Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/19/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Sitzung ist eröffnet. Herr Bundespräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sir Norman Foster! Sehr geehrte Damen und Herren! Zur ersten Sitzung des Deutschen Bundestages im umgebauten Reichstagsgebäude in Berlin begrüße ich Sie alle sehr herzlich. Am 3. Oktober 1990 haben wir an diesem Ort die deutsche Einigung gefeiert. Am 4. Oktober fand in diesem Haus die erste Sitzung des gemeinsamen, des gesamtdeutschen Bundestages statt. Ein Jahr zuvor sind in Ostdeutschland wochen- und monatelang Hunderttausende auf den Straßen für Freiheit in einem geeinten Deutschland eingetreten. „Wir sind das Volk!“ - dieser Ruf ist Wirklichkeit geworden. Fast neun Jahre später zieht der Deutsche Bundestag in dieses Gebäude ein - eine notwendige und zwingende Konsequenz der deutschen Einheit. „Dem Deutschen Volke“ - diese Inschrift unter dem Giebelfeld des Westportals, die über Jahre hinweg eine leere Formel oder bestenfalls ein Versprechen war, steht nun wieder für den Anspruch an das Parlament und an jeden einzelnen von uns, den Auftrag unserer Verfassung zu erfüllen und uns ganz dem Dienst am Volk zu widmen. Die Parlamentarier des 12. Deutschen Bundestages haben sich nach einer denkwürdigen Debatte am 21. Juni 1991 für Berlin als wirkliche Hauptstadt und Sitz des gesamtdeutschen Parlaments ausgesprochen. Der Deutsche Bundestag hat damit ein Bekenntnis eingelöst, das er seit Jahrzehnten verkündet, beschlossen und zu keinem Zeitpunkt widerrufen hat. Am 30. Oktober 1991 entschied der Ältestenrat des Deutschen Bundestages dann, daß der historische Wallot-Bau als Sitz des gesamtdeutschen Parlaments wiederhergestellt und genutzt werden soll. Wir erinnern uns: In der Zwischenzeit ist vieles diskutiert worden. Alte Vorbehalte wurden ausgeräumt. Neue Ängste unserer Nachbarn vor einem wiederauferstandenen übermächtigen Deutschland kamen auf. Der Umzug wurde zeitweise zu einer reinen Kostenfrage degradiert. Selten zuvor wurde so viel über Kunst im und am Bau geredet. Das Gebäude verschwand für eine Woche unter den kunstvollen Hüllen Christos und wurde hinterher mit neuen Augen gesehen. Aus aller Welt strömten die Menschen in diese Stadt und konnten sich von einem neuen, heiteren Berlin überzeugen. Heute, am 19. April 1999, ist es soweit: Berlin ist von nun an die politische Metropole Deutschlands, das umgebaute Reichstagsgebäude ist ab heute Sitz des Deutschen Bundestages. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller Bedeutung dieses Tages für die deutsche Geschichte und für diese Stadt, bei allen unterschiedlichen Auffassungen sind wir uns einig, daß Berlin für Freiheit und Demokratie, für eine europäische Politik stehen wird. Wir wollen keine andere Republik, sondern einen möglichst unaufgeregten, geradezu selbstverständlichen Wechsel von Bonn nach Berlin. Auch nach diesem Umzug wird die Bundesrepublik der föderale, rechtsstaatliche und soziale Bundesstaat sein, der sich in Bonn über Jahrzehnte hinweg bewährt hat. ({0}) Arbeits- und Handlungsfähigkeit, Kontinuität und Verläßlichkeit, Lösung alter und neuer Probleme, Bewältigung von Erblasten und von neuen Herausforderungen - dies sind unsere Handlungsmaximen für Berlin. Politik wird von hier aus gewiß nicht bequemer oder gemütlicher werden. Die Menschen in Deutschland und in der Welt vertrauen aber darauf, daß wir die Chance der deutschen Einheit verantwortungsvoll für unser Land und für Europa wahrnehmen, daß wir die innere Einheit vollenden, daß wir den Wechsel nach Berlin nutzen und uns mit aller Energie den dringenden und so beschwerlichen Reformnotwendigkeiten stellen: Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, Reform des Sozialstaates, Steuerreform, Gesundheitsreform, Reform unseres Bildungswesens, Modernisierung des Staates, Verbesserung der Familienförderung. Der Herausforderungen sind genug, um von Berlin aus viele Neuanfänge zu wagen. Wir sollten aber trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, behutsam in der Wortwahl sein. In den letzten Monaten ist viel von der Bonner und der Berliner Republik geredet worden. Dabei - wir wissen es - schwingen Befürchtungen mit, die durch die kriegerischen Ausein2664 andersetzungen im Kosovo und die deutsche Beteiligung daran neue Nahrung bekommen haben mögen. Wer wollte bestreiten, daß wir es mit einem dramatischen Einschnitt in der deutschen Politik zu tun haben? Gibt es - so frage ich mich - einen mehr als zufälligen zeitlichen Zusammenhang mit dem Wechsel der deutschen Politik von Bonn nach Berlin? Ja, ich glaube, einen solchen Zusammenhang gibt es. Er ist von geradezu tragischer geschichtlicher Dialektik. Die Wiederkehr eines gesamtdeutschen Parlaments nach Berlin und der kriegerische Konflikt um das Kosovo haben eine gemeinsame Ursache: das Ende des Kommunismus. Es hat uns das Glück der deutschen Einheit beschert, aber eben nicht - wie es doch vieler Menschen Hoffnung 1989 und 1990 war - das goldene Zeitalter des Friedens, sondern neue, alte Gewalt. Aber man sage nicht, die Rückkehr von Parlament und Regierung nach Berlin sei die Rückkehr zu einer kriegführenden deutschen Politik, sei ein Rückfall in schlimmste deutsche Geschichte. Wer so polemisch redet, der hat nichts begriffen vom Epochenwechsel 1989/90, einem Epochenwechsel, der auch mittels der entschlossenen Friedfertigkeit der Akteure bewirkt wurde. Deren Ziel aber war die Erringung der elementaren Menschen- und Freiheitsrechte, die heute im Kosovo wieder auf schlimmste Weise verletzt werden. Auch die Entspannungspolitik Willy Brandts vor über 20 Jahren und der Helsinki-Prozeß waren erfolgreiche Versuche der Einmischung im Sinne der Menschenrechte, waren „humanitäre Interventionen“ unter den Bedingungen atomarer Hochrüstung. Soll jetzt wieder und weiter eine Nichteinmischungsdoktrin gelten - damals hieß sie Breschnew-Doktrin -, unter der gerade die Menschen und Bürgerrechtler im Osten Deutschlands und Europas gelitten haben? Nein, es ist nicht das Wiederanknüpfen an preußischdeutsche Großmachtphantasien, die den Weltfrieden bedroht haben. Nein, nicht gegen unsere Nachbarn, sondern mit unseren europäischen Nachbarn haben die Deutschen den schmerzlichen Entschluß gefaßt, sich an einer internationalen militärischen Aktion zu beteiligen, die keine Eroberungsziele hat, die auf nichts anderes zielt als darauf, dem Morden, der Vertreibung, der ethnischen Säuberung mitten in Europa Einhalt zu gebieten. Wer wollte bestreiten, daß dies eine Aktion mit hohem politischen wie völkerrechtlichen Risiko ist? Sie ist der schmerzliche Schlußstrich unter viele Fehler und Versäumnisse, die in den Jahren zuvor erfolgt sind. Nur und hier spreche ich mit Erhard Eppler, einem entschiedenen Verfechter der Friedensbewegung der 80er Jahre -: In einer wirklich tragischen Situation wird man durch Handeln wie durch Nichthandeln schuldig. Durch Nichthandeln hätten wir uns vermutlich ungleich schuldiger gemacht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir heute von unserem neuen Plenarsaal im Reichstagsgebäude Besitz ergreifen, ist eine kritische Innenansicht unserer eigenen Geschichte geradezu zwingend, eine Selbstvergewisserung darüber, welches historische Erbe wir gerade in diesem so umstrittenen Gebäude antreten. Wie häufig war von ihm als Symbol die Rede. Aber ein Symbol wofür? Für Preußentum? Für Wilhelminismus? Für das Scheitern der Weimarer Republik? Für Hitlers Diktatur? Für die Teilung und die Einheit Deutschlands? - Ich will dazu einige Antworten versuchen. Natürlich war der historische Reichstag kein preußisches Parlament. Er war bereits weit demokratischer als der Preußische Landtag. Das Wahlrecht machte keinen Unterschied mehr zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht galt für den Reichstag nicht. Aber dennoch ist nicht zu leugnen, daß der preußisch-militärische Geist im Jahr 1914 auch den Reichstag erfaßte und die Legende vom angeblichen Verteidigungsfall nahezu alle Abgeordneten veranlaßte, die Kriegskredite für den ersten Weltkrieg zu bewilligen. Doch es ist wiederum gerade Preußen, das zum festen demokratischen Bollwerk in der Phase der Weimarer Republik wurde. Es mußte 1932 als erstes „geschleift“ werden, bevor die Nationalsozialisten im Folgejahr ihre Machteroberung erfolgreich beenden konnten. Und der Wilhelminismus? Atmen nicht noch heute die Gemäuer dieses Hauses den Geist der wilhelminischen Epoche? Ist es nicht in seinem Gemisch unterschiedlicher Baustile, den Tilmann Buddensieg fast spöttisch den „synthetischen Reichsstil“ genannt hat, dieser Mischung von Formen der italienischen Hochrenaissance, des Neobarock und - mit der alten Kuppel der Kombination von Stahl und Glas geradezu ein bauliches Wahrzeichen dieser wilhelminischen Epoche? Immerhin: Die Grundsteinlegung im Jahre 1884 erlebte die Hammerschläge von Wilhelm I. und seinen Nachfolgern Friedrich III. und Wilhelm II. Die kritische Öffentlichkeit vermerkte damals, daß allzuviel Militär und kaum Parlamentarier an dieser Zeremonie teilgenommen hatten - welch ein Unterschied zu heute. Dennoch wäre es verfehlt, die Identifikation mit dem Wilhelminismus allzusehr zu strapazieren. Als der Bau in den 90er Jahren fertig wurde, nannte ihn der Kaiser öffentlich den „Gipfel der Geschmacklosigkeit“, kujonierte den Architekten Paul Wallot und gebrauchte in den Briefwechseln sogar den Begriff „Reichsaffenhaus“. Nein, sowohl das Gebäude wie das, was in ihm geschah, zielte bereits im Kaiserreich stärker in Richtung auf parlamentarische Demokratie als in Richtung auf einen restaurativen Absolutismus. In Debatten um die Kolonialfrage oder um den Schlachtflottenbau, über die, wie es damals hieß, „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ oder über die Friedensresolution 1917 stritten auf der rechten wie der linken Seite des politischen Spektrums so hervorragende Redner und Parlamentarierer wie Rudolf von Bennigsen, Eugen Richter, Wilhelm von Kardorff, Ludwig Windthorst, Matthias Erzberger, August Bebel oder Friedrich Ebert. Aber weil es dem Reichstag des Kaiserreiches nicht gelang, Verfassungsänderungen in Richtung auf erweiterte Parlamentsrechte durchzusetzen, war es geradezu folgerichtig, daß der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 von einem Fenster dieses Hauses aus die Republik ausrief. Und wie selbstverständlich hielten auch zunächst die Arbeiter und Soldatenräte ihre Sitzungen im von ihnen besetzten ReichsPräsident Wolfgang Thierse tagsgebäude ab. Endlich galt nun nach 1919 überall in Deutschland das gleiche Wahlrecht für Frauen. Das Reich erhielt eine demokratische Verfassung. Es waren übrigens die drei Parteien, die die Friedensresolution im Kriegsjahr 1917 verfaßt hatten, die jetzt die die Weimarer Republik tragenden Parteien wurden: die Liberalen, das Zentrum, die Sozialdemokraten. Der Reichstag wurde also der Ort der parlamentarischen Auseinandersetzung. Und hier fanden die Trauerfeiern statt für den ermordeten Walther Rathenau 1922, für den verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, für Außenminister Gustav Stresemann. Ab jetzt also der Reichstag als Ort eines ungetrübten Parlamentarismus? Bedauerlicherweise ist auch hier die historische Wirklichkeit schwieriger. Bereits nach den Wahlen von 1920 machte das Wort von der „Republik ohne Republikaner“ die Runde. Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre läutete den Untergang dieser ersten Demokratie auf deutschem Boden ein. Golo Mann hat den Vorgang für das Parlament anschaulich so beschrieben: Der rasende Verfall begann, als, September 1930, die nationalsozialistische Fraktion von 12 Mitgliedern mit einem Schlag auf 107 anwuchs. Nun brachen alle Furien des Hasses ein in den Kuppelsaal … Der Reichstag hörte zu funktionieren auf: Pandämonium, in dem die Stimme der Mitte, der altmodischen, der zur Arbeit, zur wechselseitigen Achtung … Mahnenden verklangen, wie Stimmen der Vernunft im Irrenhaus. Die Totengräber der Demokratie hatten die deutsche Öffentlichkeit über ihre Ziele nicht im unklaren gelassen. Bereits 1928 hatte Joseph Goebbels freimütig bekannt: Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache … Wir kommen als Feinde! Und noch im August 1932 zerstreute er letzte Zweifel und Illusionen darüber, wie ernst man es meinte: Haben wir die Macht, dann werden wir sie nie wieder aufgeben, es sei denn, man trägt uns als Leichen aus unseren Ämtern heraus. Trotzdem: Es ist eines der hartnäckigsten und dümmsten Vorurteile, das sich mit diesem Gebäude, in dem wir heute tagen, verknüpft: daß es als Symbol für den nationalsozialistischen Ungeist, seinen Rassenwahn und seine Kriegspolitik stehe. Nichts davon ist wahr. Adolf Hitler hat in diesem Gebäude nie als Parlamentarier gesprochen. Es mußte fallen, es mußte brennen, bevor die NS-Machthaber ihre „deutsche Herrenmoral“ an die Stelle der angeblichen „Mitleidsmoral“ des demokratischen Parteienstaats setzen konnten. Otto Wels hielt seine bewegende und bis heute aufrüttelnde Rede gegen das Ermächtigungsgesetz nicht mehr im Reichstagsgebäude, sondern gegenüber, in der Kroll-Oper. Den Kommunisten waren einfach die Mandate aberkannt worden; viele von ihnen wie auch manche sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete befanden sich bereits in sogenannter Schutzhaft. Der Satz „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ steht bis heute für den Mut der einzigen Oppositionspartei, der Sozialdemokraten, die in dieser Stunde den nationalsozialistischen und deutschnationalen Machthabern widerstanden und gegen das Ermächtigungsgesetz und damit die Selbstaufgabe des Parlaments stimmten. Hitlers Appell an den Deutschen Reichstag ich zitiere -, „uns zu genehmigen, was wir auch ohnedem hätten nehmen können“, demonstrierte zugleich die Ausweglosigkeit der Lage bereits zu diesem Zeitpunkt für alle Parlamentarier. Gleichwohl wollten auch die Nazis nicht ganz auf die Symbolkraft dieses Gebäudes verzichten. Nach notdürftiger Teilrestaurierung wurden während der Olympischen Spiele 1936 Führungen für ausländische Besucher durchgeführt. Die Nazis hatten die Schamlosigkeit, in diesen Räumen Ausstellungen wie zum Beispiel „Der ewige Jude“ oder „Bolschewismus ohne Maske“ zu zeigen und - bezeichnenderweise am fünften Jahrestag des Brandes - die Ausstellung über „Entartete Kunst“ hier zu eröffnen. Im Mai 1945 war es für die siegreiche sowjetische Armee ganz selbstverständlich, ihre rote Fahne hier und nicht auf dem Gebäude der nationalsozialistischen Machtzentrale, der Reichskanzlei, zu hissen. Das Reichstagsgebäude hat den Krieg überdauert. Wie ein Mahnmal stand es nun, insbesondere nach dem Bau der Mauer, fast Wand an Wand mit dieser künstlichen, gewaltsamen innerdeutschen Grenze. Schon durch seine Höhe war es und blieb es unübersehbar, auch wenn die beschädigte Kuppel aus Sicherheitsgründen abgetragen werden mußte. Für mich, der im anderen Teil der Stadt lebte, war der Reichstag ein Symbol für das ungelöste Problem der deutschen Teilung. Gut sichtbar über die Mauer hinweg, blieb er ein Blickfang, war Objekt, steinernes Symbol der Sehnsucht nach einem geeinten Deutschland, in dem Demokratie, Frieden, Freiheit des einzelnen und soziale Gerechtigkeit gemeinsam ihre Heimat haben. Und heute, liebe Kolleginnen und Kollegen? Heute haben wir eine Reihe gewiß schwieriger Probleme, die wir uns - jedenfalls viele von uns - während der Teilung und des kalten Krieges immer gewünscht haben: nämlich die Probleme der deutschen Einigung. Insofern hat sich viel geändert. Voraussetzung dafür war, daß ein Teil Deutschlands, daß die Ostdeutschen in einer gelungenen friedlichen Revolution den Wandel von der Diktatur zur Demokratie geschafft haben. Es ist dies das erste Mal in der deutschen Geschichte, daß ein solcher Wandel von innen heraus, aus eigener Kraft, in einer friedlichen und revolutionären Aktion gelungen ist. Es ist auch das erste Mal, daß Deutschland seine territoriale Gestalt im Einklang, also mit dem Einverständnis seiner europäischen Nachbarn gefunden hat. An dieser Stelle Präsident Wolfgang Thierse halte ich es für meine Pflicht - das kommt von Herzen -, der damaligen Bundesregierung und ihrem Kanzler Helmut Kohl ausdrücklich für diese historische Leistung zu danken. ({1}) Dieser doppelten, historisch neuartigen Situation verdanken wir die Möglichkeit, Berlin wieder zum Sitz von Parlament und Regierung, also tatsächlich zur Hauptstadt machen zu können. Demokratisches Engagement der Bürger und gutnachbarschaftliche Verständigung haben diese Möglichkeit geschaffen. Damit symbolisiert der Umzug des Parlaments von Bonn nach Berlin zweifellos etwas Neuartiges, zugleich erfreulich Zivilisatorisches in der deutschen Geschichte. Ich jedenfalls finde, dieses neue Moment unserer Geschichte verweist zugleich auf Traditionen, die in den letzten 50 Jahren erst wirklich die deutsche politische Kultur prägen konnten. An diesen Traditionen müssen wir festhalten. Ich beginne mit einer Überzeugung, die seit dem 8. Mai 1945 in beiden Teilen Deutschlands gleichermaßen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise gewonnen worden ist: dem Antifaschismus und einem unaufgeregten, unpathetischen Verhältnis zur eigenen Nation. Natürlich bestreite ich nicht, daß dieser gesamtdeutsche Neubeginn Ausgangspunkt sehr verschiedener Wege geworden ist. Im Westen gab es neben dem Antifaschismus auch Verdrängung des deutschen Nationalsozialismus. Andererseits aber war die Konsequenz klarer und eindeutiger; sie hat im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ihren unhintergehbaren Ausdruck gefunden: Eine stabile, auf die Menschenrechte gegründete Demokratie sollte jeder Form von Diktatur den Boden entziehen. Die DDR setzte dagegen einen anderen Akzent, der es zuließ, erneut eine Diktatur zu errichten, eine Diktatur zur Verhinderung des Kapitalismus, der in erster Linie für Faschismus und Nationalsozialismus verantwortlich gemacht wurde. Viele wußten von Anfang an, daß dies ein Irrweg war, viele begriffen es im Laufe der Jahre, manche erst nach dem Mauerbau, andere noch später, und einzelne scheinen es noch immer nicht begriffen zu haben. Daß der sowjetisch dominierte Sozialismus ein folgenreicher diktatorischer Irrweg war, der zudem auch ökonomisch funktionsunfähig blieb, kann aber heute nicht mehr ernsthaft bestritten werden. Für mich persönlich wiederhole ich: Die Einheit Deutschlands war mir kein nationales, sie war mir stets ein antitotalitäres, ein freiheitliches, ein demokratisches Ziel. Als zweite Tradition, der ich Kontinuität wünsche, nenne ich das Streben nach sozialem Ausgleich. Wir haben in der DDR durchaus auch positive Gleichheitserfahrungen gemacht, die man nicht geringschätzen sollte. Aber eine Gleichheit, die alle in eine bestimmte Schablone pressen, paßförmig für eine einheitliche Ideologie machen will, meine ich natürlich nicht. Die Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichstellung von Mann und Frau, die Mühe um Chancengleichheit, gleiche Würde und gleiche Freiheit ungeachtet der Herkunft, der Rasse, der Religion oder des Geschlechts - das ist die Gleichheit, die ich meine. Sie ist durchaus gefährdet nicht nur im Kosovo, sondern auch hier in Deutschland, zum Beispiel bei jedem tätlichen Angriff, jeder Diskriminierung gegen Menschen, die nichts weiter getan haben außer anders, südlicher, fremdländischer auszusehen, als manche Rechtsextremisten das für angemessen oder typisch halten. ({2}) Die dritte Tradition, die ich erwähnen möchte, ist die der guten Nachbarschaft, des Interessenausgleichs mit den anderen Völkern und Staaten, die unbedingte europäische Orientierung der Zusammenarbeit und Integration und der Fortentwicklung der Europäischen Union, die sich nicht mehr nur auf den ehemaligen Westen Europas beschränkt. Das sind nicht alle, aber das sind mir besonders wesentliche politische Traditionen, die auch und vor allem am Parlaments- und Regierungssitz Bonn entwickelt und in Verträge und Gesetze gegossen worden sind. Unsere Zukunft hängt von diesen Prinzipien ab. Es sind Prinzipien, die zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland gehören. Wir sollten an dieser Kontinuität festhalten, statt unsere Zeitrechnung künstlich in eine angebliche Bonner und eine angebliche Berliner Republik aufzuteilen. ({3}) Meine Damen und Herren, ja, das Reichstagsgebäude ist ein Symbol, aber kein eindeutiges. Es ist ein Symbol für all die Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten in der deutschen Geschichte, die wir nur als solche und als Ganzes annehmen können. Indem wir, der 14. Deutsche Bundestag, künftig an diesem Ort tagen, machen wir deutlich, daß wir uns dieser Verantwortung und Aufgabe bewußt sind. Alle Debatten, die auf Schlußstriche unter die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts zielen, werden an diesem Ort ad absurdum geführt. Dieser Ort ist Geschichte, er läßt keinen Austritt aus ihr zu, er läßt keinen Schlußstrich zu. Aber er mahnt uns auch, Lehren zu ziehen. Geschichte ist mehr als nur Objekt für neugierige Rückblicke. Die erste, ganz zentrale Lehre, hat der verehrte Kollege Helmut Kohl in seiner damaligen Funktion als Bundeskanzler 1983 präzise und treffend so charakterisiert: Das eine bleibt uns als Mahnung festzuhalten, daß die Republik jeden Tag neu erworben werden muß, weil die politische Kultur der Freiheit sich nicht von selbst versteht. Herr Kollege Kohl, ich bin Ihnen für diese Worte sehr dankbar. Und ich würde mir wünschen, daß wir diese Mahnung als gemeinsamen Auftrag für dieses ganze Haus verstehen, daß wir durch die Art unserer Debatten und Auseinandersetzungen, durch die Kultur unseres Streits täglich die Überlegenheit der Demokratie unter Beweis stellen, damit totalitäre Ideologen und Demagogen in Deutschland nie wieder eine Chance bekommen. ({4}) Präsident Wolfgang Thierse Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute hat das stabilste und selbstbewußteste Parlament, das wir jemals in Deutschland hatten, jenes Gebäude bezogen, das unübersehbar der Vergangenheit entstammt, aber gleichermaßen bereit ist für eine zukunftsgerichtete Politik nach innen wie nach außen. Es ist an uns Parlamentariern, diesem Bauwerk viele neue Bausteine an guter demokratischer Politik hinzuzufügen. Die fruchtbare Verbindung zwischen Alt und Neu, zwischen Vergangenheit und Gegenwart - wir haben es gesehen und bestaunt, vielleicht auch ein bißchen bewundert - gilt insbesondere für die Architektur. Daß das Haus mit seinen inneren und äußeren Strukturen den Erwartungen gerecht werden kann, daß seine Ausmaße und Baumassen den Eintretenden aufnehmen statt abschrecken, ist dem Architekt, Sir Norman Foster, zu verdanken. Er hat mit seinem Konzept eines Neubaus von Plenarsaal und Kuppel innerhalb der historischen Ursprungsarchitektur eine gelungene Synthese geschaffen. Sie spiegelt die Geschichte dieses Hauses und seiner Gegenwart und Zukunft mit den Mitteln der baulichen Gestaltung wider. Er hat Geschichte sichtbar gemacht, aber er ist nicht dort verharrt. Gleichermaßen hat er Raum für die demokratischen Strukturen einerseits und für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments andererseits geschaffen. Dafür ist Sir Norman Foster von dieser Stelle aus herzlichen Dank zu sagen. ({5}) Mein besonderer Dank gilt aber auch meiner Vorgängerin, Frau Professor Rita Süssmuth, die mit unermüdlicher Energie die Realisierung dieses Umbauprojektes vorangetrieben hat. Wir verdanken ihr, daß dieses Haus so schön geworden ist und so gut für unsere parlamentarischen Zwecke paßt. Herzlichen Dank, Frau Süssmuth. ({6}) Unser Dank sollte aber auch der Baukommission, ihren Mitgliedern und ihrem Vorsitzenden, dem Kollegen Dietmar Kansy, gelten. Er hat die schwierige Arbeit, die Planungsarbeit in vielfältigen Entscheidungen begleitet. Herzlichen Dank für diese wichtige Arbeit in unser aller Namen. ({7}) Wir sollten selbstverständlich alle diejenigen in unseren Dank einschließen, die - sei es als Bauarbeiter oder Ingenieurin, sei es als Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter der Verwaltung des Deutschen Bundestages - zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben. ({8}) Der Architekt des deutschen Parlaments stammt nicht aus Deutschland. Man muß es erwähnen. Auch das ist - nebenbei, aber nicht unwichtig - eine Geste der Dankbarkeit an die Europäer, die die Einheit unseres Landes mitgetragen, mehr noch: unterstützt haben. Europa wird auch eine der zentralen Botschaften sein, die vom politischen Berlin ausgehen wird. War vor einem Jahrzehnt, als die alten Ost-West-Strukturen aufbrachen, die Zukunft Europas noch ungewiß, so ist der europäische Weg heute, am Ende dieses 20. Jahrhunderts, eindeutig: Die deutsche Frage, ein stetiger Risikofaktor im europäischen Staatensystem, ist gelöst, eine Rückkehr zur Großmachtpolitik undenkbar. Deutschland hat nicht nur seinen Platz in Europa gefunden, sondern gestaltet dieses Europa aktiv mit. Daran haben viele, sehr viele mitgewirkt: von Konrad Adenauer über Ludwig Erhard bis zu Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Sie alle nenne ich nur stellvertretend. Deutschland hat zusammen mit seinen Nachbarn die europäische Integration dynamisiert und die europäische Währungsunion mit vollen Kräften unterstützt - trotz großer Widerstände und Bedenken und im Wissen um die Stärke der eigenen Währung und der damit verbundenen Risiken. Wir Deutsche haben erfahren, was ein geteiltes Land bedeutet. Deshalb sind wir auch in der besonderen Verantwortung, unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa auf ihrem Weg in die Europäische Union zu unterstützen. Wir wollen nicht nur ihre Verbündeten in der NATO, sondern auch in der Europäischen Union sein. Damit dies gelingt und vor allem auch auf Dauer Bestand hat, brauchen wir beides: die Erweiterungsfähigkeit der Union und die Beitrittsfähigkeit der zu integrierenden Länder. An beidem wird derzeit hart gearbeitet. Es ist ein gutes Ergebnis in diesem Prozeß, daß ausgerechnet während der deutschen Ratspräsidentschaft und dazu noch hier in der Stadt Berlin der entscheidende Durchbruch zur Verabschiedung der Agenda 2000 gelungen ist. Sie schafft erst die Voraussetzung dafür, daß der europäische Integrationsprozeß in Richtung Mittelund Osteuropa fortgesetzt werden kann. Entscheidend für die europäische Einigung wird aber sein, ob die Bürgerinnen und Bürger von diesem Europa überzeugt und für dieses Europa bereit sind. Dies wird ohne eine Verstärkung der demokratischen Strukturen, ohne eine dringend notwendige Entflechtung der Verfahrensabläufe auf der einen Seite und ohne die Toleranz für andere Kulturen und Lebensentwürfe auf der anderen Seite nicht möglich sein. Probleme und Rückschläge gehören zu diesem Prozeß dazu. Gerade wir Deutschen haben diese Erfahrungen hautnah bei der deutschen Einheit gemacht. Wie schwierig das Zusammenwachsen eines über Jahrzehnte hinweg geteilten Landes mit konträren Gesellschaftsstrukturen ist, wurde vielen von uns erst nach und nach deutlich. Über Jahrzehnte hinweg wurde das Ideal der deutschen Einheit niemals aufgegeben. Es war zwar Vision, aber keine Utopie. Mit Zuversicht haben viele, sehr viele daran festgehalten. Heute - fast zehn Jahre nach dem Fall der Mauer leben wir in mancher Hinsicht noch immer in zwei Gesellschaften. Wir haben erkennen müssen, daß die Höhe der finanziellen Transfers, die Anzahl der Autobahnen und Telefonleitungen, die Größe der Kaufhäuser und ihrer Angebote - so begrüßenswert, so dankenswert all diese materiellen Leistungen und Fortschritte sind eben noch nicht selbstverständlich und garantiert eine gemeinsame Identität schaffen. Präsident Wolfgang Thierse So konnten erneut wechselseitig Ressentiments zwischen Ost- und Westdeutschen wachsen. Für die einen wurden die Westdeutschen zu „hochnäsigen Kolonialherren“, für die anderen die Ostdeutschen zu „undankbaren Jammerlappen“. Fehlverhalten hier wie dort wird zum Bild für das Ganze überhöht und für Feind- und Klischeebilder benutzt, deren Realitätstauglichkeit sich allenfalls im Bestätigen von Vorurteilen erweist. Immer noch zu oft neigen wir dazu, das Leben in dem anderen System nach eigenen, nach oberflächlichen Maßstäben einzuordnen. Das ist bequem; aber es erzeugt Vorurteile und Vorbehalte. Warum respektieren wir nicht die Menschen mit ihren unterschiedlichen Biographien? Warum gestehen wir nicht anderen das zu, was wir selbst von anderen erwarten, nämlich Verständnis und Toleranz? Dazu gehört vor allem, einander ohne Ängste, Mißtrauen und vorgefertigte Meinungen zu begegnen, uns unsere unterschiedlichen Erfahrungen zu erzählen, aber auch zuzuhören. Nur so gelangen wir zu wirklicher Solidarität, einer Solidarität, die die innere Einheit vollendet. Nur so verstehen wir auch die unterschiedlichen Dimensionen gleicher Sachverhalte. Natürlich ist Arbeitslosigkeit für jeden einzelnen, für jede Familie in West wie in Ost eine schwer erträgliche Belastung und Zumutung. Gleichwohl ist die Herausforderung wie die Katastrophe für jeden Ostdeutschen ungleich größer, weil im System der DDR wenigstens die Sicherheit des Arbeitsplatzes unverrückbar garantiert zu sein schien. Auch der Gebrauch von und der Umgang mit Freiheit will gelernt sein. Für die Westdeutschen ist es die in einem langen Prozeß erlebte Erfahrung, daß sie mit ihren Möglichkeiten und Chancen zugleich auch immer die Kehrseite von Risiken und Unsicherheiten in sich birgt. Für die Ostdeutschen waren die Freiheit der Rede und die Möglichkeit, frei zu reisen, verständliche Objekte der Sehnsucht. Aber nun müssen sie erst lernen, daß grenzenlose Freiheit auch Bindungslosigkeit bedeuten kann, daß frühere Sicherheiten verlorengehen. So wird nun Freiheit häufig weniger als Chance denn als Last empfunden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Umzug von Bonn nach Berlin rücken wir genau an die Nahtstelle dieses noch offenen Prozesses des Zusammenwachsens. In keiner anderen Stadt Deutschlands werden die Defizite, die besonderen Empfindlichkeiten, aber auch die Fortschritte auf beiden Seiten deutlicher als hier in Berlin. Wir Parlamentarier sollten diese Nähe für unser politisches Wirken nutzen. Der heutige Tag ist auch ein wichtiger Tag für diese Stadt und ihre Menschen. Nach Jahren des Hoffens, Wartens und Vorbereitens spüren die Berliner heute: Das Parlament, das Herzstück der Demokratie, ist wieder inmitten dieser Stadt zu Hause. Dies bedeutet eine historische Chance und vor allem auch belebende Impulse. Viele alteingesessene Berliner freuen sich auf die Zuziehenden aus dem Westen. Traditionelles und Innovatives, Pioniergeist und Abgeklärtheit werden in dieser Stadt eine spannungsreiche Mischung erzeugen, die sie für ihre neue Rolle brauchen wird. Berlin als die Mitte von Ost und West in Deutschland und Europa, als die Stadt mit dem ausgeprägtesten internationalen Charakter in Deutschland: Es gibt wohl kaum einen geeigneteren Ort für Dialog, für friedliches Zusammenleben von Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen. Berlin soll ein Beispiel für die Vollendung der Einheit in den Köpfen und Herzen der Menschen in Deutschland und in Europa werden. Historische Vorbilder oder Parallelen gibt es nicht. Alle hier wirkenden Menschen werden diesen Teil der Geschichte selber schreiben, und zwar jeden Tag aufs Neue. Dazu wünsche ich uns allen eine glückliche Hand. Der Deutsche Bundestag ist im guten Sinne des Wortes ein Arbeitsparlament. Bei aller Kritik, die dieses Hohe Haus auf sich zieht, manchmal verdient, manchmal benötigt und jedenfalls immer verträgt, darf doch festgestellt werden: Hier wird hart um beste, um durchsetzbare, um sachgerechte und um verantwortbare Lösungen gerungen. Es wird hart gearbeitet. Vor diesem Hintergrund ist es gut, den neuen Plenarsaal des Deutschen Bundestages mit einer ernsthaften Debatte in Besitz zu nehmen. Angesichts der Beschwernisse, die wir im eigenen Land erleben, angesichts der Tatsache, daß diese Beschwernisse im Osten Deutschlands, wo nun auch der Deutsche Bundestag seinen Sitz hat, noch immer größer sind als im Westen, und auch angesichts des Umstandes, daß wir im Plenum des Hohen Hauses schon lange nicht mehr herausgehoben darüber diskutiert haben, ist eine Debatte über die noch bestehenden Herausforderungen für die Angleichung der Lebensverhältnisse und die Vollendung der Einheit Deutschlands ein besonders geeignetes Thema für diese erste Sitzung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf: Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers Vollendung der Einheit Deutschlands Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Heute“, so schreibt eine große deutsche Zeitung, „beginnt eine neue Zeit“. Das mag ein wenig übertrieben klingen. Aber soviel ist klar: Mit der heutigen Plenarsitzung endet ein weiteres Provisorium in der Geschichte unserer Republik. Das alte Reichstagsgebäude - der Präsident hat es überzeugend deutlich gemacht - ist bezugsfertig für den neuen Deutschen Bundestag. Über Geschmack - auch das ist klar geworden - darf nicht gestritten werden, und dies ist nicht der Deutsche Präsident Wolfgang Thierse Architektentag, sondern der Deutsche Bundestag. Ich möchte mich auch persönlich bei Sir Norman Foster bedanken und ihm ein großes Lob aussprechen für den Mut, aber auch für die Behutsamkeit, mit der er traditionelle und moderne Elemente zusammengefügt hat. ({0}) Ich wünsche mir im übrigen, daß die gläserne Kuppel über uns, die der Architekt für dieses Haus entworfen hat, zum Sinnbild für Offenheit und für Transparenz unserer demokratischen Politik wird; denn natürlich lebt Architektur auch hier von der Institution, die sie belebt. Unsere Demokratie und unser Parlament - wir sind dessen sicher - sind stark und stabil. Der Umzug nach Berlin ist kein Bruch in der Kontinuität deutscher Nachkriegsgeschichte; denn wir gehen ja nicht von Bonn nach Berlin, weil wir etwa in Bonn gescheitert wären. Die gelungene Bonner Demokratie, die Politik der Verständigung und der guten Nachbarschaft, die feste Verankerung Deutschlands in Europa und im Atlantischen Bündnis, aber auch die Ausstrahlung eines Lebens in Freiheit, all das hat entscheidend dazu beigetragen, daß die „Berliner Republik“ im geeinten Deutschland möglich wurde. Wie immer man diesem Begriff gegenübersteht, was immer man damit anfangen will: Selbstverständlich werden wir auch hier in Berlin die Bundesrepublik Deutschland sein und bleiben. Und noch eines wird bleiben: Die Probleme und Aufgaben nehmen wir mit, wenn wir von Bonn nach Berlin umziehen. Als Bundestag des demokratischen Deutschland tragen wir nun in einem Haus mit guter demokratischer Tradition Verantwortung. Der aus geheimer, gleicher und freier Wahl hervorgegangene Reichstag - dessen Gebäude übrigens mindestens im Volksmund noch lange Reichstag heißen wird ({1}) wurde - der Herr Präsident hat darauf hingewiesen dem Kaiser und Bismarck abgetrotzt. Auch wenn manche an der Silbe „Reichs“ Anstoß nehmen: Zu seiner konstituierenden Sitzung nach Hitlers Machtantritt 1933 trat der Reichstag eben nicht in diesem Gebäude zusammen, sondern in der Potsdamer Garnisonskirche. Das Ermächtigungsgesetz - der Herr Präsident hat darauf hingewiesen -, das den Reichstag faktisch ausschaltete, wurde nicht hier, sondern gegenüber, in der Kroll-Oper beschlossen. Sicher, der Umzug nach Berlin ist auch eine Rückkehr in die deutsche Geschichte, an den Ort zweier deutscher Diktaturen, die großes Leid über die Menschen in Deutschland und in Europa gebracht haben. Aber „Reichstag“ einfach mit „Reich“ gleichzusetzen wäre genauso unsinnig, wie Berlin mit Preußens Gloria oder deutschem Zentralismus zu verwechseln. ({2}) Das föderative Modell deutscher Politik - das gilt es gerade hier festzustellen - ist bewährt und nicht im geringsten gefährdet. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir scheint, daß dies der richtige Ort und die richtige Zeit ist, eine Zwischenbilanz der deutschen Einheit zu ziehen. Es ist der richtige Ort, weil so, wie Bonn schließlich doch für den Westen der Republik steht, Berlin das vereinte Deutschland symbolisiert. Nicht nur für die Ostdeutschen macht es viel aus, daß Regierung und Parlament nicht mehr fern am Rhein, sondern relativ nahe bei ihnen, nämlich hier an der Spree, sind. Es ist die richtige Zeit, weil das vereinte Deutschland auch politisch den Generationswechsel vollzogen hat. Ich meine damit keineswegs nur einen Regierungswechsel. Es gibt kein Land, in dem die Ablösung der politischen Generation, die den zweiten Weltkrieg noch unmittelbar miterlebt hat, nicht eine bedeutende Veränderung in der Politik bezeichnet hätte. Das gilt für uns in Deutschland allemal. Die richtige Zeit für eine Zwischenbilanz ist es aber auch deshalb, weil uns nicht zuletzt die Ereignisse der letzten Wochen und Monate dramatisch vor Augen geführt haben, daß sich Deutschlands Rolle in der Welt verändert hat, daß wir heute anders und intensiver in der Verantwortung für das Schicksal auch anderer Völker stehen, als dies in den Jahren der Teilung und unmittelbar danach der Fall gewesen ist. Dies wiederum sage ich ganz bewußt von Berlin aus, der Stadt, in der das Wort von der „internationalen Solidarität“ so unterschiedlich erlebt und erfahren wurde. Eine solche Zwischenbilanz der deutschen Einheit fällt aus meiner Sicht überwiegend positiv aus. In Ostdeutschland ist eine eindrucksvolle Aufbauleistung vollbracht worden. Wir wissen, daß es noch nicht gelungen ist, das Ost-West-Gefälle vollständig zu überwinden. Gleichwohl denke ich, es lohnt, über das zu reden, was wir miteinander schon erreicht haben, über Leistungsbereitschaft und Solidarität der Menschen im Osten wie im Westen unseres Landes. Die nach wie vor bestehenden Probleme der ostdeutschen Wirtschaftsstruktur sind ja nicht Folge mangelnden Leistungswillens der Bevölkerung in den neuen Ländern. Und andererseits: Mit finanziellen Hilfen allein wären wir längst nicht so weit gekommen, wie wir durch das Engagement der Bürgerinnen und Bürger beim Aufbau und der Erneuerung der Städte und der Wirtschaft, bei den Unternehmensgründungen und den Innovationen, bei Hilfe, aber auch bei Selbsthilfe gekommen sind. Es ist eben beides wahr, was die Demonstranten damals vor und nach dem Fall der Mauer gerufen haben: „Wir sind d a s Volk“ oder:„W i r sind das Volk“ und: „Wir sind e i n Volk“. Ich will deshalb auch keine detaillierte Auflistung dessen vornehmen, was getan worden ist und was noch getan werden muß. Unter den laufenden und von dieser Bundesregierung fortgesetzten oder neu aufgelegten Projekten für den Aufbau Ost möchte ich nur einige wenige hervorheben: Da ist erstens das Programm „100 000 Jobs für junge Leute“ mit seinem Schwerpunkt in den neuen Ländern. Aus diesem Programm hat es in ganz Deutschland bis jetzt 75 000 Vermittlungen in Arbeit und in Ausbildung gegeben, davon 33 000 allein in den neuen Bundesländern. ({3}) Zusätzlich sind 17 500 Jugendliche in einem weiteren Sonderprogramm in den neuen Ländern untergekommen. Man sieht daran zweierlei: einmal, daß es uns mit der Aussage ernst ist, daß wir die Jugendlichen einsteigen lassen müssen, wenn wir nicht wollen, daß sie aus der Gesellschaft aussteigen, ({4}) und zum anderen, daß die Jugendlichen von sich aus erkannt haben, daß sie nicht nur ein Recht auf diesen Einstieg haben, sondern auch eine Pflicht, entsprechende Angebote anzunehmen. Ich bin froh darüber, daß sie das insbesondere in den neuen Bundesländern in diesem Umfang tun. Zweitens. Die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik haben wir auf hohem Niveau verstetigt. Unter dieser Bundesregierung - das haben wir versprochen, und das werden wir halten - wird es kein Auf und Ab vor und nach Wahlen geben, ({5}) dies deshalb, weil wir lieber Arbeit bezahlen, als Arbeitslosigkeit bezahlen zu müssen. ({6}) Drittens. Die Bundesfinanzhilfen für die Städtebauförderung werden bei 520 Millionen DM für alle neuen Länder stabilisiert. Unser neuer Ansatz dabei ist die soziale Stadt. Es geht uns um die Förderung von Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf. Wir wissen, welchen Einfluß das städtische Umfeld auf das Leben gerade junger Menschen hat, und wir wissen, daß gerade in Stadtvierteln mit schlechter Bausubstanz Langzeitarbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und Zuwanderung ohne Arbeitsperspektive gefährlicher sozialer Zündstoff sind oder werden. ({7}) Deshalb ist es geradezu ein Gebot der Vernunft, daß wir uns bei der Lösung der städtebaulichen Probleme auf solche Stadtviertel konzentrieren. ({8}) Viertens. Noch in diesem Jahr werden wir die Förderinitiative „Innoregio“ starten. Ziel ist es, innovative Entwicklungen in regionalen Netzwerken zu unterstützen. Denn wir wissen: Ohne eine nachhaltige Förderung der Innovation, die zu neuen, international wettbewerbsfähigen Produkten und zu neuen Verfahren auf neuen Märkten führt, werden wir die Arbeitslosigkeit gerade in den neuen Ländern nicht so erfolgreich bekämpfen können, wie das unsere Aufgabe ist. Unsere Gesellschaft wird nicht bestehen können, wenn sie nicht gerecht ist, gerade denjenigen gegenüber, die aus dem Arbeitsprozeß der sogenannten alten Industrien herausgefallen sind. Aber unser Land hätte keine Zukunft, wenn wir nicht alle zu Gebote stehenden Mittel für die Erneuerung von Wirtschaft und Gesellschaft einsetzten. In dieser Hinsicht - sagen wir es ganz deutlich hat der Osten dem Westen unseres Landes nach der Vereinigung durchaus schon einiges vorgemacht. ({9}) Besonders greifbar sind die Fortschritte beim Umweltschutz. 1990 - um ein Beispiel zu nennen - stand die alte DDR beim Ausstoß an Schwefeldioxid weltweit an der Spitze der Pro-Kopf-Belastung. Heute werden die Grenzwerte nirgendwo mehr überschritten. In Leipzig beispielsweise ist die Belastung um 83 Prozent zurückgegangen. Durch ökologische Modernisierung konnten bereits jetzt europaweit mustergültige Regionen im Osten Deutschlands geschaffen werden. Dasselbe gilt für den Bereich der Telekommunikation. In Ostdeutschland wurde das modernste Netz der Welt geschaffen. Das gilt aber auch für manche sogenannte alte industrielle Anlage. Opel in Eisenach, die Kraftwerksbetriebe Schwarze Pumpe oder die Mikrochipherstellung in Dresden zum Beispiel erreichen heute Produktivitätswerte, die an der Weltspitze rangieren. ({10}) Laut einem jüngst veröffentlichten „Spiegel“-Test sind ostdeutsche Hochschulen weit überproportional auf den Spitzenplätzen des Landes vertreten. Das betrifft das Verhältnis von Lehrenden zu Studierenden, aber auch die Ausstattung und inhaltliche Qualität der universitären Ausbildung. Diese Entwicklungen zeigen die Chance des Aufbaus im Osten. Wir leben nicht mehr in den Zeiten von Ludwig Erhard. Aber vielleicht gelingt uns ja doch so etwas wie ein kleines Wirtschaftswunder, gerade im Osten unseres Landes. ({11}) Ein Wissenswunder jedenfalls, ein Technikwunder, das müssen wir gemeinsam anstreben. Damit schaffen wir die Voraussetzungen für nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwung und - das ist von eminenter Bedeutung - vor allem für mehr Beschäftigung. Bei allem dürfen wir nicht vergessen: Berlin ist der Ort, an dem sich, wie Willy Brandt einmal gesagt hat, „die Teilung der Welt versteinert hat“. Hier treffen so kraß wie produktiv die Unterschiede aufeinander, die 40 Jahre Trennung hinterlassen haben. Diese Stadt bleibt - um es mit den Worten von Friedrich Schorlemmer zu sagen - „eine besondere Werkstatt der Einheit“. Westdeutsche verbinden in ihrer Erinnerung mit Berlin, meist Westberlin; je nach Alter ein Fußballpokalendspiel, ein Rockkonzert oder einen Theaterbesuch. Für die Ostdeutschen war Berlin Hauptstadt der DDR, ein Ort besonderer Bevorzugung und Machtarroganz gegenüber dem, was man „die Republik“ nannte. Berlin und Mauer bilden noch lange, nachdem das schändliche Bauwerk selbst verschwunden ist, in aller Welt einen semantischen Zusammenhang. Gewiß: Die schmerzende Wunde des kalten Krieges ist vernarbt; aber sie bleibt doch fühlbar. Gleichzeitig bündeln sich in dieser Metropole die Probleme der modernen Industriegesellschaften: Jeder achte Berliner ist Ausländer, jeder sechste ist ohne Arbeit. Das zwingt zur Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Darin liegt aber auch die Chance des Umzugs von Bonn nach Berlin. Ob die Politik besser wird, wenn sie krasser mit der gesellschaftlichen Realität konfrontiert wird? Ob die Politik klüger wird, wenn sie zwangsläufig in engeren und häufigeren Kontakt mit Künstlern und Intellektuellen kommt? Ich hoffe das. Aber es gibt Zyniker, die sagen: Eher wird die Kunst schlechter, als daß das andere eintritt. Ich denke, wir sollten uns auf diese Zyniker nicht berufen. Ich sehe mehr Chancen. Wir wären töricht, wenn wir diese enormen Chancen nicht nutzten. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitaus schwieriger als mit dem wirtschaftlichen Aufbau verhält es sich mit dem, was man innere Einheit nennt, mit der Überwindung der Mauer in den Köpfen und gelegentlich in den Herzen. Ich glaube, die Verständigung über das, was war, ist Voraussetzung für die Analyse dessen, was ist und was sein soll. Die Mauer - dies gilt es zu erkennen und zu bewahren - wurde von Ost nach West eingedrückt, und nicht etwa vom Westen geschleift. ({13}) Man kann nicht oft genug daran erinnern, daß noch bis kurz vor dem 9. November 1989 niemand im Westen eine wirklich realistische Einschätzung vom nahenden Zusammenbruch der DDR und des Kommunismus hatte. ({14}) - Na ja, Sie vielleicht. Das will ich gerne einräumen. Eine behütet aufgewachsene Generation im Westen hat sich allzuoft herausgenommen, Biographien von Menschen aus dem Osten herabzuwürdigen, ohne sich auch nur einmal die Frage zu stellen: Wie hätte ich, wie hätten wir uns denn unter ähnlichen Bedingungen verhalten? ({15}) Die Anpassungsleistung, die notwendig war, mußte fast ausschließlich von den Menschen in den neuen Ländern erbracht werden. Das war oft schwierig und mitunter sicher unerhört schmerzhaft. Deshalb verdient diese Leistung unser aller Respekt. ({16}) Ich möchte in diesem Zusammenhang einen denkwürdigen Satz zitieren, den ich aus aktuellem Anlaß gehört habe. Da sagt der Kabarettist und Schriftsteller Peter Ensikat, als auch er in seiner engsten Umgebung mit einem Fall verschwiegener Stasi-Vergangenheit konfrontiert wurde: „Auch in der DDR wurde ich nicht gelebt. Ich habe gelebt.“ Das heißt dann ja wohl: Der nötige Respekt vor den Biographien der Menschen bedingt auch Selbstrespekt, ein Bekenntnis jedes einzelnen zu seiner eigenen Verantwortlichkeit. Ich wünschte mir, wir alle würden uns gelegentlich auf folgende Erkenntnis besinnen: Es gab gelingendes, glückendes und authentisches Leben mitten in einem falschen System, so wie es mißlingendes Leben auch in einem richtigen System geben kann. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Entschädigung der Opfer von SED-Unrecht sagen. Die Bundesregierung will Verbesserungen in den Punkten erreichen, über die ich bereits vor geraumer Zeit mit den Opferverbänden gesprochen habe. Wir wollen eine Erhöhung der Kapitalentschädigung für ehemalige politische Häftlinge erreichen. Hierfür brauchen wir die Zustimmung der Länder. Ich hoffe, daß wir sie bekommen werden. ({17}) Wir wollen die Leistungen für die Hinterbliebenen der ehemaligen politischen Häftlinge verbessern. Hier denke ich insbesondere an die nächsten Angehörigen der Hingerichteten oder der während der Haft Verstorbenen. Beseitigt werden müssen auch die Schwierigkeiten bei der Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden. Wir müssen mehr tun für die Menschen, die aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße verschleppt worden sind. Lassen Sie uns das zusammen erreichen! ({18}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, machen wir uns keine Illusionen: Die Unterschiede in der Befindlichkeit, auch im Geschichtsbewußtsein, die gegenseitigen Ressentiments werden wohl noch eine ganze Weile bestehenbleiben. Ohne Frage gibt es Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland, genauso wie es auch Klischees über Ost und West gibt. Diese Unterschiede sind eben nicht nur die Folge von 40 Jahren Teilung, sondern auch von zehn Jahren Erfahrungen mit der Einheit. Was wir voneinander wissen, ist oft zu oberflächlich, zu vorurteilsbeladen und ähnliches mehr. Ost- und Westdeutsche werden sich noch länger einander zu erklären haben, ohne sich gleich rechtfertigen zu müssen. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Aspekt eingehen. Seit vielen Jahren diskutieren wir in unserer Gesellschaft, auch hier mitten im Parlament, über die Anforderungen der Globalisierung, über die Notwendigkeit, flexibler auf die Veränderungen der ökonomischen Basis in der Arbeitswelt zu reagieren. Dabei fällt auf: Diese Diskussion wird fast ausschließlich im Westen Deutschlands geführt. Die große Mehrheit in den neuen Ländern hat sich diese Frage nämlich gar nicht stellen dürfen. Die Menschen mußten es bei der Umgewöhnung in marktwirtschaftliche Verhältnisse wie selbstverständlich hinnehmen, daß von ihnen Flexibilität und Mobilität erwartet wurde. Gleiches an Erwartungen haben die Menschen auch im Westen zu erfüllen. Heute, so sagen die Zahlen, ist jeder dritte Jugendliche aus den ostdeutschen Ländern gleichsam „auf Wanderschaft“, sucht seine Arbeits- und Bildungsmöglichkeit im Westen und an besonders chancenreichen Orten im Osten Deutschlands. Ich will hier nicht über die möglicherweise heilsamen Schockwirkungen - so wird das gelegentlich genannt der deutschen Vereinigung philosophieren. Ich will auch nicht behaupten, daß irgend jemand geplant hat, was im Osten an tatsächlicher Entwurzelung, an Herausschleudern aus eingeübten Lebensläufen geschehen ist. Ich sage nur, daß auch bei den Mentalitätsunterschieden die Situation keineswegs so eindeutig ist, daß die Menschen aus den ostdeutschen Ländern in wenigen Jahren ein solches Maß an Umstellung vollzogen haben, daß ihnen vieles am Besitzstanddenken der „Wessis“, am Beharrungsvermögen auch wider besseres Wissen schlicht unverständlich ist. Aber auch das, meine sehr verehrten Damen und Herren, eröffnet enorme Möglichkeiten. Ich wage zu behaupten: Wenn wir diese Bereitschaft zum Umdenken, Umlernen und Umorientieren mit einer klugen und flexiblen Sozialpolitik absichern, wird unsere Arbeitswelt die nötigen Modernisierungsschübe gerade aus dem Osten erfahren. Das ist auch gut so, weil wir dann lernen, daß wir etwas von den Menschen lernen können, die hier ihre Aufbauleistungen vollbracht haben. ({19}) Es mag wie eine Binsenweisheit klingen, aber es kann, wie ich glaube, nicht oft genug wiederholt werden: Der deutsch-deutsche Lernprozeß, das Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, ist ein beiderseitiger Prozeß. Er verläuft von Stuttgart nach Schwerin genauso wie von Rostock nach München. Dabei setze ich jedenfalls vor allen Dingen auf die jüngere Generation. Die junge Generation ist viel weniger belastet von 40 Jahren Teilung. Diese Jugend genießt die Einheit in vollen Zügen, sofern sie erlebt, daß sie in dieser Einheit eine Zukunftschance hat. Genau um diese Zukunftschance unserer Jugend müssen wir kämpfen. ({20}) Denn eine frustrierte Jugend - das haben wir oft genug bitter erfahren müssen - kann zu Extremismus, zu Haß und auch zu Fremdenfeindlichkeit verführt werden. Das müssen wir miteinander mit aller Kraft verhindern. ({21}) Gerade weil wir uns für die Durchsetzung der Menschenrechte überall auf unserem Kontinent einsetzen, dürfen wir im eigenen Land nicht nachlassen, für eine offene, tolerante und friedliche Gesellschaft zu arbeiten. ({22}) Demokratie, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Einübung demokratischen Bewußtseins und die Praxis gegenseitigen Verstehens - das sind auch Aufgaben der Kultur. Kultur kann und darf nicht vom Staat verordnet werden. Aber für die Bedingungen, unter denen sich Kultur entfalten kann, ist das Gemeinwesen, ist der Staat sehr wohl verantwortlich. In den nächsten zwei Jahren werden wir deshalb zusätzlich 120 Millionen DM für ein kulturelles Investitionsprogramm in den fünf neuen Ländern bereitstellen. ({23}) Auch die Hauptstadt-Kulturförderung wird in diesem Jahr um 60 auf 120 Millionen DM verdoppelt. Wie gesagt: Niemand sollte die kulturellen Unterschiede, die regionalen Eigenheiten einebnen wollen. Die Vorstellung etwa von einem vereinheitlichten Geschichtsbild aller Deutschen widerspricht unserem Ziel einer offenen, einer demokratischen Gesellschaft. Nein, mir geht es nicht um eine „gesamtdeutsche Identität“, sondern es geht um die Herausbildung einer gemeinsamen Identität der Deutschen, der in Deutschland Lebenden. Dieser Prozeß wird - ich bin dessen sicher noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen, und er wird auch von Rückschlägen gekennzeichnet sein. Wenn wir aber bedenken, wie lange es, um ein Beispiel zu nehmen, nach dem amerikanischen Bürgerkrieg gedauert hat, wieder zu einem halbwegs dialogfähigen gemeinsamen Bewußtsein zu kommen, dann kann man sich ein Bild von den Zeiträumen machen und dann stehen wir, glaube ich, mit dem, was von den Menschen in Deutschland im Materiellen wie im Immateriellen geleistet worden ist, nicht so schlecht da. Wir sollten uns also darauf einstellen, daß es noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird, bis wir auch geistig eine „Nation von Staatsbürgern“ sind, wie Jürgen Habermas sie uns wünscht. Meine Damen und Herren, ohne die feste Einbindung in den europäischen Einigungsprozeß und in das Atlantische Bündnis wäre die deutsche Einheit nicht möglich geworden. Ebensowenig wäre sie gelungen ohne den Beitrag der Völker in unseren osteuropäischen Nachbarstaaten - der Ungarn, der Tschechen, der Polen. Beides werden, beides dürfen wir nicht vergessen. ({24}) Der Umzug nach Berlin, die geographische Verlagerung von Parlament und Regierung bringt uns näher heran an unsere polnischen Nachbarn, macht deutlich, wie wichtig Berlin als Drehscheibe zwischen Ost und West, als Scharnier der europäischen Einigung werden kann und - ich bin sicher - werden wird. Wir kommen eben nicht nach Berlin als Rückkehr in eine - wie man es nannte - „Mittellage“, die zu deutschen „Sonderwegen“ verführen könnte. Nein, wir gehen vorwärts in die Mitte Europas. Berlin steht deshalb für die Vertiefung und für die Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses. Das, meine Damen und Herren, macht die wirkliche Bedeutung der Agenda 2000 aus, die wir, unter deutscher Ratspräsidentschaft, vor wenigen Wochen hier in Berlin beschlossen haben. Bei aller berechtigten Kritik an Einzelheiten: Es sollte wenigstens versucht werden, diesen gesamteuropäischen Aspekt zu begreifen. ({25}) Aber der Berliner Kompromiß ist darüber hinaus auch aus deutscher Sicht ein Erfolg, und das insbesondere für Ostdeutschland. Die neuen Bundesländer bleiben in ihrer Gesamtheit in der höchsten europäischen Förderkategorie. Über den gesamten Zeitraum der Agenda werden sie insgesamt 20 Milliarden Euro erhalten. Ostberlin wird noch einmal eine Übergangsunterstützung in Höhe von 729 Millionen Euro erhalten. Darin enthalten ist eine Sonderzahlung von 100 Millionen Euro, die wir auf dem Berliner Gipfel aushandeln konnten - für die schwierige Situation hier in Berlin. Durch den Berliner Kompromiß werden wir zusätzliche Rückflüsse in Höhe von etwa 700 Millionen DM in Anspruch nehmen können. Diese sollten wir für besondere Aufgaben nutzen. Die Bundesregierung hat ja, entsprechend der Ankündigung in der Regierungserklärung vom 10. November 1998, bereits dreimal mit ostdeutschen Landesregierungen vor Ort getagt, um sich die besonderen Probleme der jeweiligen Regionen vor Augen zu führen. Dabei wurde - ob in Dresden, ob in Schwerin oder in Erfurt eines ganz deutlich: Auf den Nägeln brennen den betroffenen Ländern vor allem Verkehrs- und Infrastrukturprojekte. Die Bundesregierung wird deshalb den Landesregierungen der ostdeutschen Bundesländer vorschlagen, die zusätzlichen Rückflüsse für zusätzliche Investitionen in die dringendsten Verkehrsprojekte der neuen Bundesländer zu verwenden. ({26}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den vergangenen Wochen hat sich dramatisch vollzogen, was als „neue deutsche Verantwortung“ im Grunde seit Ende des kalten Krieges und seit der staatlichen Einigung Deutschlands absehbar war. Es ist Zeit, das immer wieder auszusprechen. In diesem Zusammenhang möchte ich Ismail Kadaré, den bekanntesten und vielfach preisgekrönten Schriftsteller Albaniens, zitieren: Der Balkan ist der Hof des europäischen Hauses, und in keinem Haus kann Frieden herrschen, solange man sich in seinem Hof totschlägt. Weiter schreibt er: Mit seiner Intervention auf dem Balkan hat das atlantische Europa eine neue Seite in der Weltgeschichte aufgeschlagen... Es geht nicht um materielle Interessen, sondern ums Prinzip: die Verteidigung der Rechte und der Existenz des ärmsten Volkes auf dem Kontinent. So wird Europa zum Europa der Menschen... Dies ist ein Gründungsakt, und wie stets geschieht ein solcher Akt nicht im Jubel, sondern im Schmerz. Selten - ich gebe es zu - habe ich die Worte eines Schriftstellers zu einem solchen Problem so treffend gefunden. Das sage ich auch ganz persönlich. Es geht um folgendes: Die Epoche nach dem kalten Kriege verlangt von uns, daß wir Europa politisch neu definieren. Für Europa hat es nie eine allgemeingültige geographische Definition gegeben. In der Geschichte hat sich Europa immer politisch und dabei gewissermaßen immer aufs neue definiert. Was sind die Anforderungen an diese neue Definition? Mehr als alles andere braucht Europa heute Rechtssicherheit und Rechtsfrieden. Beides ist nur dort herstellbar, wo sich Europa auch politisch für Europa, und zwar für ganz Europa, zuständig fühlt und die entsprechende Verantwortung auch tatsächlich wahrnimmt. Das macht die Bedeutung unseres Engagements auf dem Balkan aus; und insofern stimme ich Ismail Kadaré zu, wenn er von einem „Gründungsakt“ spricht, den wir hinter uns haben. Es geht um den Gründungsakt für ein Europa der Menschen und der Rechte der Menschen - der Menschenrechte. Die Notwendigkeit eines solchen „Gründungsaktes“ gilt insbesondere für unser Land, für Deutschland nach der Vereinigung. Wir, die wir die Trennung Europas so schmerzlich erlitten haben, können nun beweisen, daß wir die Chancen der Einigung beherzt ergreifen und daß wir das nicht nur für uns tun. Ich meine nicht nur die Chancen der institutionellen Einigung, sondern auch und vor allem die der Herstellung einer gesamteuropäischen Wertegemeinschaft. Das heißt: Wir bekennen uns heute zu einem Europa der Menschenrechte, das niemanden auf unserem Kontinent ausschließt; und dafür kämpfen wir. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erfahrungen - zumal die der friedlichen Revolution in der damaligen DDR - zeigen uns: Menschenrechte und Demokratie sind in Europa heute machbar bzw. müssen machbar werden. Denn das ist heute möglich. Freiheit, das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, Demokratie, Menschenrechte und Solidarität - das alles sind heute keine Proklamationen mehr, die man über den europäischen Zaun hinwegrufen könnte. Wir sind nach dem Ende des kalten Krieges eben nicht in eine „Geometrie der Macht von 1648 bis 1945“ zurückgefallen, wie es uns manche amerikanischen Historiker vorgerechnet haben. Nein, wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß es zur Westbindung Europas - und damit auch zur Westbindung Deutschlands - politisch und kulturell keine Alternative gibt. Deshalb ist für uns Stabilitätspolitik in Europa heute - ganz aktuell - in erster Linie Menschenrechtspolitik. Wir wissen aber ebenso: Die friedliche Entwicklung, die uns in mehr als 50 Jahren Nachkriegszeit in Westeuropa beschert war, hatte Wohlstand, wirtschaftliche Zusammenarbeit und kulturellen Austausch zur Voraussetzung. Das war kein Zufall. Auch für Ost- und Südosteuropa gilt: Friedliche Entwicklung braucht Wohlstand, und der Wohlstand braucht den Frieden. Diesen Lehrsatz zu beherzigen und nach ihm zu handeln ist gerade uns Deutschen historischer Auftrag. ({27}) Wir stehen nicht nur in einer historischen Verantwortung: als Land zweier Diktaturen in diesem Jahrhundert, als Land, das Völkermord und Aggression über unseren Kontinent gebracht hat; nein, wir stehen auch in einer Verantwortung, die aus unserer Wirtschaftskraft erwächst. Gesamteuropa, unter Einschluß der Völker des Balkans, braucht eine gemeinsame, europäische Perspektive, eine Perspektive des Friedens, aber, wenn man ihn dauerhaft sichern will, auch eine Perspektive der ökonomischen und sozialen Entwicklung. Wir haben daran mitzuarbeiten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, gleich hinter diesem Haus, auf der östlichen Seite des Reichstagsgebäudes, hat nach dem Mauerdurchbruch 1989 jemand in großen Lettern die „Kinderhymne“ von Bertolt Brecht an eine Wand geschrieben. Ich wünschte mir, diese Hymne würde zum Integrationssymbol für Ost und West, würde zum Selbstverständnis der „Berliner Republik“ beitragen; denn es gibt kaum einen Text, der auf so einfache und durchdringende Weise die Verbundenheit mit dem eigenen Land ohne jede nationale Überheblichkeit beschreibt. ({28}) Deshalb möchte ich zum Schluß jenem anonymen Fassadenmaler danken - aber nur das eine Mal! -, der uns diese schönen Worte gewissermaßen ins Blickfeld geschrieben hat: Und weil wir dies Land verbessern Lieben und beschirmen wir's Und das liebste mag's uns scheinen So wie andern Völkern ihrs. Vielen Dank. ({29})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Schäuble, Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer sich mit dem Umzug von Bonn nach Berlin beschäftigt hat, für den ist heute gewiß ein bewegender Tag. Deswegen gestatten Sie mir die persönliche Bemerkung: Die Tatsache, daß wir als deutsches Parlament heute in der deutschen Hauptstadt unsere Arbeit aufnehmen können, hat viele Gründe. Viele haben daran mitgewirkt, aber einer vielleicht doch mehr als andere. Deswegen möchte ich zu Beginn meiner Rede Helmut Kohl herzlich danken. ({0}) Ohne sein Festhalten daran, daß die deutsche Frage offenblieb, solange das Brandenburger Tor zu war - diese Worte stammen von jemand anderem; aber das war die Politik -, und ohne das entschlossene und zugleich maßvolle und beherrschte Nutzen der Chance, als die Geschichte sie bot, wären wir heute nicht hier. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer endet jetzt eine Phase, die den Übergang von der Teilung zur Einheit markiert, 50 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, 50 Jahre nach Entstehen der zwei Staaten in Deutschland, das vor zehn Jahren wiedervereinigt wurde. Ausgerechnet in diesen Wochen ist Deutschland im Kosovo erstmals seit dem zweiten Weltkrieg an anhaltenden militärischen Kampfaktionen beteiligt. Das ist viel auf einmal und deshalb Grund genug, sich zu vergewissern, wo wir stehen, welches die Fundamente sind, wohin wir gehen und wie wir die Welt sehen, in der wir leben wollen. Von diesem Jahr 1999, seinen vielfältigen widersprüchlichen Gedenktagen - vom Goethe-Jahr bis zum 60. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges und der Art, wie wir damit umgehen, hängt viel ab, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wie unser vereintes Deutschland an der Schwelle des neuen Jahrhunderts die Wunden des alten überwindet und Grundlagen für das neue findet, um Zukunft zu gestalten. Wenn wir nach der Vollendung der Einheit Deutschlands fragen, dann müssen wir uns der Grundlagen unserer nationalen Gemeinschaft vergewissern. Mir scheint, daß, unbeschadet aller definitorischen Bemühungen, die ja ganze Bibliotheken füllen, jedenfalls gemeinsame Erinnerungen und der Wille zur gemeinsamen Zukunft dafür unverzichtbar sind - Erinnerung und Zukunft, also die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Um die Zukunft zu gewinnen, müssen wir unser Verhältnis zur Geschichte immer wieder neu klären. Das ist Luther, das ist Goethe, das ist Bismarck, aber es ist eben auch und vor allem die Geschichte dieses Jahrhunderts: die Katastrophen zweier Weltkriege, die Tragödie einer gescheiterten Republik, das Grauen der Nazibarbarei, das den Namen Auschwitz trägt. Zu diesem Jahrhundert gehören die 40 Jahre der Teilung und die dann doch noch erfolgte Rückgewinnung der Einheit in Freiheit. Auch die Mahnmaldebatte, die wir jetzt im Parlament zu einem Abschluß bringen müssen, ragt sperrig, aber notwendig in das Jahr der Gedenktage 1999 hinein. Es ist unsere gemeinsame Geschichte, und das war sie auch in der Zeit der Teilung. Aber was so leicht gesagt ist, erfordert doch manches: Was wissen die Westdeutschen schon von den 40 Jahren DDR? Wenn wir uns zur Gemeinsamkeit der Geschichte auch in der Zeit der Teilung bekennen, dann heißt das zuerst, daß wir sie überhaupt kennen - kennen wollen, kennenlernen. Da haben die Westdeutschen vielleicht Nachholbedarf. Die Deutschen in der DDR wußten vom Leben im Westen mehr - nicht das, was im Zerrbild der SED-Propaganda ausgemalt wurde, sondern eher durch das Westfernsehen, durch die Zunahme von Westreisen, vor allem in den 80er Jahren. Aber sie wußten letztlich vor allem deshalb etwas, weil sie Interesse daran hatten, wie es wohl im Westen sein mochte. Aber auch Hitler und Auschwitz sind gemeinsame Vergangenheit. Da haben die Ostdeutschen vielleicht Nachholbedarf, weil die Kommunisten unter der zunehmend wohlfeilen Formel des Antifaschismus die Verantwortung für diesen Teil unserer Geschichte bequem auf den Westen abschoben. Beethoven, Goethe, selbst Luther, Bismarck und Friedrich der Große - das war auch den DDR-Offiziellen deutsche Geschichte. Bloß Hitler, den ließ man den Westdeutschen allein. Vielleicht sind wir am Ende dieses Jahrhunderts eher bereit, dazuzulernen, wenn wir uns klarmachen, daß wir eben alle Nachholbedarf haben. Wenn wir uns um die ganze Geschichte bemühen, dann dürfen wir auch den deutschen Osten und sein Erbe - Flucht und Vertreibung, bis zu den Sudetendeutschen und den Rußlanddeutschen - nicht vergessen. ({1}) Die durch diese gut 40 Jahre, bis 1989, zweigeteilte Geschichte erklärt für mich viel von den Verletzungen, die als Folge von Teilung und Diktatur auch zehn Jahre danach spürbar geblieben sind, ja, die zum Teil erst in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind oder verstärkt wurden: „Besser-Wessis“ und „Jammer-Ossis“ satirisch gemeint, aber in ihrer Begrifflichkeit und in dem, was sie beschreiben, Quellen neuer Verletzungen. Fremdheit und signifikante Einstellungsunterschiede, etwa zu grundlegenden Positionen der sozialen Marktwirtschaft, wie Demoskopen belegen, aber auch zu Grundfragen der politischen Ausrichtung unserer Bundesrepublik Deutschland, von der europäischen Einigung einschließlich der Osterweiterung bis zu den NATO-Aktionen im Kosovo; Verletzungen durch die juristische und bürokratische Aufarbeitung der Teilung, von den Strafverfahren bis zu den Eigentumsfragen, von Entschädigungsregelungen bis zur Anerkennung von Bildungsabschlüssen - immer lauert dahinter das Bild, daß die Wende im Ergebnis Sieger und Besiegte hatte. Zugegeben, soweit es bis 1989 einen Wettlauf der Systeme gab, so weit hat in der Tat die Freiheitsordnung von Grundgesetz und sozialer Marktwirtschaft gesiegt. Aber deswegen sind die Ostdeutschen nicht die Besiegten. Sie wollten Freiheit und Demokratie, auch soziale Marktwirtschaft - und die dadurch gegebenen besseren Chancen für Wohlstand - und soziale Sicherheit. Sie wollten ja gerade das DDR-System loswerden. Also sind sie nicht Besiegte, sondern Sieger. ({2}) Vielleicht rührt das falsche Bild von den Siegern und Besiegten, das in manchem Herzen nagt und neue Distanz schafft, daher, daß viele, zu viele das Gefühl haben, ihr Leben in diesen Jahrzehnten vor 1989 sei nichts mehr wert, sei vergeblich gewesen. Das wird übrigens ausgerechnet noch von denjenigen politisch ausgebeutet, die die Hauptverantwortung für das System vor 1989 trugen. ({3}) Darüber müssen wir uns Rechenschaft ablegen: Auch die Deutschen, die in der DDR lebten, haben ihre Lebensleistung, auf die sie genausoviel oder genausowenig stolz sein wollen und können wie andere im Westen. ({4}) Erfolge des Systems gab es, vom Sport einmal abgesehen, in der DDR wenig. Das hat ja auch die verfassungspolitische Debatte über Bewahrenswertes aus DDR-Zeiten im Zuge der Herstellung der staatlichen Einheit 1990 so eigenartig unkonkret gemacht. Aber die Lebensleistung der Menschen, die zum Beispiel unter ungleich schwierigeren Bedingungen als im Westen mit Reparationen an die Sowjetunion statt mit Marshallplan-Hilfe, ohne Demokratie und mit einem Effizienz und Leistung eher unterdrückenden stupiden bürokratischen Zentralismus - ihre Heimat doch auch wieder aufgebaut haben, bleibt unberührt von der Erfolglosigkeit und dem Zynismus des Systems, in dem sie leben mußten. ({5}) Sie mußten unter der Kuratel eines repressiven und totalen Überwachungsstaats Mitmenschlichkeit, Nähe und Anstand leben, und sie haben es getan. Sie haben es mit ansehen und miterleben müssen, als 1953 ein freiheitlicher Aufstand blutig niedergeschlagen wurde, und 1968 haben die Menschen in der damaligen DDR nach dem Prager Frühling und seiner brutalen Niederschlagung den Mut nicht verloren, sondern ein neues Verständnis für Bürgerrechte entwickelt und damit ihren Anteil daran, daß der Helsinki-Prozeß möglich wurde und Erfolg hatte. Aber Lebensleistung, die keinem genommen werden darf, schuf eben nicht Identität in und mit der DDR was vielleicht erklären könnte, daß in der DDR sogar das Gefühl für die Bewahrung unserer deutschen Nationalkultur lebendiger, verbreiteter blieb als teilweise im Westen. Es entstand eben keine DDR-Identität, und die SED-Machthaber wußten das übrigens viel besser als manche linken Anpasser im Westen. ({6}) Sie wußten genau, daß sie die gesamtdeutsche Identität nicht würden ausrotten können. Deswegen haben sie auch Gorbatschow von vornherein so mißtraut, und in dem Mißtrauen hatten sie recht: Das mußte das System beseitigen. Schlecht war es trotzdem nicht. ({7}) Daraus ergibt sich die Lehre: Ohne Freiheit entstehen Identität, Zugehörigkeit nicht; und - wie wir im ehemaligen Jugoslawien grausam studieren müssen - Toleranz eben auch nicht. Die Freiheit markiert den entscheidenden Unterschied in diesen 40 Jahren bis zum Fall der Mauer. Deshalb war die Freiheit, wie Bundeskanzler Helmut Kohl einst im Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland sagte, der Kern der deutschen Frage. Weil alle die Freiheit wollten, gab es 1989 nur Sieger, und auch weil wir uns alle die Freiheit nicht allein und nicht nur durch eigene Leistung erworben haben, sondern sie zum Teil eben auch geschenkt bekamen - im Westen zuerst durch die Wertegemeinschaft der freiheitlichen Demokratien und im Osten dann durch das Offenhalten der deutschen Frage und den Wunsch Europas, seine Teilung zu überwinden, so daß die Menschen überall in Europa in Freiheit leben könnten -, gibt es weder Sieger noch Besiegte. Es gibt auch keinen Grund - für niemanden in Deutschland -, Dankbarkeit einzufordern oder sie zu schulden für die gemeinsame Arbeit, Teilung und Unfreiheit als Last unserer Geschichte zu überwinden. Bei dieser Arbeit haben wir gemeinsam Erfolg gehabt. Für die Freiheit steht als Symbol der Reichstag. Für die Freiheit, Herr Regierender Bürgermeister, steht Berlin. ({8}) Deshalb mußte für mich Berlin auch Sitz von Parlament und Regierung werden. Deshalb, Herr Präsident, habe ich übrigens bis heute nicht verstanden, warum wir dieses Gebäude mit seiner demokratischen republikanischen Tradition nicht mehr sollen Reichstag nennen dürfen. ({9}) - Ja, wir sind der Deutsche Bundestag. Wir haben auch schon im Wasserwerk getagt. Jetzt tagen wir im Reichstag. Belassen wir es also bei der gewohnten Bezeichnung und schreiben wir keine andere vor. ({10}) Im Wasserwerk, Frau Vizepräsidentin, haben wir entschieden, daß wir künftig im Reichstag tagen. So einfach ist der Zusammenhang. Aber es ist immer der Deutsche Bundestag. Also, die Freiheit war entscheidend. Mit der Freiheit hängen - richtig verstanden - Solidarität und Gerechtigkeit untrennbar zusammen. Deshalb war das Grundgesetz und seine Ordnung das Maß der Dinge - vor dem Fall der Mauer gerade für die Menschen in der DDR und bei der Herstellung der staatlichen Einheit für uns alle. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen, auch zehn Jahre danach. Vielleicht - nein, gewiß, verehrte Kolleginnen und Kollegen - haben wir auf diesem Weg beim Einigungsvertrag und bei seiner oft so bürokratisch und perfektionistisch wirkenden Umsetzung Fehler gemacht. Aber lernen können wir noch immer. Da es 1989 nicht Sieger und Besiegte gab, weil uns nach dem Zweiten Weltkrieg unterschiedliche Systeme auferlegt wurden und wir uns am Ende gemeinsam für die Freiheit entscheiden konnten, sollten wir bei der Aufarbeitung der Vergangenheit die Suche nach individueller Schuld nicht zu sehr in den Vordergrund stellen. Wir haben auch nicht nur Fehler gemacht. Wir haben gemeinsam auch viel erreicht. Darauf können und darauf sollten wir ein wenig stolz sein. Vielleicht ist das Wissen um das gemeinsam Geschaffene und Gelungene auch eine Vorkehr gegen zuviel Wehleidigkeit der Deutschen am Ende dieses Jahrhunderts. Wir, verehrte Kolleginnen und Kollegen, haben es nicht am schwersten auf dieser Welt. Andere beneiden uns eher. ({11}) Wir leben in größerem Wohlstand und in größerer sozialer Sicherheit als die allermeisten Menschen auf dieser Welt - auch in Europa. Das gilt auch für die Menschen in den neuen Bundesländern - bei allen Problemen und bei allen noch immer im Vergleich zu Westdeutschland bestehenden Unterschieden und Nachteilen. Aber nichts ist für die Zukunft selbstverständlich. Die Welt verändert sich. Der Wandel der realen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse vollzieht sich oft schneller und in gewaltigeren Dimensionen, als vielen lieb ist. Dem müssen wir uns stellen. Wer Bewährtes erhalten will, muß verändern - immer, heute aber vielleicht mehr als zu früheren Zeiten. Weil Wohlstand eher zur Verteidigung von Besitzständen verleitet, stoßen Innovationen und Reformen auf viel Widerstand - im Westen übrigens stärker als im Osten, wo die Menschen seit 1989 wahrhaft grundstürzende Veränderungen verkraften mußten. Aber an der Fähigkeit zu zukunftsgestaltenden Strukturreformen entscheiden sich trotz aller Widerstände unsere Zukunftschancen. Der Arbeitsmarkt verändert sich durch technologische Entwicklung und Globalisierung rasant, und der Altersaufbau unserer Bevölkerung auch. Konsequenzen für Renten- und Krankenversicherung sind ebenso unausweichlich wie die Reform unserer Schulen und Hochschulen. Europäische Einigung ist die beste Vorsorge für das kommende Jahrhundert; aber auch sie fordert - wie wir beispielsweise bei der Währungsunion gesehen haben und bei der Osterweiterung noch sehen werden - immer wieder Mut zu Neuem. Wenn wir - auch unter dem Gesichtspunkt von Friedenssicherung und ökologischer Nachhaltigkeit - unseren Globus zunehmend als eine Welt begreifen, als eine Welt, in der Grenzen weniger trennen und Entfernungen schrumpfen, dann muß uns dies auch den Blick für globale Zusammenhänge und für die Unteilbarkeit unserer Verantwortung öffnen. ({12}) Verunsicherung, Angst vor der Zukunft wäre die falsche Antwort. Offenheit als Chance begreifen, Gestaltungsaufgaben als Herausforderung, Freude auf Neues, Neugier auf Künftiges - das kann man auch in diesem wunderbar erneuerten Reichstag so empfinden -, das alles macht Mut zur Zukunft. ({13}) Die Basis dafür haben wir in unseren gemeinsamen Erinnerungen und in den Werten, die Grundlage freiheitlichen Zusammenlebens sind. Sie sind unverzichtbar. Deswegen ist Verantwortung für die Geschichte so wenig rückwärts gewandt wie das Eintreten für Grundwerte wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, Menschenwürde und Toleranz oder auch das Eintreten für Ordnungsprinzipien und Institutionen, die Werte vermitteln können, von der Familie bis zum Subsidiaritätsprinzip. Wer feste Wurzeln hat, kann weiter ausgreifen. Wer sich seines Fundaments gewiß ist, hat mehr Kraft zur Innovation, zur Veränderung. Das läßt Zukunft gestalten. ({14}) Ich sagte schon: Wir haben es nicht am schwersten auf dieser Welt - genauso wie wir nicht - und schon gar nicht auf Grund unserer Vergangenheit - ein Monopol auf Betroffenheit oder Sensibilität haben. Andere sind auch betroffen, und andere haben auch Sensibilität. Damit bin ich beim Zusammenhang von Frieden und Freiheit, auch bei der Unteilbarkeit von Frieden und Freiheit. Genau darum geht es im Kosovo. Wir haben vor ein paar Tagen in Bonn - und gewiß nicht zum letzten Mal - wieder über Völkerrecht, Interventionsverbot und Universalität von Menschenrechten diskutiert. Wir werden damit lange nicht zu Ende sein. Entziehen können wir uns dieser Debatte nicht mehr. Den Konsequenzen müssen wir uns stellen. So ist unsere Bundesrepublik Deutschland mit der Wiedervereinigung auch erwachsen geworden. „Uneingeschränkt souverän“ nennt das der Staatsrechtler. Wer aber Rechte hat, hat auch Pflichten. Wir werden nicht mehr bevormundet, sondern sind Partner und tragen deshalb Verantwortung. Weder behütet noch bevormundet - das bedeutet erwachsen sein. Das bedeutet zuerst, daß staatliche Machtentfaltung auch am Ende dieses Jahrhunderts notwendig bleibt, um friedliches, freiheitliches Zusammenleben zu sichern. Im Rechtsstaat haben wir eine verbindliche Rechtsordnung mit einer die Durchsetzung von Recht sichernden Gerichtsbarkeit und staatlichem, auch rechtlich begrenztem Gewaltmonopol. International, weltweit, aber leider auch in Teilen Europas haben wir das noch nicht. Deshalb ist für Sicherheit, für Frieden und Freiheit Machtlosigkeit keine Tugend, sondern Verweigerung von Verantwortung. ({15}) Das fällt uns Deutschen am Ende dieses Jahrhunderts nicht leicht. Aber die Erkenntnis und ihre Konsequenzen sind unausweichlich: staatliche Machtentfaltung, Durchsetzung von Regeln für politische, soziale und ökonomische Sachverhalte und Prozesse. Das läßt sich allerdings nicht immer so perfektionistisch regeln, wie wir uns das in unserem - gelegentlich zur Hypertrophie neigenden Rechtswegestaat manchmal angewöhnt haben. Das gilt bei Fragen, wie wir in Zeiten der Globalisierung soziale Sicherheit und Vollbeschäftigung wahren können, im Prinzip nicht anders als bei der Debatte um die völkerrechtlichen Grundlagen von NATO-Aktionen. Die Anerkennung von Realitäten, die Kraft des Faktischen, die etwa im Völkerrecht beim Interventionsverbot eine ganz entscheidende Rolle spielt, die stoßen sich mit manch grundsatzbewegter Rechthaberei, und sie sollten uns die Prozeßhaftigkeit - also die Veränderbarkeit politischer, sozialer und wirtschaftlicher Sachverhalte und der Kriterien zu ihrer Beurteilung lehren. Das alles ist beunruhigend, unbequem. Aber es wird durch die Einsicht erleichtert, daß wir nicht mehr allein stehen, letztlich weder allein handeln können noch - vor allem - wollen. Natürlich ist auch Integration nicht immer bequem. Eigene Vorstellungen und Überzeugungen lassen sich nicht immer so ganz durchsetzen, und Kompromisse sind ebenso unvollkommen wie unausweichlich. Aber Integration vermeidet eben Isolierung. Im übrigen wirkt Integration auch der Gefahr dramatischer Irrwege entgegen. Schwerfälligkeit von Entscheidungsprozessen ist dann insoweit immerhin auch Vorkehr gegen Übermut, so wie Trägheit, physikalisch betrachtet, eben auch stabilisiert. Militärische Gewaltanwendung bleibt als Ultima ratio zur Wahrung von Frieden, Freiheit und grundlegenden Menschenrechten unverzichtbar, solange wir international eine verbindliche und durchsetzbare Rechtsordnung und ein Gewaltmonopol nicht haben. Niemals mehr allein - das ist die Lehre unserer Geschichte und zugleich unsere Chance an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert. ({16}) Europäische Integration und atlantische Partnerschaft sind unsere feste Basis. Um sie zu erhalten, müssen wir selbst verläßliche Partner sein. Das beschreibt unsere Verantwortung: für uns und unsere Zukunft, für uns und für Europa. Besonders in den neuen Ländern tun sich manche unserer Mitbürger damit schwer - aber wer wollte das nicht verstehen? - wo man so lange nicht nur dem Zerrbild der Anti-NATO-Propaganda ausgesetzt war, sondern wo man vor allem auch unter zuviel staatlicher Machtentfaltung gelitten hat. Aber zuwenig ist so falsch wie zuviel. Demokratisch legitimierte, rechtlich kontrollierte und begrenzte staatliche Machtentfaltung bleibt notwendig, auch nach dem Zuviel der Diktaturen. Aber auch das gilt: Wegsehen hilft am Ende niemandem. Das wenigstens hat uns dieses Jahrhundert gelehrt. Andere haben nicht weggesehen. Deshalb leben wir heute in Frieden, Freiheit und Einheit. Das ist nicht wenig, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und gewiß genug, um darauf eine neue Ernsthaftigkeit unseres Verständnisses von politischen Prioritäten und Notwendigkeiten zu gründen. Wenn wir den Zusammenhang von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit national, europäisch und weltweit begreifen, dann finden wir unsere Aufgaben, Aufgaben, über die wir an Einheit noch vollenden können, was bisher unfertig geblieben ist und was uns hilft, die Wunden von Diktaturen und Teilung zu schließen und Verletzungen auszuheilen. Über unsere Aufgaben aus der Verantwortung für Frieden und Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität die Einheit vollenden, daran, verehrte Kolleginnen und Kollegen, läßt sich arbeiten: hier im Reichstag für Deutschland und für Europa. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege Schäuble, Sie haben mich in Ihrer Rede direkt angesprochen. Ich will deswegen etwas dazu sagen. Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß mir das Wort „Reichstag“ in meiner Rede fließend über die Lippen gekommen ist. ({0}) Aber ich glaube nicht, daß Sie mich dafür kritisieren sollten, daß ich eine Kompromißformulierung des Ältestenrates als Parlamentspräsident öffentlich vertrete, eine Kompromißformulierung zudem, der Sie persönlich zugestimmt haben, Herr Kollege Schäuble. ({1}) Im übrigen halte ich es für meine Pflicht als Parlamentspräsident, dafür einzutreten, daß der Name unseres Parlaments, Bundestag, auch in Berlin eine Chance bekommt. ({2}) Das Wort erteile ich nun dem Fraktionsvorsitzenden der SPD-Fraktion, dem Kollegen Peter Struck.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, die Frage, wie dieses Haus genannt werden wird, werden die Bürger entscheiden. Aber prinzipiell möchte ich Ihnen, Herr Präsident, sagen: Die SPD-Fraktion steht immer auf Ihrer Seite. Da können Sie ganz sicher sein. ({0}) Das zweite, was ich sagen möchte: Heute ist ein besonderer Tag. Man merkt das an der etwas weihevollen Stimmung, die üblicherweise nicht im Deutschen Bundestag herrscht. - Ich denke, das wird sich ändern. - Man merkt es übrigens auch an der Präsenz des Bundesrates, die in diesem Maße auch nicht üblich ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren Ministerpräsidenten, wenn Sie in Zukunft auch so zahlreich dabeisein werden, dann werden wir uns alle sehr freuen. ({1}) Es ist gerade für uns Sozialdemokraten ein denkwürdiger Tag, für meine Fraktion in ganz besonderem Maße; denn wir Sozialdemokraten kommen zurück - besser gesagt kehren zurück - in ein Haus, in dem unsere Partei, Fraktionen der SPD schon im letzten Jahrhundert für mehr Demokratie und für soziale Gerechtigkeit gestritten haben, mit August Bebel an der Spitze. ({2}) Dennoch kehren wir mit gemischten Gefühlen in dieses Haus zurück. Es ist der Ort, an dem die Demokratie von ihren Gegnern systematisch mit Füßen getreten wurde, der Ort, an dem die größte Niederlage der Demokratie in Deutschland vorbereitet wurde. Aber für uns bleibt es auch der Ort, an dem Sozialdemokraten in ihrem Kampf für eine gerechtere Welt allen Demokratieverächtern die Stirn geboten haben. ({3}) Es war ein zäher Kampf, ein Kampf der tausend kleinen Schritte. Heute vor 100 Jahren, genau am 19. April 1899, wurde in diesem Haus für einen dieser kleinen Schritte gestritten - von Sozialdemokraten. Die Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen für Verkäufer und Heimarbeiter stand auf der Tagesordnung. Es ging darum, Arbeiter nicht länger als Menschen zweiter Klasse zu behandeln und sie gegenüber Arbeitgebern mit mehr Rechten auszustatten. „Bravo-Rufe bei der SPDFraktion“ vermerkte das Protokoll, als ein sozialdemokratischer Tischler aus Dresden am zähen Kampf seiner Partei - meiner Partei, unserer Partei - keine Zweifel ließ und den Gegnern der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung voraussagte: Wir werden alles einsetzen, um die Gleichberechtigung zwischen Unternehmern und Arbeitern einzuführen; solange der Kampf auch noch nötig sein mag, wir werden nicht erlahmen, bis wir das Ziel erreicht haben. ({4}) Ob Sie, Herr Bundeskanzler, das alles heute noch so unterschreiben würden, versehe ich mit einem Fragezeichen. Aber generell möchte ich schon sagen, Herr Bundeskanzler: Es freut mich sehr, daß der erste Regierungschef, der eine Regierungserklärung im neuen Bundestag, im Reichstag abgegeben hat, ein Sozialdemokrat ist. ({5}) Auf diese Geschichte des langen Atems sind wir Sozialdemokraten stolz. Deshalb empfinde ich es auch als gutes Omen, jetzt an diesen Ort zurückzukehren, an dem August Bebel, wie er sagte, „die Tretmühle des Parlaments“ erlebt hat. Wenn es einen Ort gibt, der für die demokratischen Höhen und Tiefen Deutschlands steht, dann ist es dieser Bau. - Ich möchte an dieser Stelle, Herr Präsident, all denjenigen danken, die in der Baukommission des Ältestenrates an diesem Bau mitgewirkt haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Kollegen Peter Conradi erwähnen, der heute unter uns ist. ({6}) Wir alle wehren uns dagegen - der Bundestagspräsident, der Bundeskanzler haben es ausgesprochen -, den Reichstag einseitig als Parlament der Nazi-Machtergreifung zu sehen. Es ist bezeichnend, daß er den Gegnern der Demokratie - vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus - immer ein Dorn im Auge war. Für sie war er „Reichsaffenhaus“, „Schwatzbude“ oder „Lügenzentrale“. Parlamentarismus als Meinungsbildung war diesen Hetzern verhaßt. Sie tragen die Verantwortung dafür, daß sich das Gros der „Insassen“ am Ende der Weimarer Republik zu einem „gröhlenden Männerchor“ gewandelt hat. So hat es Willy Brandt als Alterspräsident 1990 bei der ersten Sitzung des wiedervereinten Bundestages an diesem Ort ausgedrückt. Uns muß das Mahnung und Verpflichtung sein. Nie wieder darf aus diesem Haus heraus durch Mißachtung und Verleumdung des politischen Gegners der Demokratie Schaden zugefügt werden. ({7}) Willy Brandt hat 1990 allerdings auch daran erinnert, daß längst nicht alle Parlamentarier in dieses dumpfe Gröhlen eingestimmt haben. Er hat daran erinnert, daß 200 Mitglieder des Reichstages in Konzentrationslager und Gefängnisse verbracht wurden und daß über 100 Mitglieder des Reichstages wegen ihrer demokratischen Überzeugungen das Leben geben mußten. Das zeigt: Das Parlament, das in diesem Reichstag vor uns getagt hat, gehört nicht zum Verwerflichsten, was deutsche Geschichte zu bieten hat. Wir kehren heute zurück in ein Gebäude, das wie kein zweites an die deutsche Trennung durch die Mauer und an das Fehlen von Demokratie im real existierenden Sozialismus mahnte. Direkt an der Mauer war der leerstehende Reichstag nach Meinung des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Klaus Schütz ein Symbol, das - seiner Funktion beraubt -, den Zustand der Nation am deutlichsten wiedergab. Folgerichtig müssen wir ihn jetzt - vereint - wieder mit parlamentarisch-demokratischem Leben erfüllen. Wir sind in der Pflicht, dieses Haus zum Wahrzeichen einer prosperierenden Demokratie zu machen. ({8}) Willy Brandt hat in seiner Rede als Alterspräsident 1990 ahnungsvoll gesagt: Die Mitverantwortung Deutschlands ist in der Welt gewachsen. Krieg droht vor der Haustür Europas. Seine Befürchtungen sind auf das schlimmste übertroffen worden. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Massaker, Vertreibung und Völkermord halten uns in den 90er Jahren in Atem. Die Auseinandersetzungen in Jugoslawien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo forderten und fordern uns Entscheidungen ab, die wir 1990 in der Freude über die deutsche Vereinigung noch für unmöglich gehalten hätten. Es ist eine besondere Tragik, daß ausgerechnet die erste rotgrüne Bundesregierung in der Geschichte unseres Landes solche Entscheidungen mit vorzubereiten und zu verantworten hat. Am Ende des Jahrhunderts, nach einer langen Phase eines oft angespannten Friedens zwischen Ost und West, ist das Gespenst des Völkerhasses in Europa wieder vor aller Augen. Für viele von uns ist die Erfahrung schmerzhaft, daß es ein Heraushalten, ein Zusehen nicht geben kann. Manche wollen und können nicht akzeptieren, daß ausgerechnet Luftangriffe den Frieden bringen sollen. Ich glaube, quer durch die Fraktionen ist die Erschütterung über diese Situation groß, und vielen mag es ergehen wie mir: Ich stehe zu der Entscheidung der NATO; ich bin aber tief verunsichert darüber, daß eine solche Entscheidung zum Ende dieses Jahrhunderts notwendig ist. ({9}) Die Rückkehr des Parlaments gerade an diesen Ort muß uns Verpflichtung sein, nie wieder von Deutschland aus einem Völkermord tatenlos zuzusehen. ({10}) Für meine Partei, für meine Fraktion ist es eine bittere Erfahrung, daß die Warnung der deutschen Sozialdemokratie vor Hitler allzu lange ungehört blieb, nicht nur im eigenen Land, sondern in der gesamten zivilisierten Welt. Der „Trümmerhaufen Europa“, wie die SPD ihn 1934 unter ihrem Vorsitzenden Otto Wels düster vorausahnte, hätte womöglich vermieden werden können. Um so bindender müssen wir dafür einstehen: Einen neuen „Trümmerhaufen Europa“ darf es nicht geben. ({11}) Wir wollen, wie Otto Wels es in seiner mutigen Rede gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz 1933 gesagt hat, ein Europa der Menschlichkeit und der Freiheit. ({12}) Angesichts dieser ethnischen Katastrophe keine zwei Flugstunden von uns entfernt halte ich es für angemessen, vorhandene Probleme daheim mit etwas mehr Gelassenheit zu betrachten. Ich stimme Ihnen, Herr Kollege Schäuble, auch Ihnen, Herr Bundeskanzler, darin ausdrücklich zu. Die Rückkehr des Parlaments in den Reichstag, die Rückkehr nach Berlin, in den Brennpunkt des Zusammenwachsens, ist der Beweis, daß wir alle in diesem Haus die Vollendung der inneren Einheit noch energischer anpacken wollen. Es stimmt, auch neun Jahre nach der staatlichen Einheit ist die innere Einheit noch nicht vollends gelungen. Aber jeder, der in diesem Land Verantwortung trägt, müht sich - wenigstens subjektiv nach besten Kräften, dieses Ziel zu erreichen. Bundespräsident Herzog hat in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit im letzten Oktober zu Recht vor der „harmonieversessenen Vorstellung“ gewarnt, „die innere Einheit sei erst dann erreicht, wenn alle Deutschen so ziemlich das gleiche Lebensgefühl hätten. Das kann nicht unser Ziel sein. ({13}) Daß es Unterschiede im Denken, in Prioritäten, auch in politischen Grundüberzeugungen gibt, darf nicht verängstigen, weder die Menschen im Westen noch die Menschen im Osten. Die Sozialisation in der DDR war eine andere als in der Bundesrepublik. Wir müssen dazu stehen und dürfen nicht überdramatisieren. Wer in der relativ behüteten Welt eines bayerischen Dorfes lebt - ich habe selbstverständlich nichts gegen die Bayern -, hat Probleme, sich in das pulsierende, hektische Leben einer westlichen Großstadt hineinzuversetzen. ({14}) Ich nehme aber an, die Kolleginnen und Kollegen der CSU-Landesgruppe, Herr Glos, werden das alles hervorragend meistern. Ich will nur ein Problem beschreiben. Genauso wie wir diese Tatsache akzeptieren, müssen wir die Unterschiede im Lebensgefühl zwischen Rheinländern und Sachsen, zwischen Pfälzern und Brandenburgern als Selbstverständlichkeit nehmen. Seien wir auch gerade hier in Berlin nicht so ungeduldig! Vergessen wir nicht, daß gerade hier Ost und West aufeinanderprallten und beide Teile der Stadt quasi zu Bannerträgern des einen oder des anderen Systems hochstilisiert wurden. Gerade hier, an der Schnittstelle ehemaliger Unterschiede, kann das Verwachsen der Wunden ein Prozeß sein, der besondere Geduld verlangt. Wir müssen und wir wollen diese Geduld aufbringen. Ich bin der Meinung des Herrn Bundestagspräsidenten: Er erwartet von diesem Parlament, daß es, insbesondere hier in der Hauptstadt, Verständigungsprozesse anstößt. Dazu will ich das Meine tun, dazu will die SPD-Bundestagsfraktion das Ihre tun. Meine Damen und Herren, der Aufbau Ost, den der Bundeskanzler angesprochen hat, die Entwicklung der weiteren wirtschaftlichen Angleichung der Lebensverhältnisse steht auch im Mittelpunkt sozialdemokratischer Innenpolitik. Das schlägt sich nicht nur in Bekenntnissen nieder, sondern auch in konkreten Zahlen. Ich möchte nur eine Zahl nennen: Wir haben die Ansätze für konsumtive und investive Ausgaben in den neuen Ländern weiter verstärkt. Sie steigen von 89 Milliarden DM im letzten Jahr auf rund 100 Milliarden DM in diesem Jahr. Wir verstärken und verstetigen dabei in zwei Richtungen. Einerseits geht es um die Stabilisierung der Aufbauleistungen, andererseits um die verstärkte Förderung bei Zukunftsfragen. Als besonders wichtige Zukunftsinvestition seien noch einmal - man kann es nicht oft genug betonen - die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und das Sonderprogramm der Bundesregierung mit seinen großen Erfolgen erwähnt. ({15}) Wir, Parlament und Regierung, kehren nach Berlin zurück. Aber der Umzug ist keine Reise in die Vergangenheit. Er markiert den Aufbruch in ein neues Jahrhundert, in eine trotz aller internationalen Schatten chancenreiche Zukunft. Und: Wir kommen nicht mit leeren Händen vom Rhein an die Spree. Wir bringen mit, was wir an demokratischen Traditionen in 50 Jahren erarbeitet haben. Es sind stabile Traditionen. Wir ziehen nicht fort von der Bonner in die Berliner Republik, wir bleiben Bundesrepublik Deutschland. ({16}) Wir sollten nicht leichtfertig von dieser Selbstverständlichkeit abgehen. Wir wollen und brauchen keine andere Republik. „Ein Ortswechsel, kein Richtungswechsel“, hat Bundespräsident Roman Herzog zu Recht bemerkt. Für die Bürger darf nicht das Wo des Parlaments entscheidend sein. Sie müssen sich darauf verlassen können, daß in Berlin genau wie in Bonn um die besten Lösungen für das Land gerungen wird. Der Bundestag macht entweder gute oder schlechte Gesetze - jetzt, nach den neuen Mehrheiten, macht er in der Regel gute Gesetze -, ({17}) ob am Rhein oder an der Spree. Daran muß man sich, ganz unabhängig vom Standort, messen lassen. ({18}) Es stimmt: Der Umzug verlangt von uns Parlamentariern eine ganze Menge Umstellung. Den Bürgern aber und auch unseren Nachbarn muß er Kontinuität garantieren. Das Koordinatensystem unserer Politik wird und darf sich nicht verschieben. Wir brauchen weiterhin eine Politik, die nach innen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit sozialer Gerechtigkeit verbindet. ({19}) Diese Traditionen, die wir in 50 Jahren am Rhein gehegt haben, bringen wir mit, eine Erfolgsgeschichte, auf die wir alle alles in allem stolz sein können. ({20}) Nach außen brauchen wir eine Politik, die eine der guten Nachbarschaft ist und es auch bleibt. Gerade hier in Berlin können wir Deutschen Europa noch weiter zueinanderführen. Gerade hier verstehe ich es als große Chance, die östlichen Nachbarn noch stärker in die Europäische Gemeinschaft einzubinden. Sie wünschen es. Wir werden ihnen dabei nach Kräften helfen und damit ein vereintes Europa vorantreiben. ({21}) Aber lassen Sie mich hier genauso klarstellen: Der Schritt nach Osten bedeutet keine Aufgabe der Westbindung; nein, diese ist und bleibt unabdingbare Voraussetzung. Die Nähe zu Brüssel, London, Paris, Rom und Washington wird nicht deshalb geringer, weil uns in Berlin nicht mehr so viele Kilometer von Budapest, Moskau, Prag oder Warschau trennen. In seiner Rede als Alterspräsident hat Willy Brandt 1990 hier - der Raum sah etwas anders aus, aber der Ort ist derselbe - gesagt, seine Visionen seien mit dem Fall der Mauer noch nicht zu Ende, sein Wunsch sei jetzt, den Tag zu erleben, an dem auch Europa eins geworden ist. Es war ihm nicht vergönnt. Wir haben jetzt die Chance, für uns und unsere Kinder die Sehnsucht dieses großen Europäers zu verwirklichen. Von Berlin aus stehen wir in der Pflicht für ein Europa, das eines nicht mehr fernen Tages eins geworden ist. ({22}) Wir wollen ein Europa auf jenen Grundfesten, die der SPD-Vorsitzende Otto Wels 1933 in seiner Rede gegen das Ermächtigungsgesetz beschworen hat, ein Europa, das den Grundsätzen der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit und der Freiheit verpflichtet ist. ({23})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Vorsitzenden der F.D.P.-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt, das Wort.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle wären heute nicht hier, wenn es nicht die couragierten Teilnehmer der Montagsdemonstrationen des Jahres 1989 gegeben hätte. ({0}) Wir wären nicht hier, wenn sich die Freiheit damals nicht in gewaltfreiem Widerstand und mit großem Engagement hätte Bahn brechen können. Das heißt, wir müssen auch über das Selbstbewußtsein der Deutschen selbst sprechen. Wir schulden den Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen DDR, von denen viele als Kolleginnen und Kollegen heute bei uns im Deutschen Bundestag sind, für dieses Engagement Respekt. Sie haben für die Verwirklichung der deutschen Einheit einen großen Freiheitswillen bewiesen. ({1}) Wir tagen hier aber auch, weil es in der alten Bundesrepublik Deutschland Persönlichkeiten gab, die in ihrer eigenen Biographie den Willen zur deutschen Einheit immer aufrechterhalten haben, auch in Zeiten, als dies nicht Mode war, als der Wunsch, die deutsche Einheit zu erreichen, sehr stark in die rechte Ecke gedrängt wurde und als er eher als ein übles Zurückholen falscher Bruchstücke der deutschen Geschichte dargestellt wurde. Eine dieser Persönlichkeiten ist heute hier. Da jeder Namen aus seiner politischen Grundrichtung genannt hat, möchte ich diesen auch nennen. Es handelt sich um Wolfgang Mischnick, dem wir sehr zu Dank verpflichtet sind für das, was er getan hat. ({2}) Wir sollten heute weitere Selbstverständlichkeiten besprechen, und zwar nicht, weil der Ältestenrat bzw. das Präsidium einen akrobatischen Namensvorschlag für die Kombination von Plenarbereich und Reichstagsgebäude gemacht hat. Die Sprache des aufgeklärten Bürgertums in Deutschland präzisiert den Namen. Dieser Name ist „Reichstag“. Daran führt keine Wortkombination vorbei. ({3}) Das, was wir jetzt in einer Zwischenbilanz der deutschen Einheit debattieren, wird nicht bestimmt durch die Bezeichnung „Berliner Republik“ oder „Bonner Republik“, nicht durch eine Wortbezeichnung für dieses Gebäude und den Raum, den wir mit parlamentarischen Debatten ausfüllen, und auch nicht - Herr Bundeskanzler, das muß ich noch zu Ihrer Regierungserklärung sagen - durch volkswirtschaftliche Kennziffern. Was heute hier besprochen werden muß, ist die innere Verfassung der deutschen Nation. Die ist ganz entscheidend. ({4}) Damit ist nicht die geschriebene Verfassung gemeint. Die allein reicht nicht. Die Verfassungstradition ist gut. Ich meine die Nationalversammlung in der Paulskirche, den gescheiterten Versuch der Weimarer Reichsverfassung, aber dann auch den gelungenen des Grundgesetzes. Trotzdem spüren wir im innerdeutschen Zusammenwachsen, daß wir den erneuten ernsthaften Versuch machen müssen, die Zustimmung der Menschen zum Grundgesetz, zum Vertrag zur deutschen Einheit, zu Parlament, Marktwirtschaft, föderativem Staatsaufbau und zum Bundesverfassungsgericht zu erreichen. Das ist wichtig; aber nicht die geschriebene Verfassung ist schon die Sache selbst. Der erste Bundespräsident dieser Republik, deren Grundzüge wir hier in Berlin beheimatet sehen wollen, Theodor Heuss, hat gesagt: Die Deutschen brauchen ein Maß. - Das heißt, sie brauchen eine Überzeugung für die Freiheit, die Klarheit, die Freiheit in ihren Grenzen nicht zu überschreiten. Er hat gesagt, man müsse den Deutschen ihren billigen Nationalismus abgewöhnen. Wie wahr in einer Zeit, in der wir wieder spüren, wie billiger Nationalismus zu Morden führt! ({5}) Eine Haltung mit Weitsicht, all das, was die kulturelle Dimension einer Freiheit ausmacht, ist mir in Deutschland nicht ausreichend ausgeprägt. Wahrscheinlich muß man der eigenen Nation sagen: Es gibt europäische Nachbarländer, die eine breitere kulturelle Dimension der Freiheit haben. Wenn wir in Deutschland über Freiheit sprechen, kann man dies kaum tun, ohne die Dimensionen der Gleichheit und der Gerechtigkeit mit zu beachten, die wichtige Werte sind. Aber Tatsache ist, daß sich in Deutschland die Werte Freiheit und Gleichheit fälschlicherweise dauernd bekämpfen, daß auf der einen Seite die Anwälte der Freiheit stehen, die auf der anderen Seite von den Anwälten der Gleichheit konterkariert werden. Meine Damen und Herren, Gleichheit und Gerechtigkeit sind niemals herzustellen durch einen paternalistischen Umverteilungsstaat. ({6}) Wer Freiheit will, der muß persönliche Verantwortung übernehmen. Das muß in dieser Zwischenbilanz gesagt werden. Die Verringerung des Risikos, nach der sich viele sehnen, vernichtet am Ende die Freiheit, weil zur Freiheit untrennbar die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung einschließlich des Risikos, scheitern zu können, gehört. Das macht im Kern freiheitliche Gesellschaften aus und nicht nur das, was wir uns angewöhnt haben, mit der Freiheit zu verbinden. Der Verfassungsauftrag des Grundgesetzes, das, was wir an Politik gestalten müssen, ist die unbändige Kraftanstrengung, Menschen zu eigener Verantwortung zu befähigen, ihnen die Chancen dazu zu geben und ihnen Chancengerechtigkeit zu vermitteln. Aber niemals kann dahinter ein Bild der Gleichheit der Ergebnisse stehen. Menschen sind unterschiedlich, und wir müssen den unterschiedlichen Lebensanstrengungen gerecht werden. ({7}) Im übrigen - wenn wir ehrlich gegenüber uns selbst sind - haben sich in manchen früheren westdeutschen Milieus Verhaltensweisen entwickelt, die denen sehr angenähert waren, die ein sozialistisches System bei den Menschen erzeugen wollten. Auch viele bei uns haben geglaubt, es gäbe jährliche Wachstumsraten, ein Staat sei nur legitim, wenn er verteilen kann, wenn er die volle Dienstleistungsfähigkeit besitzt. Bei vielen hat sich das Gefühl der Zugehörigkeit zum Gemeinwesen gelokkert, und ist der Ärger über das Gemeinwesen gewachsen, wenn ein Staat in besonderen Situationen nicht mehr so leistungsfähig war. Es muß in Deutschland darauf ankommen, das politische Gemeinwesen in Erinnerung zu rufen und nicht nur zu glauben, wir lebten in einem Staat mit dem Verfassungsauftrag zur Wachstumsvorsorge. Wir müssen uns darüber klar werden, warum wir in diesem Land zusammenleben. Das betrifft auch viele alte westdeutsche Erinnerungen. Seit dem Auftreten Michail Gorbatschows hat sich doch nahezu alles verändert. Vielleicht haben wir zunächst geglaubt, das beträfe 18 Millionen Deutsche in der früheren DDR, die alten RGW-Staaten. Alle westeuropäischen Gesellschaften sind davon erfaßt worden. Nichts ist mehr so, wie es früher war. Viele politische Entscheidungen, die wir treffen, treffen wir noch immer so, als lebten wir in der alten Welt. Sind wir ausreichend in der neuen Wirklichkeit angekommen? Diese Frage stellt sich in einem Zwischenbericht zur Lage der deutschen Nation. ({8}) Wir stehen heute im weltweiten Wettbewerb. Wir bauen Infrastrukturen auf, wir erheben Steuern und entscheiden damit, ob das mobile Kapital kommt oder geht. Wir wissen, daß sich der Wettbewerbsdruck verstärkt hat. Mauer und Stacheldraht - das könnte man heute noch sagen - waren für die alte westdeutsche Politik reichlich bequeme Veranstaltungen. Es gab jährliche Verteilungen, Wahlkämpfe nach dem Motto „Wer bietet mehr?“ und unbegrenzte wirtschaftliche Zuwachsraten. Nun, da sich das geändert hat, frage ich: Haben wir genügend Kraft, Systeme zu ändern, von denen wir wissen, daß sie nicht mehr finanzierbar sind? Jeder sagt doch hinter vorgehaltener Hand: Das geht so nicht mehr weiter. Haben wir nicht zu viele öffentliche Tabuwächter, die uns daran hindern? Wir wissen doch alle, daß die Arbeitslosigkeit die lohnbezogenen sozialen Sicherungsysteme, auf die sich die soziale Sicherheit von Menschen seit Generationen gründet, an die Grenze der Zerreißprobe gebracht hat. Jeder von uns in diesem Haus weiß, daß die Rente nicht stabil bleiben kann, wenn der Anteil der älteren Personen immer größer, die Lebenserwartung immer höher, der Anteil der Erwerbspersonen immer kleiner wird, das Renteneintrittsalter sinkt und die Aufnahme von Arbeit immer weiter hinausgeschoben wird. Bundespräsident Herzog hat doch zu Recht gesagt, daß der Ernstfall in Deutschland zu spät geprobt wird. Er hat hinzugefügt, lebenslanges Lernen sei richtig, aber es sollte bitte im Beruf und nicht als Beruf stattfinden. Daß das Konsequenzen für die sozialen Sicherungssysteme hat, ist offensichtlich. Wenn man das Bildungssystem kritisch anspricht, gilt man schon als Feind der Menschheit, weil man nicht mehr genügend von der sozialen Sicherheit redet. Meine Damen und Herren, die soziale Sicherheit einer Gesellschaft gründet sich auf nichts anderes als auf die Leistungsbereitschaft und die Fähigkeit, soziale Sicherheit mit einem freien marktwirtschaftlichen System zu verbinden. ({9}) Ich spreche diese Themen an, weil ich die Befürchtung habe, daß eine Politik für Wandel - der Kollege Schäuble hat das in seinem Beitrag angesprochen -, für Veränderungen von vielen noch zu stark als Bedrohung emfpunden wird. Noch sperren sich zu viele gegen Veränderungen. Aber wir wissen alle: Wenn man nicht rechtzeitig verändert, gibt es hinterher große Verwerfungen, und zwar nicht nur sozialer, sondern auch demokratischer Art. Jetzt beginnt doch erst - egal, welcher Partei man angehört - die Diskussion um die zentrale Frage, wie sich die Beschäftigung in Zukunft entwickeln wird. Egal, welches Parteiprogramm man geschrieben hat: Der Themendruck der Zeit wird uns veranlassen, zu anderen Lösungen zu kommen, als wir sie heute haben. Mancher Gewerkschaftstag ({10}) wird in zwei bis drei Jahren Themen diskutieren müssen, die vielleicht in ganz anderen Parteiprogrammen stehen, als man heute denkt. ({11}) Die sozialen Sicherungssysteme, die wir haben und die einen großen Teil der Diskussion ausmachen, begleiten heute die Arbeitslosigkeit, anstatt zum wirklichen Problemlösungsbereich vorzustoßen. Wir diskutieren eine Zwischenbilanz zur Lage der Nation Gott sei Dank nicht mehr in den Kategorien Ost oder West. Die Probleme haben uns überall erreicht. Die Veränderungsnotwendigkeiten und der Strukturwandel stehen jedem ganz klar vor Augen. Wir sollten unseren Bürgerinnen und Bürgern sagen, daß wir uns nicht nur als Träger einer Erwerbsbiographie Ost oder West empfinden dürfen. Wir sind nicht die Kunden eines Staates, wir sind Staatsbürger. Ich glaube, daß in Ost wie in West eine Haltung angebracht wäre, daß wir Bescheidenheit mit Selbstbewußtsein verbinden und daß wir in der Lage sind, uns von einem Staat zu emanzipieren, der uns zwar beschützt, aber uns manchmal in unseren Fähigkeiten auch beschneidet. Dringend notwendig ist in Deutschland ein Bewußtsein, das nicht nur die Risiken sieht, sondern auch die Chancen. Wir haben doch alle Chancen in einem Land mit großartiger Infrastruktur, mit einem öffentlichen Bildungswesen, mit föderativer Grundverfassung und mit Garanten wie Bundesverfassungsgericht, parlamentarischem System, mit einer offenen Wettbewerbsordnung wie der Marktwirtschaft, um unsere Probleme zu lösen. Entscheidend wird sein, ob unsere Gesellschaft insgesamt Kompetenz im Wandel entfaltet und auch zu Anstrengungen bereit ist, die jenseits von materiellen Anreizen liegen. Wenn das gelingt, dann können wir optimistisch sein, die Zukunft zu bewältigen. Was jetzt notwendig ist, das ist das neue Bürgerbewußtsein in unserem Land, weil wir das Zusammenwachsen wollen, weil wir die Einheit als Glück begreifen, weil wir wissen, daß es ohne Internationalität und europäische Vision nicht geht. Das sind keine Bedrohungen, das sind Chancen. In der heutigen Debatte - nicht jeder nimmt sie als einfache Debatte routinemäßig auf - würde ich gerne sagen: Ja, die viel umstrittene, viel mißverstandene und in vielen Katastrophen gelandete deutsche Nation gibt es. Aber sie muß in ihrem Bürgerbewußtsein begreifen, daß der Staat nicht immer nur die anderen sind. Der Staat sind wir; es geht also auch darum, wie wir uns verhalten. ({12}) Welche Tugenden wir ganz persönlich entwickeln, welche Zivilcourage wir aufbringen und welche Risikobereitschaft wir einbringen, wird das internationale Ansehen Deutschlands in den nächsten Jahren bestimmen nach innen wie nach außen. Darum geht es bei der Debatte zur Lage der Nation und nicht um den nächsten Autobahnkilometer oder hundert weitere Telefonanschlüsse. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Empore! Es ist schon ein schönes, neues und aufregendes Gefühl, hier zu sprechen. Dennoch habe ich mir den Tag der ersten Sitzung des Deutschen Bundestages im umgebauten Reichstag schon etwas anders vorgestellt: sorgenfreier, feierlich, aber politische Routine letztlich. Angesichts des Krieges im Kosovo wird jedoch die Geschichte in einer Weise lebendig, daß mir die feierliche Routine etwas fehlt. Wir müssen über uns selbst, unsere Geschichte, unsere Stellung in Europa und der Welt in einer Weise neu nachdenken, wie ich es mir vor zehn Jahren nicht hätte träumen lassen. Heute sind wir ein Volk, dem dieses Haus gewidmet ist. Damit geht die Bundesrepublik Deutschland nach 50 Jahren Grundgesetz an den zentralen Ort der deutschen Geschichte zurück und stellt sich der politischen Verantwortung dieser Geschichte. Nach dem Mauerbau, der sicher nicht nur eine Sichteinschränkung brachte, konnte man vom Osten aus von diesem Haus eigentlich nur die Fahne sehen, die Fahne, die sich heute in der Glaskuppel spiegelt, die Fahne, die plötzlich massenhaft auf den Leipziger Montagsdemos auftauchte - nicht im nationalen Überschwang, sondern als ein Symbol für bürgerliche Freiheit, als Wunsch nach staatlicher Einheit. Wir haben im Prozeß der Einheit im Verlauf der letzten Jahre viel erreicht - trotz der Anfangsfehler und der fatalen Fehleinschätzungen. Die Ostdeutschen haben mit viel Fleiß und mit Hilfe der Westdeutschen ein enormes Pensum bewältigt. Es war absehbar, daß der Vollzug der Einheit in rechtlicher, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht mindestens eine Generation dauern würde. So gesehen, können wir auf das Erreichte wirklich stolz sein, ohne uns zufrieden zurückzulehnen. ({0}) Auch nach neun Jahren ist längst nicht alles im Lot, sind weitere Fördermittel nötig, ist die Arbeitslosigkeit unzumutbar hoch, steht die Wirtschaft noch auf wackligen Beinen, wissen viele nicht, ob man das Ärgste hinter sich hat oder jetzt in einer Gesellschaft lebt, deren beste Zeiten vorbei sind. Die Bundesregierung hat dem Aufbau Ost höchsten Stellenwert eingeräumt, damit das OstWest-Gefälle eher im „Memorial“ statt in der aktuellen Statistik erscheint, damit mehr junge Leute eine Lehrstelle und Lebensperspektive im Osten finden und damit endlich mehr dorthin ziehen statt von dort weg. Die innere Einheit Deutschlands zu vollenden verlangt aber nicht nur die bessere Einbeziehung der Menschen aus den fünf neuen Bundesländern - oder wie dieses Wortungetüm heißt -, sondern auch die Anerkennung der ausländischen Mitbürger als gleichberechtigte Staatsbürger. ({1}) Ich finde es deswegen gut, Herr Schäuble, daß Sie letzten Donnerstag in der Kosovo-Debatte - zwar an unpasDr. Wolfgang Gerhardt sender Stelle, dennoch möchte ich es noch einmal aufgreifen, damit es nicht verlorengeht - das Angebot gemacht haben, diese unselige Polarisierung einzustellen und gemeinsam eine tragfähige Lösung zu finden. Ich glaube, das ist auch ein Beitrag zur inneren Einheit. ({2}) Die Enttäuschung über die hohe Arbeitslosigkeit und die Enttäuschung über die Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Aufschwungs haben auch Zweifel an der Demokratie geweckt - nicht nur im Osten, wie das so oft behauptet wird; wir sollten uns da nichts vormachen. Aus unserer Geschichte wissen wir aber, daß die Demokratie nicht auf dem Boden von Armut gedeiht. Angesichts weltweiter Veränderungen stehen wir erneut vor der Aufgabe, den Zusammenhalt zwischen Demokratie und Sozialstaat zu festigen. Deshalb dürfen soziale Gerechtigkeit und solidarischer Lastenausgleich kein einmaliger Kraftakt in einem Land sein, das sich der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet hat und guttut, daran festzuhalten. ({3}) Nach der Wiedervereinigung ist die Wiederbelebung der Gesellschaft gefragt, die Verständigung über Bindungskräfte, Ziele und gemeinsame Werte. Demokratie ist keine Sache von Berufsdemokraten. Der Ruf „Wir sind das Volk!“ sollte nicht als historische Episode, sondern als Daueranspruch verstanden werden. Die innere Einheit vollenden verlangt eine stärkere Einbeziehung des Souveräns, was mit der gelegentlichen Einblendung der berühmten Sonntagsfrage nicht getan ist. Mit dem Umzug des Parlamentes verbindet sich die Hoffnung auf eine bessere Qualität und Akzeptanz der Politik. Die erträgliche Leichtigkeit am Rhein hat ein Ende. ({4}) Die Standortveränderung wird - davon bin ich überzeugt - auch den Blickwinkel und die Richtung verändern. Der Osten rückt näher, die EU-Osterweiterung wird in doppelter Hinsicht eine naheliegende Aufgabe, die Metropolen- und Großstadtkonflikte lassen sich nicht übersehen. Wenn wir das Bonner Raumschiff verlassen und wirklich in Berlin ausschwärmen, werden wir die neuen sozialen Spannungen und die politischen Herausforderungen der Gesellschaft erleben. ({5}) In Berlin wird sich die Vision der sozialen Stadt testen lassen, Herr Bundeskanzler. Davor muß uns aber nicht bange sein, wenn wir bessere Politik als einen Anspruch an uns selbst, als Rückgewinn von Kompetenz, Legitimation und Handlungskraft verstehen. Darum dürfen wir den Kakao, durch den man uns gelegentlich zieht, nicht noch selbst erzeugen. Hier und heute wird nicht der Plenarbereich Reichstagsgebäude, sondern der Deutsche Bundestag eingeweiht. ({6}) Mit der Zeit wird sich das im Volksmund herumsprechen, wenn wir uns zu dieser Republik, ihren Grundwerten und Traditionen bekennen. Bekanntlich sind auch Berliner Taxifahrer helle, und von der Reichsbahn spricht keiner mehr. ({7}) Die Politik muß im Parlament geschehen - sichtbar und nachvollziehbar. Das Haus selbst bietet die besten Voraussetzungen. Es könnte die neue Mitte von Berlin werden. Wenn wir offen sind, wird es ein Anziehungspunkt wie zu den Volksfestzeiten der Reichstagsverhüllung durch Christo. Doch wer politischen Entscheidungen ausweicht und selbst immer häufiger das Bundesverfassungsgericht anruft, muß sich über das gesetzgeberische Echo von dort nicht wundern. Beispiel: Familienlastenausgleich. Ich will gar keine einseitige Schuldzuweisung betreiben, denn das war eine Kopfnuß für uns alle. Bei den vielen Fördertöpfen, die wir haben, müssen wir vor allen Dingen den Nachwuchs unserer Gesellschaft besser fördern. Das ist eine große Aufgabe für die Koalition. Nicht nur was vor uns liegt, ist beachtlich. Wir müssen in der Politik, beim Autofahren, den Rückspiegel im Auge behalten, um hinter uns liegende, auf uns zurollende Gefahren zu erkennen. In unserer Gesellschaft leben heute Opfer und Täter aus zwei Diktaturen nebeneinander. Wie schwierig die Verständigung selbst nach Jahrzehnten ist, hat die Bubis-Walser-Debatte gezeigt. Wieviel schwieriger sie erst ist, wenn die inneren Narben noch frisch sind, können wir daraus ableiten. Ich möchte an dieser Stelle dem Leiter und den Mitarbeitern der Gauck-Behörde ausdrücklich dafür danken, daß sie in sorgfältiger Kleinarbeit die Aktenablage und die Mechanismen eines totalitären Herrschaftsapparates offengelegt haben. ({8}) Es hat nicht die befürchtete Lynchjustiz gegeben, im Gegenteil: ein großes gesellschaftliches Bedürfnis nach Akteneinsicht, Aufklärung und kritischer Auseinandersetzung. Wir dürfen die Akten, Augen und Ohren nicht zumachen, sondern müssen aufeinander zugehen. Das verlangt den Mut des ersten Schrittes, der allemal besser ist als die verdrucksten Reaktionen im Blitzlicht der Medien. Mag sein, daß etliche die Vergangenheitsdebatte satt haben. Mal flott aus Wittenberg oder anderswo geäußerte Schlußstrich- oder Amnestieforderungen helfen aber nicht weiter. ({9}) Werner Schulz ({10}) Im Namen vieler Bürgerrechtler und SED-Opfer erkläre ich hier: Wir sind zur Versöhnung bereit. Alle, die sich ihrer Mitschuld und ihrer Mitveranwortung stellen, sollten, wenn nicht schon längst geschehen, eine Chance im vereinten Deutschland erhalten. Wahrlich nicht strenggenommen liefert die PDS sogar den organisierten Beweis der zweiten Chance. Darum sollten Sie den unverschämten Begriff „Siegerjustiz“ fallenlassen, ({11}) ein Begriff übrigens, mit dem die Unverbesserlichen nach dem zweiten Weltkrieg die Rechtsprechung der Alliierten verunglimpft haben. Ich habe Anfang der 90er Jahre darauf gehofft, daß die Demokratie, ähnlich wie in Ostdeutschland, überall in Osteuropa zum Zuge kommt. Doch wir erleben seit geraumer Zeit, daß auf dem Balkan ein primitiv-brutaler Nationalismus wütet. Hier im ehemaligen Reichstag sollten wir uns daran erinnern, zu welch schrecklichen Folgen der Nationalismus geführt hat. Zuerst wurde die Demokratie zerschlagen, dieses Haus in Brand gesteckt und dann Europa. Heute vor 56 Jahren begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Es war ein heroischer Widerstand derjenigen Juden, die sich nicht deportieren lassen wollten, junge Frauen und junge Männer. Es war kein Kampf um das Recht zu leben, sondern um das Recht, würdig zu sterben. Nur wenige sind diesem Inferno entkommen, so der stellvertretende Kommandant Marek Edelmann. Er hat uns schon beim Völkermord in Bosnien aufgefordert, dem mit Militär Einhalt zu gebieten. Auf meine bange Frage, ob wir Deutschen dort hingehen können, wo wir Unheil angerichtet haben, hat er mir damals geantwortet, daß gerade das vereinte Deutschland vor dem Hintergrund seiner Geschichte nicht das Recht zur Zurückhaltung, sondern die Pflicht zum Eingreifen hat. ({12}) Vielleicht lassen sich die Gegenstimmen, die es dazu gibt, zumindest von einem solchen Zeitzeugen ins Gewissen reden. Mich hat das tief beeindruckt. In diesem Haus liegt ein Vermächtnis, meine Damen und Herren, das heißt: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! Ich bitte, künftig auch die Reihenfolge zu beachten! Denn „nie wieder Faschismus“ heißt, nie wieder Völkermord, nie wieder Vertreibung, nie wieder Terror, Mord und Totschlag gegen Minderheiten zuzulassen und damit rechtzeitig Kriege einzudämmen. ({13}) Im Interesse aller Europäer geht es darum, daß Nationalismus und Rassismus auf diesem Kontinent keine Chance bekommen. Deswegen dürfen wir auch im eigenen Land nicht wegschauen. Von Skinheads und Rechtsradikalen sogenannte „nationalbefreite Zonen“ in Saalfeld, Wurzen oder anderswo sind ein Angriff auf die Zivilgesellschaft. ({14}) „Ausländer raus“ ist die Geisteshaltung, die im Extrem bis zur Vertreibung der Albaner aus Pristina führt. Wir hatten im letzten Bundestag eine bewegende Debatte zur Wehrmachtsausstellung. Die Bilder von Massenexekutionen, um die es da ging, laufen wieder, erst in Bosnien, jetzt im Kosovo. Wir sollten nicht nur in Ausstellungen gehen, sondern auch so weit, um das mit allen Mitteln zu unterbinden. ({15}) Vielleicht erleben wir mit dem schmerzhaften NATO-Eingriff zur Wahrung der Menschenrechte die Geburtsstunde eines neuen Völkerrechts: daß es keinen Anspruch auf Souveränität gibt, wenn eine Staatsmacht auch nur Teile des eigenen Volkes umbringt. Ich habe Verständnis für Zweifel und Respekt vor Bedenken, ob man ein solch schlimmes Übel wie Luftkrieg gegen ein unerträgliches Übel wie Völkermord einsetzen kann. Doch eines möchte ich hier persönlich klar ansprechen, denn wir suchen je auch die politische Auseinandersetzung in diesem Haus: Es geht mir schon an die Nieren, wenn Leute, die mich früher mit dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ als Staatsfeind behandelt haben, mich heute wegen meiner Haltung zum Einsatz im Kosovo an den PDS-Kriegspranger stellen. ({16}) Gesellschaftswissenschaftler, die uns Lenins „Thesen vom gerechten Krieg“ eingeimpft und den Einmarsch in die CSSR und Afghanistan als Inbegriff des Klassenkampfes dargestellt haben, Funktionäre, die gegen das Malen von Panzern im Kindergarten, Wehrkunde in den Schulen, vormilitärische Ausbildung an den Universitäten, gegen die Militarisierung einer ganzen Gesellschaft kein Sterbenswörtchen verloren haben, weil es ihr Programm war, die nur durch äußeren Druck ihren Kampfgruppenanzug abgelegt haben, gehen heute wie Friedensengel auf Demonstrationen, um Gregor Gysi zuzujubeln, der wie der unbefleckte Enkel von Karl Liebknecht so tut, als habe er hier die kaiserlichen Kriegskredite abgelehnt, und dann etwas später Milosevic die Hand gibt. Das ist schon atem- und glaubwürdigkeitsberaubend. ({17}) Was in Jugoslawien geschieht, verweist auf den Zustand Europas. Die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts scheint wieder lebendig zu sein. Das Haus Europa, das Michail Gorbatschow skizziert hat, ist ein unfertiges Haus im Umbau, in das immer mehr Bewohner einziehen wollen. Wir brauchen jetzt eine verbindliche Hausordnung in einem Haus ohne Folterkeller und TodesWerner Schulz ({18}) zelle. Doch eine solche neue europäische Friedensordnung bekommen wir nur, wenn wir Europa als Ganzes begreifen, wenn wir der Gefahr einer erneuten Spaltung entgegentreten. Die innere Einheit zu vollenden heißt heute, die innere Einheit Europas zu festigen und voranzubringen. Deswegen müssen wir die osteuropäischen Reformstaaten, Rußland, auch Serbien in die Demokratie mitnehmen. ({19}) Ohne demokratischen Fortschritt wird es auch in Osteuropa keinen wirtschaftlichen Aufschwung geben. Aber ohne sichtbare wirtschaftliche Verbesserung werden dort auch die demokratischen Grundregeln nicht greifen. Wir müssen in unserem Land das Bewußtsein dafür schaffen, daß sich der Aufbau Ost nicht mehr allein auf die neuen Bundesländer beschränkt. Wer mit militärischer Gewalt - bei aller moralischen Berechtigung - Zerstörung anrichtet, muß auch bereit sein, bei der Beseitigung der Schäden, beim Wiederaufbau Serbiens, mitzuhelfen. Das ist eine geschichtliche Erfahrung, auf die wir mit Erfolg verweisen, wenn wir vom „EUMarshallplan“ reden. ({20}) Das vereinte Deutschland hat Verantwortung in einer neuen Dimension zu tragen. Deswegen müssen wir unsere eigenen Probleme schneller lösen. Europa braucht das vereinte Deutschland. Daß die Teilung nur durch Teilen überwunden werden kann, hat eine europäische Tragweite bekommen. Natürlich bietet der Umzug vom Rhein an die Spree auch die Chance zur Inventur. Der Reformbedarf bestand übrigens schon vor der Vereinigung. Seit Jahren kommt hinzu, daß sich etliche westdeutsche Gebrauchsmuster an der ostdeutschen Realität reiben. Möglicherweise steigt jetzt sogar die Veränderungsbereitschaft. Für das Grundinventar allerdings gilt die Formel „Bewahren und erneuern.“ Deswegen halte ich überhaupt nichts von dem Begriff der „Berliner Republik“, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ CSU und der F.D.P. den ein um Originalität bemühter Kolumnist der „FAZ“ aufgebracht hat und den jetzt einige blumig umschreiben. Wir sollten bei der Bundesrepublik bleiben. Sie ist ein Glücksfall in der deutschen Geschichte. Ich empfinde das ganz authentisch, weil ich zwei Staaten miteinander vergleichen kann. Ich hätte allerdings nichts - dabei geht es mir nicht um ein Wortspiel, sondern um eine Entwicklung - gegen eine „Deutsche Demokratische Bundesrepublik“ einzuwenden. Vielleicht kommen wir so der Geschichte näher, daß der demokratische Aufbruch Ost leider nur als Systemzusammenbruch verkannt wurde. In jedem Falle sind wir gut beraten, meine Damen und Herren, wenn wir uns in aller Bonner Bescheidenheit unserer Berliner Verantwortung stellen. Möge uns hier viel Gutes gelingen! ({21})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die PDSFraktion spricht nun der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht Gebäude machen Geschichte, sondern Menschen. Den Streit um die Symbolik von Gebäuden halte ich deshalb, von Ausnahmen abgesehen, für eher müßig. Wichtig wird sein, was die Abgeordneten und ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger hier treiben, welche Politik hier gemacht, ob hier Demokratie und Freiheit gelebt und für Frieden, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit wirksam gestritten wird. ({0}) Da es darauf ankommt, was wir hier machen, meine auch ich, ein historisch entstandener Name sollte bleiben. Das heißt, der Deutsche Bundestag berät in einem Gebäude, das Reichstag und nicht anders heißt. ({1}) Die Wende in der DDR 1989 vollzog sich friedlich. Die vielen politisch Ohnmächtigen wurden mächtiger und die damals politisch Mächtigen ohnmächtig. Die einen setzten keine Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele ein, und die anderen verzichteten dann auch auf den Einsatz ihrer Gewaltpotentiale, vielleicht weil sie spürten, sie könnten höchstens verzögern, nicht aber wirksam verhindern. Diese Friedlichkeit, diese Gewaltfreiheit können wir heute ganz anders schätzen, wenn wir an Jugoslawien und vor allem an das Kosovo denken. Die PDS-Fraktion und ich selbst hatten es aus verschiedenen Gründen, von denen wir einen Teil selbst gesetzt haben, nie leicht im Bundestag. Aber wir haben immer geschätzt, daß wir hier Dinge sagen können, von denen wir in der Volkskammer bis 1989 fast nichts hätten sagen können. Dennoch macht der öffentliche Umgang mit der PDS einen Teil auch der kulturellen Probleme der Vereinigung deutlich. Deshalb sage ich Ihnen, Herr Schulz: Der merkwürdigste Vorwurf, den ich hier immer wieder höre, ist - das wird nach der Aufzählung von lauter Untaten der SED hinzugefügt -, daß die PDS heute eine andere Position dazu hat; eigentlich ist es der Vorwurf, daß wir nicht immer noch so denken wie damals. Aber das fände ich wirklich sehr viel schlimmer, und deshalb finde ich diesen Vorwurf ziemlich daneben. ({2}) Ich sage meinen Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion immer: Wir sind nicht hier, damit wir es leicht haben; das wollen wir ja auch gar nicht. Zur Demokratie gehört auch, zu akzeptieren, daß es in einer so zentralen Frage wie der Frage Krieg-Frieden gänzlich voneinander abweichende Auffassungen gibt. Wenn es aber stimmt, daß über 60 Prozent der Bevölkerung für den Krieg der Werner Schulz ({3}) NATO gegen Jugoslawien und über 30 Prozent dagegen sind, dann bleibt doch, daß der letztgenannte Teil der Bevölkerung im Bundestag völlig unterrepräsentiert ist. ({4}) Ich will es hier noch einmal ganz klar sagen - wie ich es übrigens schon im Oktober 1998 im Bundestag in Bonn und danach bei anderen Gelegenheiten gesagt und geschrieben habe -: Die jugoslawische Führung und speziell Milosevic begingen und begehen schlimmste Menschenrechtsverletzungen und damit Verbrechen im Kosovo. Meine Gespräche am Sonnabend mit vertriebenen Kosovo-Albanern in Albanien haben das erneut für mich dramatisch bestätigt. Dazu darf nicht geschwiegen werden; dagegen muß auch etwas getan werden. Aber so wie Herr Fischer mit Herrn Milosevic geredet hat, damit es gar nicht erst zum Krieg kommt, so habe ich halt mit ihm geredet, um zu sehen, ob es einen Weg gibt, aus diesem Krieg herauszukommen. ({5}) Aber die PDS ist und bleibt auch eine entschiedene Gegnerin des völkerrechtswidrigen Krieges der NATO gegen Jugoslawien. Es leiden immer die Völker, nicht die politisch Verantwortlichen. Zerstörte Wasserwerke und Heizkraftwerke, zerstörte Düngemittelfabriken treffen die serbische Bevölkerung und nutzen keinem Kosovo-Albaner. Es entstehen immer mehr Haß und Feindschaft. Deshalb muß der NATO-Krieg ebenso beendet werden, wie die Verbrechen im Kosovo beendet werden müssen. ({6}) Deshalb brauchen wir wieder Politik, Gespräche, Diplomatie und auch Wirtschaft statt Krieg. Die Bomben auf Jugoslawien haben die Leiden der Kosovo-Albaner nicht gelindert; sie sind im Gegenteil ständig schlimmer geworden. Am 3. Oktober 1990 gab es die staatliche Vereinigung in Deutschland. Aber deshalb sind die Gesellschaften noch lange nicht vereint. Ein Grundproblem, das sich in Polen, Tschechien und anderen osteuropäischen Ländern nicht stellte: Als die DDR unterging, wurde aus ihr nichts wirklich existentiell im vereinigten Deutschland gebraucht. Vieles ging unter, und vieles, was blieb, blieb nicht aus Notwendigkeit, sondern im Wege der Gnade. Das gilt für die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Kultur. Die Ostdeutschen wollten aber nicht Gnade, sondern Respekt. Das ist der Kern der kulturellen Differenz. Wenn Sie, Herr Schäuble, sagen, daß die Leistungen der Ostdeutschen ohne ihr Verschulden außer im Sport zu nichts geführt hätten, so sage ich: Das ist eben nicht wahr. Dieser Satz ist nicht ausreichend. Haben sie wirklich zu nichts geführt? Gab es nicht auch respektable Filme der DEFA? Gab es nicht auch ausgezeichnete Inszenierungen an Theatern und Opern? Gab es nicht auch sozialverträgliche Mieten und Kindergärten? Vieles muß und kann man an der DDR scharf kritisieren. Wenn man aber solche positiven Dinge nicht sieht und von ihnennicht spricht, wird die kulturelle Differenz nur vertieft, weil man dann die Alltagserfahrungen der Ostdeutschen negiert. ({7}) Demütigend ist und bleibt, wenn die neuen Bundesländer in einigen alten Bundesländern häufig vor allen Dingen als Kostenfrage diskutiert werden. Herr Schäuble hat sich darüber beschwert, daß von Siegern und Besiegten gesprochen wird. Aber wenn Hunderttausende in Prozesse zu ihrem Grundstückseigentum und ihren Nutzerrechten verwickelt werden und viele ihr Grundstück tatsächlich verlassen müssen, dann empfinden sie es eben so. Warum ist es eigentlich bis heute nicht gelungen, endlich dafür zu sorgen, daß alle Ausbildungsabschlüsse aus der DDR anerkannt werden? ({8}) Was wurde eigentlich dagegen getan, daß sich die Gehälter und Löhne in den neuen Bundesländern zwischen 60 und 85 Prozent der Gehälter und Löhne in den alten Bundesländern eingependelt haben, daß die Preise jedoch bei 100, zum Teil sogar bei über 100 Prozent liegen? Das verträgt sich einfach nicht miteinander. Das führt nicht nur zu sozialen, sondern auch zu erheblichen kulturellen Differenzen. Menschen in den neuen Bundesländern verlieren ihre Grundstücke heute häufig wegen überhöhter Wasser-, Abwasser- und Straßenbaubeteiligungsgebühren. Das ist für sie - wie ich finde, zu Recht - nicht nachvollziehbar. Man hätte so etwas nie zulassen dürfen. Natürlich ist im Osten auch vieles aufgebaut worden: Stadtzentren, Telekommunikation, Wohnungen, ich könnte noch vieles andere nennen. Das alles ist wahr. Der Wegfall von Millionen von Arbeitsplätzen aber ist die Kehrseite. Arbeitslosigkeit ist überall schlimm; sie ist im Osten jedoch doppelt so hoch wie im Westen. Es ist eine Tatsache: Seit der Vereinigung hat Reichtum in der Gesellschaft zugenommen; aber auch Armut ist beachtlich angewachsen. Mit der Einheit kommen wir meines Erachtens in dem Maße voran, in dem wir Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen, soziale Gerechtigkeit herstellen und Extremismus, Ausländerfeindlichkeit und Rassismus überwinden. Als Berliner möchte ich Ihnen noch gerne sagen: Wir Berliner sind manchmal etwas muffelig, das ist wahr. Ich will auch nicht bestreiten, daß wir gerne meckern. Wir sind aber eigentlich nicht weniger herzlich als Rheinländer. Deshalb bitte ich Sie: Kommen Sie einfach gerne. In Berlin kulminieren alle Widersprüche dieser Gesellschaft und auch der Vereinigung. Begreifen wir Berlin als Herausforderung und nehmen wir diese Herausforderung an, weil es auch eine Chance ist ({9}) für uns, für die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und für unsere Nachbarn. Wir sollten auch in diesem Gebäude demonstrieren: Einheit verlangt nicht Einheitlichkeit, sondern Anerkennung und Respekt in der jeweiligen Unterschiedlichkeit. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Dr. Manfred Stolpe. Dr. Manfred Stolpe, Ministerpräsident ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Stunde stellen wir dankbar fest, daß Wort gehalten wurde: Wort gehalten an den Beschlüssen des Deutschen Bundestages seit 1949, Wort gehalten am Einigungsvertrag und Wort gehalten am Beschluß über die „Vollendung der Einheit Deutschlands“. Auch was sich vor zehn Jahren im Frühjahr 1989 ankündigte, als die Unzufriedenheit Tausender DDR-Bürger über Unfreiheit, Gängelei und deutsche Trennung drängender wurde, hat heute ein wichtiges Ziel erreicht: Der Umzug des Bundestages nach Berlin ist das vollzogene Bekenntnis zu Einheit und Freiheit für alle Deutschen. Vor zehn Jahren, am 19. April 1989, machte ich in meinem persönlichen Tagebuch drei Eintragungen: Mit der DDR-Regierung war über eine Vereinfachung der Besuchsreisen nach Westberlin zu sprechen - erfolglos; mit dem Bezirk Cottbus gab es Streit wegen dessen Forderung, schon die Anfertigung von Kopien staatlich genehmigen zu lassen; am Kloster Chorin verhandelte eine Menschenrechtsgruppe über den Zusammenhang von sozialen Rechten und Freiheitsrechten. Die Menschen in der DDR begannen, offen zu reden; bisherige Tabus galten nicht mehr. Was jahrzehntelang ertragen wurde, war unerträglich geworden. Da bahnte sich etwas an, was in seinen Dimensionen und Wirkungen noch niemand richtig erahnen konnte. Es folgte eine friedliche Revolution, in der die einen den Mut zur offenen Auflehnung fanden und die anderen ihren Machtapparat nicht zur blutigen Unterdrückung einsetzten. Am Ende haben sich die Menschen in der DDR in freier Selbstbestimmung für die staatliche Einheit entschieden. Wir haben mit dieser Entscheidung damals einen Wechsel auf die Zukunft unterschrieben und durften auf Fairneß und Grundsatztreue der Vertragspartner wie auch der Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik vertrauen. Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren vollzog sich in Deutschland eine erstaunliche und großartige Gemeinschaftsleistung: Die Deutschen im Osten zeigten umfassenden Veränderungswillen, trugen geduldig die Lasten des radikalen Umbruchs und schufen eine beachtliche Aufbauleistung. Die Deutschen im Westen bewiesen eine historisch unvergleichbare Solidarität durch einen riesigen Finanztransfer und Zehntausende Aufbauhelfer in Verwaltung und Wirtschaft des Ostens. ({1}) Im Ergebnis sind die gesellschaftlichen Strukturen gestaltet und die Grundlagen für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft geschaffen worden. Die deutsche Einheit - und in deren Folge die Entscheidung für den Umzug von Parlament und Regierung - ist der Wille des Volkes und das Ergebnis der europäischen Entspannung. Ohne europäischen Friedensprozeß für Sicherheit und Zusammenarbeit wäre das Wunder der Einheit nicht Wirklichkeit geworden. ({2}) Dank und Respekt zollen wir der Bereitschaft der vier Siegermächte und den europäischen Nachbarstaaten, die deutsche Einheit ermöglicht und gebilligt zu haben. Nach allem, was Deutsche anderen Menschen angetan haben, durften wir dieses Vertrauen nicht selbstverständlich erwarten. Wir werden es auch von Berlin aus rechtfertigen. ({3}) Nun also konnten die Deutschen zusammenkommen. Schon bald aber mußten wir feststellen, daß der deutschdeutsche Umgang gelernt sein will. Denn der Einheit gingen 45 Jahre einer sehr verschiedenen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung im geteilten Deutschland voraus. Da sind unterschiedliche soziale Systeme entstanden, die auch die Menschen unterschiedlich geprägt haben. Wir im Osten erlebten nun einen dreidimensionalen Umbruch: Da ist zum einen der Wandel der politischen Struktur, der Übergang von einer Diktatur mit all ihren Formen der Repression zu einem demokratische Rechtsstaat. Da ist zum anderen der wirtschaftliche Wandel, der Übergang von einer Staatsplanwirtschaft zur Wettbewerbswirtschaft. Schließlich - was gelegentlich übersehen wurde - ist da die dritte Dimension, der Umbruch für den einzelnen, der Übergang von einem Bevormundungssystem, das von der Wiege bis zur Bahre reichte, hin zu einem System der Eigenverantwortung und der Selbstbehauptung. Diese subjektive Seite ist es, die viel Verunsicherung mit sich bringt. Denn die Umstellung für den einzelnen war radikal. Die Erfahrungen sind oft ein Schock gewesen, vor allem die nicht erwarteten Erfahrungen, zu denen insbesondere die unerwartete Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit gehört. ({4}) Die Biographie jedes einzelnen, alle individuellen Lebensentwürfe und Lebenssicherheiten, alle Perspektiven und Kalküle wurden auf den Kopf gestellt. Es gibt kaum eine Familie zwischen Elbe und Oder, in der sich nicht mindestens ein Mitglied beruflich völlig neu orientieren oder - schlimmer - aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden mußte. Und doch kann ich diese Empfindung der großen Mehrheit der Menschen in den neuen Ländern vermitteln. Bei allen Problemen und manchem Schmerz, der mit dem Veränderungsdruck und mit einzelnen Folgen des Umbruchs einhergegangen ist: Wir haben die neuen Freiheiten und Möglichkeiten als große Bereicherung erfahren. Aber eines ist für die Deutschen in Ost und West noch zu tun. Wir wissen noch zuwenig voneinander; wir kommen dadurch zu schnell zu Mißverständnissen und Vorurteilen. Meine Damen und Herren, nutzen wir alle den künftigen Sitz von Parlament und Regierung in Berlin als eine Möglichkeit, uns besser kennenzulernen, voneinander zu lernen und die Chancen unterschiedlicher Erfahrungswerte anzuwenden. In vielen Unternehmen im Osten kann man zum Beispiel erfahren, wie erfolgreich eine gemischte Ossi-Wessi-Geschäftsführung sein kann. Ich freue mich darauf, daß nun viele Neue aus dem Westen, dem Norden und dem Süden unseres Vaterlandes in diese Region kommen. Vertrauen Sie mir bitte: Ihnen wird nicht nur das hiesige Klima, sondern auch die Weite des Landes, die einen freien Blick gewähren kann, gut gefallen und guttun. ({5}) Um Berlin herum erwarten Sie über 3 000 Seen und Deutschlands größte Waldgebiete, viele kleine Dörfer, nicht allzu große Städte sowie 700 Schlösser und Herrenhäuser - einige sind noch zu haben -, ({6}) und nicht zuletzt erwartet Sie der rauhe Charme der Märker. Sie, die Neuankömmlinge im Osten, werden selber erfahren können, wie es denn nun um die innere Einheit der Deutschen steht. Meine Damen und Herren, dabei warne ich vor Überfrachtung des Begriffs und rate zu nüchterner Betrachtung. Denn es gilt, was die Deutschen in Ost und West gewollt und gewählt haben: Es gibt heute in ganz Deutschland ein demokratisches System, das auf Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger fußt, ebenso Rechtssicherheit, Bewegungsfreiheit und ökonomische Effizienz. Das sind gemeinsame Grundlagen, und das ist viel. Die Grundprinzipien der Verfassung werden von großen Mehrheiten in Ost- und Westdeutschland getragen. Gleiches gilt für die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Die Identifikation mit dem vereinten Deutschland ist gegeben. Auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist vorhanden, trotz aller gepflegten Vorurteile, die es zwischen West und Ost und schließlich auch zwischen Nord und Süd gibt. Übrigens war uns dieses Problem auch in der ehemaligen DDR durchaus geläufig. Die Differenz zwischen Ost- und Westdeutschen liegt nicht in der Akzeptanz der Staats-, Rechts- und Werteordnung, sondern in den unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen mit der Funktionsfähigkeit sozialer Marktwirtschaft. Vom Verlauf dieser Erfahrungen hängt für die Zukunft viel ab, vom Empfinden, im gleichen Maße wie im Westen auch im Osten Deutschlands faire Chancen wahrnehmen zu können. Erst damit werden die Ostdeutschen die Zeit des Übergangs als abgeschlossen und die innere Einheit als vollzogen ansehen können. Willy Brandt war sich der Bedeutung der Chancengleichheit und der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse für die nationale Identität bewußt. Er war es, der mit der politischen Einheit die soziale Abfederung des Einigungsprozesses anmahnte, der darauf achtete, daß Beschwörungen nationaler Zusammengehörigkeit nicht davon ablenkten, die Arbeitslosigkeit und eine ungerechte Lastenverteilung zu bekämpfen. Weil wir nicht riskieren dürfen, daß die sozialen Folgen der Einheit zum Sprengsatz für die Grundwerte werden, auf denen sie basiert, nämlich Menschenwürde, Freiheit und Demokratie, müssen wir - nun von Berlin aus - alles tun, um den Menschen in Ost und West über Arbeit und Einkommen ihre persönliche Perspektive im vereinten Deutschland erfahrbar zu machen. ({7}) Dafür darf ich fünf Bitten aussprechen, um die sozialökonomischen Grundlagen im Osten Deutschlands zu festigen: Lassen Sie uns mehr tun, um die schwache industrielle Basis auszubauen. Helfen wir den Hunderttausenden Existenzgründern, die an Kapitalmangel und Zahlungsverweigerung leiden. Stärken wir Kultur-, Sport- und Freizeitangebote als soziale Integrationshilfe gerade auch für Jugendliche. Verbessern wir die noch schwache Infrastruktur und ungenügende Lebensqualität vor allem in großen Wohngebieten. Stellen wir uns darauf ein, daß in benachteiligten Regionen noch etwa zehn Jahre Arbeitsförderungsmaßnahmen und Ausbildungsprogramme nötig sein werden. Das alles ist zu schaffen. Es ist wenig, gemessen an unserer bisherigen Gemeinschaftsleistung; aber es wird schließlich ganz Deutschland dienen. Denn dieses Land muß leistungsfähig sein, um wirksam für Frieden und Menschenrechte in Europa und darüber hinaus einzutreten. ({8}) Lassen wir uns an diesem Tag dazu ermutigen. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat der Kollege Michael Glos.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch vor zehn Jahren war es für viele von uns ein Traum, daß die Teilung Berlins und die Teilung Deutschlands so schnell überwunden werden könnten. Der Wettstreit der Systeme ist ganz klar entschieden: Die Menschen im Osten haben Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft gewählt. Wir haben zu allen Zeiten immer daran geglaubt - das haben nicht alle in diesem Hause getan -: Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl konnten nicht das letzte Wort in der deutschen Geschichte sein. ({0}) Die Menschen in der damaligen DDR haben im Herbst 1989 ein großartiges Kapitel deutscher Geschichte geschrieben und durch ihre friedliche Revolution in die Tat umgesetzt. Bei der ersten freien Volkskammerwahl wurde den Kommunisten eine klare Absage zuteil. Es wurde für die Einheit Deutschlands votiert. ({1}) Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({2}) Es ist durchaus keine Selbstverständlichkeit - insofern ist es ein ganz großer Tag -, daß wir heute im Reichstag in Berlin unsere Arbeit als frei gewähltes Parlament aufnehmen können. Ich erinnere mich sehr genau an die vielen Fraktionssitzungen, die insbesondere die CDU/CSU-Fraktion in diesem Gebäude abgehalten hat, oder an die vielen damaligen Ausschußsitzungen, als Autos der sowjetischen Militärkommission ständig um diesen Bau kreisten. Gerade wir von der CSU waren damals immer geschlossen vertreten und haben damit auch ein Bekenntnis unseres Glaubens an die Einheit Deutschlands abgelegt. ({3}) Es muß auch in dieser Stunde daran erinnert werden: Es war der verstorbene frühere Parteivorsitzende der CSU, Franz Josef Strauß, der die damalige Klage der Bayerischen Staatsregierung initiierte, mit der ein entsprechendes Urteil zum Grundlagenvertrag erstritten wurde und mit der die deutsche Einheit nicht nur historisch, sondern auch rechtlich offengehalten wurde. ({4}) Wir haben nie einen Zweifel an unserem Willen zur Wiedervereinigung gelassen. Die deutsche Währungsunion, die ein mutiger Schritt von Helmut Kohl und Theo Waigel gewesen ist, hat einen ganz entscheidenden Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung geleistet und hat sie unumkehrbar gemacht. ({5}) In dieser historischen Stunde ist es angebracht, auch für diese Leistung ganz herzlich zu danken. ({6}) Das deutsche Vaterland hat die volle innere und äußere Souveränität in Freiheit wiedererlangt. Ohne die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die freiheitliche westliche Werte- und Verteidigungsgemeinschaft wäre dies alles in dieser Form sicherlich nicht erreichbar gewesen. Nun wissen wir, daß Bündnisse keine Schönwetterveranstaltungen sind und daß unsere Solidarität und unser Einsatz im Bündnis jetzt gefordert sind. Wir werden uns als treue, verläßliche Bündnispartner erweisen. In vier Wochen, am 23. Mai, können wir mit Stolz auf den 50. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zurückblicken. Das Bonner Grundgesetz war und ist ein Glücksfall für unser Land. Das Grundgesetz mit seinen demokratischen Spielregeln und seinem Katalog von Grundrechten stellt eine fundamentale Wertentscheidung für die Deutschen dar. Die Annahme unserer Verfassung war eine Entscheidung für die politische Freiheit und gegen den Totalitarismus. Sie war eine Entscheidung für den Rechtsstaat und gegen die Gewaltherrschaft, und sie war vor allen Dingen eine Entscheidung für eine liberale und gegen eine kollektivistische Wirtschaftsordnung. ({7}) - Das ist das, was Sie immer gewollt haben! Es war gut und richtig, nach dem Beitritt an unserer bewährten Verfassung festzuhalten. Auf dieser Grundlage werden wir auch die künftigen Herausforderungen bewältigen. Der Umzug von Parlament und Teilen der Regierung in die Bundeshauptstadt Berlin darf nicht als historische Zäsur verstanden werden. Die Zukunft gehört auch in Europa dem Föderalismus und nicht dem Zentralismus. Ich freue mich, daß der Bundeskanzler auch heute noch einmal ein Bekenntnis dazu abgelegt hat. Wir werden ihn auch in Zukunft daran messen. Wir sind ganz sicher: Die Länder sind das Fundament des Hauses Deutschland. Wir werden als CSU gerade in Berlin ein ganz besonderes Wächteramt hinsichtlich des Föderalismus ausüben. Deswegen müssen wir bei allen Entscheidungen in diesem Haus bedenken, daß die Kompetenzen der Länder gewahrt bleiben und nicht weiter ausgehöhlt werden. Sie müssen gestärkt werden. ({8}) Wir müssen uns hüten, Frau Präsidentin, einer schleichenden Aushöhlung der Länderzuständigkeiten das Wort zu reden oder im Parlament sogar unsere Hand dafür zu erheben. ({9}) Ein lebendiger Föderalismus ist in einer Zeit zunehmender Globalisierung wichtiger denn je. Wer allerdings ja zum Föderalismus sagt, der muß auch ja zum Wettbewerbsföderalismus sagen; denn es ist ganz entscheidend, daß diejenigen, die überdurchschnittliche Anstrengungen unternehmen, von den Früchten der Anstrengungen ein Stück profitieren können. Gleichmacherei löst letztendlich kein Problem, und deswegen treten wir auch für den Wettbewerbsföderalismus ein. ({10}) Dieser Wettbewerbsföderalismus ist nur richtig möglich, wenn es starke und leistungsfähige Bundesländer gibt. Deshalb brauchen wir in einem geeinten Europa der Nationen und Regionen klare Zuständigkeiten. Auch darüber muß in diesem Hause gestritten werden. Deutschland ist auf dem Wege der Vollendung seiner Einheit. Die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West ist weit vorangeschritten. Man kann sagen, das Glas sei halb voll oder halb leer. Für mich ist das Glas halb voll. Wahr ist: Insbesondere der wirtschaftliche Einigungsprozeß ist schwieriger, als wir es uns alle vorgestellt haben. Das lag aber auch daran, daß das Ausmaß der Zerstörung, die Kommunismus und real existierender Sozialismus ausgelöst haben, sehr viel größer gewesen ist, als wir es uns alle insgesamt vorgestellt haben. ({11}) Wahr ist auch: Die Solidarität in Deutschland ist ohne historischen Vergleich. Die Menschen in Ost und West leisten gleichermaßen Beispielloses. Der Prozeß der inneren Einheit und des inneren Zusammenwachsens ist aber nicht nur eine Frage von Mark und Pfennig. Unsere Nation lebt von gemeinsamen geistigen und wertemäßigen Grundlagen. Eine dieser Grundlagen muß wieder stärker hervorgehoben werden. Wie wir in Umfragen lesen, ist die Grundlage der Freiheit etwas in den Hintergrund getreten. Ich glaube, daß das der falsche Weg ist. Eine freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung gründet auf Eigenverantwortung und Solidarität. Wer allerdings Solidarität erwartet, der muß auch bereit sein, Eigenverantwortung zu übernehmen. Das ist etwas, was wir den Menschen im Land wieder stärker ins Bewußtsein rufen müssen, und zwar in beiden Teilen unseres Landes. ({12}) Die Mahnung richtet sich auch an uns hier in diesem Haus: Politik, Staat und Gesellschaft, Schulen und Institutionen müssen wieder verstärkt Werte vermitteln, auf denen der moralische, politische und letztendlich auch wirtschaftliche Wiederaufbau nach 1945 gelungen ist. Eine weitere Mahnung, die wir beherzigen müssen: Gewalt darf in Deutschland niemals wieder eine Chance haben. Das müssen wir auch - heute ist soviel von unseren ausländischen Mitbürgern gesprochen worden - den ausländischen Mitbürgern und Gästen sagen, die in Deutschland leben. Vorhin hat der Kollege Schulz angemahnt - Wolfgang Schäuble hat am vergangenen Donnerstag, wie ich meine, zu Recht, noch einmal einen breiten Konsens bei der Staatsbürgerschaft gefordert -, vielleicht doch noch einmal Gespräche, auch außerhalb dieses Hauses, aufzunehmen, um in dieser existentiellen Frage zu einem Konsens zu kommen. Deswegen fordere ich namens der CDU/CSU-Fraktion die Bundesregierung noch einmal auf, in diese Gespräche einzutreten. Diese haben ganz viel mit der inneren Einheit unseres Landes zu tun. ({13}) Es wird in diesen Tagen sehr bewußt: Das geeinte Deutschland übernimmt Verantwortung für Frieden, Freiheit und Menschenrechte in Europa. Auch künftig muß deshalb unser Platz immer an der Seite unserer westlichen Partner sein. Fünf Jahrzehnte ist Deutschland von Bonn aus regiert worden. Es waren fünf gute Jahrzehnte für unser Vaterland. Der Wechsel vom Rhein an die Spree darf nicht mit einer Verschiebung der politischen Grundachse Deutschlands und seines politischen Koordinatensystems einhergehen. ({14}) Michael Stürmer sprach gestern in der „Welt am Sonntag“, sich auf Goethe berufend, von der Angst der Deutschen vor einer Hauptstadt. Die CSU, wir alle haben keine Angst vor einer Hauptstadt. Wir sind selbstbewußt genug, zu wissen, daß es auch noch genügend andere Zentren gibt, die wir in Deutschland pflegen. Unser Land besteht aus dieser Vielfalt. Aber Berlin muß ebenso wie Bonn ein Synonym für innen- und außenpolitische Berechenbarkeit, für Kontinuität und selbstverständlich für Liberalität werden und bleiben. Deswegen gibt es für mich keine „Berliner Republik“, genausowenig wie es je eine „Bonner Republik“ gegeben hat. Es geht um die gemeinsame deutsche Republik, die wir insgesamt weiter pflegen und voranbringen wollen. Ein Allerletztes. Mir gefällt dieses Haus, unser Berliner Parlament. Seien wir doch selbstbewußt genug, es so zu nennen, wie es die Leute nennen: Der Bundestag wird künftig im Reichstag tagen. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Sabine Kaspereit.

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Anläßlich der Übernahme des Reichstagsgebäudes durch den Deutschen Bundestag drängt sich die historische Würdigung dieses Tages förmlich auf. Es ist aber von unserem Parlamentspräsidenten, dem Bundeskanzler und den meisten meiner Vorredner schon viel dazu gesagt worden. Ich will den Würdigungen der Geschichte des Reichstages nicht noch eine weitere hinzufügen. Ich will von meinen Gefühlen sprechen, die mit dem Reichstag verbunden sind. Tief bewegt und auch ein bißchen stolz darauf, heute an dieser Stelle stehen zu dürfen, kann ich nicht sagen, daß sich mir ein Traum erfüllt hätte. Wie hätte ich davon träumen können? Für mich war der Reichstag eine Ruine, auf die ich als DDRKind, wenn ich nur nahe genug an die Mauer herankam, einen sehr eingeschränkten Blick hatte - intellektuell und vor allem visuell. Später war der Reichstag ein Symbol der Verbundenheit der Westdeutschen mit der Insel Westberlin und noch später die Kulisse für lautstarke Rockkonzerte, die den DDR-Oberen so schrill in den Ohren klangen, daß es mich freute, auch wenn ich selbst nur das Echo der Konzerte in den DDR-Medien wahrnahm. Als ich 1994 als Abgeordnete die konstituierende Sitzung des 13. Deutschen Bundestages in den Mauern des Reichstages erlebte, bekam dieses Haus plötzlich eine andere Dimension für mich. Ich empfand die Wucht und Schwere des Gemäuers als Verantwortung auf meinen Schultern. Daran hat auch der spielerische Umgang Christos mit seiner zauberhaften Verhüllung nichts geändert. Es geht eine Ausstrahlung von diesem Hause aus, der man sich nur schwer entziehen kann. Wofür steht dieser Koloß? Steht er für parlamentarische Demokratie? Steht er für deren Ende durch die Nazis? Steht er als Symbol des Sieges über die Nazis? Für mich steht er heute als Symbol für den Neuanfang nach 40 Jahren SED-Regime. Voraussetzung dafür war der Fall der Mauer, die meine Landsleute aus dem Osten zum Einstürzen gebracht haben. ({0}) Dieser Neuanfang nach dem Fortfall der Konfrontation der Blöcke fordert von uns Parlamentariern innenwie außenpolitisch mehr Sorgfalt und komplexere Sichtweisen sowie mehr Verantwortungsbewußtsein, damit wir die Chance einer langfristigen und allseits geachteten Friedensordnung ergreifen können. Dies sage ich auch und gerade vor dem Hintergrund der Geschehnisse im Kosovo. Für uns Ostdeutsche mit unserer viel aktuelleren, längeren und auch tiefgreifenderen Diktaturerfahrung, als die Westdeutschen sie haben, ist die Rückkehr der gesamtdeutschen parlamentarischen Demokratie nach Berlin eine besondere Freude und Genugtuung. ({1}) Mit dem Widerstand gegen die Verweigerung einer wirklichen parlamentarischen Repräsentanz in der DDR hat angefangen, was wir heute als die gewaltlose Revolution des Herbstes 1989 bezeichnen. Mit dem Ruf nach freien Wahlen hat die Entmachtung des DDRMachtapparates begonnen, und sie wurde sozusagen durch „Ersatzparlamente“ weitergeführt, durch die runden Tische auf kommunaler, bezirklicher und nationaler Ebene. Natürlich waren diejenigen, die an den runden Tischen saßen, nicht gewählt, und die Zusammensetzung war auch nicht repräsentativ. Aber die runden Tische hatten etwas, was ein Parlament neben der einwandfreien demokratischen Legitimation durch Wahlen braucht: Sie hatten das Vertrauen all derer, die schon lange kein Vertrauen mehr in ihre Staatsführung gehabt hatten. ({2}) Die runden Tische waren offen für alle. Warum spreche ich diese Erfahrungen und Erinnerungen an? Weil wir heute einen neuen Abschnitt deutscher Geschichte beginnen, der ohne das eben Gesagte überhaupt nicht denkbar wäre und zu Zeiten der deutschen Teilung trotz aller Sonntagsreden von allen Seiten auch nicht gedacht worden ist. Deshalb hätte ich nie davon träumen können, heute hier zu stehen. Das Vergangene der 40 Jahre vor 1989 und sein Ende dürfen genausowenig vergessen werden wie das der Jahre vor 1945. Das Verwerfliche daran darf nicht von Gewohnheit und Gleichgültigkeit des täglichen Lebens und des politischen Alltags glattgeschliffen werden. Ich will nicht zulassen, daß im Schatten von Rechtsradikalen das Unrecht des DDR-Systems bis zur Unauffälligkeit verschwimmt. ({3}) Wer konsequent die Verfolgung von Machenschaften bei der Privatisierung volkseigener Betriebe fordert, kann nicht gleichzeitig einen Schlußstrich unter das Unrecht ziehen wollen, unter dem zwar unmittelbar nicht die Mehrheit der DDR-Bürger zu leiden hatte, aber mit Sicherheit jeder, der sich dagegen aufzulehnen gewagt oder den Versuch unternommen hat, ihm zu entkommen. ({4}) Wenn wir von symbolischen Sitzungen der Bundestagsfraktionen und der Bundesversammlungen absehen, begann politisches Leben eigentlich erst mit der demokratischen Volkskammer nach den ersten freien Wahlen in der DDR in den Reichstag einzuziehen. Die Bundestagsfraktion der SPD hat sich als erste ganz bewußt dafür entschieden, den Reichstag für die Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Abgeordneten der Volkskammer zu nutzen. Die anderen damaligen Bundestagsfraktionen sind ihr in unterschiedlicher Weise bald gefolgt. Das Reichstagsgebäude als Bindeglied zwischen den frei gewählten Parlamenten der beiden deutschen Staaten - das ist unter den Funktionen, die dieses Haus je innehatte, wahrlich nicht die geringste. ({5}) Ich denke, das dürfte den 99jährigen Sozialdemokraten Josef Felder, den einzigen noch lebenden Abgeordneten des Reichstages, der diese Debatte von München aus sicher verfolgt, sehr freuen. ({6}) Ich möchte Josef Felder von dieser Stelle aus sehr herzlich grüßen. ({7}) Der Alltag der deutschen Einigung nach den Festtagen des 9. November 1989 und des 3. Oktober 1990 zeigt: Dies waren nur die Feiern zur Grundsteinlegung. An der Vereinigung muß noch lange und auch hart gearbeitet werden. Anstrengende Arbeit ist nicht nur bei der Wirtschaftsförderung und der Angleichung der Lebensverhältnisse erforderlich, sondern sie muß auch beim Zusammenführen zweier Gesellschaften geleistet werden, deren Entwicklungswege nicht unterschiedlicher hätten sein können. Vieles ist erreicht worden. Die Westdeutschen haben hingenommen, daß ihr Realeinkommen ungefähr auf dem Stand von 1990 verharrt. Die Ostdeutschen haben sich tiefgreifenden Veränderungen unterzogen. Viele haben in den vergangenen neun Jahren mindestens einmal den Arbeitsplatz wechseln müssen oder die Erfahrung von Arbeitslosigkeit gemacht. Vor allem die Frauen in den neuen Bundesländern betrifft der Wandel oft genug negativ. ({8}) Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig. Wenn es auch der Mehrzahl der Ostdeutschen heute deutlich besser geht als im Jahre der Vereinigung, so ist die Vereinigung doch nur an wenigen ohne Spuren vorbeigegangen. Für das Viele, was noch zu tun bleibt, versprechen wir ostdeutschen Parlamentarier uns von einem in Berlin arbeitenden Bundestag ein genaueres Hinsehen auf das, was in den neuen Ländern geschieht, eine unmittelbarere Erfahrung der Gemeinsamkeiten und Gegensätze von Ost und West sowie die schnellere und wirksame Umsetzung der daraus gewonnenen Erkenntnisse in politisches Handeln. Ein guter Freund hat mir im vergangenen Herbst seine Gedanken im Rahmen der Einsichtnahme in seine Stasiakte aufgeschrieben. Ich war nicht so sehr von den geschilderten Einzelheiten der Bespitzelung beeindruckt. Darüber gibt es viele erschütternde Berichte. Viel beeindruckender war für mich sein persönlicher Umgang mit der Tatsache, daß er sich unter Inkaufnahme von Isolierung und beruflicher Nachteile nicht, wie von der SED verlangt, von seinen Verwandten im Westen losgesagt hatte. Er schließt mit den Worten: Es ist Oktober 1998. Nächste Woche fliegen meine Frau und ich für drei Wochen ganz weit weg. Wohin, das müssen wir niemandem mehr sagen. Niemanden müssen wir um Genehmigung bitten. Danach kehren wir sehr gern wieder nach Hause zurück. Und das liegt zum Glück seit acht Jahren wieder mitten in Deutschland! ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nun dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, das Wort. Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Knapp 50 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes kommt heute der Deutsche Bundestag zum erstenmal in ordentlicher Sitzung in diesem Gebäude zusammen. Dieser Tag ist - auch in dieser Debatte - gewürdigt worden als historischer Tag, als Meilenstein für diese Stadt und sicherlich auch als Meilenstein für die gesamte Bundesrepublik Deutschland. Sie werden am Ende dieser Debatte - auch wenn sich die Begriffe wiederholen - sicher Verständnis dafür haben, daß ich Ihnen ein Stück persönliche Empfindung wiedergebe. Die Sitzung des frei gewählten gesamtdeutschen Parlaments war und ist für mich und vielleicht für viele Berlinerinnen und Berliner die Verwirklichung eines politischen Traums. Wenn ich von der vorangegangenen Rede ausgehe, dann merke ich, wie unterschiedlich Erfahrungen und Begrifflichkeiten im zusammenwachsenden Deutschland waren. Aber es war für mich ein Traum, der oft als Utopie und als politische Lebenslüge einer ganzen Gesellschaft diskreditiert wurde. Ich erinnere an die Freiheitskundgebung auf dem Platz vor dem Reichstag. Ich höre die Stimme von Ernst Reuter: „Ihr Völker der Welt: Schaut auf diese Stadt!“ „Schaut auf diese Stadt“ war nicht nur auf Berlin bezogen, sondern das war auf Wünsche zur Unterstützung im Kampf gegen Totalitarismus, für Freiheit und für Demokratie bezogen. Das betraf deswegen viel mehr als „nur“ Berlin. ({1}) Wir standen nicht nur deshalb auf dem Platz vor dem Reichstag, weil das der große Platz in der Stadt war, auf dem Hunderttausende zusammenkommen konnten, sondern wir standen vor dem Gebäude, das Hoffnung und Erwartung auf Demokratie und Wiedervereinigung widerspiegelte. Für mich war das alles mit Ziel und Motivation verbunden. Ziel und Motiv für politisches Handeln liegen für mich in all den Erfahrungen, in all dem, was wir in der Nachkriegszeit erleben mußten: von den Berichten über den Volksaufstand in Ungarn, über den Bau der Mauer oder, noch früher - da war ich noch etwas jünger -, über den Volksaufstand, der auch in besonderer Weise von Berlin ausgegangen ist. Meine Damen und Herren, ich erinnere auch an die vielen Staatsgäste, die ich selbst in einen Flügel dieses Gebäudes, den Ostflügel, führen durfte, um ihnen von dort aus einen Blick über die Mauer zu ermöglichen und all die Sehnsüchte und Hoffnungen zu erläutern. Das ist für mich „Reichstag“. Eine geschichtliche Entwicklung findet hier heute einen, wie ich finde, demonstrativen Abschluß, und oft verspottete Hoffnungen werden Wirklichkeit. Deswegen, meine Damen und Herren, hängen viele Berliner so an diesem Reichstag. Damit muß ich, glaube ich, zu aktuellen weiteren Debatten nichts sagen. Nur, Herr Kollege Struck - er ist jetzt nicht da -, gerade das Auf und Ab der Geschichte des Reichstags bzw. dessen, was sich an demokratischen Entwicklungen in diesem Reichstag vollzogen hat, beweist, daß die Rückkehr in dieses Gebäude ein Sieg der Demokratie ist, ein Sieg der Demokratie! ({2}) Meine Damen und Herren, das heutige Datum ist auch ein Eckpfeiler für die innere Einheit des Landes. Es gab hier eine Bestandsaufnahme, die ein Stück weit überlagert war von dem, was wir an neuen Erfahrungen, an neuer internationaler Verantwortung in den Auseinandersetzungen auf dem Balkan heute mitgestalten müssen. Es gab die Bilanz zu den Fragen der inneren Einheit. Diese Bilanz war insgesamt positiv. Die Wiedervereinigung hat sich - das ist in der heutigen Zeit am wichtigsten - in Frieden vollzogen. Es gab keine unüberwindlichen sozialen Eruptionen. Die Demokratisierung und vielleicht auch ein Elitewechsel sind im Gegensatz zu anderen Staaten gelungen. Viele Städte, einst vom Verfall bedroht, sind liebenswert renoviert worden. Die Infrastruktur im Ostteil Berlins und im Ostteil Deutschlands ist grundlegend modernisiert worden. Die Produktionsstätten - der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen - können sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen. Aber auch dies ist hier betont worden: Die politischen, gesellschaftlichen und verwaltungsmäßigen Veränderungen, der Aufbau einer völlig neuen wirtschaftlichen und insbesondere auch industriellen Basis in den sogenannten jungen Bundesländern haben den Menschen Erhebliches abverlangt. Ich bin mir, meine Damen und Herren, ganz sicher: Künftige Generationen werden davon mit Bewunderung sprechen. Es wäre schön, wenn ein Stück Anerkennung und Respekt auch heute selbstverständlicher Gegenstand der politischen Diskussion wäre. Das haben die Menschen verdient. ({3}) Ohne Frage: Es gibt weiteren Handlungs- und Entwicklungsbedarf. Es geht um Arbeitsplätze, um den Ausbau von Wissenschaft und Forschung. Es geht um Produkte, die im internationalen Markt konkurrenzfähig sind. Wichtig ist auch die innere Entwicklung. Aus meiner Sicht gab es auf dem Weg der letzten Jahre sehr viele emotionale Verletzungen und Mißverständnisse. Die unterschiedlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen wurden nicht ausreichend für die gemeinsame Zukunft genutzt. Die gemeinsame Zukunft, das ist der Aufbau im ganzen deutschen, ich benutze den Begriff hier: Vaterland - in Ost und West, in Nord und Süd. Es ist richtig, daß nicht alles aus dem sogenannten Westen zu erhalten und aus dem sogenannten Osten zu verändern war. Lernen ist keine Einbahnstraße im zusammenwachsenden Deutschland und darf auch nicht so begriffen werden. ({4}) Meine Damen und Herren, bei allen notwendigen kritischen Anmerkungen - eine Herausforderung für die Zukunft - können die Menschen dieses Landes auf das stolz sein, was sie geleistet haben. Diese Leistung gibt uns aus meiner Sicht die Gewißheit, den weiteren Weg erfolgreich gestalten zu können. Denn die Leistungsfähigkeit der Menschen in Ost und West beweist genau dies. Mein Wunsch ist es, daß weniger in den Kategorien von Ost und West gedacht wird, sondern daß über die Grenzen einzelner Bundesländer hinweg gemeinsame Stärken herausgearbeitet werden. Der Verfassungsauftrag nach gleichwertigen Lebensverhältnissen - übrigens nicht nach gleichen Lebensverhältnissen - wird ausdrücklich durch regionale Vielfalt ergänzt, das heißt durch regionale Schwerpunktsetzung auch in dem, was sich Menschen im einzelnen unter Lebensqualität vorstellen. Wir können also auf dem aufbauen, was bisher geleistet worden ist. Die geleistete materielle Hilfe ist Grundlage und Zukunft dabei, insbesondere für die neuen Bundesländer. Diese Länder brauchen die Solidarität. Nur so kann sichergestellt werden, daß die bisher erfolgte Hilfe nicht nutz- und erfolglos wird. Gleichzeitig darf sich das Engagement allerdings nicht im Materiellen erschöpfen. Es kommt auf den Umgang miteinander an. Richard Schröder hat vor einem Monat in Weimar gefragt, wann man von einem Gelingen der Einheit sprechen könne. Er nannte zwei Bedingungen: zum einen, daß wir mit den Ost-West-Unterschieden ebenso gelassen umgehen wie mit den Nord-Süd-Unterschieden. Dahinter steckte sicherlich die Erkenntnis, daß in der weiteren Entwicklung dieser Republik die Unterschiede zwischen Nord und Süd etwas stärker zu beachten sein werden als bisher sozusagen das eher traditionelle, vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung noch im Vordergrund stehende Gefälle zwischen Ost und West. Zum anderen wies er darauf hin, daß wir uns so aneinander gewöhnen müssen, daß wir in Umrissen eine gemeinsame Geschichte erzählen könnten, und zwar auch eine gemeinsame Geschichte von den zurückliegenden 50 Jahren. Auch 40 Jahre DDR - nicht nur 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland - sind ein Stück gemeinsame Geschichte. Über die Differenzierung 40 Jahre und 10 Jahre müssen wir intensiv nachdenken. Jedenfalls kommt es darauf an, daß diese Zeit als die Geschichte des deutschen Volkes insgesamt - in den gegenseitigen Abhängigkeiten - begriffen wird. Ich glaube, die Menschen erwarten von uns, an dieser Generationenaufgabe zu arbeiten. Der Umzug nach Berlin kann dabei helfen. Denn unsere Stadt weitet den Blick auf das Schicksal der Menschen östlich der Elbe in besonderer Weise. Durch die Wiedervereinigung und den Umzug sind die Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland im wesentlichen nicht geändert worden. Dennoch ist der Umzug mehr als ein bloßer Ortswechsel. Der Zusammenbruch des Kommunismus und die fortschreitende Globalisierung erfordern Weiterungen, die mit dem Namen Berlin verbunden sein werden. Das wiedervereinigte Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin steht für Verantwortung und Verläßlichkeit, für strukturelle Reform und gesellschaftliche Modernisierung sowie für eine erweiterte Bündnisfähigkeit, und zwar nicht nur in der bewährten Form nach Westen, sondern auch nach Osten. Berlin war über Jahrzehnte ein Symbol für die geteilte Nation. Heute ist es ein Sinnbild für die Überwindung der Teilung. Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme können wir Berliner und, so meine ich, wir Deutsche insgesamt stolz darauf sein, daß die Wiedervereinigung der Stadt wie auch die Wiedervereinigung insgesamt bisher auch im sozialen Frieden gelungen ist. In Berlin wird es am ehesten gelingen, die 40 Jahre lang geteilte deutsche Nachkriegsgeschichte zusammenzudenken und den Grundstein für die Zukunft zu legen, in der Ost und West nur noch geographische Richtungen sind. Als Hauptstadt bildet Berlin eine Klammer für unser Land. Denn, meine Damen und Herren, nur eine Nation, die keine sein will, braucht keine Hauptstadt. Ich habe die Sorge vernommen - es gab ja Auseinandersetzungen mit dem Thema -, Berlin stehe für Zentralismus. Ich glaube, diese Sorge ist unbegründet. Der Föderalismus ist in Deutschland tief verwurzelt. Jedoch muß die Aufgabe des Gesamtstaates, muß die Rolle der Nation im zusammenwachsenden Europa jetzt, weil der Bundestag eben in Berlin tagt, von Berlin aus neu definiert werden. Wir müssen Sorge dafür tragen, daß unser in vielem bewährte bundesstaatliche System nicht durch Globalisierung und Partikularisierung einer Erosion zum Opfer fällt und daß sich keine Gräben beispielsweise zwischen armen und reichen Ländern auftun. Der kooperative Föderalismus hat sich in den 50 Jahren bewährt. Aber auch künftig werden wir daran erinnern - möglicherweise erinnern müssen -, daß die Bundesrepublik ein Bundesstaat mit gesamtstaatlichen Verantwortungen und gesamtstaatlicher Identität ist - und kein Staatenbund. ({5}) Reg. Bürgermeister Eberhard Diepgen ({6}) Das größer gewordene Deutschland erhält mit Berlin eine Hauptstadt, die mehr als nur ein Verwaltungssitz ist. Berlin ist eine Bühne, eine Arena, ein Labor. Meine Damen und Herren, ein Blick aus dem Fenster genügt, um zu sehen, daß Sie nicht in eine fertige Stadt gekommen sind. Aber eine Baustelle, eine Werkstatt ist auch ein inspirierender Ort für ein Parlament, das immer im Leben steht. Dieser Genius loci, der an die historische Verantwortung genauso erinnert wie an die Aufgaben des Tages, ist das, was wir vermitteln wollen. Willy Brandt hat konsequent angemahnt, das Versprechen einzuhalten, nach dem Berlin im Falle der Wiedervereinigung Hauptstadt werden würde - auch weil das „mehr als eine symbolische Form von Solidarität mit dem Osten unserer größer gewordenen Bundesrepublik“ bedeutet. Wolfgang Schäuble hat in der Hauptstadtdebatte im Jahr 1991 in seiner richtungsweisenden Rede für Berlin gekämpft und sich danach für einen schnellen Umzug an die Spree eingesetzt. Er sagte - das will ich hier vor allen Dingen herausstellen -, es gehe nicht um den „Wettstreit zweier Städte, nicht um Struktur- und Regionalpolitik, sondern um die Zukunft unseres Landes“. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Geschichte hat beiden Rednern recht gegeben. Ich sage heute allen Bewohnerinnen und Bewohnern von Bonn Dank für das, was geleistet wurde. ({7}) Aber hier ging es eben nicht um eine regionale Entscheidung. Als Hauptstadt - ich wiederhole das - bildet Berlin eine Klammer für unser Land. Eine Nation, die keine sein will, braucht keine Hauptstadt. Aber wir wollen eine Hauptstadt haben und wollen auch eine Nation sein. Berlin wird demokratisches Selbstverständnis, demokratische europäische Zukunft, aber auch ein Stück weit Stolz und Würde für das ganze Deutschland darstellen. Für uns in Berlin geht ein langgehegter Wunsch in Erfüllung. Ich muß daran erinnern: Über Jahrzehnte bekundete das Abgeordnetenhaus von Berlin zu Beginn seiner Sitzungen seinen - ich zitiere - „unbeugsamen Willen“, daß die Mauer fallen und Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin wiedervereinigt werden muß. Heute sind Einigkeit und Recht und Freiheit im ganzen deutschen Vaterland verwirklicht. Das Herz der deutschen Demokratie wird hier im Reichstag schlagen. Dafür sind wir dankbar. Sie haben Verständnis dafür, wenn ich sage: Wir Berliner sind stolz darauf, an dieser Entwicklung ein bißchen mitgewirkt zu haben. Ich jedenfalls heiße Sie alle herzlich willkommen in dieser Stadt, in der Bundeshauptstadt Berlin. Von diesem Gebäude mögen gute Beschlüsse zum Wohle der Menschen in unserem Land ausgehen, Beschlüsse - wie der Bundestagspräsident sagte - mit Weisheit und Beschlüsse, die von Glück getragen werden. Vielen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir sind am Ende der ersten Sitzung im neugestalteten Reichstag. Ich denke, wir können nach diesen Stunden sagen, daß wir uns hier im Reichstag auch künftig wohl fühlen und parlamentarisch zu Hause sein werden. Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages findet in Bonn statt. Ich berufe sie auf Mittwoch, den 21. April 1999, 13 Uhr ein. Die heutige Sitzung ist geschlossen.