünftigen Sozialversicherungsverhältnissen arbeiten
können und daß die tariflichen und die Sozialversicherungsbedingungen eingehalten werden.
({8})
Inzwischen sind mehrere Fälle öffentlich geworden,
in denen portugiesische oder türkische Arbeiter von den
Unternehmern, die sie ins Land geholt haben, nicht ordnungsgemäß gemeldet und um ihren Lohn geprellt wurden. Sie haben statt einer Unterstützung und einer Vertretung ihrer Rechte gegenüber solchen Betrügern eher
die Abschiebung zu erwarten. Hier müssen wir - das ist
einer der Schritte, die wir noch dringend unternehmen
müssen - die Rechtsstellung gerade der ausländischen
Kollegen und Kolleginnen stärken und sicherstellen, daß
diese Arbeitgeber belangt werden.
Unser Ziel ist es, die Situation des Lohn- und Sozialdumpings am Bau aufzubrechen. Um aus dieser Dumpingspirale auszubrechen, haben wir erste Schritte getan,
weitere Schritte stehen an. Dazu gehören das Verbandsklagerecht und die Bindung der Vergaberichtlinien an
die Tariftreue. Die Vergabe öffentlicher Aufträge muß
von der Sozialversicherungspflicht und der Tariftreue
abhängig sein.
Frau Kollegin, ich
muß auch Sie an die Einhaltung Ihrer Redezeit erinnern.
Das gilt für Bund, Länder und Gemeinden.
Ich glaube, daß wir für ausländische Kollegen und
Kolleginnen ganz dringend Beratung und Anlaufstellen
brauchen und daß eine Verbesserung ihrer Rechtsstellung dringend nötig ist. Denn Lohn- und Sozialdumping
führt sonst zu nationalen Ressentiments - das haben wir
am Bau allzu schmerzlich festgestellt - und nicht zu
einem weltoffenen Europa.
({0})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es müßte der Bundesregierung zu denken geben - daß dies so ist, haben wir vom
zuständigen Staatssekretär gehört -, wenn das Landesarbeitsamt Berlin unter der Schlagzeile „Deutlicher Anstieg der verhängten Bußgelder - Erfolge bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung 1998“ weiterhin zahlreiche Verstöße meldet.
Frau Rennebach hat hier eine Reihe von Zahlen genannt. Ich könnte sie erweitern. Wenn bei Firmenüberprüfungen bis zu 63 Prozent Verstöße gegen die Zahlung von Mindestlohn festgestellt werden und wenn bis
zu 30 Prozent Verstöße gegen die Meldepflicht ermittelt
werden,
({0})
- das sind die Zahlen, die ich mir gestern vom Landesarbeitsamt Berlin/Brandenburg habe geben lassen, Frau
Rennebach -, dann läßt sich der Schaden ahnen, der mit
der in einigen Bereichen des Bauwesens mit krimineller
Energie betriebenen Aushöhlung der rechtlichen Regelungen angerichtet wird.
Natürlich kritisieren wir genauso wie Sie das Vorgehen der Fachgemeinschaft Bau gegen Schlechtwettergeld, Lohnfortzahlung und andere Bereiche, aber Anlaß
dieser Aktuellen Stunde war für uns nicht die Demonstration der Fachgemeinschaft Bau, sondern die reale
Lage am Bau und die hier genannten Probleme, die unter anderem von Bundesminister Müntefering nicht ausreichend behandelt wurden.
Das Baugewerbe, als Konjunkturlokomotive noch vor
Jahren hoch im Kurs, ist in Verruf gekommen. Baufacharbeiter zu sein galt und muß wieder gelten als hochangesehener Berufsstand, als Schöpfer und Errichter von
Neuem, Bleibendem, als Beruf gerade für junge Menschen, als Beruf mit Zukunft. Wir beklagen auch und gerade den Verlust dieser Werte; denn es ist eine Schande,
daß bei dem gewaltigen Bauboom nach der deutschen
Einheit Zehntausende Bauarbeiter allein in Berlin und
Brandenburg ohne Arbeit sind, daß Baufirmen im Osten
Bankrott gehen, und das keineswegs witterungsbedingt.
Gehen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in die
ostdeutschen Arbeitsämter, gehen Sie in die Arbeitslosenzentren, sprechen Sie mit den entlassenen oder immer noch arbeitslosen jungen und älteren Männern und
Frauen vom Bau! Vermindern Sie ihre Wut, erklären Sie
ihnen das Unerklärliche!
Von 1996 bis heute sind allein in Berlin die Zahlen
der im Baugewerbe Beschäftigten von 56 000 auf
23 000 zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote im Bauhauptgewerbe in den neuen Bundesländern liegt bei über
30 Prozent. Sie, meine Damen und Herren von SPD und
Bündnisgrünen wie von CDU/CSU und F.D.P., reden an
so vielen Stellen über Ostdeutschland und stellen angebliche Defizite in den Köpfen der Menschen jenseits
der Elbe fest. Auf ganz Naheliegendes kommen Sie dabei nicht: Es sind die Defizite in der Politik, die Sie
selbst zugelassen haben und zulassen. Wie soll man
einem Bauarbeiter erklären, daß er keine Arbeit hat? Er
sieht den Bauboom ringsum. Wohnungen, Straßen,
Brücken und öffentliche Gebäude werden errichtet oder
saniert, und er wird dabei nicht gebraucht? Es sind nicht
die Polen, Ukrainer, Rumänen, Iren, Portugiesen oder
Italiener, die er an seiner Stelle arbeiten sieht, schuld
daran, daß irgend etwas nicht stimmen kann mit
Deutschland einig Vaterland.
Sie, meine Damen und Herren von der regierenden
Koalition, sind nicht nur dafür verantwortlich, Regelungen zu schaffen, die verhindern, daß den Ihnen anvertrauten Bürgerinnen und Bürgern - in diesem Fall sind
es die Bauarbeiter - Schaden zugefügt wird; Sie sind
auch dafür verantwortlich, daß durch solche Regelungen
die kriminellen oder halblegalen Praktiken wirksam bekämpft werden.
({1})
Wir behaupten nicht, daß Baufirmen dazu ermuntert
werden, mit Lohndumping, außertariflicher Bezahlung,
illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit nach Sonderprofiten zu streben. Dennoch müssen wir die Frage stellen, warum das kriminelle Verhalten von Unternehmern
seit Jahren nicht mit der gleichen Konsequenz bekämpft
wird wie andere Rechtsverstöße. Es ist im übrigen völlig
egal, ob, wie in der Vergangenheit, gesetzliche Regelungen fehlten oder, wie gegenwärtig, nicht greifen, weil
Mittel, Methoden oder Konsequenz zur Durchsetzung
fehlen. Die Wirkungen auf Art und Umfang der Beschäftigung sind die gleichen.
Wer als Auftraggeber der öffentlichen Hand, von den
Kommunen bis hin zur Bundesrepublik Deutschland, auf
seinen eigenen Baustellen nicht für vorbildliche, beispielhaft saubere Arbeitsverhältnisse sorgt oder sorgen
kann, der setzt sich dem Verdacht aus, so zu kalkulieren,
daß Ungesetzlichkeiten am Bau natürlich unter Umständen die Kosten des Bundes senken. Interessiert es die
Bundesregierung nicht, wie die Bundesbaugesellschaft
in Einzelfällen sogar kalkulierte Baukosten unterbietet?
Das Schäbigste, was getan werden kann, ist die
Schuldzuweisung an die Leidtragenden, die letztlich irgendwann bereit sind, ihre Arbeitskraft weit unter dem
Tariflohn zu verkaufen oder schwarzarbeiten zu gehen.
({2})
Niemand arbeitet schwarz, wenn nicht Schwarzarbeit
angeboten wird. Jemand, der keine legale Arbeit auf
dem Bau oder anderswo findet, wird, wenn er keine
Lohnersatzleistungen erhält, dazu greifen müssen.
Die Fraktion der PDS fordert von der Bundesregierung Maßnahmen, die sichern, daß richtige Gesetze
durch die Praxis auf vielen Baustellen nicht zu bloßer
Makulatur abqualifiziert werden. Besondere Überlegungen und Maßnahmen sind gefordert, mit deren Hilfe die
ostdeutsche Bauwirtschaft, in deren Wirkungsbereich es
unendlich viel Arbeit gibt, wieder zum Motor des Aufschwungs Ost wird. Das zu erreichen dürfte eigentlich
nicht schwer sein, wo doch der Aufbau Ost in der Regierungskoalition Chefsache ist.
({3})
Für die SPDFraktion spricht die Kollegin Gabriele Iwersen.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Nachdem schon sämtliche einschlägigen Gesetze herangezogen worden sind, von den anderen Mitgliedern der Baukommission - jedenfalls von
Herrn Dr. Kansy und Frau Eichstädt-Bohlig - ausführlich auf die Bedingungen auf den Baustellen des Bundes
in Berlin eingegangen worden ist und wir den anderen
Vorträgen haben entnehmen müssen, daß die Bundesbaustellen in der Statistik nirgends gesondert aufgeführt
werden, kann ich feststellen, daß die vordergründigen
Vorwürfe hinsichtlich der Bundesbaustellen - besonders
von seiten der Antragsteller dieser Aktuellen Stunde im Grunde genommen nicht belegbar sind.
Ich will Ihnen einmal ganz kurz schildern, mit welchem System versucht worden ist und wird, Illegalität
auf den Baustellen des Bundestages in Berlin zu vermeiden, was natürlich nie hundertprozentig funktionieren kann, weil es bei den verschiedenen am Bau Beteiligten - wie schon erwähnt worden ist - eine erhebliche
kriminelle Energie gibt.
Die Baustellen sind praktisch hermetisch abgeschlossen. Um als Arbeitnehmer auf eine solche Baustelle zu
kommen, muß man in eine Liste eingetragen werden.
Diese Listen werden nach den Angaben erstellt, die vor
Arbeitsantritt auf der Baustelle von den entsprechenden
Unternehmern und Subunternehmern - Sub-Subunternehmer sind nicht zugelassen - gemacht werden müssen.
({0})
Nach diesen Listen werden Tagesausweise produziert.
Die werden morgens oder bei Schichtwechsel an der
Baustelle ausgegeben und gegen ein gültiges Papier,
zum Beispiel einen Paß oder einen Personalausweis,
eingetauscht. Durch diesen Austausch ist auch für die
Kontrollen immer ein Ausweispapier verfügbar.
Wer einen Arbeitnehmer illegal in eine Baustelle einschleusen will, muß erst einmal einen Namen aus einer
solchen Liste haben und dazu die passenden Papiere fälschen. Daß man Ausweispapiere gut fälschen kann,
müßten eigentlich gerade die Berliner gut wissen; denn
jahrelang hat es eine Mauer gegeben, die keine Baustellen eingefriedet hat und nur mit Schwierigkeiten zu
überwinden war. Einige Jahre nach dem Bau dieser
Mauer war auch das Fälschen von Pässen eine vielgeübte Methode, um diejenigen, die vorher freizügig in
Berlin hin und her wandern konnten, in den jeweils anderen Teil von Berlin zu bringen.
({1})
- Es ist jedenfalls so. - Ich kann mir vorstellen, daß Sie,
wenn heute von seiten der PDS Kontrollen gerade an
den Bundesbaustellen als nicht ausreichend effektiv kritisiert werden, Ihr Expertenwissen einbringen wollen,
weil Sie sicherlich einiges mehr darüber wissen als wir,
wie man irgendwann dichtmacht.
({2})
Jedenfalls ist es zweifellos so, daß diese Baustellen
nicht so leicht zu stürmen sind und daß dazu mehrere
Fälschungsvorgänge notwendig sind. Sie behaupten, daß
sei in einer „Report“-Sendung nachgewiesen worden.
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Schauen Sie sich das
einmal genau an! Dort wurde ein Zeuge benannt und
auch gezeigt, der lediglich aussagt, ihm sei das angeboten worden, er habe aber selbstverständlich abgelehnt.
Angeboten worden war ihm, gegen die Zahlung von
1 000 DM gefälschte Papiere zu bekommen, in die Baustelle eingeschleust zu werden, um anschließend 6 DM
des Mindestlohnes, der bei 16 DM liegt, an den Polier
abzugeben, dem er die Arbeit abgenommen hätte. - Das
sind natürlich völlig illegale Zustände. Aber Sie haben
keinen Beweis dafür erbracht - leider hat uns auch das
Landesarbeitsamt keinen Beweis dafür erbracht -, daß
solche Fälle tatsächlich vorgekommen sind.
Wir als Baukommissionsmitglieder fragen natürlich
jedesmal, wenn die Medien über solche Zustände berichten, nach Fakten; denn wir würden gerne dagegen
vorgehen. Da ist aber nichts zu machen. Man kommt an
keine Fakten heran. Es handelt sich immer nur um einen
Verdacht. Von einer Überprüfung und anschließenden
Offenlegung eines tatsächlich illegalen Falls, der mit
Sicherheit auch eine Buße für den Arbeitgeber, also die
Bauunternehmung, zur Folge haben muß, haben wir
nichts erfahren, auch dann nicht, wenn wir Kolleginnen
und Kollegen gefragt haben.
Ich will Ihnen sagen, was passiert ist, als auf der
Kanzleramtsbaustelle fünf illegale Bauarbeiter, die spanische Pässe hatten, aber kein Wort spanisch sprachen
- das war allerdings verdächtig -, gefaßt wurden: Seitdem wird diese Baustelle hermetisch abgeriegelt; es gibt
eine Paßkontrolle nach den Richtlinien des Schengener
Abkommens. Auf dieser Baustelle werden die Ausweispapiere sogar durchleuchtet, um sie auf Echtheit zu
überprüfen.
Ich habe mir das Berlin nach dem Fall der Mauer anders vorgestellt. Jetzt wird von allen Seiten geschrien,
man müsse noch mehr kontrollieren, noch strenger abschirmen, um Illegalität zu vermeiden. Ich glaube, wir
werden uns noch so viel Mühe geben können; wir werden das nicht in den Griff kriegen, solange in den unterschiedlichen europäischen Regionen ein so großes soziales Gefälle herrscht. Deshalb kommt es zwar immer
wieder zu vergleichbaren Fällen. Aber das speziell den
Bundesbauten nachzusagen ist grundsätzlich falsch.
Keiner von denen, die sich mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, hat ausreichende Beweise offengelegt,
um sagen zu können: Das Reichstagsgebäude wird auf
dem Fundament der Illegalität und der Schwarzarbeit
- so ähnlich waren die Zitate - errichtet.
Ich möchte alle, die an der Situation etwas ändern
wollen, ganz dringend darum bitten, sich etwas konkreter damit zu befassen, was wirklich nachweisbar ist, und
nicht all den Gerüchten zu glauben, die in dieser Stadt
herumgeistern.
Schönen Dank.
({3})
Für die CDU/CSUFraktion hat jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganz gut,
daß der Bundestag einmal über die Zustände auf den
deutschen Baustellen - ich glaube, das kann man nicht
auf Berlin begrenzen - debattiert. Denn das ist unter den
Bauarbeitern und der deutschen Arbeitnehmerschaft insgesamt ein riesiges Thema.
Ich sage einmal vorweg: Ich habe vor jedem Bauarbeiter Respekt, der dafür kein Verständnis hat und die
Meinung vertritt, es dürfe nicht sein, daß Bauarbeiter in
Berlin und Brandenburg arbeitslos sind, obwohl sie in
einem Gebiet leben, wo es die größten Baustellen der
Republik gibt. Aber so leicht, wie es sich zum Beispiel
Frau Rennebach gemacht hat, ist die Lösung des Problems nicht.
({0})
Die Bundesbaugesellschaft Berlin, eine private Gesellschaft, ist eine hundertprozentige Tochter des Bundes. Der Bundesfinanzminister, der Bundesbauminister
und der Bundestagspräsident haben in dieser Bundesbaugesellschaft ein Vetorecht; gegen die drei kann da
nichts entschieden werden. Das gilt auch für die Vergabe von Aufträgen. Ich frage mich: Warum wird davon
eigentlich nicht mehr Gebrauch gemacht?
Das Problem liegt aber viel tiefer: Wenige Kilometer
von Berlin entfernt gibt es Menschen, die bereit sind, für
fünf, sechs, sieben oder acht Mark die Stunde zu arbeiten.
({1})
- Das hat mit unserer Politik überhaupt nichts zu tun.
Das ist die Situation in Osteuropa, und da haben bekanntlich Kommunisten regiert. Die haben dieses Gebiet
Europas heruntergewirtschaftet.
({2})
Reden Sie doch nicht so einen Quatsch! Das hat mit der
Union überhaupt nichts zu tun.
({3})
Die Wahrheit ist: Wenn Menschen bereit sind, für einen solch geringen Lohn zu arbeiten, dann werden wir
soviel kontrollieren können, wie wir wollen; man wird
nicht jeden Verstoß ausschließen können.
Dietmar Kansy hat darauf hingewiesen, daß die öffentliche Hand - durch die Rechenschaft vor der Öffentlichkeit, durch den Bundesrechnungshof und durch
andere Kontrollorgane - gezwungen ist, möglichst
preisgünstig zu bauen.
({4})
Die Zeitungen schreiben am Montag, bei der Reichstagseröffnung, es sei nicht richtig, daß es dort so wenige
deutsche Bauarbeiter gegeben habe, und kritisieren am
Mittwoch, daß der Bau um einige Prozent teurer geworden ist, als man gedacht hat. Ich glaube, es wäre gut,
wenn aus dieser Debatte hervorginge, daß bei öffentlichen Ausschreibungen - wenn wir als Staat also Auftraggeber sind - die Angebote geprüft und keine Dumpingangebote, die solche Verhältnisse nach sich ziehen,
genommen werden.
({5})
Das wäre eine vernünftige Lösung.
Ich glaube, daß ein weiterer Punkt ziemlich wichtig
ist. Am Beispiel der Bauwirtschaft können wir sehen,
welche Verwerfungen es auf dem Arbeitsmarkt auf
Grund der Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft, die wir politisch wollen, geben wird und geben
kann. Wir sollten uns als Arbeitnehmervertreter im
Deutschen Bundestag zumindest über eine Frage einig
sein, nämlich darin, daß wir den deutschen Arbeitsmarkt
für viele Jahre vor der Freizügigkeit von Arbeitnehmern
aus Osteuropa schützen müssen.
({6})
Sonst werden wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt ein
Waterloo erleben.
Weiterhin denke ich, daß wir überlegen müssen, wie
wir unsere Strukturen so anpassen können, damit wir
möglichst wettbewerbsfähig sind. Ich glaube, daß
Überlegungen bei den Koalitionsfraktionen zum Beispiel dahin gehend, daß Schlechtwettergeld wiedereinzuführen, eine einmal gefundene tarifrechtliche Regelung außer Kraft zu setzen - Bauhandwerker in meinem
Wahlkreis sagen mir, daß das die Arbeitsstunde von
deutschen Bauhandwerkern etwa um 6 Prozent verteuern wird -, mit Sicherheit auch nicht das richtige Signal
sind, um solche Entwicklungen einzudämmen, wie wir
sie zur Zeit auf einigen Baustellen haben.
({7})
Sinnvoll wäre auch, wenn wir gemeinsam, egal in
welcher Fraktion wir sind, dafür sorgen, daß zumindest
bei öffentlichen Baustellen, auch schon bei der Vergabe,
eine gesamtgesellschaftliche Rechnung aufgemacht
wird. Dabei darf man auch mit einrechnen, daß gerade
öffentliche Baustellen Arbeitsplätze bieten sollten, an
denen tarifvertraglich und sozialversicherungsrechtlich
einwandfrei gearbeitet werden kann. Wir sollten da auch
eine Vorbildfunktion haben.
Danke schön.
({8})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Weiermann.
Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es ist immer das alte Strickmuster der
Reden, die wir hören. Wir befinden uns nicht in der ersten Debatte über die Zustände in der Bauwirtschaft.
Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, daß es hier zu
mafiaähnlichen Strukturen gekommen ist. Ich spreche
nicht von der Baustelle des Reichstages oder von Bundesbaustellen. Ich meine vielmehr, daß die heutige Aktuelle Stunde Verpflichtung und Anreiz sein muß, über
die Situation auf deutschen Baustellen insgesamt nachzudenken. Die Arbeitnehmer, die in diesem Bereich tätig
sind, haben ein Recht darauf, daß sich der Deutsche
Bundestag ernsthaft mit dieser Angelegenheit beschäftigt und nicht jeder von uns nur seine Position verteidigt.
Hier geht es um die Menschen draußen und nicht um die
Mitglieder des Deutschen Bundestages.
({0})
Wer in der Vergangenheit vergessen hat, seiner Sorgfaltspflicht nachzukommen, als führende Repräsentanten
der deutschen Wirtschaft ihre Sympathie gegenüber
Rechtsbruch und Bruch der Tarifvertragstreue am Bau
bekundet haben, der darf sich nicht wundern, wenn diese
skandalösen Dinge heute weiter betrieben werden. Das
geht eindeutig zu Lasten der Menschen.
({1})
Ich habe vor mir die Entwicklung der Zahlen für das
gesamte Bundesgebiet. 1994 hatten wir noch 601 Bußgeldentscheidungen von mehr als 200 DM, 1997 waren
es 2 239. Während 1994 die Bußgeldsumme für illegale
Beschäftigung 23,64 Millionen DM betrug, lag sie 1997
bei 42,36 Millionen DM. Während 1994 für die illegale
Arbeitnehmerüberlassung eine Bußgeldsumme von fast
23 Millionen DM gezahlt wurde, waren es 1997 fast
75 Millionen DM. Sie sehen, daß es hier eine Tendenz
nach oben gibt.
Ich unterstelle nicht, daß nirgendwo ernsthaft der
Versuch unternommen wird, die Einhaltung gesetzlicher
und tarifvertraglicher Rahmenbedingungen zu überprüfen. Ich stelle an Hand dieser Zahlen allerdings fest, daß
die Entwicklung, sich um die Einhaltung der Rahmenbedingungen, der gesetzlichen Verpflichtungen und der
tarifvertraglichen Verpflichtungen herumzudrücken, in
der Vergangenheit immer stärker geworden ist. Das gilt
es festzuhalten.
({2})
Die SPD-Fraktion stellt mit erheblicher Sorge fest,
daß sich die Unternehmen unberechtigte Wettbewerbsvorteile verschaffen. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch ein bißchen über Wirtschaftspolitik reden. Sie
verschaffen sich diese Wettbewerbsvorteile gegenüber
den gesetzestreuen und tarifvertragstreuen Arbeitgebern.
({3})
Bei aller Wertschätzung, lieber Herr Laumann - ich
weiß, daß Sie im gewerkschaftlichen Lager nach wie vor
tätig sind, zumindest waren Sie dort tätig -: Ihre Einstellung, wonach der Arbeitnehmer bei solchen Entwicklungen gleichzeitig Opfer und Täter ist, teile ich nicht.
({4})
Arbeitgeber und Arbeitnehmer schafften tarifvertragliche Rahmenbedingungen. Die Arbeitnehmer vertrauen
darauf, daß sich die Arbeitgeber dem Tarifvertrag, den
sie mit unterzeichnet haben, letzten Endes auch verpflichtet fühlen und die Löhne und Gehälter zahlen, die
im Bau zu zahlen sind, und sie nicht auf 3,50 DM,
5 DM, 6 DM oder 7 DM pro Stunde in den Keller drükken. Das ist ein Skandal, liebe Kolleginnen und Kollegen, und dagegen gehen wir vor.
Ich bedaure, daß auf der anderen Seite des Hauses die
Einsicht fehlt, daß die auf deutschen Baustellen Beschäftigten nichts anderes wollen, als daß bestehende
Gesetze und Tarifverträge eingehalten werden. Nicht
mehr und nicht weniger wollen sie. Darin wollen wir sie
unterstützen.
({5})
Wir wollen auch zu Maßnahmen kommen, die das, was
heute noch in der Gesetzgebung fehlt, ergänzen.
Ich komme zum Schluß, da ich sehe, daß ich mit
meiner noch zur Verfügung stehenden Redezeit bei „minus Null“ angelangt bin:
({6})
Experten schätzen den Umfang der Einkünfte aus
Schwarzarbeit mittlerweile auf rund 550 Milliarden DM.
- Ich verstehe nicht, warum Sie darüber lachen. Kann
man eigentlich kaltschnäuziger sein als Sie, wenn es um
die Belange dieser Menschen geht?
({7})
Sie tun dies ab, als sei es Fliegendreck. Hier geht es um
die Existenzen von Menschen nicht nur in Berlin, sondern in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Wir
haben gefälligst die Ohren offenzuhalten und die entsprechenden Beschlüsse vorzubereiten. Das erwartet
man vom Deutschen Bundestag.
({8})
Herr Kollege, ich
muß Sie ermahnen aufzuhören. Sie haben selber schon
darüber reflektiert.
Diese 550 Milliarden
DM gehen insbesondere dem deutschen Mittelstand
verloren. Da gehen Arbeitsplätze verloren. Da gerät die
wirtschaftliche Weiterentwicklung in Gefahr. Darüber
sollten Sie nachdenken!
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Wir werden den Weg
einschlagen, die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur auf dem Bau zu unterstützen.
({0})
Nächster Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Konrad Gilges. Ihm wird
dann noch ein Redner der CDU/CSU-Fraktion folgen.
({0})
- Entschuldigung, die CDU/CSU-Fraktion hätte sich
eher überlegen müssen, daß noch ein Redner seitens
ihrer Fraktion sprechen soll.
({1})
Herr Kollege Gilges, Sie haben das Wort.
Meine sehr verehrten Damen
und Herren! An dem Chaos in diesem Hohen Hause bin
ich unschuldig. Ich bitte deshalb darum, mir die nötige
Aufmerksamkeit zu schenken.
Ich möchte zunächst eine Bemerkung zu der Kollegin
Pau machen, die leider nicht mehr anwesend ist, was
mich in großes Erstaunen versetzt und was ich kritisiere.
Ich finde es nicht fair, daß hier jemand eine Debatte eröffnet und dann, wenn die anderen Kollegen zu diesem
Thema reden, nicht mehr anwesend ist.
({0})
Dann hätte sie nicht reden sollen. Das ist nicht demokratisch. Ich sitze hier jetzt auch über eine Stunde und
muß mir das anhören und antun, was Sie hier veranstalten. Auch die Kollegin hätte jetzt hier sein müssen. Dafür gibt es auch keine Entschuldigung. Das will ich erst
einmal feststellen.
({1})
Zweite Bemerkung: Den Kollegen von der PDS muß
ich natürlich sagen: Man muß aufpassen, daß man sich
nicht vor den Karren von Interessenverbänden spannen
läßt. Bei dieser Diskussion hat es aber diesen Anschein.
Denn bei dem, was ich in dieser Debatte gehört habe,
gehen das fachliche Fundament und das, was Wahrheit
und Wirklichkeit ist, ein bißchen verloren. Ich will auf
diese Frage gleich noch einmal zurückkommen. Ich will
aber zuerst noch etwas zu Herrn Laumann sagen.
Herr Laumann, ich bin mit vielem, was Sie sagen,
einverstanden. Nur das mit den Polen hat mich etwas irritiert. Es gibt überhaupt keine Indizien dafür, daß die
Polen diejenigen sind, die als Schwarzarbeiter, als illegale Arbeiter in der Bundesrepublik arbeiten. Das war so
ein bißchen antipolnisch, würde ich sagen, es hatte den
Touch der Diskriminierung von polnischen Arbeitnehmern. Das möchte ich nicht. Es geht nicht um Polen,
sondern es geht um alle die, die als Ausländer hier in
Deutschland von Unternehmen ausgebeutet werden ({2})
gegen die bestehenden Tarifverträge und gegen die Gesetze, unabhängig von ihrer Nationalität.
Ich gestehe zu: Es gibt natürlich an den Baustellen in
Berlin Ausbeutung, von Deutschen und von Ausländern.
Es trifft zu, daß Lohndumping - richtigerweise muß es
Lohnwucher heißen, wie die Juristen sagen - in Berlin
stattfindet. Es trifft auch zu, daß die Verletzung von Gesetzen und Unfallvorschriften stattfinden. Das wissen
wir alle. Das kann von uns auch nicht toleriert werden.
Das wird von der Regierung nicht toleriert, das wird,
nehme ich an, auch von der Opposition nicht toleriert,
weil wir alle daran interessiert sind - jenseits der Frage,
ob wir dem Gesetz jeweils zugestimmt haben -, daß die
Gesetze, die es gibt, eingehalten werden. Das muß unser
gemeinsames Ziel sein. Wenn es Gesetzesbrecher gibt,
müssen sie auch über die Exekutive und die Judikative
so bestraft werden, wie es sich in einem Rechtsstaat gehört.
({3})
Wir können auch nicht zulassen, daß an den Baustellen
der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Das muß unser gemeinsames Interesse sein.
Ein weiterer Punkt ist die Frage, welche Maßnahmen
denn zu ergreifen sind. Die Vertragsgestaltung des Bauträgers ist nach meinem Kenntnisstand ausreichend. Was
die Bundesbaugesellschaft an Vertragsmaßnahmen mit
den jeweiligen Bauunternehmen ausgehandelt hat, ist
glaubwürdig. Das kann man sich ansehen. Ich weiß
nicht, was man daran kritisieren muß, kritisieren kann
oder kritisieren sollte. Man kann hier und da noch etwas
besser machen, kann die Bußgelder erhöhen usw., aber
das ist in Ordnung.
Zur internen Überprüfung kann man als Bauherr sagen: das muß der Bauträger verstärken. Auch ich als
Mitglied der Baukommission und des Ausschusses für
Arbeit und Sozialordnung würde in Richtung des Bauträgers sagen, daß man dort stärker nachprüfen müßte,
daß es dort keine illegalen oder inkorrekten, nach dem
Vertrag nicht vorgesehenen Beschäftigungen gibt. Denn
es gibt sie ja, und es hat sie auch im Reichstag gegeben,
wie die Untersuchungen zeigen. Also da, meine ich,
könnte man etwas tun. Das gilt auch für die externen
Kontrollen, also die Kontrollen, die durch das Arbeitsamt Berlin/Brandenburg stattfinden. Auch da kann man
sagen, das muß noch verschärft werden, da müssen Beamte hineingehen und etwas unternehmen.
Der Gesetzgeber kann natürlich gegen die kriminellen
Aktivitäten am Bau noch mehr tun. Er kann zum Beispiel das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verschärfen.
Ob wir damit näher an das Ziel herankommen, werden
wir dann im Einzelfall sehen, das muß diskutiert werden. Wir können auch die Durchgriffshaftung, die nach
dem Entsendegesetz schon besteht, noch weiter verschärfen, vielleicht die Strafen noch etwas erhöhen usw.
In bezug auf den Mindestlohn am Bau hatte ich immer schon meine Zweifel. Wir als Sozialdemokraten
hatten auch eine andere Vorstellung. Wir wollten nach
der EG-Richtlinie, Herr Laumann, durchsetzen, daß
nach dem ortsüblichen Tarifvertrag zu zahlen ist. Ich
sage Ihnen im nachhinein: Es wäre eine bessere Regelung gewesen, wenn wir ein Entsendegesetz gemacht
hätten, in dem gestanden hätte: Es ist nach dem ortsüblichen Tarifvertrag zu bezahlen. Das hätte eben nicht zur
Spaltung der Arbeitnehmerschaft am Bau geführt: die
einen, die Bezahlung nach Tarifvertrag fordern, und die
anderen, die nach Entsendegesetz bezahlt werden können, das heißt mit Mindestlöhnen. Das haben wir selbst
verursacht, das heißt, Sie haben es verursacht. Wir waren anderer Meinung.
({4})
- Herr Kolb, Sie werden doch nicht zustimmen.
Wenn Sie sagen würden, wir stimmen dem ortsüblichen
Tarifvertrag im Arbeitnehmer-Entsendegesetz als neuer
Klausel zu, dann können wir das morgen zusammen machen. Aber Sie sind ein Feigling, weil Sie dazwischenreden und nicht bereit sind, die Konsequenzen zu tragen.
Also reden Sie nicht so daher.
({5})
Ich möchte zum Schluß kommen. Die Tarifvertragsparteien müssen selbst dafür sorgen - ich sage das ganz
kritisch als jemand, der selber Funktionär einer Gewerkschaft ist
Kollege Gilges, Sie
müssen wirklich zum Schluß kommen.
- das ist mein letzter Satz -,
daß die Bestimmungen des Tarifvertrages durchgesetzt
werden. Das kann der Gesetzgeber ihnen nicht abnehmen. Deswegen müssen wir dafür sorgen, daß die Gesetze eingehalten werden, besonders auch auf den Baustellen in Berlin, weil es nämlich unser zukünftiger Regierungssitz ist.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, entgegen der üblichen Praxis haben zwei
Mitglieder der SPD-Fraktion hintereinander geredet. Die
CDU/CSU-Fraktion hat leider zu spät ihren Redebedarf
für den vierten Beitrag angemeldet. Deshalb spricht jetzt
ausnahmsweise der Kollege Karl-Josef Laumann.
({0})
Sehr verehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin meiner Fraktion sehr dankbar, daß ich hier die Möglichkeit habe, auf den Kollegen Weiermann und auch
auf Konny Gilges zu antworten.
({0})
- Selbstverständlich kann ich die Redezeit für die
CDU/CSU-Fraktion wahrnehmen. Das werde ich jetzt
auch machen.
Herr Kollege Weiermann, wir sollten nicht so miteinander umgehen, daß wir uns gegenseitig das Wort im
Mund umdrehen. Auch für mich ist völlig klar, daß es
auf einer Arbeitsstelle, auch auf einer Baustelle menschengerechte Arbeitsbedingungen geben muß. In dieser
Einschätzung liegen wir überhaupt nicht auseinander.
Das gilt sowohl für deutsche wie für jeden anderen Bauarbeiter. Auch von meinem Menschenbild her denke ich
darüber nicht anders. Das wollte ich hier nur klarstellen.
Es ist aber auch die Wahrheit: Es gibt zwischen
West- und Osteuropa ein riesiges Wohlstandsgefälle.
Für einen osteuropäischen Bauarbeiter, dessen Familie
in Osteuropa wohnt, ist ein Stundenlohn von 6 oder
7 DM - egal unter welchen Bedingungen er ihn erzielen
kann - eine attraktive Entlohnung. Der deutsche Maurer
dagegen kann mit 7 oder 8 DM seine Familie in Berlin
oder irgendwo sonst in Deutschland nicht ernähren, weil
er hier unsere Mieten und unsere Lebensmittelpreise bezahlen muß. Deswegen kann er diesem Lohndumping
überhaupt nicht standhalten. Wenn die Unterschiede
zwischen der Entlohnung so groß sind, dann gibt es immer Anreize dafür, sich billige Arbeitskräfte zu holen.
Auf dem Bau ist das alles noch schwieriger zu kontrollieren als in einer Fabrik im Ruhrgebiet oder bei uns im
Münsterland.
In der Textilindustrie gibt es ähnliche Verwerfungen.
Nur finden diese nicht auf deutschem Boden statt. Der
deutsche Textilarbeiter konkurriert mit dem Textilarbeiter, der für einen Stundenlohn von 3 DM irgendwo in
Osteuropa oder im asiatischen Bereich arbeitet. Aber es
ist schon ein Riesenunterschied, wenn es in diesem Land
passiert. Auch ich bin der Meinung, daß in diesem Land
der Grundsatz „gleiche Arbeit, gleiche Baustelle, gleiche
Entlohnung“ gelten muß. Das ist eine logische Sache.
Wir haben als öffentlicher Arbeitgeber - das wollte
ich deutlich machen; bei unseren Bauvorhaben treten
wir als öffentlicher Arbeitgeber auf; der Staat ist einer
der größten Bauträger in Deutschland; besonders in
Berlin gehören wir zur Zeit zu den größten Bauträgern eine besondere Verpflichtung. Ich erwarte von den
Leuten, die letzten Endes über die Vergabe von öffentlichen Baumitteln entscheiden - unabhängig von deren
Parteibuch -, daß sie schon bei der Vergabe darauf achten, ob die von den Baufirmen vorgelegten Preise realistisch sind. Schon bei der Vergabe müssen wir fordern,
daß auf den Baustellen sozialversicherungspflichtige
Arbeitnehmer eingesetzt werden. Wir wollen, daß die
Standards der Berufsgenossenschaften und die Bestimmungen der Gewerbeaufsicht auf den Baustellen eingehalten werden. Letzten Endes müssen wir gemeinsam
versuchen, das auf den Baustellen durchzusetzen. Daher
ist es auch nicht richtig, den Schwarzen Peter von der
einen zur anderen Seite zu schieben.
Wir sind uns sicherlich alle einig, daß beschlossene
Gesetze und vereinbarte Tarifverträge durchgesetzt werden müssen, weil wir anderenfalls eine Bananenrepublik
wären. Es werden ja auch viele Kontrollen durchgeführt;
Dietmar Kansy hat davon berichtet, wie viele es gerade
auf den Bundesbaustellen gegeben hat. Diese Kontrollen
müssen wir noch verstärken. Aber auch Arbeitgeber und
Arbeitnehmer müssen auf den Baustellen aufklärend
wirken, damit wir die schwarzen Schafe erwischen können. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn diejenigen, die
einmal als schwarzes Schaf erwischt wurden, zumindest
für eine gewisse Zeit keine öffentlichen Aufträge mehr
bekämen.
Schönen Dank.
({1})
Ich schließe die Aus-
sprache und rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die
Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf:
7. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Entschuldungsinitiative anläßlich des Welt-
wirtschaftsgipfels der G-7/G-8-Staaten in Köln
- Drucksache 14/794 -
ZP6 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-
Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Dr. Norbert
Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Entschuldung armer Entwicklungsländer -
Initiativen zum G-8-Gipfel in Köln
- Drucksache 14/785 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Hübner, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Umfassender Schuldenerlaß für einen Neuanfang
- Drucksache 14/800 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht zu uns
die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor drei Monaten hat die Bundesregierung für den
Wirtschaftsgipfel der G-7-Staaten in Köln im Juni
1999 eine Initiative zur Entschuldung armer Länder
vorgelegt. Ziel der „Kölner Initiative“, wie wir sie
nennen, ist die weitere deutliche Entlastung hochverschuldeter armer Länder erstens durch die Beschleunigung des Verfahrens zur Entschuldung - bisher sind es
sechs Jahre; wir wollen, daß es auf drei Jahre reduziert
wird - und zweitens durch die Ausweitung des Volumens an Schuldenerleichterungen. Drittens geht es uns
um die Umorientierung des Entwicklungsweges in den
betroffenen Entwicklungsländern in Richtung auf Armutsbekämpfung und sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung.
Für alle öffentlichen Gläubiger zusammen bedeuten
unsere Vorschläge zusätzliche Schuldenerlasse von
insgesamt 40 bis 45 Milliarden US-Dollar. Wir wollen
damit vielen Millionen Menschen den Start in das nächste Jahrhundert erleichtern und einen substantiellen Beitrag zur Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen und vor allem zum Abbau von Krisen- und Kriegsursachen in der Welt leisten. Gerade angesichts von
Mord, Vertreibung und Krieg in Jugoslawien muß betont werden, daß es das Ziel der Bundesregierung bleibt,
mit allen Möglichkeiten der Entwicklungspolitik, also
auch mit unserem Schuldenerlaß, für gerechtere Verhältnisse in der Welt, für den Schutz der Menschenrechte und für die Vermeidung von Krisen und Kriegen
zu sorgen und mit solchen vorbeugenden zivilen Mitteln
auch dazu beizutragen, daß Menschen in ihren Heimatländern menschenwürdig leben können.
({0})
Die hochverschuldeten armen Länder haben ganz besondere Probleme. In den ärmsten Ländern sterben die
Menschen durchschnittlich 25 Jahre früher als in den Industrieländern. 130 Millionen Kinder dürfen nicht zur
Schule gehen, weil die Schule für die Familien zu teuer
ist. Wenn Devisen für den Schuldendienst erwirtschaftet
werden oder verarmte Menschen die kargen Ressourcen
übernutzen müssen, geht das zu Lasten der Umwelt.
Krisen und Bürgerkriege sind in vielen Ländern zumeist
in der bitteren Armut der Menschen und in Verteilungskonflikten begründet, deren gewaltsame Austragung die
Länder nur noch tiefer ins Elend stürzt. Jährlich 40 Milliarden US-Dollar würden nach Aussagen der Vereinten
Nationen ausreichen, um die Grundbedürfnisse der
Menschen in den Entwicklungsländern zu stillen. 780
Milliarden US-Dollar geben Industrieländer, aber auch
Entwicklungsländer jährlich immer noch für Waffen und
Rüstung aus. Dieses krasse Mißverhältnis muß geändert
werden.
({1})
Die ungeheure Verschuldung der betroffenen Länder
wirkt sich aber nicht nur auf deren eigene, sondern
auch auf unsere Situation aus. Verschuldung ist teilweise auch eine Folge von unerwarteten wirtschaftlichen Belastungen, sinkenden Rohstoffpreisen, hohen
internationalen Zinsen in früheren Jahren sowie unvorsichtiger Kreditvergabe öffentlicher und privater Gläubiger.
Wir wollen gemeinsam Verantwortung für unsere
Welt übernehmen und dazu beitragen, daß die Chancen
gerechter verteilt werden. Wir brauchen eine weltweite
Solidarität, um eben jener Ungleichheit entgegenzuwirken. Lassen Sie mich bitte aus aktuellem Anlaß sagen:
Solidarität von Bürgern und Bürgerinnen zeigt sich in
den Spenden in Millionenhöhe für die Flüchtlinge in Albanien und Mazedonien. Solidarität müssen wir aber
auch gegenüber den Ländern zeigen, die Flüchtlinge in
großem Maße aufgenommen haben, wie Mazedonien
und Albanien.
({2})
Das Schuldenmoratorium des Pariser Clubs für Albanien und Mazedonien ist deshalb ein erster Einstieg.
Ich plädiere darüber hinaus dafür, Albanien und Mazedonien die sogenannten DDR-Altschulden zu erlassen.
Diese Schulden, die die Entwicklungsländer nicht zurückzahlen können und die noch zu Buche stehen, sind
entstanden, weil damals von seiten der DDR Kredite für
Warenlieferungen vergeben worden sind. Der entsprechende Betrag ist angesichts dessen, was für andere
Bereiche ausgegeben wird, nicht sehr hoch: Für Albanien betragen diese Schulden 13 Millionen DM und für
Vizepräsidentin Petra Bläss
Mazedonien 17 Millionen DM. Ich denke, es wäre ein
Akt der Solidarität, auch diese Schulden zu erlassen.
({3})
Unsere Initiative - dafür bedanke ich mich an dieser
Stelle ausdrücklich - baut auf der Arbeit vieler kirchennaher Organisationen und auf der Kampagne „Erlaßjahr
2000“ auf, die ganz wichtige Anstöße gegeben haben und
die wir im Rahmen unserer Initiative aufgreifen. Das
heißt, wir entwickeln die sogenannte Weltbank/IWFInitiative zugunsten hochverschuldeter armer Länder
weiter. Sie bietet aus unserer Sicht einen guten Rahmen,
weil dabei alle Gläubiger, Weltbank, IWF, die entsprechenden Länder, die regionalen Entwicklungsbanken und
die EU, beteiligt sind. Wir erwarten - das sage ich an dieser Stelle auch - von den im Londoner Club zusammengeschlossenen privaten Gläubigern, daß sie sich mit
gleichgerichteten Maßnahmen anschließen. Auch darin
muß unsere gemeinsame Anstrengung liegen.
({4})
Für unsere im Detail vorgelegten Vorschläge bedeutet
dies, daß der Erlaß von Schulden aus der Entwicklungszusammenarbeit für die Bundesrepublik Deutschland
aktuell für fünf Länder möglich wäre - unabhängig davon, was ich vorhin über Albanien und Mazedonien gesagt habe -: Bolivien, die Elfenbeinküste, Guyana, Nicaragua und Honduras.
Wir wollen aber auch, daß die Schuldnerländer den
gewonnenen finanziellen Spielraum für Vorhaben nutzen, die eine nachhaltige und auf Beseitigung von Armut
und sozialer Ungerechtigkeit gerichtete Entwicklung
fördern; denn damit könnte nicht nur der Bau von
Grundschulen und von Basisgesundheitsstationen finanziert werden, sondern damit könnte auch ein Beitrag zur
besseren Entwicklung und zu mehr Stabilität geleistet
werden.
Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: In Nicaragua
muß Schulgeld entrichtet werden, weil der Staat das Bildungssystem nicht allein finanzieren kann. Das gilt für
viele Länder dieser Kategorie. Zusätzlich müssen die
Familien selbst Bücher, Schuluniform und dergleichen
bezahlen. Trotz staatlicher Schulpflicht können viele
Kinder nicht die Schule besuchen. Mehr noch: Viele von
ihnen müssen durch ihre Arbeit zum Lebensunterhalt der
Familie beitragen oder leben als Straßenkinder, weil ihre
Familien an der Armut zerbrochen sind. Als Analphabeten werden sie aber den Kreislauf der Armut niemals
mehr durchbrechen können.
Ich nenne Ihnen das Beispiel der Zwillinge Pedro und
Miguel aus Santo Domingo in Nicaragua. Die beiden
Jungen müssen in einer Ziegelei arbeiten. Selbst das
Schulgeld können sie mit dem, was sie dort erarbeiten,
nicht ausreichend finanzieren. Sie versuchen deshalb
mühsam, sich das Lesen mit Hilfe alter Zeitungen beizubringen.
Deshalb geht es jenseits der Zahlen, die die Fachleute
diskutieren, bei unserer Entschuldungsinitiative darum,
daß die Menschen in den betroffenen Ländern bessere
Chancen für ihr Leben haben. Das sollten wir alle gemeinsam als unsere große Aufgabe verstehen und verwirklichen.
({5})
Schuldenerlaß allein ist sicherlich kein Allheilmittel
für die vielschichtigen Probleme armer Entwicklungsländer; und Schuldenerlaß allein gibt sicherlich auch
nicht die Möglichkeit, die Armut bis zum Jahre 2015 zu
halbieren, wie es sich die OSZE-Staaten vorgenommen
haben. Schuldenerleichterungen müssen in ein reformund entwicklungsstrategisches Gesamtkonzept eingebunden sein. Vor allen Dingen gilt es sicherzustellen,
daß die Freiräume von den Ländern richtig genutzt werden. Ich sage an dieser Stelle ganz eindeutig: Der Fall
Uganda, wo im letzten Frühjahr kurz nach umfassenden
Schuldenerleichterungen eine deutliche Anhebung der
Militärausgaben angekündigt wurde, darf sich auf keinen Fall wiederholen.
({6})
Deshalb muß bei den entsprechenden Schuldenerleichterungen jeweils durch Anpassungsprogramme sichergestellt werden, daß kein falscher Weg gewählt wird.
Ich bekenne mich ausdrücklich dazu, daß diese
Orientierung von uns ausgegeben wird. Wir werden
dabei auch auf eine stärkere Verantwortung von nachhaltiger Entwicklung und sozialer Ausgewogenheit in
den Reformprogrammen von Weltbank und IWF achten. Nächste Woche tagt das Development Committee
in Washington. Wir werden in diesem Sinne dort Stellung nehmen. Im übrigen wissen wir: Wir werden von
James Wolfensohn und seiner Neuorientierung der
Weltbank, die absolut in unsere Richtung geht, unterstützt.
Wir dürfen bei den notwendigen Reformen aber nicht
nur an die Partnerländer denken. Ob Entschuldung oder
Krisenprävention - daß solche Maßnahmen notwendig
sind, liegt immer auch ein Stück an uns. Ungehemmte
Währungsspekulationen, Rüstungsexporte
({7})
und Handelshemmnisse eines Teils unserer Welt tragen
zu den Problemen in den anderen Teilen der Welt bei.
({8})
Auch das ist Globalisierung und macht Reformen bei
uns unerläßlich. Wir fordern von den Schuldnerländern
eine Begrenzung der Militärausgaben. Dazu stehe ich;
aber ich stehe auch dazu, daß wir als Industrieländer und
wir als Bundesrepublik Deutschland eine sehr restriktive
Waffen- und Rüstungsexportpolitik betreiben müssen.
Beides gehört zusammen.
({9})
Natürlich gibt es immer kritische Stimmen. Ich kenne
ja die Anträge, die heute vorliegen und die sagen, das
alles gehe nicht weit genug und es gebe noch mehr
Handlungsbedarf.
({10})
Ich kann das gut verstehen. Ich bitte Sie aber, zu verstehen, daß die Haushalte insgesamt begrenzt sind. Das
gilt auch für die Weltbank, wo die Frage, wie die daran
anschließende Kapitalaufstockung aussieht, und die
damit verbundenen Konsequenzen diskutiert werden
müssen.
International hat die deutsche Initiative eine lebhafte
Diskussion über das Entschuldungsthema ausgelöst.
Großbritannien, die Vereinigten Staaten, Frankreich und
Kanada sind inzwischen mit eigenen Vorschlägen an die
Öffentlichkeit gegangen. Ihre generellen Zielsetzungen
entsprechen den unseren; alle setzen sich für eine
schnellere und umfangreichere Schuldenerleichterung
ein. Höchstens in der Frage des Ausmaßes der zusätzlich
zu gewährleistenden Schuldenerleichterungen gibt es im
Detail noch unterschiedliche Einschätzungen. In persönlichen Gesprächen haben mir - was ich sehr wichtig
finde - sowohl James Wolfensohn als auch der geschäftsführende Direktor des Internationalen Währungsfonds, Michel Camdessus, gesagt, daß sie unsere Initiative im Grundsatz und in der Zielsetzung begrüßen und
für richtig halten. Unser Anstoß hat dazu geführt, daß es
jetzt - wie Camdessus gesagt hat - einen positiven
„contest“ um die Zahlen gibt. Die amerikanische Seite
hat ganz hohe Schuldenentlastungen genannt; alle Zahlen liegen auf dem Tisch.
Letztlich geht es aber nicht darum, ob vorrangig das
eine oder das andere Detail aus dem deutschen oder britischen Vorschlag oder anderen Vorschlägen zum Tragen kommt. Es geht darum, daß den Menschen in La
Paz, Managua und Abidjan schnell geholfen wird. Darum müssen wir alle uns beim G-7-Gipfel kümmern.
({11})
Wir sind stolz darauf, daß wir als Bundesregierung
das Startsignal für diese gemeinsame Sache gegeben haben. Was jedoch zum Schluß zählt, ist nicht die Ankündigung - das habe ich gerade bei Schuldenerlassen sehr
genau gelernt -, sondern die reale Umsetzung. Deshalb
wird es die Hauptaufgabe sein, dafür zu sorgen, daß die
Zielvorstellungen in den nächsten Monaten konkret in
entsprechende Verfahrensschritte umgesetzt werden.
Nach dem G-7-Gipfel wird es dann bei der Herbsttagung
von IWF und Weltbank darum gehen, das gemeinsame
Paket der G 7 konkret vorzulegen und umzusetzen.
Für unseren Beitrag für die Entwicklung und Zukunft
von Millionen Menschen gibt es hohe internationale Anerkennung. Das ist schön. Das Allerwichtigste aber ist um bei dem Beispiel von vorhin zu bleiben -: Wenn Pedro und Miguel Schulbücher bekommen und die Schule
besuchen können, dann ist es in ihrem Interesse und für
ihre Zukunft. Es ist aber auch eine Investition in unsere
gemeinsame Zukunft in einer Welt.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({12})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich an dieser Stelle den Initiatoren der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ sehr nachhaltig
dafür Dank sagen, daß sie mit dieser Initiative die Probleme der dritten Welt noch einmal deutlich ins Bewußtsein gerufen haben. Dabei haben sie insbesondere
die Frage der Verschuldung unter die Lupe genommen.
Dies ist eine besondere Frage, die uns hier beschäftigt.
Aber gerade in einer Zeit, in der wir uns intensiv mit
dem Kosovo beschäftigen, wird in diesem Zusammenhang vernachlässigt, daß das auch eine Frage der Konflikte und der sozialen Spannungen in der Welt ist. Albanien - das wissen selbst die wenigsten Leute in
Deutschland und Europa - gehört zu den ärmsten Ländern dieser Erde. Albanien ist ärmer als manches afrikanische Entwicklungsland. Das macht deutlich, daß die
Probleme im wahrsten Sinne des Wortes hautnah vor der
Tür sind.
Diese Initiative hat mit Sicherheit zur Schärfung des
öffentlichen Bewußtseins beigetragen. Aber ich will
nicht verhehlen, daß man sich doch über manche Nuancen wundern muß. Wenn laut Presseberichten der britische Finanzminister Gordon Brown allen Ernstes die
These vertritt, die Schuldenlast sei der wichtigste Grund
für Armut und Ungerechtigkeit auf dieser Erde und
stelle eine der größten Gefahren für den Frieden dar, so
muß man mit aller Vorsicht von Übertreibung reden.
Niemand wird behaupten können, daß die Armut in
vielen Entwicklungsländern mit der Verschuldung zu
tun hat. Hat die Armut in Angola etwas damit zu tun,
daß das Land über verhältnismäßig hohe Schulden verfügt,
({0})
während der Staatschef dos Santos ein privates Vermögenskonto hat, das auf 4 bis 5 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, ganz abgesehen von seiner Militärclique?
Ich verweise auch auf das Beispiel Indien, das sich, was
die Schuldenproblematik betrifft, in einer verhältnismäßig günstigen Situation befindet, in dem aber rund 450
bis 500 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Das ist die größte Zahl von Armen in einem
Land der Welt. Am Beispiel Indien wird sehr deutlich,
daß die Probleme der sozialen Ungerechtigkeit mit der
Verschuldung überhaupt nichts zu tun haben, sondern
damit, daß sich die Verantwortlichen in dem Land weigern, sich um die Probleme der Armen zu kümmern.
({1})
Die Forderungen sind zutreffend, daß eine schnelle
und umfassende Schuldenentlastung für die hochverBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
schuldeten armen Länder dringend geboten ist. Die Frage lautet jedoch: Welches Land ist wirklich arm? Wir
haben uns gestern im Ausschuß - davon darf man wohl
berichten - mit der Problematik von Nigeria beschäftigt,
einem Land, das auf dem Hintergrund der letzten
20 Jahre zu vorsichtigem Optimismus Anlaß gibt. Man
hat auch darüber gesprochen, daß wir der neuen, einer
demokratisch legitimierten Regierung gewisse Chancen
für einen positiven Start einräumen sollten. Allein gegenüber Deutschland hat Nigeria eine Schuldenverpflichtung von rund 6 Milliarden DM. Die Frage eines
Moratoriums ist sicherlich ernsthaft zu prüfen.
Wir waren uns im Ausschuß über Fraktionsgrenzen
hinweg einig, daß ein Land wie Nigeria kein klassischer
Fall für Schuldenerlaß ist; denn es verfügt über natürliche Ressourcen, die das Land eigentlich in die Lage versetzen müßten, überhaupt ohne internationale Hilfe auszukommen. Ich habe mich sehr gefreut, Frau Ministerin,
daß der Vertreter der Bundesregierung im Ausschuß die
Unterstützung aller Anstrengungen durch die Bundesregierung zugesagt hat, die dazu beitragen, die in der
Schweiz und im Libanon vermuteten Konten der bisherigen Machthaberclique aufzuspüren und die Gelder
dem Lande wieder zuzuführen, um damit der Verpflichtung der Armutsbekämpfung nachzukommen.
({2})
Die bisherigen Entschuldungsmaßnahmen waren zu
halbherzig, und die betroffenen Länder waren nicht auf
den Weg einer wirtschaftlichen Gesundung gebracht. Es
taucht immer die Forderung auf, wir müßten uns nüchtern ansehen, daß über die letzten Jahrzehnte hinweg
eine ständige Verbesserung der Schuldenerleichterungsmaßnahmen der Gebernationen gegenüber den
Entwicklungsländern auf den Weg gebracht worden ist.
Auch hierzu können wir feststellen, daß es viele Länder
gibt, die nicht ihrer eigenen Verpflichtung gegenüber
einer Entschuldung und einer Reformpolitik in ihren
Ländern nachgekommen sind. Auf diesem Hintergrund
zeigt sich, daß Schuldenmaßnahmen nicht greifen, wenn
die Länder keine entsprechenden Reformanstrengungen
unternehmen.
Die HIPC-Initiative, die Maßnahme für die am
höchsten verschuldeten armen Länder, die nicht zuletzt
auch auf deutsche Initiative hin zustande gekommen ist,
ist nach Auffassung aller Experten ein probates Mittel,
um Entschuldung zu ermöglichen. Die Anhörung des
Ausschusses bestätigt diese These für den Fall, daß die
Maßnahme großzügig und umfassend durchgeführt
wird.
Ich möchte dazu durchaus nüchtern anmerken: Die
Bundesregierung schlägt vor, daß man die Entschuldungsmaßnahmen von sechs auf drei Jahre verkürzen
sollte, wenn ein Land entsprechende Reformen auf den
Weg gebracht hat. Ich kann aus ganz persönlicher Betrachtung der entsprechenden Länder nur feststellen, daß
wir drei Jahre als nicht ausreichend betrachten müssen,
um wirklich die Ernsthaftigkeit von Reformanstrengungen in einem Lande bewerten zu können. Die Ministerin
selbst hat vorhin dankenswerterweise an dem vielgerühmten und als Vorbild dienenden Fall Uganda deutlich gemacht, daß die Machthaber dort, als sie kaum ein
bißchen Geld übrig hatten, es gleich wieder in die Rüstung gesteckt haben. Wenn Uganda bei der Umschuldung höhere Auflagen hätte spüren müssen, dann hätte
man mit Sicherheit eine solche Verwendung dieser Gelder bewirken können.
({3})
Wir bedauern, daß die Ministerin selbst zwar viel von
Bedingungen gesprochen hat, daß aber in dem Antrag
der Koalitionsfraktionen von Konditionalität, also von
Vorbedingungen für Umschuldung, wenig zu lesen ist.
Das müssen wir als einen schweren Mangel des Antrages der Koalitionsfraktionen bewerten.
({4})
Wir müssen deshalb ganz nüchtern darauf verweisen,
daß es notwendig ist, auch auf Bedingungen zu achten.
Übrigens, man hätte sich viel Mühe ersparen können,
wenn man sich zur Grundlage der Diskussion den Artikel von Manfred Schäfers der „FAZ“ von gestern mit
der Überschrift „Schulden und Entwicklung“ zu Gemüte
geführt hätte. In diesem Artikel wird die gesamte Problematik deutlich gemacht. Ich darf aus einem Absatz
dieses Artikels zitieren.
Herr Kollege,
es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Können wir die vorziehen, oder wollen Sie gerne abschließen?
Die können
wir selbstverständlich vorziehen, Frau Präsidentin. Ich
habe schon einmal einem anderen Präsidenten gesagt:
Werner Schuster darf bei mir immer eine Zwischenfrage
stellen, denn er ist mein Freund. Werner, wenn du willst,
bitte.
Dann erteilen
wir dem Freund das Wort. Bitte.
Herr Staatssekretär
a. D., ich bedanke mich für diese Zuwendungsleistung.
Sie werden sicherlich verstehen, daß wir als Antragsteller nicht in der Lage waren, zeitgerecht auf den „FAZ“Artikel von gestern zu reagieren, da unsere Vorbereitungen etwas früher abgeschlossen waren. Meine Frage an
Sie lautet: Sie weisen, wie ich meine, in Ihrem Antrag
zu Recht auf die Bedingungen in den Entwicklungsländern hin. Ist es aber umgekehrt ein Zufall, daß in Ihrem
Antrag die Bereiche, die uns betreffen, zum Beispiel die
Verantwortung von IMF und Weltbank, die Strukturanpassung und die Finanzkrisen, fehlen? Auf all das hat
die Frau Ministerin hingewiesen. Darf ich vermuten, daß
von Ihrer Seite auch in Zukunft vermehrt einäugig argumentiert wird?
({0})
Sie können
nicht davon ausgehen, daß wir das in Zukunft so machen
werden. In diesem Zusammenhang kann ich nur darauf
verweisen, daß gerade die Einbindung der internationalen Institutionen Bestandteil der in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebrachten HIPC-Initiative ist.
Wir waren uns immer darüber einig, daß es unsinnig ist,
die Schuldenproblematik immer nur bilateral anzugehen.
Vielmehr haben wir die Auffassung vertreten, daß auch
die internationalen Finanzorganisationen einen Beitrag
zur Entschuldung der Entwicklungsländer leisten müssen. Ich glaube, da sind wir, Herr Kollege Schuster,
nicht unterschiedlicher Meinung.
Ich darf kurz aus dem Artikel von Schäfers zitieren:
Wer kann sich da gegen einen Schuldenerlaß wenden? Doch es gibt auch kritische Töne. Sie kommen vor allem aus den Reihen der Banken und der
Ökonomen. Sie sind aus guten Gründen gegen das
Rasenmäher-Prinzip im Umgang mit der Dritten
Welt. So ermöglicht eine allgemeine Entlastung
schlecht wirtschaftenden Regierungen, ihre früheren Fehler und Versäumnisse fortzuführen. Dann
würde aber nach der völligen Entschuldung nur ein
neuer Verschuldungskreislauf in Gang gesetzt.
({0})
Der entscheidende Punkt ist, daß wir bei Entschuldungsmaßnahmen darauf achten müssen, daß die Bedingungen in den Ländern so ausgerichtet sind, daß Entschuldung wirklich den ärmeren Bevölkerungsschichten
zugute kommt. Nur wenn das gewährleistet ist, wird
eine Entschuldungsmaßnahme sinnvoll sein.
({1})
Sie haben am Beispiel Uganda - ich wiederhole mich
hier - selbst demonstriert, daß die Maßnahmen nicht so
gegriffen haben, wie wir das geglaubt haben. Deshalb ist
in diesem Zusammenhang zum Beispiel auf die Gegenwertfonds zu verweisen, mit denen wir angefangen haben, derartiges zu praktizieren. Das sind Fonds, in die
die entschuldeten Länder einen Beitrag einzahlen, der
dann für ganz bestimmte Zwecke verwendet wird. Bisher hat Deutschland mit seinen Fonds, durch die Eigenmittel und Mittel der Partnerländer für Bildungsmaßnahmen, für soziale Zwecke und Umweltzwecke zur
Verfügung gestellt werden, positive Dinge erreicht.
Wir können aber auch feststellen, daß sich die Regierungen unserer Partnerländer in zunehmendem Maße
weigern, den Geberländern Einfluß auf die Verwendung
dieser Mittel zu gewähren. Deshalb plädieren wir für
Mechanismen, durch die Nichtregierungsorganisationen,
Kirchen usw., in den Entwicklungsländern in stärkerem
Maße ein Mitspracherecht bei der Verwendung dieser
Mittel bekommen. Hier kann ich übrigens auf das Beispiel der Schweiz verweisen; die Organisation Justitia et
Pax hat uns auf dieses Modell aufmerksam gemacht. Ich
würde der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag raten, sich mit der Vorgehensweise in der
Schweiz etwas intensiver auseinanderzusetzen. Ich
glaube, das wäre eine gute Maßnahme.
({2})
Eine weitere These lautet: Entschuldung reicht nicht
aus, wir werden auch in Zukunft auf große Finanztransfers in die Entwicklungsländer angewiesen sein. In der
Tat ist es richtig - hier unterstützen wir die Ministerin
und ihr Ministerium -, daß der Deutsche Bundestag
auch seiner Verpflichtung für den Haushalt nachkommt
und entsprechende Finanzmittel zur Verfügung stellt.
Ich muß noch einmal - ohne aus der Haushaltsdebatte
nachzukarten - darauf verweisen, daß der jetzige Haushalt des BMZ für das Jahr 1999 das nicht hergibt. Sollten der Finanzminister und der Haushaltsausschuß die
Einsparmaßnahmen wahr machen, werden wir im
wahrsten Sinne des Wortes deutlich unter den Haushaltsansätzen von 1998 liegen. Das bedeutet dann, daß
das Stichwort der eben hier beschworenen Solidarität
nicht ausreicht. Es wäre übrigens ein Armutszeugnis für
die deutsche Politik, nicht zuletzt vor dem Hintergrund
der vielen privaten Spenden, die jetzt wieder für den
Kosovo eingegangen sind und die Tag für Tag bei den
Hilfsorganisationen eingehen, um den Menschen in der
dritten Welt zu helfen, wenn sich die öffentliche Hand,
hier vorrangig die Bundesrepublik Deutschland, ihrer
Verpflichtung entziehen würde.
Ich möchte aber auch noch auf ein anderes Problem
hinweisen. Ein Großteil der Probleme, mit denen wir es
zu tun haben, sind vorrangig aus der schlechten Regierungsführung unserer Partnerländer entstanden. Daß wir,
sowohl die privaten Banken des Nordens als auch die
internationale Gebergemeinschaft, bei so manchem
Großprojekt und so mancher Regierung mit der Gewährung von Krediten zu großzügig waren, soll hier eingeräumt werden. Hoffentlich läßt sich das in der Zukunft
vermeiden.
Ganz entscheidend ist natürlich auch, daß die in den
Entwicklungsländern Verantwortlichen - da geht es
eben nicht nur um die Regierungen, sondern um alle, die
an dem Entscheidungsprozeß in einem Land beteiligt
sind - darauf achten müssen, daß die Reformanstrengungen wirklich vorangetrieben werden. Das ist eine
ganz wichtige Maßnahme. Denn was nützt uns all das,
was wir hier auf den Weg bringen, was wir den Entwicklungsländern, besonders den armen Entwicklungsländern, in einem fairen Angebot unterbreiten, wenn die
Mittel, die durch Schuldenerleichterung frei werden,
nicht für die Armen in der dritten Welt zur Verfügung
gestellt werden? Deshalb müssen wir bei allen unseren
Maßnahmen darauf achten: Schuldenerleichterung ist
nicht Selbstzweck, sondern sie muß ein Beitrag zur
Minderung der sozialen Ungerechtigkeit auf dieser Erde
sein.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Heute morgen ist - in einer ganz anderen Debatte, nämlich zur
NATO - an diesem Pult erwähnt worden, daß einige aus
meiner Fraktion sowie auch einige aus der SPD-Fraktion
und aus anderen Fraktionen früher auf der Straße gewesen seien, um gegen bestimmte Strategien der NATO zu
protestieren und eine Veränderung zu erwirken.
({0})
Viele von uns waren aber auch in den letzten Jahrzehnten auf der Straße, etwa bei der IWF- und Weltbanktagung in Berlin, weil wir uns dagegen engagieren wollten, dagegen protestieren wollten und eine Veränderung
der Politik erreichen wollten, die mit der hohen Verschuldung der Länder des Südens zu tun hatte, weil wir
ein bißchen mehr Gerechtigkeit in der Weltwirtschaft
und Entwicklungschancen auch für die Länder des Südens erreichen wollten, sozusagen durch Demonstrationen herbeizwingen wollten.
Jetzt stehen wir hier und haben eine Regierung und
eine Regierungskoalition, die die Entlastung der am
meisten verschuldeten Länder des Südens von hohen
Schulden in ihr Regierungsprogramm aufgenommen haben, eine Regierung, die eine Initiative dazu ergriffen
hat, und ein Parlament, das drauf und dran ist, diese Regierung in diesem Bemühen zu unterstützen und ihr Hilfen auf dem Weg zum G-7-/G-8-Gipfel zu geben, weil
es in der Tat weltpolitisch unerträglich ist, daß es Länder
wie Nicaragua oder Ruanda gibt, um einmal zwei Länder in zwei verschiedenen Erdteilen zu nennen, die fünf
Jahre lang ihre gesamten Exporteinnahmen ausgeben
müßten, um ihre Schulden bei den Geberländern, den
Industrieländern des Nordens, und den internationalen
Organisationen zu bezahlen.
Die Folge davon ist, daß diese Länder und deren
Ökonomie derzeit faktisch keine Entwicklungschancen
haben. Wenn sie überhaupt Kredite bedienen können,
müssen sie dafür einen Großteil ihrer Einnahmen aus
dem Export - wenn man das auf Deutschland umrechnet, wären das horrende Summen - aufbringen. Was viel
schlimmer ist: Die Landwirtschaft, die gesamte Wirtschaft ist auf die Bedürfnisse der Schuldenbedienung
auszurichten. Wir alle kennen Beispiele dafür, daß Länder in Afrika nicht mehr für die Versorgung bzw. die
Ernährung ihrer Bevölkerung Landbau betreiben, sondern dazu, um billiges Mastfutter für Kühe, Kälber und
Schweine in Deutschland und in der EU exportieren zu
können.
Wir wollen das ändern. Dazu soll unsere Initiative
dienen, die zunächst für eine Reihe von sehr wenigen
Ländern, für diejenigen, die am meisten verschuldet
sind, gelten soll. Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, daß die Initiative der Bundesregierung unterstützt
wird. Es geht nicht um milde Gaben oder um Mitleid. Es
geht um erste Korrekturen hin zu einer gerechteren
Weltwirtschaftsordnung.
Denn die Schulden der jeweiligen Länder sind - zum
Beispiel durch Korruption oder Mißwirtschaft - nur zum
Teil hausgemacht. Sie sind häufig auch Folge von nachkolonialen Kriegen, Bürgerkriegen und Versuchen, eine
neue Ordnung in Afrika oder in Lateinamerika zu schaffen. Aber sie sind eben auch - die Ministerin hat völlig
zu Recht darauf hingewiesen - zu einem ganz überwiegenden Teil - dies ist im Hinblick auf die einzelnen
Länder unterschiedlich - Folge ungerechter Austauschverhältnisse und des Verfalls der Rohstoff- und
Agrarpreise. Wenn heute zum Beispiel ein Pfund Kaffee in einem deutschen Supermarkt die Hälfte des Preises, der vor zwölf Jahren üblich war, kostet, bedeutet
dies, daß der Kaffeepflücker in Nicaragua oder Guatemala doppelt so lange arbeiten muß, um seinen Reis
oder sein Brot kaufen zu können.
({1})
Die Länder benötigen doppelt so hohe Einnahmen aus
Exporten, um ihre Kredite bedienen zu können.
Gemeinsam mit Initiativen wie zum Beispiel „Erlaßjahr 2000“ fordern wir deshalb für die ärmsten Länder
eine faire Chance durch einen Erlaß der Schulden. Es ist
zwar einfach zu sagen - das sage ich jetzt in Richtung
PDS -: „Wir streichen alle Schulden“, aber nicht immer
richtig. - Das gilt gerade auch für die Streichung aller
Schulden aus Krediten der ehemaligen DDR. - Denn wir
haben in einer diesbezüglichen Anhörung unter anderem
erfahren - das konnte man auch schon vorher wissen -,
daß eine Streichung der Schulden die bestehenden Probleme vieler Länder nicht löst, sondern möglicherweise
nur verschiebt.
Deshalb muß die Bundesrepublik Deutschland bereit
sein, für eine Lösung zu kämpfen. Dabei muß darauf
hingewiesen werden - das steht in unserem Antrag -,
daß ein Erlaß der Schulden nicht nur den Oligarchien
bzw. den Reichen in den jeweiligen Ländern zugute
kommen darf. Es darf nicht dazu kommen, daß das
Geld, das dann zur Verfügung steht, in die Rüstung bzw.
in die Führung von Kriegen gesteckt wird. Uganda ist
dafür nur ein Beispiel. Es gibt viele andere Länder in
Afrika und auf anderen Kontinenten, wo wir ein solches
Vorgehen feststellen können. Die freiwerdenden Mittel
- so steht es in unserem Antrag - müssen im Sinne einer
nachhaltigen, auf die Bekämpfung der Armut ausgerichteten Entwicklung eingesetzt werden. Das muß sichergestellt werden.
Sie, Herr Kollege Hedrich, haben gerade sieben Bedingungen gestellt, unter anderem die, es müsse eine
marktfreundliche Wirtschaftsordnung aufgebaut und
praktiziert werden. Das kann man vielleicht wünschen.
Auch darüber kann man sich streiten. Aber ob es richtig
ist, dies zu einer Bedingung für eine faire Entwicklung
zu machen, bezweifle ich. Man kann es auch übertreiben
und kann die Länder mit einem Netz von Bedingungen
überziehen, das einer freien, selbständigen und selbstbestimmten Entwicklung im Wege steht.
Ich denke, das ist in Ihrem Antrag übertrieben. Der
Schuldenerlaß soll helfen, eine demokratische Entwicklung in den Ländern zu fördern und eine nachhaltige
Entwicklung für den Umweltschutz, für die Verbesserung der Situation der Armen und für die Bildung zu
ermöglichen. Darüber sind wir uns im Ausschuß einig,
und das ist gut so.
Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den
wichtigsten Gläubigerländern. Sie verfügt darüber hinaus mit ihrer ökonomischen Kraft über besonderen Einfluß in den internationalen Organisationen wie IWF und
Weltbank. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der
neuen Koalition - so ist es im Programm beider Koalitionsparteien ebenso wie in der Koalitionsvereinbarung,
die Grundlage unserer gemeinsamen Regierungsarbeit
ist, festgeschrieben -, einen wesentlichen Beitrag zu leisten und die Vorreiterrolle zu übernehmen, um endlich
zu einer anderen Wirtschaftsordnung zu kommen und
damit ein bißchen mehr soziale und ökonomische Gerechtigkeit weltweit herzustellen.
Deshalb wünschen wir mit unserem Antrag der Bundesregierung viel Erfolg bei den Verhandlungen mit den
G-7-/G-8-Staaten. Unser Antrag soll dazu dienen, sie auf
dem Wege zu begleiten, zu unterstützen und ein wenig
den Weg zu weisen.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Joachim Günther.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der
Entschuldungsfrage geht es seit langem nicht mehr um
das Ob, sondern es geht darum, wer unter welchen Bedingungen entschuldet wird. Wenn Länder nicht in der
Lage sind, die Zinsverpflichtungen zu bedienen oder gar
zu tilgen, müssen die Ursachen erforscht und muß den
Ländern geholfen werden, aus eigener Kraft die Fähigkeit zum Schuldendienst und zur Entwicklung des Landes zu erlangen.
Dies entspricht auch unseren liberalen Forderungen
nach der Förderung der Selbsthilfebereitschaft und der
Selbsthilfefähigkeit der Partnerländer. Die in den 80er
Jahren rasch angewachsene Auslandsverschuldung vieler Entwicklungsländer bleibt deshalb eine große Herausforderung auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet. Bei allem dringenden Handlungsbedarf muß jedoch
positiv vermerkt werden, daß die Verschuldungskrise
heute nicht mehr ein Problem ist, das die Staaten der sogenannten dritten Welt alle in gleicher Weise betrifft.
Denn eine große Anzahl ehemals hochverschuldeter
Entwickungsländer hat inzwischen ihre Schuldenprobleme unter Kontrolle oder zum Teil gelöst.
Entscheidend hierfür war die wirksame internationale
Zusammenarbeit von Gläubiger- und Schuldnerländern,
von internationalen Organisationen und Banken, die dafür gesorgt hat, daß trotz der asiatischen Finanzkrise die
Schuldenprobleme einzelner Länder nicht zu einer Krise
des internationalen Finanzsystems wurden.
Bei aller Notwendigkeit, die Verschuldungssituation
insbesondere in den am höchsten verschuldeten Entwicklungsländern in den Griff zu bekommen, muß auch
gesehen werden, daß die Verschuldung an sich kein Makel ist; denn jedes aufstrebende Unternehmen wäre
schlecht beraten, wenn es in der Entwicklungsphase seines Unternehmens ohne Kreditaufnahme arbeiten würde.
Auch die Auslandsverschuldung ist zur Sicherstellung des notwendigen Zustroms internationalen Kapitals
ein normaler und ökonomisch sinnvoller Vorgang. Dies
setzt jedoch voraus, daß mit diesem Geld tragfähige Investitionen getätigt und Produktivitätssteigerungen erwirtschaftet werden, durch die im Endeffekt der Schuldendienst bedient werden kann.
({0})
Die langjährigen Erfahrungen mit teilweise gescheiterten Ansätzen für eine wirtschaftlich und politisch vernünftige Strukturanpassungspolitik in vielen Entwicklungsländern haben gezeigt, daß dauerhaftes
Wachstum nur auf der Grundlage einer marktorientierten Politik und durch Eigenanstrengungen der Schuldnerländer insgesamt erreicht werden kann.
Schuldenerleichterungen ohne durchgreifende Reformprozesse in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der
Entwicklungsländer sind keine Grundlage zur dauerhaften Lösung der Finanzprobleme.
({1})
Ich begrüße es daher ausdrücklich, daß dieser zentrale
Aspekt in dem vorliegenden Koalitionsantrag aufgegriffen wurde.
Trotz der finanziellen Sonderbelastung infolge der
deutschen Wiedervereinigung hat sich die frühere Bundesregierung mit Unterstützung unserer Fraktion nachträglich für eine umfassende Entlastung hochverschuldeter und armer Entwicklungsländer eingesetzt. Gegenüber den am wenigsten entwickelten Ländern hat
Deutschland unter unserer Mitverantwortung Forderungen aus der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit
von über 9 Milliarden DM erlassen. Darüber hinaus
wurde im Rahmen multilateraler Umschuldungsvereinbarungen gegenüber Entwicklungsländern auch auf Forderungen aus Handelsgeschäften in einer Gesamthöhe
von 3 Milliarden DM verzichtet.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist überdies der Auffassung, daß pauschale Schuldenerlasse auch unter
entwicklungspolitischen Gesichtspunkten keine befriedigende Lösung bilden.
({2})
Die Erfahrungen aus vier Entwicklungsdekaden haben
gezeigt, daß Ent- bzw. Umschuldungsmaßnahmen in der
Regel nur dann einen wirkungsvollen Beitrag zur Erreichung des Zieles der nachhaltigen Entwicklung leisten
können, wenn sie gleichzeitig mit wirtschaftlichen InHans-Christian Ströbele
itiativen verbunden sind. Auch insofern stimmen wir mit
dem Ansatz des Koalitionsantrages überein.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt die Forderung, das bestehende bilaterale und multilaterale Instrumentarium zur Erleichterung von Schulden besonders
verschuldeter Entwicklungsländer weiterzuentwickeln
und vor allem den Kreis der zugangsberechtigten Länder
zu erweitern.
Ferner gibt es immer auch aktuelle Situationen. Da ist
zwischen Soforthilfe, Krediten und Schuldenerlaß stets
ein Zusammenhang herstellbar. Nehmen wir als Beispiel
die vom Wirbelsturm „Mitch“ betroffenen Länder, die
durch diese Katastrophe in ihrer Entwicklung um viele
Jahre zurückgeworfen wurden. Hier gibt es aus unserer
Sicht keine Alternative zum Schuldenerlaß, zumal ein
Land wie Honduras sowieso zu den ärmsten Ländern
Lateinamerikas zählt.
Denken wir an die heute vom Kosovo-Elend, also an
die von den Folgen der Flucht und Vertreibung betroffenen Anrainerstaaten Albanien und Mazedonien. Soweit
das Thema Schuldenerlaß hier überhaupt ein zentrales
Thema ist, muß es als Teil der Maßnahmen verstanden
werden, die ergriffen werden, um die Folgen des
Flüchtlingselends für die wirtschaftliche und sozialpolitische Entwicklung dieser Länder abzumildern oder sogar umzukehren. In Mazedonien geht es darum, dem
Land trotz wachsender ethnischer Konflikte und extremer Belastungen der innenpolitischen Situation durch
die Flüchtlinge zu helfen, einen eigenen marktwirtschaftlichen und demokratischen Entwicklungsweg zu
konsolidieren.
({3})
Albanien - das wurde vorhin bereits gesagt -, nach
wie vor das Armenhaus Europas, wo es zum Teil hoffnungsvolle Entwicklungsanstrengungen gibt, sollten
wir angesichts der großen Hilfsbereitschaft darin unterstützen, die Lasten des Flüchtlingselends weiter zu
mildern.
({4})
Bei der Entschuldung muß also für jedes Entwicklungsland im Hinblick auf seine spezifische Entwicklungssituation eine angemessene Antwort gefunden
werden.
({5})
Ein genereller Schuldenerlaß ist nach wie vor nicht
sinnvoll,
({6})
da dann die Gerechten und die Ungerechten gleichbehandelt werden. Gute Regierungsführung im Rahmen
eines demokratischen und, Herr Kollege Ströbele, eines
marktwirtschaftlichen Entwicklungsweges muß mit
Kraft unterstützt werden. Der differenzierte Umgang mit
dem Thema „Entschuldung“ muß gesichert werden.
Unsere Fraktion hat sich bereits vor einem guten halben Jahr, gegen Ende der letzten Legislaturperiode, in
einem Entschließungsantrag für die HIPC-Initiative
ausgesprochen und dafür plädiert, das bestehende biund multilaterale Entschuldungsinstrumentarium behutsam fortzuentwickeln. Nach unserer Auffassung ist diese
Initiative ein wesentlicher Schritt, um hochverschuldete
arme Länder substantiell von ihren erdrückenden Schulden zu entlasten, damit sie ihre wirtschaftlichen Reformprogramme und auch die Maßnahmen zur Armutsbekämpfung auf den Weg bringen können.
Diese Initiative fügt sich in den Rahmen der von uns
mitgetragenen internationalen Schuldenstrategie ein,
die die wirtschaftliche Reform der Schuldnerländer und
eine Verbesserung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorsieht. Insofern begrüßen wir auch die in
dem vorliegenden Antrag enthaltene Aufforderung an
die Bundesregierung, sich für eine Verbesserung der
volkswirtschaftlichen Effizienz der hochverschuldeten
Länder einzusetzen und dafür zu sorgen, daß Handelshemmnisse abgebaut werden.
Die im Koalitionsantrag geforderte Umwandlung von
Altschulden in den sogenannten Gegenwertfonds, insbesondere beim zukünftigen Erlaß von Forderungen aus
der ehemaligen DDR, ist zu begrüßen. Die frühere Bundesregierung hat mit Zustimmung unserer Fraktion bereits Schuldenumwandlungen von Forderungen gegen
Umweltschutzmaßnahmen und Armutsbekämpfung in
Höhe von 310 Millionen DM geleistet. Selbstverständlich sollte von diesem Instrument insbesondere bei den
Ländern Gebrauch gemacht werden, die von Naturkatastrophen heimgesucht wurden.
Ebenfalls im Gegensatz zum vorliegenden Antrag
sind wir der Ansicht, daß zukünftig von dem Instrument
nicht rückzahlbarer Zuschüsse grundsätzlich nicht
mehr, sondern eher weniger Gebrauch gemacht werden
sollte. Auch hier zeigt die Erfahrung, daß vernünftige
Kreditkonditionen zu verantwortlichem Umgang mit den
Mitteln und somit zu einer höheren Effizienz der entwicklungspolitischen Projekte führen.
({7})
Das gleiche gilt für die Vergabe von Darlehen der internationalen Finanzinstitutionen.
Wir meinen, daß in begründeten Einzelfällen zwar
erhebliche Konzessionen hinsichtlich der Marktkonditionen gemacht werden können, auf die Marktkonformität der Maßnahmen jedoch nicht völlig verzichtet
werden sollte. Die Forderung nach einer stärkeren Einbindung des Privatsektors bei der Vorbeugung und
Lösung internationaler Finanzkrisen hingegen verstehen
wir als einen Anstoß, die von der F.D.P.-Bundestagsfraktion seit langem geforderte privatwirtschaftliche
Komponente in der Entwicklungspolitik weiter zu fördern.
Unter diesen erwähnten Vorbehalten und unter Zurückstellung von Bedenken in Einzelfragen stimmen wir
dem Koalitionsantrag zu.
({8})
Joachim Günther ({9})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Adelheid Tröscher.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Günther, daß Sie unserem Antrag zustimmen, ist eine große Freude und eine frohe
Botschaft für uns alle. Auf breiter Ebene ist allmählich
die Erkenntnis gewachsen, daß wir diese Entschuldungsinitiative brauchen. Wir wissen alle, daß auf diesem Gebiet etwas erfolgen muß und daß diese Initiative
Erfolg haben muß.
Unter uns Entwicklungspolitikern gibt es natürlich
Nuancen in den Auffassungen und Differenzen - das ist
klar -, aber insgesamt ist der Keil der gemeinsamen
Sicht, was die Entschuldung dieser ärmsten Länder anbelangt, recht breit.
Die Entschuldungsinitiative muß Erfolg haben, denn
seit dem Beginn der „Schuldenkrise“ hat sich an der
Verschuldung vieler Staaten kaum etwas geändert. Für
viele Entwicklungsländer hat sich die Situation allerdings noch verschärft. Dies führt dazu, daß die Entwicklungschancen vieler Länder durch die anhaltende
öffentliche Verschuldung massiv beeinträchtigt sind.
Anstatt zufließende Mittel in den Bereichen Armutsbekämpfung und Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen einsetzen zu können, werden diese Mittel
hauptsächlich für die anstehenden Schuldendienste verwendet. Das erinnert mich an Familien, die sich so verschuldet haben, daß sie sich eigentlich gar nichts mehr
leisten können und nur noch von Graupensuppe leben,
damit sie die Schulden, die sie angehäuft haben, bezahlen können. Hier muß geholfen werden.
Wir müssen Mittel für die Armutsbekämpfung haben.
Wir müssen Mittel für die Grundbildung haben. Wir
müssen Mittel für Umweltschutz- und Infrastrukturmaßnahmen sowie in ganz besonderem Maße für die Frauenförderung haben; denn letztere bleibt auf der Strecke,
wenn wir diese Gelder anders nutzen können. Überschuldung ist zu einem der am meisten entwicklungshemmenden Probleme geworden. Selbst die Weltbank
hat das längst begriffen und neue Initiativen gestartet.
James Wolfensohn imponiert mir in diesem Punkte sehr.
Ich hoffe nur, daß er es fertigbringt, die Weltbank insgesamt so zu reformieren, daß sie der Entwicklungspolitik
auf lange Sicht dient und dies diesen Ländern zugute
kommt.
Der von der Weltbank eingeschlagene Weg, einen
internationalen Fonds zur Entschuldung der multilateralen Forderungen zu schaffen, könnte wegweisend
sein für die Entschuldung privater und bilateraler Forderungen. Die bisherigen Bemühungen von IWF und
Weltbank gegenüber den hochverschuldeten armen Ländern sind kleine Schritte in die richtige Richtung. Dennoch sind beide auch weiterhin gefordert, innovative
Maßnahmen zu ergreifen, um die Belastungen der armen
Schuldnerländer auf ein tragbares Niveau zu reduzieren.
Eine Aufrechterhaltung der vollen Finanzforderung ist
nicht zu rechtfertigen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Menschen in den Entwicklungsländern ihre Chancen zu einer
umfassenden Entwicklung nicht nehmen wollen, müssen
wir jetzt neue Initiativen ergreifen und von unserer Seite
aus zur Entschuldung dieser Länder beitragen. Die Ministerin hat einige Länder genannt, die zuerst von dieser
Initiative erfaßt werden sollen. Manche haben schon
Angst davor, daß jetzt alle Länder auf einen Schlag entschuldet werden sollen. Ich denke, wir werden uns das
ganz genau überlegen und die Kriterien dahin gehend
entsprechend anwenden, welche Länder an die Reihe
kommen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der letzten
Legislaturperiode Vorschläge zur Entschuldungsproblematik erarbeitet und in den Deutschen Bundestag
eingebracht. Wir hatten seinerzeit die Vorschläge der
Weltbank begrüßt, einen internationalen Fonds für die
40 ärmsten Länder einzurichten. Dieser Fonds sollte unseres Erachtens unverzüglich auf einer internationalen
Schuldenkonferenz im Hinblick auf Umsetzung und
Konzeption diskutiert und geprüft werden. Wir haben
dazu auch eine Reihe von Fragen formuliert. Hierzu gehören etwa, gegenüber welchen Ländern der Fonds Entschuldungen durchführen könnte, welche Kriterien zugrunde gelegt werden sollten - es ist uns allen ja sehr
wichtig, daß es einen Kriterienkatalog für Entschuldungsmaßnahmen gibt -, ob im Zuge von Entschuldungen Gegenwertfonds für entwicklungspolitische Maßnahmen in den betreffenden Ländern eingerichtet werden sollen - ich bin froh, daß diese Gegenwertfonds
immer mehr auf die Zustimmung anderer Parteien treffen -, wie man sicherstellt, daß die Entschuldungsprogramme auch wirklich der breiten Bevölkerung zugute
kommen und welche Anteile am Fonds durch Einlagen
der internationalen Finanzinstitutionen, IWF und Weltbank vor allen Dingen, aber auch den regionalen Entwicklungsbanken selbst, durch einen Teilverkauf der
IWF-Goldreserven, durch eine Erhöhung von Sonderziehungen und gegebenenfalls durch bilaterale Einlagen
abgedeckt werden könnten.
Hinzu kommt, daß es sinnvoll ist, in bestimmten Fällen der Entwicklungsfinanzierung diese nur noch in
Form von Zuschüssen zu gewähren. Das wäre für die
betreffenden Länder sicher sehr viel besser.
Darüber hinaus sollten wir prüfen, wo es noch mehr
Spielräume für Entschuldungsmaßnahmen gibt, vor allem dann, wenn der Schuldendienst armer Entwicklungsländer nicht ihrer Leistungsfähigkeit entspricht und
deshalb Investitionen in Entwicklung verhindert. Auf
deutsch: Mit neuen Krediten werden alte Schulden bezahlt. Das ist absurd. Dies kann nicht so weitergehen;
dies müssen wir ändern.
({1})
Daher begrüße ich es außerordentlich - ich bin wirklich sehr froh darüber -, daß die neue Bundesregierung
das aufgegriffen hat. Hier muß ich die Ministerin wirklich loben. Denn sie hat das von Anfang an zu ihrem
Thema gemacht und das bis zu dieser Entschuldungs2848
initiative durchgezogen. Ich hoffe sehr, daß Sie damit
Erfolg haben werden.
({2})
Hier geht es darum, daß die Menschen in den hochverschuldeten Ländern eine neue Chance für nachhaltiges
Wachstum haben und Innovationen und eine sozial gerechte und ökologisch verträgliche Entwicklung eröffnet
bekommen.
Mit der Kölner Schuldeninitiative hat die Bundesregierung die Anregung der vielen entwicklungspolitisch
engagierten Einzelpersonen und Organisationen in unserem Land, die sich seit Jahren für eine weitgehende Entschuldung der Entwicklungsländer einsetzen, aufgegriffen. Beispielhaft seien die zahlreichen Gruppen, Initiativen, NGOs, Kirchengemeinden und Entwicklungsorganisationen an dieser Stelle einmal erwähnt, die sich im
Rahmen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ zusammengeschlossen haben. Ich finde, das ist eine einmalige Bürgerbewegung. Man sollte das wirklich auch einmal ganz
deutlich sagen.
({3})
- Und sie loben; natürlich.
Wir begrüßen deswegen die Vorschläge der Bundesregierung, die Vorlaufzeit für Schuldenerlasse im Rahmen der HIPC-Initiative für die ärmsten hochverschuldeten Länder zu verkürzen, den Ländern bis zum Jahr
2000 Klarheit über den Zeitpunkt des Schuldenerlasses
zu verschaffen, die Leistungsfähigkeit bzw. das Entwicklungspotential jedes einzelnen von der Verschuldung betroffenen Staates stärker zu berücksichtigen, zu
insgesamt abgestimmten Vorgehensweisen im Pariser
Club zu kommen und den Außenwirtschaftssektor in den
Entwicklungsländern durch Finanzierung von Beratungsprojekten in der Entwicklungszusammenarbeit zu
stärken. Dazu gehören die NGOs, dazu gehören aber
auch unsere staatlichen Einrichtungen. Ich frage mich,
warum sie eigentlich vor Ort nicht wirklich gut zusammenarbeiten sollten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der Initiative
der Bundesregierung setzt die Bundesrepublik Deutschland ein Zeichen der Solidarität und der Partnerschaft.
Das zeigt, daß wir uns zusammen mit unseren G-7Partnern und internationalen Finanzinstitutionen in Zeiten fortschreitender Globalisierung wirklich zusammentun können und uns für die Belange der hochverschuldeten ärmsten Entwicklungsländer einsetzen. Dazu
gehört auch, daß die Schuldnerländer Maßnahmen hinsichtlich der Stärkung der Demokratie und der Partizipation, der Wahrung der Menschenrechte, von „good
governance“ - und dazu gehört natürlich das leidige
Thema Korruption - in all seinen Aspekten und der
Rechtsstaatlichkeit ergreifen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Entwicklung
braucht Entschuldung. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, begrüßen daher außerordentlich die Gipfelinitiative, die sich positiv auf die Lebenssituation von
Millionen von Menschen in vielen Ländern auswirken
kann und auswirken wird.
Ich lade Sie, alle Fraktionen dieses Hauses, ein, dem
Antrag der Koalitionsparteien zuzustimmen, damit die
Entwicklungspolitiker wie so oft - warum nicht auch
hier? - mit einer Stimme sprechen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen der Regierungsfraktionen! Frau Ministerin! In Ihrer Koalitionsvereinbarung ist zu lesen: „Internationale Entschuldungsinitiativen für die ärmsten und
höchstverschuldeten Länder werden unterstützt.“ Zumindest diesem einen Satz zur Entwicklungspolitik folgen mit der angekündigten Schuldeninitiative 1999 nun
erste, wenn auch außerordentlich zaghafte Schritte. Das
ist gut so, aber - das müssen Sie auch zugeben - das
Versprechen war ja auch bescheiden und unkonkret
genug.
Selbst die jetzt eingeleiteten Schritte lassen strukturell
wie quantitativ leider wenig Innovatives und Neues erkennen. Auch das muß, denke ich, gesagt werden. Statt
dessen bewegen Sie sich in der Praxis - ich denke, das
hat die Rede des Kollegen Hedrich deutlich gemacht im wesentlichen in der Logik und den Spielräumen der
bisherigen Regierung. Und diese waren längst nicht hinreichend, gaben oft keine überzeugenden Antworten auf
die Herausforderungen, mit denen wir auf Grund einer
ungerechten Weltwirtschaftsordnung, Armut und Krieg
in weiten Teilen der Erde konfrontiert sind.
Ein erster Schritt also, für den Sie sich nicht allzu
dolle auf die Schulter klopfen sollten, gerade wenn wir
uns vor Augen halten, daß er ohne den Druck der mittlerweile über 500 Organisationen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ sicher nicht zustande gekommen wäre.
Denn es sind, wie so oft, die NGOs, die dafür gesorgt
haben, daß ein Problembewußtsein überhaupt erst entstanden ist, daß Blockaden überwunden und von der
Politik praktische Konsequenzen gezogen wurden.
Aber genau diese Initiativen, meine Damen und Herren, sind es auch, die sich inzwischen sehr kritisch zur
Kölner Schuldeninitiative geäußert haben, sowohl was
den Umfang als auch was die politischen Eckwerte dieses Vorstoßes betrifft. In einer Erklärung von WEED
heißt es etwa:
Einen radikalen Plan für Schuldenerlasse stellt sie
- also die Initiative ebensowenig dar, wie sie einen neuen Start für eine
zukunftsfähige Entwicklung einleiten wird. Eine
glaubwürdige Rolle als Vorreiter in der internationalen Schuldenpolitik kann die Bundesregierung
nur dann für sich reklamieren, wenn sie konsequent
ihre bilateralen Handlungsmöglichkeiten ausschöpft und sich für weitreichende Schuldenerlasse
und strukturelle Reformen auf der multilateralen
Ebene einsetzt.
Sie wissen so gut wie ich: Insbesondere bilateral hätten mit dem Haushaltsentwurf 1999 deutlichere Zeichen
gesetzt werden müssen. Ich nenne hier nur einige Stichpunkte: zum Beispiel den sofortigen und hundertprozentigen Erlaß für die ärmsten Staaten über die
80-Prozent-Quote des Pariser Clubs hinaus oder die
konsequente Streichung der DDR-Schulden in Höhe von
5,5 Milliarden DM, deren Legitimität durchaus nicht nur
von uns angezweifelt wird und die sich gegebenenfalls,
etwa bei undemokratischen Regimen, zumindest in Gegenwertfonds mit einer sinnvollen Zielsetzung und
Kontrolle umwandeln ließen.
Darüber hinaus sind Schritte längst überfällig hinsichtlich einer konsequenten Reform der Kreditvergabe
über Hermes-Bürgschaften mit Zielrichtung Transparenz
und Nachhaltigkeit, also nach sozialen, entwicklungspolitischen und ökologischen Kriterien. Schließlich machen genau diese Kredite bekanntlich einen Löwenanteil
der bilateralen Forderungen der Bundesrepublik aus.
Und last, but not least ist längst überfällig, worauf
auch der Kollege Hedrich hingewiesen hat: Dem Ziel,
0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für öffentliche
Entwicklungshilfe einzusetzen, werden wir mit diesem
Haushalt wahrscheinlich nicht näherkommen, sondern das befürchte ich - wir werden uns davon weiter entfernen. Damit werden auch die notwendigen Zuschüsse für
hochverschuldete arme Länder in weite Ferne rücken.
Eines nämlich muß klar sein: Entschuldung darf nicht
auf Kosten des eh schon sehr beschränkten Etats der
Entwicklungszusammenarbeit gehen.
Sagen Sie mir nicht, daß das nicht zu bezahlen sei
von einem Staat, dessen Verteidigungshaushalt milliardenschwer ist und der täglich Millionen Mark für einen
irrsinnigen und perspektivlosen Krieg aus dem Fenster
wirft! Wann, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition und natürlich auch von CDU/CSU und
F.D.P. - das frage ich Sie ernsthaft -, hat die Bundesrepublik in ihrer Geschichte jemals soviel Geld für eine
gerechtere Weltwirtschaftsordnung, gegen Armut und
Verelendung sowie zur Krisenprävention und Friedenssicherung eingesetzt wie für die Finanzierung der Bundeswehr und, wie in den letzten Jahren, für verschiedene
internationale Militäreinsätze? Wenn ich nicht irre, hat
allein die Bundesrepublik 16 Milliarden DM zur Finanzierung des Irak-Krieges beigesteuert; das macht rund
zwei Haushalte des BMZ aus. Das muß man sich einmal
vorstellen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich will dennoch nicht bestreiten, daß Sie sich, wie
Ihrem Antrag zu entnehmen ist, schon eines Teils der
Kritik angenommen und versucht haben, diese im Forderungsteil zu verarbeiten. Es bleibt aber weiterhin unklar, in welchem Zeitraum damit begonnen werden soll.
Wann, wenn nicht jetzt mit dem Haushalt 1999, soll mit
ersten Schritten in Richtung Abbau bilateraler Schulden
begonnen werden?
Ich möchte noch einen weiteren Aspekt ansprechen,
und zwar die Frage der Verantwortung für die hohe
Schuldenlast, unter der viele Staaten leiden und die in
der Regel von der dortigen Bevölkerung ausgebadet
wird. Die hohe Schuldenlast liegt nämlich mitnichten
allein bei den ärmsten und hochverschuldeten bzw. bei
den am wenigsten entwickelten Staaten, wobei ich natürlich nicht die Verantwortung der häufig wiederum
von den Industrienationen gestützten Eliten in diesen
Ländern abstreiten will. Dennoch: Die Industriestaaten
des Nordens mit ihrer kolonialen Vergangenheit und ihrer überwiegend gewinn- und eigennutzorientierten Gegenwart, die Geberländer und multilateralen Geberinstitutionen wie IWF und Weltbank tragen eine wesentliche Verantwortung für die Schuldenkrise, die nun schon
seit Ende der 70er Jahre anhält. Dieser Verantwortung
müssen sie sich endlich stellen und ihr im Sinne der
Menschen dort gerecht werden. Das betrifft insbesondere Deutschland als einen der größten Geber und als Anteilseigner an den multilateralen Geberinstitutionen.
Die in langwierigen und zähen Verhandlungen ausgehandelten Erleichterungen und Umschuldungen haben
in der Vergangenheit nachweislich keinen Neuanfang
für Länder wie zum Beispiel Nicaragua - mit inzwischen 29 Umschuldungsabkommen - oder für die afrikanischen Staaten gebracht. Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank haben die Schuldenspirale statt dessen weitergedreht und zum Teil sozioökonomische Abraumhalden zurückgelassen. Wer
das heute noch leugnet, der fällt sogar hinter den zaghaften Lernprozeß zurück, den die Weltbank derzeit in
der Entschuldungsfrage durchmacht, weshalb mit Blick
auf den IWF eigentlich nur noch gesagt werden kann,
daß seine sogenannten Strukturanpassungsprogramme
schlichtweg abgeschafft gehören und statt dessen seitens
der Geberländer und -institutionen endlich mit dem
Aufbau eines fairen Insolvenzrechts begonnen werden
muß.
({0})
Aber mit einer einmaligen Entschuldung allein - ich
denke, da herrscht fraktionsübergreifend Einigkeit werden die meisten Länder nicht vom Tropf kommen.
Zahlreiche Maßnahmen und Programme müssen diesen
Prozeß flankieren. So zum Beispiel müssen Weltbank
und IWF, das gesamte Instrumentarium sowie der Kriterienkatalog des Schuldenmanagements grundsätzlich reformiert werden, muß sich der IWF aus der Entwicklungszusammenarbeit zurückziehen, muß eine TobinTax eingeführt werden, tut eine internationale Bankenaufsicht not und muß der Handel mit risikoreichem Kapital unterbunden oder zumindest restriktiv flankiert
werden.
({1})
Außerdem darf die Entwicklungspolitik nicht in dem
Sinne zusätzlich konditioniert werden - dies ist vorhin
angeklungen -, daß sie zu einem von den Reichen diktierten Korsett für die Armen wird. Das hätte mit einer
Partnerschaft wenig zu tun. Diese, so denke ich, streben
wir gemeinsam an.
Letztendlich bedeutet all das nichts anderes, als daß
die Bundesrepublik gemeinsam mit den anderen Industrienationen zukünftig endlich bereit sein muß, über
schöne Worte und temporäre Betroffenheit hinaus wirkliche Schritte zur Herstellung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung zu unternehmen - nicht mehr und nicht
weniger. Das heißt, die Ungleichgewichte sind aktiv abzubauen und die noch verbliebenen Strukturen dürfen
nicht durch Druck zu wirtschaftlicher Liberalisierung
und ökologischem und sozialem Standortwettbewerb
zerschlagen werden. Im Gegenteil, der Schutz von regionalen und eigenständigen Wirtschaftskreisläufen und
Entwicklungsansätzen in den Ländern des Südens und
des Osten muß akzeptiert und ausgeweitet werden.
Das sind Rahmenbedingungen, die in Ihrem Antrag
leider deutlich zu kurz kommen. Den Teufelskreis der
Unterentwicklung, zu dem die Überschuldung unstrittig
gehört, werden wir aber nur so durchbrechen können.
Danke.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in
Vorbereitung des G-7-Gipfels in Deutschland die Kölner
Schuldeninitiative ergriffen. Ziel ist es, den ärmsten
hochverschuldeten Entwicklungsländern durch zusätzliche Schuldenerleichterungen zu helfen. Die Fraktion der
SPD begrüßt ausdrücklich diesen Schritt.
Die Bundesregierung verbindet mit dieser Initiative
die nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung in
den ärmsten Entwicklungsländern. Viele entwicklungspolitisch engagierte Nichtregierungsorganisationen,
Gruppen, Kirchen und Einzelpersonen haben sich im
Rahmen der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ zur Entschuldungsproblematik geäußert. Die Bundesregierung hat
die Hinweise dankbar in ihrer Initiative aufgegriffen. Ihre Initiative richtet sich an arme Entwicklungsländer mit
einer Schuldenlast, die so hoch ist, daß die zu zahlenden
Zinsen und Tilgungen eine nachhaltige und auf die Beseitigung von Armut und Ungerechtigkeit gerichtete
Entwicklung stark behindern.
Die Überschuldung der armen Länder ist unter anderem eine Folge von ungewöhnlichen wirtschaftlichen
Belastungen der Vergangenheit. Beispielhaft seien der
Rückgang der Rohstoffpreise, hohe internationale Zinsen, aber auch die mangelnde Entwicklungsorientierung
der Schuldnerregierungen genannt. Die unvorsichtigen
Kreditvergabepolitiken öffentlicher und privater Gläubiger taten ihr übriges.
Ein weiterer Aspekt der Überschuldung und ihrer Ursachen ist am Beispiel der Länder im südlichen Afrika
bisher weitestgehend außer acht gelassen worden. Ich
spreche von den sogenannten Apartheidschulden. Ich
bitte, meine folgenden Ausführungen als Denkanstoß zu
nehmen. Mir ist selbstverständlich bewußt, daß Südafrika selbst nicht für die HIPC-Initiative in Frage kommt,
da es nicht zu den ärmsten Ländern gehört. Die Politik
des Apartheidregimes hatte jedoch Auswirkungen auf
die Nachbarstaaten.
Was sind nun Apartheidschulden? Thabo Mbeki, designierter Nachfolger Nelson Mandelas in Südafrika,
sagte:
Das herrschende Apartheidregime bürdete dem
Land eine beispiellose Schuldenlast auf, um durch
deren Übernahme das Machtverhältnis während der
Übergangsphase von der Apartheid zur Demokratie
zugunsten der antidemokratischen Gruppierungen
zu verschieben und die demokratische Bewegung
zu schwächen.
Von der internationalen Öffentlichkeit bislang kaum
wahrgenommen, geht nach Meinung von Finanzexperten ein hoher Anteil der Verschuldung der Länder im
südlichen Afrika auf das Konto des ehemaligen Apartheidsystems.
({0})
Damit beschränken sich die Apartheidschulden nicht nur
auf Südafrika und seine unverantwortliche Schuldenpolitik. Jahrelang destabilisierte es die sogenannten
Frontstaaten, die ein Opfer von Rebellenbewegungen
wurden, wie zum Beispiel der Renamo in Mosambik
und der Unita in Angola. Die Stellvertreterkriege wurden massiv von Südafrika unterstützt und verwüsteten
die gesamte Region. Millionen Menschen wurden zu
Flüchtlingen. Einer ganzen Generation wurde eine schulische Ausbildung vorenthalten. Aber auch Simbabwe,
Sambia und Tansania waren Zielscheibe des Apartheidterrors und litten stark unter der von Südafrika verhängten Handelsblockade.
Zwar gehören zu der 14köpfigen Staatengruppe
der Entwicklungsgemeinschaft des südlichen Afrikas,
SADC, mit Südafrika und Mauritius die reichsten und
proportional am wenigsten verschuldeten Länder des
Kontinents. Aber mit Angola, der Republik Kongo, mit
Malavi, Mosambik, Sambia und Tansania gehören auch
die ärmsten der hochverschuldeten Länder des Südens
zu ihren Mitgliedern.
Gewiß, Mißwirtschaft und Korruption sind auch Ursachen der Verschuldung in diesen Ländern. Das damalige Apartheidregime Südafrikas ist jedoch durch seine
Destabilisierungspolitik mitverantwortlich zu machen.
Bei der Frage der Entstehung von Schulden und Armut
in der Region ist das auf alle Fälle zu berücksichtigen.
Ich unterstütze ausdrücklich, daß beim Zugang zur
HIPC-Initiative eine Erleichterung angestrebt wird. Die
bisher geforderten sechs Jahre erfolgreicher Durchführung eines Strukturanpassungsprogramms sind zu lange
und unakzeptabel. In den Anhörungen des Ausschusses
ist darauf hingewiesen worden. Das Institut Südwind sei
hier stellvertretend genannt.
Eine Halbierung des Zeitraumes sollte angestrebt
werden. Ich begrüße, daß die Bundesregierung dieses
Problem erkannt hat und an einer Verkürzung arbeitet.
Frau Ministerin hat dies in ihrer Rede bestätigt.
Ich freue mich, daß die Bundesregierung grundsätzlich ihre Bereitschaft zum Erlaß der Ex-DDRForderungen erklärt hat. Dabei handelt es sich ja um
einen Sonderfall der bilateralen Handelsschulden. Mosambik, aber auch Angola sind beispielsweise davon
betroffen. Die Umwandlung der Ex-DDR-Forderungen
in Gegenwertfonds für Vorhaben der Armutsbekämpfung oder der Stärkung der Demokratiebewegungen in
den ärmsten Ländern ist ein wichtiger Ansatz.
Gerade in Mosambik und Angola müssen wir dabei
auf folgende Entwicklungsziele achten: daß es erstens
zu einer Konsolidierung des Friedens- und des Versöhnungsprozesses kommt, daß zweitens die Demokratisierung der Gesellschaft und der Aufbau der Zivilgesellschaft vorangetrieben werden, daß drittens die ökonomische und soziale Reintegration von Flüchtlingen, Vertriebenen, demobilisierten Soldaten, Kriegsversehrten
und kriegstraumatisierten Kindern erfolgt, daß viertens
die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigt vorangetrieben wird und daß fünftens die Armutsbekämpfung
im Auge behalten wird. Dies erfordert hohe Anstrengungen der in Frage kommenden Länder. Unsere Initiative verschafft ihnen mehr finanziellen Spielraum, um
das anzupacken.
Generell ist jedoch zu sagen, daß wir den Regierungen, denen wir eine Hilfe in Aussicht stellen, sehr genau auf die Finger schauen müssen. Wir erwarten
selbstverständlich „good governance“ in all seinen
Formen wie die Bekämpfung der Korruption sowie die
Wahrung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Es ist auch nicht hinzunehmen, wenn Regierungen
von Staaten, die zu den ärmsten Ländern Afrikas gehören, in Kampfhandlungen im Kongo involviert sind,
was selbstverständlich auch für Angola gilt. Überproportionale Rüstungsausgaben sind dabei ebenfalls zu
hinterfragen.
Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, die Bundesregierung greift all diese Aspekte in ihrer Initiative auf. Es
ist festzustellen, daß für die ärmsten verschuldeten Entwicklungsländer ein Weg aus ihrer Verschuldung hin zu
einer nachhaltigen Entwicklung aufgezeigt wird. Die Initiative ist ein Schritt in die richtige Richtung, und ich
bedanke mich ausdrücklich bei Ministerin Heidi
Wieczorek-Zeul für ihr Engagement in der Sache. Statt
wie in der Vergangenheit restriktiv geht die neue Bundesregierung die Problematik sehr konstruktiv an.
Herzlichen Dank noch einmal an die Frau Ministerin
sowie Dank an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, für
Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ihnen, lieber
Herr Kollege Hempel, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer
ersten Rede im Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Ralf Brauksiepe.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bedrückend hohe
Verschuldung vieler gerade auch sehr armer Entwicklungsländer gehört sicherlich zu den traurigsten Erfahrungen, die wir in der Entwicklungspolitik der letzten Jahrzehnte gemacht haben. Hier sollten wir gemeinsam nach
Lösungswegen suchen. Ich erkenne deshalb ausdrücklich
an, daß die rotgrüne Bundesregierung mit ihrer Entschuldungsinitiative für den G-8-Gipfel in Köln die Politik der
früheren Bundesregierung konsequent fortsetzt und ihren
Kurs der Entschuldungs- und Umschuldungspolitik weiter
betreibt. Deshalb hat der Kollege Hedrich bereits für die
CDU/CSU-Fraktion erklärt, daß wir an unserem grundsätzlichen Ja zu einer Politik der Schuldenerleichterung
und des Schuldenerlasses gerade für die Ärmsten der Armen entschieden festhalten.
Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hatte deswegen auch im Bereich des bi- und multilateralen Schuldenerlasses für die ärmsten Länder schon in den letzten
Jahren dafür gesorgt, daß immerhin über 9 Milliarden DM
an Schulden nicht zurückgezahlt werden müssen. Ich
glaube, man muß das hier doch noch einmal in Erinnerung rufen, weil in manchen Reden von Vertretern der
Regierungsfraktionen der Eindruck erweckt wurde, es
fange mit der Entschuldung jetzt erst an.
({0})
Ich muß allerdings auch feststellen, daß Ihre Entschuldungsinitiative darüber hinaus eigentlich kaum
neue Akzente enthält. Da, wo neue Akzente gesetzt
werden, halte ich Zweifel an ihrer Sinnhaftigkeit für angebracht.
Ich komme in diesem Zusammenhang auf die Vorstellung in Ihrer Initiative zurück, einen Schuldenerlaß
für die ärmsten Entwicklungsländer grundsätzlich nicht
mehr erst nach einer Frist von sechs Jahren, sondern bereits nach drei Jahren zu gewähren. Ich glaube nicht, daß
man ernsthaft erwarten kann, daß bereits nach drei Jahren der Nachweis nachhaltiger Reformbemühungen erbracht ist.
Das ist im übrigen kein Sonderproblem der Entwicklungsländer. Herr Kollege Schuster, Sie haben angemahnt, daß man nicht nur auf die Entwicklungsländer
zeigen sollte. Ich will das gerne tun: Wir haben in den
letzten Jahren in Deutschland eine Reihe von Reformen
durchgeführt, von denen anerkannte internationale Organisationen wie die OECD gesagt haben: Genau diese
Reformen gehen in die richtige Richtung. Wir müssen
aber feststellen, daß Sie die Reformen, die die internationalen Organisationen für richtig halten, innerhalb von
recht kurzer Zeit zurückgenommen haben.
({1})
Das heißt, wenn wir auf Kredite angewiesen wären,
würde man uns ebenfalls sagen: Ihr habt im letzten halben Jahr Schritte unternommen, die eure internationale
Kreditwürdigkeit erheblich herabsetzen. So ist die Lage.
Man kann also sagen, daß drei Jahre keine allzu lange
Zeit für Reformen sind. Diese Feststellung kann man
auch bezüglich der eigenen Situation treffen.
CDU und CSU hegen große Sympathie für die Initiativen nicht zuletzt kirchlicher Gruppen und anderer
Nichtregierungsorganisationen, die sich unter dem
Stichwort „Erlaßjahr 2000“ für einen Schuldenerlaß
stark machen. Diese Initiativen leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Bewußtseinsbildung in unserem Land.
Das Bewußtsein dafür, daß in der Frage der Überschuldung der Entwicklungsländer etwas getan werden muß,
ist zweifellos unerläßlich.
Ich finde es im übrigen schon bemerkenswert, wenn
in diesem Zusammenhang von Misereor auch ein qualifizierter Schuldenerlaß in der Form gefordert wird, daß
freiwerdendes Geld in Projekte für die Armen, zum Beispiel im Gesundheits- und Bildungsbereich, gesteckt
werden soll. Diese Haltung ist nicht weit entfernt von
unserer Vorstellung von Gegenwertfonds, mit denen
Gelder in Entwicklungsländer in sinnvolle Projekte und
Maßnahmen geleitet werden sollen. Es geht eben nicht
um einen pauschalen Schuldenerlaß ohne Wenn und
Aber, von dem allein gerade die Menschen in den Entwicklungsländern nichts hätten.
Ob Sie von den Regierungsfraktionen nun die Forderungen der Kirchen und Nichtregierungsorganisationen
wirklich in dem Maße aufgegriffen haben, wie Sie für
sich in Anspruch nehmen, halte ich im übrigen für fragwürdig. Auf Grund vieler Gespräche mit Initiatoren und
auf Grund ihrer eigenen offiziellen Publikationen weiß
ich, daß sie Ihre Initiativen nicht für weitgehend genug
halten. Ich halte diesen Standpunkt für menschlich verständlich und kritisiere deshalb Ihre Politik in diesem
Punkt nicht. Sie haben jetzt in der Regierungsverantwortung - anders als früher - auch mit der Notwendigkeit zu tun, das Wünschenswerte mit dem in Einklang zu
bringen, was auch sachgerecht ist.
Bei der Frage, was sachgerecht ist, muß man sich
sicherlich noch einmal vor Augen führen, was denn
eigentlich die Ursachen der heutigen Verschuldensproblematik sind, worin die heutigen Probleme im wesentlichen liegen und welche Lösungsansätze man daraus
ableiten kann. Wenn wir das in seriöser Weise tun wollen, dann können wir natürlich nicht so vorgehen, wie es
Ihr Schweriner Koalitionspartner in seinem Antrag vorschlägt. Er erweckt in seinem Antrag den Eindruck, als
hätte der Internationale Währungsfonds 1917 die Oktoberrevolution gewonnen und wäre deshalb für die russische Politik der letzten 80 Jahre und für die Rußlandkrise von heute verantwortlich. So einfach kann man es
sich eben nicht machen.
({2})
Das mit Abstand meiste Geld haben wir im übrigen in
den letzten Jahren für die Überwindung Ihrer Hinterlassenschaften ausgegeben und nicht für Kriege und Konflikte anderswo in der Welt. Das sei noch einmal in Erinnerung gerufen.
({3})
Der Ausgangspunkt der internationalen Verschuldungskrise war ja nun einmal die großzügige sowohl
öffentliche als auch private Kreditvergabe an Entwicklungsländer insbesondere in den siebziger Jahren, als das
Geld noch ein bißchen lockerer saß. Es ist ja kein Zufall,
daß die Verschuldungsproblematik an Hand der Probleme Mexikos im Jahre 1982 öffentlichkeitswirksam wurde, das heißt an Hand der Verschuldungsprobleme eines
Landes, das im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern noch relativ wohlhabend war und ist. Deswegen
trifft ganz objektiv die Feststellung zu, daß Verschuldung nicht automatisch das größte Armutsproblem ist.
Erst später nach ähnlich fortgeschrittenen lateinamerikanischen Schwellenländern gerieten auch ärmere Entwicklungsländer verstärkt in den Sog der internationalen
Verschuldungskrise.
Zunächst einmal waren diejenigen Länder besonders
stark betroffen, die zuvor in die vergleichsweise glückliche Lage gekommen waren, überhaupt als kreditwürdig angesehen zu werden und insofern in der Entwicklung schon relativ weit fortgeschritten zu sein.
Das Problem ist doch gewesen, daß das erhaltene
Geld schlecht angelegt worden ist, daß es in einer ineffizienten Verwaltung versickert ist, daß es infolge von
Korruption und Vetternwirtschaft veruntreut oder in
Prestigeobjekten versandet ist, daß es Opfer einer dirigistischen Politik des Staates geworden ist, der sich viel zu
stark in die Wirtschaft zum Nachteil der Menschen eingemischt hat, und daß - auch das gehört zur Wahrheit das Geld auf Grund vielfach noch kolonialbedingter, für
die Entwicklungsländer ungünstiger Handelsstrukturen
nicht die erforderliche und erwünschte Wirkung erzielen
konnte.
Das Zusammenspiel einer undifferenzierten großzügigen Kreditvergabe mit dem ineffizienten Mitteleinsatz
hat also zu der Verschuldung beigetragen. Das ist der
objektive Befund. Es kann nicht um Schuldzuweisung
an irgendeine Seite gehen.
({4})
Was sind denn die heutigen Hauptprobleme der verschuldeten Länder? Das Problem ist doch nicht, daß die
Schulden einfach zurückbezahlt werden müssen. Wenn
das so wäre, dann wären Verschuldungskrisen zumindest vorübergehend recht schnell beendet, sobald ein
Land seine Zahlungsunfähigkeit erklären würde. Dann
wäre der Handlungsbedarf gar nicht so groß, den man
zur Bekämpfung dieser Schuldenkrise hätte. Aber das
Problem ist ja nicht nur, daß das Geld zurückgezahlt
werden muß. Vielmehr ergibt sich als Konsequenz aus
dem ineffizienten Einsatz der erhaltenen Kredite das
Problem, daß diesen Ländern heute neues Geld fehlt Geld, das sie dringend brauchen, um neue entwicklungsfördernde Maßnahmen finanzieren zu können.
Deshalb warne ich in diesem Zusammenhang vor
übertriebenen Hoffnungen in die Wirkungen des von
Ihnen angesprochenen Internationalen Insolvenzrechts. Ich verspreche mir davon nicht allzuviel. Denn
letztlich würde ein solches Insolvenzrecht bzw. seine Inanspruchnahme erst einmal voraussetzen, daß das jeweilige Land seine Zahlungsunfähigkeit erklärt. Wenn
Sie für öffentliche und gerade für private Gläubiger Anreize setzen wollen, neues Geld zu geben, dann müssen
Sie, so glaube ich, davon ausgehen, daß das ähnlich wie
im privaten Leben und im privaten Insolvenzrecht abläuft: Wenn Sie erst einmal erklären, daß Sie die alten
Schulden nicht zurückzahlen können, dann ist das nicht
die beste Voraussetzung, um an neues Geld zu kommen.
Unabdingbar für die notwendige Vertrauensbildung
zur Vergabe weiterer Kredite und nicht rückzahlbarer
Zuschüsse ist deshalb der Nachweis ernsthafter und
nachhaltiger Reformanstrengungen in den Entwicklungsländern selbst. An dieser Voraussetzung, die wir in
unserem Antrag klar formuliert haben, führt im Rahmen
von Schuldenerleichterung und Schuldenerlaß für die
ärmsten Länder kein Weg vorbei.
({5})
Wir, CDU und CSU, sprechen uns darüber hinaus dafür aus, bei der Schuldenerleichterung multilateral vorzugehen. Die frühere Bundesregierung hat dazu bereits
dankenswerte Initiativen ergriffen. Denn ansonsten liefen wir Gefahr, nur den berühmten Tropfen auf den heißen Stein bereitzustellen. Wenn wir den Nachweis
ernsthafter und nachhaltiger Reformanstrengungen verlangen, dann bedeutet das konsequenterweise, daß wir
zu Einzelfallentscheidungen über Schuldenerleichterung
und Schuldenerlaß kommen müssen - je nachdem, ob
wir den Nachweis als erbracht erachten oder nicht.
Wenn ich in Ihrem Antrag aber lese, daß Sie umfassende
Eigenanstrengungen der Schuldnerländer und ein mit
den internationalen Finanzinstitutionen abgestimmtes
Programm fordern, dann ist mein Eindruck, daß wir in
diesem Punkt in der Tat nicht weit auseinander sind.
Ich stelle mit großem Interesse fest - der Kollege
Günther hat es schon angesprochen -, daß mittlerweile
auch Sie sich die notwendige Liberalisierung des
Welthandels auf die Fahnen schreiben und verlangen,
daß Handelshemmnisse im Sinne der ärmsten Entwicklungsländer verringert werden. Wenn ich an die entwicklungspolitischen Diskussionen der vergangenen
Jahre denke, dann erinnere ich mich, das von Vertretern
Ihrer Parteien auch schon ganz anders gehört zu haben.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie dringend
warnen: Wenn Sie von der notwendigen Liberalisierung
sprechen, dann holen Sie bitte nicht undifferenziert die
Keule der angeblich oder tatsächlich fehlenden ökologischen und sozialen Standards heraus. Über diese Standards haben wir in Anhörungen im Ausschuß ja schon
diskutiert. Häufig kann ein Entwicklungsland nun einmal eine bestimmte Zeit lang unsere ökologischen und
sozialen Standards noch nicht erfüllen. Ich warne deshalb dringend davor, sich bequem zurückzulegen und wie das häufig diskutiert wird - zu sagen, wir können
unsere Märkte in Deutschland und in Europa weiter
dichthalten, weil andere unsere Ansprüche an Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und vieles andere mehr noch
nicht erfüllen. Das kann eben nicht die Lösung der Probleme sein.
({6})
Ein wesentlicher Lösungsbeitrag liegt sicherlich auch
darin - diese Einschätzung teilen wir mit Ihnen -, daß
wir gemeinsam Druck dahin gehend ausüben müssen,
daß der rückläufige Trend öffentlicher Entwicklungsfinanzierung in den OECD-Staaten gestoppt wird. Das
ist wahr, und so kann Ihr Antrag sicherlich abschließend
behandelt werden.
Sie können uns als CDU und CSU zu Ihren Unterstützern zählen - Herr Kollege Hedrich hat Ihnen bereits
dieses Angebot gemacht -, wenn Sie nach dem erfolglosen Versuch der letzten Monate erneut den Versuch unternehmen, den BMZ-Etat entsprechend zu steigern. Wir
wollen Ihnen dabei helfen.
Vielen Dank.
({7})
Für die Bundesregierung spricht nun die Staatssekretärin Dr. Uschi
Eid.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Die heutige Debatte ist für all diejenigen, die
sich seit Jahrzehnten entwicklungspolitisch engagieren,
ein kleiner Triumph, Herr Kollege Schuster, und Grund
zur Freude. Ich verhehle nicht meine ganz persönliche
Genugtuung darüber, die ich mit alten Weggefährten aus
Oppositionszeiten, wie der gesamten Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen, den Aktivisten der Kampagne
„Erlaßjahr 2000“ oder einigen Kolleginnen und Kollegen auf dieser Seite des Hauses, teile.
Herr Brauksiepe, daß Sie sich jetzt auf die Gruppen
der Kampagne „Erlaßjahr 2000“ beziehen, freut mich
sehr. Es freut mich auch, daß mit Ihnen und dem Kollegen Weiß endlich einmal CDU-Kollegen in das Haus
eingezogen sind, die sich diesen kirchlichen Gruppen
nahe fühlen.
({0})
Mit der Kölner Schuldeninitiative hat die neue Regierung den dringend notwendigen Kurswechsel vollzogen. Damit wird ein Versprechen eingelöst, das meine
Fraktion und die Fraktion der SPD im Koalitionsvertrag
gegeben haben. Der Grundsatz unserer gemeinsamen
Politik lautet: Internationale Entschuldungsinitiativen
für die ärmsten und höchstverschuldeten Länder werden
unterstützt.
Genau das tun wir. Wir lösen eine Bremse, die die
alte Regierung in der internationalen Schuldenpolitik
viel zu lange fest angezogen hatte. Herr Kollege
Hedrich, da hilft auch jegliche nachträgliche Beschönigung nichts. Es ist hinlänglich bekannt, daß sich die alte
Regierung regelmäßig für restriktive Lösungen eingesetzt hat.
Ich verkenne nicht, daß unter den Vorgängerregierungen bereits Schulden im Rahmen der bilateralen
Entwicklungszusammenarbeit erlassen wurden. Seit
1979 waren es rund 9 Milliarden DM. Auch möchte ich
in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Verdienste
des verstorbenen ehemaligen Entwicklungsministers
Hans Klein würdigen.
Hinsichtlich der multilateralen Schulden, die die
ärmsten Länder zum Beispiel bei IWF, Weltbank oder
Regionalbanken haben, bewegte sich die alte Regierung
jedoch keinen Millimeter, und dies, obwohl sie doch
selbst 1995 im Konzert der G 7-Staaten IWF und Weltbank beauftragt hatte, ein umfassendes Konzept zur Lösung der multilateralen Schuldenprobleme der ärmsten
und am höchsten verschuldeten Länder vorzulegen.
1997 betrug die Schuldenlast der ärmsten Länder allein rund 200 Milliarden US-Dollar. Wer könnte bestreiten, daß die zu zahlenden Zins- und Tilgungsleistungen eine wirtschaftlich effiziente, ökologisch verträgliche und sozial gerechte Entwicklung behindern?
In einem Land wie Mosambik liegt der Schuldenstand um 500 Prozent über den Exporteinnahmen. In
Tansania ist die Verschuldung so hoch, daß jeder Mann,
jede Frau und jedes Kind mit einer Summe verschuldet
ist, die ihrem Gesamteinkommen von zweieinhalb Jahren entspricht.
Herr Kollege Hedrich, Sie haben Angola als Beispiel
angeführt. Ich meine, da haben Sie haarscharf danebengegriffen; denn Angola erfüllt überhaupt nicht die reformerischen Voraussetzungen und wird sich für die
HIPC-Initiative nicht qualifizieren.
UNDP schätzt, daß staatliche Finanzmittel, die heute
in die Schuldenrückzahlung fließen, ausreichten, um
allein in Afrika 21 Millionen Kindern das Leben zu retten und über 90 Millionen Mädchen und Frauen eine
Grundbildung zu sichern.
Nachhaltigkeit bedeutet Zukunftssicherung für jetzige
und kommende Generationen in gemeinsamer Verantwortung, insbesondere auch in der internationalen
Schuldenpolitik. Die rotgrüne Regierung stellt sich dieser Verantwortung trotz der prekären Finanzlage und der
Haushaltslöcher, die die alte Regierung hinterlassen hat,
damit die Politik der Gläubiger in Zukunft Entwicklung
fördert und nicht verhindert.
Die multilateralen Schulden sind die drückendste Last
für die betroffenen Länder; denn zum einen liegt ihr
Anteil an den langfristigen Gesamtschulden mittlerweile
bei 37 Prozent, und zum anderen müssen diese Schulden
bevorzugt behandelt werden. Der Bundesrepublik
Deutschland kommt zur Lösung dieses Problems eine
besondere Bedeutung zu, gehören wir doch zu den
wichtigsten Anteilseignern bei IWF und Weltbank.
({1})
Die Bundesregierung ist allerdings keinesfalls so
vermessen, vom Kölner Weltwirtschaftsgipfel eine radikale Lösung des Schuldenproblems zu erwarten. Aber:
Mit unserer Schuldeninitiative gehen wir einen Schritt in
die richtige Richtung; denn sie zielt darauf ab, die
HIPC-Initiative, die Entschuldung der ärmsten und
hochverschuldeten Länder, auszuweiten und zu beschleunigen.
Ich verschweige nicht, daß sie mir an der einen oder
anderen Stelle nicht weit genug geht. Nach dem Weltwirtschaftsgipfel werden wir uns intensiv mit den Fragen des internationalen Insolvenzrechtes - das wurde
hier schon angesprochen -, mit dem schrittweisen Erlaß
der Schulden der ehemaligen DDR - mit dem Vorschlag
der Ministerin in bezug auf Albanien haben wir schon
den ersten Schritt getan -, mit der Reform der Strukturanpassungsmaßnahmen und mit den staatlichen Exportbürgschaften beschäftigen müssen.
Ich möchte aber auch all jene warnen, die glauben,
man könne mit einem vollständigen Schuldenerlaß die
Probleme der Dritten Welt auf einen Schlag lösen.
Schuldenerlaß ist ein Beitrag zur Bekämpfung der Armut. Ich glaube, darin sind wir alle hier uns einig. Aber
damit dieses Ziel erreicht werden kann, nämlich die Bekämpfung der Armut, muß der Schuldenerlaß in eine
Entwicklungsstrategie und in Reformmaßnahmen eingebettet sein. Diese müssen ein menschenwürdiges Leben,
gesellschaftliche Pluralität und technologische Innovationen sowie nachhaltiges breitenwirksames Wirtschaftswachstum fördern.
Das bedeutet: Die betroffenen Länder müssen zum
Beispiel Vetternwirtschaft und Korruption bekämpfen,
nationale Finanzinstitutionen reformieren und sie von
klientilistischen und politischen Einflüssen lösen, die
Menschenrechte respektieren und die Teilhabe der Bevölkerung an Entscheidungen sichern. Eine solche Politik werden wir im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit fördern.
Ihnen, Herr Kollege Hedrich, sei zum Schluß noch
gesagt: Wir tun dies mit einem Haushalt, der über dem
Plafond von 1998 liegt. Dies möchte ich zum Schluß
noch einmal betonen, weil Sie vorhin etwas anderes behauptet haben.
Herzlichen Dank.
({2})
Zu einer Kurzintervention gebe ich nun dem Abgeordneten Hedrich
das Wort.
Frau Präsidentin! Um Ihre letzte Bemerkung aufzugreifen: Der
Haushalt 1999 liegt unter dem Ist des Haushaltes 1998.
Daran ändert auch die Intervention der Kollegin Eid
nichts.
({0})
- Ich habe nur den Sachverhalt genannt, mehr nicht.
Es ging nicht um diese Frage, sondern um die Initiative für die am höchsten verschuldeten armen Länder,
also um die sogenannte HIPC-Initiative. Dazu kann
man nur feststellen: Die Bundesregierung, der Bundeskanzler und übrigens auch der damalige Arbeits- und
Sozialminister, hat auf dem Kopenhagener Gipfel 1995
als erste Regierung darauf hingewiesen, es gehe nicht
mehr, daß die Entschuldung nur auf bilateraler Ebene erfolge; vielmehr müßten sich die internationalen Finanzorganisationen ebenfalls an diesen Maßnahmen beteiligen. Darauf wollte ich zur Klarstellung aufmerksam machen.
Die Kollegin Eid hat übrigens nicht völlig unrecht,
wenn sie darauf verweist, daß insbesondere das Finanzministerium sehr restriktiv verfahren ist. Das Ministerium hatte zum Teil aber auch nicht unrecht. In der HIPCInitiative hatten wir uns auf bestimmte Länder verständigt, die als erste angegangen werden sollten. Dann haben unsere französischen Freunde zum Beispiel durchgesetzt, daß ein Land wie Elfenbeinküste nachgeschoben
wurde, von dem man nur sagen kann, daß das dortige
korrupte Regime Geld verschwendet und die Umwelt
schädigt. Wir sollen auch noch die schlechte Politik dieses Landes mit Entschuldungsmaßnahmen finanzieren.
Aber auch wenn Länder die Kriterien erfüllten, mußte
man feststellen, daß die Vorsorge der internationalen
Gemeinschaft nicht verhindern konnte, daß diese Länder
ihre freigewordenen Finanzmittel falsch verwendeten.
Ich komme zum dritten Mal auf das Beispiel der Ministerin zu sprechen: Ein Land wie Uganda hat die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft bekommen. Als Dank dafür kauft man dort mehr Waffen und
interveniert beim Bürgerkrieg im Kongo. Wenn wir so
etwas nicht verhindern, dann ist all das, was wir hier
gemeinsam diskutiert haben, für die Katz. Darauf wollte
ich noch einmal hingewiesen haben.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dagmar Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Mit
Entschuldung Entwicklung fördern und Entwicklung
möglich machen, das wollen wir alle mit Entwicklungspolitik erreichen. Wie können aber die Schuldenerlasse
für die ärmsten Länder auf bestwirksame Weise wirklich
den Armen zugute kommen? Welche Perspektiven haben hochverschuldete Länder ohne die Streichung von
Forderungen? Wir diskutieren heute die Entschuldungsinitiative, die die Bundesregierung auf dem Gipfel in Köln vorschlagen wird und die genau diese Fragen
anpackt. Insofern stellt sie einen Meilenstein in der deutschen Entwicklungspolitik dar. Es werden neue Akzente
gesetzt.
({0})
Spät, aber hoffentlich nicht zu spät reagieren wir
endlich auf die derzeitige Verschuldungskrise, die nun
schon 17 Jahre andauert. Endlich begreift eine Bundesregierung, daß die Verschuldungsproblematik uns alle
angeht. Die Schuldenfalle ist der Grund für die Nichtentwicklung zahlreicher Länder. Es muß auch gesehen
werden, daß sie das Potential für eine drohende internationale Finanzkrise enthält. Wir handeln also nicht nur
gönnerhaft, sondern auch im wohlverstandenen Eigeninteresse.
Es sind daher neue, zusätzliche Initiativen notwendig, und da es sich vorrangig um ein Problem der
multilateralen Institute handelt, sollte von diesen
auch die Initiative ausgehen.
Dieser Satz meines ehemaligen CDU-Kollegen Feilcke
stammt aus der entwicklungspolitischen Debatte vom
Februar 1996.
({1})
Weil das schon so lange her ist - immerhin drei Jahre -,
möchte ich den Satz wiederholen:
Es sind daher neue, zusätzliche Initiativen notwendig, und da es sich vorrangig um ein Problem der
multilateralen Institute handelt, sollte von diesen
auch die Initiative ausgehen.
({2})
Warum habe ich gerade diesen Satz herausgegriffen?
Der aktuelle CDU/CSU-Antrag spricht sich für eine
konsequente Fortsetzung der bisherigen Entschuldungsund Umschuldungspolitik aus.
({3})
Für mich hieße das, in alten Bremsspuren weiter bremsen.
({4})
Seit 1996 ist nichts weiter passiert. Ich erinnere an Ihre
Position im EU-Ministerrat. Es konnte ja auch nichts
passieren angesichts der Grundeinstellung der alten Regierung. Die Sachlage sahen und sehen wir anders. Bei
uns folgen Taten.
Zwei Pflöcke sind eingeschlagen, der eine von den
Kirchen und NGOs durch ihre Kampagne „Erlaßjahr
2000“ - diese bemerkenswerte Initiative hat für eine
breite Akzeptanz künftiger Schuldenerlasse in der Bevölkerung gesorgt; wir sind den Initiatoren dafür sehr
dankbar - und der andere durch die Kölner Schuldeninitiative der Bundesregierung. Auf dem Gipfel werden
nicht nur wirtschafts- und finanzpolitische Themen isoliert behandelt, sondern endlich Aufgaben und Instrumente der Finanzpolitik mit denen der Entwicklungspolitik verzahnt.
Die Leinwand zwischen den beiden Pflöcken bildet
der Antrag von SPD und Grünen. Hier wird ausführlich
projiziert, daß in der Schuldeninitiative der Impuls für
erstens nachhaltiges Wachstum, zweitens Innovation
und drittens eine sozial gerechte und ökologisch verträgliche Entwicklung der ärmsten Länder liegt.
Wir sind uns natürlich darüber im klaren, daß dieser
Impuls allein nicht reicht. Wir brauchen flankierende
entwicklungspolitische Maßnahmen. Wir brauchen ein
nicht nur staatliches Problembewußtsein für Verschuldung in der Entwicklungsarbeit. Hier sind auch die privaten Gläubiger gefordert, verantwortungsbewußter mit
ihren Schuldnern umzugehen. Gerade um die Fehler der
Vergangenheit nicht zu wiederholen, müssen erstens
Mittel gewissenhafter vergeben werden, zweitens Kriterien einer nachhaltigen Entwicklung stärker berücksichtigt werden und darf es drittens keine Risikoabsicherung
ohne ökologische, soziale und entwicklungspolitische
Auflagen mehr geben, denn damit heizen wir Verschuldung nur noch mehr an.
Unsere Regierung will auch mit den Instrumenten der
Außenwirtschaftsförderung die Finanzierung von
entwicklungspolitischen Projekten fördern. Wir müssen
nach meiner Auffassung aber verhindern, daß sich Trittbrettfahrer an die verschuldeten Länder heranmachen
und sie erneut zu Ausgaben veranlassen, die absolut
nichts mit entwicklungspolitischen Maßnahmen und mit
Armutsbekämpfung zu tun haben.
({5})
Aber auch Korruption, teilweise in Verbindung mit
Hermes-Absicherung, trägt nicht selten zu einer unnötigen Verschuldung bei. Manche Entwicklungsprojekte
wären ohne Bestechungsgelder nie realisiert worden, so
der Flughafen in Kamerun. Hätte das BMZ bei den
Hermes-Krediten von seinem Vetorecht Gebrauch machen können, hätte das Land 700 Millionen DM weniger
Schulden gemacht.
({6})
Das entspricht der in fünf Jahren geleisteten Entwicklungshilfe für dieses Land.
Wir sind nicht die Oberlehrer der Welt, die den Ländern Vorschriften machen. Allerdings müssen sich die
Länder auf die Bekämpfung von sozialen Ungerechtigkeiten, Armut und Umweltproblemen und auf die Beachtung demokratischer Grundsätze einlassen. Auflagen
- da stimmen wir wohl alle überein - müssen sein.
Längst nicht alle Partner sehen in der Armutsbekämpfung ein vorrangiges Ziel. In der Initiative liegt jetzt eine
große Chance, nämlich den HIPC-Ländern wieder Luft
zum Atmen für innerstaatliche Gestaltung und damit zur
Armutsbekämpfung zu geben.
({7})
Nun noch ein paar Worte zu DDR-Altschulden.
Frau Kollegin,
das ist leider nicht mehr möglich. Sie müssen jetzt zum
Schluß kommen.
Ja.
Ich weiß, daß
Sie etwas zuviel Text hatten. Das habe ich gesehen.
({0})
Hinter dem
§ 24 des Einigungsvertrages kann man sich wunderbar
mit einer Fundamentalablehnungshaltung verstecken.
Man kann aber auch politisch handeln und Schuldenerlasse oder -erleichterungen bedenken. Das müssen
wir in diesem Fall tun. Wir dürfen nicht die Möglichkeiten, die sich hier eröffnen, pauschal in den Wind
schreiben.
Ich appelliere an alle ängstlichen Buchhalterseelen:
Legen Sie Vor- und Nachteile auf die Waage, und
kommen Sie zu dem Schluß: Entwicklung braucht Entschuldung.
({0})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu
einer Entschuldungsinitiative anläßlich des Weltwirtschaftsgipfels der G-7-/G-8-Staaten in Köln; Drucksache
14/794. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der F.D.P. gegen die Stimmen
der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen
worden.
({0})
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU zur Entschuldung armer Entwicklungsländer;
Drucksache 14/785. Wer stimmt dafür? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Enthaltung der
F.D.P. gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt
worden.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS
mit dem Titel „Umfassender Schuldenerlaß für einen
Neuanfang“; das ist die Drucksache 14/800. Wer stimmt
dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, F.D.P., Bündnis 90/
Die Grünen und SPD gegen die Stimmen der PDS ab-
gelehnt worden.
Ich rufe die Zusatzpunkte 7a und 7b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Hermann Otto Solms, Dr. Edzard SchmidtJortzig, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des
Schutzes parlamentarischer Beratungen
- Drucksache 14/183 Dagmar Schmidt ({1})
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({2})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Sabine Jünger, Petra Pau, Dr.
Gregor Gysi und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Bannmeilenregelung
- Drucksache 14/516 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
({3})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktionen der F.D.P. und der PDS jeweils fünf Minuten
erhalten sollen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
der Kollege Solms.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die
F.D.P.-Fraktion legt Ihnen heute einen Gesetzentwurf
zum Schutz der parlamentarischen Beratungen auch in
Berlin vor. Damit bringen wir als erste Fraktion einen
konstruktiven Vorschlag für eine Erneuerung, Verbesserung und Liberalisierung der sogenannten Bannmeilenregelung ein. Eine gänzliche Abschaffung einer solchen
Regelung zum Schutze der parlamentarischen Beratungen, wie sie von den Grünen und der PDS gefordert
wird, kommt allerdings für die F.D.P. nicht in Frage.
({0})
Sie hat sich in Bonn als notwendig erwiesen. Ich erinnere nur an die Demonstrationen anläßlich der Verabschiedung der Änderungen des Asylrechts oder im
Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses vor 18 Jahren.
Das hat doch gezeigt, daß wir auch in Berlin eine solche
Regelung brauchen.
Die Beratungen des Parlaments müssen weiter unbeeinträchtigt von gewalttätigen Ausschreitungen möglich
sein. Ein demokratischer Rechtsstaat muß die freie Willensbildung des Parlaments sichern. Die Parlamentarier
müssen - quasi ohne Druck der Straße - frei beraten und
entscheiden können.
({1})
Ziel des F.D.P.-Gesetzentwurfes ist der Schutz des
Parlaments und seiner Beratungen und damit der der
demokratischen Verfassung der Bundesrepublik
Deutschland. Es geht nicht darum, Bürger aus dem Umfeld der Abgeordneten zu verbannen, wie es der Name
dieses Gesetzes fälschlicherweise zum Ausdruck bringt.
Deswegen soll der Begriff „Bannmeile“ nicht mehr verwendet werden. Es geht auch nicht um Objektschutz, bei
dem unabhängig vom Einzel fall oder einer tatsächlichen
Beeinträchtigung der Parlamentsarbeit Demonstrationen
grundsätzlich ausgeschlossen wären. Bei dem F.D.P.Entwurf geht es vielmehr um einen Funktionsschutz.
Das heißt, er ermöglicht eine flexible Handhabung - je
nachdem, ob die einzelnen Demonstrationen das Parlament bei seiner Arbeit wirklich behindern oder nicht.
({2})
Der Entwurf trägt im übrigen der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts Rechnung.
Demonstrationen in dem geschützten Bereich bedürfen einer Zulassung. Sie erfolgt durch das Bundestagspräsidium - nicht durch den Präsidenten und auch nicht,
wie bisher, durch den Bundesinnenminister. Dadurch ist
gesichert, daß ein gewisser Konsens vorhanden sein
muß, damit eine solche Entscheidung erfolgen kann.
Die Zulassung soll ausgesprochen werden, wenn eine
Beeinträchtigung der parlamentarischen Beratungen
nicht zu befürchten ist, und zwar insbesondere in sitzungsfreien Zeiten. Denn dann gibt es eigentlich nichts
zu schützen. Es geht ja nicht um den Schutz der Gebäude. Bisher waren Demonstrationen innerhalb der Bannmeile grundsätzlich verboten. Die Zulassung von Ausnahmen lag im Ermessen des Bundesinnenministers.
Aus dem bisherigen Straftatbestand der Bannmeilenverletzung wird eine Ordnungswidrigkeit, um damit der
Polizei nach dem sogenannten Opportunitätsprinzip die
Möglichkeit zu differenziertem Eingreifen zu geben.
({3})
Die Aufforderung zur Verletzung der Bannmeile bleibt
weiterhin strafbar.
({4})
Der Umfang des befriedeten Bezirks orientiert sich
unmittelbar an den Ratschlägen der Polizei, in diesem
Falle also denen der Berliner Polizei. Er ist auf den
Schutzzweck des Gesetzes zugeschnitten und berücksichtigt die Möglichkeiten der Polizei, diesen Schutz
auch wirklich zu gewährleisten. Die polizeilichen Eingriffsmöglichkeiten nach allgemeinem Versammlungsrecht und Maßnahmen des Objektschutzes bleiben natürlich von diesem Gesetzentwurf unberührt.
Der Gesetzentwurf befaßt sich nur mit dem Schutz des
Bundestages. Ob und inwieweit der Bundesrat
einen Schutz seiner Arbeits- und Funktionsfähigkeit in
Berlin für erforderlich hält, sollte seiner eigenen Entscheidung überlassen bleiben. Gegebenenfalls könnte in
den parlamentarischen Beratungen eine solche Regelung
aufgenommen werden. Das gleiche sollte für das Bundesverfassungsgericht gelten. Darüber müssen wir uns einigen. Dazu müßte es Gespräche mit dem Bundesrat geben.
Die F.D.P. ist der Auffassung, daß der Schutz der
parlamentarischen Tätigkeit in Berlin in größtmöglichem Einvernehmen behandelt werden sollte. Der Gesetzentwurf bietet eine Grundlage für konstruktive Gespräche mit allen Fraktionen in diesem Hause. Deswegen hoffe ich, daß wir in dieser Frage einen Konsens erzielen werden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Abschließend bleibt mir, einen Dank an unseren früheren Kollegen und Bundestagsvizepräsidenten Burkhard Hirsch auszusprechen,
({5})
der diesen Gesetzentwurf im Auftrag des damaligen Präsidiums im wesentlichen schon in der letzten Legislaturperiode erarbeitet hatte.
({6})
Meine Bitte: Behandeln Sie diesen Gesetzentwurf mit
dem Ziel, eine einvernehmliche Lösung des gesamten
Hauses zustande zu bringen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Dieter Wiefelspütz.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich dem Dank an
den Kollegen Hirsch anschließen, der diesen Gesetzentwurf in der Tat ganz maßgeblich in der letzten Legislaturperiode mitgeprägt hat.
Der Gesetzentwurf, Herr Solms, den Sie eingebracht
haben, ist ein gutes Beispiel dafür, daß die Opposition
sehr wohl Einfluß auf die Gesetzgebung haben kann,
wenn sie vernünftige Vorschläge macht.
({0})
- Ich bitte das als den Versuch einer humorvollen ironischen Bemerkung zu diesem Gesetzentwurf, den ich öffentlich immer als eine brauchbare und ernstzunehmende Gesprächsgrundlage bezeichnet habe, zu verstehen.
Dieser anerkennenswerte Gesetzentwurf ist für uns Herr Solms, ich weiß nicht, ob Sie das wissen - der
Auslöser geworden, uns hinzusetzen und uns diesen Gesetzentwurf vorzunehmen, um ihn noch ein bißchen zu
verbessern.
Ich will hervorheben, was an dem Gesetzentwurf positiv und gut ist. Es ist gut, daß wir die Rechtslage insoweit verändern, als in dem Entwurf der F.D.P. ein geschützter Bezirk erfaßt wird, der sich räumlich auf das
Notwendige erstreckt, auf nicht mehr. Beispielsweise
fehlt der Schutz des Bundeskanzleramts. Die Bannmeile
oder der befriedete Bezirk schützt das Parlament in seiner Funktionsfähigkeit und nicht das wichtige Bundeskanzleramt oder andere Ministerien. Darauf wollen wir
uns auch beschränken.
In dem Gesetzentwurf, den wir auf der Grundlage Ihres Gesetzentwurfs, Herr Solms, vorlegen werden, bleibt
es bei der räumlichen Erstreckung, die Sie gewählt haben. Sie ist sorgfältig bedacht worden, sie ist gut. Wir
haben nur eine kleine Feinabstimmung in einem Straßenbereich vorgenommen, ansonsten ist die Erstreckung
so, daß wir einen Konsens erzielen werden. Wir werden
ihn sogar mit Herrn Ströbele erzielen, der sich noch
überlegt, ob auch er dem Gesetzentwurf eines Tages zustimmen wird.
Ich glaube, wir haben eine gute Chance, daß wir eine
breite Mehrheit für den Entwurf bekommen. Ich würde
mir sehr wünschen, Herr Solms - es geht hierbei nun
wirklich nicht um irgendeine Prestigeangelegenheit -,
daß wir, wenn es um Angelegenheiten des gesamten
Parlaments geht, im Parlament breite Mehrheiten finden.
Das gilt für Statusfragen der Abgeordneten, Herr Solms,
und für Diäten. Das gilt aber auch für parlamentsrechtliche Regelungen wie beispielsweise für eine Regelung
der Bannmeile oder eines befriedeten Bezirks.
Ich glaube, daß wir bei der Bannmeile einen breiten
Konsens finden werden. Ich will aber, weil wir auch ein
wenig fachlich diskutieren sollten, gleich auf ein, zwei
Punkte hinweisen, an denen ich meine, daß das, was wir,
die Bündnisgrünen und die SPD, in einem Entwurf, der
inzwischen durch unsere Arbeitsgruppen gelaufen ist,
der die Fraktionen noch durchlaufen muß, den Sie in den
nächsten Tagen bekommen werden und zu dessen Diskussion wir Sie einladen werden - wir werden gemeinsam darüber reden müssen - an Veränderungen vorgenommen haben, überzeugender ist.
Ausnahmegenehmigungen für Demonstrationen, für
Versammlungen innerhalb der Bannmeile sollte nicht
der Parlamentspräsident, sondern wie bislang der Innenminister im Einvernehmen mit dem Präsidium erteilen; denn es ist nicht gut, wenn wir den Bundestagspräsidenten zu einem Streitgegner vor einem Verwaltungsgericht machen. Ihre Fraktion hat vor einiger Zeit eine
solche Situation erleben müssen: Da hat eine Partei in
einem anderen Rechtsbereich, nämlich bei der Parteienfinanzierung, legitimerweise den Bundestagspräsidenten
verklagt. In eine solche Situation möchte ich das Präsidium nicht bringen.
Die Sicherheitsbehörde ist das Innenministerium.
Die Belange des Bundestages werden durch eine Einvernehmensregelung sichergestellt. Ich glaube, das ist
die richtige Regelung. Sie gilt derzeit und hat sich bewährt; wir sollten sie nicht ändern. Herr Solms, wir werden Sie und Herrn Schmidt-Jortzig überzeugen, daß die
derzeitige Regelung die bessere ist - bei aller Wertschätzung für Ihren, wie ich finde, ansonsten sehr gelungenen Entwurf.
Zum zeitlichen Erstreckungsbereich: Ich finde es
sehr wichtig, daß die Bannmeile nur dann gilt - das ist
in Ihrem wie auch in unserem Entwurf vorgesehen; das
ist wichtig -, wenn das Parlament tagt, also nicht in der
sitzungsfreien Zeit.
Im übrigen sollte man das Ganze relativ entspannt
und gelassen diskutieren. Der Reichstag, der Deutsche
Bundestag, das Gebäude Reichstag wird das meistbesuchte Gebäude Deutschlands werden, übrigens mit
Recht. Das Haus unserer Demokratie soll ein Magnet,
ein Anziehungspunkt sein, so wie das jetzt beim Tag der
offenen Tür der Fall war. Nur wenn Parlamentsberatungen stattfinden, soll der engere Bereich um das Parlament herum demonstrationsfrei sein, damit das Parlament seine Entscheidungen in völliger Freiheit treffen
kann. Damit haben wir hier in Bonn gute Erfahrungen
gemacht. Wir sollten einige gute Erfahrungen aus Bonn
mit nach Berlin nehmen.
Ich räume ein - deswegen bin ich auch dafür, das
Thema niedriger zu hängen -: Es gibt innerhalb und außerhalb Deutschlands demokratische Parlamente, die
ohne eine Bannmeilenregelung auskommen; das will ich
hier freimütig anerkennen. Ich glaube aber, daß die
Bannmeilenregelung hier in Bonn stilbildend gewesen
ist. Man sollte die Sinnhaftigkeit einer solchen Regelung
im übrigen nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Verletzung, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Achtung
diskutieren. Ich weiß von Hunderten von Demonstrationen, die hier in Bonn am Rande der Bannmeile stattgefunden haben, ohne daß diese durch die Polizei verteidigt werden mußte. Die Leute haben akzeptiert, daß man
überall in Bonn demonstrieren kann, auch in Parlamentsnähe, aber nur bis zu einer bestimmten Grenze und
nur zu einer bestimmten Zeit. Man darf eben nicht demonstrieren, wenn das Parlament hier tagt.
Im übrigen ist der Deutsche Bundestag ein publikumsoffener Bereich. Er hat gerne Bürger als Zuhörer, Zuschauer und Gäste. Nur in ganz bestimmten Bereichen
soll nicht demonstriert werden.
Was viele Menschen nicht wissen: Auch in der Bonner Bannmeile werden Demonstrationen genehmigt,
nämlich wenn die Funktionsfähigkeit des Parlaments
nicht beeinträchtigt wird. Das wird auch in Berlin so
sein.
Wir wollen eine Regelung über einen befriedeten Bezirk in Berlin, die die Funktionsfähigkeit des Parlaments
gewährleistet und gleichzeitig grundrechtsfreundlich ist.
Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist ein
zentrales, konstitutives Grundrecht unserer Demokratie.
Deswegen sollte es sich in einer Regelung über einen
befriedeten Bezirk wiederfinden.
Wir haben die erste Sitzung in Berlin ohne Bannmeilenregelung abgehalten. Jedoch war der engere Bereich
um den Reichstag an diesem Tag interessanterweise abgeschirmt. Ob das so ganz richtig war, weiß ich nicht.
Die Frage stelle ich in den Raum. Ich habe dazu keine
abgeschlossene Meinung. Ich weiß nicht, ob das vorauseilender Gehorsam gegenüber dem Gesetzgeber war, der
noch gar nicht gesprochen hat. Es gab eine Abschirmung, ohne daß eine Bannmeilenregelung vorhanden
gewesen wäre. Man hat sich offenbar des Versammlungsrechtes bedient. Alles in allem will ich das aber
nicht kritisieren.
Wir sind ja alle miteinander sehr beeindruckt von der
Eröffnung des Bundestages im Reichstagsgebäude - ein
schönes Gebäude, das noch nie so schön war wie in der
Gestalt, die es jetzt gefunden hat. Es hat sehr viel Zuspruch durch die Öffentlichkeit erfahren. Wir werden
Ihnen, Herr Solms, anbieten, im Juni mit diesem Gesetzgebungsverfahren zu Rande zu kommen und es dann
auch zu beenden.
Herr Hörster, die letzten Sätze gehen an Ihre Adresse.
Denn das, was an die F.D.P. gerichtet ist, gilt natürlich
auch für die größte Oppositionspartei, die CDU/CSU. Es
wäre schön, wenn wir uns auch mit Ihnen auf eine vernünftige Regelung einigen könnten. Ich sichere Ihnen
ausdrücklich zu, daß die Gespräche Verhandlungen sind
und nicht etwa ein Diktat. Wir werden um eine vernünftige Regelung ringen.
Ich bitte, zu berücksichtigen, daß die Regelung, die in
Berlin gelten wird, im wesentlichen dem entsprechen
wird, was wir in Bonn erfolgreich und vernünftig gestaltet haben. Insofern handelt es sich nur um eine verfassungskonforme Weiterentwicklung, moderat und vernünftig. Ich hoffe, daß eine solche Regelung einerseits
dem Parlament dient, andererseits aber nicht ausschließt,
daß in der Nähe des Parlamentes das Grundrecht auf
Versammlungsfreiheit natürlich auch in Zukunft gilt.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Herr SchmidtJortzig hat sich zu einer Kurzintervention gemeldet.
Bitte.
Frau Präsidentin! Ich möchte die sehr sachliche Argumentation des
Kollegen Wiefelspütz in einem Punkt aufgreifen und
erläutern, welche Überlegung hinter unserem Vorschlag
steht, für die Entscheidung über eine Ausnahmegenehmigung den Bundestag in Gestalt seines Präsidiums
vorzuschlagen.
Der Ansatz, daß es sich nicht um einen starren Objektschutz handelt - aus rein ordnungs- und sicherheitspolitischen Aspekten heraus -, sondern daß wir lediglich
differenzierten Schutz der Funktion „parlamentarische
Beratung“ bieten wollen, ist neu. Für uns sind zwei Erwägungen, die miteinander verwandt sind, bedeutsam
dafür gewesen, das Präsidium als entscheidende Stelle
vorzuschlagen.
Erstens. Was die parlamentarische Funktion - die
Funktion „Beratung in einem demokratischen Staat“ schädigt, stört oder eben nicht stört, kann am besten das
Parlament selbst entscheiden. Damit verwandt ist zweitens der Aspekt der Autonomie: Wenn es um Parlamentsangelegenheiten geht, sollte sich das Parlament in
allem Selbstbewußtsein dazu bekennen, die Entscheidung selbst auf sich zu nehmen, auch wenn das unter
Umständen strittige Entscheidungen verlangt.
Das steht dahinter. Aber wir werden dazu noch im
einzelnen ins Gespräch kommen. Ich freue mich, daß
Sie ausdrücklich Gesprächsbereitschaft signalisieren.
Vielen Dank.
({0})
Herr Schmidt-Jortzig, an
dieser Frage wird die Einigung sicherlich nicht scheitern. Wenn ich es aber richtig wahrgenommen habe, ist
auch das gegenwärtige Präsidium mit deutlicher Mehrheit dafür, daß es diese Entscheidung nicht alleine zu
treffen hat, sondern das die Entscheidung wie in der
Vergangenheit eher beim Innenminister liegt, daß aber
Einvernehmen mit dem Präsidium hergestellt werden
muß, so daß das letzte Wort in dieser Angelegenheit
immer der Bundestag hat. Aber wir werden das diskutieren.
Ich will eine kleine Ergänzung machen: Inzwischen
hat es Gespräche mit Bundesrat und Bundesverfassungsgericht gegeben. Informell gibt es auch eine Einigung. Selbstverständlich haben wir den Wünschen des
Verfassungsorgans Bundesverfassungsgericht und des
Verfassungsorgans Bundesrat Rechnung zu tragen. Die
Einigung ist schon erzielt, so daß wir das alles mit einbinden könnten. Wir sollten dies in breiter Mehrheit gemeinsam regeln und auf diese Weise signalisieren, daß
wir dann, wenn es um das Parlament geht, einen breiten
Konsens erarbeiten und sicherstellen.
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Hörster.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Zum Sinn und Zweck eines
Gesetzes zum Schutze der parlamentarischen Beratungen ist von dem Kollegen Solms und von dem Kollegen
Wiefelspütz eigentlich alles vorgetragen worden, so daß
ich diese hehren Erwägungen und Grundsätze nicht zu
wiederholen brauche. Ich kann mich dem, was gesagt
wurde, insoweit nahtlos anschließen. Auch ich halte den
Gesetzentwurf, den die F.D.P. zu dieser Frage hier eingebracht hat, trotz der Federführung des Kollegen
Hirsch für durchaus diskussions- und erwägenswert.
({0})
Gleichwohl will ich folgendes sagen, weil bei anderen Beratungsgegenständen, die uns zu diesem Tagesordnungspunkt vorliegen, anders angedeutet worden ist:
Ein solcher Gesetzentwurf verfolgt ja nicht das Ziel, der
politischen Diskussion oder dem politischen Streit aus
dem Wege zu gehen. Vielmehr hat ein Gesetz zum
Schutze der parlamentarischen Beratungen lediglich den
Zweck, daß darauf geachtet wird, daß das Parlament den
notwendigen tatsächlichen und - wenn man so will körperlichen Freiraum hat, den es braucht, um seine Beratungen ungestört durchzuführen. Wenn man sich die
Ergebnisse der umfangreichen Anhörung, die der Geschäftsordnungsausschuß im Jahre 1993 auf Grund eines
Gesetzentwurfes der damaligen Gruppe Bündnis 90/Die
Grünen zur Abschaffung der Bannmeile durchgeführt
hat, anschaut, dann wird man finden, daß dies dort geradezu bestätigt wird. Es geht nicht um die Abschaffung
der politischen Kultur; es geht nicht um die Verhinderung von politischen Auseinandersetzungen, sondern
schlicht und einfach darum, dem Parlament einen ungestörten Freiraum für seine nach der Verfassung gebotenen Entscheidungen zu ermöglichen.
Ich will einige Anmerkungen unter praktischen und
rechtlichen Gesichtspunkten machen, von denen ich
meine, daß wir sie miteinander erörtern müssen. Denn
ich glaube schon, daß es sinnvoll wäre, wenn die demokratischen Kräfte in diesem Haus in dieser Frage zu
einem Konsens kämen. Das würde ich für unglaublich
wichtig halten.
Als erste möchte ich die Frage der räumlichen Abgrenzung des Bezirks nennen. Das sehe ich ziemlich
emotionslos, und ich nehme an, daß das in meiner Fraktion genauso sein wird. Die Frage, ob man das Kanzleramt einbezieht oder nicht, halte ich nicht für eine Glaubensfrage. Man sollte sie auch nicht unter diesem Gesichtspunkt diskutieren. Das ist allenfalls eine polizeitaktische Frage. Da müssen uns Fachleute beraten. Auch
wenn die Regierung gewechselt hat: Ich hätte, wenn die
Polizeitaktiker uns empfehlen, das aus praktischen Erwägungen mit in die Bannmeile hineinzunehmen, nichts
dagegen, das auch jetzt zu machen.
Etwas schwieriger verhält es sich mit der Streichung
der Strafvorschrift des § 106 a Abs. 1 des Strafgesetzbuches, mit der der Verstoß gegen das Schutzgut der
Handlungsfähigkeit des Parlaments zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft wird. Es gilt dann nämlich nicht mehr das Legalitätsprinzip, das Staatsanwaltschaften und Polizei eine eindeutige Handlungsanleitung
gibt. Vielmehr gilt dann, wenn es sich nur noch um eine
Ordnungswidrigkeit handelt, das Opportunitätsprinzip,
und dann muten wir der Polizei und den Staatsanwaltschaften zu, im Kern darüber zu entscheiden, ob ein
Eingreifen zum Schutz der Entscheidungsfreiheit des
Parlamentes erforderlich ist oder nicht. Ich glaube, über
diese Frage muß man sehr intensiv nachdenken, weil mit
der neuen Regelung die Handlungsfreiheit des Parlamentes zu einem minderen Schutzgut herabgestuft wird.
Es ist für mich auch nicht ganz logisch, daß dann die
Anstiftung zur Bannkreisverletzung wiederum eine
Straftat sein soll. Mir erscheint die konkrete Verletzung
des Bannkreises doch etwas schwerwiegender als die
Anstiftung dazu. Ich finde, hierüber müssen wir genau
beraten. Denn nach welchen Kriterien sollen Polizei und
Staatsanwaltschaften entscheiden, ob die parlamentarischen Beratungen durch eine Bannkreisverletzung beeinträchtigt worden sind oder nicht oder ob sie in Gefahr
geraten, beeinträchtigt zu werden? Mir scheint, daß
diese Frage in der Praxis nicht einfach zu entscheiden
sein wird.
Es gibt Leute, die darüber nachgedacht haben, ob
man, um die Flexibilität zu erhöhen, nicht auch den
§ 106 a StGB von einem Offizialdelikt zu einem Antragsdelikt umgestalten sollte. Davon würde ich aber
dringend abraten, weil wir als Parlament dann in die
Schwierigkeit gerieten, Antragsteller zu sein und je nach
ideeller Nähe zu denjenigen, die die Bannkreisverletzung begangen haben, für oder gegen sie zu entscheiden.
Das halte ich für nicht praktikabel und würde davon abraten.
Deswegen finde ich, daß wir alles, was an praktischen
Auswirkungen mit dieser Regelung zusammenhängt,
doch noch einmal genau unter die Lupe nehmen müssen,
und zwar nicht zu dem Zweck, Streit zu erzeugen, sondern um einfach zu schauen, ob das, was wir in das Gesetz hineinschreiben, auch praktikabel ist.
Das gleiche gilt für die Frage, ob man das Bannmeilengesetz oder das Gesetz zum Schutz der parlamentaDieter Wiefelspütz
rischen Beratungen so ausgestalten sollte, daß es in den
nach unseren Plänen sitzungsfreien Zeiten nicht gilt.
Ich fände das recht spannend: Das Präsidium hat eine
Demonstration genehmigt, und dann wird eine Sondersitzung des Bundestages oder mehrerer parlamentarischer Gremien beantragt; diejenigen, die demonstrieren
wollen, haben tausende Leute organisiert, die die Demonstration durchführen sollen. Dann soll das Präsidium
vor dem Problem stehen - im übrigen dann aber auch
die Genehmigungsbehörde, wenn man es bei dem alten
Recht läßt -, eine solche Demonstration zu unterbinden
und zu sagen: Sie darf jetzt nicht stattfinden. Das scheint
mir ein sehr gewagtes Unterfangen zu sein. Ich meine,
es tut der Demonstrationsfreiheit und dem Demonstrationsrecht keinen Abbruch, wenn man sich solcher
Schwierigkeiten auch in den sitzungsfreien Zeiten enthebt, indem man sagt: Demonstriert außerhalb der
Bannmeile, dann seid ihr jedenfalls mit eurer Meinungsäußerung aus dem Schneider. Warum muß denn unbedingt in der Bannmeile demonstriert werden? Man kann
das ja überall tun. Wir kommen dann auch aus den
Schwierigkeiten heraus, in konkreten Fällen auf einmal
genötigt zu sein, Demonstrationen zu verweigern, zu
untersagen, zu verhindern, obwohl diejenigen, die demonstrieren wollen, alle ihre Vorbereitungen getroffen
haben.
Ich finde also, es gibt ein paar Punkte, über die wir
sachlich und ruhig nachdenken müssen. Ich bedanke
mich, Herr Kollege Wiefelspütz, daß Sie auch die
CDU/CSU-Fraktion in Ihre Beratungen einbeziehen
wollen. Vielleicht ist das - wenn ich so an das Staatsbürgerschaftsrecht denke, wo man ja keinen Wert darauf
legte, uns einzubeziehen - ein bißchen ein neuer Stil.
Aber immer wenn es um Geschäftsordnungsangelegenheiten geht, wird es etwas freundlicher, etwas anders, so
daß ich tatsächlich auf eine fraktionsübergreifende Lösung zu hoffen wage.
Der Ordnung halber will ich abschließend nur noch
hinzufügen, daß ich den Gesetzentwurf der PDS, der ja
auch Beratungsgegenstand ist, weder hinsichtlich seiner
Zielsetzung noch hinsichtlich seiner Begründung für
ernsthaft erörterungsbedürftig halte.
({1})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist ja immer eine wichtige Aufgabe der Opposition, der Regierung und der Regierungskoalition Beine zu machen. So
verstehe ich auch, daß dieser Antrag heute hier aufgesetzt worden ist: Der Bundestag zieht jetzt bald um, und
da wollen Sie diese gesetzliche Regelung einführen. Der
Kollege Wiefelspütz hat darauf hingewiesen, daß wir ja
seit langem in vielen sehr ernsten Diskussionen mit vielen Sachverständigen - auch aus der Polizei - aus Bund
und Ländern dabei sind, eine solche Regelung zu gebären, die von allen getragen werden kann.
Es ist sicher richtig, uns ein bißchen Beine zu machen. Nur, ich sage Ihnen: In diesem Falle bin ich froh,
daß Sie das nicht eher gemacht haben und auch noch
nicht eher Erfolg hatten. So hatten wir die Gelegenheit,
am letzten Montag einmal zu sehen: Wie ist es denn in
Berlin ohne Bannmeile? Mir wurde vorher gesagt - ich
habe hier einen Aufruf der Fachgemeinschaft Bau, die
dort zu großen Demonstrationen aufgerufen hat -: Das
sind auch so Rechte, und die kommen da mit Baufahrzeugen; 300 oder 500 haben sie angekündigt, und da
sind möglicherweise 5 000 oder 10 000 Leute - und
keine Bannmeile! Das muß man sich einmal vorstellen!
Außerdem sind wir jetzt im Krieg, und es gibt viele, die
etwas gegen den Krieg haben. Die kommen auch alle
nach Berlin. Das wird ganz fürchterlich.
Nun haben wir das alles letzten Montag erlebt. Beide
Demonstrationen haben stattgefunden. Die Demonstration der Fachgemeinschaft Bau fand im wesentlichen auf
der Straße des 17. Juni statt; sie ging bis zum Brandenburger Tor. Dort standen auch die Baufahrzeuge; die
konnte man besichtigen. Die Demonstranten hatten Plakate mit und haben Parolen gerufen. Die andere Demonstration fand sehr viel näher statt, vis-à-vis dem Reichstag. Es gab ein Sperrgitter, und dahinter haben diese
Demonstranten ihre Meinung kundgetan. - Hat das irgend jemanden vom Bundestag an seiner Arbeit im
Reichstag gehindert? Doch niemanden. Mich hat es
nicht gehindert, Sie auch nicht. Im Gegenteil, das ist lebendige Demokratie.
({0})
Heute morgen kam ich hier aus dem Bundestag. Fünf
Meter vom Gebäude entfernt stand eine Frau, die Plakate hochhielt. Andere standen um sie herum. Ich habe
sie gefragt: Sie sind doch wohl nicht mehr als zwei Personen? Nein, hat sie gesagt, ich bin alleine. Die anderen
gehören nicht zu mir. Sie stehen nur um mich herum und
gucken. - Ja, habe ich gesagt, wenn Sie drei wären, dann
wäre dies eine unerlaubte Versammlung. Das wäre
strafbar. Dann müßten Sie aufpassen, daß Sie nicht vor
dem Amtsgericht in Bonn landen.
({1})
Sie hat immer wieder betont, sie sei alleine. Ob sie nun
wirklich allein war, weiß ich nicht.
Das aber zeigt doch die Absurdität sowohl der alten
Regelung als auch der von Ihnen jetzt vorgeschlagenen.
Sie sollten gemeinsam mit uns überdenken, ob es nicht
in den alten westlichen Demokratien, auf die wir zu
Recht immer gucken, Beispiele dafür gibt, daß es anders
geht. Schauen Sie einmal nach England und Frankreich,
nach London und Paris! Dort gibt es keine Bannmeile,
auch in den USA nicht. Das sind Beispiele für ein funktionierendes demokratisches Leben. Bilder, auf denen
vor dem Kapitol in Washington 500 000 Menschen für
die Gleichheit der Menschen, gegen RassendiskriminieJoachim Hörster
rung und ähnliches demonstrieren, gingen nicht um die
Welt, wenn es dort eine Bannmeile gäbe. Die gibt es
aber dort nicht und in vielen anderen Staaten auch nicht.
Noch ein weiteres Argument: Die neuen Bundesländer, auch CDU-geführte Bundesländer, haben es nach
Diskussionen überwiegend abgelehnt, Bannmeilen zu
errichten. So gibt es etwa bei Herrn Biedenkopf in Dresden keine Bannmeile. Dieses Länder haben uns von
ihren Erfahrungen berichtet, und diese sind alle positiv.
Warum wollen wir dahinter zurückfallen? Was wird
mit dem Platz der Republik, dem berühmtesten Platz in
der neuen Bundesrepublik, dem Platz mit den berühmtesten Freiheitsdemonstrationen, dem Platz, auf dem Hunderttausende gewesen sind, als Willy Brandt, als Ernst
Reuter und andere dort immer am 1. Mai gesprochen
haben? Warum wollen wir die neue, die Berliner Republik mit einem grundsätzlichen Verbot von Demonstrationen auf dem Platz der Republik beginnen?
({2})
Ich denke, die Abgeordneten brauchen ein bißchen
mehr Mut und ein bißchen mehr Selbstbewußtsein. Sie
sind ja nicht schutzlos, wenn es kein Bannmeilengesetz
gibt. Im Strafgesetzbuch gibt es weitere Vorschriften,
zum Beispiel in § 105 und § 106 b, die die Funktionsfähigkeit des Parlaments meiner Ansicht nach ausreichend schützen.
Wir sind noch in der Diskussion, wir verabschieden
noch kein Gesetze. Deshalb mein Appell: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Freien Demokratischen
Partei, überlegen Sie sich doch einmal, ob Sie wirklich
einen solchen Antrag einreichen und zur Debatte stellen
wollen oder ob wir uns nicht auf etwas anderes einigen
können.
Danke sehr.
({3})
Als
letzter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege Roland Claus von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der
F.D.P. ist unseres Erachtens ein Schritt in die richtige
Richtung. Er bedeutet gegenüber der gegenwärtigen
Bannmeilensituation eine erhebliche Verbesserung. Wir
meinen aber, daß dies ein zu kleiner Schritt ist. Gemessen an dem großen Schritt, nach Berlin zu gehen, müßte
er noch ein klein wenig weiter gehen, um den Herausforderungen gerecht zu werden.
Aber wir alle haben eine Alternative, nämlich den
PDS-Gesetzentwurf zur Aufhebung der Bannmeilenregelung. Sie alle, die Sie von der Sache eine Menge verstehen, wissen selbstverständlich, daß die Aufhebung
keineswegs einen gesetzlosen Raum schafft. Selbstverständlich wissen auch Sie, Herr Kollege Solms - im
Augenblick: Herr Präsident -, daß gewalttätige Auseinandersetzungen, die Sie in Ihrer Rede als Problem beschworen haben, auch auf anderer rechtlicher Grundlage
unterbunden werden können.
Noch ein Stück weiter geht der Kollege Hörster,
wenn er mit Blick auf die Bannmeilenregelung den
Konsens der Demokraten im Bundestag beschwört. Ich
muß ihn einmal fragen, ob er angesichts der Tatsache,
daß es nur noch in vier westeuropäischen Demokratien
Bannmeilen gibt, die anderen westeuropäischen Parlamentarier von dem Konsens der Demokraten ausnimmt.
({0})
Bannmeilenregelungen bedeuten immer Einschränkung demokratischer Rechte, besonders des Versammlungsrechtes. Aber - das muß noch hinzugefügt
werden - sie setzen immer auch die Strafe für diejenigen
fest, die sich an diese Regelungen nicht halten.
Nun schlägt die F.D.P. vor, eine historisch überlebte
Regelung etwas aufzubessern - wie gesagt, nicht unerheblich. Wir meinen, die Bannmeile wird nicht dadurch
zeitgemäß, daß sie ein wenig modernisiert wird. Dieser
alte Zopf gehört nicht zum Barbier von Berlin; vielmehr
gehört dieser alte Zopf mittelalterlicher Rituale abgeschnitten.
({1})
Das schlägt Ihnen die PDS mit ihrem Gesetzentwurf
vor. Ich verweise auf die ausführliche Begründung unseres Gesetzentwurfes.
An die Adresse der neuen Bundesregierung sage ich:
Wir hätten von Ihnen schon erwartet, daß Sie sich mal
der Überlegung nähern, ob man nicht eine Aufhebung
der Bannmeilenregelung betreiben könnte. Wenn der
Redner der SPD zu unserem Gesetzentwurf rein gar
nichts zu sagen hat, so, als wäre er überhaupt nicht vorhanden, dann ist das eine gewisse Ignoranz, die ich nicht
nur auf unsere Fraktion beziehe, sondern die natürlich
auch mit den Erwartungen der Gesellschaft an den Berlin-Umzug zu tun hat.
Herr
Kollege Claus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wiefelspütz?
Ja, natürlich.
Herr Claus, ich bin strikt
gegen den Gesetzentwurf Ihrer Fraktion,
({0})
wenn Sie das tatsächlich wissen wollen. Ich finde das,
was Sie mit Ihrem Gesetzentwurf vorgelegt haben, nicht
besonders erwähnenswert. Das ist ja auch mein gutes
Recht.
Ich möchte Sie darauf hinweisen - weil Sie gerade
von der neuen Bundesregierung gesprochen haben -:
Dies ist kein Thema der Bundesregierung. Die DiskusHans-Christian Ströbele
sion über die Bannmeile oder über einen befriedeten Bezirk ist Sache des Parlamentes.
({1})
Ich würde mich strikt dagegen verwahren - das ist mein
Verständnis von Parlamentarismus; auch das aller anderen Kollegen -, wenn die Bundesregierung dem Parlament Vorschriften über die Regelung des befriedeten
Bezirks machte. Das geht auf gar keinen Fall.
Wir fragen da schon mal die Meinung der Sicherheitsbehörden ab, aber die Bannmeilenregelung ist eine
konstitutive Angelegenheit des Parlamentes. Wer wären wir denn, wenn wir das anderen überließen?
Ich räume ein, daß das in einem anderen deutschen
Staat einmal anders war. Dort hat das alles die Regierung geregelt, weil es dort kein wirkliches Parlament
gab.
({2})
Dieses Parlament, Herr Claus, ist ein richtiges Parlament
und nimmt sich das Recht, eigene Angelegenheiten in
eigener Autonomie zu entscheiden.
({3})
In dieser Frage, Herr Kollege,
besteht zwischen uns keine Differenz. Ich denke, Sie
wissen das. Ihr Hinweis auf DDR-Zustände kommt für
mich auch nicht überraschend. Ich kann mich sehr gut
an die Zustände vor zehn Jahren erinnern, als quasi die
ganze DDR von einer Bannmeile umgeben war. Ich
kann mich gut erinnern, wie diese plötzlich weg war
und wie ich in Halle an der Saale, in Sachsen-Anhalt,
Abend für Abend und Demonstration für Demonstration
die erste Adresse für die berechtigte Kritik der Bürgerinnen und Bürger an den Zuständen war. Das war eine
bittere Lehre; sie hat sich mir für lange Zeit eingeprägt.
Ich möchte diesen Vorgang, den ich als geistige Befreiung erlebt habe, nicht so schnell wieder aufgehoben sehen und nicht durch Belehrungen über Verantwortung
gemindert wissen.
({0})
Ich möchte einmal auf den historischen Ursprung
des Bannmeilenbegriffs im deutschsprachigen Raum
zurückblicken. Vielleicht hilft uns das bei der heutigen
Entscheidung. Woher stammt dieses kuriose Wort? Der
Begriff reicht in das 13. Jahrhundert zurück, als sich
deutsche Städtegründer in Schlesien und Mähren der
Konkurrenz der Bauern beim Handeltreiben erwehren
wollten. Sie haben die Töpfer, die Bürstenmacher und
die Besenbinder von den Toren ihrer Stadt ferngehalten.
({1})
Im 19. Jahrhundert haben England und besonders Preußen eine Bannmeile um die Parlamente geschaffen. Hier
ging es nicht mehr um die Besenbinder, sondern um das
Abwehren protestierender Demokratinnen und Demokraten. Wenn man sich das einmal vor Augen hält, sind
Bannmeilen in der Tat unzeitgemäß.
Ich sagte bereits, daß nur vier westeuropäische Demokratien dieses Instrument noch kennen. In den neuen
Ländern gibt es die Bannmeile nur in Thüringen. Ich
erinnere mich sehr gut daran - ich sage dies an die Damen und Herren der F.D.P. gewandt -, daß wir im
Landtag von Sachsen-Anhalt zu Beginn der ersten
Wahlperiode einen Antrag der F.D.P.-Fraktion behandelt haben, eine solche Bannmeile einzurichten. 1991
haben wir nach gründlicher Diskussion im Innenausschuß in aller Friedfertigkeit und aller Gemeinsamkeit,
auch in aller Stille und Gründlichkeit diesen Gesetzentwurf beerdigt. Wir haben gesagt, so etwas bräuchten wir
in Sachsen-Anhalt nicht, und haben gemeint, dies könne
ein Signal aus den neuen Ländern sein, das vielleicht
von der Bundespolitik aufgenommen wird. Das ist unsere Hoffnung auch jetzt noch.
Deshalb sollten wir die Chance mit dem Umzug nach
Berlin nutzen und einen alten preußischen Hut entsorgen. Es paßt doch auch nicht zusammen! In allen Fraktionen waren am Montag - vor drei Tagen - in Berlin
die freundlichsten Fensterreden an die Berlinerinnen und
Berliner zu hören, in denen wir zum Ausdruck gebracht
haben, daß wir gern bei ihnen sein und mit ihnen zusammenkommen wollen und daß wir die Begegnung
suchen. Nun, am Donnerstag, erklären wir ihnen, daß ihr
Versammlungsrecht eingeschränkt werde und daß sie
eine Bannmeile bekämen, die auch noch besonders bedeutsame historische Stätten betrifft. Man muß nur einmal „Ein weites Feld“ von Günter Grass lesen, um zu
erkennen, welche Bedeutung dieses Terrain für die Stadt
hat.
Bannmeilen um Parlamente ziehen immer die Gefahr
nach sich, daß sie auch Bannmeilen in den Köpfen mit
sich bringen, womit solche Gesetze auf ihre geistigen
Urheber zurückschlügen. Eigentlich sind solche Gesetze
„bannmeilenweit“ vom wirklichen Leben entfernt. Dem
können Sie dadurch entgehen, daß Sie dem Gesetzentwurf der PDS zur Aufhebung der Bannmeile zustimmen.
Anderenfalls - das ist aber nicht allzu ernst gemeint können Sie dann vielleicht noch einmal die alten Schilder verwenden, die es in Berlin gab und auf denen steht:
„Ende des demokratischen Sektors“.
Vielen Dank.
({2})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf Drucksachen 14/183 und 14/516 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie Zusatzpunkt 8
auf:
9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Büttner ({0}), Margarete Späte, Dr. MiDieter Wiefelspütz
chael Luther, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten und
Mahnmalen zur Erinnerung an die beiden
deutschen Diktaturen und ihre Opfer
- Drucksache 14/656 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Kultur und Medien ({1})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gert
Weisskirchen ({2}), Angelika KrügerLeißner, Eckhardt Barthel ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Antje Vollmer, Volker Beck
({4}), Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konzeption zur Förderung und Festigung der
demokratischen Erinnerungskultur
- Drucksache 14/796 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Kultur und Medien ({5})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hartmut Koschyk von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das vehemente Eintreten des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien, des Staatsministers Naumann, für die Kombination eines Mahnmals
für die ermordeten Juden Europas mit einem umfangreichen und kostspieligen Dokumentationsannex hat die
deutsche Gedenkstättenlandschaft in erhebliche Unruhe
versetzt. Das machte die Anhörung des Ausschusses für
Kultur und Medien am Dienstag dieser Woche in Berlin
deutlich. Einhellig wiesen die als Sachverständige angehörten Leiter von bestehenden Gedenkeinrichtungen
darauf hin, daß eine zusätzliche Gedenk- und Forschungsstätte neben einem Mahnmal nicht notwendig
sei, weil deren Aufgaben schon in anderen Einrichtungen, zum Teil in unmittelbarer Nähe, wahrgenommen
würden. Vielmehr - so das Votum der Angehörten sollten die bestehenden Gedenk- und Forschungseinrichtungen stärker gefördert werden.
Der Kombinationsvorschlag von Staatsminister Naumann gibt daher Grund genug, über die Ausstattung und
weitere Förderung bestehender Gedenkstätten nachzudenken. Der vorliegende Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion zur „Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten und Mahnmalen zur Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen und ihre Opfer“ fordert deshalb ein Engagement des Bundes in diesem Bereich, das
die Vielfalt und Dezentralität der Gedenkstättenlandschaft in Deutschland erhält und ihr eine Zukunft
gibt. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Vorstellungen über ein Beteiligungskonzept des Bundes an
vorhandenen Gedenkstätten vorzulegen. Wir sind sehr
gespannt, ob daraus wirklich ein umfassendes Gedenkstättenkonzept wird.
Monumentalität ist auch bei Gedenkeinrichtungen
kein Wert an sich. Gedenkeinrichtungen müssen auf
wissenschaftlich, museologisch und gedenkstättenpädagogisch fundierten Vorstellungen beruhen. Hierbei
gilt sicher: Historische Ereignisse lassen sich nicht unwirksam machen; die Erinnerung an sie läßt sich nicht
verdrängen. Die Deutschen bleiben aufgefordert, mit der
Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen und ihre
Opfer zu leben: an die Diktatur der Nationalsozialisten
sowie an die SED-Diktatur.
Bei der Erinnerung an diese Ereignisse kann es nicht
um eine letztlich fruchtlose, selbstquälerische Haltung
gehen. Das Erinnern an die beiden Diktaturen muß
vielmehr Teil eines demokratischen Selbstverständnisses
im vereinten Deutschland sein. Es muß das Bewußtsein
für Freiheit, Recht und Demokratie schärfen; denn beide
Diktaturen waren sich in der Ablehnung von Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit einig.
Die Aufklärung über die geschichtlichen Tatsachen,
über die beiden Diktaturen in Deutschland, muß zum
Kern eines antitotalitären Selbstverständnisses gehören,
dem sich der größte Teil der Deutschen verpflichtet
weiß. Gedenkstätten sollen das Erinnern und Gedenken
an die Diktaturen und ihre Opfer ermöglichen und lebendig erhalten.
Sicher ist die Errichtung und das Betreiben von
derartigen Gedenkstätten grundsätzlich Ländersache.
Aber gleichwohl kann sich der Bund an solchen Gedenkstätten beteiligen, sofern gesamtstaatliche Bezüge
oder eine gesamtstaatliche Verantwortung nicht abweisbar sind. Weil die neuen Länder mit der Erhaltung und
vor allem mit der notwendigen Umgestaltung bestehender Gedenkstätten nach der Herstellung der deutschen
Einheit überfordert waren, hat sich der Bund auf Grund
einer Konzeption des Haushaltsausschusses vom März
1993 zunächst für 10 Jahre bereit erklärt, sich an Gedenkstätten in den neuen Ländern und in Berlin zu beteiligen.
Der Umbau und die Neuausrichtung vor allem der
ehemaligen „nationalen Gedenkstätten der DDR“ waren
dabei ein besonderes Erfordernis. So mußten die bereits
von der DDR betriebenen Gedenkstätten Buchenwald,
Sachsenhausen und Ravensbrück nach Herstellung der
deutschen Einheit inhaltlich neu gestaltet werden. Es
bedarf natürlich kaum der Erwähnung, daß sich in den
von der DDR betriebenen Gedenkstätten kein Hinweis
auf die Zeit fand, in der sie sowjetische Speziallager waren.
Die Konzeption vom März 1993 kann nur als ein erster Schritt hin zu einer umfassenden Gedenkstättenkonzeption verstanden werden, denn die bisherige Beteiligung des Bundes an diesen Gedenkstätten erfolgt mehr
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
unter restriktiven Kriterien, die ich hier im einzelnen
nicht nennen will.
Die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen
der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ in
der 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages hatte
die Aufgabe und den Auftrag übernommen, aufbauend
auf dem bestehenden Beteiligungskonzept des Bundes,
eine umfassende Konzeption vorzulegen. Dieser Auftrag
wurde in einem großen Konsens aller Fraktionen dieses
Hauses - mit Ausnahme der PDS - erledigt. Der Bundestag hat die Empfehlungen in der letzten Legislaturperiode entgegengenommen. Die Handlungsempfehlungen, zu denen die Enquete-Kommission gekommen ist,
sehen ein abgestuftes Förderkonzept unter Beteiligung
des Bundes für die bereits in der Förderung enthaltenen
Einrichtungen, aber auch für zahlreiche weitere Gedenkeinrichtungen vor. Die CDU/CSU-Fraktion sieht in dieser von der Enquete-Kommission der vergangenen Legislaturperiode vorgelegten Gedenkstättenkonzeption
nach wie vor eine wichtige Orientierungshilfe für die
Befassung des 14. Deutschen Bundestages und seines
Ausschusses für Kultur und Medien, aber auch für die
Bundesregierung.
({0})
Die Empfehlungen wollen die Dezentralität und die
Vielfalt von NS-Gedenkstätten und Erinnerungsstätten
an die SED-Diktatur in Deutschland erhalten. Es geht
den Empfehlungen nicht um eine staatlich verordnete
Geschichtsphilosophie; es geht auch nicht nur um die finanzielle Beteiligung. Vielmehr müssen auch das vorhandene private Engagement vieler Menschen in den
und für die Gedenkstätten und die Tätigkeit zahlreicher
privater Initiativen und Opferorganisationen ein notwendiges Fundament erhalten. Die Bewahrung und die
Unterstützung der Gedenkstättenarbeit ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die in einer Zusammenarbeit von staatlicher, aber auch kommunaler Seite sowie von privaten Initiativen und Vereinen sinnvoll geleistet werden kann.
Die Heterogenität der Trägerschaften und das von
unterschiedlichster Seite stammende individuelle und
vereinsmäßige Engagement müssen erhalten bleiben.
Allerdings - auch das ist zu sagen - fußt unser Gemeinwesen auf Werten und Anschauungen, die sozusagen als
Minimalkonsens betrachtet werden und die auch für die
Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten gelten müssen. Die vom Bund zu unterstützenden Gedenkeinrichtungen müssen zur Festigung des demokratischen
Selbstbewußtseins, des freiheitlichen Rechtsempfindens
und des antitotalitären Konsenses in Deutschland beitragen. Diktaturen dürfen nicht verharmlost und legalisiert
werden, wie das die Geschichtspolitik der PDS und ihr
nahestehender Organisationen regelmäßig versucht.
({1})
In einem weiteren Punkt - auch darauf will ich heute
hinweisen - haben sich die Empfehlungen der EnqueteKommission als weitsichtig erwiesen. Angesichts der erschreckenden Bilder über die Vertreibung Hunderttausender Menschen aus dem Kosovo hat eine Empfehlung
der Enquete-Kommission für mich eine besondere Aktualität, nämlich die, das Denkmal für die Opfer von
Flucht und Vertreibung in Berlin in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes aufzunehmen - ein Denkmal,
das an die Millionen deutschen Opfer von Flucht und
Vertreibung erinnert und das sicher auch als ein Mal der
Mahnung gegen jede Art von Vertreibung und Entwurzelung von Menschen in der Gegenwart und Zukunft
verstanden werden kann.
({2})
Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Bundesregierung
auf, alsbald eine überarbeitete Gesamtkonzeption zur
Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten vorzulegen
und der durch die Anhörung des Kulturausschusses am
20. April bezeugten Verunsicherung in der deutschen
Gedenkstättenlandschaft zu begegnen. Bei der Vorlage
dieses Konzeptes sollte die Bundesregierung den fachlich überzeugenden und im politischen Konsens ausgesprochenen Empfehlungen der Enquete-Kommission des
letzten Bundestages Rechnung tragen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Als
nächster Redner hat die Kollegin Angelika KrügerLeißner von der SPD-Fraktion das Wort. Bitte schön.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Erinnern darf nicht aufhören, denn ohne Erinnerung gibt es weder Überwindung des Bösen noch
Lehren für die Zukunft.
So formulierte es Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Proklamation des 27. Januar zum Gedenktag
für die Opfer des Nationalsozialismus. Feste Daten und
Gedenktage sind für unser historisches Gedächtnis eine
wichtige Stütze - um so mehr, wenn die Erinnerung
über Generationen fortdauern soll.
Aber nicht nur Tage, auch Orte stützen unsere Erinnerung. Vor wenigen Tagen, am 18. April, habe ich bei
den Gedenkfeiern zum 54. Jahrestag der Befreiung des
Konzentrationslagers Sachsenhausen selbst erlebt, wie
stark Gedenktage, vor allem aber authentische Orte,
wirken und berühren können. Ich habe aber auch gesehen, wie fast 60 Jahre nach den schrecklichen historischen Ereignissen Menschen an den Ort ihres Leidens
zurückkehrten, Überlebende, Angehörige und ihre Kinder, aber auch viele interessierte Bürger kommen an diese Orte, um an den Gräbern, den wirklichen und den
symbolischen, die Toten und Ermordeten zu ehren und
ihrer zu gedenken.
Die Überlebenden, die letzten Zeitzeugen, fragen uns
immer drängender: Was wird aus diesen Orten? Was
wird mit der Erinnerung, wenn wir nicht mehr sind?
Sind sie dem Vergessen preisgegeben? - Das sind Fragen an uns, die Nachgeborenen. Unsere Aufgabe ist es,
die Verantwortung für die Erinnerung zu übernehmen.
Dies müssen wir tun, solange die Botschaft der Zeitzeugen noch lebendig ist - im ganz unmittelbaren Sinne.
({0})
Die Koalitionsfraktionen begrüßen daher ausdrücklich die Absicht der Bundesregierung, ein Konzept zur
Förderung der Gedenkstätten in der Bundesrepublik
vorzulegen. Wir sehen es mit großer Genugtuung, daß
für dieses Konzept die Empfehlungen der EnqueteKommission „Überwindung der Folgen der SEDDiktatur im Prozeß der Deutschen Einheit“ aus der vergangenen Legislaturperiode zur Grundlage gemacht
werden sollen. Dies ist für uns Sozialdemokraten deshalb eine Genugtuung, weil in den Empfehlungen die
langjährigen Anträge und Aktivitäten der SPD-Fraktion
seit den 80er Jahren ihren Niederschlag gefunden haben.
Es sollte aber für uns alle eine Genugtuung sein, weil
diese Empfehlungen auf einem Konsens aller Fraktionen
dieses Hauses beruhen. Ich hoffe, daß wir bei unseren
Beratungen und Entscheidungsfindungen diesen wertvollen Konsens aus der Enquete-Kommission, der insbesondere mit dem Namen Siegfried Vergin verbunden ist,
fortführen.
({1})
Die Suche nach einer Zukunft für die Erinnerung, das
Bewahren des Andenkens an die Opfer zweier Diktaturen in Deutschland eignet sich aus meiner Sicht in keiner
Weise für parteipolitische Instrumentalisierung. Die
Bewahrung der Erinnerung ist eine Aufgabe und Verpflichtung für uns alle in ganz Deutschland.
({2})
Die Empfehlungen der Enquete-Kommission sind
dabei eine gute Grundlage für unsere weitere Arbeit. Sie
beruhen auf Erkenntnissen und langjähriger Zusammenarbeit mit den Ländern, Gedenkstätten und Experten.
Am Dienstag haben uns die Leiter der Gedenkstätten im
Kulturausschuß mitgeteilt, daß sie diesen Empfehlungen
voll zustimmen. Aber auch Opferverbände, Wissenschaftler und Fachleute sind vom Konzept der EnqueteKommission überzeugt. Wir sollten dieses Lob für ein
Gremium des 13. Deutschen Bundestages als Verpflichtung für unsere jetzige Arbeit betrachten. Hier
wurden Maßstäbe gesetzt.
({3})
In voller Übereinstimmung mit den Empfehlungen
der Enquete-Kommission sehen wir Sozialdemokraten
in den Gedenkstätten an den authentischen Orten die
stärksten Pfeiler der Erinnerungskultur in Deutschland.
Wir verfügen in Deutschland über eine einzigartige dezentrale Gedenkstättenlandschaft. Diese Landschaft ist
gekennzeichnet von der Vielfalt der historischen Bezüge, sei es bei den Gedenkstätten zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft, sei es bei denjenigen zur SEDDiktatur.
Die dezentrale Vielfalt der Gedenkstätten macht
übrigens sehr anschaulich, daß sich die historische Verantwortung nicht auf wenige zentrale Standorte konzentrieren kann. Die Gesichter der Diktaturen zeigen sich
gerade in den Machenschaften und Verbrechen vor Ort.
Die Schreibtische der Täter, die Gefängnisse und Lager,
vor allem aber die Leidenswege der Opfer, die Zeugnisse ihrer Erniedrigung waren über das gesamte Land
verteilt.
Die Vielfalt der Gedenkstätten in Deutschland ist
aber auch das Ergebnis des bürgerschaftlichen Engagements von vielen, insbesondere jungen Menschen. Ohne
diese bürgerschaftliche Verankerung bliebe das Erinnern
angeordnet, letztlich hohl. Viele wissen: Wir haben in
der ehemaligen DDR mit solchen Verordnungen unsere
ganz besonderen Erfahrungen gesammelt.
Wir Sozialdemokraten erwarten daher ein deutliches
Zeichen der Bundesregierung zur Sicherung und Förderung dieser gewachsenen demokratischen Erinnerungskultur. Ich freue mich deshalb, daß unser Kulturstaatsminister Naumann bei seinem Besuch in der Gedenkstätte Sachsenhausen im Januar dieses Jahres erklärt hat,
daß die Förderung der Gedenkstätten für die Bundesregierung höchste Priorität hat.
({4})
Hier kann also ohne weiteres das erarbeitete Konzept
der Enquete-Kommission zur Grundlage gemacht werden; denn das Rad muß nicht neu erfunden werden.
Als Eckpunkte einer Gedenkstättenkonzeption sehen wir deshalb folgende Aufgabenstellungen an:
Erstens. Die Gedenkstätten als authentische Orte mit
ihrem historischen Erbe, mit den Zeugnissen und Sachbeweisen für die Verbrechen des Nationalsozialismus
und für das Unrecht des Stalinismus müssen weiter zu
Lernorten, zu lebendigen Orten der Erinnerung entwikkelt werden. Die Gedenkstätten an Orten der Verbrechen
gegen die Menschlichkeit sind heute Botschafter der
Humanität. Dort wird die Geschichte des unsäglichen
Leids der Opfer so vermittelt, daß es auch mit dem Herzen erfahren und begriffen werden kann. Verbunden mit
dieser emotionalen Betroffenheit können diese Orte historisches Wissen vermitteln, das eine Beziehung zur
Gegenwart schafft, moralische Sensibilität und politische Verantwortung ermöglicht.
Daraus folgt zweitens, daß die Gedenkstätten an den
authentischen Orten für diese Aufgabenwahrnehmung
eine angemessene und verläßliche Finanzierung brauchen. Für den Bund muß dies heißen, daß die bisher begrenzte institutionelle Förderung der Gedenkstätten von
gesamtstaatlicher Bedeutung in den neuen Ländern unbefristet über das Jahr 2003 fortgeführt wird.
({5})
Drittens. Ebenso müssen die Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung in den alten Ländern, zum
Beispiel Dachau, Neuengamme und Bergen-Belsen,
künftig in diese institutionelle Förderung aufgenommen
werden.
({6})
Ich erinnere daran: Die Bundesförderung für die Gedenkstätten in den neuen Ländern hat insbesondere Buchenwald - aber hoffentlich bald auch Sachsenhausen dank der Umgestaltung nach 1990 zur maßstabsetzenden
Einrichtung gemacht. Hier kann der Westen vom Osten
lernen.
({7})
Viertens. Ich gebe zu bedenken, daß in Anerkennung
der dezentralen Gedenkstättenlandschaft der Bund künftig auch Einzelprojekte im Wege der Projektförderung
mit unterstützen und dafür einen Fonds einrichten sollte.
Möglicherweise müssen wir dringend auch Sondermittel
bereitstellen, um den bedrohlichen Verfall der authentischen Orte - ich denke hier wieder ganz besonders an
Sachsenhausen - zu stoppen.
Fünftens. Wir sehen die Gedenkstättenförderung
selbstverständlich als eine gemeinsame Aufgabe des föderalen Staates an. Das heißt, auch die Länder sind weiterhin in der Pflicht, die Gedenkstättenarbeit zu fördern.
Diese gemeinsame Förderung ist nicht nur ein Gebot des
Föderalismus, sondern auch ein Zeichen, daß sich alle
Ebenen des Staates der historischen Verantwortung bewußt sind.
({8})
Sechstens. Schließlich erwarten wir eine gezielte
Unterstützung für die Gedenkstätten zur SED-Diktatur,
die sich oftmals noch in einem sehr schwierigen Aufbaustadium befinden.
Meine Damen und Herren, wir wissen: Die Gedenkstätten sind auch als Orte der Aufklärung, Forschung
und Bildung heute unersetzlich geworden. Sie stehen
aber vor dem schweren Einschnitt des Wegfalls der
Zeitzeugen. Dieser Verlust der Zeitzeugenschaft betrifft
unsere gesamte demokratische Erinnerungskultur. Daher
ist es um so wichtiger, daß die Gedenkstätten zu modernen zeithistorischen Museen entwickelt werden. Für
künftige Generationen wird nämlich nur die Vermittlung
von Wissen zu einem Gedenken führen können. Aufklärung und Bildung sind daher die großen Aufgaben für
die Zukunft der Erinnerung. Und genau hier wirken die
Gedenkstätten mit ihrer langjährigen pädagogischen und
wissenschaftlichen Kompetenz.
({9})
Wir wissen: Die Jugendbegegnungsstätten in den
Gedenkstätten sind lange ausgebucht. Die Gedenkstätten
verzeichnen seit Jahren einen großen Zuwachs an Besuchern. Heute sind diese Gedenkstätten zu lebendigen
Orten der Auseinandersetzung mit der Geschichte, aber
auch mit der Gegenwart geworden. Der verantwortungsvolle Umgang mit Geschichte, die Aufklärung an den
Gedenkstätten, vor allem aber die zahlreichen Jugendbegegnungen dort sind ein Stück Wertevermittlung und
Demokratieerziehung. An den Gedenkstätten liegt die
Zukunft der Erinnerung kommender Generationen. Bei
den Gedenkstätten, an den authentischen Orten, ist all
das vorhanden, was der Erinnerung eine Zukunft gibt.
Schaffen wir gemeinsam ein Netzwerk gegen das Vergessen, geknüpft von Schulen, Wissenschaft, Politik,
Bürgerschaft und eben den Gedenkstätten! Dieses
Netzwerk muß uns auch etwas wert sein, nicht zuletzt
eine seriöse und verläßliche Finanzierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sorgen wir mit
einer neuen Gedenkstättenkonzeption dafür, daß die Gedenkstätten ihre wichtigen Aufgaben sachgerecht erfüllen können! Verknüpfen wir diese Verantwortung auch
mit dem Willen, ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin zu schaffen, das sich in die
Landschaft der gewachsenen demokratischen Erinnerungskultur einreiht! Diese Erinnerungskultur zu festigen und vorzuführen, so wie es in unserem Antrag steht,
sollte uns Verpflichtung sein.
Integriert in eine Gesamtkonzeption gegen das Vergessen sollten wir am Haus der Erinnerung, das es
längst gibt, weiterbauen. Sein Fundament ist das bürgerschaftliche Engagement, und seine Etagen sind die
zahlreichen Gedenkstätten an den authentischen Orten.
Daran mitzuarbeiten war stets unser Anliegen. Das soll
es bleiben.
Danke.
({10})
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans-Joachim Otto von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist durchaus bemerkenswert, welchen Stellenwert Gedenkstätten momentan in der politischen Agenda unseres Landes haben.
Wichtig aber ist, daß wir in Deutschland nicht nur über
das Holocaust-Mahnmal sprechen, sondern auch über
die zahlreichen Gedenkstätten an authentischen Orten,
die sich zum Teil in jammervollem Zustand befinden. Es
mag eine modische Wortschöpfung sein, von der „demokratischen Erinnerungskultur“ zu sprechen, aber ich
teile ausdrücklich die Einschätzung, daß Erinnern und
Gedenken in einem engen Zusammenhang mit der Kultur stehen. Umgekehrt und zugespitzt formuliert: Eine
der Voraussetzungen für einen Kulturstaat ist die Fähigkeit und Bereitschaft seiner Bürger, sich der eigenen
wechselvollen Geschichte stets bewußt zu sein und sich
zu ihr zu bekennen. Dies gilt nun leider in besonderem
Maße für uns Deutsche. Wir gedenken beispielsweise
nicht nur des Lebenswerkes Johann Wolfgang von
Goethes und anderer großer Dichter und Denker, sonAngelika Krüger-Leißner
dern auch der beiden Diktaturen in unserem Land und
deren zahlreicher Opfer.
Meine Damen und Herren, Gedenkstätten haben immer eine Doppelfunktion: Sie erinnern an Vergangenheit und weisen zugleich in die Zukunft. Indem sie an
historische Ereignisse oder Persönlichkeiten erinnern,
enthalten sie im Positiven wie im Negativen Lehren
auch für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln. Sie
alle kennen das berühmte Zitat: Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gewinnen. Demokratische
Erinnerungskultur streitet deshalb gegen die sich leider
ausbreitende Geschichtslosigkeit. Notwendige Bestandteile demokratischer Erinnerungskultur sind also nicht
nur Gedenkstätten und Mahnmale, schon gar nicht Dokumentationszentren und Bücherwände, sondern nicht
zuletzt auch geschichtliche Bildung.
Es ist schon ein Problem, eigentlich mehr als das,
nämlich eine Schande, welch geringen Raum der Geschichtsunterricht inzwischen in den Lehrplänen der
meisten Länder einnimmt. Geschichtskenntnisse schaffen erst den Boden für das Interesse an Gedenkstätten.
Die besten Erläuterungen, Museen und Dokumentationszentren nützen gar nichts, wenn Menschen wegen
fehlendem Geschichtsbewußtsein ihre Gedenkstätten
erst gar nicht aufsuchen. Wir appellieren deshalb in erster Linie an die Länder. Sie haben in doppelter Hinsicht
eine primäre Kompetenz und Verantwortung, nämlich
für Kultur und für Bildung. Der Bund kann und will die
Länder aus dieser Primärverantwortung nicht entlassen.
Der Bund hat aber durchaus im Sinne des viel beschworenen kooperativen Föderalismus eine sekundäre bzw.
Mitverantwortung für die Gedenkstätten zu übernehmen,
die eine gesamtgesellschaftliche Rolle spielen. Da bin
ich mir mit Ihnen einig.
In diesem Sinne halten wir den Bericht der alten
Bundesregierung zur Förderung von Gedenkstätten
aus dem Jahre 1997 unverändert für eine gute und angemessene Grundlage. Ich habe bisher eigentlich wenig
überzeugende Kritik gegen diesen Bericht gehört.
({0})
Wir sollten zunächst einmal davon ausgehen, daß nicht
sehr viel daran zu ändern ist. Aber dieser Bericht muß
selbstverständlich überprüft und aktualisiert werden.
Die Ankündigung der neuen Bundesregierung, eine
Gesamtkonzeption zur Förderung und Festigung der
demokratischen Erinnerungskultur zu erarbeiten, nehmen wir mit Interesse und Offenheit zur Kenntnis. Wir
haben uns allerdings angewöhnt - angewöhnen müssen
-, die neue Bundesregierung nicht an ihren hehren Ankündigungen, sondern an ihren realen Taten zu messen.
Für eine solche Zurückhaltung geben gerade unsere täglichen Erfahrungen mit anderen wohlgesetzten Worten
des Herrn Kulturbeauftragten Dr. Naumann immer wieder Anlaß.
Keine Frage ist es, daß die verdienstvolle Arbeit der
Enquete-Kommission und ihre Vorschläge Berücksichtigung bei unseren weiteren Überlegungen finden müssen. Dies gilt insbesondere für die Auflistung von besonders bedeutsamen Gedenkstätten in den neuen Bundesländern, die sicherlich zum großen Teil die Unterstützung und Förderung auch des Bundes verdienen.
({1})
- Ich bedanke mich.
({2})
Der Bericht der Enquete-Kommission enthält allerdings auch Punkte, über die wir uns einmal in Ruhe Gedanken machen sollten. Insofern will ich einige zarte
Fragezeichen machen. Es erstaunt mich, offen gesagt,
wenn ausgerechnet die Enquete-Kommission zur Überwindung der Folgen der SED-Diktatur und auch Sie,
verehrte Kollegin Krüger-Leißner, die bisherige, wie ich
meine, sinnvolle Konzentration der Förderung des Bundes auf Gedenkstätten in den neuen Bundesländern aufgeben und nunmehr eine bundesweite Förderung einführen wollen. Vielleicht wäre es sehr viel sinnvoller, in
den neuen Bundesländern größere Schwerpunkte zu setzen. Fragwürdig erscheint mir auch, wenn die EnqueteKommission die zeitliche Befristung der Bundesförderung auf zehn Jahre bereits jetzt aufheben und in eine
Dauerförderung übergehen will. Ich meine, da sollten
wir noch Feinarbeit leisten. Diese Punkte können wir in
Ruhe im Ausschuß besprechen. Ich möchte jedenfalls,
um das ganz klar zu sagen, die Länder aus ihrer Primärverantwortung für Kultur und damit auch für Gedenkstätten nicht so pauschal und schnell entlassen. Hier bedarf es noch einiger Gespräche, die wir sicherlich im
Konsens führen werden. Das hoffe ich jedenfalls.
Abschließend noch ein Punkt, der uns besonders am
Herzen liegt. Ich freue mich sehr, daß sich auch beide
Vorredner Gedanken darüber gemacht haben, wie wir
mehr bürgerschaftliches Engagement bei der Errichtung, vor allem aber bei der Unterhaltung von Gedenkstätten initiieren können. Zu Recht weist der Bericht der
Enquete-Kommission darauf hin, daß viele Gedenkstätten erst aus dem Engagement von Vereinen, Bürgerinitiativen oder einzelnen Menschen heraus entstanden
sind.
({3})
Unsere Aufgabe liegt nun darin, zusätzliche Anreize für
solche privaten Initiativen zu schaffen. Es wird Sie
sicherlich nicht überraschen, wenn ich hierin ein wichtiges Betätigungsfeld für Stiftungen sehe.
({4})
Denn Stiftungen sind auf eine Verstetigung von Engagement angelegt, was gerade im Sinne einer dauerhaften
Sicherung und Betreuung von Gedenkstätten von großem Vorteil ist.
Fortschreibung und Aktualisierung der Gedenkstättenkonzeption ist eine Aufgabe, bei der wir uns, liebe
Frau Kollegin Krüger-Leißner, in einem fraktionsübergreifenden Konsens bewegen sollten; das ist ganz klar.
Ich signalisiere Ihnen, daß sich die F.D.P.-Fraktion ohne
Scheuklappen und ohne Einengungen in voller Offenheit
an dieser Diskussion beteiligen wird. Wir werden konHans-Joachim Otto ({5})
struktiv an der Fortschreibung des Gedenkstättenkonzepts mitarbeiten.
Danke schön.
({6})
Als
nächster Redner hat das Wort die Kollegin Antje Vollmer von Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegt in der Natur dieses Themas, daß es sich
nicht für parteipolitische Debatten eignet. Das hat auch
keiner getan, und das finde ich gut. Die Gedenkstätten
brauchen die Unterstützung des ganzen Hauses. Die
vorliegenden Anträge haben signalisiert, daß wir uns
alle darum bemühen müssen und wollen. An realen Taten, Herr Kollege Otto, wird nicht nur die jetzige Regierung gemessen, sondern muß auch die vorherige gemessen werden, die den Bericht der Enquete-Kommission
schon vorliegen hatte und daraus schon Schlüsse folgern
konnte.
Interessant ist, daß diese Debatte wie die Debatte
über das Holocaust-Denkmal in einem ganz besonderen
Zeitraum stattfindet. Sie findet zu einem Zeitpunkt statt,
an dem die Stimme der wirklichen Zeugen, der wenigen Überlebenden, schwächer, leiser und seltener wird.
Gerade deswegen ist es so wichtig, über die Gedenkstätten zu sprechen. Wenn die wirklichen Zeugen nicht
mehr reden können - manch einer fragt sich natürlich,
ob man sie in der Zeit, in der sie noch reden konnten,
nicht zuwenig angehört hat -,
({0})
dann müssen Steine, Bilder und Baracken sprechen und
uns von dem berichten, was man sich aus eigener Phantasie gar nicht vorstellen könnte. Deswegen begrüße ich
diese Debatte außerordentlich.
Weil ich sie begrüße, möchte ich noch ein paar Worte
zu der Anhörung, die wir in dieser Woche hatten, sagen:
Da ist seitens der Vertreter der Gedenkstätten eine
merkwürdige Verunsicherung geäußert worden, um
nicht von einer gewissen Konkurrenz zu dem Projekt
des Holocaust-Mahnmals zu sprechen. Wir sollten uns
alle darum bemühen, diese Verunsicherung nicht zu
schüren, sondern ihr entgegenzutreten.
({1})
So wie in dieser Woche in Berlin möchte ich allen Vertretern der Gedenkstätten, die natürlich wie immer Sorgen um ihre eigene Existenz haben - das hat auch seine
Vorgeschichte -, sagen, daß sie nicht geschwächt werden, sondern außerordentlich gestärkt werden, wenn dieses Land und diese Republik darüber diskutiert, dieses
Gedenken auch an einer ganz wesentlichen sichtbaren
Stelle, im Zentrum der Metropole, an einem ganz herausgehobenen Ort in Berlin stattfinden zu lassen. Ich
glaube, daß die Republik, die sich in ihrem Zentrum dieser Geschichte stellt, auch mit ihren Gedenkstätten an
historischen Orten besser und sorgfältiger umgehen
wird. Da besteht für mich keine Alternative. Das eine
wird vielmehr das andere bestärken. Dies sollte man den
Vertretern der Gedenkstätten deutlich sagen.
({2})
Gedenkstätten haben natürlich ihre Geschichte, auch
ihre Zeitgeschichte. Dies ist eine Geschichte - sie ist im
Osten und im Westen deutlich unterschiedlich -, angesichts deren Verlauf man viel über frühere Generationen
und ihr Verhältnis zu unserer Vergangenheit begreifen
kann. Im Westen, so muß man sagen, war diese Geschichte vielfach sehr mühselig. Das Gedenken ist gerade nicht von staatlicher Seite, sondern auf Grund des
Engagements der Bürger entstanden, die auf teilweise
sehr entbehrungsreiche Weise Gedenkstätten aufgebaut
haben, wie zum Beispiel in Stukenbrock, Bergen-Belsen
und Dachau. Das heißt, das Gedenken hat mit den Menschen vor Ort begonnen, die sich auf Grund der historischen Spuren und des Unfaßbaren, daß dies in ihrer
Umgebung entstanden ist, dafür verantwortlich gefühlt
haben. Erst allmählich und dann immer stärker ist dies
auch ein Thema der öffentlichen Debatten geworden. Es
scheint so, als ob sich die Bundesrepublik auf ihrer
westlichen Seite lange Zeit nicht zugetraut hätte, sich
diesen historischen Orten auch offiziell zu stellen.
Im Osten wiederum - auch hier kann man Schale um
Schale der Geschichte, der Erinnerung abheben - gab es
ein staatlich verordnetes, aber sehr selektives Gedenken.
Gedacht wurde nicht der Opfer in ihrer ganzen Breite
und in ihren unterschiedlichen Spektren. Es wurde vielmehr eine Art Hierarchie der Opfer errichtet. Einen besonderen Erinnerungswert erhielt also der verfolgte
kommunistische Kämpfer. Andere wurden dabei fast gar
nicht mehr erwähnt. Erwähnt wurde auch nicht die
Nachgeschichte, die Sonderlager der sowjetischen Besatzungsmacht oder der SED-Diktatur. An dem Verlauf
dieser Geschichte im Westen wie im Osten kann man
über die Schwierigkeit, sich der ganzen Geschichte zu
stellen, viel begreifen.
Die Enquete-Kommission hat eine, wie ich finde,
sehr solide Arbeit gemacht. Ich begrüße, daß Sie uns
Empfehlungen gegeben hat, die in den beiden heute
vorliegenden Anträgen erwähnt werden. Das sind einerseits allgemeine Grundsätze, an die ich noch einmal erinnern will, daß also ehrenamtliche und professionelle
Arbeit im Rahmen der Gedenkstättenkultur gleich wichtig ist, daß der dezentrale und plurale Charakter der Gedenkstättenlandschaft nicht durch falschen Zentralismus
gestärkt werden darf und daß vor allen Dingen die Arbeit der Gedenkstätten international vernetzt sein muß.
Das ist außerordentlich wichtig. Welches waren denn
die ersten Gruppen, die zu den kleinen Gruppen vor Ort
gekommen sind? Das waren oft internationale Gruppen,
die gesagt haben: Wir trauen uns wieder an diesen
furchtbaren Ort.
Grundsätze der Beteiligung des Bundes sind ebenfalls im Enquete-Bericht festgehalten: Die Gedenkstätten müssen sich an einem historischen Ort befinden,
Hans-Joachim Otto ({3})
dessen Bedeutung der Bevölkerung bewußt ist. Die
Authentizität des Ortes ist wichtig. Die Arbeit der Gedenkstätten soll durch das Engagement der Opferverbände verstärkt werden, und diejenigen, unter denen besonders viele Opfer waren, sollen eine besondere Rolle
einnehmen. Das Land, in dem die Gedenkstätte steht,
soll an der Finanzierung beteiligt sein.
Interessant und sehr wichtig finde ich den Vorschlag,
einen wissenschaftlichen Beirat beim BMI für die Förderanträge für die Gedenkstätten einzurichten.
({4})
- Das war die Empfehlung in diesem Bereich. Ich meine,
daß gerade ein solcher besonderer Beirat, der auch die
Sensibilität besitzt, mit diesen Gruppen umzugehen. ({5})
- Ich war noch nicht zu Ende. Das haben wir jetzt neu
geordnet. Wir haben das auch insofern neu geordnet, als
der Staatsminister dies als eine seiner ersten Initiativen
aufgegriffen und gesagt hat: Wir werden das vorrangig
behandeln.
({6})
Daß es diesen Beirat gibt, daß wir es nicht mehr wie
so oft in Entschädigungsfragen mit dem Finanzministerium zu tun haben, ist außerordentlich wichtig. Deswegen wollte ich das hervorheben und diese Anregung besonders betonen.
Im einzelnen gibt es Empfehlungen in diesem Bericht
der Enquete-Kommission, nämlich daß Sachsenhausen
und die Stiftung „Topographie des Terrors“ zu 50 Prozent vom Bund und von den Ländern gefördert werden
sollen, daß die Gedenkstätte Münchner Platz Dresden
- das ist eine Gedenkstätte, die nur sehr wenig bekannt
ist, in der aber über 1 000 Tschechen hingerichtet wurden - und die Gedenkstätte für die Opfer der NSEuthanasie vom Bund gefördert werden sollen, ebenso
wie die internationalen Jugendbegegnungsstätten. Ich
weiß aus meiner Arbeit in Dachau, wie schwer es gerade
die Jugendbegegnungsstätten gehabt haben. Ich glaube,
gerade diese brauchen, wenn wir die Erinnerung an die
nächste Generation weitergeben wollen, außerordentlich
große, starke und sichtbare Unterstützung vom Bund.
({7})
Ich glaube, daß die Gedenkstätten vom Willen der
Bürger dieser Republik leben, die Geschichte als Teil
der Voraussetzung unserer Demokratie zu begreifen.
Deswegen unterstütze ich auch die Idee, Stiftungen aufzufordern, sich hier zu engagieren. Es ist ein Stück der
besonderen Selbstvergewisserung der Demokratie in
Deutschland, daß wir die Bürger nicht außen vor lassen,
sondern als wesentlichen Teil dieser Erinnerungsarbeit
verstehen.
({8})
Ich will noch einen letzten Satz sagen. Lassen Sie uns
nicht vergessen, daß wesentliche Gedenkstätten, die Teil
unserer Geschichte sind, nicht auf deutschem Boden
stehen, sondern insbesondere in Polen. Ich selbst bin das
erstemal in den 60er Jahren in Auschwitz gewesen und
danach regelmäßig noch einige Male. Ich habe gesehen,
wie sich Schicht um Schicht grauen Staubs auf den
grauenhaften Dokumenten abgelagert und das Bild immer wieder verändert hat. Ich habe auch gemerkt, daß es
für die Polen sehr schwer ist, dieses unglaublich große
Lager im Sinne einer Gedenkstätte zu erhalten.
Ich glaube, daß wir, wenn wir uns jetzt über den Erhalt für Gedenkstätten bei uns unterhalten, diese anderen
Gedenkstätten nicht vergessen sollten. Daran sieht man
das wirklich gigantische Ausmaß der Verbrechen, die
man vor den Augen der deutschen Bevölkerung verheimlichen wollte. Das gehört dazu, wenn wir über dieses Thema reden.
Danke.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Heinrich Fink von
der PDS-Fraktion das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es scheint eine
gewisse Zusammenarbeit in dem Ausschuß für Kultur
und Medien zu geben, da die meisten Mitglieder dieses
Ausschusses hier reden. Ich kann mich sehr vielem von
dem anschließen, was hier gesagt wurde. Ich möchte
aber sehr konkret von einigen Erfahrungen berichten,
die auch Ergänzung für die Anträge sein können.
Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, daß nicht alle neuen Bundesländer in der Lage
sind, die von der Bundesregierung erwartete Summe für
die Gedenkstättenerhaltung aufzubringen und in ihre
Landeshaushalte aufzunehmen. Das hat zur Folge, daß
diese Länder auch nicht die entsprechenden Bundesmittel bekommen. Deshalb können zum Beispiel im Land
Brandenburg in den KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen
und Ravensbrück wichtige Erhaltungsarbeiten nicht
mehr realisiert werden.
({0})
Dadurch besteht in Ravensbrück die Gefahr, daß das
Gelände des Konzentrationslagers, auf dem Betriebsanlagen in einmaliger Weise erhalten geblieben sind, die
ein beredtes Zeugnis vom Zusammenwirken von SS und
deutscher Industrie ablegen, nicht angemessen in die
Gedenkstätte einbezogen werden kann. Gleiches gilt für
das fast vergessene Jugend-KZ Uckermark, weil dieses Gelände nach dem Krieg durch die Sowjetarmee genutzt wurde und deshalb nicht als Erinnerungsstätte in
der DDR zur Verfügung stand. Das Gelände ist jetzt frei,
die Erinnerungsstätte muß neu errichtet werden. Weil
die Mittel fehlen, mußten wichtige ForschungsergebDr. Antje Vollmer
nisse vergangener Jahre unveröffentlicht bleiben. Sie
alle wissen: Langfristige Forschungsarbeit ist mit ABMStellen nicht zu leisten,
({1})
sosehr sie für den einzelnen als Alternative zur Arbeitslosigkeit der einzige Ausweg sind.
Die Anhörung der Gedenkstättenleiter zum Holocaust-Denkmal am 20. April im Reichstag in Berlin - sie
ist schon mehrfach erwähnt worden - machte deutlich,
daß es allen bis auf Buchenwald an Haushaltsmitteln für
den elementaren Erhalt der Gebäude mangelt, ganz zu
schweigen von der Finanzierung von Forschungsarbeiten und pädagogischen Mitarbeitern. Alle betonen hingegen, daß die Besucherzahlen gestiegen sind, besonders die Zahl Jugendlicher. Viele ehemalige Häftlinge
führen als Zeitzeugen - 86jährige, 88jährige, im letzten
Jahr sogar ein 90jähriger - durch die Gedenkstätten und
berichten von ihrer Vergangenheit. Authentischere Zeugen gibt es nicht.
({2})
Viele ehrenamtliche Bürgerinnen und Bürger sind zu
Führungen bereit und entlasten somit die kleine Zahl der
unterbezahlten hauptamtlichen Mitarbeiter. Bei denen
möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe zu Zeiten
der DDR an 20 Workcamps mit Gruppen vom Bund der
Antifaschisten und mit Aktion Sühnezeichen in Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück teilgenommen. Die Synode meiner Berlin-Brandenburger Kirche
hat allen Pfarrern empfohlen, diese Gedenkstätten mit
ihren Konfirmanden zu besuchen. Eine ganze Konfirmandengeneration ist in diesen Gedenkstätten geschult
worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Auswahl
von Gedenkstätten, denen gesamtstaatliche Bedeutung
zukommt, sind dringlich Ergänzungen nötig. Ich denke
vor allem an die KZ-Gedenkstätten Dachau und Neuengamme, in denen von westlichen Alliierten Nazitäter
interniert wurden, wie es die SMAD auf Alliiertenbeschluß hin auch getan hat. Wenn die fatale Nachnutzung
in Buchenwald und Sachsenhausen mit großem finanziellen Aufwand so ausführlich dokumentiert wurde,
sollte eine Dokumentation für Dachau und Neuengamme nicht unterlassen werden. Das ist nicht nur meine
Meinung, sondern auch die der dortigen Gedenkstättenleiter.
({4})
Unvollständig sind die Empfehlungen der EnqueteKommission auch in bezug auf die bisher vergessenen
Opfergruppen. Es gibt in Buchenwald jetzt ein Denkmal
für die ermordeten Sinti und Roma, aber es gibt zum
Beispiel keinen Gedenkort für Euthanasieopfer, die etwa
in Brandenburg, Grafeneck, Hartheim, Sonnenstein und
Hadamar ermordet wurden.
Ausdrücklich unterstützen möchte ich den Staatsminister Naumann in den bei der Anhörung zum Holocaust-Mahnmal hier in Bonn angesprochenen Bemühungen um eine Öffnung des Archivs des Internationalen
Roten Kreuzes in Arolsen. Der Zugang zu diesem Archiv würde demokratische Erinnerungskultur in Sachen
NS-Forschung und damit die Arbeit der Gedenkstätten
in erheblichem Maße voranbringen. Doch das muß auch
finanziert werden.
Meine Damen und Herren, in Erinnerung bringen
möchte ich noch - das muß an diesem Ort gesagt werden dürfen, ohne einen Parteiendisput heraufzubeschwören -, daß die SED/PDS auf ihrem außerordentlichen
Parteitag im Dezember 1989 beschlossen hat, sich dafür
einzusetzen - ich zitiere wörtlich - „daß den Opfern stalinistischer Opfer ein bleibendes Gedenken in unserer
Gesellschaft bewahrt wird“. Das heißt für mich auch,
der Opfer in den Gefängnissen Hohenschönhausen und
Waldheim zu erinnern und zu mahnen.
({5})
Erinnerungskultur ist für mich eine rückhaltlose Aufdeckung des Verlaufs der Geschichte, und deshalb kann
es keine Gleichsetzung geben zwischen dem SEDRegime, das sich ohne Blutvergießen aufgegeben hat,
und der Nazidiktatur, die - wir wissen das ja alles - in
einem bisher nicht gekannten Ausmaß Menschenleben
aus allen Erdteilen vernichtet hat.
Herr
Kollege Fink, kommen Sie bitte zum Schluß!
Lassen Sie uns doch historisch gewissenhaft bleiben - um der Opfer willen. Die
nächste Generation wird uns dafür historisch-kritisch zur
Verantwortung ziehen.
Ich unterstütze beide Anträge. Meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition und der CDU/CSU,
untersetzen Sie Ihren Antrag mit der Forderung nach
Bundesmitteln in einer diesen Aufgaben angemessenen
Höhe, um dem Anspruch einer demokratischen Erinnerungskultur zu genügen!
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerd Weisskirchen von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kann gar
nicht anders sein: Dieses Thema kann nur konsensual
behandelt werden - das zeigt auch die Debatte -, und
das ist gut so. Deswegen werden wir alle uns darauf
freuen können, daß Sie, Herr Staatsminister Naumann,
in den nächsten Tagen oder Wochen ein geschlossenes
Gesamtkonzept vorlegen werden. Auf der Grundlage
dessen, was er uns vorlegen wird, werden wir im Ausschuß gemeinsam miteinander darüber reden, welche
Schwerpunkte wir setzen werden.
Staatsminister Naumann kann auf sehr gute Ergebnisse zurückgreifen. Er kann auf das zurückgreifen, was die
Vorgängerregierung vorgelegt hat. Er kann darauf zurückgreifen, daß die Enquete-Kommission unter dem
Vorsitz von Rainer Eppelmann eine wirklich hervorragende Arbeit gemacht hat. Lieber Herr Kollege Koschyk, Sie waren mit dabei; für uns hat Siegfried Vergin
verantwortlich daran gearbeitet. Ich finde, das ist ein
wirklich gutes Fundament.
Dieses gute Fundament, das in der letzten Legislaturperiode erarbeitet worden ist, ist für uns eine Verpflichtung, neue Elemente zu schaffen, damit wir dem gerecht
werden, worauf es jetzt ankommt, nämlich dem schwierigen Paradigmenwechsel, der in der Debatte beschrieben worden ist. In diesem historischen Einschnitt, wo
keine Zeitzeugen mehr da sein werden, wo das, was sie
an individuellem Gedächtnis, an Wissen, an Erkenntnissen über eine schreckliche Zeit mitgeben können, vergeht und uns zurücklassen, kommt es darauf an, diesen
ungeheuren Schatz von Erfahrungen und Erkenntnissen
zu nutzen und in ein kulturelles Gedächtnis zu verwandeln.
Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Noch einmal:
Ich finde, wir haben eine phantastische Grundlage. Ich
wünsche mir, daß diese konsensual geführte Debatte auf
den verschiedenen Stufen auch konsensual bleibt. Denn
das ist ein wichtiger Punkt, den wir gemeinsam festhalten dürfen - Frau Kollegin Vollmer, Sie haben darauf
hingewiesen -: Wenn Sie sich die Geschichte der Gedenkstätten in Deutschland, besonders in der Bundesrepublik Deutschland, in Deutschland West, in
Deutschland alt - wenn ich das einmal so sagen darf -,
anschauen, dann werden Sie feststellen, daß sie als Kerne des Wissens um die Vergangenheit entstanden sind.
Sie wurden zunächst weniger vom Staat gefördert.
Vielmehr wurden sie gegen manchen Widerstand der
bundesstaatlichen Strukturen, auch der Länder als eine
Verankerung dessen installiert, was niemals vergehen
darf, nämlich als eine Verankerung der Zivilität der Opfer, die in der Stunde der Gefahr in den Konzentrationslagern, in den Stätten, in denen sie grausam behandelt
worden sind, ein Zeichen der Zivilität gegenüber einer
ungeheuren Diktatur gesetzt haben. Das haben sie geschaffen, und auf der Grundlage dieses bürgerschaftlichen Engagements müssen wir weiterarbeiten.
({0})
Wir danken also diesen Initiatoren, die die Gedenkstätten aufgebaut haben. Mit unendlicher Mühe arbeiten
sie seit vielen Jahren daran, dem Gedenken immer wieder neues Leben zu geben. Ihre Leistungen sind unersetzlich. Jetzt kommt es darauf an, daß der demokratische Kulturstaat, also auch der kulturföderale Staat, in
der Lage ist, dies aufzunehmen, dieses Wissen als
Schatz zu nutzen, um das, was an Erfahrung, Wissen
und Fähigkeiten vorhanden ist, in die Zukunft zu transportieren.
Es ist nämlich die Fähigkeit, dieses bürgerschaftliche Engagement der einzelnen, die als Opfer zunächst
darüber empört gewesen sind, daß niemand anders als
sie selbst das in die Hand nehmen mußte. Sie haben diesen Kern des Erinnerns gegen das Vergessen gebildet.
Dieser Kern muß jetzt vom demokratischen Kulturstaat verantwortlich aufgegriffen werden. Deswegen bin
ich froh darüber, daß wir gemeinsam den Konsens dahin
gehend suchen wollen, daß dann auch die Komplementarität der Förderung, auch der finanziellen Förderung,
erhalten bleibt. Wir wissen alle, daß wir da manches
auch mit den Ländern werden bereden müssen. Wir
werden also ein Gleichgewicht zwischen denen, die bürgerschaftliches Engagement leisten, den Ländern - übrigens auch den Gemeinden - und dem Bund finden müssen. Wenn uns das gelingt - ich bin fest davon überzeugt, daß dies gelingt -, dann, glaube ich, werden wir
das schaffen, worauf es ankommt, nämlich die authentischen Erfahrungen in die Gegenwart hineinzunehmen
und in die Zukunft mitzunehmen.
Die Enquete-Kommission hat alle deutschen Formen der Erinnerung an beide deutsche Diktaturen gesichtet, hat sie bewertet und hat an uns Empfehlungen
gerichtet. Sie greifen wir nun auf.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf ein wesentliches Problem aufmerksam machen, das auch hier
in der Debatte schon zweimal aufgetaucht ist, nämlich
das Problem, wie denn die beiden deutschen Staaten ich sage das jetzt etwas verkürzt -, nämlich die vergangene DDR und die Bundesrepublik Deutschland, mit
ebenjenem Wissen in der ersten Phase ihrer Gründung
umgegangen sind. Da gab es auf der einen Seite - wenn
man das einmal so sagen darf - einen staatlich verordneten Antifaschismus. Ich bin sehr froh darüber, daß
Sie auch über die Folgen dessen kritisch nachdenken.
Das sind ja gestanzte Schablonen, die vom Staat vorgegeben worden waren. Aber dieser Antifaschismus hat
die ganze Fülle der Ungeheuerlichkeit dessen, womit es
die Opfer zu tun hatten, nicht erfaßt. Auf der anderen
Seite gab es - wir im Westen sollten auch selbstkritisch
sein - so etwas wie einen aufgesetzten Antitotalitarismus in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland. Auch er war so etwas wie eine Schablone, allerdings nicht staatlich verordnet. Aber er ist in der Kommunität der Geschichtswissenschaftler so erarbeitet
worden. Jetzt kommt es darauf an, daß wir etwas Neues
konstruieren. Denn beide Schablonen taugen nicht mehr
als Grundlage für unseren Staat.
({1})
Das meine ich in dem Sinne, daß wir keine Schablonen
mehr haben wollen. Also weder der staatlich verordnete
Antifaschismus noch der aufgesetzte Antitotalitarismus
wird uns in diesem Punkt helfen, sondern - jetzt komme
ich genau zu dem zurück, was uns die Opfergruppen
zeigen - es kommt darauf an, eine neue Form des antitotalitären Konsenses, wie Jürgen Habermas das genannt hat, nämlich eines wirklich antitotalitären Verständnisses, zu erarbeiten. Dies aber erwächst aus der
Zivilgesellschaft selbst, erwächst aus der Betroffenheit
der Opfer und erwächst aus dem individuellen Gedächtnis und der Erinnerung der Opfer. Jetzt kommt es darauf
an, dieses individuelle Gedächtnis zu transformieren, zu
verwandeln in das kulturelle Gedächtnis derer, die geGert Weisskirchen ({2})
meinsam in einer Gesellschaft zusammenleben. Das ist
eine andere Zugangsperspektive, also nicht mehr, wenn
Sie so wollen, von oben herab, sondern von unten herauf, aus der Gesellschaft.
Aber das wird ein schwieriger Prozeß werden. Das
sehen wir auch an allen Debatten. Ich empfehle zum
Beispiel, sich das Buch von Helmut Dubiel anzuschauen, das jüngste, das er geschrieben hat. „Niemand ist frei
von der Geschichte“, so ist der Titel dieses Buches. Das
ist wohl wahr. Aber worauf es doch ankommt, ist, daß
eben jene Grundlage, die neu zu erarbeiten ist, keine
Grundlage mehr ist, die - noch einmal - von oben herab
zu formulieren wäre, sondern eine, die von unten herauf
zu formulieren ist - und übrigens eine, von der ich verstehe, daß wir als Parlament einen Beitrag dazu leisten
können, nicht in dem Sinne, daß wir der Gesellschaft zu
definieren hätten, wie sie sich in diesem Veränderungsprozeß selbst versteht, sondern einen Beitrag im, so
würde Habermas dann sagen, gesellschaftlichen Diskurs,
also in der gesellschaftlichen Selbstverständigung,
schaffen.
Was wäre diese gesellschaftliche Selbstverständigung? Ich würde sie so formulieren: daß Freiheit und
Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenwürde, Solidarität und Menschenrechte die Grundlage ebenjenes neuen Selbstverständnisses einer zivilen Gesellschaft werden müßten. Das ist übrigens das, was uns die Opfer ja
auch sagen, was sie uns aus ihrer furchtbaren Erfahrung
der Ungeheuerlichkeit zweier Diktaturen mitgeben.
Allerdings - da gebe ich Ihnen recht, darüber müßten
wir dann neu debattieren - ist die Erfahrung jener zweiten Diktatur manchmal auch verknüpft mit jener der ersten Diktatur. Was mich immer sehr erschreckt hat, war
die Tatsache, daß manche der Zwangsanstalten, die früher Konzentrationslager waren, dann leider von der SED
genutzt und genommen worden sind als die vergleichbaren - nicht in der Grausamkeit - Zwangsanstalten, wo
die Freiheit in die Gefängnisse geworfen worden ist.
Auch darüber müßte man noch einmal neu debattieren,
inwiefern jene beiden Diktaturen und die Kritik an ihnen
diejenigen sind, die Freiheit verunmöglicht haben. Das
ist, glaube ich, der entscheidende Kern, worauf es meiner Meinung nach ankommt, nämlich: Die Zivilität einer
Gesellschaft mißt sich daran, wie beständig die aktive
und demokratische Bürgerschaft daran arbeitet, die Verhältnisse gewaltfrei zu verändern.
Wenn ich damit schließen darf: Fortschritt, auf den zu
hoffen ist, kann durch nichts und niemanden garantiert
werden als durch das eigenverantwortliche Handeln
eines jeden einzelnen. Immer nur das eigenverantwortliche Handeln eines jeden einzelnen konstituiert Freiheit.
Ohne Freiheit ist eine demokratische Gesellschaft niemals lebensfähig. Das haben uns die Opfer gezeigt. In
deren Verantwortung und der Verantwortung dessen,
was sie uns über die Zeiten hinweg erzählen, stehen wir.
Ich hoffe, wir werden dieses Konzept in diesem Sinne
gemeinsam erarbeiten.
({3})
Als
letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kollegin Margarete Späte von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr verehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! „Wer sich der Vergangenheit
nicht erinnert, lebt ohne Zukunft.“ Ich war 22 Jahre alt,
als ich diesen Satz in einen Granit einmeißelte und diesen Stein unübersehbar auf den Ausstellungsplatz unserer Bildhauerwerkstatt im Süden des Bezirkes SachsenAnhalt stellte. Das war 1980.
Es ist zwei Tage her, daß im Berliner Reichstag die
erste Sitzung des Deutschen Bundestages stattfand, zehn
Jahre nach dem Fall der Mauer, nach der Öffnung des
Brandenburger Tores, durch das ich immer wieder gehe
- so auch an jenem Tag - mit dem Gefühl, frei zu sein,
dankbar für diese große Chance in meinem wiedervereinten Deutschland.
({0})
Erinnern an das, was geschah; Gedenken all derjenigen, die dafür gekämpft haben, daß wir heute in einem
freiheitlich demokratischen Staat leben können! Wie unendlich die Dimensionen dessen sind, was nach zwei
Diktaturen in Deutschland geschah, zeigt auch die gegenwärtige Diskussion zum Denkmal für die ermordeten
Juden Europas in Berlin. Gerade deshalb ist es so wichtig, sich immer wieder dessen zu erinnern, dessen zu gedenken, zu mahnen und zu bewahren.
Ich möchte mich heute in meinem Redebeitrag besonders den authentischen Orten der zweiten Diktatur in
unserem Lande widmen. Wieviel Erinnern brauchen
wir? Wieviel Zeitzeugnisse dieser jüngsten Vergangenheit sind uns Mahnung? Wieviel Gedenken ist uns
wichtig?
Die Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen
der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ hat
einvernehmlich eine unendlich wichtige Arbeit geleistet,
deren Stellenwert man auf Grund des am 17. Juni 1998
vorgelegten Berichts nicht hoch genug einschätzen kann.
Dafür möchte ich den Mitgliedern dieser Kommission
heute nochmals danken.
In Kapitel VI dieses Berichts, „Gesamtdeutsche Formen der Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen
und ihre Opfer“, wird auf die vom Deutschen Bundestag
1994 formulierten Kriterien, nach denen sich der Bund
an Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung beteiligen kann, ausführlich eingegangen.
Der damalige Obmann der SPD in der EnqueteKommission, Markus Meckel, sagte vor einem Jahr:
In unserem Abschlußbericht werden wir auch Vorschläge für die Förderung von Gedenkstätten, die
an die Opfer von SED-Unrecht erinnern, vorlegen.
Wir sind der Ansicht, daß sich der Bund nicht, wie
bisher geplant, zehn Jahre nach der Einheit aus der
Förderung zurückziehen darf.
Gert Weisskirchen ({1})
Es ist mir wichtig, Ihnen, Herr Staatsminister Naumann, diese Forderung heute ganz groß auf Ihr Arbeitspapier zum Gesamtkonzept für die unter Bundesverwaltung stehenden Denkmäler und Gedenkstätten zu
schreiben, an dem Sie seit Januar - zunächst nur für
zwei Wochen, nun aber bis zum Sommer diesen Jahres arbeiten und über das wir sicherlich noch diskutieren
werden. Die Umsetzung dessen sollte für Sie eine wichtige Aufgabe sein.
Mit welch immer wieder bedrückender Aktualität uns
die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit in der
ehemaligen DDR einholt, zeigt die gestern durch die
Nachrichten verbreitete Meldung, daß an einem weiteren
Ort, in Diesdorf, nördlich von Berlin, durch die GauckBehörde einmal mehr aufgeklärt werden konnte, welch
perfide Werkzeuge von der Stasi erdacht wurden. Für
den Kampf gegen den „westlichen Imperialismus“ entwickelte man Terrorkampfmittel wie Sprengtextilien
westlicher Produktion, die, zog man sie an, am Leibe
explodieren sollten, auch Miniatombomben, um die
westliche Stromversorgung lahmzulegen und Atomkraftwerke zu sabotieren. In einer Dienstanweisung
steht: Auf lautloses Töten ist besonderer Wert zu legen.
Viele Menschen aus meiner Heimat leiden noch heute
unter den Folgen des damals geschehenen Unrechts. Wir
müssen den vollen Umfang des Unrechts erkennen. Wir
dürfen nichts vergessen.
Heute, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung, hat
die Natur, hat die jüngere Geschichte unseres Landes
Gras über den Grenzstreifen, über die innerdeutsche
Grenze wachsen lassen, auch über den Todesstreifen. Es
darf aber kein Gras über unsere Erinnerungen wachsen.
Es darf sich nie mehr wiederholen, was in 40 Jahren
DDR-Regime passiert ist.
({2})
Deshalb möchte die CDU/CSU-Fraktion alles daransetzen, um die Zeugnisse der SED-Vergangenheit zu
dokumentieren und authentische Stätten des Geschehens
den nachfolgenden Generationen in Erinnerung zu halten. Nur in einer intensiven Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit sehe ich eine Chance für unser wiedervereinigtes Deutschland, die teilweise verzerrte Wahrnehmung durch eine unterschiedliche Erinnerungskultur
in Ost und West in Einklang mit der Wirklichkeit zu
bringen. Der Weg zur inneren Einheit ist nur über die
Aufarbeitung der Vergangenheit zu erreichen.
Wir können unsere gemeinsame Zukunft nicht auf
Irrtümern, Erinnerungslücken, Beschönigungen und Legenden aufbauen. Wir brauchen die authentischen
Zeugnisse der DDR-Vergangenheit; sie müssen den
Menschen zugänglich gemacht werden. Fakten statt Legenden! Beweise, Dokumente und Originalschauplätze
gegen das Vergessen! Die Vermittlung historischen
Wissens an diesen authentischen Orten muß von Generation zu Generation der jeweils neu zu gestaltenden
Selbstvergewisserung mitmenschlicher und demokratischer Grundlagen individuellen und gesellschaftlichen
Handelns dienen. Ohne eine menschliche Vorstellung
von den betroffenen und leidenden Menschen, ohne
menschliche Anteilnahme bleibt die Erinnerung eine
bloße Abstraktion von Fakten.
Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Gedenkstätten und Mahnmale besonders deutlich. Weil
uns die Förderung und der Erhalt eben jener Gedenkstätten in den neuen Ländern besonders am Herzen liegt,
fordert die CDU/CSU mit dem vorliegenden Antrag eine
finanzielle Beteiligung des Bundes an den Kosten für
den Erhalt dieser Gedenkstätten, die entsprechend den
Empfehlungen der Enquete-Kommission an den Bundestag und an die Bundesregierung festgeschrieben
wurden und unstreitig den Tatbestand gesamtstaatlicher
Bedeutung erfüllen.
Diesen Empfehlungen möchte die CDU/CSU mit ihrem Antrag besonderen Nachdruck verleihen. Wir gehen
dabei noch einen Schritt weiter, nämlich daß insbesondere die Gedenkstätte Normannenstraße in Berlin, die
Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit dem
Grenzdenkmal Hötensleben und die Gedenkstätte
Münchner Platz Dresden zusätzlich und dauerhaft in den
Forderungskatalog und damit in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes aufgenommen werden und dadurch
deren dauerhafte Förderung mit Bundesmitteln zum Erhalt dieser Gedenkstätten langfristig sichergestellt wird.
Das Haus I in der Normannenstraße in Berlin als
ehemaliger Sitz des Ministeriums für Staatssicherheit
symbolisiert wie kein anderer Ort in Deutschland authentisch und grauenhaft den lautlosen Terror des MfS
der 70er und 80er Jahre. Dieses Haus ist damit exemplarisch für die spezifische Form der politischen Verfolgung im System der DDR-Diktatur. Es war Mielkes
Brutstätte für psychischen und physischen Terror.
Schon oft bin ich mit Besuchern aus meinem Wahlkreis dort gewesen. Angesichts der kühlen und geschmacklos spießig-muffigen Inneneinrichtung sind
viele ernüchtert. Es hat den Anschein, als lösten sich
nacheinander mehrere Eisenbänder von den Herzen. Es
wird jedoch immer wieder bedrückend still, wenn die
Menschen direkt vor den erdachten Instrumenten psychischen und physischen Terrors stehen, von denen sie
sich bisher nur selten ein Bild machen konnten, und
wenn die Zeichen und Zeugnisse persönlichen Leids, der
Trennungen der Mütter von ihren Kindern, der isolierten
Gefangenschaft und der Ungewißheit des einzelnen über
sein Schicksal einem heute vor Augen führen, was erst
vor wenigen Jahren inmitten des eigenen Lebensumfeldes mit Menschen geschah, die nicht bereit waren, Unfreiheit und Unrecht hinzunehmen.
Dieses stille Entsetzen der heutigen Besucher, vermischt mit Wut, Trauer, aber auch mit dem neuen bewußten Erleben von Recht und Freiheit, ist eine Form
der sehr persönlichen Auseinandersetzung mit den Folgen einer selbst erlebten Diktatur, wie man sie nur an einem solchen Ort begreifbar und erfaßbar machen kann.
Die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn mit
dem Grenzdenkmal Hötensleben ist ebenfalls von großer
historischer Bedeutung. Marienborn war bis 1990 der
größte innerdeutsche und alliierte Kontrollpunkt und
Grenzübergang. Millionen von Reisenden haben ihn auf
ihrem Weg über die Transitstrecke nach Berlin sowie im
deutsch-deutschen Reiseverkehr passiert. Die ehemalige
Grenzübergangsstelle Marienborn wurde am 13. August
1996 als Gedenkstätte vom Land Sachsen-Anhalt eingerichtet und wird bisher auch allein durch das Land finanziert. Marienborn ist nicht nur ein Symbol für die
Teilung Deutschlands, sondern durch seine Lage an der
Nahtstelle zwischen den beiden Systemblöcken gleichzeitig ein Synonym für die Teilung Europas. Von daher
erachten wir die Erhaltung und Pflege gerade auch dieser Gedenkstätte als Aufgabe von Bund und Land als
besonders wichtig.
Die Gedenkstätte Münchner Platz Dresden ist das
dritte Projekt. Im Landgerichtsgefängnis am Münchner
Platz in Dresden waren ab 1934 Sondergerichte und
Senate des Volksgerichtshofes ansässig. Die NSGerichtsbarkeit sprach hier über 2 000 Todesurteile aus
und vollstreckte sie auch hier. Mehr als 1 000 Tschechen
wurden an diesem Ort hingerichtet. Nach Kriegsende bis
1953 vollstreckten dort sowjetische Militärtribunale Todesurteile. Das Landgerichtsgefängnis in Dresden war
darüber hinaus bis 1956 Schauplatz für Urteilsvollstrekkungen durch DDR-Gerichte.
Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat sich bereits in der vergangenen Legislaturperiode zur Verantwortung des Bundes für eine Vielzahl von Gedenkstätten in den neuen Ländern bekannt und sich an deren Erhalt und Pflege mit Bundesmitteln beteiligt. Wegen der
erst jetzt wieder zugänglichen Archive und Datenmaterialien besteht in diesem Bereich ein besonders großer
Forschungsbedarf. Die Zugänglichkeit von authentischen Orten ehemaliger Verfolgung und Inhaftierung ist
Mahnung und gleichzeitig Gedenken an die Opfer der
Diktatur. Den Opfern widerfährt nicht nur durch materielle Entschädigung ein wenig Gerechtigkeit, sondern
auch dadurch, daß sie wissen, die Orte ehemaliger Verfolgung und Inhaftierung werden immer wieder der jungen Generation Zeitzeugnis und Mahnung sein.
({3})
Wir können Unrecht nicht wiedergutmachen, aber wir
können Zeichen guten Willens setzen. Deshalb möchten
wir diese Gedenkstätten als Zeugnisse der Vergangenheit erhalten und sie dauerhaft im Gedenkstättenkonzept
des Bundes festschreiben. Uns muß bewußt sein: Maßstab für die Glaubwürdigkeit der Politik eines wiedervereinten Deutschlands wird der Umgang Deutschlands
mit seinen Gedenkstätten sein.
Vielen Dank.
({4})
Ich
schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei-
sung der Vorlagen auf Drucksachen 14/656 und 14/796
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Der Antrag der CDU/CSU auf Drucksa-
che 14/656 soll zusätzlich dem Rechtsausschuß über-
wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 9 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine weitere Unterstützung der Atomkraftwerke Khmelnytsky 2 und Rivne 4 in der
Ukraine
- Drucksache 14/795 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({0})
Auswärtiger Ausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela
Marquardt, Eva-Maria Bulling-Schröter, Dr.
Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Investitionen der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung in Khmelnytsky 2 und Rivne 4
- Drucksache 14/708 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({1})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten KurtDieter Grill, Dr. Klaus W. Lippold ({2}),
Cajus Caesar, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Festhalten an den Zusagen zum Bau von sichereren Ersatzreaktoren in der Ukraine
- Drucksache 14/819 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({3})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
die Kollegin Monika Griefahn von der SPD-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Wir befinden uns wieder einmal
wenige Tage vor einem Gedenktag. Am Montag jährt
sich der Tag des Unglücks von Tschernobyl zum 13.
Mal. Die Regierungen der G-7-Staaten und die Europäische Kommission haben im Dezember 1995 in Ottawa
in einem Memorandum of Understanding ein Programm beschlossen, mit dem sie die Ukraine unterstützen, die Atomkraftwerke, die um Tschernobyl herum
noch in Betrieb sind, im Jahre 2000 zu schließen.
Wir wollen der Ukraine helfen, daß sie dann Alternativen für ihre Energieversorgung zur Verfügung hat. Wir
unterstützen dieses Memorandum. Wir unterstützen die
G-7-Staaten. Wir wollen das Aus von Tschernobyl im
Jahre 2000.
({0})
Aber wir wollen diesen Ausstieg ganz, also nicht mit Ersatzatomkraftwerken, sondern mit einem GuDKraftwerk und Energieeinspartechnologien.
({1})
Das entspricht auch der Least-cost-Lösung, die in dem
Memorandum of Understanding beschrieben worden ist.
Der hier zur Debatte stehende Antrag, den SPD und
Bündnis 90/Die Grünen eingebracht haben, bedeutet also nicht, daß wir aus der Gemeinschaft der G-7/G-8Staaten ausscheren, sondern daß wir gemeinsam mit den
G-7/G-8-Staaten versuchen, den günstigsten Weg für
eine neue Energieversorgung in der Ukraine zu finden.
In der Zwischenzeit haben sich auch andere europäische Parlamente dafür ausgesprochen, die geplanten alternativen Atomkraftwerke in Khmelnytsky und Rivne
durch Gaskraftwerke und Energieeinsparung zu ersetzen. In Großbritannien haben beide Häuser Anträge gegen die Unterstützung des Weiterbaus eingebracht. In
Dänemark gibt es jetzt wieder eine starke Mobilisierung
im Parlament. In Österreich ist die Regierung nicht bereit, den Bau der Atomkraftwerke zu finanzieren. Selbst
in Slowenien haben sich jetzt Abgeordnete zusammengetan und wollen ihre Regierung auffordern, andere
Energieversorgungsmöglichkeiten in der Ukraine voranzubringen.
Das sind ermutigende Signale. Es ist ein politisches
Signal aus Europa, Anlagen, wie wir sie mehrfach in
osteuropäischen Ländern haben, nicht mehr zu unterstützen, sondern statt dessen eine Energieversorgung in
diesen Staaten mit auf den Weg zu bringen, wie wir sie
auch hier in der Bundesrepublik auf den Weg bringen
wollen.
Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regierungserklärung heute morgen das besondere Verhältnis zwischen der NATO und der Ukraine angesprochen. Diese
angestrebte Partnerschaft betrachte ich als äußerst wichtig für stabile Verhältnisse in Europa. Deswegen ist die
Bundesrepublik besonders verpflichtet, die Ukraine dabei zu unterstützen, ihren Energiesektor und ihre Wirtschaft zu reformieren.
({2})
Wir wollen deshalb die Bundesregierung ermutigen,
in Verhandlungen mit den anderen Ländern genau diesen Weg einzuschlagen, nämlich ein Gas- und Dampfkraftwerk zu finanzieren, Energieeffizienz und Energiesparmaßnahmen zu fördern. Die entsprechenden Kosten
wären geringer als die, die in dem ursprünglichen Antrag für den Bau alternativer Atomkraftwerke in der
Ukraine veranschlagt sind.
Um die Situation zu verdeutlichen: Wenn wir uns die
Studien anschauen, die zum Beispiel die Europäische
Entwicklungsbank vorgelegt hat, dann kommen wir zu
dem Schluß, daß der Fertigbau der beiden Reaktorblökke etwa 1,8 Milliarden Dollar kostet. Die Errichtung
eines Gas- und Dampfkraftwerks würde nur etwa 1
Milliarde Dollar kosten, also rund 800 Millionen Dollar
weniger. Außerdem wäre der Zeitraum für die Erstellung wesentlich kürzer: Es wird damit gerechnet, daß die
Fertigstellung des Gas- und Dampfkraftwerks etwa zwei
Jahre dauern würde, während die Fertigstellung der
Atomkraftblöcke etwa zwischen drei und fünf Jahre einige sagen: sogar bis zum Jahre 2006 - dauern würde.
Über allem steht die Sicherheit. Dies ist ein ganz
wichtiges Kriterium; denn wir wissen alle, daß die
Atomkraft nicht fehlerfreundlich ist. Dies kann bei einem Gas- und Dampfkraftwerk wirklich ausgeschlossen
werden.
({3})
Ich möchte noch eine wichtige Bemerkung zu den
Zahlungen machen: Im gesamten Energiesektor der
Ukraine wurden 1998 nur 16,7 Prozent aller Rechnungen bar, 60 Prozent durch Tauschgeschäfte und 23 Prozent überhaupt nicht bezahlt. Atomstrom wurde zu
4,5 Prozent in bar, zu 53 Prozent durch Tauschgeschäfte
und zu 40 Prozent gar nicht bezahlt. Das bedeutet, daß
die Kredite von der Europäischen Entwicklungsbank, an
der die Bundesrepublik Deutschland mit 190 Millionen
Dollar beteiligt wäre, sowie andere Kredite wie HermesKredite, die sich auf insgesamt etwa 880 Millionen DM
belaufen würden, nur durch Stromreimporte ausgleichbar wären. Das gilt natürlich auch für ein Gaskraftwerk.
Aber angesichts der niedrigeren Kosten ist die Wahrscheinlichkeit, daß der geringere Kredit zurückgezahlt
werden kann, tatsächlich höher.
Diese Gesichtspunkte sprechen dafür, daß wir die
Regierung auf diesem eingeschlagenen Weg unterstützen. Ich denke, daß wir diesen Ansatz verfolgen sollten,
und bin sehr froh, daß wir diesen Antrag gemeinsam
eingebracht haben.
Herzlichen Dank.
({4})
Als
nächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Griefahn, Sie
haben am Schluß Ihrer Rede gesagt, es spreche alles dafür, die Regierung auf ihrem Weg zu unterstützen. Es
muß zunächst aber festgehalten werden, daß die offiziellen Stellungnahmen der Bundesregierung, sowohl die
Stellungnahmen des Bundeskanzleramtes als auch die
des Bundesfinanzministeriums, der Europäischen Entwicklungsbank in London eine klare Unterstützung für
den Bau von K 2 und R 4 in der Ukraine signalisiert haben.
Die Europäische Entwicklungsbank hat sich ausweislich der Berichterstattung und den sonstigen Informationen, die mir vorliegen, ausdrücklich noch einmal versichert, wie denn die Haltung der G-7-Staaten ist. Wenn
ich richtig informiert bin, dann ist es so, daß Herr
Kutschma für die Bundesregierung deutlich gemacht
hat, daß man an den gegebenen Zusagen festhält. Der
Punkt ist: Wenn die Regierung von Ihnen unterstützt
würde, bedürfte es des Antrages nicht. Also gibt es offensichtlich doch eine Veränderung, die durchaus mehr
Fragen aufwirft, als daß sie Antworten gibt.
({0})
- Das ist ja unbestritten. Ich reagiere doch nur auf das,
was heute festgestellt worden ist, Frau Ganseforth. Die
Widersprüche darf ich wohl noch aufzeigen.
Der Deutsche Bundestag hat sich vor nicht allzu langer Zeit in der Drucksache 13/8391 - das sind die Unterlagen zur Agenda 2000 - mit der Frage „Osteuropa
und nukleare Sicherheit“ beschäftigt. Vielleicht schauen
Sie einfach einmal in dieses Dokument hinein, das Sie
im Bundestag befürwortet haben. Es ist ganz interessant,
daß Sie ein Dokument unterschrieben haben, in dem es
- bezogen auf die Frage der Kernkraftwerke, die unter
Einsatz sowjetischer Technologie errichtet wurden und
internationalen Sicherheitsnormen nicht genügen heißt:
Sie einfach stillzulegen, wäre keine Lösung, denn
sie stellen nicht alle dasselbe Risiko dar, und die
Kosten für den Aufbau einer alternativen Energieversorgung wären äußerst hoch. Einige Bewerberländer haben bereits mit dem Bau neuer Kernkraftwerke begonnen, da sie dies als den kostengünstigsten Weg zur Deckung des wachstumsbedingt steigenden Energiebedarfs und zur Erreichung von Unabhängigkeit im Energiesektor ansehen.
Die Union steht unter dem Gebot des Schutzes von
Leben und Gesundheit ihrer jetzigen und künftigen
Bürger. Das bedeutet, daß die Bewerberländer uneingeschränkt an den Bemühungen mitwirken sollten, die Nuklearsicherheit in ihrem Land auf internationales Niveau zu bringen.
Genau das ist der entscheidende Punkt im Hinblick
auf Ihre Initiative: Man steht in der Ukraine doch nicht
am Beginn des Baus von zwei Kernkraftwerken, sondern mittendrin!
Es ist interessant, daß wir als Abgeordnete eine Einladung der Gesellschaft für Reaktorsicherheit zu einem
Seminar über Gesetzgebungsverfahren und Aufsicht auf
dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie mit
osteuropäischen Parlamentariern und Behörden bekommen und Sie zur gleichen Zeit alle Maßnahmen ergreifen, um in Osteuropa Sicherheit im Vollzug und im Betrieb von Kernkraftwerken zu gewährleisten.
({1})
- Natürlich ist das ein Widerspruch, und zwar insofern,
als Sie heute den Eindruck erwecken, als würden in der
Ukraine Kernkraftwerke gebaut, von denen ein besonderes Risiko für uns oder für die Ukrainer ausginge. Das
ist nicht der Fall.
({2})
Sie haben sich - ich meine das Dokument, das wir gestern auch im Ausschuß vorliegen hatten - der Europäischen Union angeschlossen, und Sie entziehen nicht nur
der Ukraine, sondern auch der internationalen Vereinbarung, die ja mit gutem Gewissen so verantwortet und
geplant worden ist, im Grunde genommen ein Stück des
Bodens, auf dem sie steht.
Es ist richtig, wenn der Bundeskanzler wie heute morgen auf die besondere Bedeutung der Ukraine hinweist.
Laut Berichten in der „Berliner Zeitung“ und im „Handelsblatt“ sowie nach dort zitierten Aussagen des Chefs
der Europäischen Entwicklungsbank hat der Bundeskanzler deutlich gemacht, daß die Verpflichtung zum Bau
der Kernkraftwerke in der Ukraine von der Bundesregierung eingehalten wird. Es wird noch eines klaren Wortes
der Bundesregierung bedürfen, denn nach dem deutschfranzösischen Treffen ist es in interessanter Weise zu
unterschiedlichen Darstellungen in der Öffentlichkeit gekommen: einmal seitens des Finanzministeriums und
einmal seitens des Bundesumweltministeriums. Wenn ich
richtig informiert bin, legen die Franzosen großen Wert
darauf, daß Deutschland in der einmal begonnenen Verantwortung bleibt und sich ihr nicht entzieht.
({3})
- Ach, wissen Sie, Ihre Vergleiche taugen nicht so
wahnsinnig viel, weil Sie letztlich auch an einem Punkt
sind - ich sage das unter Berücksichtigung manch anderer Diskussion, die wir in diesem Hause führen -, an
dem Sie über die Frage entscheiden müssen, was andere
Länder zu entscheiden haben und inwiefern wir darauf
Einfluß nehmen. Wenn Sie sich einmal den Anteil
Deutschlands an der Gesamtfinanzierung ansehen, dann
finde ich, daß der Deutsche Bundestag etwas zurückhaltender mit der Frage umgehen muß, ob er von sich
aus entscheidet, was in der Ukraine gebaut werden darf
und was nicht.
({4})
Denn wir haben es mit einem Land zu tun, in dem seit
noch nicht allzu langer Zeit in eigenständigen Parlamenten Entscheidungen zur Energiepolitik getroffen
werden können.
Die Frage von Gasreaktoren ist mit Sicherheit auch
unter psychologischen Gesichtspunkten eine Frage anderer Abhängigkeiten, als Sie sie für die Kernenergie hier
skizzieren.
Ich meine, daß es der Bundesregierung und auch diesem Hause gut ansteht, die der Ukraine gegebenen Zusagen nicht mitten in einem Verfahren zurückzuziehen,
deren Wirtschaftlichkeit und Finanzierbarkeit - wenn
ich das richtig sehe - durchaus noch geprüft werden; so
ist es ja nicht.
Ich plädiere namens meiner Fraktion dafür, daß wir
der Ukraine die Möglichkeit einräumen, selbst zu entKurt-Dieter Grill
scheiden, und dabei sicherstellen, daß das, was dann gebaut wird, so sicher ist, daß auch wir damit umgehen
können. Ich meine, dies ist der richtige Weg und nicht
die Art und Weise, wie Sie versuchen, auf die Dinge
Einfluß zu nehmen.
({5})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Michaele
Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur wenige
wissen, daß in Jugoslawien in der Nähe von Belgrad ein
Atomkraftwerk steht. Das ist eine weitere Sorge, die ich
mir mache, wenn ich an den Krieg denke.
Wir wissen nicht, wie die politische Situation in 10
oder 20 Jahren in der Ukraine sein wird. Das ist für mich
ein Grund, warum man in dieser Region keine Atomkraftwerke finanzieren sollte.
({0})
Es gibt einen zweiten Grund. Warum sollten wir
Atomstrom aus Kraftwerken russischer Bauart finanzieren, der auf Grund der Liberalisierung des Energiemarktes dann für 1,2 Pfennig nach Deutschland transportiert wird, wodurch deutsche Arbeitsplätze vernichtet werden? Das ist ein zweiter Grund.
({1})
Ich nenne einen dritten Grund. Diese Atomkraftwerke
sind nicht sicher. Herr Grill, Ihre Bundesregierung hat
Stendal mit dem Argument abgeschaltet, diese Technik
sei nicht akzeptabel.
({2})
- Sie haben auch Greifswald abgeschaltet.
Es wird, wenn dieser Plan umgesetzt wird, gravierende
Mängel im Feuerschutz, bei der Beständigkeit der
Druckbehälter und im Kontrollsystem geben. Das westliche technische Niveau, das auch noch keine Sicherheit
garantiert, aber auf jeden Fall besser ist, ist nicht gewollt. Es ist bei diesem Bau auch nicht möglich.
Hinzu kommt, daß den Arbeitern zum Teil monatelang kein Gehalt ausgezahlt wird. Das heißt, die Gefahr
menschlichen Versagens ist hier wesentlich größer als
anderswo.
({3})
Die Entsorgungsfrage ist ungelöst. Die Berge von
Plutonium wachsen an, wobei es eine Mafia gibt, die das
in aller Herren Länder verscherbelt.
Die Sicherheitsfrage ist auch ein Grund, warum man
dort keine AKWs bauen oder finanzieren sollte.
Monika Griefahn hat einen vierten Grund genannt: Es
ist auch billiger, wenn wir dort GuD-Kraftwerke oder
Energieeinsparungen finanzieren. Immerhin soll der
deutsche Bundesbürger ungefähr 3,5 Milliarden DM an
Steuergeldern aufbringen. Das sollte dann auch in einer
sinnvollen Weise verwendet werden.
Die Finanzierung von K 2 und R 4 widerspricht dem
Wortlaut des „memorandums of understanding“, weil es
eben nicht die finanziell günstigste Möglichkeit ist.
Das sind vier gute Gründe dafür, warum wir diesen
Antrag gestellt haben, vier gute Gründe, warum diese
Bundesregierung im Verhältnis zur alten Bundesregierung eine Kurskorrektur vornehmen sollte.
Weil wir so gute und überzeugende Gründe haben,
Herr Grill, kommen Sie jetzt nur noch mit Hilfsargumenten. Ich möchte zwei davon aufgreifen.
Das eine Argument ist - das haben Sie schon im Ausschuß und auch hier wieder angeführt -, wir greifen in
die Souveränität der Ukraine ein. Zunächst einmal
werden die Auswirkungen eines GAU auch unsere Souveränität beeinflussen; denn radioaktive Strahlen kennen
keine Grenzen, und auch wir werden die Folgen tragen
müssen.
({4})
Deswegen gibt es ja auch völkerrechtliche Verständigungen über die Sicherheit bei Atomkraftwerken und
dergleichen mehr.
Zweitens war es doch genau umgekehrt. Ich möchte
aus einem Brief des Präsidenten der Ukraine, Leonid
Kutschma, vom 11. Mai 1998 an Tony Blair zitieren, in
dem er - ins Deutsche übersetzt; er hat natürlich Englisch geschrieben - schreibt:
Das Vorhaben, diese Kraftwerke fertigzustellen,
wurde von den westlichen Partnern vorgeschlagen,
als Alternative zum ukrainischen Vorhaben eines
Gas- und Dampfturbinenkraftwerks bei Slavutic.
({5})
Genauso ist es. Sie haben in die Souveränität eingegriffen, indem Sie mit der Macht des Geldes die ukrainische Regierung dazu gezwungen haben, AKWs und
nicht ein GuD-Kraftwerk zu bauen. In der Ukraine sind
90 Prozent der Bevölkerung gegen AKWs. Nach den Erfahrungen von Tschernobyl ist das auch keine Überraschung. Auch die ukrainische Regierung wollte etwas
anderes. Sie haben als Gehilfe von Siemens mit der
Macht des Geldes die Ukraine dazu gezwungen. Das ist
ein Eingriff in die Souveränität. Wir kehren jetzt zu
einem offenen Verfahren zurück.
Ich komme zu Ihrem zweiten Hilfsargument. In Ihrem Antrag behaupten Sie, daß Trittin die Zusage für die
Mitfinanzierung des Sarkophags von Tschernobyl zurückziehen will. Die Vereinbarung über westliche Hilfe
für den Sarkophag des Unglücksblocks 4 von Tschernobyl steht aber in keinerlei Zusammenhang mit dem
„memorandum of understanding“ von 1995; vielmehr
beruht sie auf einem separaten Abkommen von 1997.
Zu keinem Zeitpunkt - das möchte ich hier ganz
deutlich betonen; ich habe mit Herrn Trittin telefoniert;
die Staatssekretärin sitzt dort und kann Ihnen das bestätigen - hat das BMU in Frage gestellt, daß der Sarkophag für den zerstörten Block 4 von Deutschland mit
finanziert wird - im Gegenteil. Das Memorandum sieht
nur die Schließung der Blöcke 1 bis 3 als Gegenleistung
für die Schaffung von Ersatzoptionen vor, egal ob es
sich um nukleare oder nicht nukleare handelt. Auch von
diesem Versprechen ist die Bundesregierung nicht abgerückt, und sie wird davon auch nicht abrücken. Deswegen ist Ihr Antrag eine absolut infame Unterstellung. Im
Namen der Bundesregierung, des Umweltministeriums
und unserer beiden Fraktionen weise ich sie entschlossen zurück.
({6})
Ich bin sehr froh über den Antrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Ich danke auch dem
Umweltministerium, dem Auswärtigen Amt, dem
Finanzministerium und auch dem Bundeskanzleramt,
daß sie bereit sind, in diesem Punkt mit uns zusammen
eine Kurskorrektur vorzunehmen. Es kommt jetzt sehr
viel Arbeit auf sie zu, weil es darum geht, diese Zielvorstellung auch diplomatisch umzusetzen.
Der Ukraine muß man die Sorgen nehmen, daß jetzt
nichts mehr finanziert wird. Man muß mit ihr als Partner
sprechen. Man muß mit den G-7-Staaten reden, so daß
sich die Position insgesamt ändert. Das wird nicht einfach sein, insbesondere deswegen, weil es parallel zum
Kosovo-Krieg und der geplanten Friedensinitiative geschehen soll, an der die Ukraine teilnehmen soll. Aber
ich glaube, es wird gelingen. Man muß dabei kein diplomatisches Porzellan zerschlagen. Ich habe zutiefst
Vertrauen in unsere Ministerien.
Diese Kurskorrektur war notwendig. Weitere Projekte
dieser Art stehen auf der Tagesordnung. Auch die werden wir hier diskutieren und konsequent verfolgen. Wir
haben die Möglichkeit, ein neues Kapitel internationaler
Energiepolitik aufzuschlagen und zu signalisieren, daß
es Alternativen zu diesen veralteten Technologien gibt.
Andere, neue Technologien sind preiswerter, umweltfreundlicher, beherrschbarer und gerade deshalb für einen weltweiten Einsatz geeignet.
Ich möchte auch meinen Kollegen von der SPD, Michael Müller, Monika Griefahn und Horst Kubatschka,
außerordentlich für diesen gemeinsamen Antrag danken.
Wir haben es wirklich gut gemacht.
({7})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulrike Flach
von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Frau Hustedt, ich muß Ihnen entschieden
widersprechen. Was uns mit dem Datum vom 20. April
in geradezu überfallartiger Form von Rotgrün auf den
Tisch geflattert ist, zeigt zum wiederholten Male, daß
sich diese Regierung in der Energiepolitik in die Isolation begibt.
({0})
Nachdem sich Herr Trittin mit Paris und London in
Sachen Wiederaufbereitung angelegt hat, will sich die
Regierung jetzt - auch da widerspreche ich Ihnen entschieden - aus dem Konsens der G-7-Staaten zur
Modernisierung der Kraftwerkstechnik in der Ukraine
verabschieden. Die PDS hat ihren Antrag wenigstens
rechtzeitig eingereicht. Aber, ehrlich gesagt, das ist
auch schon das einzig Positive, was ich daran finden
kann.
Sie sprechen selbst davon, daß die beiden Kraftwerke
fast fertiggestellt sind. In der Tat, sie sind zu 80 Prozent
fertig. Wenn Sie jetzt die Kredite zurückziehen, dann
wird das Projekt, genauso wie Sie es planen, scheitern.
Erklären Sie mir bitte einmal die Wirtschaftlichkeit des
Vorhabens, ein zu 80 Prozent fertiges Projekt abzubrechen und an seine Stelle den Neubau von Gaskraftwerken zu setzen!
Was kann geschehen? Die Ukraine wird bilateral mit
Rußland verhandeln, um kostengünstige Lösungen zur
Fertigstellung von K 2 und R 4 zu finden. Solche Verhandlungen, das wissen wir, finden bereits statt. Oder
Tschernobyl wird weiter betrieben, auch eine uns allen
sicherlich nicht sehr genehme Entwicklung. Kurz, mit
der Kündigung der Kredite erreichen Sie Ihr politisches
Ziel nicht; Sie brechen Verträge, schädigen die deutsche
Exportwirtschaft und machen die Bundesrepublik zu
einem unsicheren Kantonisten in einem europäischen
Konsortium.
({1})
Bei der Kreditvergabe, Herr Matschie, ist Deutschland
ja nicht alleine. Für die Modernisierung von K2 und R4
hat sich ein französisch-russisch-deutsches Konsortium
qualifiziert. Haben Sie, Frau Griefahn, mit Frankreich
und Rußland über das gesprochen, was Sie uns hier
heute vorlegen?
({2})
Sind diese Staaten bereit dazu oder gar begeistert von
Ihrem Vorschlag, Gaskraftwerke zu bauen? - Ich glaube
es nicht, Frau Hustedt.
Haben Sie einmal daran gedacht, welche Wirkung Sie
mit solchen Anträgen in der Ukraine erzielen? Wir binden diesen wichtigen Staat in europäische Programme
ein und brechen sie kurz vor Ende der Projekte wieder
ab. Wie können wir von anderen Staaten die erheblichen
Vorleistungen erwarten, die sie für einen EU-Beitritt
erbringen sollen, wenn Sie sich wie die Axt im Walde
aufführen?
({3})
Ich darf bei dieser Gelegenheit auch noch einmal an
die heutige Rede des Bundeskanzlers erinnern, in der er
die Ukraine erwähnt hat und darauf hingewiesen hat,
daß man partnerschaftlich mit ihr umgehen sollte. Er
endete mit Bezug auf die osteuropäischen Staaten:
Aber sie wollen und sie brauchen auch wirtschaftliche und soziale Stabilität.
Diese, das wissen wir alle, ist besonders von der Energieversorgung abhängig. Also: morgens schöne Reden
für die Medien und abends Anträge, die genau dieses
Ziel konterkarieren.
({4})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Sicherheit sagen. Frau Hustedt, Sie
versuchen K2 und R4 aus ureigenstem ideologischen
Interesse in die Nähe von Schrottkisten zu rücken, die
wir in Osteuropa mit wachsender Sorge beobachten.
Hier handelt es sich aber nicht um Schrott - da stimme
ich Herrn Grill zu -, sondern um Druckwasserreaktoren
modernerer russischer Bauart. Diese sind dem westlichen Sicherheitsniveau wesentlich näher, da können
Sie noch so leidend schauen.
({5})
Der Kredit, um den es hier geht, zielt darauf ab, die
Technik weiter dem westlichen Sicherheitsniveau anzupassen. Die ursprünglich vorgesehene russische Leittechnik soll durch moderne westliche Sicherheitstechnik
ergänzt und ersetzt werden. Das wissen Sie genauso gut
wie wir.
Auch die F.D.P. will keine Monostrukturen im Energiesektor - es kann nicht nur die Kernenergie geben, da
sind wir uns absolut einig -, sondern wir wollen einen
vernünftigen Energiemix, auch in der Ukraine. Mit Ihren
Anträgen schaden Sie allerdings diesem Ziel. Sie isolieren Deutschland weiter in der Energiepolitik, Sie werden
als Vertragspartner unberechenbar und schädigen die
deutsche Exportwirtschaft.
({6})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Eva-Maria BullingSchröter von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 26. April jährt
sich die Katastrophe von Tschernobyl. Heute haben wir
die Möglichkeit, durch die Annahme des Antrages von
SPD und Grünen, keine Kredite für den Export von
Atomtechnologie in die Ukraine bereitzustellen, ein Zeichen dafür zu setzen, daß es uns Ernst ist, aus der Atomkraft auszusteigen.
({0})
Nun soll man ja sein Licht nicht unter den Scheffel
stellen. Deshalb lassen Sie mich sagen: Ein wenig hat
natürlich die PDS schon mitgeholfen, daß heute das
Haus diese Debatte führt. Man braucht sich nur das Datum unserer Drucksache anzuschauen; Frau Flach hatte
das ja schon bemerkt.
Außerdem hatte ich schon im Herbst letzten Jahres
einen diesbezüglichen Brief an den damaligen Finanzminister Oskar Lafontaine geschrieben. Vielleicht sind
Sie aber auch den dankenswerten Appellen der NGOs
wie Urgewald und WEED gefolgt, die sich in dieser
Sache aktiv engagiert haben und immer noch engagieren. Nun gut, uns ist es lieber, wir stimmen einem
Antrag der Regierungskoalition zu, als daß diese einen
inhaltlich identischen Antrag von uns ablehnt.
Positiv festzuhalten bleibt: Offensichtlich sind Sie
noch nicht beratungsresistent; das läßt hoffen. Hoffen
wir, daß wir auch in Fragen des heimischen Atomausstieges weiterkommen.
Die PDS-Fraktion hat am Dienstag beschlossen,
einen Gesetzentwurf zur Beendigung der Wiederaufbereitung zum 1. Januar 2000 einzubringen. Die zeitliche
Nähe der Beratung zum christlichen Pfingstfest läßt
mich hoffen, daß Ihnen vielleicht der Heilige Geist
rechtzeitig in die Glieder fährt und wir auch dort zu
einem positiven Ergebnis kommen.
({1})
Nur eines darf nicht passieren: daß, während die Anträge im parlamentarischen Verfahren sind, anderweitig
Fakten geschaffen werden. Daher möchte ich schon die
öffentliche Zusage von Herrn Finanzminister Eichel einfordern, daß er sich auch ohne förmlichen Beschluß des
Hauses an die politischen Intentionen der Anträge gebunden fühlt. Ich erwarte hier eine Antwort.
Umweltminister Trittin hat sich am 15. April dazu
entsprechend erklärt. Er hat in einem Interview betont,
wir müßten für die Sicherung des Sarkophags in
Tschernobyl finanzielle Mittel bereitstellen und der
Ukraine und anderen Staaten bei der Lösung ihrer Energieprobleme helfen, ohne sie in die nukleare Sackgasse
zu führen, auch wenn wir Siemens das Geschäft vermasseln. Ich denke, das ist richtig. Es gibt Alternativen, wie
den Bau von Gaskraftwerken, die ökologisch vertretbar
sind, und es gibt auch in Osteuropa Potential zur Energieeinsparung und Effizienzsteigerung. Das ist der Weg,
den wir gehen müssen.
Noch ein Abschlußsatz zu Herrn Grill. Er sprach von
Souveränität; Frau Hustedt hat das schon aufgegriffen.
Ich würde mir wünschen, daß dieses Parlament die Souveränität anderer Länder, die Sie betonen, auch in anderen Fragen ernst nehmen würde,
({2})
zum Beispiel in der Frage des Krieges in Jugoslawien.
Noch ein Satz dazu: Es gab in der letzten Legislaturperiode eine Besprechung mit Vertretern des Umweltministeriums aus der Ukraine. Ich habe das schon im
Umweltausschuß berichtet. Sie waren einstimmig der
Meinung, daß sie alternative Energien wollen. Aber sie
haben aus eigener Kraft nicht die Möglichkeit, diese alternativen Energien zu finanzieren. Sie werden von den
großen Banken erpreßt; wir kennen das. Ich denke, mit
diesem Antrag ist ein Schritt in die richtige Richtung
gemacht. Deswegen plädiere ich für Zustimmung.
({3})
Als
letzter Redner hat das Wort der Kollege Horst Kubatschka von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe immer
gemeint, den Bayern obliege das Recht, auf den Putz zu
hauen. Aber Frau Kollegin Flach, Sie haben heute bewiesen, daß auch Sie das können.
({0})
Es sind schon große Worte, wenn Sie von überfallartigen Anträgen sprechen. Da muß ich Ihnen natürlich sagen, daß Sie offenbar nicht die Presseberichte der letzten
Zeit gelesen haben. Auch dort ist das die ganze Zeit diskutiert worden. Der Begriff Überfall klingt in diesem
Zusammenhang wirklich recht gewaltig. Kollege
Michael Müller hat mir gerade gesagt, er habe seit
Montag 1 200 Zuschriften zu diesem Thema bekommen.
Bei den Bürgern ist das Thema also angekommen, bei
Ihnen nicht.
Zu Ihnen, Herr Kollege Grill. Sie haben gesagt, von
den Kernkraftwerken in der Ukraine gehe kein besonderes Risiko aus. Das habe ich schon einmal gehört: vor
1986, vor Tschernobyl. Damals hat man gesagt: kein Risiko, vergleichbarer Standard wie bei uns. Dann ist der
Reaktorunfall in Tschernobyl passiert. Man sollte mit
diesen Argumenten doch etwas vorsichtig sein.
Wir Sozialdemokraten sind davon überzeugt, daß die
heutige Atomtechnik keine Zukunft hat.
({1})
Was wir nicht für zukunftsfähig halten, dürfen wir auch
anderen nicht finanzieren. Deswegen bitten wir die
Bundesregierung im vorliegenden Antrag, bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung darauf hinzuwirken, daß keine Kredite für die Atomkraftwerke K 2 und R 4 vergeben werden. - K 2 und R 4 sind
übrigens keine Kürzel für Berge und Automarken. Außerdem bitten wir die Bundesregierung, die Ukraine
beim Aufbau einer effizienteren und sichereren Energieversorgung ohne Atomkraft zu unterstützen.
Auf den außenpolitischen Hintergrund ist bereits
meine Kollegin Griefahn eingegangen.
Bei der Atomtechnik geraten wir in einen gewissen
Widerspruch. Auf der einen Seite steht die Souveränität
von Staaten, auf der anderen Seite stehen die grenzüberschreitenden Auswirkungen von GAUs. Seit Tschernobyl wissen wir: Sie sind europaweit.
Herr Kollege Grill, wir wollen nicht in das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine eingreifen. Wir wollen
vielmehr selbst bestimmen, was wir finanzieren und was
wir nicht finanzieren.
({2})
Die Ukraine befindet sich in einer schwierigen Situation. 44 Prozent ihres Strombedarfes werden durch
Kernenergie abgedeckt. Trotzdem ist die Bevölkerung
gegen Atomkraft. Die schlimmen Erfahrungen von
Tschernobyl wirken.
Die beiden Kernkraftwerke K 2 und R 4 sind zu 80
Prozent fertiggestellt. Schöne Bauhüllen! Die Befürworter eines Weiterbaus argumentieren, auch die restlichen 20 Prozent müßten noch geschafft werden. Dabei
wird übersehen, daß die Hauptmasse der Finanzierung,
nämlich über 3 Milliarden DM, jetzt erbracht werden
muß. Mit dem Bau der beiden Kernkraftwerke wurde in
den 80er Jahren begonnen. Nach Tschernobyl wurde der
Bau unterbrochen. Die lange Bau- und Stillstandszeit
wirkt negativ auf die Kernkraftwerke und deren Sicherheit.
Vor diesem Hintergrund ist jetzt noch - auch aus finanziellen Gründen - ein Umstieg möglich und vor allem sinnvoll. Es bestehen außerdem begründete Zweifel,
ob der in diesen Kernkraftwerken produzierte Strom in
der Ukraine überhaupt benötigt wird. Die Vermutung
liegt nahe, daß der dort produzierte Strom nach Westeuropa exportiert wird. Der würde dann zu Dumpingpreisen verkauft werden und unseren Standort gefährden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden jetzt
nach Alternativen fragen. Die Ukraine wollte eigentlich
eine Alternative - Frau Kollegin Hustedt hat darauf hingewiesen -: Sie wollte GuD-Kraftwerke. Diese Technik wäre billiger, zuverlässiger und vor allem sicherer.
Sie hätte auch den Vorteil, daß sie schrittweise ausgebaut werden könnte, wenn ein etwaiger Bedarf vorhanden wäre. Zwei große Kernkraftwerke von je 1 000 MW
sind in diesem Zusammenhang sehr unflexibel. Der Bau
bindet außerdem Finanzen, und zwar 3 Milliarden DM.
Dieses Geld fehlt beim Einstieg in eine andere Energieversorgung.
Nun noch zum Antrag der CDU/CSU: Nach Aussage
der CDU/CSU stehen die Reaktoren kurz vor ihrer
Fertigstellung. Das ist schlicht und einfach falsch. Die
Fertigstellung dauert noch mindestens bis zum Jahre
2004. Die Kernkraftwerke sind also kein Ersatz für
Tschernobyl.
In der Begründung des CDU/CSU-Antrages wird auf
die Sarkophag-Sicherung in Tschernobyl eingegangen. Ich muß sagen: Da bringen Sie zwei Probleme
durcheinander. Das ist ein ganz anderes Problem, dessen
Lösung wir auf internationaler Ebene angehen sollten.
Dies wäre viel wichtiger als der Weiterbau dieser beiden
Kernkraftwerke. Ich weiß, die Situation für die Bundesregierung ist schwierig: Die G-7-Staaten hatten zunächst
den falschen Weg eingeschlagen. Jetzt muß umgesteuert
werden.
Ich möchte zum Schluß noch auf zwei Punkte eingehen:
Erstens. Die Reaktoren wären in Westeuropa nicht
genehmigungsfähig. Sie würden bei uns nie gebaut werden.
Zweitens. Außer in Japan wird zur Zeit in keinem der
anderen G-7-Staaten ein neues Atomkraftwerk geplant.
Die meisten Industriestaaten verabschieden sich still aus
dieser nicht zukunftsfähigen Technik. Wir sollten sie in
der Ukraine nicht finanzieren.
Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.
({3})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/795, 14/708 und 14/819 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/795 soll zusätzlich an den Ausschuß für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt der heutigen
Sitzung, Tagesordnungspunkt 10, auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Evelyn Kenzler, Roland Claus, Wolfgang
Gehrcke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ({0})
- Drucksache 14/554 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({1})
Innenausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Frau Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten - noch verbliebenen - Damen und Herren!
Wie in der Begründung unseres Gesetzentwurfs näher
ausgeführt, drohen Schadensersatzansprüche von
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern des NSRegimes mit dem 13. Mai dieses Jahres zu verjähren.
Damit wäre den Betroffenen der Rechtsweg vor deutschen Gerichten verschlossen.
10 Millionen Frauen und Männer wurden vom HitlerRegime zu Zwangsarbeit ohne adäquate Vergütung und
unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen gezwungen. Der Hauptprofiteur war die deutsche Industrie, deren Reichsverband 1933 dem Nazi-Regime mit einer
Adolf-Hitler-Spende für die Sicherung der Wirtschaft
vor Störungen und politischen Schwankungen gedankt
hat. Es ist deshalb höchste Zeit, daß sich die an der
Zwangsarbeit beteiligte deutsche Wirtschaft sowohl zu
ihrer moralischen Schuld als auch zu ihrer finanziellen
Verantwortung bekennt.
({0})
Wir begrüßen die Stiftungsinitiative der deutschen
Wirtschaft, auch wenn diese für viele Opfer viel zu spät
kommt. Bisher gibt es hierzu jedoch mehr Fragen als
Antworten. Es ist äußerst fraglich, ob bis zum 1. September, dem 60. Jahrestag des Überfalls auf Polen, eine
für alle Betroffenen gerechte Lösung gefunden wird.
Seit der gemeinsamen Erklärung des Bundeskanzlers
und einiger Unternehmen vom 16. Februar sind bereits
zehn Wochen verstrichen, ohne daß konkrete Konturen
zu erkennen sind. Dies bestätigt auch die Antwort der
Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion. Darin heißt es unter anderem:
Die genaue Ausgestaltung der Stiftungsiniative
liegt jedoch naturgemäß, da es sich um ein freiwilliges Projekt handelt, maßgeblich in den Händen
derjenigen Unternehmen, die die Mittel zu ihrer
Finanzierung aufbringen werden. Daher kann die
Bundesregierung weder Angaben zum Einzahlungsschlüssel, zur Ausgestaltung der zu errichtenden Kontrollorgane noch zur Höhe der humanitären
Hilfsleistungen im Einzelfall machen. Entsprechendes gilt für den Zeitplan zur Errichtung der
Stiftungsinitiative.
Zur geplanten Bundesstiftung können ebenfalls keine Angaben gemacht werden, da die Initiative bei SPD
und Bündnis 90/Die Grünen liegt. Danach ist noch alles
offen. Man kann den Betroffenen jedoch nicht zumuten,
daß ihnen der Rechtsweg ohne die Sicherheit versperrt
wird, daß eine angemessene Entschädigung aus einem
noch nicht existenten Fonds fließen wird.
Viele der Betroffenen sind zur Zeit nach anfänglicher
Hoffnung extrem verunsichert. In einem Brief der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der
Antifaschistinnen und Antifaschisten“ an die Bundestagsabgeordneten aus Nordrhein-Westfalen zur ersten
Sitzung im Reichstag heißt es:
Unsere Organisationen stellen nun mit Sorge fest,
daß wieder Ruhe eingekehrt zu sein scheint und die
Schaffung der im Koalitionsabkommen versprochenen Einrichtungen für Entschädigung nicht vorankommt.
Es steht somit nach Auskunft der die Stiftungsinitiative begleitenden Bundesregierung noch nicht fest, ob
und, wenn ja, wann eine solche Stiftung wirklich ins Leben gerufen wird, wie die konkrete Ausgestaltung ausHorst Kubatschka
sieht, welche Gruppen von ehemaligen Zwangsarbeitern
davon erfaßt sein werden und welche nicht, und das zu
einem Zeitpunkt, an dem zu befürchten steht, daß die
Verjährungsfrist abläuft.
Diese Gefahr sehen auch die Betroffenen und ihre
Rechtsbeistände. Nicht umsonst wurden in den letzten
Wochen umfangreiche Klagen vor deutschen Gerichten
eingereicht. Wenn die Verjährungsfrist nicht geändert
wird, ist zu erwarten, daß bis zum 13. Mai viele weitere
solcher Klagen folgen werden.
Durch die vorgeschlagene Fristverlängerung kann
dieser unwürdige Zustand, daß die Opfer von Zwangsarbeit 54 Jahre nach Ende des Kriegs noch zum letzten
Mittel der Klage greifen müssen, vermieden werden. Eine solche Gesetzgebungsmaßnahme stört auch nicht den
Gang der Verhandlungen, sondern befördert ihn sogar.
Durch das Offenhalten des Rechtswegs werden die Betroffenen eben nicht gezwungen, überstürzt zu klagen.
Das ist für sie nach so langer Zeit mit erheblichen Kosten, einem großen Prozeßrisiko und viel unnötiger Aufregung verbunden. Bei einer angemessenen Entschädigung auf dem Stiftungswege werden sie deshalb nicht
zum letzten Mittel der gerichtlichen Geltendmachung
greifen. Es ist somit nicht zu befürchten, daß dann über
geleistete Zahlungen hinaus noch geklagt wird. Diese
Position teilen auch die Verfolgtenverbände.
Meine Damen und Herren, in Anbetracht unserer
Verantwortung den Opfern gegenüber und angesichts
der von mir geschilderten und weiterer Versäumnisse
hält es die Fraktion der PDS für erforderlich, den Tag
der Verjährung von Ansprüchen aus Zwangsarbeit neu
festzulegen. Der 8. Mai 2005, also der 60. Jahrestag der
Beendigung der nationalsozialistischen Herrschaft, wäre
dem politischen Gewicht der Angelegenheit angemessen.
Die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit und die Interessen der
Beteiligten bleiben gewahrt. Sie gebieten das Offenhalten des Rechtsweges für einen bestimmten, überschaubaren Zeitraum zugunsten eines Personenkreises, der im
NS-Staat maßlos entrechtet und von der Bundesrepublik
bislang vernachlässigt wurde.
Danke schön.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Joachim Stünker von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu später Stunde debattieren wir über
ein ernstes und wichtiges Thema. Ich hoffe, daß die leeren Reihen nicht gleichsam Synonym dafür sind, welche
Bedeutung das Hohe Haus diesem Thema in den nächsten Wochen und Monaten beimessen wird.
({0})
Meine Damen und Herren, den Opfern der NSGewaltherrschaft angemessene Entschädigungen zu gewähren bleibt die fortwährende Aufgabe auch des vereinigten Deutschlands.
({1})
Das gilt für die staatlichen Institutionen in besonderer
Weise; das gilt aber auch für die Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft.
({2})
Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen diese Aufgabe leisten. Es ist eine Aufgabe des gesamten deutschen
Volkes.
Wir müssen uns dabei auch immer wieder bewußt
machen - und gelegentlich vielleicht auch kritisch und
leise hinterfragen -, inwieweit begangenes NS-Unrecht
durch staatliches Handeln und normative Rechtssetzung
überhaupt jemals im eigentlichen Wortsinne wiedergutgemacht werden kann;
({3})
denn das Ausmaß der Verletzung der Würde des Menschen, seiner Freiheit und seiner persönlichen Integrität
läßt sich letztendlich nicht in geldwerter Entschädigung
ausdrücken oder gar aufwiegen.
Der Deutsche Bundestag diskutiert in diesen Wochen und auch heute abend, in welcher Form den Opfern des Holocaust mit einem in unserer wiedervereinigten Hauptstadt Berlin zu errichtenden Mahnmal
oder Denkmal auch für zukünftige Generationen würdig und bleibend gedacht werden kann. Da ist es, wie
ich meine, Aufgabe und Verpflichtung zugleich, zumindest den noch lebenden Opfern des NS-Unrechtsregimes für das erlittene Unrecht, für die massenhafte Verletzung ihrer Menschenwürde die Hilfe
zuteil werden zu lassen, die heute nach über 50 Jahren
menschlich noch möglich ist.
({4})
In der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen heißt es daher unter der Überschrift „Rehabilitierung und Entschädigung“:
Die neue Bundesregierung wird ... unter Beteiligung der deutschen Industrie eine Bundesstiftung
„Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“ auf den
Weg bringen.
Meine Damen und Herren, Sie können sicher sein: In
diesem Sinne werden die Koalitionsfraktionen in diesem
Hohen Hause auch initiativ werden.
({5})
Wir würden der Bedeutung dieser Aufgabe aber, wie
ich meine, nicht gerecht werden und es wäre völlig unangemessen und unzumutbar, wollte der Gesetzgeber die
heute noch lebenden Opfer von Zwangsarbeit in der NSZeit nunmehr auf das Zivilrecht und damit, Frau Kenzler, sozusagen auf die Rechtsordnung für den Normalfall
verweisen, das heißt verweisen auf die individuelle
Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche gegen die Firmen oder Privatpersonen bzw. deren Rechtsnachfolger,
die die Zwangsarbeiter seinerzeit beschäftigt haben.
Das durch Zwangsarbeit erlittene Unrecht kann nach
meiner Überzeugung nicht im Wege der zivilrechtlichen Subsumtion wiedergutgemacht werden. Bereits
die zivilrechtliche Analyse möglicher individueller Ansprüche zeigt, daß sich bei Anlegen normaler zivilrechtlicher Maßstäbe nicht sicher sagen läßt, ob und welche
Ansprüche auch nur dem Grunde nach gegen Unternehmen oder Privatpersonen bestehen, die Zwangsarbeiter
beschäftigt haben. Die Rechtslage ist insoweit äußerst
komplex. Das gilt sowohl für mögliche Ansprüche aus
Vertrag, Geschäftsführung ohne Auftrag, zivilrechtlicher
Aufopferung, Delikt oder ungerechtfertigter Bereicherung. Das gilt aber bereits ebenso für die Frage der zivilprozessualen Zulässigkeit derartiger Klagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst bei Annahme
zum Beispiel eines deliktischen Ersatzanspruches dem
Grunde nach: Wie sollte heute, nach über 50 Jahren, ein
deutscher Richter, der die NS-Zeit nur aus dem Geschichtsunterricht kennt, zum Beispiel bei der Prüfung
eines Schmerzensgeldanspruches der Höhe nach gemäß
§ 847 BGB im Einzelfall das Ausmaß des erlittenen Unrechts unter dem Gesichtspunkt der Genugtuungs- und
Ausgleichsfunktion unseres Schadensersatzrechtes angemessen abwägen? Dies ist insbesondere deshalb mit
unübersehbaren Problemen behaftet, da die Zwangsarbeiter in ganz unterschiedlichen Bereichen der Wirtschaft, der Landwirtschaft und selbst in privaten Haushalten eingesetzt worden sind.
Auch ihre Behandlung ist unterschiedlich gewesen.
Während Betroffene aus Westeuropa vergleichbare
Löhne wie Deutsche erhielten, bekamen insbesondere
Ostarbeiter keine oder nur geringe Bezahlung. Am
schlechtesten ging es den jüdischen Sklavenarbeitern.
Von ihnen sind die meisten in der Zwangsarbeit zu Tode
gekommen. Das heißt: Ersatzansprüche für die Abkömmlinge? Nach welchem Maßstab? Ich meine, ein für
die Opfer entwürdigender Vorgang; aber auch eine für
den zur Entscheidung berufenen Richter mit der erlernten Subsumtionstechnik kaum zu leistende Aufgabe. Zu
welch unterschiedlichen Einzelergebnissen würde es dabei von Gericht zu Gericht kommen! Auch dies ist eine
nicht zumutbare Folge der zivilrechtlichen Lösung.
Zudem kämen in einem Zivilrechtsstreit in vielen
Verfahren kaum lösbare Probleme der Beweisführung
und der Beweislast angesichts des Zeitablaufs von Jahrzehnten seit dem zu beurteilenden Sachverhalt hinzu.
Quälend lange Verfahren, womöglich durch mehrere Instanzen, wären die notwendige Folge. Es würde Jahre
dauern, bis sich eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung herausgebildet hätte. Diese Zeit ist nicht mehr gegeben, für die überwiegende Mehrheit der Opfer von
NS-Zwangsarbeit bereits auf Grund ihres Lebensalters
nicht mehr. Für die Bundesrepublik Deutschland ist diese Zeit über fünf Jahrzehnte nach dem begangenen Unrecht und dem Ende der NS-Diktatur aber gleichfalls
nicht mehr gegeben. Unser Ansehen würde national und
international Schaden nehmen. Die zunehmenden öffentlichen und politischen Reaktionen aus dem Ausland
sowie die in den USA vermehrt erhobenen Sammelklagen belegen dies mit Nachdruck. Im übrigen gibt es worauf Sie zu Recht hingewiesen haben - Sammelklagen zwischenzeitlich auch vor deutschen Gerichten.
Es ist daher zu meiner Überzeugung der falsche Ansatz, die angemessene Entschädigung von noch lebenden
Zwangsarbeitern aus der NS-Zeit unter dem Gesichtspunkt einer Sonderregelung über die Verjährung möglicher deliktischer Ansprüche von NS-Zwangsarbeitern zu
diskutieren, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, den die
PDS heute eingebracht hat.
Damit komme ich auch zu dem eigentlichen Inhalt
der uns vorliegenden Initiative der PDS-Fraktion. Durch
Ergänzung des § 852 Abs. 1 BGB sollen deliktische Ansprüche aus geleisteter Zwangsarbeit in Deutschland
bzw. des Einflußgebietes während des nationalsozialistischen Unrechtsregimes von 1933 bis 1945 unabhängig
von der dreijährigen Verjährungsfrist erst am 8. Mai
des Jahres 2005 verjähren. Hierdurch soll nach Auffassung der PDS, wie eben ausgeführt worden ist, der in
Kürze drohende Ablauf der Verjährungsfrist verhindert
werden. Aber bereits die Prämisse ist meines Erachtens
höchst zweifelhaft. Zum einen ist es der Systematik des
BGB fremd, innerhalb ein und desselben Anspruchstypus unterschiedliche Fallgruppen des Verjährungseintrittes zu begründen. Zum anderen: Entweder sind die
Ansprüche bereits verjährt, nämlich wenn die dreijährige
Verjährungsfrist gilt, oder aber, wenn die 30jährige
Verjährungsfrist gilt, wir haben, von 1990 an gerechnet,
bis zum Jahre 2020 Zeit.
Die Verjährungsfrist für Ansprüche aus unerlaubter
Handlung im Sinne des Gesetzesantrags zu verlängern
macht, wie ich ausgeführt habe, zudem nur Sinn, wenn
wir die Betroffenen wirklich auf den Zivilrechtsweg und
die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche verweisen wollten. Das kann, wie ich versucht habe auszuführen, jedoch nicht ernsthaft erwogen werden. Jedem Betroffenen würde ein quälender Zivilprozeß mit einem
unter Umständen völlig unbefriedigenden und unangemessenen - möglicherweise negativen - Ergebnis zugemutet. Ebenso würde den in Anspruch genommenen
deutschen Unternehmen und Privatpersonen über Jahre
ein nicht hinnehmbarer Zustand der Rechtsunsicherheit
zugemutet.
Aus diesem Grunde vermag die SPD-Fraktion dem
Gesetzentwurf der PDS nicht zuzustimmen. Es ist der
falsche Weg zu dem sicherlich gewünschten Ergebnis.
Es muß vielmehr unsere Aufgabe sein, eine Lösung zu
finden, bei der es auf die Zivilrechtslage und damit
letztlich auch auf die Verjährungsfrage überhaupt nicht
ankommt.
Nach meiner Überzeugung ist es daher die Aufgabe
dieses Hohen Hauses, neue, originäre Ansprüche jedes
Betroffenen für eine angemessene individuelle Entschädigung zu schaffen.
({6})
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt daher die diesbezüglichen Bemühungen der Bundesregierung, unter EinJoachim Stünker
beziehung deutscher Unternehmen eine Stiftungsinitiative „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ auf
den Weg zu bringen.
Diese Initiative der Wirtschaft versteht sich als unmittelbare gesellschaftliche Ergänzung zur staatlichen
Wiedergutmachungspolitik der vergangenen Jahre. Sie
soll Rechtssicherheit und Rechtsfrieden schaffen und
dazu beitragen, den Ruf und das Ansehen unseres Landes und der deutschen Wirtschaft zu schützen. Hiermit
müssen wir am Ende des Jahrhunderts gesamtgesellschaftlich ein abschließendes materielles Zeichen setzen,
ein Zeichen aus Solidarität, Gerechtigkeit und Selbstachtung.
({7})
- Wir sind ja dabei.
Mit dieser Stiftungsinitiative sollten drei Ziele verfolgt werden: erstens eine Antwort auf die moralische
Verantwortung aus den Bereichen der Zwangsarbeiterbeschäftigung zu geben, zweitens aus diesem Verständnis der NS-Vergangenheit humanitäre und zukunftsweisende Projekte zu fördern und drittens dadurch eine
Grundlage zu schaffen, um Klagen, insbesondere Sammelklagen, zu begegnen und Kampagnen gegen den Ruf
unseres Landes und unserer Wirtschaft den Boden zu
entziehen.
Diese Initiative könnte aus zwei gleichgewichtigen
Teilen bestehen. Der erste Teil ist ein humanitärer Fonds
zugunsten von ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen
NS-Geschädigtengruppen; der zweite Teil ist eine geeignete Zukunftsstiftung für Projekte, die eine Beziehung zur Veranlassung dieses Fonds haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte es zum
Abschluß noch einmal betonen: Die Zeit drängt. Auch
diese Initiative sollte mit Unterstützung des Deutschen
Bundestages - ebenso wie die Diskussion über das Holocaust-Denkmal - noch in diesem Jahr zu einem erfolgreichen Abschluß kommen, damit angesichts des hohen
Alters der Betroffenen noch in diesem Jahr schnell und
wirksam geholfen werden kann. Helfen können wir aber
in diesem Fall mit einer fragwürdigen Verlängerung der
Verjährungsfrist in § 852 BGB nicht. Die gesamte
Initiative dieses Hauses muß darauf gerichtet sein, mit
dazu beizutragen, den Opfern neue und, wie ich meine,
originäre Ansprüche zu verschaffen.
Schönen Dank.
({8})
Herr
Kollege Stünker, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten
Rede vor dem Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang
Götzer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Frage
der Entschädigung für Zwangsarbeit während des zweiten Weltkriegs beschäftigt den Deutschen Bundestag seit
vielen Jahren. So hat zum Beispiel auf Aufforderung des
Bundestags die Bundesregierung in der 11. Wahlperiode
über private Initiativen berichtet, die im Zusammenhang
mit Zwangsarbeit während des zweiten Weltkriegs
ergriffen wurden. In einer Entschließung vom 31. Oktober 1990 hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, zu prüfen, ob eine Fondslösung für
Entschädigungsleistungen an Zwangsarbeiter aus dem
zweiten Weltkrieg möglich ist, außerdem Kontakt mit
der Privatwirtschaft aufzunehmen und sie zu fragen, ob
sie zu solchen Leistungen bereit ist, und die Höhe der
benötigten Mittel festzustellen. Der entsprechende Bericht der Bundesregierung wurde am 21. Januar 1992
abgegeben.
In seiner Entschließung vom 24. Februar 1994 hat der
Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert,
umfassend über bisherige Wiedergutmachungsleistungen deutscher Unternehmen zu berichten, ferner alle
Unternehmen anzuschreiben, bei denen oder bei deren
Rechtsvorgängern Zwangsarbeiter beschäftigt worden
sind, und diese Unternehmen aufzufordern, nach Möglichkeiten zu suchen, eine der gegründeten Stiftungen
finanziell zu unterstützen. Dabei hat der Deutsche Bundestag seine Aufforderung an Bundesregierung und
Wirtschaft bekräftigt, daß insbesondere diejenigen Unternehmen der deutschen Wirtschaft, in denen oder in
deren Rechtsvorgängern Zwangsarbeiter tätig waren,
finanzielle Beiträge zu den gegründeten Stiftungen leisten sollten.
Die Bemühungen um eine Fondslösung sind, wie
jeder weiß, im vollen Gange, und ich hoffe, daß sie
möglichst bald zu einem zufriedenstellenden Abschluß
gebracht werden können. Denn wir alle sind uns einig,
daß diesen Menschen großes Unrecht zugefügt worden
ist, das mit Geld ohnehin nicht im eigentlichen Sinne
wiedergutzumachen ist.
Was den vorliegenden Antrag der PDS angeht, so
möchte ich hierzu folgendes feststellen: Der Antrag der
PDS beschränkt sich inhaltlich nur auf die Frage der
Verjährung nach § 852 BGB, also auf Schadenersatzansprüche aus unerlaubter Handlung. Eine solche Beschränkung ist für mich nicht nachvollziehbar. Denn Individualansprüche können sich auch aus anderen
Rechtsgründen ergeben, zum Beispiel zivilrechtliche
oder öffentlich-rechtliche Aufopferungsansprüche oder
Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung.
({0})
- Herr Kollege, das Stichwort Nachbesserung ist ja,
glaube ich, das meistgebrauchte Wort in dieser neuen
Legislaturperiode. Es steht Ihnen also nichts im Wege,
Ihren Antrag nachzubessern.
Rechtlich beruht der Antrag der PDS auf einer Mindermeinung in der Literatur, nach der die Verjährungsfrist des § 852 BGB durch die in der Nachkriegszeit
herrschende Rechtsauffassung gehemmt worden sei,
nach der individuelle Ansprüche von Zwangsarbeitern
ausgeschlossen waren: Die Gerichte haben damals, in
der Nachkriegszeit, Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter
unter Berufung auf § 5 Abs. 2 des Londoner Schuldenabkommens vom 27. Februar 1953 als „zur Zeit unbegründet“ abgewiesen. Die damals herrschende Meinung
vertrat die Ansicht, es sei völkerrechtlicher Grundsatz,
daß der aus Kriegs- und Besatzungshandlungen erwachsende Schaden nur durch Reparationen von Staat zu
Staat unter Ausschluß von individuellen Ansprüchen abzugelten sei. Deshalb - so die Mindermeinung - wäre
auf jeden Fall die Verjährung aus Rechtsgründen entsprechend § 202 BGB gehemmt gewesen.
Dies - so weiter die Mindermeinung - gelte aber nur
bis zur Verkündung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 1996. In dieser Entscheidung
das Bundesverfassungsgericht in einem obiter dictum
festgehalten, daß es keine Exklusivität zwischenstaatlicher Vereinbarungen zur Regelung von kriegsbedingten
Entschädigungszahlungen gibt, sondern daß Ansprüche,
die das deutsche Recht gewährt, daneben bestehen können.
Dieser Auffassung steht meines Erachtens jedoch
entgegen, daß § 202 BGB hier kaum anwendbar sein
dürfte. § 202 BGB betrifft die Hemmung der Verjährung
aus Rechtsgründen und beruht auf dem Gedanken, daß
die Zeit, während der der Gläubiger den Anspruch wegen rechtlicher oder tatsächlicher Hindernisse vorübergehend nicht geltend machen kann, bei sachgerechter
Interessenabwägung nicht in die Verjährungsfrist einbezogen werden darf. § 202 BGB greift auch dann ein,
wenn der Geltendmachung des Anspruchs ein vorübergehendes rechtliches Hindernis entgegensteht, das nicht
auf einer Einrede im technischen Sinn beruht. Hierbei
muß das rechtliche Hindernis aber auf seiten des
Schuldners vorliegen.
Zweifel an der Rechtslage oder eine anspruchsfeindliche ständige Rechtsprechung sind aber nach ganz herrschender Meinung keine Hemmungsgründe im Sinne
der §§ 202 oder 203 BGB, da ansonsten jede Änderung
in der ständigen Rechtsprechung auf längst abgeschlossene Sachverhalte zurückwirken würde und beispielsweise Ansprüche, denen eine unrichtige ständige Rechtsprechung entgegensteht, auf diese Weise praktisch unverjährbar wären. Schon aus diesen Gründen ist demnach der PDS-Antrag abzulehnen.
Im übrigen glaube ich - und auch da stimme ich mit
meinem Vorredner überein -, daß den Betroffenen mit
einer Fondslösung besser geholfen werden kann als mit
langwierigen, kostspieligen und juristisch äußerst komplizierten Gerichtsverfahren, die wir gerade diesem Personenkreis nicht zumuten sollten.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Winfried Nachtwei
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den
letzten Jahren haben wir als Bündnis 90/Die Grünen die
Verbände der Opfer massiv unterstützt, wenn sie in Klagen gegen Firmen oder die damalige Bundesregierung
ihre Ansprüche geltend machen wollten. Wie bekannt,
hat die alte Bundesregierung und zur damaligen Zeit
auch die deutsche Industrie nicht die notwendige Verantwortung für die Opfer übernommen. Das gilt für die
neue Bundesregierung nicht mehr.
Wir drängen bei der Industrie darauf, daß möglichst
schnell und unbürokratisch die dort früher eingesetzten
Zwangsarbeiter eine Entschädigung bekommen, und
zwar durch die Bildung eines Fonds, der möglichst eng
mit einer zweiten Initiative verkoppelt werden muß: mit
der in der Koalitionsvereinbarung festgelegten Bundesstiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit“.
Wir stehen seit vielen Jahren in engem Kontakt mit
den Verfolgtenverbänden in Deutschland, mit internationalen jüdischen Opferverbänden und auch mit Verfolgtenverbänden in Osteuropa sowie mit diplomatischen Vertretungen osteuropäischer Staaten.
Dabei ist deutlich geworden, daß wegen des hohen
Alters und der Armut vieler Opfer der folgende Grundsatz praktisch Allgemeingut ist: Wir dürfen die Opfer
nicht in neue juristische Verfahren mit ungewissem
Ausgang schicken, die über viele Jahre dauern und deren
Ende sie nicht mehr erleben werden. Und wir wissen,
daß viele Opfer die Kosten eines solchen Verfahrens
nicht tragen können.
Von daher haben die Opferverbände, insbesondere
wenn es sich um Initiativen aus Osteuropa handelte, die
Verfahren vor deutschen Gerichten vor allem als eine
Form der Öffentlichkeitsarbeit angesehen, um auf ihre berechtigten Anliegen aufmerksam zu machen. Das ist ihr
gutes Recht; wir unterstützen sie auch weiterhin dabei.
Wir haben sie auch in den letzten Jahren darauf aufmerksam gemacht, welche neuen, aber auch sehr begrenzten rechtlichen Chancen die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1996 eröffnet hat.
Allerdings haben wir den Betroffenen nie Illusionen
gemacht, daß sie im Prozeß auch Recht bekommen werden. Wer sich nämlich mit der komplizierten Materie
einigermaßen auskennt, der kann niemanden ermuntern,
einfach ein mal in einen solchen Prozeß zu gehen.
Wenn wir nun versuchten, das BGB so zu reformieren, daß die Verjährungsfrist verlängert wird, nährten
wir die Illusion, die Opfer würden auf dem Klageweg zu
ihrem Recht kommen, und das noch in einem überschaubaren Zeitraum. Wir sind da aber sehr skeptisch.
Die Industrie hat schon jetzt angekündigt, daß sie dann
den Instanzenweg beschreiten würde. Eine rechtskräftige Entscheidung über alle Instanzen wird nach bisherigen Erfahrungen fünf bis acht Jahre benötigen. Ob die
Opfer dies durchhalten, ist völlig offen.
Schließlich aber wollen wir der Industrie keinen
Vorwand dafür schaffen, nichts in den Industriefonds
oder in die Bundesstiftung zu zahlen. Dies würde unweigerlich passieren. Man würde wiederum sagen: Wir
warten ab, wie das Gesetz genau aussieht, für welche
Bereiche es paßt usw. Die Industrie würde wieder - so
auch die Äußerungen wegen der in den USA anhängigen
Verfahren - mit dem Argument kommen: Wir können
nichts in einen Fonds zahlen, wenn wir nicht wissen, ob
wir nicht zeitgleich auch noch verklagt werden. Genau
dieses Schlupfloch der angeblich notwendigen Rechtssicherheit wollen wir der Industrie nicht bieten. Auch wir
ärgern uns darüber, daß die deutsche Industrie mit diesem Argument offenbar nach wie vor hantiert, wenn es
um die in den USA anhängigen Klagen geht, für die übrigens die deutschen Verjährungsfristen überhaupt keine
Bedeutung haben.
Aus all diesen Gründen, und zwar ausdrücklich nur
zum Schutz der Opfer, haben wir den Weg der Bundesstiftung gewählt und drängen wir die Industrie zu
ihrem Fonds. Wir wollen die Opfer nicht weiter auf den
Klageweg verweisen und ihnen Illusionen über eine aussichtsreiche Gerichtsentscheidung machen. Wir wollen
eine politische Lösung, die die Verantwortung des Parlaments, der Bundesregierung, auch der Länder und
Kommunen sowie der Privatwirtschaft umfaßt. Deshalb
werden wir diesen Gesetzentwurf der PDS nicht unterstützen.
Nehmen wir hinzu, daß die PDS zum gleichen Thema
just vor einer Woche einen unausgereiften Gesetzentwurf - damals zum Einkommensteuergesetz - eingebracht hat, stellen wir ernsthaft die Frage, ob mit diesen
eilig eingebrachten Vorstößen die Initiative der deutschen Industrie und der Bundesstiftung torpediert werden sollen.
({0})
Die ehemaligen Zwangsarbeiter brauchen endlich
eine würdige und angemessene Entschädigung. Der Gesetzentwurf der PDS leistet dazu leider keinen konstruktiven Beitrag. Im Gegenteil!
Danke.
({1})
Als
letzter Redner hat der Kollege Rainer Funke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der PDS beschäftigt sich
zweifellos mit einem sehr ernst zu nehmenden Problem,
nämlich der Schadensersatzforderung für Zwangsarbeit
während des zweiten Weltkriegs. Dieses Problem ist
virulent geworden nicht nur durch einzelne Klagen früherer Zwangsarbeiter vor deutschen Gerichten - diese
sind in der Regel abgewiesen worden, zumindest in
zweiter Instanz -, sondern auch durch Sammelklagen
einiger Geschädigter in den USA. Es ist auch nicht abzuschätzen - auch das muß einbezogen werden -, in
welchem Verhältnis die Sammelklagen, möglicherweise
auch deren Erfolg, zu den späteren Regelungen in der
Bundesrepublik stehen werden.
Es ist zu begrüßen, daß diese Probleme 54 Jahre nach
Kriegsende gelöst werden sollen. Die PDS versucht dies
über die Verjährungsfrist. Ich glaube, daß der Weg der
Koalitionsfraktionen richtiger ist, nämlich die Lösung
über eine Bundesstiftung.
({0})
Dieses Problem auf die juristische und dann noch auf die
zivilrechtliche Ebene zu schieben, dürfte im Ergebnis wenig sachdienlich sein. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, daß eigentlich politische Problemstellungen
durch noch so gute Gesetze wohl kaum geregelt werden
können. Das sage ich auch ausdrücklich als Jurist.
Juristisch stellen sich nämlich so viele Fragen, daß
man sie in der Kürze der Zeit gar nicht lösen kann. Darauf hat der Kollege Stünker in seiner beachtenswerten
Rede zu Recht hingewiesen. Ich erspare mir, auf Ihre
Rede im einzelnen einzugehen, weil Sie, Herr Kollege
Stünker, fast alles aufgelistet haben. Ich möchte nur zusätzlich auf das Verhältnis zwischen Völkerrecht, insbesondere der Regelungen des Londoner Schuldenabkommens, und den zivilrechtlichen Ansprüchen der Betroffenen hinweisen. Man spricht ja von der Exklusivität
des Völkerrechtes. Dann stellt sich die Frage, inwieweit
das Zivilrecht noch betroffen sein kann. Muß es nicht
eine generelle Lösung der Kriegsfolgenregelung geben,
so wie es im Londoner Schuldenabkommen vorgesehen
ist? Auch mit dieser Frage müssen wir uns sicherlich in
dieser Legislaturperiode beschäftigen.
Die Anspruchsgrundlagen - vom Deliktrecht über das
Bereicherungsrecht bis hin zum Arbeitsrecht - sind so
umfangreich und so schwierig, daß ich nicht wage zu
beurteilen, wie die Gerichte in fünf, acht oder zehn Jahren entscheiden werden. Das ist in der Tat, Herr Kollege
Nachtwei, den Betroffenen auch nicht zuzumuten. Deswegen glaube ich, daß der gerichtliche Weg der falsche
Weg wäre. Insoweit schließe ich mich dem Kollegen
von der CDU/CSU-Fraktion an. Hier muß ein politischer
Weg gefunden werden. Diesen Weg werden wir gemeinsam in den Beratungen des Bundestags finden. Ich
hoffe, daß wir dann zu einer allseits befriedigenden Lösung gelangen werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/554 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 23. April 1999, 9 Uhr
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.