Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/26/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten HansJoachim Otto ({0}), Rainer Funke, Dr. Klaus Kinkel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Stiftungsrechts ({1}) - Drucksache 14/336 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Kultur und Medien ({2}) Innenausschuß Sportausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei für die Fraktion der F.D.P. sieben Minuten angesetzt sind. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.Fraktion hat Herr Kollege Otto.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit unserer Gesetzesinitiative wollen wir ein Signal für mehr bürgerschaftliches Engagement und für mehr Mäzenatentum setzen. Wir wollen eine neue Stifterkultur in unserem Lande. Schon aus Haushaltsgründen ist der Staat nicht in der Lage, alle gesellschaftlichen Aufgaben zu finanzieren; er soll es auch gar nicht. Die Vollkaskoversorgung ist Wesensmerkmal eines Obrigkeitsstaates, während sich die freiheitliche Gesellschaft durch die Mitwirkung und Mitverantwortung ihrer Bürger auszeichnet. Damit nun keine Mißverständnisse aufkommen: Wir wollen den Sozial- und Kulturstaat nicht aus seiner Förderpflicht entlassen, die ihm durch das Grundgesetz auferlegt ist. Stiftungen sollen, wie es Ralf Dahrendorf formuliert hat, „Initiativlücken auffinden und schließen“. Bereits heute geben die 8 000 deutschen Stiftungen jährlich 35 Milliarden DM für ihre Satzungszwecke aus; sie bieten rund 100 000 Arbeitsplätze. Aber im Verhältnis zu vielen anderen Ländern - an erster Stelle sind die Vereinigten Staaten und die Schweiz zu nennen - haben wir einen großen Nachholbedarf an Stiftungen. Die private Wohlstandsentwicklung in Deutschland gibt hierfür Raum. Die Summe der Privatvermögen hierzulande wird auf 5 200 Milliarden DM geschätzt; jährlich werden rund 250 Milliarden DM vererbt. Unser gemeinsames Ziel muß es sein, einen zunehmenden Anteil dieser privaten Mittel für gemeinnützige Zwecke zu gewinnen. ({0}) Meine Damen und Herren, wir denken dabei an Projekte im Bereich Kunst und Kultur, nicht zuletzt auch im Bereich der auswärtigen Kulturförderung und des Denkmalschutzes. Wir wollen privates Kapital aber auch vermehrt für soziale Aufgaben, für Jugend- und Altenhilfe, für Bildungs- und Forschungseinrichtungen, für Umweltprojekte sowie für den Breiten- und Spitzensport erschließen. Dabei geht es uns nicht allein um die Erschließung von Finanzquellen, sondern auch um einen höheren Stellenwert für das Ehrenamt. ({1}) Gemeinwohlorientiertes Handeln bedeutet für viele Menschen Sinnstiftung. Bereits heute werden rund 90 Prozent aller Stiftungen in Deutschland von ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedern geführt. Im übrigen ist es ein Irrglaube, daß Stiftungen nur etwas für Millionäre seien. Erfreulicherweise findet in Deutschland beispielsweise die amerikanische Idee der Community Foundation, also der Bürgerstiftung, immer größere Verbreitung. In solchen Bürgerstiftungen kann sich eine Vielzahl von Menschen für gemeinwohlorientierte Ziele in ihrer Heimatregion einsetzen. Stiftungen sind also keineswegs ein Relikt der Feudalzeit, wie ein SPD-Politiker vor vielen Jahren einmal lästerte. Stiftungen gewinnen heute weltweit an Bedeutung. Wichtigster Inhalt unseres Gesetzentwurfes ist es, die steuerlichen Rahmenbedingungen für Stiftungen spürbar zu verbessern. Insbesondere wollen wir die Gleichbehandlung aller gemeinnützigen Zwecke im Steuerrecht. Wir wollen ferner die Abzugsfähigkeit für Zuwendungen an gemeinnützige Stiftungen von bisher 5 Prozent auf nunmehr 20 Prozent des jährlichen Einkommens erhöhen. Es ist kein Steuersparmodell, wenn ein Stifter für jede Abgabenreduzierung um 50 Pfennig eine volle Mark für das Gemeinwohl hinlegt. ({2}) Hierfür verdienen Stifter nicht Mißgunst und Neid, sondern öffentliche Anerkennung und Zuspruch. ({3}) Unser steuerliches Gesamtpaket fand bei unserer Anhörung am vergangenen Montag bei allen Experten einhellige Zustimmung. Zur Belebung der Stiftungskultur wollen wir aber auch das Errichten von Stiftungen erleichtern. Das bisherige Konzessionssystem, also das Erfordernis einer staatlichen Genehmigung, stammt aus den Zeiten des Obrigkeitsstaates und entspricht nicht mehr einem modernen Staatsverständnis. Wir schlagen statt dessen vor, eine Stiftung bereits durch die notarielle Beurkundung des Stiftungsgeschäfts entstehen zu lassen. Wir sind uns dabei bewußt, daß dies ein mutiger Vorschlag ist, und stellen uns einer unvoreingenommenen Diskussion. Das gilt auch für die Frage, ob die Stiftungsaufsicht weiterhin durch Landesbehörden erfolgen soll und ob das Stiftungsregister zukünftig von den Gerichten geführt werden könnte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Otto, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Stetten?

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber bitte.

Dr. Wolfgang Stetten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Otto, teilen Sie mit mir zumindest die rechtliche Beurteilung, daß das Stiftungsrecht - es besteht 100 Jahre - so schlecht nicht gewesen sein kann, wenn es schon so lange besteht? ({0}) - Langsam, langsam. - Im Grunde genommen wurde der Stifter auch beim Konzessionsmodell - sprich: bei der Genehmigung der Stiftung - unter Umständen beraten. Beim Registermodell besteht die Gefahr, daß ein Notar nicht über alle Aspekte einer Stiftung so gut beraten kann, wie das in Baden-Württemberg das Regierungspräsidium und in Bayern das entsprechende Ministerium, also gewichtige Behörden, tun. Laufen wir nicht Gefahr, daß gerade kleine Stiftungen, die Sie ja fördern wollen, durch das Registermodell leichtsinnig gemacht werden, da man die Folgen - man ist nicht mehr Mitglied wie in einem Verein; vielmehr gibt es nur noch Destinatäre - nicht kennt? Worin besteht der Vorteil des Registermodells gegenüber dem Konzessionsmodell, abgesehen von der Beseitigung der verstaubten Aspekte, die durch den von Ihnen eingebrachten Gesetzentwurf erreicht würden?

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege von Stetten, ich kann Ihnen zunächst bestätigen, daß es Stiftungen nicht erst seit 100, sondern seit vielen Hunderten von Jahren gibt. ({0}) - 1 000, gut, Frau Vollmer. Uns sind Stiftungen bekannt, die schon 1 000 Jahre bestehen. Das ist völlig richtig. Das kann uns aber nicht davon abhalten, uns Reformüberlegungen auch trotz einer so langen Tradition zu machen. Wir haben bei unserer Anhörung von vielen vernommen, daß sich manche potentiellen Stifter davon abhalten lassen zu stiften, weil sie die hohen bürokratischen Hürden, die es bedeutet, erst zum Finanzamt, dann zur Stiftungsaufsicht, zum Regierungspräsidium usw. zu gehen, fürchten. Wir wollen die Hürden für die Errichtung einer Stiftung möglichst niedrig ansetzen. Wir freuen uns, lieber Herr Kollege von Stetten, wenn Sie sich im weiteren Verlauf an der Diskussion beteiligen werden. Ich will es noch einmal sagen: Unser Gesetzentwurf ist ein Angebot, über das wir mit Ihnen diskutieren wollen. Wir sind nicht vernagelt. Liberale zeichnen sich dadurch aus, daß sie Diskussionen offen führen. ({1}) Wichtig erscheint uns, daß auch in Zukunft Familienstiftungen und Unternehmensträgerstiftungen zulässig bleiben; sie haben sich - Herr von Stetten, darin stimme ich Ihnen zu - in einer jahrhundertelangen Rechtstradition bewährt. Wir Liberalen sind uns bewußt, daß eine neue Stifterkultur in Deutschland nur dann eine Chance hat, wenn die Reformdiskussion nicht im parteipolitischen Pulverdampf versinkt. Wir verstehen unseren Gesetzentwurf daher als eine Initialzündung, als einen Appell an alle zur Belebung des Stiftungsgedankens und zur Belebung des privaten Mäzenatentums. Herr Staatsminister Naumann - er ist leider nicht da; man möge es ihm ausrichten -, verehrte Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen: Lassen Sie Ihren Ankündigungen jetzt Taten folgen! ({2}) Hans-Joachim Otto ({3}) Lassen Sie uns über Fraktionsgrenzen hinweg eintreten für eine Stärkung der Bürgergesellschaft, für eine Renaissance der Stiftungskultur in Deutschland. Ich bedanke mich. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort für die SPD-Fraktion hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Präsident! Meine geehrten Kolleginnen und Kollegen! Das von der F.D.P.-Fraktion vorgelegte Stiftungsreformgesetz benennt als Zweck, die Rahmenbedingungen für Stiftungen zu verbessern, um die Errichtung bzw. die Erweiterung von Stiftungen anzuregen. Ein solches Anliegen ist aus der Sicht der Bundesregierung vorbehaltlos zu unterstützen. ({0}) Jetzt kommt aber die Einschränkung. ({1}) Leider bietet der vorliegende Gesetzentwurf nur wenige Ansatzpunkte, von denen tatsächlich Impulse für das Stiftungswesen und die von ihm ausgehende Förderung der Allgemeinheit ausgehen könnten. ({2}) Ich meine, daß der Vorschlag zur Änderung des BGB - Herr Kollege von Stetten hat eben darauf hingewiesen - schon im Ansatz nicht berücksichtigt, daß das geltende Stiftungsrecht des BGB funktioniert und daß es die Stiftungspraxis selbst immer wieder auf einen Nenner gebracht hat. Das heißt nicht, daß wir uns nicht über eine Fortentwicklung einer Handvoll Paragraphen im BGB unterhalten könnten. Das geltende Stiftungsrecht des BGB und vor allem die Verwaltungspraxis der Länder geben allerdings keinen unmittelbaren Anlaß für tiefgreifende Änderungen. ({3}) Der Versuch der F.D.P.-Fraktion, sich in ihrer neuen Oppositionsrolle bei der Suche nach öffentlichkeitswirksamen Themen als Förderer des Stiftungswesens darzustellen, ist zwar teilweise originell, aber nicht gerade praxistauglich; auch was das Handwerkliche betrifft, haben wir einige Vorbehalte. Im Mittelpunkt der Änderung des BGB-Stiftungsrechts steht der Vorschlag, vom Konzessionssystem abzugehen und statt dessen einer Stiftung schon durch die Beurkundung des Stiftungsgeschäfts durch einen Notar Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen. Tatsächlich bringt dieser Vorschlag wenig Neues. Aus unserer Sicht sind damit eher Nachteile bei der Stiftungsgründung verbunden. Bisher war es möglich, das Stiftungsgeschäft durch einen Gang zu tätigen, nämlich durch den Gang zur Stiftungsbehörde, bei der zum Teil ja auch kostenlos Service aus einer Hand erhältlich ist, insbesondere was die Klärung der steuerrechtlichen Fragen anlangt. Ihr Vorschlag, meine Damen und Herren von der F.D.P., verlangt vom Stifter aber drei Gänge. Er muß erstens zum Notar, zweitens zum Finanzamt und schließlich auch zur Stiftungsaufsichtsbehörde. Der Vorschlag läßt zudem viele Fragen ungeklärt, so daß Rechtsunsicherheit und Konfliktpotential für die Stiftungspraxis voraussehbar sind. Es ist sicherlich richtig, daß man über den einen oder anderen Punkt des Gesetzentwurfs nachdenken kann. Ich meine insbesondere den Vorschlag hinsichtlich der Aufstellung eines Jahresabschlusses. Es gibt durchaus einige Gesichtspunkte, die dafür sprechen. ({4}) Man muß aber auch bedenken, daß es sich dabei nicht nur um spezifisch stiftungsrechtliche Fragen handelt, sondern daß wir sehr schnell auch zu Querschnittsproblemen kommen, nämlich solchen, die alle Vereine, die gemeinnützig sind, betreffen. Hierüber muß man mit Sicherheit noch nachdenken. Die Förderung des Gedankens der Gemeinnützigkeit sollte nach unserer Auffassung jedenfalls immer im Vordergrund stehen. ({5}) In der Tat darf dieses Stiftungsrecht nicht ausschließlich - Herr Otto, ich greife den von Ihnen benutzten Ausdruck auf - zu einer neuen Form von Steuersparmodellen führen. ({6}) Zu den steuerlichen Vorschlägen des Gesetzentwurfs gäbe es eine ganze Menge zu sagen. Eigentlich betrifft das Thema, so wie es jetzt angelegt ist, zu einem geringeren Teil materielles BGB-Stiftungsrecht, sondern in erster Linie Fragen des steuerlichen Umgangs mit Stiftungen. Insofern ist der Finanzminister natürlich bei diesem Thema sehr aufmerksam, wie Sie sich denken können; denn die Vorschläge führen durch entsprechend erforderliche Änderungen des Einkommen-, Körperschaftund Gewerbesteuerrechts zu Einkommenseinbußen des Staates und sind deshalb durchaus fragwürdig. Ich nenne noch einen Punkt, der besonders die Länder betrifft. Wenn wir Einschränkungen beim Aufkommen aus der Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer machen, dann wissen wir: Das betrifft ausschließlich die Bundesländer. Sie werden natürlich ein wachsames Auge auf unsere Überlegungen haben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Pick, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Natürlich. Hans-Joachim Otto ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Pick, darf ich Sie zum ersten darauf hinweisen, daß es in Ihrem eigenen Hause ein Gutachten über diesen Entwurf gibt, in dem wird gesagt, es kommt nicht - wie Sie eben gesagt haben - zu erheblichen Steuereinnahmeminderungen, sondern faktisch nur zu einer Verlagerung? Darf ich Sie zum zweiten darauf hinweisen, daß man das Ganze unter dem Gesichtspunkt Steuersparmodell nicht diffamierend erwähnen darf, weil - wie hier von dem Kollegen Otto schon gesagt worden ist - der Stifter erheblich mehr für gemeinnützige Zwecke gibt, was ja dem Gemeinwesen zugute kommt? Ich glaube, das war ein bißchen zu kritisch ausgedrückt. ({0})

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Frau Kollegin Vollmer, Sie werden aus meinen Bemerkungen entnommen haben, daß die Ausführungen der Bundesregierung mit den Ministerien abgestimmt sind. ({0}) - Das wollte ich auch ganz besonders betonen. Insofern gibt es natürlich unterschiedliche Berechnungen, wie sich einzelne steuerrechtliche Vorschläge in bezug auf das Stiftungsrecht auswirken. Hier gibt es sehr verschiedene Berechnungen. Ich habe mir erlaubt, auf diese hinzuweisen. Je nach Ausgestaltung der steuerlichen Vorschriften gibt es unterschiedliche Berechnungen. Die sollten wir in Ruhe und Gelassenheit vornehmen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Pick, gestatten Sie weitere Zwischenfragen der Kollegen Braun und Hauser?

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Ja, bitte.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Pick, der Duktus Ihrer Rede signalisiert, daß Sie Ihren Mitarbeitern, die diese Rede gemacht haben, den Auftrag erteilt haben, zu prüfen: Gibt es irgendwelche Gründe, die ich mit Anstand vortragen kann, die gegen das Projekt des Kollegen Otto sprechen? Sie sind doch mit dem Motto angetreten: Neues wagen. Wäre es nicht einfach einmal ein neuer Ansatz gewesen, den Prüfauftrag so zu formulieren: Gibt es nicht sehr triftige Gründe, weswegen ich das Projekt unterstützen könnte? ({0})

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Kollege Braun, die neue Bundesregierung läßt sich bei der Prüfung, wo Fortschritt angesagt ist und wie man diesen Fortschritt begleitet, von niemandem übertreffen. ({0}) Wir werden auch die Diskussion um ein neues Stiftungsrecht - darauf können Sie sich verlassen - konstruktiv begleiten. Dazu - Sie kennen unser Haus - sind wir immer bereit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Hauser.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, könnten Sie mir gegebenenfalls zustimmen, daß ein gewisses Maß an Steuerausfällen, wenn es zu diesen käme - Kollegin Vollmer hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es nicht einmal sicher ist, daß es zu diesen kommt -, hinnehmbar wäre im Hinblick darauf, daß Stiftungen als bürgerschaftliches Engagement erhebliche Leistungen für diese Gesellschaft erbringen und der Staat letztlich in der Bilanz einen Vorteil aus den Stiftungen hat? ({0})

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Kollege Hauser, ich habe schon in meinen Bemerkungen angedeutet, daß die Bundesregierung dies vorbehaltlos und objektiv prüfen wird. Sie können gewiß sein, daß wir sehr sorgfältig abwägen werden, was die Vor- und Nachteile auch in finanzieller Hinsicht sind. Im übrigen bleibt es bei der grundsätzlichen Begrüßung des privaten Engagements und auch eines Engagements, das sich in einer vermehrten und sinnvollen Stiftungspraxis ausdrückt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Pick, eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Wilhelm Schmidt.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich möchte die gleiche Eingangsformulierung verwenden: Können Sie mir zustimmen, daß die oberschlauen Fragesteller von F.D.P. und CDU/CSU 16 Jahre Gelegenheit gehabt hätten, dieses Gesetz zu machen, wenn sie so intensiv daran interessiert sind? ({0})

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Kollege Schmidt, die Vermutung spricht für eine Bejahung Ihrer Frage. Es kommt aber gelegentlich vor - das ist nichts Neues -, daß man auf einmal über Nacht klüger wird. Das sollte man jedem zugestehen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der Nachfragebedarf ist erheblich. Kollege Solms wünscht, eine Frage zu stellen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Pick, wie interpretieren Sie es, daß just in dem Moment, in dem Sie von der großen Aufmerksamkeit des Bundesfinanzministers sprechen, die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Hendricks - sie ist im Moment beim Vertreter des Bundesfinanzministers beschäftigt - den Saal verlassen hat? ({0})

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Ich glaube, Frau Staatssekretärin Hendricks ist in vollem Vertrauen auf die Übereinstimmung meiner Ausführungen mit der Auffassung ihres Hauses kurz aus dem Plenum gegangen. Dafür habe ich Verständnis. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten an Hand des Gesetzentwurfes der F.D.P. die Reform des Stiftungsrechtes angehen; das ist sicher ein Anlaß. Wir sollten in Ruhe und Gelassenheit auch in Form einer Anhörung Kenntnisse und mehr Gewißheit über die Themen erlangen. Ansonsten denken wir, daß die Vorschläge, wie sie im Moment vorliegen und wie sie ausgeführt sind, insbesondere was die steuerrechtlichen Fragen anbetrifft, eine ganze Reihe von Fragen aufweisen. Deswegen wird die Bundesregierung - wie ich schon sagte - die weiteren Bemühungen mit entsprechender Aufmerksamkeit und konstruktiv begleiten. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollegin Rita Süssmuth.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002287, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Elan ist nicht mehr zu übertreffen: Es darf viel geredet werden; passieren darf aber nichts, vor allem nicht schnell. ({0}) Das paßt zum Stiftungsrecht überhaupt nicht. Wir waren schon einmal weiter. Wir haben am 12. Februar des vergangenen Jahres im Rahmen der Kulturdebatte über das Stiftungsrecht debattiert. Ich finde, Ihre ständigen Hinweise auf die 16 Jahre helfen uns nicht weiter. ({1}) Wir waren uns einig, daß wir uns auf den Weg machen wollten - darüber gab es in diesem Haus sehr viel Übereinstimmung -, um im Sinne gesellschaftlichen Engagements, der Bürgergesellschaft, Stiftungen - nicht nur große, sondern auch kleine - voranzubringen. Wir haben bisher ein Konzessionsmodell pur und sollten uns fragen, ob wir nicht zum Normativsystem übergehen sollten. Damit möchte ich folgendes sagen: Ich finde es gut, wenn die Fraktionen unseres Bundestages Gesetzentwürfe einbringen. Ich wünsche mir, daß wir ihre Behandlung nicht mehr auf die lange Bank schieben, sondern bald handeln. ({2}) Niemand sagt, daß man bisher in Deutschland keine Stiftungen aufbauen konnte. Aber die Anhörung der Fraktion der F.D.P., die sehr breit angelegt war, hat gezeigt, was die Beteiligten wollen: Sie wollen ein Recht auf Stiftung im Rahmen der erlaubten Zwecke. Sie wollen, daß es regelungsärmer und bevormundungsfreier ist. ({3}) Die meisten Länder sind bei der Zulassung von Stiftungen in der Praxis vom Konzessionssystem, also von der Ermessensentscheidung, zum Normativsystem übergegangen. Das gilt aber nicht für alle. Es ist einhellige Meinung: Geht von diesem alten System ab, hin zum Normativsystem! Unterschiedliche Auffassungen gibt es darüber, ob die bewährten Einrichtungen auch zukünftig für Genehmigung und Aufsicht ({4}) zuständig sein sollen oder ob man einen Wechsel hin zur Zuständigkeit von Gebietskörperschaften vornehmen soll. Dieser Punkt bedarf einer Vertiefung oder sogar einer weiteren Anhörung. Wir müssen uns im Deutschen Bundestag Klarheit darüber schaffen, daß die Bedeutung der Stiftungen im wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereich unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Beitrages im Vergleich zur öffentlichen Förderung gering ist; das muß man nüchtern sagen. Aber es kommt hier entscheidend auf unser politisches und kulturelles Selbstver2566 ständnis in bezug auf Stiftungen an. Mit der Verbesserung der Rahmenbedingungen regen wir vermehrte Eigeninitiative an. Diese eigene Agenda ist sehr wichtig. „Von der Gewinnorientierung zur Sinnorientierung“, hieß es in der Anhörung. ({5}) Das sind Leitmotive, die wir meines Erachtens in die Überlegungen einbeziehen müssen. Als Beispiel wurde die Gütersloher Stiftung angeführt. Noch liegt der Schwerpunkt auf großen Stiftungen. Wir sind aber auf dem Wege zu immer mehr kleinen Stiftungen. Bürgerschaftliches Engagement ist wieder da; das Stiftungsrecht müßte es verstärken. Dabei geht es auf der einen Seite um die Frage, was im BGB zu ändern ist. Es war einhellige Meinung, daß in den §§ 80 ff. Regelungsbedarf besteht. Ich möchte die Bundesregierung bitten, in dieser Angelegenheit in die Offensive zu gehen und sich nicht hinter Bedenken zu verschanzen. ({6}) Auf der anderen Seite ist zu regeln, wer über die Anerkennung der Gemeinnützigkeit entscheidet. Viele verweisen unter anderem auf das englische Modell und stellen zur Diskussion, ob die Anerkennung der Gemeinnützigkeit durch eine Kommission und nicht durch den Fiskus erfolgen könnte. ({7}) Ich finde es lohnend, diesen aufgeworfenen Fragen nachzugehen. Was die Mehrheit nicht will, sind neue Institutionen. Viele sind den Umgang mit dem Stiftungsrecht nicht gewohnt. Es wurde der Wunsch nach Beratung zum Ausdruck gebracht. Gerade wenn die Hauptförmlichkeiten im Gesetz festgelegt werden, ist Beratung in bezug auf Unbedenklichkeit und Eindeutigkeit der Satzung, aber auch auf die Existenzfähigkeit, auf die Gemeinnützigkeit, auf Transparenz und Publizitätspflicht erforderlich; damit stehen die Registereintragungen in Zusammenhang. Hier sind Regelungen erforderlich. Ein wesentlicher Dissens liegt in der Frage der Zukunft von Familienstiftungen und von mit Unternehmen verbundenen Stiftungen. Familienstiftungen machen 4 Prozent der Stiftungen aus. Mehrheitlich wurde hier auf die Gemeinnützigkeit Wert gelegt. Aber man sollte nicht mit dem Rasenmäher vorgehen und nicht mit Stumpf und Stiel etwas ausrotten, was sich bewährt hat. Man muß Vorsicht walten lassen. Ich nenne ein Beispiel. Die Zeiss-Stiftung hat arbeitnehmerbezogene Stiftungszwecke. Das Drachenfliegen behandeln wir genauso wie arbeitnehmerbezogene Stiftungszwecke. Da ist beiden Seiten Rechnung zu tragen. Wir können nicht die Zeiss-Stiftung beseitigen, aber das Drachenfliegen als gemeinnützig anerkennen. Da sehen wir Regelungsbedarf. In Ihrem Gesetzentwurf ist eine Erhöhung des Anteils am Einkommen, der Stiftungen steuerbegünstigt zugewendet werden kann, von 5 auf 20 Prozent vorgesehen. Dies findet beim Stifterverband und bei allen Experten auf diesem Feld große Zustimmung. Daß dies noch weitere Diskussionen auslöst, davon gehen wir aus, Herr Staatssekretär. Wir kommen nämlich gar nicht umhin, eine Bilanz zu ziehen. Wenn wir das aber nur unter dem Gesichtspunkt betrachten, was dem Staat verlorengeht, dann springen wir zu kurz, weil wir nicht berücksichtigen, was der Staat eigentlich dabei gewinnt. ({8}) Das gilt auch für die Abzugsfähigkeit der Gelder, die das Stiftungskapital ausmachen oder als Rücklagen gebildet werden, um Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit bei den Stiftungszwecken zu erreichen. Ich bin jetzt nicht auf alle Bereiche eingegangen. Mir scheint es sehr wichtig, daß wir angesichts der vorliegenden Entwürfe und der Ergebnisse unserer Arbeitsgruppe möglichst rasch klären, wieviel Gemeinsamkeit wir haben und wo Unterschiede bestehen, die wir ausdiskutieren müssen. Ich glaube, daß wir mit unserer Antwort auf die Erwartungen möglicher Stifter nicht mehr viel Zeit verlieren sollten. ({9}) Das hat etwas mit der herrschenden Mentalität in der Bundesrepublik zu tun: Alle Experten haben gesagt, Stiftungen geben wichtige Impulse für Innovationen und für die Bereiche in unserer Gesellschaft, in denen Pionierarbeit und Thinktanks gefordert sind. ({10}) Hier müssen neue Konzepte entwickelt werden, damit Probleme gelöst werden können, die wir bisher nicht oder nicht gut gelöst haben. Wenn wir daran denken, dann haben wir nicht nur die augenblickliche Staatsquote in bezug auf Stiftungstätigkeit und öffentliche Tätigkeit im Auge, sondern geben eine Antwort auf die grundsätzliche Frage: Wollen wir diesen innovativen Geist? Diese muß sich sozusagen in dem „Recht auf Stiftung“ niederschlagen; damit würde eine Abkehr vom bisherigen Ermessensverfahren stattfinden. Ich wünsche uns, daß wir in diesem Sinne an den bestehenden Gesetzentwürfen arbeiten, möglichst rasch zu einem Ergebnis kommen und erkennen, daß die Einkünfte, die wir zu verlieren meinen, durch weitaus größere Gewinne wieder eingefahren werden können. Ich danke Ihnen. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Gesetzentwurf der F.D.P. gesehen habe, hatte ich ein fröhliches Déjà-vu-Gefühl. ({0}) - Eben. - Ich habe mich an die Diskussion erinnert, die wir letztes Jahr hier hatten. Da gab es allerdings keinen F.D.P.- und keinen CDU/CSU-Gesetzentwurf, sondern nur einen von Bündnis 90/Die Grünen. In der damaligen Kulturdebatte ist Bundeskanzler Helmut Kohl aufgestanden und hat gesagt: Frau Kollegin Vollmer, so weit sind wir gar nicht auseinander. - Das war ein schöner Debattenerfolg. Leider haben die CDU/CSU und die F.D.P., obwohl es 16 Jahre lang immer Bestandteil ihrer Koalitionsvereinbarungen war, kein Ergebnis zustande gebracht. ({1}) Nachdem ich die heutige Debatte verfolgt habe, ahne ich auch, in welchem Haus es diesen zähen Widerstand gab. ({2}) Interessant ist aber, daß sich damals, nachdem es der Bundeskanzler so positiv aufgenommen hatte, einer sehr negativ dazu geäußert hatte, nämlich der Staatssekretär Funke von der F.D.P., der dazu in der „Welt“ geschrieben hatte. Man hatte den Eindruck, daß kein rechter Schwung dahinter war. ({3}) In der Koalitionsvereinbarung zwischen Bündnis 90/ Die Grünen und der SPD ist das Stiftungsrecht an zwei Stellen, im steuerrechtlichen und im juristischen Teil, vorgesehen. Diese Passagen in der Koalitionsvereinbarung halten wir für „Bibelfest“. ({4}) Es ist doch auch vernünftig und regelrecht eine Anforderung der Zeit, in diesem Falle etwas zu tun: Jetzt gibt es die reichen Erben; jetzt geht es darum, endlich die Globalisierung privater Vermögen zu bekämpfen. Denn auch das private Vermögen wandert rund um den Globus. Stiftungen schaffen dagegen die Möglichkeit, daß dieses private Vermögen vor Ort sichtbar dem Gemeinwesen zugute kommt. Genau das wollen wir und genau das ist auch richtig. ({5}) Man findet eine große Bereitschaft, wenn man eine gute Atmosphäre für Stiftungen schafft und an den Bürgersinn appelliert. Genaugenommen ist das auch ein Appell an die vielbeschworene Neue Mitte, daß sie sich für das Gemeinwesen engagiert. Lothar Späth hat das „intelligente Reichtumsvernichtung“ genannt. Aber man kann das auch noch positiver sehen, ({6}) nämlich so, daß diejenigen, die in dieser Gesellschaft reich geworden sind und ihr, für ihre Ausbildung und für alles, was diese Gesellschaft ihnen an Möglichkeiten gegeben hat, viel verdanken, das freiwillig zurückgeben können. Das ist der eigentliche Sinn von Stiftungen. ({7}) Besonders wichtig ist uns die Idee der Bürgerstiftung. Ich fand die Polemik gegen die Leute, die Stiftungen geschaffen haben - in dem Sinne: Wo habt ihr das Geld geklaut? -, immer sehr unsozial und auch sehr töricht. Der Appell an Bürgerstiftungen, daß also Bürger vor Ort vereinbaren können, was notwendig ist, bedeutet letztendlich eine Auflösung des Reformstaus in unserer Gesellschaft von der Bürgergesellschaft her. Deswegen sind wir sehr dafür, und deswegen haben wir das auch in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. Der jetzige Bundeskanzler ist dafür, der frühere Finanzminister war dafür, und auch der nächste Finanzminister wird dafür sein. ({8}) Jetzt noch ein Wort zu dem, was die F.D.P. will. Wie gesagt, der grundlegende Gesetzentwurf war der unsrige. Da finden Sie alles, was jetzt gefordert wird: Aufhebung des Konzessionssystems zugunsten des Normativsystems, die jährliche Offenlegung der Bilanzen und auch die Einführung eines Stiftungsregisters. Aber nun sehe ich, daß die F.D.P. in ihrem Gesetzentwurf über unsere Vorschläge hinaus sagt, daß die notarielle Beurkundung ausreichen soll. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., gehen Sie ein bißchen zu weit und öffnen dem Mißbrauch Tür und Tor. Wie ich gesehen habe, hat selbst der Vertreter der Bundesnotarkammer bei Ihrer Anhörung gesagt, daß er das nicht für richtig halte. Da sollten Sie doch noch einmal nachdenken, ob Sie das nicht ändern wollen. ({9}) Auch die Errichtung von Stiftungen zum alleinigen Zweck der Führung eines Unternehmens ist nicht das, was wir wollen. Zu diesem Punkt hat Ihnen der Vertreter des Kulturkreises des BDI, Freiherr von Loeffelholz, bei Ihrer Anhörung gesagt, daß das nicht einmal die Forderung der Wirtschaft sei. Ich finde, da sollten Sie ebenfalls noch einmal überlegen, ob Sie da richtig liegen. Liebe Rita Süssmuth, zu den Familienstiftungen: Man meint immer, eine Familienstiftung sei eine Stiftung, die den Namen einer Familie trage. Das ist aber völlig falsch. ({10}) Eine Familienstiftung im reinen Sinne wäre eine, die sich nur für den Erhalt einer Familie und ihrer Mitglieder einsetzt. Das haben Sie aber gar nicht gemeint. Natürlich unterstützen auch wir Familienstiftungen, die gemeinnützige Zwecke haben. Aber daß es sozusagen um die Feudalisierung von Vermögen in Privathand auf Ewigkeit geht, kann nicht der Sinn der Sache sein und ist es auch für niemanden. ({11}) Ein letzter Satz. Bei der großen Einigkeit, die es in diesem Hause doch gibt, wäre es sehr schön, wenn wir das als Anfang eines großen Dreierschrittes nehmen und den dritten Sektor insgesamt, also das Element der Bürgergesellschaft, von Grund auf reformieren würden. Man könnte im ersten Schritt das Stiftungsrecht reformieren, in einem zweiten Schritt das Freiwilligengesetz, in dem es darum geht, was der einzelne für die Gesellschaft gibt, wenn er kein Vermögen hat, und in einem dritten Schritt - das wäre eine Herkulesarbeit - das Gemeinnützigkeitsrecht insgesamt. Das heißt, die Gesellschaft sollte sich neu überlegen - auch das gehört zur Modernisierung -, was sie unter heutigen Bedingungen eigentlich unter Gemeinnützigkeit versteht. ({12}) Das wäre eine große Aufgabe für eine Bürgergesellschaft. Helfen Sie uns dabei! Danke. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die PDSFraktion hat das Wort Kollege Heinrich Fink.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ein Gesetz zur Reform des Stiftungsrechtes ist dringend nötig. Darüber sind wir uns alle einig. Das Interesse daran ist unterschiedlich. Meines ist, die Spendenfreudigkeit von Bürgerinnen und Bürgern, die sich vielleicht sogar zur Übertragung ihrer gesamten Hinterlassenschaft entschließen, zu fördern, insonderheit für die Kultur, für die immer weniger Geld da ist. Von diesem Standpunkt aus gesehen sind wir an allen parlamentarischen Initiativen interessiert, die den Anspruch erheben, eine solche vielgestaltige Kulturlandschaft zu fördern. Diesen Anspruch erhebt der vorliegende, auf eine Reform des Stiftungsrechtes zielende Gesetzentwurf der F.D.P., der daher unser Interesse geweckt hat. Ausgehend von der im Grundgesetz verankerten Kulturförderpflicht des Staates halten wir die Kulturfinanzierung über den Haushalt des Bundes und über die Stärkung der Finanzkraft von Ländern und Kommunen als den wichtigsten Trägern von Kunst und Kultur in Verbindung mit der weitgehend gewährleisteten demokratischen Kontrolle und Transparenz für notwendig, ({0}) weil noch am ehesten über eine öffentliche Kulturförderung diejenigen erreicht werden, die nicht im Blickfeld des repräsentativen Kulturbetriebes liegen. Die Beschreitung dieses Weges verlangt jedoch auch einen verstärkten steuerlichen Zugriff auf die in diesem Lande existierenden großen Vermögen. Eine solche Intervention des Staates zugunsten von Kultur, Bildung, Forschung und vielen sozialen Belangen ist offenbar auch von der gegenwärtigen Bundesregierung nicht zu erwarten. Wenn diese Entschlußlosigkeit des Staates nun mit der Mobilisierung von Teilen dieser Vermögen unter anderem über einen Ausbau gemeinnütziger Stiftungen kompensiert werden soll, so stellen wir uns dem nicht generell entgegen. Wir werden aber die einzelnen Schritte auf diesem Wege sehr kritisch begleiten. Wir werden vor allem darauf achten, ob durch einzelne Regelungen dem Mißbrauch der Stiftungen für egoistische wirtschaftliche Interessen Tür und Tor geöffnet werden. Im vorliegenden Entwurf ist dies unseres Erachtens durch die Einbeziehung der sogenannten unternehmensverbundenen Stiftungen bereits vorprogrammiert. Die vorgesehene erweiterte Rücklagenbildung bedarf ebenfalls noch einer gründlichen Abschätzung ihrer möglichen Folgen. Zu fragen ist auch: Stellt die bisherige Regelung wirklich ein Hindernis für das Engagement von Mäzenen und Kulturförderern unter den begüterten Stiftungswilligen dar? Auch die sehr vage Passage im Abschnitt „Kosten“ gibt hinsichtlich der Frage, wer der eigentliche Gewinner der vorgeschlagenen Veränderung im Steuerrecht ist - die Kultur oder die Wirtschaft -, keine eindeutige Antwort. Sie muß noch gegeben werden. Hinsichtlich der ins Auge gefaßten Veränderung im zivilrechtlichen Bereich plädieren wir für die weitgehende Entbürokratisierung, hohe Rechtssicherheit sowie größte Transparenz und Öffentlichkeit. ({1}) Deshalb halten wir die Festschreibung des Normativsystems für wichtig. Demgegenüber wird der vorliegende Entwurf auf keinen Fall den genannten Kriterien gerecht, wenn er für die Entstehung einer rechtsfähigen Stiftung lediglich eine notarielle Beurkundung des Stiftungsgeschäftes vorschreibt. Ich komme zum Schluß - meine Redezeit beträgt leider nur 3 Minuten -: In summa: Stiftungsreform - ja, aber mit einer hohen rechtlichen Absicherung im vorrangigen Interesse von Kultur, Bildung und sozialen Belangen. Die Stiftungen dürfen nicht ein Ort stiller Reserven für die Wirtschaft und für nicht gezahlte Steuern sein. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Jörg Tauss, SPD-Fraktion.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe mir vorgenommen, heute richtig nett zur F.D.P. zu sein, denn der Kollege Pick auch das ist selten - hat Sie ja genug „gepickt“. Der Kollege Otto hat auf eine hinreißende Art und Weise die Koalitionsvereinbarung zitiert. An diesem Punkt haben Sie recht: Steuerpolitische Hemmnisse für Stiftungen zu beseitigen, neue Möglichkeiten für Mäzenaten, Stifter und Kultursponsoren zu gewinnen ist Originalton rotgrün. Sie können in der Koalitionsvereinbarung die entsprechende Stelle nachlesen. Wo sich die F.D.P. der vernünftigen Linie anschließt, sollte man sie nicht kritisieren. Lieber Herr Kollege Otto, wir sind ja beide Mitglied des Kulturausschusses, wo wir uns gelegentlich um Fragen des Urheberrechts streiten. Deshalb will ich Ihnen offen sagen, daß Sie ein bißchen von den Vorlagen der Grünen aus der letzten Legislaturperiode abgeschrieben haben. ({0}) Ich weiß, daß wir das Rad nicht immer neu erfinden müssen. Sie haben in der Tat berechtigterweise einige Punkte angesprochen, in denen Dissens zwischen uns besteht. Sie sprachen völlig zu Recht - das hat mich von seiten der F.D.P. überrascht - von den großen Vermögen, den Vermögen in Billionenhöhe, die in Deutschland zur Vererbung anstehen. Vielleicht kann eine solche Feststellung manch emotionale Debatte über Steuerreformen in diesem Haus etwas entemotionalisieren. Sie tun ja gemeinhin so, als stünden die Reichen kurz vor der Verarmung. ({1}) Nein, es gibt Menschen mit Geld in diesem Lande. Es gibt aber auch Menschen, die erkannt haben, daß ihnen das Vermögen lediglich treuhänderisch zusteht und daß sie es nach ihrem Ableben an die Gesellschaft „zurückzustiften“ haben. Dieses Verständnis sollte ausgeweitet werden: Reiche müssen erkennen, daß ihnen ihr Vermögen nur treuhänderisch zusteht. ({2}) - Ich bin ja kein Reicher. - Damit Sie nicht denken, ich hätte Marx zitiert - ich dachte schon, jetzt würde sich Freiherr von Stetten zu Wort melden; aber er hat sich zurückgehalten -: Dieser Satz stammt von dem amerikanischen Multimillionär Andrew Carnegie. Er hat 1890 formuliert: Reiche haben ihr Vermögen an die Gesellschaft zurückzugeben. Dies hat 1890 in den USA zu einer Stimmung beigetragen, die eine Stiftungswelle auslöste. Ich halte dies für interessant. Wer würde heute noch von Carnegie reden, hätten wir nicht in New York die Carnegie-Hall? Sie ist eine Auswirkung dieser Stiftungswelle. - Es gab also schon Multimillionäre, die für ihr Land mehr Verantwortung gezeigt haben als der eine oder andere Reiche, den Sie immer so leidenschaftlich verteidigen. Unser Problem ist, daß wir in Deutschland keine Stifterkultur entwickelt haben, wie es in Ländern insbesondere des angelsächsischen Raums geschehen ist. Eine Denkweise, wie sie bei Carnegie vorhanden war, ist hier nicht ausgeprägt. Wir können sicherlich einen Beitrag dazu leisten, daß dieses Denken gefördert wird: für Bildung und Forschung, für Kultur und Kunst. Kollege Meyer hat mich darauf aufmerksam gemacht: Wir brauchen Modelle der Prävention für Jugendliche, die kriminell und gewalttätig geworden sind, wissen aber nicht genau, in welche Richtung wir dabei gehen müssen. Stiftungen könnten hier in eine ganz wesentliche Bresche springen, wie es beispielsweise bei der Deutschen Krebshilfe der Fall ist. Diese kommt bis heute ohne eine Mark an öffentlichen Mitteln aus, wirkt aber dennoch segensreich. - Das ist das Stiftungswesen positiv verstanden. Ich glaube, Frau Kollegin Süssmuth, da sind wir in der Tat einer Meinung. Etwas problematisch wird es aber bei den 20 Prozent, die Sie vorgeschlagen haben; das sage ich ganz offen. Wir werden das natürlich in aller Sorgfalt diskutieren. Was wir allerdings nicht wollen, ist eine Familienstiftung. Damit keine Mißverständnisse aufkommen ich glaube, wir haben dies auch geklärt -: Eine Familienstiftung hat nichts damit zu tun, daß Familien ihren Namen geben. Es handelt sich hier in der Tat um ein Steuersparmodell, um den Erhalt privaten Vermögens. Das ist nicht unser Ziel. Wenn Sie sagen, daß dies auch Ihr Ziel nicht ist, dann kommen wir voran - auch bei den Finanzbeamten, die dem, was wir tun, gründlich mißtrauen. Ich weiß nur nicht, ob Ihr Vorschlag hinsichtlich der 20 Prozent sehr sinnvoll ist. Ich fürchte, Sie bekommen nicht das Geld, das Sie haben wollen, erfahren aber auf der Finanzseite sehr viel Widerstand.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Tauss, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sicher. Ich war schon überrascht, daß bisher niemand eine Zwischenfrage stellen wollte. Kollege Otto, bitte schön.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin heute friedlich. - Herr Kollege Tauss, darf ich Sie in bezug auf Ihre Philippika gegen die Familienstiftungen darauf aufmerksam machen, daß die Familienunterhaltsstiftung - diese haben Sie eben angesprochen - überhaupt keine Steuervorteile hat, weil die Mittel aus der finanziellen Entlastung durch das Gemeinnützigkeitsrecht, über das wir heute sprechen, nur für gemeinnützige Zwecke ausgegeben werden dürfen? Der Vorwurf, die Familienstiftungen seien ein Steuersparmodell, ist leider von Unkenntnis getragen. Darüber muß ich Sie aufklären. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Otto, über Unkenntnis können wir uns im Ausschuß lange unterhalten. Erstens. Sie wissen ganz genau, daß es Konstruktionen gibt, die höchst fragwürdig sind. Wenn Großunternehmen in diesem Lande über Stiftungsmodelle mehr an Körperschaftsteuer sparen, als sie an den Staat entrichten, dann ist das ein verkehrter Weg. Dies wollen wir nicht. ({0}) Zweitens. Ich sage Ihnen noch etwas über die Familienstiftung: Da gibt es einen mißratenen Sohn oder eine mißratene Tochter, und die Familie will nicht, daß diese ihr Leben auf dem Golf- oder dem Tennisplatz verbringen. Sie will das Vermögen erhalten; es soll nicht für Jachttouren in die Karibik ausgegeben werden. Das mag auch legitim und vernünftig sein. Genau das aber ist nicht das Ziel, das wir mit einer Reform des Stiftungsrechts verfolgen. Ich hoffe, daß wir uns darauf einigen können. Das ist eine Idee, die legitim sein mag. Wer will schon sein Geld, das er erarbeitet hat, an lockere Menschen verschenken! Aber das ist nicht das Ziel, über das wir heute diskutieren. ({1}) Wenn wir diese Signale auch den Beamten im Finanzministerium deutlich machen, dann haben die weniger schlaflose Nächte. Die denken ja immer, daß wir etwas Unanständiges machen. Können wir uns darauf verständigen? ({2}) - Ich danke Ihnen, lieber Kollege Otto. Das, was wir vorhaben, muß seriös durchgerechnet werden. Das ist doch völlig klar. Die bestehenden Rechtsprobleme hat Kollege Pick angesprochen. Ich glaube tatsächlich, daß das Registermodell nicht im Mittelpunkt unserer Betrachtungen stehen sollte. Wir befinden uns mit den Vertretern der Länder in einem sehr intensiven Dialog. Wir haben seitens unserer Arbeitsgruppen für Kultur und Medien sowohl von grüner als auch von roter Seite Vorschläge vorgelegt. Darüber kann man sprechen. Die Stiftungsreferenten der Länder haben ein großes Interesse signalisiert, mit uns einen Dialog zu führen. Dies müssen wir auch tun, und zwar auf vernünftige Weise. Wir werden Lösungen finden, lieber Freiherr von Stetten, nicht deshalb, weil es seit 100 Jahren so ist, ({3}) sondern deshalb, weil wir miteinander etwas Vernünftiges erreichen wollen. Wir können an dieser Stelle auch über Thesaurierungsverbote und all diese Dinge diskutieren. Das ist schlichtweg Unfug. Da sind wir uns sehr schnell einig. Das Land Rheinland-Pfalz wollte neulich eine Stiftung gründen. Da stellte man fest, daß dies nicht geht. Ein solches Vorgehen kann jedoch unter vielen Umständen Sinn machen. Über all diese Dinge wollen wir sprechen. Das ist unser Ziel. Der Gedanke des Stiftungswesens - auch das ist zu betonen - muß aufgewertet werden. Was passiert denn heute, wenn einer eine Stiftung gründen will? Er muß sich zum Beispiel im Regierungspräsidium an das Amt für Abfallwirtschaft und Stiftungswesen wenden. Man macht ihm damit schon auf dem Flur deutlich, daß er eigentlich unwillkommen ist, ({4}) daß es der Verwaltung nicht willkommen ist, daß jemand privates Geld in gesellschaftliche Aufgaben, also zum Beispiel in die Krebshilfe oder in andere Bereiche, investiert. ({5}) Da können wir in der Tat - siehe Carnegie - etwas tun. Das heißt also, wir werden einen ausgezeichneten Gesetzentwurf vorlegen. Die Koalitionsvereinbarung wird umgesetzt. Wenn die F.D.P. mitmacht und uns hilft, dann ist das prima. Ich habe gehört, auch die Union will einen Entwurf auf den Weg bringen. ({6}) - Das ist klasse. Sie sehen, die Oppositionsrolle setzt in Ihrer Partei kreative Kräfte frei! Dabei sollte es bleiben. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/336 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Für die vorgesehenen Fraktionssitzungen unterbreche ich jetzt die Sitzung. Sie wird um 11 Uhr mit der Regierungserklärung zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem Eingreifen der NATO und zu den Ergebnissen der Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin fortgesetzt. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder und rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem Eingreifen der NATO und zu den Ergebnissen der Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Der Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/643 ({0}) wurde zurückgezogen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache nach der Regierungserklärung drei Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich gebe jetzt das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung dem Herrn Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({1})

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Woche hat Europa Handlungsfähigkeit beweisen müssen. Die Kosovo-Krise, der Rücktritt der Kommission und die Agenda 2000 waren in dieser Bündelung wohl mit die größten Herausforderungen, die ein Europäischer Rat jemals bewältigen mußte. Ich bin froh und bin auch stolz, Ihnen heute sagen zu können, daß die Europäische Union unter deutscher Ratspräsidentschaft diese Prüfung bestanden hat. ({0}) In den frühen Morgenstunden ist es uns nach anstrengenden und gewiß harten Verhandlungen in Berlin gelungen, die Agenda 2000 zu verabschieden. Mit diesem, wie ich es nennen möchte, Berlin-Paket haben wir einen Kompromiß gefunden, bei dem alle beteiligten Parteien, also auch wir, Abstriche von ihren Ausgangspositionen zu machen hatten. Es ist ein Kompromiß, der vernünftig ist und mit dem alle leben können. Genau deshalb ist er gut und richtig. ({1}) Bereits am Mittwoch habe ich in meiner Eigenschaft als Präsident des Europäischen Rates Romano Prodi namens und im Auftrage des Europäischen Rates für das Amt des Präsidenten der Kommission vorgeschlagen. Nach Zustimmung durch das Europäische Parlament werden wir schon im Sommer wieder eine handlungsfähige Kommission unter seiner gewiß hochkompetenten Leitung haben. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Nacht zum Donnerstag hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Das Bündnis war zu diesem Schritt gezwungen, um weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte im Kosovo zu unterbinden und um eine humanitäre Katastrophe dort zu verhindern. Der Bundesaußenminister, die Bundesregierung und die Kontaktgruppe haben in den letzten Wochen und Monaten nichts, aber auch gar nichts unversucht gelassen, eine friedliche Lösung des Kosovo-Konfliktes zu erzielen. Präsident Milosevic hat sein eigenes Volk, die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo und die Staatengemeinschaft ein ums andere Mal hintergangen. Monatelang haben der EU-Sonderbeauftragte Petritsch und sein amerikanischer Kollege Hill in intensiver Reisediplomatie mit den beiden Konfliktparteien Gespräche geführt und den Boden für ein faires Abkommen bereitet. In Rambouillet und Paris ist mehrere Wochen lang - wir alle waren Zeugen - hartnäckig verhandelt worden. Zu dem dort vorgelegten Abkommen, das die Menschenrechte der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo, aber auch die territoriale Integrität der Republik Jugoslawien gewährleistet, gibt es nach meiner festen Auffassung keine Alternative. ({3}) Das ist der Grund, warum alle Parteien diesem Abkommen hätten zustimmen müssen. Die Ziele dieses Abkommens - das ist mir wichtig werden auch von Rußland geteilt. Ich selbst habe in einem Telefongespräch mit dem russischen Premierminister Primakow unterstrichen, daß die Europäische Union die Beziehungen zu Rußland nicht einschränken, nicht relativieren, nein: gerade jetzt weiter ausbauen wird. ({4}) Wir haben - das betrifft alle Parteien dieses Hauses mit Rußland eine Qualität in unseren Beziehungen erreicht, die wir von unserer Seite aus nicht in Frage gestellt sehen wollen. Die Vertreter der Kosovo-Albaner haben dem Abkommen von Rambouillet schließlich zugestimmt. Einzig die Belgrader Delegation hat durch ihre Obstruktionspolitik alle, aber auch wirklich alle Vermittlungsversuche scheitern lassen. Sie allein trägt die Verantwortung für die entstandene Lage. ({5}) Gleichzeitig hat das Milosevic-Regime seinen Krieg gegen die Bevölkerung im Kosovo noch intensiviert. Unsagbares menschliches Leid ist die Folge dieser Politik. Mehr als 250 000 Menschen mußten aus ihren Häusern fliehen oder wurden gar mit Gewalt vertrieben. Allein in den letzten sechs Wochen haben noch einmal 80 000 Menschen dem Inferno, das es dort gibt, zu entrinnen versucht. Umgerechnet auf die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland wäre das die Einwohnerschaft einer Metropole wie Berlin. Es wäre zynisch und verantwortungslos gewesen, dieser humanitären Katastrophe weiter tatenlos zuzusehen. ({6}) Bis zuletzt hat sich die Staatengemeinschaft bemüht, dem Morden auf diplomatischem Wege Einhalt zu geVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer bieten. Außenminister Fischer als EU-Ratspräsident, der russische Außenminister Iwanow und der OSZEVorsitzende Vollebaek haben Präsident Milosevic in Belgrad zur Annahme des Rambouillet-Abkommens gedrängt. Schließlich hat Richard Holbrooke als Sondergesandter der Vereinigten Staaten am Montag und Dienstag dieser Woche einen allerletzten Versuch unternommen, das Regime in Belgrad zum Einlenken zu bewegen - alles vergebens. Wir hatten deshalb keine andere Wahl, als gemeinsam mit unseren Verbündeten die Drohung der NATO wahrzumachen und ein deutliches Zeichen dafür zu setzen, daß wir als Staatengemeinschaft die weitere systematische Verletzung der Menschenrechte im Kosovo nicht hinzunehmen bereit sind. Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß dies das erste Mal seit dem zweiten Weltkrieg ist, daß deutsche Soldaten in einem Kampfeinsatz stehen. Ich darf Ihnen deshalb versichern, daß die Bundesregierung sich ihre Entscheidung nicht leichtgemacht hat. Aber wir wissen uns einig und in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung und, Gott sei Dank, auch mit der großen Mehrheit des Deutschen Bundestages - über alle Parteigrenzen hinweg. Ich möchte von dieser Stelle aus ein Wort des aufrichtig empfundenen Dankes an unsere Soldaten und ihre Familien richten. ({7}) Sie erfüllen eine schwierige und - das muß man redlicherweise hinzufügen - auch gefährliche Mission. Obwohl wir alles getan haben und tun werden, um für ihren Schutz und ihre Sicherheit zu sorgen, können wir Gefahren für Leib und Leben nicht ausschließen. Gerade deshalb sollen sie wissen, daß die Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren Einsatz für die Menschlichkeit und den Frieden wohl zu würdigen weiß und ihnen dafür zutiefst dankbar ist. ({8}) Ich denke, es ist ein Gebot des Anstandes und der Vernunft, auch vom Deutschen Bundestag aus ein Zeichen der Solidarität und der Unterstützung an unsere Streitkräfte zu richten. Die Verantwortung für die entstandene Lage trägt allein die extremistische Belgrader Führung. Es liegt in ihrer Hand, die Militäroperation unverzüglich zu beenden. Auch von dieser Stelle - aus dem deutschen Parlament heraus - fordere ich deshalb Präsident Milosevic noch einmal auf, die Kämpfe im Kosovo sofort zu beenden und das Friedensabkommen zu unterzeichnen. Dann wird Frieden sein können, meine Damen und Herren. ({9}) Die NATO und die internationale Gemeinschaft insgesamt sind unverändert bereit, mit Zustimmung der Streitparteien mitzuhelfen, das Abkommen von Rambouillet umzusetzen. Wir sind auch bereit, für die militärische Absicherung eines Waffenstillstandes einzutreten. Dafür stehen erste NATO-Einheiten, darunter 3 000 deutsche Soldaten, bereit. Auch sie sollen wissen, daß die Bundesregierung und das deutsche Parlament hinter ihnen stehen. ({10}) Auf der Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin hat Europa seine Verantwortung für eine friedliche Entwicklung auf dem Kontinent bekräftigt. Wir können heute mit berechtigtem Stolz sagen: Angesichts der schwierigen Mission im Kosovo spricht Europa wirklich mit einer Stimme. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben in Berlin einvernehmlich beschlossen, den früheren italienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi zu bitten, das wichtige Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission zu übernehmen. Gleichzeitig haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den Rücktritt der Kommission mit Respekt zur Kenntnis genommen. Gleichgültig, was auch immer kritisiert worden ist und wieviel Grund es dafür gegeben haben mag - an dieser Stelle möchte ich der scheidenden Kommission und deren Präsidenten Jacques Santer noch einmal für ihre Arbeit danken, die sie für Europa geleistet haben. ({11}) Ich füge hinzu - ich denke, auch das ist gerade in einer solchen Situation angemessen -: Ohne die Vorarbeiten, ohne den Rat der Mitglieder sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommission in Berlin und - trotz allem, was vorgefallen ist - ohne ihre konstruktiven Vorschläge wären wir auf diesem Sondergipfel wohl kaum so schnell zu einer auskömmlichen Einigung gelangt. In Anwendung des im Vertrag von Amsterdam festgelegten Verfahrens - unabhängig von seinem wohl doch rechtzeitigen Inkrafttreten - wird die Nominierung von Romani Prodi - nein, Romano - ({12}) - Es ist wirklich schwierig, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt. ({13}) Die Nominierung von Romano Prodi also wird dem gegenwärtigen Europäischen Parlament zur Zustimmung vorgelegt werden. Anschließend soll der designierte Kommissionspräsident versuchen, in Zusammenarbeit mit den Regierungen der Mitgliedstaaten so früh wie möglich die Ernennung einer neuen Kommission vorzubereiten. Die Regierungen der Mitgliedstaaten werden dann im Einvernehmen mit Romano Prodi ({14}) die übrigen Personen benennen, die sie als Kommissionsmitglieder zu ernennen beabsichtigen. Dieses neue Kollegium wird sich schon im Sommer dieses Jahres dem Votum des dann neu gewählten Europaparlaments stellen. Damit schaffen Rat und Parlament die Voraussetzungen, daß die neue Kommission ihre Arbeit zum frühestmöglichen Zeitpunkt beginnen und ab Januar 2000 für eine volle fünfjährige Amtszeit fortführen kann. ({15}) Durch den Rücktritt der Kommission drohte dem vereinten Europa die Gefahr einer schweren institutionellen Krise. Vor diesem Hintergrund läßt sich ermessen, wie bedeutend die schnelle und überzeugende Lösung dieser Krise durch die Ernennung des neuen Kommissionspräsidenten ist. Europa hat - das darf man ruhig deutlich unterstreichen - in dieser Situation Entschlossenheit und auch Handlungsfähigkeit bewiesen. Ich denke, das wird Europa und der europäischen Idee im Bewußtsein der Bürgerinnen und Bürger auch unseres Landes helfen. ({16}) Ich sage das keineswegs nur aus pragmatischen Gründen. Die in Berlin versammelten Delegationen, Minister sowie Staats- und Regierungschefs waren trotz aller Unterschiede in Einzelfragen der Agenda 2000 in einer Überzeugung geeint, nämlich in der, daß wir die einmalige historische Chance, die sich den europäischen Völkern durch den konsequenten Integrationsprozeß bietet, wirklich beherzt ergreifen wollen. Wir haben den Schritt zur Wirtschafts- und Währungsunion getan. Weitere EU-Mitgliedstaaten werden sich dieser Union anschließen. Genau dafür, also für die Erweiterung der Union, sind in Berlin allerwichtigste Grundlagen gelegt worden. ({17}) Wir haben heute die Möglichkeit, ausgehend von 50 Jahren Frieden in Europa, unsere Völker und Staaten in freundschaftlicher Nachbarschaft immer enger miteinander zu verzahnen. Dies ist der Auftrag, den wir von den Vätern und Müttern, die zwei schreckliche Kriege auf diesem Kontinent erleben mußten, übernommen haben. Wir werden ihn konsequent ausführen. Dies ist der Auftrag, den uns unsere Kinder, für die das vereinte Europa auch eine kulturelle - nicht nur eine politische Selbstverständlichkeit geworden ist, täglich aufs neue erteilen. Dieses gemeinsame Europa kann nicht par ordre du mufti oder auf einem Gipfeltreffen beschlossen werden. Nein, es braucht die Unterstützung der freien Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents, sonst greift es zu kurz. Es braucht auch nicht nur auf die Entscheidungen der politischen Führungen zu starren; denn in der guten Nachbarschaft unserer Völker ist ein Europa, das sich auf die Menschen stützt und stützen kann, längst entstanden. Aber Europas Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht darauf, daß ihre Regierungen die europäischen Institutionen handlungsfähig machen und sie dadurch erhalten. Genau das haben wir getan. ({18}) Genau das in einer schwierigen Situation geschafft zu haben ist der große, ja der durchschlagende und währende Erfolg des Gipfeltreffens in Berlin. ({19}) Meine Damen und Herren, die Europäische Union - ich habe darauf verwiesen - braucht so bald wie möglich eine starke Kommission, die dem Gebot der Effizienz, der Transparenz und - das ist entscheidend - der Bürgernähe wirklich gerecht wird. Wir werden deshalb den designierten Kommissionspräsidenten Prodi bitten, im Dialog mit den Mitgliedstaaten ein Programm auszuarbeiten, in dem die veränderte Arbeitsweise der neuen Kommission fest umrissen wird. Ein erster Gedankenaustausch zwischen den Staats- und Regierungschefs und dem neuen Kommissionspräsidenten über ein solches Reformprogramm wird bereits am 14. April, vermutlich in Brüssel, stattfinden. Wir müssen und wollen bei der Verwaltung von Gemeinschaftsfonds, von Programmen und von Projekten durch die Kommission ein Höchstmaß an Integrität, aber auch ein Höchstmaß an Effizienz in der Durchführung erreichen. ({20}) Unsere Bürgerinnen und Bürger haben genau darauf einen Anspruch. ({21}) Die europäischen Völker wollen die Integration. Sie drängen uns auch, den nächsten Schritt zu tun, ohne den die europäische Vereinigung unvollendet bliebe: Ich meine die Erweiterung der Europäischen Union um unsere östlichen Nachbarstaaten. ({22}) Die Union, meine Damen und Herren, darf nicht an Deutschlands Ostgrenze enden. Gerade deshalb haben die Bürgerinnen und Bürger Europas kein Verständnis für administrativen Unterschleif oder eine Politik des nationalen Egoismus. Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß es uns auf dem Berliner Gipfeltreffen gelungen ist, darüber hinaus wichtige Vereinbarungen zu erzielen. Nach rund dreijährigen Verhandlungen ist eine Einigung zum Handels- und Kooperationsabkommen mit Südafrika erzielt worden. ({23}) Damit, meine Damen und Herren, stellt Europa unter Beweis, daß es ihm mit seinem Engagement für das neue Südafrika - für das Südafrika des so großartigen Menschen Nelson Mandela - ernst ist. ({24}) Das geeinte Europa stellt unter Beweis, daß es eben keine Exklusivveranstaltung für die Reichen der Welt ist, sondern daß es zu freundschaftlicher Zusammenarbeit gerade mit denen fähig ist, denen es nicht so gut geht wie den reichen Nationen dieser Welt. Daß wir übrigens diese Einigung am letzten Tag der Amtszeit von Präsident Nelson Mandela, der auch mir ganz persönlich mit seinem opferreichen Kampf für die Menschenrechte stets ein Vorbild gewesen ist, ({25}) erzielen konnten, erfüllt mich wirklich mit Freude. ({26}) Meine Damen und Herren, wie es so ist: Ein guter Kompromiß tut allen weh. Das gilt auch für den in Berlin erzielten Kompromiß zur Agenda 2000. Gleichwohl können alle Partner, also auch wir, mit den Ergebnissen zufrieden sein. Bedenkt man, wie weit die Ausgangspositionen auseinander lagen, ist das Ergebnis zufriedenstellend, weil es ausgewogen ist. Die Einigung, die wir in Berlin erzielt haben, ist ein klares Signal an die europäischen Bürgerinnen und Bürger, an die Märkte und an die Beitrittskandidaten, und sie belegt, daß wir alle am Ende unsere gemeinsame Verantwortung vor die jeweiligen Einzelinteressen gestellt haben. Das Berliner Paket ist ein tragfähiges Fundament für das Handeln der Europäischen Union. Zwei Prinzipien standen und stehen dabei im Vordergrund: Ausgabenstabilität und Solidarität innerhalb Europas mit den Schwächeren. ({27}) Wir haben uns auf einen Rahmen geeinigt, der uns vorgibt, auch in Europa strenge Haushaltsdisziplin zu üben. Wir werden dabei den Zusammenhalt unter den Mitgliedstaaten wahren, so wie es der Vertrag vorsieht. Wir haben in Berlin eine Obergrenze für die EU-Ausgaben bis zum Jahr 2006 einvernehmlich festgeschrieben. Das war am Anfang alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Diese Grenze wird bei 1,27 Prozent des EU-Bruttosozialproduktes liegen. Wir werden in zwei Stufen bis zum Jahre 2004 die Mehrwertsteuereigenmittel zur Hälfte auf Bruttosozialprodukteigenmittel umstellen. Wir erhöhen die Erhebungskostenpauschale bei den sogenannten traditionellen Eigenmitteln von 10 Prozent auf 25 Prozent. Beim Beitragsrabatt für Großbritannien sowie beim Schlüssel für die Finanzierung des Rabatts haben wir Modifikationen vereinbart, die zu einer größeren Beitragsgerechtigkeit für die Nettozahler - damit meine ich alle Nettozahler, nicht nur Deutschland - führen werden. ({28}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Agrarpolitik sind wir nach langem Ringen zu einer auskömmlichen Lösung gelangt. Vielleicht wird es dem einen oder anderen an Begeisterung mangeln. Denjenigen, bei dem das so ist, kann ich trösten: Bei mir ist das nicht anders. Kernstück sind die Preissenkungen bei Getreide und Rindfleisch sowie die auf dem Petersberger Gipfel vereinbarte Höchstgrenze für die Agrarausgaben. Auch über den Kohäsionsfonds haben wir eine Einigung erzielt. Innerhalb der Strukturfonds haben wir für die neuen Bundesländer auch für die nächsten sieben Jahre die höchste Förderpriorität gesichert. ({29}) Übrigens, dazu gehört auch eine vernünftige Übergangsregelung für Ostberlin. ({30}) Man nennt das in der Sprache der europäischen Beamten „phasing out“. ({31}) - Sehen Sie: Irgendeinen Grund zur Freude muß ich Ihnen doch auch geben. ({32}) Auch wir Deutschen haben nicht alles von dem durchsetzen können, was wir gern durchgesetzt hätten. Das gerade hier zu sagen gebietet die Redlichkeit. ({33}) Etwas Wesentliches haben wir allerdings erreicht: Die Ausgabenbegrenzung konnte so festgeschrieben werden, wie Deutschland und einige unserer Partner es im nationalen, aber auch im europäischen Interesse gefordert haben. Schritte hin zu mehr Beitragsgerechtigkeit liegen nicht nur im deutschen, im niederländischen, im österreichischen oder im schwedischen Interesse; der Gesichtspunkt der Solidarität und der Gerechtigkeit auch den Stärkeren gegenüber liegt vielmehr auch im europäischen Interesse. Solidarität ist eben keine Einbahnstraße. ({34}) Wir haben uns deshalb in Berlin darauf geeinigt, daß die Kurve der deutschen Nettozahlungen in der Tendenz gestoppt und - naturgemäß langsam - umgedreht wird. ({35}) Aber es gilt ganz kühl festzustellen: Wir werden nicht auf einen Schlag reparieren können, was in der Vergangenheit versäumt worden ist. ({36}) - Das ist so! Sollte sich der eine oder andere von dieser oder jener Bank zu Wort melden, dann bin ich sehr gespannt darauf, ob er es schafft, das, was wir in Berlin erreicht haben, mit dem zu vergleichen, was andere aus Edinburgh mitgebracht haben. ({37}) Auf diese Diskussion, die wir sicherlich noch mit großem Nachdruck und mit großem Interesse miteinander - in welchen Gruppierungen bei Ihnen auch immer werden führen können, freuen wir uns wirklich. ({38}) Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft in einer gewiß prekären Lage übernommen. Am Ende dieses Halbjahres werden wir vier Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs hinter uns gebracht haben, und dies - wie wir mit ein Stück weit Stolz sagen - durchaus mit Erfolg. Mit der Nominierung von Prodi haben wir eine institutionelle Krise in der Union abwenden können. Die Lage im Kosovo hat die europäische Wertegemeinschaft erstmals seit dem zweiten Weltkrieg vor den Zwang gestellt, mit militärischen Mitteln eine humanitäre Katastrophe verhindern zu müssen. Mit dem Berliner Paket haben wir eine gute Basis gelegt, um die Osterweiterung der Europäischen Union voranzutreiben. Diese Erweiterung ist und bleibt unsere größte, unsere drängendste Aufgabe. ({39}) Die Europäische Union strukturell und finanziell für die Aufnahme der Beitrittskandidaten fit zu machen - ich habe darauf immer wieder hingewiesen - stand und steht weit oben auf der europäischen Tagesordnung. Auf dem Gipfel in Köln Anfang Juni wollen wir darüber hinaus einen Beschäftigungspakt für und in Europa verabschieden und einen Fahrplan für die dringend notwendigen institutionellen Reformen der EU festlegen. Damit erweisen wir uns einmal mehr als der in der Realität und nicht nur im Reden wirkliche und ehrliche Anwalt der Beitrittskandidaten. ({40}) Mit dem in Berlin erreichten Kompromiß sind wir unseren Zielen, vor allen Dingen dem Ziel, Europa zu erweitern, ein großes Stück näher gekommen. Ich erwarte nicht, daß alle Mitglieder dieses Hohen Hauses allen Einzelheiten des Kompromisses zustimmen. Aber ich erwarte, meine Damen und Herren, daß wir den ernstgemeinten Versuch machen, europäische Politik ein Stück weit herauszuhalten aus dem politischen Konkurrenzkampf der Parteien. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({41})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Wolfgang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eugen Gerstenmaier, der große Präsident dieses Hauses, hat seine Memoiren mit dem Titel überschrieben: „Streit und Friede hat seine Zeit“. Wir sind heute in einer besonderen Situation. Wir haben, Herr Bundeskanzler, gestern schon kurz darüber debattiert. Deswegen will ich ganz ruhig und klar sagen, inwieweit wir das unterstützen, was Sie gesagt haben, und worin wir uns unterscheiden. Wir unterstützen, Herr Bundeskanzler, das, was Sie zur Lage im Kosovo gesagt haben. Ich habe gestern für die CDU/CSU-Fraktion erklärt, daß sich die Bundesregierung auf unsere Unterstützung verlassen kann. ({0}) Ich fand richtig - und wir unterstützen das -, was Sie grundsätzlich zu Europa, zum Prozeß der europäischen Integration und zu der Notwendigkeit der Erweiterung gesagt haben. Wir unterstützen besonders und begrüßen, daß es dem Europäischen Rat gelungen ist, sich so rasch auf einen Nachfolger von Santer zu einigen. Wir begrüßen, daß man sich darauf geeinigt hat, Romano Prodi als neuen Kommissionspräsidenten vorzuschlagen. ({1}) Wir sind in der Bewertung dessen, was auf dem Berliner Gipfel zur Agenda 2000 erreicht worden ist, unterschiedlicher Meinung. Das muß auch so bleiben. Herr Bundeskanzler, ich glaube auch gar nicht, daß es gut wäre, wenn wir Europa und europapolitische Fragen, wie Sie am Schluß ein bißchen mißverständlich - vielleicht habe ich Sie nicht richtig verstanden - gesagt haben, aus dem Streit, aus der politischen Konkurrenz herausnehmen würden. Die Demokratie, die Suche nach Alternativen, das Ringen um die besseren Lösungen muß bei aller Gemeinsamkeit darüber, daß die europäische Einigung das wichtigste Projekt am Ende dieses Jahrhunderts ist, auch und gerade in europäischen Fragen funktionieren. Ich möchte gerne noch ein Wort zu der aktuellen Situation im Kosovo sagen. Das erste ist: Wir fühlen uns in diesen Stunden mit den Soldaten, mit ihren Familien und auch mit den Streitkräften unserer Verbündeten verbunden. Unsere Unterstützung gilt ihnen. Wir begrüßen, daß alles getan wird, um Gefahren so gering wie möglich zu halten. ({2}) Man muß es immer und immer wieder sagen: Die Völkergemeinschaft hat mit unendlicher Langmut versucht zu verhindern, was unvermeidlich geworden ist. Aber es ist gut, notwendig und unausweichlich, daß am Ende Langmut nicht mit Wankelmut verwechselt werden durfte. Deswegen mußte jetzt eine klare, feste Entscheidung getroffen werden. ({3}) Die Angriffe richten sich nicht gegen das serbische Volk. Die Menschen sollten sich auch nicht durch die jetzt angeworfene Propagandamaschine in die Irre leiten lassen. Worum es geht, ist, Morden zu verhinden und zu helfen, daß der Friede so rasch wie möglich überall in Europa, auch in Jugoslawien und vor allem im Kosovo, wiederhergestellt wird. Worum es geht, ist, daß eine Tragödie für Hunderttausende von Menschen so rasch wie möglich beendet wird. Darum und um nichts anderes geht es. Dafür werden wir geschlossen und entschlossen die getroffenen Entscheidungen unterstützen. ({4}) Wir stimmen darin überein, daß es notwendig und richtig ist, so rasch wie möglich zu erreichen, daß die Waffen im Kosovo schweigen, und so rasch wie möglich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wieder humanitäre Hilfe geleistet werden kann, damit das Elend, dem die Menschen durch die Aggression, das Verbrechen, das Morden dieses Diktators ausgesetzt sind, gelindert werden kann. Ich will noch eine Bemerkung im Hinblick auf manche Äußerungen aus diesem Hause am gestrigen Tage und auch in der öffentlichen Debatte machen: Ich finde, wir haben im Oktober in Kenntnis aller Probleme auf sicherer verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Grundlage die notwendige Entscheidung dieses Bundestages sorgfältig erwogen und getroffen. Ich bin dagegen, jetzt in eine verfassungsrechtliche Rabulistik einzutreten, die nicht weiterführt. Im übrigen will ich noch eine Bemerkung machen: Das Verfassungsgericht hat die Klage gegen diesen militärischen Einsatz ja zurückgewiesen. Ich habe schon einmal diesen Aufsatz aus einer großen deutschen Tageszeitung im Zusammenhang damit zitiert. Wenn ich mir die verfassungsrechtlichen Debatten dazu so anhöre, habe ich das Gefühl, daß man nicht immer unterscheiden kann. Wir werden nicht durch einen Verzicht auf militärische Mittel - eingesetzt zur Bewahrung des Friedens und zur Beendigung des Mordens - Frieden erreichen und das Morden beenden. Es geht darum, größeres Morden zu verhindern. Es kann am Ende dieses Jahrhunderts doch nicht sein, daß am Schluß dieser rabulistischen Diskussionen Überschriften stehen wie jene eines Zeitschriftenaufsatzes, die da lautete: „Wir lassen uns in Ruhe - auch beim Morden“. Wir dürfen uns in Europa und in dieser einen Welt beim Morden nicht mehr in Ruhe lassen. Darum geht es. ({5}) Die aktuelle Lage unterstreicht - insofern fand dieser Berliner Gipfel ganz gewiß unter bestimmten Umständen statt -, wie notwendig ein handlungsfähiges, ein starkes Europa ist. Es ist der beste Weg, die größte Chance an der Schwelle zum kommenden Jahrhundert, Frieden in ganz Europa sicherzustellen, was leider in diesen Tagen immer noch nicht gelungen ist. Deswegen ist es auch richtig, daß wir alle unsere Kraft darauf verwenden, den Beitritt der Länder aus Mittelost- und Südosteuropa so rasch wie möglich voranzubringen. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß die Aufgabe der Agenda 2000 vor allem darin bestand, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß dieser Beitritt erleichtert wird und er so rasch wie möglich zustande kommen kann. Auch da stimmen wir also im Grundsätzlichen überein. Ich finde gut, daß die Entscheidung für Romano Prodi so schnell getroffen worden ist. Wir unterstützen auch die Absicht, schon jetzt nach den Regeln des Amsterdamer Vertrages - auch wenn er noch gar nicht in Kraft ist - zu verfahren, so daß die Entscheidung des Rates durch das jetzt im Amt befindliche Europäische Parlament bestätigt und Prodi beauftragt wird, ein Reformprogramm zu entwickeln und eine Kommission zu bilden. Diese muß dann noch einmal als Ganzes vom neu zu wählenden Parlament einer Bestätigung zugeführt werden, um dann eine neue, handlungsfähige Kommission zu haben, die für die volle Amtszeit von fünf Jahren an einem Programm institutioneller Reformen arbeiten und somit einen Beitrag leisten kann, um den wichtigen und schwierigen Reformprozeß in Europa voranzubringen. Aber die Beschlüsse zur Agenda 2000 bleiben - das muß man sagen - hinter den Notwendigkeiten und hinter den gesteckten Erwartungen zurück. ({6}) Das gilt in besonderer Weise für die Agrarpolitik; daran kann kein Zweifel sein. Natürlich muß man Kompromisse finden, natürlich war es schwierig. Aber was wir schon vor einer Woche gesagt haben, gilt auch heute: Es war nach unserer Überzeugung ein schwerer Fehler, das von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten unterstützte Ziel der Kofinanzierung als einen ersten Schritt für mehr Subsidiarität auch in der Agrarpolitik schon vor dem Berliner Gipfel aufzugeben. ({7}) Die Aufgabe dieser Position hat sich auf die Ergebnisse des Berliner Gipfels, so wie wir sie kennen, zum Nachteil einer wirkungsvollen Reform der Agrarpolitik ausgewirkt. ({8}) Wir kennen die Zahlen nicht im einzelnen. Das ist keine Kritik; der Berliner Gipfel ging ja bis in die frühen Morgenstunden. Wir legen einen Entschließungsantrag vor, in dem wir - gemäß unserer Überzeugung, daß das Parlament als Ganzes Stellung beziehen sollte - eine Position formulieren. Aber auch wenn man die Zahlen nicht im einzelnen kennt, eines ist klar: Die grundlegenden Probleme in der Agrarpolitik werden durch das Ergebnis des Berliner Gipfels nicht gelöst. Manches wird sogar schlechter. Der Preisdruck beispielsweise durch die Milchquoten wird eher stärker werden. Die Einkommenseinbußen für die deutsche Landwirtschaft - wie immer sich die Zahlen im einzelnen darstellen sind erheblich. Wir muten keinem anderen Teil unserer Bevölkerung etwas Vergleichbares zu. Angesichts dieser Situation, wo wir den Bauern in Deutschland etwas zumuten, was wir keiner anderen Bevölkerungsgruppe zumuten, will ich noch einmal mit allem Nachdruck an die Mehrheit dieses Hauses appellieren: Es ist falsch und unverantwortlich, durch Maßnahmen nationaler Gesetzgebung - von der sogenannten Steuerentlastung, die für die Landwirtschaft eine Steuermehrbelastung bedeutet, ({9}) über die Ökosteuer bis zur Kürzung der Zuschüsse für die landwirtschaftliche Unfallversicherung - zusätzliche Einkommensverluste in einer Größenordnung von 1,8 Milliarden DM für die deutsche Landwirtschaft zu beschließen. ({10}) Auch wenn es unvermeidlich ist, im Zuge der Reform der europäischen Agrarpolitik Kompromisse zu schließen, auch Opfer zuzumuten, ist es in einer solchen Situation auch um des inneren Friedens und der sozialer Gerechtigkeit willen in diesem Lande geradezu verheerend, der Bevölkerungsgruppe, der man die meisten Auswirkungen von Reformen zumutet - vielleicht teilweise zumuten muß -, durch nationale Maßnahmen zusätzliche Belastungen aufzuerlegen, anstatt daß man versucht, die Auswirkungen für die betroffenen Menschen, für die betroffene Bevölkerungsgruppe durch nationale Maßnahmen zu mindern. ({11}) Ich sage noch einmal, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Wer glaubt, die Bauern in unserem Lande seien nur eine kleine Minderheit, über die man sich leicht hinwegsetzen könne, der hat nicht verstanden, daß die Stabilität unseres Landes auf einem ausgewogenen Verhältnis von städtischen Ballungszentren und ländlichen Räumen beruht und daß der ländliche Raum ohne eine funktionierende Landwirtschaft nicht lebensfähig ist. Das wird auch in der Zukunft so bleiben. ({12}) Deswegen: Wer die Lebensfähigkeit unserer Landwirtschaft untergräbt, schadet nicht nur den Bauern, sondern verletzt die innere Stabilität unseres Landes. ({13}) - Ja, natürlich, wegen der Ausgewogenheit im Vergleich zu anderen Ländern. Ich komme gleich auf die Regionalpolitik zu sprechen. ({14}) Wenn Sie ein wenig über die Vorteile unserer Bundesrepublik Deutschland - eine größere Balance auch als Folge unseres föderalen Systems und eine größere Ausgewogenheit zwischen ländlichen Regionen, kleinen, mittleren und großen Städten bzw. Zentren - nachdenken, dann werden Sie vielleicht verstehen, daß die Lebensfähigkeit des ländlichen Raumes nicht nur für die Menschen dort, sondern auch für die Menschen in den städtischen Ballungszentren wichtig ist. Deswegen geht es nicht um Klientelpolitik, sondern um die richtigen ordnungs- und strukturpolitischen Entscheidungen für unser Land. ({15}) Ich will noch einmal sagen: Natürlich muß die europäische Agrarpolitik reformiert werden, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Erweiterung der Europäischen Union besser vorankommt. Da wir aber gleichzeitig darüber reden, Herr Bundeskanzler, wie der weitere Weg institutioneller Reformen auszusehen hat - von den Arbeiten, die Romano Prodi in der Vorbereitung auf eine neue Kommission und sein Programm zu leisten hat bis zum Kölner Gipfel und zu dem Prozeß, der von dort ausgehen muß -, will ich noch einmal das Prinzip beschreiben: Wir werden die Probleme der europäischen Agrarpolitik besser lösen, wenn wir im Bereich der Einkommenshilfen - wie immer sie heißen, ob es landwirtschaftliche Sozialpolitik ist, ob es direkte Einkommensbeihilfen oder was auch immer sind - das Subsidiaritätsprinzip stärker verwirklichen. Wir können angesichts der ganz unterschiedlichen klimatischen, regionalen und sonstigen Strukturen in Europa, des unterschiedlichen Wohlstands und Preisniveaus in Europa ({16}) bei der Reform der europäischen Agrarpolitik die Lebensfähigkeit der Landwirtschaft in Deutschland nicht allein durch europäische Maßnahmen sichern. Deswegen brauchen wir stärker das Subsidiaritätsprinzip. ({17}) Weil auf dem Berliner Gipfel keine Vereinbarung über Maßnahmen zu stärkeren nationalen Gestaltungsmöglichkeiten erreicht worden ist - die Kofinanzierung wäre der entscheidende Schritt in diese Richtung gewesen -, ist dieser Gipfel gescheitert. Dafür trägt die Bundesregierung erhebliche Verantwortung. ({18}) - Ich weiß doch, daß das für Frankreich ein ganz schwieriges Thema ist. ({19}) - Die deutsch-französische Freundschaft ist doch kein Grund dafür, daß man mit unseren französischen Freunden und Nachbarn nicht intensiv darüber reden kann und muß, was der richtige Weg für Europa ist. Wenn man aber die Debatte so, wie Bundeskanzler Schröder es Anfang des Jahres getan hat, als er sagte, jetzt ist Schluß damit, daß in Brüssel das deutsche Geld verbraten wird, beginnt, dann kann man mit Frankreich nicht zu einem Ergebnis kommen. ({20}) Es ist doch bemerkenswert, daß Tony Blair nach seiner Rückkehr sagen kann - wenn ich die Agenturmeldungen richtig gelesen habe -, daß kein britisches Pfund mehr bezahlt werde und man den britischen Beitragsrabatt gehalten habe. Auch die Franzosen können sagen: Wir haben alles gehalten. Auch die Südländer können sagen: Wir haben alles gehalten. ({21}) Aber der deutsche Bundeskanzler, der am Anfang der deutschen Präsidentschaft am meisten davon geredet hat, welche angeblichen Fehler seiner Vorgängerregierung jetzt korrigiert werden müssen, hat am wenigsten erreicht. So macht man sich durch eigenes Reden die Erfolge kaputt. ({22}) Herr Bundeskanzler, lassen Sie doch endlich davon ab, die Legende zu bilden - ich drücke mich noch sehr zurückhaltend aus -, ({23}) als sei in den vergangenen Jahren die Entwicklung dahin gegangen, daß Deutschland immer mehr gezahlt habe, und als habe Ihre Vorgängerregierung - wie haben Sie sich ausgedrückt? - das Geld geradezu nach Brüssel geschaufelt, damit es dort verbraten werde. Die Wahrheit ist, daß der deutsche Nettobeitrag nach den amtlichen Zahlen der Kommission in den Jahren 1994 bis 1997 - für diese Jahre haben wir die amtlichen Zahlen; für 1998 gibt es die Zahlen noch nicht - von 27 Milliarden DM auf 22 Milliarden DM gesunken ist. Die Trendwende ist also 1994 eingeläutet worden. ({24}) Die von Ihnen in Ihrer Regierungserklärung eingeforderte Gemeinsamkeit kann nicht auf der Grundlage falscher Zahlen und falscher Legenden zustande kommen, mit denen Sie die Bevölkerung und das Parlament ein Stück weit täuschen. Die Wahrheit ist, daß die Regierung Kohl/Waigel in den Jahren 1994 bis 1997 eine Trendwende durch die Senkung des deutschen Nettobeitrags von 27 auf 22 Milliarden DM erreicht hat. Gemessen daran sind die Ergebnisse, die Sie in Berlin erreicht haben, ausgesprochen kläglich. ({25}) Ich will noch ein Wort zur europäischen Regionalpolitik sagen. In der heutigen Debatte will ich vor allen Dingen noch einmal das Prinzip, um das es uns geht, klarmachen. Wir sagen in unserem Entschließungsantrag - ich habe das auch in der vergangenen Woche von diesem Platz aus gesagt -: Wir akzeptieren, daß die Förderung für die Bundesrepublik Deutschland aus den europäischen Strukturfonds zurückgeführt wird. Wir akzeptieren notfalls auch, daß die Strukturförderung für Deutschland überdurchschnittlich zurückgeführt wird. Das ist ja das Ergebnis von Berlin, wenn man die Zahlen, die wir jetzt kennen, einigermaßen richtig bewertet. Wenn dies aber geschieht, dann ist es zwingend notwendig, daß die Mitgliedstaaten und die Regionen, soweit sie in den Mitgliedstaaten eine rechtliche Qualität besitzen - für die Bundesrepublik Deutschland heißt das Bund und Länder -, mehr Möglichkeiten erhalten, mit eigenen Mitteln in eigener Zuständigkeit regionale Probleme zu lösen, für die es in Zukunft weniger Mittel aus Brüsseler Kassen gibt. Das fordern wir; das haben Sie nicht erreicht. ({26}) Das läßt sich an vielen Zahlen belegen. Das Entscheidende ist, daß wir das Prinzip der Aufgabenabschichtung, der Subsidiarität, klarer durchsetzen müssen: Wofür ist Europa, wofür sind die Mitgliedstaaten und wofür sind die Regionen zuständig? Das wird auch die entscheidende Aufgabe für den institutionellen Reformprozeß sein müssen. Wenn wir in Europa weiterhin die Entwicklung haben, daß für immer mehr Aufgaben in immer stärkerem Maße die europäische Ebene zuständig ist, daß wir eine Mischfinanzierung haben, die am Ende keiner mehr richtig durchschaut, und daß wir auf europäischen Gipfeln in den Nacht- und Morgenstunden Regelungen und Geld hin- und herschieben - 10 Millionen für dich, 5 Millionen für mich -, so daß am Ende keiner mehr weiß - das ist kein Vorwurf -, was nun im einzelnen beschlossen worden ist, dann werden wir - ({27}) - Ich bitte Sie herzlich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe mit keinem Wort kritisiert, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung keinerlei substantielle Angaben zu den Inhalten des Ergebnisses des Berliner Gipfels gemacht hat. ({28}) Aber wenn Sie hier solche Zwischenrufe machen, dann muß ich doch darauf hinweisen, daß ich ja verstehe, daß man ein paar Stunden nach Abschluß des Gipfels noch nicht in einer Regierungserklärung sagen kann, was im einzelnen beschlossen worden ist. ({29}) Das zeigt doch die Absurdität dieses Verfahrens. Das können wir nur dann besser lösen, wenn wir bei der institutionellen Reform der Europäischen Union zu einfacheren, klareren Regelungen kommen. Es muß nicht jede Aufgabe in Europa durch europäische Institutionen gelöst werden. Subsidiarität, mehr Bürgernähe, mehr Transparenz und mehr Klarheit, das ist der bessere Weg, um Europa voranzubringen. ({30}) Das ist vor allen Dingen deswegen wichtig, weil wir Europa nur voranbringen werden, wenn es uns gelingt, die Menschen in Europa und auch in Deutschland davon zu überzeugen - und zwar sowohl im Großen und Grundsätzlichen als auch im Kleinen und Konkreten, also nicht nur in den Festreden, sondern auch im Alltag -, daß Europa der bessere Weg für unsere Zukunft ist. Deswegen müssen die Ergebnisse und die Entscheidungen in Europa für die Menschen nachvollziehbar sein. Deswegen muß man wissen, wer was entscheidet, wer wofür die Verantwortung trägt, warum welche Entscheidung getroffen wird und wie sie demokratisch legitimiert ist. Das ist, in einfachen Worten, die Aufgabe für die institutionellen Reformen. Davon war im übrigen der Berliner Gipfel ein Teil. Die Ergebnisse des Berliner Gipfels werden diesem Maßstab aber nicht gerecht. Sie bedeuten nicht eine Stärkung der Subsidiarität in Europa, sondern sie resultieren wiederum nur aus dem Versuch - vielleicht war es in dieser Woche in der Lage gar nicht anders möglich -, die Milliarden ohne eine systematische Klarheit hin- und herzuschieben. Bei diesem Hin- und Herschieben von Milliarden hat die deutsche Präsidentschaft für die deutschen Interessen weniger erreicht, als die Regierungen anderer Mitgliedstaaten erreicht haben, wie alle Agenturmeldungen von heute morgen zeigen. ({31}) Damit sich dies nicht wiederholt, wird es notwendig sein - ich nütze die Gelegenheit dieser Debatte, dafür zu werben -, daß wir Europa bei den institutionellen Reformen mit einer Art Verfassungsvertrag unterstützen, um das Ganze für die Menschen einsehbar und nachvollziehbar zu machen, um die Menschen für Europa zu gewinnen und sie mitzunehmen. Sie sollen sehen, daß ihre Sache dort entschieden wird, und zwar nicht negativ, sondern positiv. Es soll erkennbar werden, wer in Europa für welche Entscheidung zuständig ist und wie jede Entscheidung in Europa demokratisch legitimiert wird - auch das ist wichtig -, was wir nicht allein durch die nationalen Parlamente machen können, weswegen das Europäische Parlament gestärkt werden muß. Je besser das gelingt, um so größer sind die Chancen, daß wir die Menschen dafür gewinnen, den Weg der europäischen Einigung in guten und in schwierigen Zeiten weiter voranzugehen. Das ist das Wichtigste. Die große Aufgabe deutscher und europäischer Politik ist angesichts der Ereignisse dieser Woche, in der sich viele dramatische Entwicklungen sozusagen wie zu einem Knoten zusammengefügt haben, dafür zu sorgen, daß sich die Menschen weiterhin für die demokratischen Entscheidungsprozesse interessieren. Deswegen darf dieser Punkt nicht aus dem demokratischen Meinungsstreit ausgeklammert werden, Herr Bundeskanzler. Die entsprechende Diskussion muß vielmehr Gegenstand des demokratischen Wettbewerbs sein. Es muß klar sein, wer wo um welche Konzeptionen streitet. Unsere Konzeption für Europa beinhaltet ein handlungsfähiges und starkes Europa; ein Europa, das Frieden, Freiheit, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlichen Wohlstand, ökologische Nachhaltigkeit und den Schutz von Natur und Umwelt sichert. Aus diesem Grunde ist die Erweiterung so wichtig. Wir müssen die Subsidiarität stärken, um demokratische Entscheidungen auf allen Ebenen zu ermöglichen, und wir müssen die kommunale Selbstverwaltung und die Zuständigkeit der Länder ernst nehmen. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Funktion, die sie bisher wahrgenommen haben, beibehalten und sich für die Interessen der Menschen einsetzen. Europa ist längst nicht mehr eine Festveranstaltung, sondern - wenn die Politik richtig angelegt ist - die beste Antwort, um die Interessen der Deutschen im kommenden Jahrhundert zu wahren. Dazu gehört, daß wir die Kraft aufbringen, Entscheidungen zu treffen, auch wenn die Entscheidungen, für die es wie im Falle der aktuellen Lage im Kosovo keine bessere Alternative gibt, sehr weh tun. ({32})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Peter Struck.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, im Namen der SPD-Fraktion gratuliere ich Ihnen zu den Ergebnissen, die Sie in Berlin erreicht haben. ({0}) Bevor ich darauf und auch auf die Bemerkungen meines Vorredners näher eingehe, möchte ich noch einige Ausführungen zur aktuellen Situation im Kosovo machen. Niemand in diesem Hause wird in diesen Tagen und Stunden ohne Skrupel sein; niemand wird unbeeindruckt von den Fernsehbildern der letzten beiden Nächte sein. Es wird niemanden geben, der sich nicht eindringlich fragt und prüft, ob der militärische Einsatz in Jugoslawien wirklich berechtigt ist. Es wird auch niemanden geben, der sich nicht der gewaltigen Zäsur bewußt ist, daß erstmals nach dem zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten in Kampfeinsätze geschickt werden mußten. Ich muß für meine Person bedrückt feststellen, daß ich keine Alternative zu diesen Entscheidungen gefunden habe. Ich halte die begonnenen Luftschläge gegen militärische Ziele in Jugoslawien für unabdingbar. Die Gewaltherrschaft des jugoslawischen Präsidenten Milosevic und das blutige, menschenverachtende Vorgehen der serbischen Polizei- und Militärkräfte im Kosovo konnten mit diplomatischen und politischen Mitteln nicht mehr gestoppt werden. Im Gegenteil: Je intensiver sich die USA, Europa und auch die Vereinten Nationen um Lösungen bemühten, desto grausamer gingen die Schergen von Milosevic im Kosovo vor: mehr als 2 000 Tote, über 500 zerstörte Dörfer und 500 000 Vertriebene. Die Tragödie der Kosovo-Albaner mußte ein Ende haben. ({1}) Es gab viele Stimmen, die das Zuwarten der NATO seit dem Massaker von Racak im letzten Januar kritisiert haben. Sie könnten vielleicht sogar recht haben. Unzweifelhaft ist aber auf jeden Fall, daß die Regierungen der NATO-Mitgliedstaaten, die Bosnien-Kontaktgruppe, die Europäische Union, die OSZE und die Vereinten Nationen alles versucht und alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, um Milosevic zu einer friedlichen Lösung des Konflikts zu bewegen. Auch die russische Regierung hat sich intensiv an solchen Überzeugungsversuchen beteiligt. Alle diese Versuche hatten das Ziel, einerseits Vertreibungen, Dorfzerstörungen und Tötungen durch serbische Einheiten zu beenden, andererseits den Gewaltakten der albanischen UCK Einhalt zu gebieten. Sie zielten auf eine menschenrechtskonforme Lösung des Konflikts im Rahmen einer fairen Lösung für beide Konfliktparteien: Bewahrung und Sicherstellung der Souveränität und der territorialen Integrität Jugoslawiens, weitgehende Autonomie und Selbstverwaltung für die albanische Mehrheit im Kosovo, Garantie der individuellen Menschenrechte. Alle diese Bemühungen aber prallten an dem machtversessenen, zynischen Diktator Milosevic ab. Angesichts dieser Erfahrungen darf Europa kein zweites Srebrenica zulassen! ({2}) In Bosnien haben wir zu lange gewartet, nicht frühzeitig genug schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterbunden und haben dadurch einen Völkermord mitten in Europa geschehen lassen. Das darf und wird uns nicht noch einmal passieren. - Wenn wir glaubhaft für den Aufbau und die Schaffung eines demokratischen Europas eintreten wollen, wenn wir für dieses Europa die höchsten Menschenrechtsnormen beanspruchen, dann bleibt uns nichts, als gegen die humanitäre Katastrophe, gegen Gewalt und Willkür im Kosovo entschieden vorzugehen. Ich sehe das Dilemma, das eine Reihe von Ihnen hier im Haus, auch aus meiner Fraktion beklagen. Wir standen vor der schwierigen Alternative, entweder ethnische Säuberungen und andere schwerste Menschenrechtsverletzungen geschehen zu lassen oder ohne die Zustimmung Rußlands und Chinas im Sicherheitsrat für eine Beendigung dessen zu sorgen. Ich halte unsere Entscheidung und die unserer Partnerstaaten für letzteres unter den konkreten Umständen für angemessen, vor allem deshalb, weil die Verhinderung von Völkermord schwerer ins Gewicht fällt als der Respekt vor dem Vetorecht von zwei Mitgliedern des Sicherheitsrates, zumal dies aus sachfremden Gründen mißbraucht worden ist. ({3}) Von dieser Stelle aus wende ich mich an all die vielen Mitbürgerinnen und Mitbürger jugoslawischer Herkunft in unserem Land. Ihnen und dem serbischen Volk möchte ich eindringlich klarmachen, daß weder die NATO noch die Europäische Union, daß weder die USA noch Deutschland oder ein anderer europäischer Staat Feindschaft gegen das serbische Volk, die Republik Serbien oder die Bundesrepublik Jugoslawien hegen. ({4}) Unser Vorgehen richtet sich allein gegen den Diktator und gewalttätigen Hasardeur Milosevic und die von ihm befehligten Polizei- und Streitkräfte. Er handelt gegen die Interessen seines eigenen Volkes, indem er es vom demokratischen Europa isoliert. Meine Damen und Herren, mit Genugtuung und Respekt habe ich verfolgt, wie der Bundesverteidigungsminister mit großer Umsicht und Fürsorge den größtmöglichen Schutz für unsere am Einsatz beteiligten Soldaten veranlaßt hat. ({5}) Um die Last, die in diesen Tagen auf ihm liegt, ist er nicht zu beneiden. Er verdient für diese Aufgabe die Unterstützung aller, auch die seines Vorgängers im Amt. ({6}) Trotz aller Vorsichts- und Sicherheitsmaßnahmen bleibt ein hohes Gefahrenpotential für die Gesundheit und das Leben unserer Soldaten. Zum erstenmal nach dem zweiten Weltkrieg beteiligen sie sich an einem Kampfeinsatz, nach dem sich niemand von uns gedrängt hat. Sie sind beteiligt an einem Einsatz, der Terror und Völkermord mitten in Europa beenden und die Grundlage für ein friedliches Miteinander garantieren soll. Unsere Gedanken und unsere Anteilnahme sind bei den Tornadopiloten und bei den Bodentruppen in Mazedonien. Wir bangen mit ihren Familien. Wir hoffen mit ihnen, daß alle unbeschadet zurückkehren. ({7}) Die Schrecken im Kosovo machen uns bewußt, daß es zur europäischen Integration keine Alternative gibt. Sie allein ist der Weg zu Frieden und gemeinsamem Wohlstand auf diesem Kontinent. Einen weiteren wichtigen Schritt in diese Richtung ist in diesen Tagen die Europäische Union auf dem Sondergipfel in Berlin gegangen. Erstmals in der Geschichte der Europäischen Union mußten drei große Politikbereiche reformiert werden: die gemeinsame Agrarpolitik, der Strukturfonds und das gesamte EUFinanzsystem. Daß bei dieser komplexen Gemengelage ein umfassender und tragfähiger Kompromiß gefunden werden konnte, ist eine große Leistung des Europäischen Rates. ({8}) Die Ergebnisse des Gipfeltreffens in Berlin sind ein großer persönlicher Erfolg auch für Sie, Herr Bundeskanzler, und für Sie, Herr Bundesaußenminister. ({9}) Die unermüdlichen Bemühungen des Bundeskanzlers im Vorfeld und auf dem Gipfel des Europäischen Rates haben zu sehr beachtlichen Resultaten geführt. Sie, Herr Bundeskanzler, habe Ihre Kritiker damit Lügen gestraft und in kürzester Zeit diplomatische und europapolitische Akzente gesetzt. Für Europa sind diese Ergebnisse sehr ermutigend. ({10}) Wenn die Opposition hier im Hause das Ergebnis von Berlin kritisiert, so gehört dies zu ihrer Aufgabe. Sie würde ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie dies nicht täte. Wenn sich allerdings Ihre Kritik, Herr Kollege Schäuble, vor allen Dingen auf die Beschlüsse im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik konzentriert, dann, denke ich, springen Sie viel zu kurz. Europa ist mehr als nur eine gemeinsame europäische Agrarpolitik. ({11}) Die Verabschiedung der Agenda 2000 ist nach der sehr schnellen und sehr übereinstimmenden Entscheidung zugunsten von Romano Prodi das zweite wesentliche Ergebnis des Gipfels. Mit der Agenda 2000 ist ein Handlungsrahmen geschaffen worden, der die finanzielle Solidität der Gemeinschaft und die Stabilität der Europäischen Währungsunion garantiert. Gleichzeitig sind die in der Agenda 2000 getroffenen Regelungen entscheidende Voraussetzungen für die Osterweiterung der Europäischen Union. Jedem Kenner war klar, daß nicht jedes Detail der deutschen Vorstellungen durchzusetzen war und daß alle Beteiligten Kompromißfähigkeit zeigen mußten. Wesentlich ist aber, daß im Hinblick auf die Agrarausgaben eine reale Konstante erreicht worden ist. Sie liegt nur gering oberhalb der angestrebten Grenze von jährlich 40,5 Milliarden Euro. Sie, Herr Kollege Schäuble, haben festgestellt, daß alle beteiligten Regierungschefs in ihren Ländern aus ihrer nationalen Sicht das Ergebnis des Gipfels als Erfolg bezeichnet haben. Ich denke, der Bundeskanzler hat genau das erreicht, was man auf einem solchen Gipfel überhaupt erreichen kann: Alle sind zufrieden, das heißt, alle tragen diesen Kompromiß mit. ({12}) Alles in allem konnte die deutsche Nettobelastung durch die Berliner Entscheidungen gesenkt werden. Die Entlastung ist nicht so hoch, wie wir es uns gewünscht hätten. Sie ist ganz sicherlich nicht so hoch, wie es von der Opposition absurderweise gefordert wurde, die von einer Entlastung in Höhe von 14 Milliarden DM sprach und die Möglichkeit der Durchsetzung einer solchen Forderung suggerieren wollte. Jeder Experte wußte, daß das eine unsinnige Forderung war. ({13}) Wir haben die Hypotheken, die wir von der Regierung Kohl übernehmen mußten, nicht von heute auf morgen abtragen können. Das dauert etwas länger, meine Damen und Herren. Aber wir sind auf dem richtigen Wege. ({14}) Es ist eine Tendenzumkehr erreicht worden. Weitere Schritte müssen folgen. Mit dem erfolgreichen Abschluß des Berliner Gipfels ist die Europäische Union dem Ziel, auf dem globalen Markt wirtschaftlich konkurrenzfähig und mitgestaltend bestehen zu können, ein gutes Stück nähergerückt. ({15}) Die neue Regierung, die nur zwei Monate Vorbereitungszeit hatte, kann mit dem Ergebnis mehr als zufrieden sein. Sie hat ihre europapolitische Kompetenz bewiesen. ({16}) Damit sind die Weichen für Erfolge beim Beschäftigungspakt und in der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik positiv gestellt. Berlin war ein entscheidender Meilenstein für den erfolgreichen Abschluß der deutschen Präsidentschaft. Dafür danken wir dem Bundeskanzler Gerhard Schröder und seiner Bundesregierung. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat das Wort der Franktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der heutigen Debatte werden wir bei SPD, den Grünen, der CDU/CSU und der F.D.P. Gemeinsamkeiten feststellen; wir werden auch Unterschiede markieren müssen. Das ist ein normaler Vorgang in einer demokratischen Ordnung. Zunächst zu den Punkten, bei denen Übereinstimmung besteht. Herr Bundeskanzler, wir stimmen Ihnen - ich füge hinzu: wir danken ausdrücklich auch dem Verteidigungsminister - beim Thema Kosovo zu, was Engagement, Zielrichtung, Verhandlungsführung und Entscheidung anbelangt. ({0}) Das konnten Sie erwarten. Wir haben es so beschlossen, als wir noch Regierungsverantwortung hatten; das gilt auch heute. Mit Blick auf die gestrige Debatte möchte ich mich nicht mit defensiven Auskünften begnügen. In einer solchen Debatte und angesichts der ersten europäischen Herausforderung durch Gewalt muß man Festigkeit in der Sache bewahren. Mir geht es nicht um generalstabsmäßige Diskussionen über den NATO-Einsatz dort. Mir geht es darum, hier noch einmal klarzustellen, daß sich dieses Hohe Haus bewußt ist, daß wir dort Prinzipien, die sich aus der Kulturgeschichte Europas ergeben, verteidigen - gegen Menschen, die sie nicht achten und die über andere Menschen herfallen. Deshalb sage ich Ihnen, Herr Kollege Gysi: Pazifismus ist eine respektable Haltung. Wenn aber Pazifismus am Ende nicht mehr fähig ist, Menschen in Not zu helfen, dann verliert er seinen Bezug zur Menschlichkeit. ({1}) Das ist der Kernpunkt der Auseinandersetzung, die wir führen. Es mag richtig sein, auf den Zusammenbruch oder jedenfalls die Gefahr des Zusammenbruchs einer Weltordnung hinzuweisen, der sich dadurch ergibt, daß das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und die Entscheidung der NATO in einen Konflikt miteinander geraten. Aber Weltordnungen, die am Ende nicht mehr in der Lage sind, Gewaltanwendung gegen Menschen zurückzudrängen, verlieren an Legitimität. Deshalb kann über die Weltordnung hier nicht nur unter dem Aspekt diskutiert werden, ob sie verletzt wird. Eine Weltordnung muß sich mit allen ihren politischen Anstrengungen ständig dahin gehend legitimieren, daß sie der Idee der Menschlichkeit auf dieser Welt gerecht wird. Deshalb ist nicht nur eine formale völkerrechtliche Diskussion zulässig, sondern auch eine zutiefst emotionale, menschliche in der Zuwendung zu den Menschen. Ich habe hier eine Meldung vor mir. Ob sie zutrifft, kann ich noch nicht einmal sagen. Aber wir spüren alle, daß sie zutreffen könnte. Diese Reuters-Meldung ist von 11.39 Uhr. Danach haben im Kosovo nach Informationen der albanischen Nachrichtenagentur jugoslawische Soldaten und serbische Polizisten 21 Lehrer albanischer Abstammung vor den Augen ihrer Schüler umgebracht. Man vermutet, daß das so sein könnte. Wenn ich so etwas lese, bin ich nicht mehr in der Lage, eine Diskussion darüber zu führen, ob man sich da heraushalten kann. ({2}) Daß das vor den Toren Europas, nach den Massakern, die wir schon erlebt haben, passieren kann, verlangt von jedem Mitglied dieses Hauses sehr persönliche Stellungnahmen und sehr persönliche Bekenntnisse. Deshalb, glaube ich, sind die getroffenen politischen Entscheidungen der alten und der neuen Bundesregierung, der Mehrheit hier im Hause, auch Ihre Erklärung, richtig. Daß wir uns in einem Dilemma befinden, stimmt ebenso, wie die Tatsache richtig ist, daß wir dazu keine Alternative haben. Wenn wir jetzt nicht diesem Rechtsbrecher entgegentreten, werden wir nie mehr in der Lage sein, Rechtsbrechern entgegenzutreten. ({3}) Deshalb ist die Entscheidung richtig gewesen. Das Handling des Bundesverteidigungsministers, den ich an dieser Stelle für meine gesamte Fraktion ausdrücklich persönlich loben möchte, ist vorsichtig, der Lage angemessen und, was den Schutz der deutschen Soldaten betrifft, völlig richtig gewesen. Dafür danken wir Ihnen. Auch das gehört zum Thema. ({4}) Die Deutschen wünschen sich immer international geordnete Verhältnisse, wie das ordentlichen Menschen wünschenswert erscheint. Aber leider entwickeln sich die internationalen Verhältnisse nicht immer so, wie das diesen guten deutschen Menschen wünschenswert erscheint. Sie haben uns am Ende Ihrer Regierungserklärung zum Thema „europäische Politik“ aufgefordert, möglichst den Versuch zu machen, europäische Entscheidungen aus Binnenwahlkämpfen und aus der Wettbewerbssituation deutscher Parteien herauszunehmen. Das hätten wir uns früher gewünscht, als wir Ihre Äußerungen als niedersächsischer Ministerpräsident zu europäischen Themen gehört haben. ({5}) Darf ich Sie daran erinnern, was Sie zu dem wichtigsten europäischen Projekt, dem Euro, der mit großen Kraftanstrengungen realisiert werden mußte, gesagt haben? ({6}) „Endlich haben wir ein nationales Thema“, haben Sie erklärt. Sie haben zum Euro gesprochen wie Gauweiler. - Heute appellieren Sie an uns, europäische Entscheidungen aus Binnenwahlkämpfen herauszuhalten. Was hat Ihren früheren Finanzminister denn die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank geschert? Das ist ein hohes Gut. Es geht nicht nur um Gipfel wie den in Berlin, sondern auch um Ansehen, Souveränität und Unabhängigkeit europäischer Institutionen. Was hat ihn dazu getrieben, diese Institution eher anzugreifen, ihre Unabhängigkeit in den Augen vieler Deutscher zu beschädigen, die Geldwertstabilitätspolitik eher in Mißkredit zu bringen? Das war doch nicht hehres europäisches Bewußtsein. Das, was er vorgeführt hat, war ganz kleines deutsches, sozialdemokratisches Karo. ({7}) Zu europäischer Politik gehört im Grunde nicht nur, sich zu den europäischen Themen zu äußern. Was haben die Auftritte Ihres Umweltministers Trittin in Frankreich zum deutsch-französischen Verhältnis als Achse für die Vorphase des Berliner Gipfels beigetragen? Das war doch keine europäische Dimension. Das war noch kleineres Karo. Das war die alte 68er Bewegung, die den Kernenergieausstieg will. Daß man damit am Ende dieses Jahrhunderts in Europa ein gutes Klima schaffen kann, bezweifle ich. ({8}) Herr Bundeskanzler, die Aufforderung an uns geht bemerkenswert ins Leere. Ordnen Sie erst einmal Ihre Truppen, vermitteln Sie denen europäisches Bewußtsein, ehe Sie an die übrigen Fraktionen des Bundestages Empfehlungen geben, sich europäisch zu verhalten. Wir als F.D.P. haben da keinen Nachholbedarf. Es ist eher in Ihrem Lager einiges nachzuholen. ({9}) Sie haben in Ihrer Regierungserklärung daran erinnert, daß die damalige Regierung und die damalige Opposition in diesem Hause der Übereinkunft von Edinburgh, die zur heutigen Nettozahlerposition geführt hat, gemeinsam zugestimmt haben. Sie fügten hinzu: „Jetzt ist es an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.“ Richtig. Hätten Sie zur Nettozahlerposition von Anfang an in diesem Stil geredet, dann könnte ich jetzt gelassen sagen: Er hat eine schöne Formulierung gefunden, daß wir keinen Lottogewinn gemacht haben. - Aber da Sie von Scheckbuchdiplomatie und davon, daß unser Geld verbraten wird und unsere nationalen Interessen nicht gewahrt werden, geredet haben, muß ich Ihnen sagen: Sie haben nicht nur keinen Lottogewinn gemacht, Sie haben nicht einmal drei Richtige aus Berlin mitgebracht, Herr Bundeskanzler. ({10}) Dieses Vokabular stört mich ausdrücklich. In der Vorphase der deutschen Ratspräsidentschaft haben Sie mit diesem Vokabular die anderen erst in ihre Positionen gebracht. ({11}) Das hat sie eher dazu veranlaßt, ihre Interessen wieder stärker national zu behaupten, als in europäischer Dimension zu denken. Dadurch sind Sie natürlich in eine Situation gekommen, in der Ihnen am Ende nichts anderes übrigblieb, als eine Addition von Interessen neu zu verrechnen. Das ist der Vorgang des Berliner Gipfels, den wir beklagen, ({12}) den wir uns so nicht gewünscht haben. Unsere Kritik bezieht sich doch nicht darauf, daß Sie sagen: Was konnte ich in der Situation anderes machen? Unsere Kritik, Herr Bundeskanzler, bezieht sich darauf, daß die Art Ihres Herangehens an das Thema nichts weiter gebracht hat als dieses Ergebnis in Berlin. Das Ergebnis sind traditionelle, alte westeuropäische Austauschsysteme in Finanzierungsfragen, Agrarkompromisse, Verlängerung der Milchquoten um zwei Jahre, Absetzen von Struktur- und Kohäsionsfonds. Das Ergebnis ist keine Perspektive und das neue Kapitel für die Osterweiterung der Europäischen Union. Der Berliner Kompromiß ist zu schmal; er ist kein großer Wurf, aus der westeuropäischen Union in die Europäische Union nach Osten. Mit Ihrer Verhaltensweise - ich denke an die mangelnde Klugheit bei der Wortwahl und dem Umgang mit europäischen Partnern - haben Sie - nicht nur Sie alleine, sondern manche Mitglieder Ihres Kabinetts - vorher eine so schlechte Aussaat gestreut, daß in Berlin nur diese schmale Ernte übriggeblieben ist. Das ist der Vorgang, der uns zur Kritik bringt. ({13}) Deshalb ist das, was heute allgemein mitgeteilt worden ist - Haushaltsdisziplin, Zusammenhalt und Beitrittschancen - für meine Fraktion nicht ausreichend, um Ihnen zu avisieren, ob wir das gut fänden oder dem zustimmen könnten. Wir möchten das schon etwas genauer wissen; wir möchten dem, was verhandelt worden ist, auf den Grund gehen. Deshalb werden wir eine weitere Debatte darüber im Deutschen Bundestag brauchen ({14}) vertiefter, inhaltlicher und konzeptioneller, als das heute nach Ihren Mitteilungen möglich war. Deshalb meinen wir, daß dieser kleine Schritt in Berlin - wenn auch in einer durchaus bedrängten Situation - nicht ausreichend ist. Gerade in kritischen Situationen liegen größere Chancen, als Sie sie in Berlin verhandeln konnten. Sie hätten sie verhandeln können, wenn Sie die Verhandlungen nicht durch die Aussagen der bundesdeutschen Regierung vorher so gestört hätten. ({15}) Meine Damen und Herren, ich will mich auch deshalb nicht damit begnügen, weil Sie und der Bundesaußenminister, der nach mir reden wird, als Kritiker des früheren Bundeskanzlers Kohl immer diese ambitionierte Europapolitik, diese Leidenschaft und diese Emotionen, Europa weiterzubringen, gefordert haben. Jetzt sind Sie in der Verantwortung und sehen auf einmal, wo Sie an Grenzen kommen. Natürlich - der Bundesaußenminister hat es dazwischengerufen - wissen wir, was auch dann nur möglich gewesen wäre, wenn wir neben Herrn Chirac gesessen hätten. Ich muß Ihnen aber vorwerfen: Sie haben vorher den Boden zerstört, auf dem ein besserer Berliner Kompromiß hätte herauskommen können. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Bundesaußenminister, Joschka Fischer. ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war und ist eine historische Woche für Europa. Wir haben es mit einem sehr ungewöhnlichen Zusammentreffen dreier Krisen, dreier großer Herausforderungen zu tun, die auf dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs in Berlin räumlich zusammengefügt wurden: Das war die durch den Rücktritt der Kommission ausgelöste institutionelle Krise der Europäischen Kommission; das war die Agenda 2000; und das war der beginnende Krieg im Kosovo. ({0}) Es gibt dabei einen sehr engen inneren Zusammenhang, der sich auf den ersten Blick überhaupt nicht erschließt. Ich wurde oft von Journalisten gefragt, ob denn der Einigungsdruck auf die Staats- und Regierungschefs wegen der Krise im Kosovo jetzt größer sei. Ich habe immer geantwortet: Nein, diesen direkten Zusammenhang gibt es nicht. - Was aber zu spüren war, war das größere Maß an Verantwortung, das auf diesem Gipfel auf den Schultern der Staats- und Regierungschefs ruhte, eben weil es diesen Zusammenhang gab und weil klar war, daß der Kosovo direkt und unmittelbar eine Krise in Europa ist, durch Europa gelöst werden muß und daß wir uns nicht wegdrehen können und dürfen. Vielmehr muß uns bewußt sein, daß diese Krise, daß dieser Krieg auf dem Balkan, der nicht erst in dieser Woche begonnen hat, sondern seit längerem tobt - mal ein heißer Krieg, mal ein weniger heißer Krieg, aber immer gleich brutal - ein Teil Europas ist und von den Europäern gelöst werden muß, meine Damen und Herren. ({1}) Gleichzeitig haben alle gespürt, wie wichtig es ist, dieses Europa voranzubringen. Sicherlich sind Milchquote, Interventionspreise und Anteile an den Strukturfonds ebenfalls eminent wichtige Fragen. Aber Europa kann dabei nicht stehenbleiben. Die Lösung dieser Fragen in Verbindung mit der Wahrung der Unverletzlichkeit der Menschenrechte, Demokratie und Freiheit des Individuums, auf denen dieses Europa gründet, ist letztendlich die gemeinsame Wertegrundlage. Das war in Berlin zu spüren. Beide Bereiche haben die Staats- und Regierungschefs zum Gegenstand ihrer Beratungen in Berlin gemacht. Sie haben eine Erklärung unter Teilnahme der neutralen Staaten verfaßt, in der sie klargestellt haben, daß wir Europäer eine Politik der Gewalt, eine Politik des Mordens und eine Politik des Vertreibens nicht akzeptieren dürfen und nicht akzeptieren werden. ({2}) Das sind die Gründe dafür, daß wir einerseits der Gewaltpolitik von Herrn Milosevic Einhalt gebieten müssen. Auf der anderen Seite müssen wir durch die Lösung der EU-Finanzprobleme einen wichtigen Schritt in Richtung Aufbau einer Europäischen Union als ein handlungsfähiges politisches Subjekt tun. Dieser Zusammenhang war in Berlin spürbar. Er bestand und besteht. Ich habe gesagt, daß der Krieg im Kosovo ein Krieg in Europa ist und uns deshalb unmittelbar angeht. Lassen Sie mich zu diesem Punkt gerade im Hinblick auf die gestrige Debatte, deren Verlauf ich den Zeitungen entnommen habe, noch einiges anfügen: Die Bundesregierung hat gemeinsam mit unseren Partnern nun wirklich alles versucht, um Belgrad eine Brücke zu bauen und zu diesen Partnern rechne ich ausdrücklich auch Rußland; ich habe ständig telefonischen Kontakt mit dem russischen Außenminister Iwanow; Herr Kollege Gysi, ich möchte Ihnen nicht mitteilen, was er mir über seinen Eindruck nach seinem letzten Belgrad-Besuch gesagt hat, weil das die Vertraulichkeit verletzen würde; aber ich kann soviel sagen, daß seine Einschätzung der Motive und der Politik in Belgrad nicht sehr weit von meiner entfernt war. Dick Holbrooke, der Sonderbotschafter der USA, den Ihre Partei, Herr Gysi, allzu gerne als Kriegstreiber hinstellt, hat Milosevic noch in der letzten Sekunde das Angebot gemacht: Stoppe deine Soldateska im Kosovo! Führe nicht eine abschließende Beschlußfassung des serbischen Parlaments herbei. Wenn du das befolgst, dann können wir weiterverhandeln. So sah das Angebot in der letzten Sekunde aus. Es ist ausgeschlagen worden, wissend, was dann passiert. Insofern trägt Milosevic an dem jetzigen Krieg die alleinige Schuld und eine schwere Verantwortung. ({3}) Im Rahmen der EU, der OSZE und im UNSicherheitsrat wurde alles versucht, um eine friedliche Lösung zu finden. Es kann doch nicht wahr sein, daß ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung und die Unterdrükkung einer großen Minderheit im eigenen Land wieder zum europäischen Standard des 21. Jahrhunderts gehören. Das ist nicht der einzige Punkt. Erinnern wir uns: Es begann im Kosovo 1989, und zwar mit der Aufhebung des Autonomiestatuts. Ich darf Sie auch an den Krieg in Slowenien erinnern, der allerdings auf Grund der entschiedenen Gegenwehr der Slowenen - Gott sei Dank sehr kurz war. Ich darf Sie an Dubrovnik und an Vukova erinnern. Im Rückblick muß man sagen, spätestens nach Vukova hätte die internationale Staatengemeinschaft eingreifen müssen. ({4}) Ich darf Sie an die furchtbaren Grausamkeiten im Bosnien-Krieg erinnern. Ich darf Sie immer wieder an dieselben Erfahrungen erinnern: Es wurde immer wieder versucht, den Krieg zu verhindern. ({5}) Es wurde immer wieder versucht, einen Friedensvertrag auszuhandeln. Die einzige Konsequenz war, daß der Vertrag gebrochen wurde und daß die Politik der Gewalt weitergegangen ist. Deswegen möchte ich mit allem Nachdruck den Vorwurf zurückweisen, daß wir hier von deutschem Boden aus eine Politik des Krieges betreiben. Wir können nicht zulassen, daß sich in Europa eine Politik der Gewalt durchsetzt, eine Politik, die keine Skrupel hat, Gewalt einzusetzen, und die bereit ist, über Leichen zu gehen, auch wenn es Tausende, Zehntausende oder Hunderttausende Tote bedeutet. Das ist keine Theorie, sondern Praxis auf dem Balkan; sie ist als Ergebnis der Politik von Milosevic zu sehen. Wenn das geschieht, würde das nicht nur unsägliches Leid für die Menschen in der betroffenen Region, sondern auch eine Gefährdung für Frieden und Sicherheit in dieser Region mit fatalen Konsequenzen bedeuten. Deswegen muß diesem jetzt Einhalt geboten werden. ({6}) Meine Damen und Herren, dies ist nicht mit einer Aggressionspolitik vergleichbar, die aus nationalistischer Überhebung oder gar aus verbrecherischer rassistischer Verblendung entstanden ist und für die das Deutsche Reich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweimal verantwortlich war. Wir sind in die internationale Staatengemeinschaft, also in die Demokratien der EU und der NATO, eingebunden. Diese Demokratien riskieren jetzt das Leben ihrer Soldaten, um Menschenleben zu retten und vor allen Dingen um einen Friedensvertrag durchzusetzen. Es war für mich - ich sage das all denen, deren Skrupel ich gut verstehe - einer der deprimierendsten Tage, als klar war, daß die Konfrontation nicht mehr aufzuhalten ist, weil ein Frieden mit der langfristigen Konsequenz einer Gesamtordnung auf dem Balkan nicht zu erreichen war. Was notwendig gewesen wäre, liegt auf dem Tisch; wir können es mit Händen greifen: zunächst das Autonomiestatut von Rambouillet und als nächstes dann eine Friedenskonferenz für den südlichen Balkan mit einem langfristigen Engagement von Europäischer Union und dem Westen für eine Gesamtordnung. Der einzige, der das verhindert, ist Milosevic mit seiner Gewaltpolitik. Der Kosovo würde Bestandteil nicht nur Jugoslawiens, sondern auch Serbiens bleiben; das war das Ziel der internationalen Staatengemeinschaft. Milosevic müßte nur ja sagen; aber er hat immer nur nein gesagt. ({7}) Herr Milutinovic - ({8}) - Warum soll ich nicht mit der PDS reden? Die PDS artikuliert eine Position, die in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet ist und die ich angesichts von Krieg und Frieden als legitim empfinde. Das sind Fragen, die von einer Regierung beantwortet werden müssen. ({9}) Entschuldigen Sie, auch das möchte ich einmal klarstellen: Jede Fraktion in diesem Hause ist nach meiner Auffassung als Diskussionspartner zu akzeptieren. Wenn sich die Bundesregierung hier mit einer Position auseinandersetzt, die von der PDS und einigen anderen vertreten wird, dann ist das nicht abzuqualifizieren. Ich finde Ihren Zwischenruf, Herr Kollege Haussmann, mit Verlaub gesagt, unmöglich und eines demokratischen Parlaments nicht würdig. ({10}) Ich möchte hier die Argumente wägen, die uns entgegengehalten werden. Ich möchte es mir nicht so einfach machen; denn es sind teilweise Argumente, mit denen ich mich selbst auseinandergesetzt habe. Ich nehme an, daß auch viele von Ihnen diese Argumente abgewogen haben, weil die Risiken ja in der Tat auf der Hand liegen. Meine Damen und Herren, für mich ist ganz entscheidend, daß die Verantwortung bei Milosevic liegt. Es hätte nur eines Wortes bedurft und es bedarf auch heute nur eines Wortes, um die Konfrontation zu beenden, nämlich des Wortes: Wir wollen substantiell verhandeln und unterschreiben. In dem Moment wäre die Konfrontation beendet, und wir könnten dann über den Frieden und die Implementierung des Friedens reden. Dies ist - ich kann dem Bundeskanzler nur zustimmen der einzige Weg. Wir haben uns unmittelbar für die Flüchtlinge und die Flüchtlingshilfe verwandt. Die Stützung von Mazedonien, von Albanien und von Montenegro ist uns ein ganz entscheidender Punkt. Darüber hinaus stehen wir in enger Kooperation mit den Partnern - das gilt nicht nur für den Gipfel von Berlin, sondern auch für die USA und Rußland -, um eine weitere Friedensinitiative zu ermöglichen. Aber dies alles wird nur bei einer klaren Absage von Milosevic an eine Politik der Gewalt gehen. Wenn er diesen Schritt nicht tut, dann kann die Konfrontation nicht enden. Die Voraussetzung für Frieden ist der Verzicht auf Gewalt. Wir können nicht Friedensgespräche führen, wenn im Kosovo das Morden durch die jugoslawische Armee und die serbische Sonderpolizei weitergeht; das ist kein Frieden. ({11}) Deswegen möchte ich auch von dieser Stelle aus noch einmal an die Verantwortlichen in Belgrad appellieren, endlich umzukehren und den Weg zum Frieden zu ermöglichen. ({12}) Meine Damen und Herren, ich möchte noch einige wenige Minuten auf den Berliner Gipfel eingehen. Ich hätte ja Lust, in die hier übliche Polemik einzusteigen. Herr Gerhardt, Sie haben dem Bundeskanzler vorgehalten, hätte er sich anders verhalten, sozusagen F.D.P.kompatibler, ({13}) dann hätten Jacques Chirac und José María Aznar heute nacht eine andere Position vertreten. Herr Gerhardt, ich schätze Sie zu sehr, als daß ich Ihnen unterstellte, Sie würden diesen Unfug im Ernst glauben. ({14}) Sie mögen ja durchaus das eine oder andere an uns kritisieren. Weil ich dabei war - was ich vorher dachte, war Theorie -, ist mir heute nacht zum erstenmal wirklich klargeworden - ich sage das als überzeugter Europäer; vielleicht kann es Dr. Kohl aus seinen vielen Erfahrungen bestätigen -, daß dieses Europa mit Horrido auseinanderfliegt, wenn unser Land die europäische Führungsaufgabe nicht wahrnimmt. ({15}) Wenn das wahr ist, dann müssen Herr Schäuble und Herr Gerhardt ihre Reden sofort wieder einpacken. Das sage ich Ihnen. ({16}) Ich hätte die beiden bei so einer Gelegenheit gern einmal dabei. Warum soll man bei einem europäischen Gipfel nicht einmal überparteilich zusammensitzen? Das wäre wirklich hervorragend. ({17}) Die Alternative zu der Entscheidung von heute nacht war, daß wir ausschließlich unseren nationalen Standpunkt vertreten. Manchmal war man angesichts dessen, was einem an nationalen Standpunkten entgegengebracht wurde, wirklich versucht, zu sagen: Jetzt reicht's. Alles andere, als eine Entscheidung für Europa zu treffen, wäre aber kurzsichtig gewesen. ({18}) Die Bedeutung der Entscheidung von heute nacht besteht darin, daß sie für Europa ausgefallen ist. ({19}) Wir haben Europa in einer historisch einmalig schwierigen Situation zusammengehalten. Dennoch haben wir gleichzeitig die wesentlichen Ziele der realen Konstanz - ich kann sie in der Kürze der Zeit nicht einzeln aufführen - erreicht. ({20}) - Ich stimme Ihnen hinsichtlich der Kofinanzierung doch zu. Aber mit Frankreich war die Kofinanzierung jetzt nicht durchsetzbar. Wenn das hätte geschehen sollen, hätten Sie mit entsprechenden Verhandlungen früher beginnen müssen. ({21}) - Herr Dr. Kohl, sagen Sie es Ihren Buben doch einmal. Sie wissen es doch besser. ({22}) Ich teile manches von Ihrer Kritik an der Agrarpolitik. Nur, was geschehen ist, war eine Entscheidung für Europa. Das ist der Punkt. Im entscheidenden Augenblick stellte sich die Frage, ob der Bundeskanzler nationales Interesse - im kurzfristigen und damit im falsch verstandenen Sinne - vertritt oder ob unser nationales Interesse im Sinne der europäischen Einigung an erster Stelle steht. Um diese Frage drehte sich die Entscheidung, und diese Entscheidung haben wir in die richtige Bahn gelenkt. ({23}) Wenn die Zahlen auf dem Tisch liegen, werden wir die Debatte dazu mit ausreichend Zeit, wie es der Kollege Gerhardt angeboten hat, schön quantifiziert führen. ({24}) - Ich wünsche mir gerne weiterhin so schwache Reden und so starke Ergebnisse, wie wir sie heute im Bundestag erleben. ({25})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, mit dem EUGipfel zu beginnen. Ich finde eine solche Debatte einfach deshalb schwierig, weil die meisten im Hause das Ergebnis noch nicht kennen. Wir hatten überhaupt keine Möglichkeit, die Vereinbarungen zu studieren. Wir sind also allein auf die Informationen des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers angewiesen, und wir sollen darüber diskutieren. Nur, diese Informationen sind so allgemein, daß eine Beurteilung wirklich ausgesprochen schwerfällt. Andererseits möchte ich der rechten Opposition in diesem Hause sagen: Man kann an das Ergebnis eines solchen Gipfels auch nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie an einen Kabinettsbeschluß; denn es muß eine Übereinstimmung mit sehr vielen Ländern in Europa herbeigeführt werden. Exkanzler Kohl und viele andere wissen, wie schwierig das ist. Das muß schon der Ausgangspunkt für die Beurteilung sein. ({0}) Auf jeden Fall kann man jetzt schon zwei Dinge begrüßen, nämlich erstens, daß es der Europäischen Union gelungen ist, sich sehr schnell auf einen neuen Kommissionspräsidenten zu verständigen, und zweitens, daß dies Herr Prodi sein soll. Daß das so zügig ging, ist auf jeden Fall zu begrüßen. Das wird auch von meiner Fraktion ausdrücklich begrüßt. ({1}) Natürlich begrüßen wir auch die Vereinbarung mit Südafrika als einen ganz wichtigen Schritt zur Kooperation mit diesem in jeder Hinsicht geschundenen Land. ({2}) Es wäre übrigens gut gewesen, wenn die Solidarität mit Mandela in diesem Hause nicht erst begonnen hätte, als er Präsident dieses Landes geworden ist. Dies sage ich in Richtung des gesamten Hauses. ({3}) Ich stelle fest, daß es dann mit der Beurteilung allerdings sehr schwierig und auch kritisch wird. Die Bundesregierung hat vorher - das können Sie nicht leugnen, Herr Bundesaußenminister - wirklich groß getönt, was die Nettoentlastung der Bundesrepublik Deutschland betrifft. Daß die Töne von Herrn Stoiber da noch lauter wurden, ist zwar richtig. Aber animiert worden ist er ursprünglich durch den Bundeskanzler, der damit begonnen hat. Das Ganze konnte so nicht funktionieren. ({4}) Nun habe ich mir die Rede des Bundeskanzlers durchgelesen, um zu sehen, was er dazu gesagt hat. Da habe ich wirklich einen schönen Satz gefunden. Da steht nämlich folgendes: Wir haben uns in Berlin geeinigt, daß die Kurve der deutschen Nettozahlungen in der Tendenz gestoppt und umgedreht wird. Das ist so nebulös, Herr Bundesaußenminister, daß damit nun überhaupt kein Mensch etwas anfangen kann. Was heißt „in der Tendenz“? Wann wird das sein? In welche Richtung wird das gehen, und in welchen Stufen wird das geschehen? Das ist als Information ein bißchen dünn. Ich denke einmal, wenn die Ergebnisse erfolgreicher gewesen wären, hätte der Bundeskanzler bei diesem Punkt etwas länger verharrt; dann wäre er darauf ausführlicher eingegangen, als er es getan hat. ({5}) Dann gibt es noch einen schönen Satz, und zwar zur Frage der Beitragsgerechtigkeit, was Großbritannien betrifft. Da heißt es: Bei dem Beitragsrabatt für Großbritannien sowie beim Schlüssel für die Finanzierung dieses Rabatts haben wir Modifikationen vereinbart, die zu einer größeren Beitragsgerechtigkeit führen. Allgemeiner und verschwommener kann man es nicht ausdrücken. Kein Mensch weiß, was da nun wirklich vereinbart worden ist, wie das Ergebnis aussieht. Ich meine auch, daß die Ergebnisse für die Landwirtschaft bedrückend sind. Nun kann es ja sein - das muß ich durchaus einräumen -, daß in Berlin kein anderer Kompromiß zu erreichen war; das ist möglich. Aber dann ist das, was Sie im Zusammenhang mit der sogenannten ökologischen Steuerreform und durch andere Gesetze an zusätzlichen Belastungen für die Landwirtschaft beschlossen haben, einfach unvertretbar. ({6}) Wenn man auf europäischer Ebene keinen Ausgleich erreicht, dann hätte man ihn innerstaatlich erstreiten müssen. Aber die Landwirtschaft jetzt von allen Seiten kaputtzumachen, ist einfach indiskutabel. Das gilt für die Landwirtschaft in Ost und West. Wir werden die Folgen zu spüren bekommen. Ansonsten muß man, auch wenn man die Ergebnisse noch nicht kennt, würdigend sagen: Es gab auch in diesem Hause und in der Presse, und zwar in der gesamten europäischen Presse, sehr viele, die es überhaupt nicht mehr für möglich gehalten haben, daß dort ein Kompromiß gefunden wird. Es wurde von einer lang anhaltenden Strukturkrise gesprochen. Daß heute nacht ein Ergebnis zustande gekommen ist, ist zunächst einmal ein Ergebnis für sich, das man auch positiv bewerten sollte. ({7}) Ich komme jetzt zu dem wesentlich schwereren Konflikt, der uns hier bewegt, über den wir gestern schon debattiert haben und zu dem der Bundesaußenminister eben noch einmal sehr eindringlich gesprochen hat. Das ist die Frage des europäischen Krieges gegen Jugoslawien und des Kosovo-Konflikts. Es hat mich schon bestürzt, Herr Bundesaußenminister, daß Sie zur rechtlichen Grundlage dieses Krieges kein einziges Wort verloren haben, genausowenig wie der Bundeskanzler und genausowenig wie der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Gerhardt. Der einzige, der etwas dazu gesagt hat, war der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Herr Schäuble. Er hat gesagt, daß der Beschluß vom 16. Oktober 1998 auf sicherer verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Grundlage gefaßt worden sei; dies hätte jetzt auch das Bundesverfassungsgericht bestätigt. ({8}) Das ist völlig falsch. Erstens hat das Bundesverfassungsgericht das überhaupt nicht bestätigt, weil es sich nur mit der Zulässigkeit eines Antrages auseinandergesetzt hat. Es hat diese Frage sogar ausdrücklich offengelassen und festgestellt, daß es damit kein Urteil über die Verfassungsmäßigkeit trifft. Zweitens ist es ganz eindeutig: In der Wissenschaft, im Großteil der Medien, von der UNO - nicht nur von Rußland -, vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, wird klar darauf hingewiesen, dieser europäische Krieg ist ein Völkerrechtsbruch. ({9}) Nun haben Sie, Herr Gerhardt, dazu gesagt: Rechtsbrechern muß man entgegentreten. Das ist wahr. Aber muß man ihnen mit Rechtsbruch entgegentreten? Ich sage nein. Das ist immer der falsche Weg. ({10}) Wissen Sie, Völkerrecht dann einzuhalten, wenn es mit den eigenen Zielen, mit dem, was man ohnehin tun will, übereinstimmt, das ist ja leicht. Das ist wie beim innerstaatlichen Recht. Aber es dann einzuhalten, wenn es einem politisch nicht paßt, das ist die eigentliche Schwierigkeit. Für genau solche Fälle schafft man Recht. Wenn man es verletzt, dann ist man nicht viel besser als andere Rechtsverletzer. Dieser Tatsache müssen wir einfach ins Auge sehen. ({11}) Sie - sowohl der Bundeskanzler als auch Herr Schäuble - haben gesagt, die Bomben richten sich nicht gegen das serbische Volk, sondern gegen Milosevic. Meine Damen und Herren, das ist doch nichts weiter als eine abstrakte Phrase, die mit Realitäten nichts zu tun hat. Bomben richten sich niemals gegen einen einzelnen Diktator, sondern immer gegen das Volk. ({12}) Es sind immer die Zivilisten und die wehrpflichtigen Soldaten, die dabei sterben, nicht der Diktator. Das war im Irak so. Erklären Sie mir doch einmal: Ist denn Saddam Hussein durch die Bombenangriffe heute in irgendeiner Form geschwächt? Ich behaupte, auch hinter Milosevic standen noch nie so viele Jugoslawen wie heute. Das ist auch das Ergebnis der Bombenangriffe. ({13}) Wir liegen doch in der Beurteilung dieses Mannes gar nicht so weit auseinander, Herr Bundesaußenminister Fischer, und auch nicht in der Beurteilung des Kosovo, obwohl man dazu noch einiges sagen muß. Ich sage nur: Ihre Antwort darauf, die Antwort Krieg, das ist genau die falsche. Sie bringt uns keinen Schritt weiter und setzt uns völkerrechtlich und nach dem eigenen Grundgesetz ins Unrecht. ({14}) Krieg darf nicht wieder zum Mittel der Politik werden. Mir wird immer gesagt: Ja, würden Sie denn tatenlos zusehen? Sie, Herr Gerhardt, haben gesagt: Pazifismus ist etwas Ehrenwertes, führt hier aber nicht weiter. Es gibt in meiner Partei viele Pazifisten. Ich würde mich gar nicht so bezeichnen, weil ich zum Beispiel das Recht auf Notwehr innerstaatlich durchaus akzeptiere. Ich gehe auch so weit zu sagen: Man muß sich auch militärisch gegen eine Aggression wehren dürfen. ({15}) Das Problem ist nur, Herr Gerhardt, Jugoslawien hat keinen der Staaten angegriffen, die jetzt Jugoslawien bombardieren. Deshalb ist es eben kein Verteidigungs-, sondern ein Angriffskrieg. Und der ist völkerrechtlich verboten. Das ist eine Tatsache. Im Völkerrecht gibt es nichts dazwischen. ({16}) Sie können doch eines nicht leugnen, Frau MatthäusMaier: Die Ordnung, die nach 1945 in der UN-Charta festgelegt worden ist, ist beseitigt. Wenn Sie mir das schon nicht glauben, vielleicht glauben Sie es dann Professor Bradeddo von der Bundeswehrakademie Hamburg, also jemandem, der sich nun wirklich mit Bundeswehr beschäftigt und mit Sicherheit, wenn er dort Professor ist, eine positive Beziehung dazu hat. Dieser Mann hat heute im Frühstücksfernsehen gesagt: Es ist ein klarer Verfassungs- und Völkerrechtsbruch; 40 Jahre UN-Politik sind damit zerstört. ({17}) Wenn Sie das Vetorecht Rußlands und Chinas aushebeln, dann hat auch das von Frankreich und Großbritannien in anderen Situationen keinen Wert mehr. Sie geben doch die UN-Charta nicht nur für die NATO frei, die Sie davon abkoppeln, sondern praktisch für alle Kontinente. Das ist das Problem. Es geht doch nicht nur um kurzfristige Folgen, sondern auch um Spätfolgen, die man mitzubedenken hat. ({18}) Ich sage noch etwas anderes. Natürlich weiß ich, daß die Situation schwer ist. Aber wie hat denn alles angefangen? Alles hat nach Dayton damit angefangen, daß Jugoslawien die Rechte der albanischen Minderheit in Jugoslawien bzw. der albanischen Mehrheit im Kosovo verletzt hat. Das ist wahr. Aber es gab damals keine Massaker, es gab eine Verletzung der Rechte. Das kennen wir von der Welt. Dann passiert irgendwann folgendes: Diese Bevölkerung fängt an, sich zu bewaffnen, um für Unabhängigkeit und Loslösung von dem Staat einzutreten. Jeder Zentralstaat setzt dagegen Militär ein. Das war und ist im Baskenland so, das war und ist so in Nordirland, das ist vor allem im kurdischen Gebiet der Türkei so. Das war in Tschetschenien so und im Kaukasus. Erinnern Sie sich noch, als die russische Armee gegen Tschetschenien lief und wir alle - nicht wir alle, leider - protestiert und gesagt haben: Das ist kein Lösungsmittel? Herr Kohl, Sie haben sich damals als Bundeskanzler hingestellt und gesagt: Man muß auch das Recht Rußlands auf territoriale Integrität respektieren. Deshalb hätten Sie Verständnis für diesen Einsatzbefehl. Ich hatte dieses Verständnis überhaupt nicht. Ich hatte es auch nicht bei Jugoslawien, weil ich nicht glaube, daß man solche Probleme - und seien sie auch innerstaatlich - mit militärischen oder polizeilichen Mitteln lösen kann. ({19}) Insofern gibt es eine Glaubwürdigkeitslücke: Sie beurteilen das je nach Situation anders. Die Türkei ist Mitglied der NATO und macht jetzt bei der Abwendung einer humanitären Katastrophe mit, während sie seit Jahrzehnten eine schlimme humanitäre Katastrophe im eigenen Land organisiert. In der letzten Woche hat eine Regierung aus SPD und Grünen neuen Waffenlieferungen an die Türkei zugestimmt, anstatt diese wenigstens, wie sie es vorher immer hier im Bundestag gefordert haben, zu stoppen. ({20}) Die Alternative ist nicht Tatenlosigkeit. Das kommt gar nicht in Frage; das ist ganz klar. Was ist denn passiert? Nachdem sich die Zustände verschlimmert hatten, hat man im Oktober ein Abkommen getroffen. Tatsächlich haben sich - das kann man ja nicht leugnen - die jugoslawischen Streitkräfte und die Polizei zurückgezogen. Es wurde sozusagen etwas erträglicher. Dann wurden OSZE-Beobachter hingeschickt. 2 000 waren vereinbart. Die Höchstzahl derjenigen, die da waren, betrug 1 200. Warum haben wir nicht wirklich die 2 000 entsandt? Anschließend begannen die Verhandlungen in Rambouillet. Immerhin hatte Jugoslawien der Autonomie schon im Prinzip zugestimmt. Es ist doch nicht so, daß in Rambouillet gar nichts herausgekommen wäre. Im übrigen gab es ja zwei Vertragsentwürfe, Herr Bundesaußenminister. Auf dieser Grundlage hätte man zwingend weiter verhandeln müssen. Denn ganz schlimm wurde es im Kosovo wieder, nachdem die OSZE-Beobachter im Zuge der Vorbereitungen der Bombardierungen abgezogen wurden, weil die jugoslawische Armee und Polizei dann nachstieß. Was Sie, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister, mir nicht beantwortet haben: Worin soll denn die Lösung Ihrer Alternative bestehen? Es gibt keine andere als die von Verhandlungen. Sie sagen, Milosevic müsse nur zustimmen. Sie haben Ihn als schlimmen Diktator, als irrational bezeichnet. ({21}) Sie sagen, er nehme den Krieg in Kauf und handele gegen die Interessen seines eigenen Volkes. Können Sie mir dann erklären, warum er nach vier, fünf Bombenangriffen plötzlich rational werden, plötzlich sein Volk lieben und plötzlich den Krieg als ein Mittel ausschließen soll? Er wird nicht unterschreiben. Und was machen wir dann? Diese Frage ist nicht beantwortet. Was ist das politische Ziel, wenn er nicht unterschreibt? Denn wenn er allein einem Waffenstillstand zustimmen würde, genügte das nicht; Sie verlangen ja zudem die Unterschrift. Sie haben der deutschen Bevölkerung bislang keine Antwort auf die Frage gegeben, was Sie dann machen. Sollen dann Bodentruppen einmarschieren? Wo ist das politische Lösungskonzept? Das ist hier nicht offenbar geworden. Das sind Fragen, die ganz viele Menschen bewegen - ich finde, zu Recht. Sie haben eine Antwort darauf verdient. ({22}) Man kann doch nicht einfach sagen: Wir bomben bis zur Unterschrift. Wie lange soll das gehen, wenn sie nicht kommt? ({23}) - Ich glaube schon, daß ich es verstanden habe. ({24}) - Stellen Sie eine Zwischenfrage! Ich kann das akustisch nicht verstehen. Ich bin sehr gerne bereit, darauf zu ant- worten. Wir müssen die Bombardierungen beenden. Wir müssen zurück zu Verhandlungen. Wir müssen Ruß- land wieder in das Boot nehmen. Rußland war bereit, den Druck zu verschärfen. Vor allem müssen wir den UN-Sicherheitsrat wieder einschalten. Ansonsten hat das katastrophale Folgen. Das Tischtuch zu Rußland ist doch schon nahezu zerschnitten. Jetzt noch zu etwas, was mich in den letzten Tagen sehr beschäftigt hat: Die Argumente sind fatal. Es wird immer von der militärischen Überlegenheit der NATO gegenüber Jugoslawien gesprochen, die natürlich zwei- fellos gegeben ist. Das Argument in bezug auf Rußland ist dann: Die können gar nichts machen, die brauchen neue Kredite, und zwar spätestens im Mai, wenn die neue Charge des IWF ansteht. Wo sind wir moralisch hingekommen, wenn das die entscheidenden politischen Argumente werden: Wir sind a) militärisch überlegen und b) finanziell stärker; deshalb können wir eh entscheiden, was die anderen machen? ({25}) Wer sagt Ihnen denn, wer in einem halben Jahr in Rußland die Macht hat? Wer garantiert, daß dann, wenn das Argument mit dem Geld noch zehnmal gebraucht wird, dort nicht ganz irrationale Entscheidungen getroffen werden? Politik ist nicht nur rational; sie ist auch irrational. Das macht mir große Sorgen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Gysi, Sie haben schon die ganze Ihrer Fraktion zustehenden Redezeit ausgeschöpft.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Satz. - Über die historische Dimension ist übrigens so gut wie gar nicht gesprochen worden; lediglich der Bundesaußenminister hat am Rande darauf hingewiesen. Es bleibt eine traurige Tatsache: Europa und die Welt werden hinterher anders aussehen. Das gilt ebenso für die SPD, aber auch für die Grünen, die ihren Pazifismus aufgegeben haben. Ich finde es traurig

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Gysi!

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

-, daß dieser Krieg in Europa in Deutschland durch einen Kanzler der Sozialdemokratie angeordnet wurde. Das hätte nie passieren dürfen. Das wird Folgen haben - kurzfristige, mittelfristige und auch langfristige Folgen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek.

Dr. Norbert Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002502, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi, nur ein Wort zu Ihnen: Wenn Sie von Notwehr sprechen und dafür sind, dann ist auch Nothilfe erforderlich. Zu dem, was jetzt passiert ist, möchte ich das wiederholen, was andere bereits gesagt haben: Wir tun gut daran, an unsere Soldaten und ihre Angehörigen zu denken. Wir tun aber auch sehr gut daran - ich würde mir wünschen, daß das stärker geschieht -, ebenfalls der Opfer dieser Politik von Milosevic zu gedenken. Die künftigen Planungen der EU sollten eine Hilfe für diese Opfer und diese Region vorsehen. Denn nur so kann dort eine auf die Zukunft gerichtete Entwicklung einsetzen. Aber der Kampf muß jetzt wohl ausgefochten werden. ({0}) Ich habe deshalb großen Respekt vor dem, was auf dem Gipfel in dieser Situation erreicht worden ist. Es war schon vorher schwierig genug, auf einen Kompromiß hinzusteuern. In dieser Situation war der Gipfel, glaube ich, ein großer Erfolg. Es sind auch die Grundlagen der EU deutlicher geworden; sie gehen im Gerangel um Milchquoten und Milchkühe manchmal unter. Lassen Sie mich zu diesem Gerangel etwas sagen: Ich sehe in diesem Streit um kleinliche Interessen in Wirklichkeit einen Teil der vollzogenen Integration. Denn in der EU sind mittlerweile überall Interessen betroffen, über die verhandelt werden muß. Aber sicherlich erinnerte man sich auch daran, was die EU für uns darstellt: In Europa - jedenfalls in Westeuropa, wir hoffen, bald auch in Mittel- und Osteuropa - ist sie ein Garant für Frieden, Sicherheit, Freiheit und Wohlstand. Ich glaube, der erzielte Kompromiß ist auf dieser Grundlage ein großer Schritt in diese Richtung. ({1}) Deswegen gilt es als erstes, jetzt die Funktionsfähigkeit der EU-Institutionen zu sichern. Darum begrüße ich für die SPD-Fraktion ausdrücklich, daß sich die Staatsund Regierungschefs auf Romano Prodi als Präsidenten der EU-Kommission geeinigt haben. Ich begrüße ebenfalls, daß bereits im April mit ihm über die weiteren anstehenden Reformen geredet werden soll. ({2}) Die Entwicklungen auf dem Balkan zeigen uns überdeutlich, welche Bedeutung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union für Frieden und Sicherheit in Europa zukommt. Im Amsterdamer Vertrag, Herr Kohl, ist ja einiges erreicht worden; das ist begrüßenswert. Nun ist es erforderlich, daß der besondere Beauftragte - Mister GASP, oder wie immer man ihn benennt - eingesetzt wird, damit wir zu einer Strategie kommen. Es gilt jetzt, diese außenpolitischen Strategien zu entwickeln und anzuwenden, und zwar mit Blick auf mehr gemeinsame europäische Politik, auch wenn sie weitgehend noch intergouvernemental bleibt. Ich sehe das als eine Aufgabe auch auf der Basis dieses Gipfels. Ohne eine Einigung bei der Agenda 2000 würde das im luftleeren Raum stehen. Ich möchte noch darauf hinweisen, daß es in der EU lange eine schwierige Periode gegeben hat. Ich glaube, daß mit dieser Agenda 2000 der Reformstau aufgehoben ist und daß wir wieder handlungsfähig geworden sind, ({3}) und zwar in der Kombination von Agenda 2000, Reform der Kommission und der Verwaltung und der neuen Stellung des Präsidenten sowie durch die Bewältigung neuer Aufgaben, die uns zwar schon der Amsterdamer Vertrag aufgegeben hat, mit deren Bewältigung wir aber noch nicht sehr weit gekommen waren, weil über die Agenda 2000 noch nicht entschieden war. Ich glaube, daß dieser Gipfel ein großer Erfolg für die Bundesregierung war, insbesondere auch für den Bundeskanzler. ({4}) Ich darf daran erinnern, daß bei der letzten Europadebatte in der vergangenen Woche die CDU/CSU der Bundesregierung Substanzlosigkeit in der Europapolitik vorgeworfen hat. Herr Ministerpräsident Stoiber hat angesichts des Rücktritts der Kommission sogar die Verschiebung des Berliner Gipfels gefordert; dies wurde mehrfach gesagt. Herr Schäuble wollte das in der letzten Debatte zwar nicht wahrhaben; aber dummerweise für ihn kam die Meldung während der Debatte hier herein. Es wäre verantwortungslos gewesen, so zu handeln. Durch ein Verschieben des Gipfels wäre die Europäische Union sehenden Auges zu einer Zeit in eine ganz ernste Krise geraten, in der Europa insgesamt sich in einer Konfliktsituation befindet. Ich sage das gerade mit Blick auf den Kosovo, aber nicht ausschließlich. ({5}) Für uns stand daher immer fest: Es gibt keine Verschiebung der Agenda. Das gehörte nie zu unserer Strategie. Unsere Standfestigkeit hat sich ausgezahlt. Die Agenda 2000 ist jetzt verabschiedet. Damit haben wir Europa an drei strategischen Punkten in eine gute Ausgangslage gebracht: Die notwendigen internen Reformen sind auf den Weg gebracht; sie werden zum Abbau von Bürokratie, zu mehr Transparenz in den Sachpolitiken, zum Beispiel im Agrarbereich, zu mehr Spielraum für die Mitgliedstaaten und Regionen, zum Beispiel bei der Prämiengestaltung, führen. Die Reformen sind deshalb auch ein Schritt zu mehr Subsidiarität in der Europäischen Union. Nur, Subsidiarität kann nicht heißen, alles wieder zu renationalisieren, so daß es dann keine Gemeinsamkeiten mehr gibt. Dieser Begriff meint etwas anderes. Die zentralen Reformschritte im Hinblick auf die EUFinanzen sind: Die Ausgaben werden wesentlich langsamer steigen, als es die Kommission in ihren eigenen Vorschlägen vorgesehen hatte; es wird mehr Beitragsgerechtigkeit geben. Beispielhaft möchte ich auf den Rabatt für Großbritannien eingehen. Es stimmt, daß er erhalten geblieben ist; das war auch nicht anders zu erwarten. Aber seine Berechnungsart und die Art und Weise, wie - und von wem - er finanziert wird, hat sich deutlich geändert; dieses wird sich günstig auf die BeiDr. Norbert Wieczorek tragszahlungen der Bundesrepublik Deutschland auswirken, um es einmal deutlich zu sagen. ({6}) - Das ist so, ich könnte Ihnen die Zahlen jetzt nennen, möchte es aber mit Rücksicht auf Herrn Blair und die Diskussionen in seinem Land nicht machen. Sie können jedenfalls die vorläufigen Zahlen nachher gern von mir bekommen. ({7}) - Das werden wir mit Freude tun. Sie werden sich dann für die Fehlinformationen, die Sie gegeben haben, mit „mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“ entschuldigen. Ich hoffe zumindest, daß Sie diese Größe haben, Herr Hirche. Ich möchte auch darauf hinweisen, daß es gelungen ist, die reale Konstanz einzuhalten und insgesamt einen Oberdeckel von 1,27 Prozent vom BIP für den Haushalt festzuschreiben. Das schließt die Mittel für die Erweiterung ein, die separiert bleiben. Herr Kollege Haussmann, Sie haben jetzt den Sitz von Herrn Gerhardt eingenommen. Ist Ihnen völlig entgangen, was Herr Aznar für die spanische Regierung gefordert hat? Er forderte deutlich mehr als 1,27 Prozent und Deutschland möge noch mehr Beitrag zahlen. Haben Sie das nicht wahrgenommen? Oder wollen Sie es nicht wahrnehmen, weil Sie nur noch an den Europa-Wahlkampf denken und deshalb Scheuklappen tragen? ({8}) Ich möchte auch darauf hinweisen, daß mit der Agrarreform, die ich mir etwas weitgehender gewünscht hätte - ich sage das auch hier -, die deutsche Landwirtschaft in Europa insgesamt wieder wettbewerbsfähiger, umweltverträglicher und marktorientierter wird. Die Strukturfondsförderung wird künftig viel stärker als bisher auf die strukturschwächsten und damit förderbedürftigsten Regionen konzentriert. Das ist bei uns zum Beispiel Ostdeutschland, das als Ziel-1Fördergebiet eingestuft ist. Die Mittel werden also viel effizienter eingesetzt. Zudem wird die Förderung vereinfacht und Bürokratie abgebaut. Das ist ja ein alter Wunsch, Herr Stoiber, der gerade vom Bundesrat immer geäußert wurde. In den Details wurden also Verbesserungen erzielt. Das ist zu begrüßen. Die Europäische Union ist auf dem Weg zur Erweiterungsfähigkeit einen großen Schritt vorangekommen. Sie hat damit den Beitrittskandidaten in Mittel- und Osteuropa unmißverständlich signalisiert: Ihr könnt euch auf uns verlassen. Die deutsche Bundesregierung weiß auch um die Verantwortung für den Beitrittsprozeß. Verantwortung tragen - das sage ich an die Adresse derjenigen, die immer möglichst frühe Daten nennen wollen - heißt auch, keine leichtfertigen Versprechungen abzugeben. ({9}) Wir haben jedenfalls zu keinem Zeitpunkt unrealistische Versprechungen gegenüber unseren Partnern im Osten gemacht. Wir haben vielmehr versprochen, alles zu tun, um die materiellen Voraussetzungen für die Erweiterungsfähigkeit zu schaffen. Das ist mit dem in Berlin beschlossenen Paket geschehen. ({10}) Der Agrarkompromiß - bei all seinen Feinheiten hat auch die Ausgangsposition für die WTO-Runde gestärkt. ({11}) - Sie brauchen gar nicht so zu lachen, Herr Haussmann. ({12}) - Nein, das ist schon so, die Preise werden abgesenkt usw. Das ist schon ein Einstieg. Ich sage aber ausdrücklich: Dies ist nicht ausreichend. Denjenigen, die ganz besonders auf ihren persönlichen, nationalen Interessen herumgeritten sind und deshalb den ursprünglichen Kompromiß, den Herr Funke ausgehandelt hatte, verlassen hatten, rate ich nur, noch einmal zu überlegen, ob sie nicht zuviel gefordert haben und ob sie nicht sehr bald durch die WTOVerhandlungen zu einer Revision gezwungen werden. Ich sage das in Richtung auf einen bestimmten westlichen Nachbarn, der sogar in diesem Zusammenhang, in einer Situation von relativ geringer Bedeutung, das Wort der „vitalen nationalen Interessen“ ins Spiel gebracht hat. Ich halte dieses Wort für sehr gefährlich, denn das war damals die Begründung für den Rückzug von de Gaulle aus dem Brüsseler Geschehen. Ich erinnere daran für den Fall, daß das jemand nicht mehr weiß. Ich sage deshalb auch nicht, daß WTO und freier Welthandel für uns von vitalem nationalen Interesse sind, jedenfalls nicht in dem rechtlichen Sinne, in dem dieser Begriff verwendet wurde. Aber ich möchte doch darauf verweisen, daß die WTO für uns von ganz zentralem Interesse ist; ({13}) denn wir leben vom freien Welthandel, und das darf nicht durch ein kleinliches Durchsetzen von Partikularinteressen in der Landwirtschaftspolitik gefährdet werden. ({14}) Ich wollte damit deutlich machen: Man kann mit dem Ergebnis nicht hundertprozentig zufrieden sein. Aber ein alter Freund hat mir kurz vor den Verhandlungen gesagt: Weißt du, Norbert, wenn alle gleichermaßen unglücklich aus den Verhandlungen gehen, dann ist es eigentlich ein glückliches Ergebnis. Ich glaube, das haben wir fast erreicht. Insofern bin ich ganz zufrieden. ({15}) Auf dem Berliner Gipfel ist die Stabilisierung der Ausgaben im EU-Haushalt beschlossen worden. Die Ausgaben werden übrigens zwischen 2000 und 2006 deutlich geringer steigen, als sie zwischen 1994 und 1999 gestiegen sind. Bei den wichtigsten Ausgabenblöcken, nämlich der Agrar- und Strukturpolitik, werden die Haushaltsansätze künftig erheblich unter dem Niveau liegen, das die Europäische Kommission im Rahmen der Agenda 2000 vorgeschlagen hatte. Die Initiative der Kommission war die ursprüngliche Verhandlungsgrundlage; daran muß erinnert werden. Das heißt aber auch, daß unsere Beiträge stabilisiert werden. Für die gemeinsame Agrarpolitik haben sich die Staats- und Regierungschefs auf die reale Konstanz verständigt. Auch dies wird unseren Beitrag durch geringere Zahlungen an den EU-Haushalt stabilisieren. Es wird auch zu einer gerechteren Verteilung der finanziellen Lasten kommen. Das geht nicht von heute auf morgen; aber die Reform auf der Einnahmeseite ist fest vereinbart. Der Übergang vom Mehrwertsteuerregime zur Bemessungsgrundlage Bruttoinlandsprodukt - wobei Italien einen mutigen Schritt gemacht hat; auch das muß man einmal erwähnen - ist ein ganz erheblicher Fortschritt, der weit über das Jahr 2006 hinausgeht, insbesondere im Hinblick darauf, daß entsprechend der Erweiterung der EU im Haushalt mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Dies halte ich für einen ganz entscheidenden Fortschritt. ({16}) Den Korrekturmechanismus beim britischen Beitragsrabatt habe ich schon genannt. Wenn ich es richtig gesehen habe, ist das sogar Teil eines Korrekturmechanismus, der ein Einstieg in einen künftigen allgemeinen Korrekturmechanismus sein könnte. ({17}) Dies wäre sehr positiv, wenn es im schriftlichen Ergebnis endgültig so geregelt wäre. Dann zur Kofinanzierung. Ich persönlich - ich glaube, auch die SPD insgesamt - bedaure sehr, daß Kofinanzierung nicht möglich war. Sie hätte nämlich einen viel besseren Einstieg in die Agrarreform bedeutet und manches erleichtert. Nur, eines verstehe ich nicht, Herr Schäuble: wie Sie Kofinanzierung so fordern können, obwohl in der Kofinanzierungsvariante von Herrn Stoiber ausdrücklich das enthalten war, was die Franzosen dauernd gegen die Kofinanzierung angeführt haben, nämlich eine Aufkündigung der gemeinsamen Agrarpolitik, ein Weggehen von der obligatorischen Agrarpolitik. ({18}) - Wenn Sie sagen, das sei falsch, dann müssen Sie das Herrn Védrine, Herrn Chirac und dem französischen Parlament sagen, die das in ihren Beschlüssen festgehalten haben. Ich referiere hier lediglich, was Sie gesagt haben. Die Franzosen haben gesagt, wir wollten diese Kofinanzierung, während der Vorschlag der deutschen Bundesregierung anders war als der der CSU; das ist richtig. Denn wir haben gesagt: Das Ganze bleibt obligatorisch, und es geht lediglich darum, daß die Auszahlungen nicht aus dem Brüsseler Haushalt, sondern national erfolgen; es soll aber keinen Spielraum mehr für diskretionäre nationale Maßnahmen geben. Das, was Sie als Kofinanzierung gefordert haben, war genau das, wogegen sich die Franzosen gewendet haben. Sie haben also mit diesem Gerede den Franzosen überhaupt erst den Vorwand geliefert, das insgesamt abzulehnen. ({19}) Soweit zur historischen Wahrheit, wenn Sie sich schon nicht um die Details kümmern. Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich das Protokoll der Beratung im französischen Parlament anzuschauen. Dann werden Sie genau sehen, wie dort Kofinanzierung interpretiert wurde, nämlich wie von Herrn Stoiber und nicht so wie wir es gefordert haben. Das müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich zuwenig in der Europapolitik tummeln und das nicht mitbekommen. Das ist Ihr Problem. Mit dem Agrarkompromiß wird übrigens die Politik der schrittweisen Anpassung an den Markt fortgesetzt. Ich halte das für positiv, wenn ich es mir auch besser gewünscht hätte. Aber eines möchte ich auch sagen: Die unsachliche Begleitmusik, die von den Bauernverbänden kam, halte ich auf dieser Basis nicht für gerechtfertigt. Um einmal mit einer Mär aufzuräumen: Die alte Agrarreform hat durchaus eine Verbesserung der Einkommenssituation gebracht. Ich nehme an, daß die Bauern das sehr viel schneller begreifen werden als ihre Funktionäre. Da Sie so skeptisch schauen: Vor mir liegt der Agrarbericht des Jahres 1999 der alten Bundesregierung. Die Steigerung der Gewinne der landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe betrug 1995/96 7,2 Prozent, 1996/97 3,4 Prozent und 1997/98 3,7 Prozent. Diese Steigerung liegt weit über der Steigerung der Arbeitnehmereinkommen insgesamt. Auf diesen Punkt wollte ich verweisen. ({20}) - Ihre Koalition war doch für diesen Bericht verantwortlich. Entweder nehmen Sie den Bericht zur Kenntnis, oder Sie sagen, daß Ihre damalige Bundesregierung einen falschen Bericht vorgelegt hat. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß die zuständigen Beamten so gehandelt haben. ({21}) Ein Wort zu den Strukturfonds. In diesem Bereich finde ich das Ergebnis besonders respektabel. Die Kommission hatte 240 Milliarden Euro gefordert; herausgekommen sind jetzt 213 Milliarden Euro mit einer gleichzeitigen Konzentration auf die Ziel-1-Gebiete, was insbesondere für die neuen Bundesländer wichtig ist. Es wird noch eine weitere Verbesserung des Rückflusses in die neuen Bundesländer geben. Eine Quote von 68 Prozent für die Ziel-1-Gebiete ist sogar höher als geplant. In diesem Zusammenhang muß man darauf hinweisen, daß Berlin auf Grund der positiven Entwicklung in Ostberlin nicht mehr ein Ziel-1-Gebiet sein kann. Die Übergangshilfen werden aber mit der „kleinen“ Summe von 100 Millionen Euro großzügig bemessen. Dies ist ein sehr gutes Signal. Ich finde es ferner sehr positiv, daß die Ziel-2-Gebiete zusammengeschnitten worden sind. Aber auch hier wurden Sicherheitssätze eingebaut, die den Übergang erleichtern. Ein Wort zum Kohäsionsfonds. Es hat die Legende gegeben - leider ist sie von vielen geteilt worden -, der Kohäsionsfonds sei nur zur Heranführung an die Währungsunion geschaffen worden. Ich muß daran erinnern, daß sich darüber kein einziges Wort im Vertrag findet. Ich habe aber in einem alten Ecofin-Bericht gelesen, daß 1992 der damalige Staatssekretär von Theo Waigel, den ich nach wie vor sehr schätze, ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß es sich beim Kohäsionsfonds nicht um Mittel handeln sollte, die die Konvergenz - damit ist die Annäherung an die Maastricht-Kriterien gemeint - bewirken sollten. In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern, daß der Kohäsionsfonds eine andere Funktion hatte. Herr Kohl weiß vermutlich - ich will diesen Punkt aber nicht weiter vertiefen oder sein Handeln gar kritisieren -, was die Folgen auf Grund seiner Zusage waren, daß nach der Aufnahme der ostdeutschen Länder in die Ziel1-Gebiete die bisherigen Ziel-1-Gebiete nicht weniger Geld bekommen sollten. Ich habe für diese Haltung volles Verständnis und kritisiere sie nicht. Aber man kann nicht den Popanz aufbauen, als sei der Kohäsionsfonds nur für die Heranführung an die Währungsunion eingerichtet worden. ({22}) Ich will an dieser Stelle noch einen Punkt hinzufügen: Ich halte den Kohäsionsfonds gerade in bezug auf die Osterweiterung für ein zielgerichtetes und daher erhaltenswertes Instrument. ({23}) - Ich rede über den Kohäsionsfonds als Instrument; ich rede nicht über Dotierung. - Dieses Instrument hat sich in der Praxis als besonders zielgerichtet in Fragen des Umweltschutzes und der Verbesserung der Infrastruktur erwiesen. Ich bitte, über diesen Punkt einmal nachzudenken und dann vielleicht die Debatte anders zu führen. Das heißt nicht, daß Spanien noch Geld erhalten sollte, wenn sein Bruttoinlandsprodukt 90 Prozent des Durchschnitts der EU überschritten hat. In diesem Punkt sind wir uns doch einig. Ich möchte noch einen kurzen Ausblick auf das geben, was noch vor uns liegt. Wir haben einen Gipfel erfolgreich abgeschlossen; ein anderer steht uns bevor. Bei diesem Gipfel geht es unter anderem um die Reform der Europäischen Kommission. Mit Prodi als neuem Präsidenten wird der Einstieg in die Reform der Kommission vollzogen. Unter Reform verstehe ich insbesondere die Schaffung neuer interner Verhaltensvorschriften. Es muß mehr Transparenz, mehr Verantwortlichkeit und mehr Effizienz geben. Man muß sich in diesem Zusammenhang auch überlegen, ob das Kabinetts- und Generaldirektorensystem in der bisherigen Art und Weise fortgeführt werden sollte. ({24}) Zu der anstehenden institutionellen Reform wird die Bundesregierung im Auftrag des Gipfels von Wien auf dem Gipfel in Köln einen Verfahrensvorschlag machen. Auch die Überprüfung der im Amsterdamer Vertrag festgelegten Stellung der Kommission gehört dazu. Ich kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, daß der Präsident der Europäischen Kommission künftig vom Europäischen Parlament gewählt wird - das wollen wir alle -, daß es aber nach wie vor keine Vorschrift gibt, die besagt, daß er selbst die Vertrauensfrage im Parlament stellen kann. In diesem Bereich liegt ein Revisionsbedarf. Man muß sich ferner fragen, welche Regelung gilt, wenn die gesamte Kommission zurücktritt. Heute tut man so, als könne sie weiterarbeiten, wenn nur ein Kommissar aus irgendeinem Grund ausgeschieden wäre. Dieser Punkt ist nicht in Ordnung. Er muß in das Lastenheft aufgenommen werden. Ich warne davor, die Regierungskonferenz mit anderen Dingen, zum Beispiel mit der WEU-Integration, zu überfrachten. Wir müssen uns auf die institutionellen Reformen beschränken, weil das der zweite Teil der Beitrittsfähigkeit der EU ist. Ich bin sehr dafür und auch sicher, daß wir das machen werden. Ein Wort noch zum europäischen Beschäftigungspakt. Es wird eine große Aufgabe sein, die beschäftigungs- und wirtschaftspolitischen Leitlinien zusammenzuführen. Wenn wir die Arbeitslosigkeit gemeinsam bekämpfen wollen - es ist unbestritten, daß dies vor allen Dingen eine nationale Aufgabe ist, aber wir können uns gegenseitig helfen -, dann gilt es, zu einer vernünftigen Kombination aus makroökonomischen Strategien - das Modewort lautet: Policy-mix -, richtigen Strukturreformen und einem maßgeschneiderten arbeits- und beschäftigungspolitischen Instrumentarium zu kommen; für mich sind alle drei Punkte gleichwertig. Das wird unsere Aufgabe für den Gipfel in Köln sein. Ich erwähne dies hier, weil die Entscheidung des Ältestenrates eine Debatte im Plenum vor dem Gipfel in Köln praktisch nicht möglich macht. ({25}) Ich wünsche mir, daß dieser Gipfel in diesen Fragen im Ergebnis genauso erfolgreich ist wie der Gipfel in Berlin. ({26}) Gestatten Sie mir zum Abschluß noch eine Bemerkung: Natürlich bedanken wir uns beim Bundeskanzler und bei den Kabinettsmitgliedern, die mitgewirkt haben, für das erreichte Ergebnis. Ich möchte aber ausdrücklich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen Dank einschließen, die eine gewaltige Arbeit geleistet und diesen Erfolg möglich gemacht haben. Vielen Dank. ({27})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich Heinrich, F.D.P., das Wort.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich habe mich wegen der Aussagen des Herrn Kollegen Wieczorek zur Agrarpolitik zu einer Kurzintervention gemeldet. Eine Einigung ist erfolgt; das stimmt. Die Probleme aber sind nicht gelöst. Die Einkommen der Landwirte werden sinken. Die Landwirte werden mit bis zu 2 Milliarden DM zusätzlich belastet. Im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, Herr Wieczorek, ist nicht zu erwarten, daß von dieser Reform positive Impulse für die Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft ausgehen werden. Die Überschüsse werden nicht abgebaut. Vor allen Dingen aber werden die Exportsubventionen nicht geregelt. Das heißt, im Herbst, wenn wir diese Politik in der WTO-Runde darzustellen haben, werden wir entsprechend unter Druck geraten. Wenn die 15 Regierungen nur einen solchen Kompromiß zustande bringen, frage ich mich, warum wir als Parlament dies auch noch beklatschen sollen. Dafür habe ich kein Verständnis. Meine Damen und Herren, zu der Entwicklung der Weltmarktpreise. Die eingeschlagene Richtung ist falsch. Es wird nämlich nicht zu einer stärkeren Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft kommen. Vielmehr wird die Abhängigkeit der Landwirtschaft von der Politik erhöht, und das können wir nicht gebrauchen. ({0}) Sie werfen den Landwirten nachher wieder vor, sie seien Subventionsempfänger. Monatelang ist von Ihnen aufs Tapet gebracht worden, daß wir einen zu hohen Anteil an Subventionen kassieren und daß die Landwirte nur deshalb gegen die Agenda 2000 sind, weil sie dann weniger an Subventionen bekommen. Dies wird natürlich durch die Weltmarktpreisphilosophie noch verstärkt. Genau das ist der Punkt, wo wir ansetzen müssen. Anstatt eine eigenständige europäische Preispolitik zu betreiben, mit der wir die Überschüsse planmäßig abbauen können und mit der wir die Abhängigkeit der Landwirtschaft von dem Geld der Steuerzahler reduzieren, gehen Sie in eine völlig falsche Richtung. ({1}) - Ich habe eine Redezeit von drei Minuten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zu meinem Schlußwort. Ich sage Ihnen: So kommt es zu einer Vernichtung von Volkswirtschaftsvermögen. Wissenschaftler belegen das. Wenn das so weitergeht, dann wird das Agrarsystem bald nicht mehr finanzierbar sein. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung, Herr Kollege Dr. Wieczorek, bitte.

Dr. Norbert Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002502, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollten Sie einen Beitrag zur Landwirtschaft machen und nicht so sehr zu dem, was ich gesagt habe. Ich möchte auf drei Dinge Ihrer Kurzintervention eingehen, die ich tatsächlich angesprochen habe. Mit Ihren anderen Bemerkungen haben Sie Ihre Redezeit ausgenutzt. Dafür hat man ja Verständnis. Erstens. Im Hinblick auf die Preisstützung und diesbezügliche Interventionen ist, soweit ich es aus dem, was bisher veröffentlicht wurde, erkennen konnte, ausdrücklich eine Überprüfung vorgesehen. Ich schlage vor, daß man sich genauer anschaut, was festgelegt worden ist. Zweitens. Bei der letzten Reform, bei der Mc-SharryReform, gab es erst eine sehr große Aufregung, bis sich herausstellte, daß eine Reihe von Landwirten bessergestellt wurde. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür nennen, warum wir in diese Situation - etwa bei der Milchquote gekommen sind. Die französischen Bauern haben damals einen Aufstand gemacht. Die Regelung der Milchquote hat sich für sie so entwickelt, daß sie dabei ausgesprochen gut weggekommen sind. Deswegen hat Herr Chirac - ich muß diesen Namen jetzt doch einmal nennen so darauf insistiert, daß dieses System bis 2006 erhalten bleibt. So kann man sich täuschen, wenn man zu schnell sagt: Das oder jenes ist das Ergebnis. Darauf wollte ich noch einmal hinweisen. Drittens zur WTO. Da könnte ich fast sagen, Sie wollten mich unterstützen. Aber ich bin nicht sicher, ob Sie das wirklich wollten. Ich sehe sehr wohl die Problematik, daß die WTO-Konformität angesichts dessen, was jetzt im Ergebnis herausgekommen ist, bei weitem nicht in dem Maße zu erreichen ist, wie es vorgesehen war. Auch da war sie noch nicht ganz erreicht. Etwa in der Hälfte der Periode 2000 bis 2006 wird es im Verhandlungsablauf einen Überprüfungszwang im Rahmen der EU geben. Sie sollten sich erinnern: Ich habe gesagt, daß ich den Begriff „vitale nationale Interessen“ ausdrücklich nicht verwende. Ich halte ihn in der Europapolitik für alles andere als angebracht. Ich wiederhole - zu diesem Punkt gab es von Ihrer Fraktion sogar Beifall -, daß wir ein sehr zentrales Interesse daran haben, daß der Welthandel noch liberaler wird, daß der freie Welthandel erhalten bleibt - das ist ja im Moment gar nicht so sicher, wenn Sie die Diskussion im amerikanischen Kongreß betrachten -, und daß dazu eine Abwägung dahin gehend gehört, was man im Landwirtschaftsbereich und was man insgesamt tut. Aus diesem Grunde wird eine Diskussion über diese Dinge mit unseren französischen Freunden noch sehr notwendig sein. Ich hoffe, daß Sie uns dabei unterstützen, wenn wir das tun werden, und daß Sie nicht - wie bei der Kofinanzierung - durch andere Modelle Verwirrung stiften. Danke sehr. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Edmund Stoiber. ({0}) Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren! Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, wir alle in diesem Hohen Hause stehen unter dem Eindruck der dramatischen Ereignisse im Kosovo. Wir alle sind angesichts der Bilder, die uns abends und in der Früh über die Fernsehschirme erreichen, bedrückt. Mitten in Europa muß mit Waffengewalt um Frieden, Freiheit und Recht gekämpft werden. Die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens, des friedlichen Miteinanders der Völker und die Menschenrechte müssen in ganz Europa gelten. Bei dem NATO-Einsatz gegen das Regime in Belgrad geht es deshalb auch um die Zukunft Europas. Das menschenverachtende System von Milosevic hat der Staatengemeinschaft keine andere Wahl gelassen, als mit militärischen Mitteln den organisierten und eskalierenden Verletzungen der Menschenrechte im Kosovo entgegenzutreten. Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, daß es uns allen gemeinsam gelingt, diese Sichtweise besonders auch den jugoslawischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland eindeutig darzulegen. Ich bin ein wenig betroffen davon, wie sehr Menschen aus Jugoslawien, die bereits lange Zeit hier in Deutschland leben, an der Politik und an der Position von Milosevic hängen. Wir sollten diese Gefahren nicht geringschätzen und uns deswegen bemühen, daß die Menschen in Deutschland, auch die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, unsere Position, die eine gemeinsame Position ist, richtig einordnen können und sie verstehen. ({2}) Die bosnische Tragödie darf sich im Kosovo nicht wiederholen. Anders als mit militärischen Mitteln war offenbar keine Einsicht zu erzwingen, um dem Unheil für Hunderttausende von Menschen Einhalt zu gebieten. Wir dürfen die Augen vor Unrecht, Vertreibung und Mord unmittelbar vor unserer Haustüre nicht verschließen. - Ich respektiere, was der Außenminister hier gesagt hat, der in der Beurteilung solcher Fragen in den letzten 20 Jahren - wenn ich mir alle seine Äußerungen, die von früher und die von heute, anschaue - einen weiten Weg zurückgelegt hat. ({3}) Ich halte das in der Tat für bemerkenswert und positiv. - Aus dieser Mitverantwortung heraus tragen wir alle die schwierige Entscheidung der Bundesregierung mit. Mit persönlichem Einsatz und großem Risiko treten unsere Soldaten dieser Aggression gegen die Bevölkerung des Kosovo entgegen. Für diese Pflichterfüllung gilt allen, die den Menschenrechten dort wieder zur Geltung verhelfen und Frieden schaffen wollen, unser persönlicher Dank. In diesen Dank beziehe ich alle Angehörigen unserer Soldaten ausdrücklich mit ein, die natürlich jetzt ganz schwierige Stunden erleben. Es ist wichtig, daß alle in der Bundesrepublik Deutschland deutlich erklären, wie sehr sie mit ihnen fühlen und wie sehr sie ihnen zur Seite stehen. ({4}) Angesichts des tausendfachen Leids und der drohenden Gefahren treten selbstverständlich alle anderen wichtigen politischen Themen etwas in den Hintergrund. Dieser Konflikt macht uns einmal mehr den historischen Auftrag deutlich, die Teilung Europas endgültig zu überwinden. Deshalb liegt die Osterweiterung der Europäischen Union nicht nur im Interesse Deutschlands, sondern auch im Interesse aller europäischen Nationen. ({5}) Dafür will die Agenda 2000 die Voraussetzungen schaffen. Doch so klar dieses Ziel ist, so schwierig ist die Lösung der Einzelfragen. Es geht um den Ausgleich der nationalen Interessen und die Verteilung der Ressourcen. Wegen der gravierenden Folgen ist hart gerungen worden. Über die Ergebnisse ist heute nur kursorisch zu sprechen. Die Ereignisse im Kosovo bewegen uns natürlich innerlich mehr. Am Tag der Beendigung des Europäischen Rates von Berlin gilt es zu bilanzieren: Was waren die Ziele? Was wurde erreicht? Und wie geht es weiter? Ihre Ziele, Herr Bundeskanzler, haben Sie in Ihrer Regierungserklärung am 10. November 1998 und natürlich auch bei anderen Gelegenheiten, in besonderem Maße auf dem SPDParteitag in Saarbrücken, im einzelnen erläutert. Zu Ihren Kernpunkten des Jahrhundertwerks der Agenda 2000, das für die nächsten sieben Jahre immerhin ein Finanzvolumen von weit über 1 000 Milliarden DM bedeutet, zählt die Neuregelung der EU-Finanzen. In Ihrer Regierungserklärung am 10. November haben Sie gesagt - ich zitiere -: Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzen wollen wir … auch zu einer höheren Beitragsgerechtigkeit kommen und die deutsche Nettobelastung auf ein faires Maß verringern. Das haben Sie in Ihrer Erklärung als Ziel angegeben. ({6}) Durch einen Sparhaushalt sollte der finanzielle Spielraum für die Osterweiterung geschaffen werden. Sie sprachen von - ich zitiere - „eiserner Haushaltsdisziplin“. In der Agrarpolitik wollten Sie „grundlegende Veränderungen“ erreichen. Ihre Ziele waren eine Kofinanzierung, die Sie in vielen Interviews und auch in Reden vor diesem Haus immer wieder gefordert haben, und eine „Agrarreform, die zu weniger Ausgaben“ führt. Sie haben sich für eine grundlegende Reform der Strukturpolitik ausgesprochen. Sie sollte sparsam, effizient und zielgerichtet sein. Das waren die Vorgaben, mit denen Sie Ihre Position vor diesem Hohen Hause erläutert haben. In diesen Zielen waren sich Regierung und Opposition weitgehend einig. Doch sie waren nicht neu. Schon die von Helmut Kohl und Theo Waigel geführte Bundesregierung hatte sich dafür eindeutig eingesetzt. CDU und CSU haben am 19. Februar in einem gemeinsamen Positionspapier offengelegt, woran sie das Ergebnis der Agenda 2000 messen werden. Dabei haben wir - auch wenn das oft behauptet wird - nie Maximalforderungen aufgestellt. Wir haben die berechtigten Anliegen unserer Partner anerkannt. Wir stehen zu unserer Verpflichtung zu europäischer Solidarität. Wir haben ausdrücklich anerkannt und in diesem Positionspapier festgestellt, daß Deutschland auch nach der Korrektur größter Nettozahler in der Europäischen Union bleiben wird. Wir haben ausdrücklich unser Einverständnis mit der Reduzierung der EU-Förderkulisse in Deutschland signalisiert. Wir haben die Notwendigkeit einer Reform der gemeinsamen Agrarpolitik akzeptiert. Was wurde erreicht? Das ist die zweite Frage. Wir müssen heute mit großer Enttäuschung zur Kenntnis nehmen: Die Bundesregierung hat ihre selbstgesetzten Ziele, die hier formuliert worden sind, verfehlt. Die Agenda 2000 sollte das Regierungsprogramm für die nächsten sieben Jahre sein. Doch das, was uns heute präsentiert wird, ist eher eine Verfestigung des Status quo als ein Aufbruch in die Zukunft. ({7}) Das Ziel eines strikten Sparkurses wurde verfehlt. Der EU-Haushalt steigt von 164 Milliarden DM im Jahre 1998 auf 206 Milliarden DM im Jahre 2006 und zwar ohne Berücksichtigung der Inflation. Das widerspricht dem, was Sie hier als Ihr Ziel vorgegeben haben. In dieser Summe sind die Kosten für die Osterweiterung bereits berücksichtigt. Selbst wenn man diese Kosten herausrechnet, liegt der Haushalt im Jahre 2006 mit 189 Milliarden DM - wiederum ohne Inflation - immer noch deutlich über dem von 1998. Von Sparkurs kann also überhaupt keine Rede sein. ({8}) Die Gerechtigkeitslücke bei der Finanzierung der Europäischen Union besteht weiter. Natürlich wußten wir, daß wir Nettozahler bleiben würden. Aber wir hätten erwartet, daß Sie eine merkliche Korrektur der ungerechten Nettobelastung erreichen. Die Konzepte dafür lagen auf dem Tisch, zum Beispiel die nationale Kofinanzierung in der Landwirtschaft. Hier haben Sie frühzeitig Positionen geräumt. Ich will das noch einmal deutlich machen: Die Kofinanzierung ist - nach der langen Verweigerung der Europäischen Kommission, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen - ein Verdienst der Regierung Kohl, ein Verdienst des früheren Finanzministers Waigel. Die Europäische Kommission hat die Kofinanzierung Mitte der 90er Jahre als ein wichtiges Mittel zu einer gerechteren Beitragsgestaltung für viele Länder fixiert. ({9}) Ich muß ganz offen sagen: Sie haben dieses System sehr schnell aufgegeben. Ich werde versuchen, im Laufe der nächsten Wochen zu eruieren, was dahintersteckt. ({10}) Ein anderes Konzept ist die Bemessung der Beiträge nach dem Bruttosozialprodukt. Hier haben Sie, Herr Bundeskanzler, allenfalls eine Teilkorrektur erreicht. Von einem allgemeinen Korrekturmechanismus in der Form eines Kappungsmodells ist leider nicht mehr die Rede. Sie haben gerade gesagt, Sie seien neugierig, wie ein Vergleich der Regierung Kohl/Waigel mit der Regierung Schröder/Fischer hinsichtlich des deutschen Finanzbeitrags aus der Sicht dieser oder jener Seite ausfallen wird. Kollege Schäuble hat schon dargestellt, daß sich der deutsche Nettobeitrag von 27 Milliarden DM im Jahre 1994 auf 22 Milliarden DM im Jahre 1998 ermäßigt hat. Herr Bundeskanzler, ich betrachte jetzt einmal die Zahlen des Bruttobeitrages: 1994 betrug der Bruttobeitrag Deutschlands - in den jeweiligen IstZahlen, also unter Berücksichtigung der Inflation 42 Milliarden DM; vier Jahre später, 1998, betrug er 44 Milliarden DM. Nach dem von Ihnen ausgehandelten Ergebnis wird der deutsche Bruttobeitrag im Jahre 2006 bei 58 Milliarden DM liegen. ({11}) Diese Zahlen sagen alles! Wir werden noch darüber zu reden haben, wie Sie bei dieser beachtlichen Steigerungsrate des Bruttobeitrages und bei weiteren Maßnahmen im Bereich der Rückflüsse überhaupt zu einer weiteren Senkung des Nettobeitrags kommen wollen. Das bleibt der weiteren Diskussion überlassen. Auf Grund der mir vorliegenden Zahlen Bruttobeitrag von 58 Milliarden DM - kann ich nicht nachvollziehen, was Sie heute früh gesagt haben, nämlich daß Sie den Nettobeitrag in den nächsten Jahren senken werden. ({12}) Die Korrektur bei der Bemessung der Beiträge - nach dem Bruttosozialprodukt anstatt nach der Mehrwertsteuer - ist nun in zwei Stufen verwirklicht worden. Ich sage Ihnen aber angesichts der jetzigen Berechnungen voraus: Sie werden nicht das erreichen, was Kollege Waigel und Bundeskanzler Kohl damals in Edinburgh erreicht haben, nämlich daß der Nettobeitrag dadurch, Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({13}) daß man bei der Bemessung der Beiträge von der Mehrwertsteuer auf das Bruttosozialprodukt übergegangen ist, in den letzten vier Jahren um 5 Milliarden DM gesenkt worden ist. Erst dann, wenn Sie Vergleichbares erreichen - nach dem heutigen Ergebnis werden Sie das nicht schaffen -, können Sie ernsthaft sagen, Sie hätten bei der Senkung des Nettobeitrages mehr als die frühere Regierung erreicht. Sie stellen sich heute aber hin und sagen, die Vorgängerregierung sei schuld, Sie hätten die Weichen erst neu stellen müssen. Die alte Regierung hat die Weichen gestellt; und ich bezweifele, daß Sie zu besseren Weichenstellungen kommen werden, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({14}) Das Ergebnis kann auch bei der Strukturpolitik nicht befriedigen. Bei den Strukturfonds wird nicht gespart: Obwohl weniger Gebiete gefördert werden, wird mehr Geld ausgegeben. Das, was sich durch die Agenda 2000 ändert, geht sowohl bei den Ziel-2-Fördergebieten als auch bei den Kostensteigerungen überproportional zu Lasten Deutschlands. Wenn Sie doch wenigstens das geschafft hätten, was Sie in den Runden mit den Ministerpräsidenten zugesagt hatten! Wenn wir bei der europäischen Förderung schon mehrere Gebiete verlieren, dann hätten Sie uns wenigstens Spielraum beim Einsatz unserer eigenen Mittel zur Förderung unserer Problemgebiete verschaffen müssen! Genau das - mehr Möglichkeiten für die Nationen, wenn man schon Gebiete aus der europäischen Förderung herausnimmt - wäre Subsidiarität gewesen. ({15}) Herr Bundeskanzler, Sie haben außerdem nicht erreicht, ein definitives Ende des Kohäsionsfonds für die Eurostaaten zu vereinbaren. Der Kohäsionsfonds wurde geschaffen, um möglichst viele Mitgliedstaaten für die Währungsunion fit zu machen. Das war die Intention von Maastricht. ({16}) - Doch, das war die Intention von Maastricht. - Nun aber werden auch solche Staaten weiter unterstützt - und zwar beinahe in alter Höhe -, denen das Attest für die Eurotauglichkeit ausgestellt wurde. Das ist der Weg in die Transferunion, die gerade nicht in unserem Interesse sein kann. Weil also unklar ist, was im Jahr 2006 geschieht, muß man davon ausgehen, daß der Kohäsionsfonds wahrscheinlich wie bisher weitergeführt wird. Dann fällt der Vorwurf, den Sie - unbilligerweise - der alten Regierung gemacht haben, in voller Schärfe auf Sie selber zurück. Sie haben Bundeskanzler Kohl immer wieder kritisiert - zuletzt noch vor einigen Wochen -, weil in Edinburgh nicht geregelt worden sei, was nach dem Ende des Eigenmittelbeschlusses 1999 geschehen solle. Sie haben behauptet, Kohl und Waigel hätten in Edinburgh einen schweren Fehler begangen, weil die Anschlußregelungen nach dem Jahre 1999 nur einstimmig festgelegt werden könnten. ({17}) Von einer Stärkung der Eigenverantwortung der Regionen, von Transparenz und Bürgernähe ist meines Erachtens nichts zu sehen. Spätestens der Rücktritt der EU-Kommission hätte Anlaß dafür sein müssen, Systemänderungen einzuleiten: Abbau der Subventionen und Stärkung der politisch Verantwortlichen vor Ort. Ich hoffe, daß auf dem Sondergipfel, den Sie heute angesprochen haben, auch dafür die Weichen gestellt werden. Auch eine wirkliche Reform der Agrarpolitik - darüber ist heute schon viel geredet worden - bleibt aus. Entscheidend wäre - trotz aller Schwierigkeiten, die es mit dem französischen Partner gibt - die Einführung der Kofinanzierung gewesen. Mit dieser Einführung hätten Sie gleich drei Ziele erreichen können: eine Sicherung der Existenzgrundlage unserer Landwirte, ein gerechteres Finanzierungssystem und vor allen Dingen einen ausreichenden finanziellen Spielraum für die Osterweiterung. Die Osterweiterung ist angesichts der Probleme, die im Rahmen dieser Erweiterung auf die Landwirtschaft zukommen, ohne Kofinanzierung finanziell nicht zu schaffen. Deswegen ist bei den Verhandlungen in Berlin die Durchsetzung dieses wichtigen Elements für die Osterweiterung wie für die Reduzierung der deutschen Nettobeiträge versäumt worden. Man muß sich nur einmal vorstellen, wie viele Bauern es in der Europäischen Union geben wird, wenn die drei Staaten Tschechische Republik, Ungarn und Polen beigetreten sind. Das kann gar nicht über das gegenwärtige Finanzierungssystem aufgefangen werden. Hierfür wäre eine Kofinanzierung notwendig gewesen. Deswegen muß man auch zu dieser Stunde an diesem Punkt deutlich Kritik üben. ({18}) Eine wesentliche Schwachstelle bei den Verhandlungen war meines Erachtens - wenn es nicht so gewesen wäre, wäre ein besseres Ergebnis erzielbar gewesen die mangelnde Koordinierung der deutschen Position. Oftmals wurde nicht klar, was die Deutschen wirklich wollten und wer für die Bundesregierung handelt. ({19}) Ein Schulterschluß mit der Opposition wurde überhaupt nicht angestrebt. Darüber wurde hier noch nicht einmal diskutiert. ({20}) - Es war so. - Forderungen der Länder im Bundesrat haben Sie ignoriert. Wir haben den nationalen Konsens in der Europapolitik nicht aufgekündigt, wie Sie es uns immer wieder vorwerfen; vielmehr haben Sie diesen Konsens überhaupt nicht gesucht. Sie haben mit einigen flapsigen Bemerkungen Ihre Verhandlungsposition in Berlin erschwert. Und dann ist auch noch der Finanzund Europaminister - das darf man nicht vergessen; auch das sollte zu dieser Stunde angesprochen werden in der heißen Phase der Verhandlungen zurückgetreten. Das hat die Verhandlungen sicherlich nicht erleichtert. Das darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Auch dafür tragen Sie Verantwortung. ({21}) Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({22}) Ich stelle auf Grund des Kenntnisstandes, den wir momentan haben - die Verhandlungen sind ja erst heute früh beendet worden -, fest: Die Bundesregierung hat in Brüssel und in Berlin so verhandelt, wie sie in Bonn regiert. ({23}) Da hilft es auch gar nichts, wenn Sie uns immer wieder wortreich erklären, was mit wem nicht zu machen war Sie haben das gerade getan, Herr Außenminister -: mit Frankreich die Kofinanzierung, mit Spanien der Ausstieg aus dem Kohäsionsfonds für die WWUTeilnehmer, mit Großbritannien die Abschaffung des Beitragsrabatts und mit Italien die volle Umstellung der Finanzbeiträge auf einen gerechten Maßstab, das Bruttosozialprodukt. Ich frage Sie hier ganz deutlich: Was war eigentlich mit Deutschland „nicht zu machen“, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister? ({24}) Sie sagen hier, die Aufgabenverteilung in Europa sei etwa wie folgt: Die anderen vertreten nationale Interessen - so habe ich Sie verstanden, Herr Außenminister -, während Deutschland nur europäische Interessen zu vertreten habe, auch wenn sie nationalen Interessen widersprechen. Diese Politik werden Sie den Menschen draußen nicht erläutern können. Deswegen werden wir immer wieder auf diesen Satz zurückkommen. ({25}) Genauso wie in Deutschland Kommunalinteressen nicht mit Landesinteressen und Landesinteressen nicht immer mit deutschen Interessen identisch sein müssen, ist natürlich auch das nationale Interesse nicht immer mit dem europäischen Interesse identisch. Das ist oft ein schwieriger Balanceakt - das gebe ich zu -; denn wir haben ein besonderes Interesse an der europäischen Integration. Deswegen sage ich auch, daß wir immer Nettozahler bleiben werden. Aber Sie dürfen es der Bevölkerung nicht so erklären, daß wir auf die anderen, die nationale Interessen vertreten, Rücksicht zu nehmen hätten, während wir unsere eigenen Interessen generell zurückzustellen hätten. Damit schaffen Sie keine Akzeptanz Europas, meine Damen und Herren. ({26}) Sie haben meines Erachtens Ihre Versprechungen aus der Regierungserklärung und aus vielen anderen Reden nicht erfüllt. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten die Folgen des Ergebnisses des Gipfels von Berlin noch heftig zu diskutieren haben; denn die Probleme, die nun für Teile unserer Bevölkerung entstehen, verlangen dann zumindest - dazu hätten Sie heute auch etwas sagen können - eine nationale Hilfe, um dramatische Strukturbrüche abzumildern. In dem Sinne erwarte ich noch klare Worte von Ihnen. Danke schön. ({27})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht nun der Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Rezzo Schlauch.

Rezzo Schlauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002777, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich mich mit dem Herrn Ministerpräsidenten aus Bayern auseinandersetze, möchte ich erst einmal meine Freude und die Freude unserer Fraktion über das Ergebnis von Berlin zum Ausdruck bringen. Wir beglückwünschen den Herrn Bundeskanzler, unseren Außenminister und die übrigen Regierungsmitglieder zu ihrem Erfolg von heute morgen. ({0}) Mit der Einigung über die Agenda 2000 und dem Ergebnis des Gipfels von Berlin hat die Europäische Union in einer schwierigen Situation Handlungsfähigkeit bewiesen. Von dem Gipfel in Berlin geht ein klares Zeichen an die beitrittswilligen osteuropäischen Länder aus: Die Europäische Union will die Osterweiterung. Sie hat mit der Reform ihrer Finanzverfassung die Voraussetzung für eine Vertiefung der europäischen Integration und für ihre Erweiterung geschaffen. Die entscheidende und unmißverständliche Botschaft des Berlin-Gipfels ist: Der Weg für die Osterweiterung ist frei. Meine Damen und Herren, das ist hundertmal mehr wert als Versprechungen hinsichtlich Daten, die von vornherein nicht zu halten waren. ({1}) - Wer hat denn die Versprechungen in Richtung der osteuropäischen Länder im Hinblick auf konkrete Beitrittsdaten gemacht und nicht eingehalten? Es war doch die ehemalige Regierung, die von vollkommen illusionären Daten ausgegangen ist. ({2}) Aber auch innenpolitisch hat die Europäische Union Handlungsfähigkeit bewiesen. Die Nominierung Romano Prodis für den Vorsitz der EU-Kommission zeigt die Entschlossenheit der Mitgliedsländer zu einer raschen Beendigung der Krise, die durch den Rücktritt der Kommission eingetreten ist. Der Berliner Gipfel hat ein neues Kapitel in der Geschichte der Europäischen Union aufgeschlagen. Er hat bewiesen, daß die Staatengemeinschaft schwierige Situationen meistern, sich selbst reformieren und die Osterweiterung auf den Weg bringen kann. Insbesondere durch die wochenlangen Bemühungen von Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer wurde dieses Ergebnis möglich, ({3}) und dafür gebührt ihnen unser Dank und unsere Anerkennung. Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({4}) Die Bedeutung dieses Berliner Gipfels ist international unumstritten. Der österreichische

Not found (Kanzler:in)

Wir haben Handlungsfähigkeit bewiesen. Jospin sagt: Das ist ein guter Moment für Europa. Auch innenpolitisch findet die Leistung der Regierung Schröder/Fischer große Anerkennung. Sowohl der Deutsche Industrie- und Handelstag als auch der Deutsche Bauernverband - Herr Kollege Heinrich, ich habe mich darüber gewundert, aber ich habe es so gelesen - haben in ersten Stellungnahmen die Ergebnisse des Berliner Gipfels ausdrücklich begrüßt, ({0}) weil dort - trotz einer sehr schlechten Ausgangssituation - Verbesserungen ausgehandelt worden sind. Die einzigen, die den Erfolg schlechtreden, sind die Damen und Herren von der Opposition und der bayerische Ministerpräsident. ({1}) Herr Stoiber, heute sind Sie anders als noch vor wenigen Wochen dahergekommen. Heute sind Sie wie das österliche Lamm aufgetreten. ({2}) Was allerdings das Verhandlungsergebnis angeht, waren Sie gegen das, was ausgehandelt worden ist, nach wie vor hart, und damit waren Sie auch hart gegen die beitrittswilligen osteuropäischen Länder. Wenn Sie sagen, man habe oft den Eindruck gehabt, nicht zu wissen, was die deutsche Ratspräsidentschaft verhandeln wolle, dann entgegne ich Ihnen: Bei Ihnen wußte man genau, was Sie wollten. Sie wollten die Agenda 2000 stoppen; Sie wollten den Berliner Gipfel platzen lassen. Sie hätten damit Stagnation und Rückschritt der europäischen Einigung in Kauf genommen. ({3}) Wo stünden wir denn heute, wenn wir Ihren fundamentalistischen Ratschlägen gefolgt wären? Was hätte es denn bedeutet, den Gipfel abzusagen? Welcher Schaden wäre für unser Land entstanden? - Wir hätten keine Agenda 2000, wir hätten keine positive Perspektive für die Beitrittskandidaten, und wir hätten uns vor der gesamten Welt lächerlich gemacht! ({4}) Wir haben Sie angesichts der Forderungen, die Sie letzte Woche erhoben haben, eines Besseren belehrt. Mit Zauderei, Wankelmut und bayerischer Kleinkrämerei werden wir den historischen Dimensionen der europäischen Einigung nicht gerecht. ({5}) Es ist doch klar, daß wir uns mit unseren deutschen Forderungen bei einer Kompromißlösung nicht in Reinform - darin besteht das Wesen des Kompromisses; das wissen wir doch alle - durchsetzen konnten. Angesichts Ihrer Maximalforderungen wäre der Gipfel allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Weil Sie es immer wieder gern vergessen, erinnere ich Sie daran: Die Höhe der deutschen Nettozahlungen ist doch nicht das Ergebnis unserer Politik, sondern das Ergebnis Ihrer langjährigen Politik. ({6}) Es ist ein gutes Zeichen, daß wir - wenn auch noch nicht in ausreichendem Maße - die Tendenz nun umgekehrt haben und den jetzigen Stand der deutschen Nettozahlungen reduzieren konnten. Sie aber haben die Dimension der europäischen Einigung aus den Augen verloren. Wenn Sie den Erfolg von Berlin schlechtreden, dann tun Sie dies oft auch aus innenpolitischen Gründen. Sie haben hier heute - jedenfalls für meine Begriffe keine Alternative aufgezeigt. Das gilt auch für Sie, Herr bayerischer Ministerpräsident. Sie haben das europäische Erbe Helmut Kohls nicht angetreten, sondern Ihre Rede war eigentlich von einem nationalen und regionalen Egoismus durchsetzt, den wir mit diesem Ergebnis von Berlin Gott sei Dank überwunden haben. ({7}) Wenn Sie sich selbst und Ihre Rede ernst nehmen, dann müssen Sie zugeben, daß Ihre Kritik, übertragen auf die außenpolitische Situation, insbesondere in Richtung der osteuropäischen Länder, bedeutet: Wir wollen euch nicht, jedenfalls nicht so schnell wie möglich. - Wir hingegen rufen den beitrittswilligen Ländern zu: Wir wollen die Erweiterung. Wir wollen die europäische Integration. Wir wollen Frieden und Stabilität in Europa. - Deshalb freuen wir uns mit der Bundesregierung über die Ergebnisse dieses Gipfels. Danke schön. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Dr. Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Verständnis dafür, daß Sie sich angesichts der innenpolitischen Lage auch über bescheidene außenpolitische Erfolge freuen. Wenn man die Gipfel verfolgt, so muß man sagen: Der Berliner Gipfel wird nicht in die europäische Geschichte eingehen. Er war ein Gipfel auf kleinstem gemeinsamen Nenner. Herr Fischer, ich gönne es Ihnen, daß Sie Ihre erste Gipfelerfahrung gemacht haben. Bundeskanzler Kohl hat über 25 EU-Gipfel gestaltet, Außenminister Genscher über 30. Aber mit so kurzen Hosen, mit so beRezzo Schlauch scheidenen Ergebnissen kam die frühere Regierung nie nach Hause, Herr Fischer. ({0}) Es ist schade, Herr Schlauch, daß wir unter einer rotgrünen Regierung nur noch über das Geld reden müssen, ohne Leidenschaft und ohne Vision für Europa. Aber wenn wir schon über das Geld reden, dann muß ich sagen: Das große Versprechen war doch die Senkung des deutschen Nettobeitrags. Ich zitiere jetzt aus der Regierungserklärung: Erstens. Die Obergrenze wurde auf 1,27 Prozent des EUBruttosozialprodukts festgeschrieben. - Das ist überhaupt nichts Neues. Das hatte die alte Regierung längst erreicht. Zweitens. Die Eigenmittel werden bis zum Jahre 2004 in zwei Stufen zur Hälfte reduziert. - Das ist eine dreifache Relativierung. Man kann überhaupt nicht quantifizieren, was das bringt. Drittens. Der Beitragsrabatt für Großbritannien wird modifiziert. - Heute morgen habe ich Herrn Blair im Fernsehen gesehen. Er hat sich sehr gefreut und gesagt, kein Penny werde hingegeben. Es ist auch verständlich, daß sich Herr Blair und Herr Chirac freuen; denn so einfach haben es die anderen Länder auf Gipfeln noch nie gehabt. Das ist der Punkt. ({1}) Man darf sich auch nicht wundern, daß andere Länder ihre Interessen so massiv vertreten, wenn der Bundeskanzler zu Beginn sagt: Ich habe zwar die Präsidentschaft, aber ich habe ein Ziel: Die deutsche Position muß sich verändern. ({2}) Es ist doch klar, daß die anderen dann genau das gleiche machen. Daß es Herrn Aznar sogar gelingt, eine Erhöhung der Mittel für den Kohäsionsfonds zu erreichen, hätte ich nie gedacht. Ich hätte nie gedacht, daß das noch teurer wird. Im Agrarbereich - so hörte ich heute morgen von Fachleuten - wurden die Nahrungsmittelbeihilfen nicht so stark abgesenkt. Da wurde noch etwas draufgelegt, um Herrn Chirac zufriedenzustellen. Es wird alles nur teurer. Das heißt, für die Bauern wird es bürokratischer, und für die deutschen Steuerzahler wird es teurer. Es gehört schon einiges dazu, das als großen Erfolg zu feiern. Daß es so gekommen ist, ist ja auch kein Wunder, wenn man bedenkt, daß der wichtigste Fachminister während der Verhandlungen über Bord gegangen ist. Man muß sich das einmal vorstellen: In der entscheidenden Sitzung des Ecofin-Rats muß der Ersatzmann, der arme Herr Müller, dem man vorher die Europakompetenz weggenommen hat, auftreten und muß sich vor Leute wie Herrn Strauss-Kahn und andere hinstellen und deutsche Interessen vertreten. Dabei kann nicht mehr herauskommen. ({3}) Insofern ist das Ergebnis äußerst bescheiden. Aber ich bin fair genug, um zu sagen, angesichts der Kosovo-Krise, angesichts des Rücktritts der gesamten EU-Kommission wäre ein völliges Scheitern eine absolute Katastrophe gewesen. Nur, das Ergebnis jetzt schönzureden und zu sagen, wir haben uns durchgesetzt ist nicht richtig. Die Zahlen werden ergeben - da kann ich nur dem bayerischen Ministerpräsidenten zustimmen -: Wir werden in der Strukturpolitik, in der Agrarpolitik, bei der Verrechnung, bei der Finanzarchitektur mehr zahlen müssen. Ich finde, die „Süddeutsche Zeitung“ hat recht - sie steht uns ja nicht immer so nahe -, wenn sie schreibt: Berlin war eben kein Reformgipfel; es hätten auch Staatssekretäre beurkunden können, daß Deutschland in wesentlichen Dingen einfach nachgegeben hat. ({4}) Das beste Ergebnis war die schnelle Nominierung von Herrn Prodi. Da konnte man auch nicht viel falsch machen. Es ist interessant, daß Herr Prodi jetzt von Herrn Schröder gerühmt wird. Mich freut es; denn Herr Prodi ist ein absolut liberaler Reformer. Er hat internationale Erfahrung. Er hat im übrigen in Harvard, in Stanford auf der London School of Economics studiert. Das sind alles liberale Kaderschmieden. (Beifall bei der F.D.P. - Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal, Stanford eine liberale Kaderschmiede?] - Ja, natürlich, Herr Schlauch. Herr Schlauch, waren Sie einmal in Stanford? ({5}) Das sind die „schlimmen“ Kaderschmieden, wo die Marktwirtschaft so hart vertreten wird. Daß dieser Mann jetzt so gerühmt wird, läßt hoffen. Er hat ja in einer Rede in Frankfurt darauf hingewiesen, was er für wichtig hält, nämlich radikale Privatisierung, Staatsverschlankung, offene und flexible Arbeitsmärkte das heißt, genau das Gegenteil von dem, was Rotgrün hier in Deutschland macht, meine Damen und Herren. ({6}) Deshalb hoffen wir auf Herrn Prodi. Wir können nur sagen, Herr Prodi hat auch eine gute Kommission verdient. Deshalb kann es nicht sein, daß Kommissarinnen, die belastet wurden, erneut antreten wollen. ({7}) Deutschland hat das Anrecht, daß ein frischer Start erfolgt. Es kann auch nicht so sein, daß in Kürze im sogenannten Parteirat der Grünen ausgeklüngelt wird, wer - ohne jede Europaerfahrung - die Quote für die Frauen erfüllt. So können wir in Zukunft die Europäische Kommission nicht mehr besetzen. Das neue Parlament wird solchen Nominierungen auch nicht mehr zustimmen; denn da gilt bereits der Vertrag von Amsterdam. ({8}) Meine Damen und Herren, wir müssen die Krise der Kommission für einen echten Neubeginn mit wirklich guten Leuten nutzen. Ich hoffe, daß Deutschland gute Vorschläge macht, nicht nach dem Parteienproporz. Wir brauchen eine Stärkung des Europäischen Parlaments, das seine Feuertaufe, wenn auch erst im zweiten Anlauf, bestanden hat. Wir hätten das gleich damals im Januar machen können. Langfristiges Ziel muß eine europäische Verfassung sein, für die wir seit langer Zeit eintreten. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Gerald Thalheim.

Dr. Gerald Thalheim (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002311, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Einigung über das Gesamtpaket der Agenda 2000 stellt auch aus der Perspektive der Agrarpolitik einen großen Erfolg dar. Zumindest kommt man zu der Bewertung, wenn man sich erstens die Ausgangssituation vergegenwärtigt und zweitens an die Tatsachen hält. Was die Ausgangsposition anbelangt, so ist erstens festzustellen, daß nach vielen Jahren der Untätigkeit eine Reform durchgeführt werden mußte, ohne daß mehr Geld, sondern eher weniger Geld zur Verfügung steht. Zweitens hat es die alte Bundesregierung versäumt, gerade im Landwirtschaftsbereich strategische Partner für viele Positionen zu suchen. Im Gegenteil hatten die Mitgliedstaaten eher sehr unterschiedliche Positionen. Das zu der Ausgangssituation. Nun zu den Ergebnissen. Zunächst ist als Erfolg festzuhalten: Die Agrarausgaben werden auf 40,5 Milliarden DM beschränkt. Das erlaubt es, die Nettozahlungen zurückzuführen und die Osterweiterung voranzutreiben. Daß das nur durch die Zusage harter Sparmaßnahmen erreicht werden konnte, steht auf einem anderen Blatt. Eine Möglichkeit stand jedoch nicht offen, nämlich die der Kofinanzierung der Agrarausgaben - ein Punkt, der auch heute wieder mehrfach gefordert wurde. Die Antwort, die man auf diese Forderung geben sollte, ist in der „Süddeutschen Zeitung“ vom vergangenen Freitag nachzulesen. Dort schreibt Udo Bergdoll: Wer behauptet, … Frankreich könne zur Akzeptanz der Kofinanzierung in der Landwirtschaft gezwungen werden, nimmt sich selbst nicht mehr ernst. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. ({0}) Wenn man es dennoch tun wollte, dann das: In der Opposition ist in der Tat die Gefahr groß, populäre Forderungen zu erheben und sich selbst nicht mehr ernst zu nehmen. Wenn für die Landwirtschaft etwas erreicht wurde, dann die Gewißheit, daß man mit den zugesagten Zahlen rechnen kann. Die Ausgleichszahlungen bis zum Jahre 2006 sind eine verläßliche Basis für die Landwirtschaft. Künftig wird von den Brüsseler Geldern mehr bei den Bauern ankommen und weniger für Lagerhaltung und Exporterstattungen draufgehen - ein wichtiger Erfolg der Agenda 2000. Aber die Landwirtschaft muß sich künftig viel stärker am Markt orientieren. Damit wird ein Versäumnis der Vergangenheit offengelegt. Tatsache ist, daß die zunehmende Verflechtung der Märkte zu einer stärkeren Liberalisierung der Agrarmärkte führt. Das GATT-Abkommen von 1994 hat nicht diese Bundesregierung, sondern die Vorgängerregierung beschlossen. Es grenzt an Realitätsverweigerung, wenn man so tut, als hätten die Beschlüsse von damals für die Landwirtschaft heute keine Konsequenzen. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe in den letzten Wochen in Versammlungen von vielen Bauern gehört, daß sie die Notwendigkeit einer Reform einräumen. Das wird von Ihnen und den Vertretern der Bauernverbände natürlich geleugnet. Tatsache ist auch, daß die Intervention als Instrument der Agrarpolitik ausgedient hat. Gegenwärtig belaufen sich die Interventionsbestände bei Rindfleisch auf mehr als 500 000 Tonnen, bei Getreide auf 19 Millionen Tonnen, mit der Aussicht, daß letztere bis Ende des Wirtschaftsjahres auf 20 Millionen Tonnen oder darüber steigen werden. ({1}) Wer leugnet, daß es hier Handlungsbedarf gibt, der geht an der Realität vorbei. ({2}) Angesichts dieser Entwicklung brauchen wir eine Mengenbegrenzung bei der Produktion. Hier ist oft gefragt worden, welche Erfolge denn unter deutscher Präsidentschaft erreicht worden sind. ({3}) Bis zum Jahr 2006 werden 10 Prozent stillgelegt - eine Forderung, die ich von Dir, Siegfried Hornung, in den letzten Wochen mehrfach gehört habe. Dies ist ein eindeutiger Erfolg der Bundesregierung. ({4}) Auch die Milchquotenregelung wird fortgeführt. Diesbezüglich fällt meine Freude aber schon viel gedämpfter aus. Denn wir wissen, daß sich die Intention der Milchquotenregelung längst in ihr Gegenteil verkehrt hat: hohe Kostenbelastungen für die aktiven Milcherzeuger und niedrige Preise. Wenn jetzt erneut gefordert wird - so zum Beispiel vom bayerischen Landwirtschaftsminister Miller -, endlich das AltpachtDr. Helmut Haussmann problem zu klären, kann ich nur fragen: Was hat die alte Bundesregierung, was hat die Bayerische Staatsregierung in den letzten Jahren getan, um dieses Problem zu klären? ({5}) Wir werden das angehen. Allerdings: Die Erblast der Verrechtlichung - mit 34 Änderungsverordnungen allein für den Milchbereich - stellt gerade auf diesem Gebiet eine schwere Hypothek für Veränderungen dar. ({6}) - Sie können sicher sein, das werden wir tun. Dafür sind wir auch gewählt worden. ({7}) Zu den Tatsachen der Agenda 2000 gehört auch, daß es im Landwirtschaftsbereich mehr Chancen gibt, als immer wieder behauptet wird, und die Einkommensverluste bei weitem nicht in der Höhe eintreten, wie Sie hier immer wieder behaupten, wobei Sie Horrorszenarien an die Wand malen. Unter der deutschen Präsidentschaft ist erreicht worden, daß es eine Degression, also die Verringerung der Ausgleichszahlungen, für größere Betriebe nicht geben wird. Ich verstehe die Welt nicht mehr, daß hier gerade von der PDS die Agrarpolitik kritisiert wurde. Bei der Agenda 2000 sind alle die Positionen erfüllt worden, die vor allen Dingen von Ostdeutschland gefordert wurden, ob das die betriebsbezogene Degression, der Abbau der 150 000 Hektar prämienberechtigten Flächen oder die 90-Tier-Grenze ist. Ich kann nur sagen, Herr Gysi: Mehr Unfug zu diesem Thema habe ich von Ihnen in der letzten Zeit hier nicht gehört. ({8}) Ein Erfolg bei der Agenda 2000 - nach Erfolgen ist von Ihnen immer gefragt worden - sind die Ergebnisse im Rindfleischbereich und beim Getreide. Das Ergebnis der Kiechle-Reform von 1992 ist, daß Deutschland in erheblichem Umfang Prämienrechte beim Rindfleisch verloren hat. In den Verhandlungen ist es der Bundesregierung gelungen, die Prämienrechte für Deutschland von 9 auf 14 Prozent zu steigern. Das wird vor allen Dingen den bayerischen Bauern zugute kommen. Auch insofern ist nicht zu verstehen, daß die Ergebnisse immer wieder kleingeredet werden. Das gleiche gilt für die Preisabsenkung um 15 Prozent beim Getreide. Auch hier ist es gelungen, eine Absenkung um 20 Prozent zu verhindern. Weniger zufrieden sind wir mit dem Ergebnis bei der Milch, auch wenn es den Forderungen der CDU und des Bauernverbandes eher entspricht. Wir befürchten, daß es zu Preisabsenkungen am Markt ohne Ausgleich kommt. ({9}) Mancher Bauernverbandsfunktionär hat uns hinter der vorgehaltenen Hand gesagt: Wir nehmen die Erweiterung der Quote ganz gerne hin, wenn ihr euch bei den Ausgleichszahlungen bei der Milch durchsetzt. Die Bundesregierung wird also in den nächsten Jahren dafür sorgen, daß sich die Belastungen in Grenzen halten. Mit Ihrer Kritik bleiben Sie eher Ihrer Entwicklung in der Vergangenheit treu; denn die Einkommenssicherung für die Zukunft kann nicht durch Intervention und staatlich vorgegebene Preise geschehen, sondern nur durch ein erfolgreiches Bemühen am Markt. Vor allen Dingen dort liegen die Versäumnisse der alten Bundesregierung. Die Vermarktungsstrukturen in Deutschland sind in Europa, zumindest im Vergleich zu anderen wichtigen Agrarstaaten, kaum wettbewerbsfähig. Insofern geht Ihre Kritik an den Beschlüssen der Agenda 2000 ins Leere. Wir gehen davon aus, daß die Landwirtschaft in den nächsten Jahren die Vorteile und Chancen einsehen wird, die die Beschlüsse der Agenda gebracht haben. Wir als Bundesregierung werden auch künftig die Landwirtschaft weiter unterstützen. Vielen Dank. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollge Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erfolg oder nicht Erfolg, das ist die Frage in dieser Debatte. Ich glaube, der bisherige Diskussionsstand hat deutlich gemacht: Das Ergebnis von Berlin hat bei kritischer und auch bei vorsichtiger Würdigung schwere Mängel. ({0}) Nun ist in dieser Debatte vom Herrn Außenminister - der nicht mehr auf der Regierungsbank sitzt -, die Frage aufgeworfen worden, was denn eine Regierung - ({1}) Es wurde die Frage aufgeworfen, was denn eine Regierung Helmut Kohl in einer solchen Situation erreicht hätte. Ich stehe hier nicht an zu sagen: Ich weiß nicht, welches Ergebnis wir in einer solchen Situation erreicht hätten. Ich weiß aber, daß eine Regierung Helmut Kohl am Anfang einer deutschen Präsidentschaft Frankreich und Großbritannien in der Frage der Einhaltung von Verträgen zur Entsorgung von Brennelementen nicht verprellt hätte. Ich weiß, daß ein Bundeskanzler Helmut Kohl in Paris den französischen Staatspräsidenten nicht dadurch angegangen hätte, daß er ihm sagte, ich will nicht französischer Bauernpräsident werden. Ich weiß auch, daß in einer Regierung Helmut Kohl der Finanzminister Theo Waigel nicht durch vorzeitige SelbstpenDr. Gerald Thalheim sionierung den Ecofin-Rat und die deutsche Präsidentschaft ins Schleudern gebracht hätte. Soviel weiß ich, meine Damen und Herren. ({2}) Nun hat der Herr Bundeskanzler in seiner ersten Einschätzung im Fernsehen - ich berücksichtige, daß sie nach einer Nachtsitzung erfolgte und er erschöpft war gesagt, dies und jenes sei erreicht worden und man sei froh, daß man überhaupt etwas geschafft habe. So eine Grundbewertung muß ja auch zulässig sein. Dann hat er gesagt, für Deutschland sei aber „kein Lottogewinn“ dabei herausgesprungen. Das ist eine lockere Formulierung, die aber vielleicht doch einiges verrät. ({3}) - Ja eben, den haben wir nicht erreicht. Der Begriff „Lottogewinn“ ist das Interessante; das möchte ich dem Zwischenrufer von der Regierungsbank sagen. Eine solche Präsidentschaft ist eben kein Lotteriespiel, bei dem man abwartet, was herauskommt, und hinterher enttäuscht feststellen muß, daß nichts herausgekommen ist, ({4}) sondern eine solche Präsidentschaft hat die Aufgabe, die Reformen, die nötig sind, um die Erweiterung der Europäischen Union zu ermöglichen und im Prozeß der Globalisierung klarzukommen, anzupacken. Unser Urteil, Herr Verheugen, wäre vielleicht nicht so kritisch ausgefallen, wenn es nur um Mark und Pfennig ginge. Wir haben in diesem Hause schon oft darüber gesprochen, daß man große und überragende Ziele nicht immer nur in kleine Münze umrechnen kann. Unser Vorwurf ist aber - Wolfgang Schäuble hat das in seinem Debattenbeitrag deutlich gemacht; ich will das hier am Ende der Debatte noch einmal sagen -, daß die grundsätzliche Reform und die mit ihr verbundenen großen Ziele, also mehr Subsidiarität, mehr Bürgernähe in Europa, mehr Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung, nicht so von Ihnen angegangen wurde, daß sie in ihrer Struktur die nächsten Jahre über trägt. Das haben Sie nicht geschafft. Deshalb sind die kläglichen finanziellen Ergebnisse auch Ausdruck der Konzeptionslosigkeit in der Gesamtanlage. ({5}) Die anderen fahren strahlend nach Hause. Robin Cook, der englische Außenminister: Wir haben keinen Penny unseres Rabattes abgegeben. Die Spanier sagen: Das Ergebnis ist prima für Spanien. Der Bundeskanzler hat hier gesagt: Wir wollen doch einmal würdigen, daß Berlin erfreulicherweise weiterhin in der Phasing-outFörderung verbleibt. Ich habe eben in dem englischen Bericht nachgeschaut. Es ist ja auch eine neue Mode in Europa, daß selbst dann, wenn wir Deutschen die Präsidentschaft innehaben, die Schlußfolgerungen zuerst in englischer Sprache erscheinen. Sei es, wie es sei. Es ist erfreulich, daß Berlin durch die Phasing-outFörderung 100 Millionen bekommt; aber Lissabon erhält durch das Phasing-out 500 Millionen. Es sei den Portugiesen und auch Lissabon gegönnt. Aber man muß es ins Verhältnis setzen. Besonders interessant in diesem Bericht ist - das ist in den vorab herausgekommenen Pressemeldungen nicht deutlich geworden -, daß das ursprüngliche Versprechen, den Kohäsionsfonds wenigstens abzuschmelzen und ihn auslaufen zu lassen, glatt gebrochen wurde. Der Kohäsionsfonds wird eher noch aufgebläht. Von einem Auslaufen ist nicht die Rede. Diese Grundsatzentscheidung geht in die völlig falsche Richtung. ({6}) Wenn wir ihn nicht auslaufen lassen, dann werden wir die zusätzlichen Mittel, die wir für die Osterweiterung brauchen, nicht schultern können. Nun hat hier eben der Vertreter des Herrn Landwirtschaftsministers zur Landwirtschaft gesprochen. Ich möchte darauf nur ganz kurz eingehen, weil Gerd Müller es gleich für unsere Fraktion noch auf den Punkt bringen wird. ({7}) - Jawohl. Was hier mit der Landwirtschaft geschieht, ist mehr als bedenklich. Schauen wir uns nur einmal die Situation eines normalen Hofes, eines kleinen Betriebes mit 40 Milchkühen und 47 Hektar landwirtschaftlicher Fläche an. Gewinn im Wirtschaftsjahr 1997/98: 45 000 DM. Gewinn am Ende der Reform im Jahr 2006: abzüglich der Agenda-Lasten 35 000 DM, abzüglich weiterer 2 000 DM wegen der Senkung der Vorsteuerpauschalierung und abzüglich 1 500 DM Ökosteuer - die mögliche Mehrwertsteuererhöhung und die Erhöhung der Unfallversicherung lassen wir einmal weg -: etwa 31 000 DM. Und da sagen Sie, Sie hätten für die Landwirtschaft etwas herausgeholt! Diese Aussage liegt auf der Grenze zwischen Zynismus und Unkenntnis. ({8}) Das ist es, was uns so beschwert. Wenn es im Bereich der Landwirtschaft gelungen wäre, den zentralen Problemen, etwa daß wir eine Überproduktion haben, so zu begegnen, daß sie gelöst und gleichzeitig die Einkommen der Landwirtschaft gesichert werden können, könnte man darüber reden. Aber was macht man? Man senkt den Preis, schafft einen Teilausgleich, zwingt die Landwirtschaft, die Produktivität eher noch zu erhöhen und dafür zu sorgen, daß die Einkommensverluste hier ausgeglichen werden, und drückt kleine und mittlere Betriebe langsam, aber sicher über die Kante. Der Bundeskanzler nannte den Agrarkompromiß heute morgen eine „auskömmliche Lösung“. Ich finde diesen Begriff fehl am Platze, wenn man sich die Zahlen ganz genau anschaut. ({9}) Wir haben für die heutige Debatte einen Entschließungsantrag eingebracht, über den wir auch gerne abstimmen würden. Aber die Mehrheit im Hause verweiPeter Hintze gert uns die Abstimmung. Deswegen wird er an den Ausschuß überwiesen. Ich schlage aber hier vor, daß wir uns, wenn die Dokumente dieses Gipfels und die Einzelheiten vorliegen - einige Details habe ich Ihnen eben aus der englischen Fassung vorgetragen -, im Plenum des Deutschen Bundestages noch einmal Zeit nehmen ({10}) - Sie von der SPD nicken, das freut mich -, die Dinge ganz gründlich zu besprechen und bei dieser Debatte auch zu überlegen, wie wir in Deutschland durch mögliche innerstaatliche Maßnahmen, etwa im Bereich der Landwirtschaft, die gröbsten Härten für die Menschen abwenden können, die nach dem jetzigen politischen Stand der Dinge die Agenda 2000 durch massive Einkommensverluste bezahlen sollen. Die Agenda 2000 ist weiß Gott kein großer Wurf. Sie greift wesentlich zu kurz. Es kommt darauf an, daß wir mit unseren innerstaatlichen Möglichkeiten das zum Besseren korrigieren, was dieser Regierung auf europäischer Ebene nicht gelungen ist. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Verheugen.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich mache einmal einen Vorschlag zur Güte: Ich glaube, daß die etwas aufgeregten Reaktionen des bayerischen Ministerpräsidenten - der hier, wie auch bei der letzten Unterrichtung der Ministerpräsidenten durch den Bundeskanzler, nicht mehr anwesend ist und der Kollegen Haussmann und Hintze zurückgestellt werden sollten, bis wir die tatsächlichen Zahlen haben. Es hat doch gar keinen Zweck, jetzt ein Ergebnis zu beurteilen, dessen Einzelheiten niemand hier bewerten kann, weil sie nicht vorliegen. Herr Hintze, machen Sie bitte den Übersetzern keinen Vorwurf dafür, daß Sie, wenn morgens um viertel nach sechs die Verhandlungen abgeschlossen sind, mittags keine deutsche Fassung haben können. Wir sind froh, daß wir um sieben Uhr eine englische Fassung hatten. Das sollten Sie bitte verstehen. ({0}) Hier einen billigen Punkt zu Lasten von Mitarbeitern zu machen, die 58 Stunden ununterbrochen zu arbeiten hatten, finde ich schäbig, Herr Hintze. ({1}) - Das ist so; das müssen Sie sich schon gefallen lassen. Zum anderen müssen Sie sich endlich einmal entscheiden, was Sie nun eigentlich für Ihre Argumentation als Maßstab nehmen wollen. Beim letzten Mal hat uns Herr Schäuble hier vorgetragen, was für eine grauenhafte Vorlage diese Agenda 2000 - eine Vorlage der Kommission, was Sie nicht vergessen dürfen - eigentlich sei. Da stimme ich zu; sie war wirklich grauenhaft. Wenn Sie aber nun anfangen zu vergleichen, dann müssen Sie das Ergebnis des heutigen Tages mit der ursprünglichen Vorlage vergleichen. Sie, Herr Hintze, der Sie nun, glaube ich, der europapolitische Sprecher Ihrer Fraktion sind, sollten inzwischen wissen, daß wir eine Agenda, die auf einem Vorschlag der Kommission beruht, nicht einfach mit neuen Vorschlägen und neuen Themen befrachten können. Sie haben hier eine Reihe von Forderungen aufgestellt, was wir hätten tun sollen. Das war aber nicht das Thema dieser Agenda. ({2}) Das war nicht der Vorschlag der Kommission. Das ist das Thema für den nächsten Gipfel. Dazu sage ich gleich noch etwas. Nun will ich einmal etwas zu den Zahlen sagen. Das sind jetzt bereits verbindliche Zahlen; ich kann Ihnen sagen, daß sie stimmen. Die Kommission hatte vorgeschlagen, für Struktur- und Kohäsionsfonds in der vollen Periode 239 Milliarden Euro auszugeben. Wir sind bei 213 Milliarden Euro gelandet. Ich finde, 26 Milliarden Euro weniger als vorgeschlagen sind ein schönes Ergebnis. ({3}) Wenn wir das hätten bezahlen müssen, was in der finanziellen Vorausschau vorgesehen war, dann würden unsere Nettobeiträge ganz anders aussehen. Dasselbe ist bei der Landwirtschaftspolitik der Fall. Nach dem Vorschlag der Kommission waren als Grundlage der Agenda 2000 - Herr Schäuble hat uns das letztes Mal vorgehalten, als sei es unsere Grundlage gewesen - 313 Milliarden Euro für die Agrarpolitik in der ganzen Periode vorgesehen. Aus den Verhandlungen herausgekommen sind wir mit 283,5 Milliarden Euro. Das ist wiederum eine Ersparnis von knapp 30 Milliarden Euro. Damit sind wir zusammen bereits bei fast 60 Milliarden Euro. Wenn das für Sie Peanuts sind bitte schön. Bei einem Volumen von 1,3 Billionen Euro mögen 60 Milliarden Euro keine große Rolle spielen. Für mich spielt es aber eine große Rolle, ob wir in den nächsten sieben Jahren 60 Milliarden Euro zusätzlich finanzieren müssen oder nicht. ({4}) Ich denke, Sie sollten einmal abwarten, wie das tatsächliche Ergebnis aussieht. Warten Sie bitte auch einmal ab, wie die Verordnungen aussehen, die bekanntlich noch durch das Parlament müssen. Die Agenda 2000 in der Berliner Fassung ist eine politische Einigung. Hier werden zum Teil bereits Details verlangt, oder es wird schon über Details geredet, die überhaupt noch nicht in Verordnungstexten formuliert sind. Ich möchte noch einmal auf ein sehr ernstes Thema zurückkommen, das in mehreren Reden angesprochen wurde, damit das wirklich einmal aus der Welt ist. Es geht um die angeblich aus der Hand gegebenen VerPeter Hintze handlungsinstrumente; als Beispiel wurde immer die Kofinanzierung genannt. Das ist wirklich ein sehr ernstes Thema. Ich habe gar keinen Zweifel daran, daß die Kofinanzierung genau die positiven Elemente hat, die Sie alle beschrieben haben. Sie ist das für uns genau maßgeschneiderte Instrument; daran besteht gar kein Zweifel. Darum haben wir es, zusammen mit einer Reihe von anderen Instrumenten, auch in die Verhandlungen eingeführt. Aber fragen Sie, Herr Kollege Hintze, doch einmal die Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer Fraktion, die schon Mitglied einer Regierung waren - Herr Schäuble, der einmal Chef des Kanzleramtes war, weiß es ganz genau -: An einem bestimmten Punkt wissen Sie, was mit einem wichtigen Partner - in diesem Fall dem wichtigsten, nämlich Frankreich - geht und was mit ihm nicht geht. Es gab, wie Sie wissen, eine wirkliche Störung im deutsch-französischen Verhältnis. ({5}) - Ich werde Ihnen sagen, wodurch sie ausgelöst worden war. ({6}) - Schreien Sie doch nicht dazwischen. Hier geht es wirklich um ein sehr ernstes Thema. - Sie war dadurch ausgelöst worden, daß unsere französischen Partner nicht verstanden haben, warum wir das Thema Kofinanzierung auf der Tagesordnung der Agendaverhandlungen gelassen haben, obwohl Frankreich ganz klar gesagt hatte: Wir machen das unter keinen Umständen mit. Ich muß Ihnen wirklich sagen: Das war der späteste Zeitpunkt, das Thema fallenzulassen. Frankreich hat selbstverständlich erwartet, daß der engste Partner in dem Augenblick, in dem er weiß, daß Frankreich etwas als eine Zumutung betrachtet, die es nicht akzeptieren wird, dieses Thema nicht weiter verfolgt. Wenn wir Ihrem Rat gefolgt wären, wäre das deutschfranzösische Verhältnis jetzt in Trümmern. Das müssen Sie ganz deutlich sehen. Das konnte man nicht riskieren. ({7}) Wenn Sie also Kritik üben wollen, daß ein ganz bestimmtes Instrument nicht angewandt werden kann, melden Sie diese Kritik bitte in Paris bei Herrn Präsident Chirac an, der ja seine Gründe hat, warum er das nicht wollte. Bei den anderen Punkten ist es genauso. Sie tun geradezu so, als lägen hier die Elemente auf dem Tisch, und Deutschland bräuchte nur noch zuzugreifen: Wir nehmen dieses Element, wir nehmen jenes Element; dann setzen wir das zusammen, und alle anderen haben dann gefälligst zu parieren - als ginge es in Europa immer nur nach der Mütze eines einzigen Landes! Sie müssen eine Lösung finden, der 15 Staaten zustimmen können, nicht nur einer. All diese wunderschönen Elemente - wir kennen sie und hatten sie immer im Blick - haben leider einen schwerwiegenden Nachteil: Über kein einziges dieser Instrumente konnte mit allen 15 EU-Staaten eine Einigung erreicht werden. Was macht man in einem solchen Fall, angesichts einer Lage, die wir in Europa noch nie hatten: eine zurückgetretene EU-Kommission, ({8}) eine Kosovo-Krise auf dem Höhepunkt ({9}) und das schwierigste und umfangreichste Finanzpaket in der Geschichte der Europäischen Union auf der Tagesordnung? Gemäß Ihrem Rat hätten wir den Gipfel nach einigen Stunden abbrechen und sagen sollen: Leider können die deutschen Vorstellungen hier nicht durchgesetzt werden, lassen wir es also sein! ({10}) Herr Hintze, das ist doch eine lächerliche Vorstellung. ({11}) In einer solchen Situation steht man immer vor der Frage: Ist es dieses eine Element wert, daß in Europa ein völlig falsches Signal gesetzt wird, daß der Einigungsprozeß zum Stehen kommt, daß vielleicht sogar ein Rückschritt erfolgt? Sie würden dann genau wie ich immer sagen: Nein, der Prozeß der europäischen Einigung ist wichtiger als ein einzelnes Element. So haben wir uns verhalten; das war auch richtig so. Ich will Ihnen noch etwas sagen: Eine Reihe von Außenministern und Regierungschefs in Europa haben im vergangenen Jahr, vor der Bundestagswahl, wissen lassen, warum sie wollen, daß die Agenda 2000 unter deutscher Präsidentschaft behandelt wird. Die Agenda war alt genug; man hätte sie bereits im vergangenen Jahr abschließen können. Es war aber gewollt, daß dies unter deutscher Präsidentschaft geschieht. Was glauben Sie, warum? Dafür gibt es einen sehr einfachen Grund; darauf kann jeder leicht kommen. Der Grund war der Gedanke, daß Deutschland im Rahmen seiner Präsidentschaft in dem Zwang, einen Kompromiß anzubieten, am Ende auch bereit sein würde, diesen Kompromiß zu bezahlen. Darum war es notwendig, zu Beginn der Präsidentschaft deutlich zu machen, daß es für uns eine Grenze gibt. Diese Grenze wurde klar beschrieben: Neben der Stabilisierung und der Beachtung der Haushaltsdisziplin mußte erreicht werden, daß bezüglich der Lastenverteilung innerhalb der EU Gerechtigkeit eintritt. Was ist in dieser Hinsicht gelungen? Italien konnte durch die Umstellung der Mehrwertsteuer-Eigenmittel auf Bruttosozialprodukt-Eigenmittel 50 Prozent abgenommen werden, wenn auch in einer etwas verklausulierten Form. ({12}) - Es war eine diplomatische Veranstaltung. Sie müssen schon erlauben, daß man Formulierungen wählt, die es einem befreundeten Regierungschef erlauben, damit in seinem Land vor das Parlament zu treten. Zur Frage des Rabatts für Großbritannien hat der Bundeskanzler gesagt, daß Modifikationen vereinbart wurden. Das heißt auf deutsch: Der Rabatt wird anders aufgebracht und nach anderen Maßstäben berechnet, und zwar nicht zugunsten Großbritanniens, sondern zu unseren Gunsten. Das ist ein Einstieg in die Veränderung dieses Systems; dies hat es bisher nicht gegeben. - Herr Hintze, das ist eine ganze Menge, viel mehr, als man erwarten konnte, auf diesem Gipfel zu erreichen. Wenn ich unter all das einen Strich ziehe, dann komme ich zu dem Ergebnis: ({13}) Dieser Gipfel ist, verglichen mit vielen anderen in den zurückliegenden Jahren, der wahrscheinlich erfolgreichste Gipfel in der Geschichte deutscher EU-Präsidentschaften gewesen. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister Verheugen, nach einem solchen Gipfel leidet man offensichtlich ein wenig an Wahrnehmungsstörungen. Man erkennt nicht, wie die Wirklichkeit aussieht. ({0}) Ich habe mir schon lange Zeit, in den letzten Monaten im Ausschuß und auch heute, da wir die Ergebnisse dieses Gipfels diskutieren, immer wieder die Frage gestellt: Warum ist das Ergebnis so schlecht, so katastrophal? ({1}) Herr Staatsminister Verheugen, Sie haben mit Ihrer Rede gerade ein Beispiel für Arroganz, Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit in bezug auf das Auftreten der Regierung zu Hause und im Ausland gegeben. ({2}) Wenn ich an Herrn Trittin denke, dann möchte ich hinzufügen, daß das Auftreten der Regierung ein Beispiel für Unverschämtheit war. Im Stil, wie Sie Politik betreiben, liegen die Ursachen und die wahren Gründe, für das vorliegende Ergebnis. Diplomatie ist das nicht. Minister Fischer würde sagen: Avanti, dilettanti! ({3}) Ich habe eine Redezeit von nur wenigen Minuten. ({4}) Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Was mir bei dieser Zahlenspielerei von heute gefehlt hat, ist die Gestaltungsidee. Unser Fraktionsvorsitzender hat danach gefragt. Sie reduzieren Europa auf Prämien. Sie machen aus Europa einen Kuhhandel. Sie haben keine Idee zur Gestaltung Europas. ({5}) Ich komme zu einem weiteren Aspekt. Diese Reform hat verheerende Auswirkungen auf die deutsche Landwirtschaft. Gerhard Schröder und Minister Funke haben die deutschen Bauern betrogen. ({6}) Sie ruinieren das Land. Dies ist ein Generalangriff auf die deutsche Landwirtschaft und auf den ländlichen Raum. ({7}) Die Ergebnisse dieser Reform möchte ich Ihnen verdeutlichen. Es ist der pure Zynismus! Wissen Sie überhaupt, was 1 Doppelzentner Weizen heute noch kostet? Ganze 14 DM. ({8}) Angesichts dessen stellt sich Staatssekretär Thalheim hierher und sagt: Es ist ein großer Erfolg, wenn wir diese 14 DM für 1 Doppelzentner Weizen - das ist ein geringerer Preis als der, den man heute für Müll bezahlen muß - noch einmal um 20 Prozent reduzieren. - Das ist die Perspektive, die Sie unseren Bauern eröffnen. Deshalb sagen wir zum Agrarteil der Agenda 2000 ganz klar nein. ({9}) Ich komme zu meinem letzten Gedanken. Sie sprechen immer wieder von der Kofinanzierung. Minister Fischer sagte: Das ist eine Kriegserklärung an Frankreich. Ich sehe Theo Waigel hier sitzen. Was waren die Milchquote und die Kofinanzierung für historische Themen! All dies konnten Sie nicht durchsetzen, weil das in Frankreich, wie Sie sagten, historische Themen von national-dramatischem Rang sind. Ich frage Sie: Warum hat Theo Waigel es geschafft, ({10}) den europäischen Stabilitätspakt durchzusetzen und die Einführung des Euro zu verwirklichen, die Europäische Zentralbank nach Frankfurt zu holen und Wim Duisenberg zum Präsidenten zu machen? Weil er besser verhandelt hat und weil wir eine bessere Regierung hatten. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich komme zu dem ernsteren Thema zurück. Wir haben hier gestern und heute Worte leidenschaftlicher Empörung und der Anklage von Herrn Gysi für seine Fraktion ({0}) und von meinem Freund Ströbele für einige unserer Fraktionskolleginnen gehört. Wir haben aber auch eine Rhetorik gehört, die manche Zusammenhänge auf den Kopf gestellt hat. Ich glaube, niemand hier in diesem Hause ist sich nicht der Tragweite bewußt, die die erste deutsche Beteiligung an Kampfeinsätzen der NATO hat. Wir haben den Rubikon überschritten. Auch ich habe meine Hand bei der Zustimmung zu diesem Einsatz gehoben. Deshalb darf ich darauf hinweisen, was mich am Morgen des 24. März dieses Jahres - wissend, daß die Flugzeuge und die Raketen geflogen waren - bewegt hat: Ich habe - Historiker, der ich nun einmal bin - an den August 1914 gedacht, an patriotisch begeisterte Menschen, die ihre soldatischen Angehörigen zu den Zügen an die Front begleiteten, an eine patriotische Begeisterung, die später in den Schützengräben von Verdun erstarb. Ich denke, jeder hier hat Remarque gelesen, und jeder teilt das Gelöbnis: Nie wieder Krieg! ({1}) Ich habe aber auch an den August 1939 gedacht, als Hitler eine Panzereinheit durch Berlin rollen ließ, um die Stimmung der Bevölkerung zu testen. Diese stand stumm und erschrocken am Straßenrand, so wie heute in Belgrad Menschen am Straßenrand stehen und nicht begreifen können, was da mit ihnen geschieht. Und sie wurden doch - ich spreche jetzt von der Berliner Bevölkerung - in die Verbrechen verwickelt, die Namen tragen wie Auschwitz, Treblinka, aber auch Oradour, Lidice, Marzobotto und Kragujevac - eben jenes Kragujevac in jenem Serbien, dessen Bevölkerung jetzt von dem Regime Milosevic in seine Verbrechen verwickelt wird. Deshalb muß man den nach Europa zurückgekehrten ethnischen Mord auch so benennen. ({2}) Herr Kollege Gysi hat uns gestern den Vorwurf gemacht, daß wir vieles ausblenden, aber er selber hat auch Namen wie Omarska, wie Srebrenica, wie Racak ausgeblendet. Man darf auch nicht die Reihe der gebrochenen Verträge ausblenden. Es handelt sich allein um 17 oder 18 Waffenstillstandsverträge, mit denen die internationale Gemeinschaft in Bosnien das Morden zu stoppen versuchte. Auf das Kosovo bezogen: Man darf nicht vergessen, daß die Jelzin/Milosevic-Vereinbarung schon nach einer Woche gebrochen wurde. Man darf nicht verschweigen, daß das Holbrooke/MilosevicAbkommen vom Oktober nach kurzer Zeit ebenfalls gebrochen wurde, und man darf nicht diesen letzten europäischen Versuch einer politischen Lösung vergessen, die mit den Stichworten Rambouillet und Paris bezeichnet wird. Man darf auch nicht das kühle Kalkül eines Regimes vergessen, mit dem das Ende der Pariser Gespräche als Beginn eines erneuten Angriffs auf die Kosovo-albanische Bevölkerung angesetzt wurde. Dieses Regime hat natürlich mit dem russisch-amerikanischen Gipfel in der folgenden Woche und mit dem europäischen Gipfel kalkuliert, weil man meinte, eine Woche Zeit zu haben, in der man dann die Situation zu „bereinigen“ dachte. ({3}) Wenn der Kollege Gysi gestern - das hat er heute wieder getan - die Zerstörung einer mühsam errichteten Weltfriedensordnung beklagt, möchte ich ihm entgegnen: Ja, auch wir beklagen das. Aber es gilt doch: Mord zerstört jede Friedensordnung, ob im kleinen oder im großen. Massenmord beschädigt jeden Versuch einer Weltfriedensordnung. Wir stimmen mit dem Kollegin Gysi darin überein, daß wir nicht die Rolle eines Weltpolizisten, weder für uns noch für die NATO, anstreben. Aber sollte man, wenn man das Morden überall in der Welt nicht verhindern kann, es nicht dort zu verhindern versuchen, wo man es kann, nämlich in der Mitte Europas? ({4}) Ich habe sehr genau zugehört, als der Kollege Gysi, der ja ein vorzüglicher Jurist ist, ({5}) auf internationale Rechtsexperten Bezug genommen hat, und mir ist klar geworden: Diese Definitionen erfolgten immer auf der Grundlage zwischenstaatlichen Rechts. Was aber geschieht bei innerstaatlichen „ethnischen Säuberungen“? ({6}) Das Regime begeht ja Morde am ethnisch andersartigen, aber staatsrechtlich eigenen Volk. Das ist das Problem. Ich möchte den Kollegen Gysi gern fragen, ob er denn glaubt, daß eine wirkliche Weltfriedensordnung, die wir ja alle erst entwickeln müssen, innerstaatlichen Völkermord übersehen kann. Ich glaube, sie kann es nicht, meine Freunde glauben es auch nicht. Deshalb trägt die Mehrheit meiner Fraktion diesen Einsatz mit, auch wenn wir beschimpft werden mit den Worten, daß das ein erstmaliger deutscher Kriegseinsatz sei. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist richtig, daß wir im Zusammenhang mit Europa auch über das Kosovo reden. Denn was wir in Europa, zunächst in seinem westlichen Teil, als ein einzigartiges Modell an Zivilisation und Friedenssicherung durch Integration zu schätzen gelernt haben, ist ja Ergebnis schwerer Prüfungen. Manches für die Zukunft erwächst offenbar nur aus solchen schweren Prüfungen. Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß wir den Idealen der europäischen Aufklärung, des europäischen Humanismus ins Gesicht schlagen würden, wenn wir nach der Methode verfahren würden, die uns gestern anempfohlen wurde. Diese Methode lautet: Wenn zehn Menschen zu ertrinken drohen und ich nur einen retten kann, lasse ich es lieber ganz bleiben; dann sind jedenfalls alle gleichbehandelt. - Diese zynische Argumentation nimmt nicht zur Kenntnis, daß man einerseits für Menschenrechte, für Freiheit und für Demokratie mit einem durchaus weltweiten, nämlich universellen Anspruch eintritt und andererseits weiß, welche begrenzten Handlungsmöglichkeiten man hat, gerade militärisch. Wer aus diesem Dilemma den Schluß zieht, seine Verantwortung überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, seine Handlungsmöglichkeiten überhaupt nicht mehr einzusetzen, der handelt, Herr Kollege Gysi, in meinen Augen völlig verantwortungslos. ({0}) Ich weiß nicht, wie es anderen Mitgliedern in diesem Hause geht, aber ich erinnere mich sehr gut an Erfahrungen, die im Jahre 1968 begonnen haben. Das ist übrigens ein Umstand, den Sie gestern wohlweislich verschwiegen haben: diese eigenartige Form des sozialistischen Internationalismus, die es da gegeben hat. ({1}) Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen: Wenn man sich an das Gefühl der Ohnmacht bei der Besetzung der Tschechoslowakei, an das Gefühl der Ohnmacht bei der Unterdrückung der Charta 77, an das Gefühl der Ohnmacht bei der Verhängung des Kriegsrechtes in Polen erinnert und das mit seinen ganz persönlichen Erinnerungen verknüpft - ich jedenfalls tue das -, muß man sagen: Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist für meine Begriffe das Gefühl des Skrupels und der Besorgnis angesichts der Handlungszwänge, in denen wir stehen, wesentlich besser zu tragen als dieses Gefühl der völlig hilflosen und wirklich verfluchten Ohnmacht, den Menschen nicht helfen zu können, denen die ganze Sympathie und die ganze politische Unterstützung galt. Daß wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in Europa in der Lage sind, unsere Werte und unsere Ideale nicht nur zu reklamieren, sondern mehr für sie zu tun als in den Zeiten davor, finde ich, ist auch ein Teil der Verantwortung, die mit dem Kosovo verbunden ist. Deshalb sage ich, daß angesichts der Realitäten, die sich dort entwickelt haben, angesichts des monatelangen Bemühens um eine politisch vereinbarte Verhandlungslösung und angesichts der grauenhaften Umstände, die dort mittlerweile herrschen, auch das problembeladene Tun immer noch besser ist als jedes Nichtstun. Dieses Nichtstun, daß ist der Winkel, in den sich nur die Menschen zurückziehen können, die am Ende aus ihrem Gefühl für Menschen keine praktischen Konsequenzen mehr zu ziehen bereit sind. ({2}) Da droht das humane Ideal zur Phrase zu verkommen. Die jugoslawische Armee hat im Kosovo - entgegen allen internationalen Vereinbarungen - mittlerweile 40 000 Soldaten zusammengezogen. Sie hat über 300 Panzer, über 700 Gefechtsfahrzeuge und über 700 Artilleriegeschütze im Kosovo zusammengezogen. Warum? ({3}) Wenn es wirklich darum ginge, im Kosovo Terrorismus zu bekämpfen - wie das reklamiert wird -, wenn es wirklich darum ginge, nur die staatliche Integrität Jugoslawiens zu sichern, dann hätte die Regierung Milosevic in allen europäischen Staaten einen Partner. Es geht ihr aber um etwas anderes. ({4}) Sollten wir das alles - die großserbische Obsession, die gegen Slowenien, in der Krajina und in BosnienHerzegowina vorging, die immer wieder Menschen das Leben gekostet hat und unschuldige, nur nach Unabhängigkeit oder wenigstens Autonomie strebende Bevölkerungsgruppen mit Mord und mit Krieg überzogen hat vergessen? Sollen wir wirklich alle diese Erfahrungen vergessen? Sollen wir die hilflose Situation der Soldaten, die im Auftrag der Vereinten Nationen vor Ort waren, angekettet waren und am Ende bei dem Massaker in Srebrenica zuschauen mußten, vergessen? Sollen wir das alles vergessen? Wir müssen heute mit einem Völkerrecht umgehen, das ich nicht gering schätzen will. Ich weiß, welchen Mißverständnissen man sich aussetzt, wenn man das in diesem Zusammenhang diskutiert. Diesen Punkt habe ich schon am 16. Oktober des letzten Jahres im Deutschen Bundestag einmal angeschnitten. Aber ist es wirklich zu rechtfertigen, an den Weltsicherheitsrat gebunden zu sein, wenn sich dort drei von fünfzehn Nationen - Rußland, China und Namibia - gegen das Vorgehen der NATO und der westlichen Staatengemeinschaft ausgesprochen haben und von den zwölf anderen zwei mindestens Verständnis und die übrigen Unterstützung bekundet haben? Können wir es uns auf Dauer leisten, daß die Weltgemeinschaft mit dem aus der Rolle der Atommächte begründeten Vetorecht lebt und daß damit die Durchsetzung von Recht aus Gründen, wie sie zum Beispiel die Volksrepublik China hatte, verhindert wird - die Souveränität Mazedoniens und seine Politik mißachtend, das UNPREDEP-Mandat beendend, den Staat einem großen Risiko aussetzend usw.? Ist es zu rechtfertigen, daß eine solch große Macht wie China wegen ihrer Belange - oder was sie dafür hält - in Tibet glaubt, sie müsse auf der ganzen Welt ethnisch begründeten Völkermord einfach deshalb akzeptieren, weil er in innerstaatlichen Grenzen stattfindet? Was im Kosovo geschieht, ist eine Prüfung. Zunächst ist es für die Menschen eine fürchterliche, eine schreckliche, eine unmenschliche Prüfung. Es ist aber auch eine Prüfung für uns, für unser politisches Gewissen, für unsere Fähigkeit, aus beanspruchter Moral praktische Konsequenzen zu ziehen, und auch für unsere Fähigkeit, die Grenzen militärischer Handlungsmöglichkeiten sehr genau zu kennen. Es wäre auch gegenüber den eingesetzten Soldaten ganz und gar unverantwortlich, zu glauben, daß Frieden schon aus der Beendigung von Mord und Gewalt entstünde. Das ist der erste Schritt auf einem langen Weg. Europa hat aber neben dem, was wir alle gemeinsam tun, um das Morden zu beenden, noch eine andere Verpflichtung, nämlich die ökonomischen, die sozialen und die kulturellen Grundlagen für einen Friedensprozeß auf dem Balkan zu schaffen - genau so, wie wir es im Westen Europas nach den verheerenden Erfahrungen von Faschismus und Zweitem Weltkrieg begonnen haben. ({5}) Ich füge hinzu: Man muß in der Geschichte Deutschlands schon sehr weit zurückdenken, um einen Punkt zu finden, an dem Deutschland in den Jahrhunderten vor dem Entstehen der Bundesrepublik einmal in Einklang mit der westlichen Zivilisation und in Einklang mit den humanistischen und demokratischen Idealen gehandelt hätte. Das tun wir seit 1949, seit der Verabschiedung des Grundgesetzes, das bald 50 Jahre alt sein wird. Was für einen Sinn sollte es machen, diese freiheitliche Verfassung als stabiles Fundament von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu preisen, wenn wir den Anspruch aus dem ersten Artikel des Grundgesetzes, die Würde des Menschen zu schützen, auf uns selbst - und hier bei uns möglicherweise auf die Inhaber eines deutschen Passes - beschränken wollten? Das war nicht das Ideal der Mütter und Väter unserer Verfassung. Deshalb sage ich: Es darf unbeschadet aller militärischer Maßnahmen und der notwendigen Diskussion über die damit zusammenhängenden Einzelheiten sowie der Skrupel, die hoffentlich immer mit militärischen Maßnahmen verbunden sind, auch kein Zweifel daran bestehen, daß wir aus unseren eigenen Erfahrungen Konsequenzen ziehen, zwar mit Standfestigkeit und mit Klarheit, und uns nicht von dem Weg abbringen lassen, der für Deutschland in Europa Aussöhnung, Freundschaft, Frieden und Wohlstand gebracht hat. Wenn man das alles genießen will, dann hat man auch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten wenigstens denen in der unmittelbaren Nachbarschaft zu helfen, wenn man es schon weltweit nicht kann. ({6}) Lassen Sie mich zum Abschluß noch etwas zu den Detaildiskussionen der letzten Tage sagen, die mich erstaunt haben. Die Menschen, die jetzt als Soldaten im Kosovo eingesetzt werden, brauchen zweierlei: Sie brauchen eine eigene innere Überzeugung, um dem, was sie dort tun, Sinn zu geben. Das ist Gott sei Dank so. Es ist ein großes Glück für die Bundesrepublik Deutschland, daß sie zum erstenmal eine Armee hat, die demokratisch und gesellschaftlich fest verankert ist. ({7}) Aber unsere Soldaten und ihre Familien brauchen noch etwas anderes, nämlich Rückhalt im Parlament und in der Öffentlichkeit. Dieser Rückhalt könnte durch Debatten geschmälert werden, die dafür nicht gut sind, die allenfalls gut für die eine oder andere Schlagzeile oder die eine oder andere kurzatmige Nachricht sind. Ich muß den Kollegen von der CDU/CSU sagen: Ich war erschrocken, als mein Vorgänger ({8}) am vergangenen Freitag ein Interview gab, ({9}) das am darauffolgenden Samstag, Herr Kollege Breuer, erschien, genau an dem Tag, als der Abzug der OSZEBeobachter aus dem Kosovo begann - der Abzug wurde wegen der Gefahren notwendig; die Menschen schwebten in einer immer größer werdenden Gefahr; sie wurden beispielsweise beschossen -, und darin über den Abzug der Soldaten redete, die zum Schutz der OSZEBeobachter dort sind ({10}) - ich beziehe mich auf das Interview in den „Lübecker Nachrichten“; ich habe es bei mir -, also zu einem Zeitpunkt, als der Abzug der Beobachter noch nicht einmal begonnen hatte, geschweige denn abgeschlossen war. ({11}) Das kann man nicht machen. Das ist nicht verantwortbar. ({12}) Wir müssen auch keine Diskussionen über Themen führen, die wirklich keine Themen sind. Wenn jemand beginnt, Befürchtungen auszuräumen, die er selbst in die Welt gesetzt hat, dann ist das sein höchst privates Anliegen. Das soll er dann auch tun. Aber die Wirkung solcher geäußerten Befürchtungen auf die Öffentlichkeit und auf die eingesetzten Soldaten und ihre Familien sollten doch vorher sorgfältig bedacht werden. Ich habe in diesem Hause einige Male dafür geworben, daß es einen außen- und sicherheitspolitischen Konsens in Deutschland gibt. Ich halte ihn aus vielen Gründen für wertvoll. Er bewährt sich unter anderem in der jetzigen Situation. Für Deutschland ist dies eine Prüfung und zugleich mit Blick auf seine Geschichte eine gute Erfahrung, daß es sich zum erstenmal in einer so schwierigen Situation in völliger Übereinstimmung mit Europa und mit den westlichen Demokratien befindet. Es sollte uns allen bewußt bleiben: Wenn diese schwierige Zeit vorbei ist - hoffentlich bald; es liegt an Milosevic -, dann müssen Voraussetzungen für eine andere Zeit geschaffen werden, die den Menschen eine größere Hoffnung vermittelt und die anknüpft an die Erfahrungen, die wir in den letzten Jahrzehnten Gott sei Dank sammeln konnten. Vielen Dank. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Gregor Gysi das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Bundesverteidigungsminister, Sie haben mich unter anderem dafür kritisiert, daß ich gestern nicht auf den Einmarsch in die CSSR und auch nicht auf das Kriegsrecht in Polen eingegangen bin. Es gab für mich zumindest gestern dafür auch keinen Grund. Aber ich will das gerne tun. Der Einmarsch der damaligen Sowjetunion und der anderen Länder des Warschauer Pakts mit Ausnahme von Rumänien in die CSSR war ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Er war nach meiner tiefsten Überzeugung übrigens auch völlig antisozialistisch und deshalb scharf zu verurteilen. ({0}) - Ich will Ihnen das gerne erläutern: Ich war damals Student an der Humboldt-Universität und habe wegen meiner Äußerungen zu diesem Einmarsch mein einziges Parteiverfahren bekommen. Interessant an der Begründung der Strafe war, daß es hieß, ich stellte das formale Völkerrecht über die notwendige Sicherung der sozialistischen Errungenschaften in der CSSR. Aus dieser Erfahrung heraus - das ist mir danach noch ganz häufig in der DDR begegnet - bin ich gegen das Argument besonders empfindlich, in Situationen, in denen es um andere Zwecke geht, Recht als formal zu bezeichnen. Als Sie die Beispiele CSSR und Polen nannten, hätten Sie auch noch auf Afghanistan hinweisen können, wo der Einmarsch der Sowjetunion genauso völkerrechtswidrig und indiskutabel war und Folgen gezeitigt hat, mit denen wir noch heute in Afghanistan zu tun haben. Sie haben gesagt, Sie hätten darunter gelitten, daß der Westen damals ohnmächtig war und nicht helfen konnte. Meine Kritik ist - lassen Sie mich das deutlich sagen, denn es geht mir nahe -: Das Gegenteil von Ohnmacht, Herr Bundesverteidigungsminister, können doch nicht Bomben sein. Morden beendet man doch nicht, indem man selbst mit Bomben völlig ungezielt tötet. Ich empfinde also die Antwort als falsch, nicht die Analyse der Situation. Bei ihr mag es auch gewisse Differenzen geben, die aber nicht sehr dramatisch sind. Ich sehe bei Ihnen keine politische Lösung. Das kritisiere ich, und darum streite ich. Sie haben gesagt, daß im Weltsicherheitsrat nur drei Länder, nämlich China, Rußland und Namibia, dagegen gestimmt hätten, und hinzugefügt, es könne nicht angehen, daß diese drei Länder eine bestimmte Entscheidung verhinderten, auch wenn das Völkerrecht - das Vetorecht von Rußland und China - dies ausdrücklich erlaubt. Sie wissen ganz genau, daß es Hunderte von Beschlüssen im Sicherheitsrat gegeben hat, die mehrheitsfähig waren und daran gescheitert sind, daß die USA von ihrem Vetorecht Gebrauch gemacht haben. Aus verschiedensten Gründen ist das nun einmal so in der UN-Charta festgelegt worden. Wenn man das überwinden und demokratischer gestalten will, wenn man dadurch auch zu einer anderen Friedensordnung kommen will, dann ist dagegen nichts zu sagen. Nur, wir haben es nicht wirklich überwunden, wir haben keine neue Friedensordnung. Wir schaffen die alte Ordnung ab und setzen keine neue Ordnung an die Stelle, sondern nur das Recht der militärischen Macht und des Geldes. Das werden sich noch ganz andere in ganz anderen Situationen herausnehmen. Davor wird man doch wenigstens warnen dürfen. Darum ging es mir, weil ich glaube, daß hinterher diese Welt eine andere sein wird, als sie es vorher war. Ich glaube nicht an den Krieg als Mittel der Politik. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Paul Breuer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ohne jeden Zweifel und ohne jeden Vorbehalt können wir dem Sinn dessen, was Bundesverteidigungsminister Scharping gesagt hat, zustimmen. ({0}) Sie wissen, Herr Minister, daß Sie der Zustimmung der übergroßen Mehrheit des Deutschen Bundestages einschließlich der gesamten CDU/CSU-Fraktion sicher sein können. Das ist wichtig für Sie, für die Soldaten der Bundeswehr und für Deutschland. ({1}) Sie haben in Ihrer Rede zum Ausdruck gebracht, daß man in einer solchen Situation ein hohes Maß an Solidarität benötigt. Dem stimme ich zu. Ich stimme auch zu, daß man in einer öffentlichen Diskussion sehr genau abwägen muß, was man sagt. Aber wenn Sie die Solidarität, die Sie fordern und bekommen, so betonen, dann frage ich mich auch, warum es notwendig ist, den Kollegen Rühe hier in dieser Art und Weise anzusprechen. ({2}) - Der Kollege Rühe hat heute nachmittag eine Verpflichtung. Wenn ich auf Ihre Bänke schaue, dann stelle ich fest, daß es auch dort Kollegen gibt, die eine Verpflichtung haben. Versuchen wir doch, in einer vernünftigen Art und Weise miteinander zu sprechen! ({3}) Herr Minister, daß Sie heute so handeln können, wie Sie es tun, und daß eine Grundsolidarität, ein Grundkonsens vorhanden ist, verdanken Sie insbesondere dem Kollegen Volker Rühe. ({4}) Das möchte ich an dieser Stelle betonen. ({5}) Daß die Bundeswehr heute - ich sage das ohne Vorwurf trotz aller vorhandenen Schwierigkeiten die notwendige Struktur für einen solchen Einsatz aufweist und daß nicht nur in der Bundeswehr, sondern in unserer Bevölkerung das notwendige Bewußtsein für einen solchen Einsatz vorhanden ist, verdanken Sie insbesondere dem Kollegen Volker Rühe. Er hat in den vergangenen Jahren mit der CDU/CSU, mit der F.D.P. und mit Teilen der SPD in einer hohen Verantwortung diese Auseinandersetzung gegen zum Teil erhebliche Widerstände geführt. Diese Feststellung müssen wir heute treffen, wenn es um Solidarität geht. Lassen Sie mich eine zweite Feststellung machen. ({6}) Herr Minister Scharping, es kann nicht sein, daß unterhalb der Ebene einer grundsätzlichen Solidarität ein derartiger Konsensdruck erzeugt wird, daß eine freie öffentliche Äußerung nicht mehr möglich ist. ({7}) Volker Rühe hat aus der Sorge heraus gesprochen - ich teile diese Sorge -, daß deutsche Soldaten in etwas verwickelt werden können, was wir alle - auch Sie - nicht wollen. Ich weiß, daß Sie Ihrer Aufgabe mit hoher Verantwortung nachgehen. Wir sollten uns hier gegenseitig versichern, daß wir auch dann, wenn etwas schiefgeht und deutsche Soldaten zu Schaden kommen, dazu bereit sind, grundsätzliche Solidarität zu üben und nicht in etwas zu verfallen, was nicht nur unseren Soldaten, sondern uns alle in erheblicher Weise belasten könnte. Das ist das eigentlich Wichtige. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu Erwiderung Herr Bundesminister Scharping, bitte.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Kollege Breuer, damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich kann gut nachvollziehen, daß es andere Verpflichtungen gibt. Gestatten Sie mir - bei allem Respekt und bei aller Wertschätzung einer Grundsolidarität - eine offene Bemerkung: Wenn die Fülle der Interviews mit der Fülle der Abwesenheit stark korreliert, dann ist es etwas schwierig, noch miteinander zu reden. ({0}) Ansonsten geht es mir um einen einzigen Punkt, der mit Konsensdruck überhaupt nichts zu tun hat: Man sollte sehr vorsichtig damit umgehen, Fragen aufzuwerfen, in denen alle beteiligten Staaten - die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder die USA - einig sind. Auch die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright hat es gerade noch einmal öffentlich gesagt: Wir haben nicht die Absicht, über die vorhandenen Mandate hinauszugehen. Es wäre ganz gut, keine Befürchtung in die Welt zu setzen, um am Ende als derjenige auftreten zu können, der die Grenze gegen diese Befürchtung gezogen hat. Denn damit wird unterstellt - das macht, wohlgemerkt, nur in dieser Frage den Konsens etwas schwierig -, andere hätten möglicherweise die Absicht, die hinter dieser Befürchtung steht. Wie Sie vielleicht verstehen, lasse ich mir das nicht so gerne gefallen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Ich spreche jetzt für die Frauen - vor allen Dingen - und Männer meiner Fraktion, die sich schon in der letzten und auch in dieser Legislaturperiode immer konsequent gegen den Einsatz deutscher Soldaten out of area eingesetzt haben und dies auch bei ihrem Stimmverhalten hier im Hause gezeigt haben. Herr Bundesminister, auch ich bin geprägt von einer jahrelangen Ohnmacht. Ich kann Ihre Gefühle nachvollziehen. Meine Ohnmacht bestand darin, daß ich Jahre vor dem Fernseher saß und mit ansehen mußte, wie in Vietnam ein Krieg geführt wurde, der - ich will versuchen, das neutral zu formulieren ({0}) Hunderttausende von Menschen das Leben kostete, während wir hier in Europa saßen und daran nichts ändern konnten. Ich habe die Forderung der Friedensbewegung „Nie wieder Krieg!“ immer so verstanden - das will ich klarstellend zu dem sagen, was ich gestern geäußert habe und was zum Teil kritisiert worden ist -, daß ich mich mit meinem politischen Handeln, mit meinem ganzen politischen Engagement dafür einsetze, daß sich deutsche Soldaten an keinem Krieg mehr beteiligen. ({1}) Das ist meine Grundüberzeugung. Nun stelle ich fest, daß eine Regierung, die ich mit gewählt habe, mit dafür verantwortlich ist, daß deutsche Soldaten vorgestern abend und gestern abend - das werden Sie heute abend wahrscheinlich wieder tun - Bomben und Raketen auf Belgrad, auf Pristina, im Kosovo und in Montenegro - keiner weiß genau, wo; ich jedenfalls nicht - abgeworfen haben. Ich gebe Ihnen recht, sich danebenzustellen und zu sagen, ich tue nichts, ist das Schlechteste. Auch ich will etwas tun. Aber heißt das, daß man Bomben und Raketen wirft? ({2}) Ich will jetzt versuchen - das wollte ich gestern auch schon -, die Diskussion ohne viel Polemik zu führen. Etwas tun, was heißt das im Hinblick darauf, daß diese Zustände im Kosovo, die unerträglich sind, wirklich beendet werden - daß ich dies erreichen will, können Sie mir abnehmen; das nehme ich auch Ihnen ab; das nehme ich allen ab, die sich hierzu engagiert geäußert haben -, die Zustände, wie sie vor Wochen und Monaten und auch in der letzten Woche gewesen sind? Daß da etwas geschehen muß, darin sind wir uns ja einig. Die Frage aber ist das Wie. Ich und meine politischen Freunde und Freundinnen verstehen oder versuchen zu verstehen, daß Sie andere Schlußfolgerungen aus der deutschen Geschichte ziehen. Wir sagen: Wir wollen das nie wieder zulassen. Auch Sie sagen, daß Sie das nie wieder zulassen wollen. Das kann für Sie jedoch auch heißen, daß mit kriegerischen Mitteln, mit Bomben und Raketen und möglicherweise auch noch mit mehr eingegriffen wird. Dazu sage ich: Das ist kurzsichtig. Sehen Sie sich doch jetzt einmal die Situation im Kosovo an, und vergleichen Sie sie mit der Situation von vor einer Woche. Heute sind dort zehnmal mehr Menschen auf der Flucht. Es werden Menschen getötet, wahrscheinlich mehr, als bekannt wird. Vorhin wurde hier ein Beispiel genannt, das so grausam ist, daß ich es nicht glauben kann, obwohl es durchaus möglich ist. Durch einen solchen Krieg, dadurch, daß da jede Nacht Bomben und Raketen abgeworfen werden, daß Menschen umgebracht werden und Zerstörungen angerichtet werden, werden doch die Grausamkeit und der Haß gefördert. Es wird doch in den nächsten Tagen und Wochen noch mehr an Menschenrechtsverletzungen, an Tötungen, an Zerstörung angerichtet werden, wenn das so weitergeht. ({3}) Das heißt, Krieg ist doch gerade in dieser Situation ein ganz schlechtes und gefährliches Mittel, weil er die Situation der Menschen im Kosovo nicht verbessert, sondern erheblich verschlechtert. Es gibt dort auch keine Menschenrechtsorganisationen mehr. Es gibt keine OSZE-Beobachter mehr. Mit dem Abbruch der Verhandlungen, mit dem Rückzug der OSZE-Beobachter hat sich die Situation, die Hilflosigkeit der Menschen dramatisch verschlechtert. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. ({4}) Die Bundesregierung und die Parlamentsmehrheit konnten und mußten von Anfang an wissen: Wenn man sich in diese Logik des Krieges begibt, wird eine solche Situation eintreten und ist eine Eskalation nicht auszuschließen. Wir alle hoffen, daß sie nicht eintritt. Auch wir überlegen uns natürlich, was man machen kann. Von unserem Minister ist vorhin darauf hingewiesen worden: Wenn Milosevic und die Serben erklären, auch sie wollen die Autonomie hinnehmen, akzeptieren und garantieren, dann kann man sofort telefonieren und das Ganze abbrechen. Ich sage Ihnen aber - das kann man jeden Tag in der Zeitung lesen -: Die Sache scheitert doch für den Kosovo im Augenblick nicht an der Frage der Autonomie, wenigstens nicht verbal. Vielmehr gibt es keinen anderen Weg, als NATO-Truppen im Kosovo zu implantieren oder einrücken zu lassen und dort zu stationieren. Das ist doch das Entscheidende. Da frage ich mich: Mußte man sich den Forderungen der UCK und denen der USA so weit unterwerfen, daß man über andere Möglichkeiten wie etwa über die Stationierung einer Friedenstruppe unter UNO-Mandat überhaupt nicht mehr diskutiert hat? ({5}) Muß man sich auch heute noch so weit unterwerfen, daß man von Milosevic fordert: Wenn du die sofortige Implantierung von UNO-Truppen im Kosovo nicht sofort akzeptierst, dann bomben wir weiter? Heißt das wirklich, daß Sie sagen, die Entscheidung liegt allein bei Milosevic? Müssen er und die serbische Regierung sich in dieser Weise unterwerfen? Oder können wir nicht eine sofortige Beendigung des Bombardements, natürlich eine sofortige Beendigung der Gewalttätigkeiten der Serben im Kosovo, einen Wiederbeginn von Verhandlungen fordern mit dem Ziel, eine abgesicherte Autonomie für den Kosovo zu garantieren? Wir können doch nicht nur mit diesem Prestigedenken sagen: Es geht nicht anders als mit den Truppen der NATO. ({6}) Würde man diesen Vorschlag heute machen, hätten wir eine Chance, daß dieses Töten, daß der Krieg dort beendet werden könnte. Ich bitte Sie, ich fordere die Bundesregierung auf: Stellen Sie diesen Krieg und unsere deutsche Beteiligung ein! Beenden Sie das Ganze! Versuchen Sie, auf dem Verhandlungsweg weiterzukommen. Die Situation der Menschen im Kosovo würde sich dadurch sofort verbessern. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Gernot Erler das Wort.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Ströbele, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie heute im Deutschen Bundestag etwas leisere Töne angeschlagen haben als gestern. Wir wissen ja auch, daß Sie hier nicht die Mehrheitsmeinung Ihrer Fraktion vertreten. Aber Ihre Äußerungen können nicht ohne Hinterfragung im Raum stehenbleiben. Sie haben im Grunde genommen noch einmal behauptet, daß es eine Alternative dazu gegeben hätte, ({0}) in dem Augenblick etwas zu tun, wo mitten in Europa im Jahre 1999 ganze Dörfer und Landstriche durch die Anwendung von militärischer Gewalt gegen wehrlose Menschen entvölkert werden. ({1}) - Dazu gibt es keine andere Alternative, als etwas zu tun. Oder, Herr Kollege Ströbele, wollten Sie ernsthaft vorschlagen, daß wir in der Situation, als die Serben nein zum dem Ergebnis von Rambouillet gesagt haben was nicht der entscheidende Punkt war; vielmehr sind die Serbein parallel den Verhandlungen mit Panzern und Artillerie gegen die Dörfer im Kosovo verstärkt vorgegangen und haben damit den Krieg eröffnet - folgendes zu den Albanern sagen: Prima, ihr habt Rambouillet unterzeichnet, ihr ward sogar zur Entwaffnung der UCK bereit, aber es tut uns leid, dagegen, daß die Gewalt gegen eure Familien fortgesetzt wird, können wir nichts machen; wir sind bestenfalls bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen. Herr Ströbele, Sie können hier im Bundestag nicht ernsthaft die Meinung vertreten, das sei eine Alternative gewesen. ({2}) Jetzt noch etwas dazu, wie man da wieder herauskommt. Ich glaube, der Ernst dieser Diskussion hat gezeigt: Wir alle wollen die erstbeste Gelegenheit nutzen, um aus dieser Tragödie wieder herauszukommen. Aber Sie haben ja den Spieß umgedreht. Zuerst muß der Befehl von Milosevic kommen, die Kampfhandlungen im Kosovo einzustellen. ({3}) Zunächst muß er bereit sein zu verhandeln. Das ist er ja nicht. Auch Herr Draskovic, der Vizepräsident Jugoslawiens, hat heute morgen gesagt, die NATO solle mit den Luftangriffen aufhören; dann seien auch sie bereit aufzuhören. Das aber war die Situation bei den Verhandlungen von Rambouillet. Da ist der Krieg begonnen worden. Nicht die NATO hat doch den Krieg begonnen, sondern die Truppen von Milosevic. Einen letzten Gedanken. Ich finde, am Ende einer solchen Debatte muß man auch Ihnen, Herr Ströbele, sagen: Wir haben großen Respekt vor dem serbischen Beitrag zur europäischen Kultur. Wir leben mit 500 000 Serben, die in der Bundesrepublik leben, gut zusammen. Von dieser Debatte sollte auch das Signal ausgehen: Wir wollen, daß die Serben so schnell wie möglich wieder in die europäische Integration einbiegen. Wir wollen sie hier in Europa haben. ({4}) Eine Voraussetzung dafür ist, daß dieser furchtbare Krieg, der von serbischer Seite und leider in serbischem Namen geführt wird, aufhört. Dieses Signal muß von dort kommen. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Herr Kollege Ströbele, bitte.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich freue mich, daß wir endlich zum Austausch von Argumenten kommen und nicht bei Polemik hängenbleiben. Herr Kollege, ich sehe das anders. Sie haben die Situation so geschildert, wie auch ich sie nie gewollt habe. Ich würde nie sagen: Lassen wir das alles! Nur, wir befinden uns im Augenblick im Krieg. Wenn man einen Krieg beenden will - das ist immer so gewesen und sollte auch jetzt so sein -, sollte man als erstes sagen: Wir lassen die Waffen auf beiden Seiten schweigen. Wir treffen eine Übereinkunft; ab dieser Stunde gibt es keinen Waffengang mehr. ({0}) - Schicken Sie ein Telegramm nach Belgrad mit dem Inhalt: Wir lassen die Waffen schweigen; ab heute wird nicht mehr bombardiert, ({1}) im Kosovo darf nicht mehr geschossen werden. Dann kann man sich an den Verhandlungstisch setzen. Sie haben völlig recht - ich will gar nicht polemisieren -: Die Albaner haben noch ein bißchen gewartet, bis sie den Vertrag unterschrieben haben. Aber entscheidend war, daß die Verhandlungen abgebrochen wurden und die NATO, die Vertreter der USA und der Bundesrepublik Deutschland gesagt haben: Jetzt gibt es Luftangriffe. Sie haben ja nicht gesagt: Wir müssen mal sehen, warten wir mal noch bis übermorgen!, sondern: Die Verhandlungen haben nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt - ihr habt nicht unterschrieben -, jetzt gibt es Luftangriffe. In dem Augenblick war der Krieg erklärt. Das ist eine Kriegserklärung, wenn man sagt: Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann unsere Flugzeuge aufsteigen können. Deshalb stimmt Ihre Argumentation einfach nicht. Sie hätten recht, wenn man hätte weiter verhandeln wollen, wenn man sich in dem einen oder anderen Punkt, zum Beispiel bei der Frage der Stationierung der Sicherungskräfte, flexibel gezeigt hätte und bereit gewesen wäre, noch das eine oder andere zu erörtern, und die Serben sich dennoch so verhalten hätten, wie es der Fall war. Aber so war es nicht. Die Verhandlungen wurden abgebrochen, und man hat gesagt: Jetzt wird bombardiert; es ist nur noch eine Frage der Zeit. ({2}) Daraufhin haben die Serben das gemacht, was ihnen heute auch der Minister vorwirft: Sie sind mit erheblichen zusätzlichen Kräften militärisch im Kosovo eingerückt. ({3}) Sie standen an der Grenze von Mazedonien der NATOMacht in fünf Kilometer Entfernung gegenüber und sagen heute: Wir müssen uns gegen diese NATO-Macht schützen, die übermorgen möglicherweise einmarschiert. Sie können doch nicht das eine vom anderen trennen. ({4}) - Nein. Deshalb nochmals mein Appell: Stellen Sie die Luftangriffe ein, setzen Sie sich in der NATO dafür ein, daß das auch die anderen tun, und beginnen Sie morgen wieder mit Verhandlungen! Jeder Tag Verhandlungen - selbst wenn er noch so mühselig ist - ist besser als das, was im Augenblick im Kosovo passiert. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf der Drucksache 14/675 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Finanzausschuß, den Haushaltsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf der Drucksache 14/669. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion bei einer Enthaltung aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Montag, den 19. April 1999, 12 Uhr ein. Diese Sitzung wird in Berlin durchgeführt. Die Sitzung ist geschlossen.