Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten HansJoachim Otto ({0}), Rainer Funke, Dr.
Klaus Kinkel, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform des Stiftungsrechts
({1})
- Drucksache 14/336 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Kultur und Medien ({2})
Innenausschuß
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei für die
Fraktion der F.D.P. sieben Minuten angesetzt sind. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.Fraktion hat Herr Kollege Otto.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit unserer Gesetzesinitiative wollen wir ein Signal für mehr bürgerschaftliches Engagement und für mehr Mäzenatentum setzen.
Wir wollen eine neue Stifterkultur in unserem Lande.
Schon aus Haushaltsgründen ist der Staat nicht in der
Lage, alle gesellschaftlichen Aufgaben zu finanzieren; er
soll es auch gar nicht. Die Vollkaskoversorgung ist Wesensmerkmal eines Obrigkeitsstaates, während sich die
freiheitliche Gesellschaft durch die Mitwirkung und
Mitverantwortung ihrer Bürger auszeichnet.
Damit nun keine Mißverständnisse aufkommen: Wir
wollen den Sozial- und Kulturstaat nicht aus seiner Förderpflicht entlassen, die ihm durch das Grundgesetz auferlegt ist. Stiftungen sollen, wie es Ralf Dahrendorf
formuliert hat, „Initiativlücken auffinden und schließen“.
Bereits heute geben die 8 000 deutschen Stiftungen
jährlich 35 Milliarden DM für ihre Satzungszwecke aus;
sie bieten rund 100 000 Arbeitsplätze. Aber im Verhältnis zu vielen anderen Ländern - an erster Stelle sind die
Vereinigten Staaten und die Schweiz zu nennen - haben
wir einen großen Nachholbedarf an Stiftungen. Die private Wohlstandsentwicklung in Deutschland gibt hierfür
Raum. Die Summe der Privatvermögen hierzulande
wird auf 5 200 Milliarden DM geschätzt; jährlich werden rund 250 Milliarden DM vererbt. Unser gemeinsames Ziel muß es sein, einen zunehmenden Anteil dieser
privaten Mittel für gemeinnützige Zwecke zu gewinnen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir denken dabei an Projekte im Bereich Kunst und Kultur, nicht zuletzt auch im
Bereich der auswärtigen Kulturförderung und des
Denkmalschutzes. Wir wollen privates Kapital aber auch
vermehrt für soziale Aufgaben, für Jugend- und Altenhilfe, für Bildungs- und Forschungseinrichtungen, für
Umweltprojekte sowie für den Breiten- und Spitzensport
erschließen. Dabei geht es uns nicht allein um die Erschließung von Finanzquellen, sondern auch um einen
höheren Stellenwert für das Ehrenamt.
({1})
Gemeinwohlorientiertes Handeln bedeutet für viele
Menschen Sinnstiftung. Bereits heute werden rund
90 Prozent aller Stiftungen in Deutschland von ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedern geführt. Im übrigen ist
es ein Irrglaube, daß Stiftungen nur etwas für Millionäre
seien. Erfreulicherweise findet in Deutschland beispielsweise die amerikanische Idee der Community
Foundation, also der Bürgerstiftung, immer größere
Verbreitung. In solchen Bürgerstiftungen kann sich eine
Vielzahl von Menschen für gemeinwohlorientierte Ziele
in ihrer Heimatregion einsetzen.
Stiftungen sind also keineswegs ein Relikt der Feudalzeit, wie ein SPD-Politiker vor vielen Jahren einmal
lästerte. Stiftungen gewinnen heute weltweit an Bedeutung.
Wichtigster Inhalt unseres Gesetzentwurfes ist es, die
steuerlichen Rahmenbedingungen für Stiftungen
spürbar zu verbessern. Insbesondere wollen wir die
Gleichbehandlung aller gemeinnützigen Zwecke im
Steuerrecht. Wir wollen ferner die Abzugsfähigkeit für
Zuwendungen an gemeinnützige Stiftungen von bisher
5 Prozent auf nunmehr 20 Prozent des jährlichen Einkommens erhöhen. Es ist kein Steuersparmodell, wenn
ein Stifter für jede Abgabenreduzierung um 50 Pfennig
eine volle Mark für das Gemeinwohl hinlegt.
({2})
Hierfür verdienen Stifter nicht Mißgunst und Neid, sondern öffentliche Anerkennung und Zuspruch.
({3})
Unser steuerliches Gesamtpaket fand bei unserer Anhörung am vergangenen Montag bei allen Experten einhellige Zustimmung.
Zur Belebung der Stiftungskultur wollen wir aber
auch das Errichten von Stiftungen erleichtern. Das bisherige Konzessionssystem, also das Erfordernis einer
staatlichen Genehmigung, stammt aus den Zeiten des
Obrigkeitsstaates und entspricht nicht mehr einem modernen Staatsverständnis. Wir schlagen statt dessen vor,
eine Stiftung bereits durch die notarielle Beurkundung
des Stiftungsgeschäfts entstehen zu lassen. Wir sind uns
dabei bewußt, daß dies ein mutiger Vorschlag ist, und
stellen uns einer unvoreingenommenen Diskussion.
Das gilt auch für die Frage, ob die Stiftungsaufsicht
weiterhin durch Landesbehörden erfolgen soll und ob
das Stiftungsregister zukünftig von den Gerichten geführt werden könnte.
Herr Kollege Otto,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von
Stetten?
Aber bitte.
Lieber Kollege Otto, teilen Sie mit mir zumindest die
rechtliche Beurteilung, daß das Stiftungsrecht - es besteht 100 Jahre - so schlecht nicht gewesen sein kann,
wenn es schon so lange besteht?
({0})
- Langsam, langsam. - Im Grunde genommen wurde
der Stifter auch beim Konzessionsmodell - sprich: bei
der Genehmigung der Stiftung - unter Umständen beraten. Beim Registermodell besteht die Gefahr, daß ein
Notar nicht über alle Aspekte einer Stiftung so gut beraten kann, wie das in Baden-Württemberg das Regierungspräsidium und in Bayern das entsprechende Ministerium, also gewichtige Behörden, tun.
Laufen wir nicht Gefahr, daß gerade kleine Stiftungen, die Sie ja fördern wollen, durch das Registermodell
leichtsinnig gemacht werden, da man die Folgen - man
ist nicht mehr Mitglied wie in einem Verein; vielmehr
gibt es nur noch Destinatäre - nicht kennt? Worin besteht der Vorteil des Registermodells gegenüber dem
Konzessionsmodell, abgesehen von der Beseitigung der
verstaubten Aspekte, die durch den von Ihnen eingebrachten Gesetzentwurf erreicht würden?
Lieber
Herr Kollege von Stetten, ich kann Ihnen zunächst bestätigen, daß es Stiftungen nicht erst seit 100, sondern
seit vielen Hunderten von Jahren gibt.
({0})
- 1 000, gut, Frau Vollmer. Uns sind Stiftungen bekannt,
die schon 1 000 Jahre bestehen. Das ist völlig richtig.
Das kann uns aber nicht davon abhalten, uns Reformüberlegungen auch trotz einer so langen Tradition
zu machen. Wir haben bei unserer Anhörung von vielen
vernommen, daß sich manche potentiellen Stifter davon
abhalten lassen zu stiften, weil sie die hohen bürokratischen Hürden, die es bedeutet, erst zum Finanzamt, dann
zur Stiftungsaufsicht, zum Regierungspräsidium usw. zu
gehen, fürchten. Wir wollen die Hürden für die Errichtung einer Stiftung möglichst niedrig ansetzen.
Wir freuen uns, lieber Herr Kollege von Stetten,
wenn Sie sich im weiteren Verlauf an der Diskussion
beteiligen werden. Ich will es noch einmal sagen: Unser
Gesetzentwurf ist ein Angebot, über das wir mit Ihnen
diskutieren wollen. Wir sind nicht vernagelt. Liberale
zeichnen sich dadurch aus, daß sie Diskussionen offen
führen.
({1})
Wichtig erscheint uns, daß auch in Zukunft Familienstiftungen und Unternehmensträgerstiftungen zulässig bleiben; sie haben sich - Herr von Stetten, darin
stimme ich Ihnen zu - in einer jahrhundertelangen
Rechtstradition bewährt.
Wir Liberalen sind uns bewußt, daß eine neue Stifterkultur in Deutschland nur dann eine Chance hat, wenn
die Reformdiskussion nicht im parteipolitischen Pulverdampf versinkt. Wir verstehen unseren Gesetzentwurf
daher als eine Initialzündung, als einen Appell an alle
zur Belebung des Stiftungsgedankens und zur Belebung
des privaten Mäzenatentums.
Herr Staatsminister Naumann - er ist leider nicht da;
man möge es ihm ausrichten -, verehrte Kolleginnen
und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen: Lassen Sie
Ihren Ankündigungen jetzt Taten folgen!
({2})
Hans-Joachim Otto ({3})
Lassen Sie uns über Fraktionsgrenzen hinweg eintreten
für eine Stärkung der Bürgergesellschaft, für eine Renaissance der Stiftungskultur in Deutschland.
Ich bedanke mich.
({4})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, Eckhart Pick.
Herr Präsident! Meine geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Das von der F.D.P.-Fraktion
vorgelegte Stiftungsreformgesetz benennt als Zweck, die
Rahmenbedingungen für Stiftungen zu verbessern, um
die Errichtung bzw. die Erweiterung von Stiftungen anzuregen. Ein solches Anliegen ist aus der Sicht der Bundesregierung vorbehaltlos zu unterstützen.
({0})
Jetzt kommt aber die Einschränkung.
({1})
Leider bietet der vorliegende Gesetzentwurf nur wenige
Ansatzpunkte, von denen tatsächlich Impulse für das
Stiftungswesen und die von ihm ausgehende Förderung
der Allgemeinheit ausgehen könnten.
({2})
Ich meine, daß der Vorschlag zur Änderung des BGB
- Herr Kollege von Stetten hat eben darauf hingewiesen
- schon im Ansatz nicht berücksichtigt, daß das geltende
Stiftungsrecht des BGB funktioniert und daß es die
Stiftungspraxis selbst immer wieder auf einen Nenner
gebracht hat. Das heißt nicht, daß wir uns nicht über
eine Fortentwicklung einer Handvoll Paragraphen im
BGB unterhalten könnten. Das geltende Stiftungsrecht
des BGB und vor allem die Verwaltungspraxis der Länder geben allerdings keinen unmittelbaren Anlaß für
tiefgreifende Änderungen.
({3})
Der Versuch der F.D.P.-Fraktion, sich in ihrer neuen
Oppositionsrolle bei der Suche nach öffentlichkeitswirksamen Themen als Förderer des Stiftungswesens darzustellen, ist zwar teilweise originell, aber nicht gerade
praxistauglich; auch was das Handwerkliche betrifft, haben wir einige Vorbehalte.
Im Mittelpunkt der Änderung des BGB-Stiftungsrechts steht der Vorschlag, vom Konzessionssystem abzugehen und statt dessen einer Stiftung schon
durch die Beurkundung des Stiftungsgeschäfts durch
einen Notar Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen. Tatsächlich bringt dieser Vorschlag wenig Neues. Aus unserer Sicht sind damit eher Nachteile bei der Stiftungsgründung verbunden. Bisher war es möglich, das Stiftungsgeschäft durch einen Gang zu tätigen, nämlich
durch den Gang zur Stiftungsbehörde, bei der zum Teil
ja auch kostenlos Service aus einer Hand erhältlich ist,
insbesondere was die Klärung der steuerrechtlichen Fragen anlangt.
Ihr Vorschlag, meine Damen und Herren von der
F.D.P., verlangt vom Stifter aber drei Gänge. Er muß erstens zum Notar, zweitens zum Finanzamt und schließlich auch zur Stiftungsaufsichtsbehörde. Der Vorschlag
läßt zudem viele Fragen ungeklärt, so daß Rechtsunsicherheit und Konfliktpotential für die Stiftungspraxis
voraussehbar sind.
Es ist sicherlich richtig, daß man über den einen oder
anderen Punkt des Gesetzentwurfs nachdenken kann. Ich
meine insbesondere den Vorschlag hinsichtlich der Aufstellung eines Jahresabschlusses. Es gibt durchaus einige
Gesichtspunkte, die dafür sprechen.
({4})
Man muß aber auch bedenken, daß es sich dabei nicht
nur um spezifisch stiftungsrechtliche Fragen handelt,
sondern daß wir sehr schnell auch zu Querschnittsproblemen kommen, nämlich solchen, die alle Vereine, die
gemeinnützig sind, betreffen. Hierüber muß man mit Sicherheit noch nachdenken. Die Förderung des Gedankens der Gemeinnützigkeit sollte nach unserer Auffassung jedenfalls immer im Vordergrund stehen.
({5})
In der Tat darf dieses Stiftungsrecht nicht ausschließlich - Herr Otto, ich greife den von Ihnen benutzten
Ausdruck auf - zu einer neuen Form von Steuersparmodellen führen.
({6})
Zu den steuerlichen Vorschlägen des Gesetzentwurfs
gäbe es eine ganze Menge zu sagen. Eigentlich betrifft
das Thema, so wie es jetzt angelegt ist, zu einem geringeren Teil materielles BGB-Stiftungsrecht, sondern in
erster Linie Fragen des steuerlichen Umgangs mit Stiftungen. Insofern ist der Finanzminister natürlich bei diesem Thema sehr aufmerksam, wie Sie sich denken können; denn die Vorschläge führen durch entsprechend erforderliche Änderungen des Einkommen-, Körperschaftund Gewerbesteuerrechts zu Einkommenseinbußen des
Staates und sind deshalb durchaus fragwürdig.
Ich nenne noch einen Punkt, der besonders die Länder betrifft. Wenn wir Einschränkungen beim Aufkommen aus der Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer machen, dann wissen wir: Das betrifft ausschließlich die
Bundesländer. Sie werden natürlich ein wachsames
Auge auf unsere Überlegungen haben.
Kollege Pick, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Vollmer?
Natürlich.
Hans-Joachim Otto ({0})
Herr Kollege Pick, darf ich Sie zum ersten darauf hinweisen, daß es in Ihrem eigenen Hause ein Gutachten
über diesen Entwurf gibt, in dem wird gesagt, es kommt
nicht - wie Sie eben gesagt haben - zu erheblichen
Steuereinnahmeminderungen, sondern faktisch nur zu
einer Verlagerung?
Darf ich Sie zum zweiten darauf hinweisen, daß man
das Ganze unter dem Gesichtspunkt Steuersparmodell
nicht diffamierend erwähnen darf, weil - wie hier von
dem Kollegen Otto schon gesagt worden ist - der Stifter
erheblich mehr für gemeinnützige Zwecke gibt, was ja
dem Gemeinwesen zugute kommt? Ich glaube, das war
ein bißchen zu kritisch ausgedrückt.
({0})
Frau Kollegin Vollmer, Sie
werden aus meinen Bemerkungen entnommen haben,
daß die Ausführungen der Bundesregierung mit den Ministerien abgestimmt sind.
({0})
- Das wollte ich auch ganz besonders betonen.
Insofern gibt es natürlich unterschiedliche Berechnungen, wie sich einzelne steuerrechtliche Vorschläge in
bezug auf das Stiftungsrecht auswirken. Hier gibt es sehr
verschiedene Berechnungen. Ich habe mir erlaubt, auf
diese hinzuweisen. Je nach Ausgestaltung der steuerlichen Vorschriften gibt es unterschiedliche Berechnungen. Die sollten wir in Ruhe und Gelassenheit vornehmen.
Kollege Pick, gestatten Sie weitere Zwischenfragen der Kollegen Braun
und Hauser?
Ja, bitte.
Herr Kollege Pick, der Duktus Ihrer Rede signalisiert, daß Sie
Ihren Mitarbeitern, die diese Rede gemacht haben, den
Auftrag erteilt haben, zu prüfen: Gibt es irgendwelche
Gründe, die ich mit Anstand vortragen kann, die gegen
das Projekt des Kollegen Otto sprechen? Sie sind doch
mit dem Motto angetreten: Neues wagen. Wäre es nicht
einfach einmal ein neuer Ansatz gewesen, den Prüfauftrag so zu formulieren: Gibt es nicht sehr triftige Gründe, weswegen ich das Projekt unterstützen könnte?
({0})
Herr Kollege Braun, die neue
Bundesregierung läßt sich bei der Prüfung, wo Fortschritt angesagt ist und wie man diesen Fortschritt begleitet, von niemandem übertreffen.
({0})
Wir werden auch die Diskussion um ein neues Stiftungsrecht - darauf können Sie sich verlassen - konstruktiv
begleiten. Dazu - Sie kennen unser Haus - sind wir immer bereit.
({1})
Kollege Hauser.
Herr Staatssekretär, könnten Sie mir gegebenenfalls zustimmen, daß
ein gewisses Maß an Steuerausfällen, wenn es zu diesen
käme - Kollegin Vollmer hat zu Recht darauf hingewiesen, daß es nicht einmal sicher ist, daß es zu diesen
kommt -, hinnehmbar wäre im Hinblick darauf, daß
Stiftungen als bürgerschaftliches Engagement erhebliche
Leistungen für diese Gesellschaft erbringen und der
Staat letztlich in der Bilanz einen Vorteil aus den Stiftungen hat?
({0})
Herr Kollege Hauser, ich habe
schon in meinen Bemerkungen angedeutet, daß die
Bundesregierung dies vorbehaltlos und objektiv prüfen
wird. Sie können gewiß sein, daß wir sehr sorgfältig abwägen werden, was die Vor- und Nachteile auch in
finanzieller Hinsicht sind. Im übrigen bleibt es bei der
grundsätzlichen Begrüßung des privaten Engagements
und auch eines Engagements, das sich in einer vermehrten und sinnvollen Stiftungspraxis ausdrückt.
Kollege Pick, eine
weitere Zwischenfrage des Kollegen Wilhelm Schmidt.
Herr Staatssekretär, ich möchte die gleiche Eingangsformulierung
verwenden: Können Sie mir zustimmen, daß die oberschlauen Fragesteller von F.D.P. und CDU/CSU 16 Jahre Gelegenheit gehabt hätten, dieses Gesetz zu machen,
wenn sie so intensiv daran interessiert sind?
({0})
Herr Kollege Schmidt, die
Vermutung spricht für eine Bejahung Ihrer Frage. Es
kommt aber gelegentlich vor - das ist nichts Neues -,
daß man auf einmal über Nacht klüger wird. Das sollte
man jedem zugestehen.
({0})
Der Nachfragebedarf
ist erheblich. Kollege Solms wünscht, eine Frage zu
stellen.
Herr Kollege
Pick, wie interpretieren Sie es, daß just in dem Moment,
in dem Sie von der großen Aufmerksamkeit des Bundesfinanzministers sprechen, die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Dr. Hendricks - sie ist im Moment beim
Vertreter des Bundesfinanzministers beschäftigt - den
Saal verlassen hat?
({0})
Ich glaube, Frau Staatssekretärin Hendricks ist in vollem Vertrauen auf die Übereinstimmung meiner Ausführungen mit der Auffassung ihres Hauses kurz aus dem Plenum gegangen. Dafür habe
ich Verständnis.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten
an Hand des Gesetzentwurfes der F.D.P. die Reform des
Stiftungsrechtes angehen; das ist sicher ein Anlaß. Wir
sollten in Ruhe und Gelassenheit auch in Form einer
Anhörung Kenntnisse und mehr Gewißheit über die
Themen erlangen. Ansonsten denken wir, daß die Vorschläge, wie sie im Moment vorliegen und wie sie ausgeführt sind, insbesondere was die steuerrechtlichen
Fragen anbetrifft, eine ganze Reihe von Fragen aufweisen. Deswegen wird die Bundesregierung - wie ich
schon sagte - die weiteren Bemühungen mit entsprechender Aufmerksamkeit und konstruktiv begleiten.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollegin Rita Süssmuth.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Elan ist nicht
mehr zu übertreffen: Es darf viel geredet werden; passieren darf aber nichts, vor allem nicht schnell.
({0})
Das paßt zum Stiftungsrecht überhaupt nicht.
Wir waren schon einmal weiter. Wir haben am
12. Februar des vergangenen Jahres im Rahmen der
Kulturdebatte über das Stiftungsrecht debattiert. Ich finde, Ihre ständigen Hinweise auf die 16 Jahre helfen uns
nicht weiter.
({1})
Wir waren uns einig, daß wir uns auf den Weg machen
wollten - darüber gab es in diesem Haus sehr viel Übereinstimmung -, um im Sinne gesellschaftlichen Engagements, der Bürgergesellschaft, Stiftungen - nicht nur
große, sondern auch kleine - voranzubringen.
Wir haben bisher ein Konzessionsmodell pur und
sollten uns fragen, ob wir nicht zum Normativsystem
übergehen sollten. Damit möchte ich folgendes sagen:
Ich finde es gut, wenn die Fraktionen unseres Bundestages Gesetzentwürfe einbringen. Ich wünsche mir, daß
wir ihre Behandlung nicht mehr auf die lange Bank
schieben, sondern bald handeln.
({2})
Niemand sagt, daß man bisher in Deutschland keine
Stiftungen aufbauen konnte. Aber die Anhörung der
Fraktion der F.D.P., die sehr breit angelegt war, hat gezeigt, was die Beteiligten wollen: Sie wollen ein Recht
auf Stiftung im Rahmen der erlaubten Zwecke. Sie wollen, daß es regelungsärmer und bevormundungsfreier ist.
({3})
Die meisten Länder sind bei der Zulassung von Stiftungen in der Praxis vom Konzessionssystem, also von
der Ermessensentscheidung, zum Normativsystem
übergegangen. Das gilt aber nicht für alle. Es ist einhellige Meinung: Geht von diesem alten System ab, hin
zum Normativsystem!
Unterschiedliche Auffassungen gibt es darüber, ob
die bewährten Einrichtungen auch zukünftig für Genehmigung und Aufsicht
({4})
zuständig sein sollen oder ob man einen Wechsel hin zur
Zuständigkeit von Gebietskörperschaften vornehmen
soll. Dieser Punkt bedarf einer Vertiefung oder sogar
einer weiteren Anhörung.
Wir müssen uns im Deutschen Bundestag Klarheit
darüber schaffen, daß die Bedeutung der Stiftungen im
wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereich
unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Beitrages
im Vergleich zur öffentlichen Förderung gering ist; das
muß man nüchtern sagen. Aber es kommt hier entscheidend auf unser politisches und kulturelles Selbstver2566
ständnis in bezug auf Stiftungen an. Mit der Verbesserung der Rahmenbedingungen regen wir vermehrte
Eigeninitiative an. Diese eigene Agenda ist sehr wichtig. „Von der Gewinnorientierung zur Sinnorientierung“,
hieß es in der Anhörung.
({5})
Das sind Leitmotive, die wir meines Erachtens in die
Überlegungen einbeziehen müssen.
Als Beispiel wurde die Gütersloher Stiftung angeführt. Noch liegt der Schwerpunkt auf großen Stiftungen. Wir sind aber auf dem Wege zu immer mehr kleinen Stiftungen. Bürgerschaftliches Engagement ist wieder da; das Stiftungsrecht müßte es verstärken.
Dabei geht es auf der einen Seite um die Frage, was
im BGB zu ändern ist. Es war einhellige Meinung, daß
in den §§ 80 ff. Regelungsbedarf besteht. Ich möchte die
Bundesregierung bitten, in dieser Angelegenheit in die
Offensive zu gehen und sich nicht hinter Bedenken zu
verschanzen.
({6})
Auf der anderen Seite ist zu regeln, wer über die Anerkennung der Gemeinnützigkeit entscheidet. Viele
verweisen unter anderem auf das englische Modell und
stellen zur Diskussion, ob die Anerkennung der Gemeinnützigkeit durch eine Kommission und nicht durch
den Fiskus erfolgen könnte.
({7})
Ich finde es lohnend, diesen aufgeworfenen Fragen
nachzugehen. Was die Mehrheit nicht will, sind neue Institutionen. Viele sind den Umgang mit dem Stiftungsrecht nicht gewohnt.
Es wurde der Wunsch nach Beratung zum Ausdruck
gebracht. Gerade wenn die Hauptförmlichkeiten im Gesetz festgelegt werden, ist Beratung in bezug auf Unbedenklichkeit und Eindeutigkeit der Satzung, aber auch
auf die Existenzfähigkeit, auf die Gemeinnützigkeit, auf
Transparenz und Publizitätspflicht erforderlich; damit
stehen die Registereintragungen in Zusammenhang. Hier
sind Regelungen erforderlich.
Ein wesentlicher Dissens liegt in der Frage der Zukunft von Familienstiftungen und von mit Unternehmen verbundenen Stiftungen. Familienstiftungen machen 4 Prozent der Stiftungen aus. Mehrheitlich wurde
hier auf die Gemeinnützigkeit Wert gelegt. Aber man
sollte nicht mit dem Rasenmäher vorgehen und nicht mit
Stumpf und Stiel etwas ausrotten, was sich bewährt hat.
Man muß Vorsicht walten lassen.
Ich nenne ein Beispiel. Die Zeiss-Stiftung hat arbeitnehmerbezogene Stiftungszwecke. Das Drachenfliegen
behandeln wir genauso wie arbeitnehmerbezogene Stiftungszwecke. Da ist beiden Seiten Rechnung zu tragen.
Wir können nicht die Zeiss-Stiftung beseitigen, aber das
Drachenfliegen als gemeinnützig anerkennen. Da sehen
wir Regelungsbedarf.
In Ihrem Gesetzentwurf ist eine Erhöhung des Anteils
am Einkommen, der Stiftungen steuerbegünstigt zugewendet werden kann, von 5 auf 20 Prozent vorgesehen.
Dies findet beim Stifterverband und bei allen Experten
auf diesem Feld große Zustimmung. Daß dies noch
weitere Diskussionen auslöst, davon gehen wir aus, Herr
Staatssekretär. Wir kommen nämlich gar nicht umhin,
eine Bilanz zu ziehen. Wenn wir das aber nur unter dem
Gesichtspunkt betrachten, was dem Staat verlorengeht,
dann springen wir zu kurz, weil wir nicht berücksichtigen, was der Staat eigentlich dabei gewinnt.
({8})
Das gilt auch für die Abzugsfähigkeit der Gelder, die
das Stiftungskapital ausmachen oder als Rücklagen gebildet werden, um Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit
bei den Stiftungszwecken zu erreichen. Ich bin jetzt
nicht auf alle Bereiche eingegangen.
Mir scheint es sehr wichtig, daß wir angesichts der
vorliegenden Entwürfe und der Ergebnisse unserer Arbeitsgruppe möglichst rasch klären, wieviel Gemeinsamkeit wir haben und wo Unterschiede bestehen, die
wir ausdiskutieren müssen. Ich glaube, daß wir mit unserer Antwort auf die Erwartungen möglicher Stifter
nicht mehr viel Zeit verlieren sollten.
({9})
Das hat etwas mit der herrschenden Mentalität in der
Bundesrepublik zu tun: Alle Experten haben gesagt,
Stiftungen geben wichtige Impulse für Innovationen
und für die Bereiche in unserer Gesellschaft, in denen
Pionierarbeit und Thinktanks gefordert sind.
({10})
Hier müssen neue Konzepte entwickelt werden, damit
Probleme gelöst werden können, die wir bisher nicht
oder nicht gut gelöst haben. Wenn wir daran denken,
dann haben wir nicht nur die augenblickliche Staatsquote in bezug auf Stiftungstätigkeit und öffentliche Tätigkeit im Auge, sondern geben eine Antwort auf die
grundsätzliche Frage: Wollen wir diesen innovativen
Geist? Diese muß sich sozusagen in dem „Recht auf
Stiftung“ niederschlagen; damit würde eine Abkehr vom
bisherigen Ermessensverfahren stattfinden.
Ich wünsche uns, daß wir in diesem Sinne an den bestehenden Gesetzentwürfen arbeiten, möglichst rasch zu
einem Ergebnis kommen und erkennen, daß die Einkünfte, die wir zu verlieren meinen, durch weitaus größere Gewinne wieder eingefahren werden können.
Ich danke Ihnen.
({11})
Ich erteile das Wort
Kollegin Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
ich den Gesetzentwurf der F.D.P. gesehen habe, hatte
ich ein fröhliches Déjà-vu-Gefühl.
({0})
- Eben. - Ich habe mich an die Diskussion erinnert, die
wir letztes Jahr hier hatten. Da gab es allerdings keinen
F.D.P.- und keinen CDU/CSU-Gesetzentwurf, sondern
nur einen von Bündnis 90/Die Grünen. In der damaligen
Kulturdebatte ist Bundeskanzler Helmut Kohl aufgestanden und hat gesagt: Frau Kollegin Vollmer, so weit
sind wir gar nicht auseinander. - Das war ein schöner
Debattenerfolg. Leider haben die CDU/CSU und die
F.D.P., obwohl es 16 Jahre lang immer Bestandteil ihrer
Koalitionsvereinbarungen war, kein Ergebnis zustande
gebracht.
({1})
Nachdem ich die heutige Debatte verfolgt habe, ahne ich
auch, in welchem Haus es diesen zähen Widerstand gab.
({2})
Interessant ist aber, daß sich damals, nachdem es der
Bundeskanzler so positiv aufgenommen hatte, einer sehr
negativ dazu geäußert hatte, nämlich der Staatssekretär
Funke von der F.D.P., der dazu in der „Welt“ geschrieben hatte. Man hatte den Eindruck, daß kein rechter
Schwung dahinter war.
({3})
In der Koalitionsvereinbarung zwischen Bündnis 90/
Die Grünen und der SPD ist das Stiftungsrecht an zwei
Stellen, im steuerrechtlichen und im juristischen Teil,
vorgesehen. Diese Passagen in der Koalitionsvereinbarung halten wir für „Bibelfest“.
({4})
Es ist doch auch vernünftig und regelrecht eine Anforderung der Zeit, in diesem Falle etwas zu tun: Jetzt
gibt es die reichen Erben; jetzt geht es darum, endlich
die Globalisierung privater Vermögen zu bekämpfen.
Denn auch das private Vermögen wandert rund um den
Globus. Stiftungen schaffen dagegen die Möglichkeit,
daß dieses private Vermögen vor Ort sichtbar dem Gemeinwesen zugute kommt. Genau das wollen wir und
genau das ist auch richtig.
({5})
Man findet eine große Bereitschaft, wenn man eine
gute Atmosphäre für Stiftungen schafft und an den Bürgersinn appelliert. Genaugenommen ist das auch ein
Appell an die vielbeschworene Neue Mitte, daß sie sich
für das Gemeinwesen engagiert. Lothar Späth hat das
„intelligente Reichtumsvernichtung“ genannt. Aber man
kann das auch noch positiver sehen,
({6})
nämlich so, daß diejenigen, die in dieser Gesellschaft
reich geworden sind und ihr, für ihre Ausbildung und für
alles, was diese Gesellschaft ihnen an Möglichkeiten
gegeben hat, viel verdanken, das freiwillig zurückgeben
können. Das ist der eigentliche Sinn von Stiftungen.
({7})
Besonders wichtig ist uns die Idee der Bürgerstiftung. Ich fand die Polemik gegen die Leute, die Stiftungen geschaffen haben - in dem Sinne: Wo habt ihr das
Geld geklaut? -, immer sehr unsozial und auch sehr töricht. Der Appell an Bürgerstiftungen, daß also Bürger
vor Ort vereinbaren können, was notwendig ist, bedeutet
letztendlich eine Auflösung des Reformstaus in unserer
Gesellschaft von der Bürgergesellschaft her. Deswegen
sind wir sehr dafür, und deswegen haben wir das auch in
der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. Der jetzige
Bundeskanzler ist dafür, der frühere Finanzminister war
dafür, und auch der nächste Finanzminister wird dafür
sein.
({8})
Jetzt noch ein Wort zu dem, was die F.D.P. will. Wie
gesagt, der grundlegende Gesetzentwurf war der unsrige. Da finden Sie alles, was jetzt gefordert wird: Aufhebung des Konzessionssystems zugunsten des Normativsystems, die jährliche Offenlegung der Bilanzen und
auch die Einführung eines Stiftungsregisters.
Aber nun sehe ich, daß die F.D.P. in ihrem Gesetzentwurf über unsere Vorschläge hinaus sagt, daß die notarielle Beurkundung ausreichen soll. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., gehen Sie ein bißchen zu weit und öffnen dem Mißbrauch Tür und Tor.
Wie ich gesehen habe, hat selbst der Vertreter der Bundesnotarkammer bei Ihrer Anhörung gesagt, daß er das
nicht für richtig halte. Da sollten Sie doch noch einmal
nachdenken, ob Sie das nicht ändern wollen.
({9})
Auch die Errichtung von Stiftungen zum alleinigen
Zweck der Führung eines Unternehmens ist nicht das,
was wir wollen. Zu diesem Punkt hat Ihnen der Vertreter
des Kulturkreises des BDI, Freiherr von Loeffelholz, bei
Ihrer Anhörung gesagt, daß das nicht einmal die Forderung der Wirtschaft sei. Ich finde, da sollten Sie ebenfalls noch einmal überlegen, ob Sie da richtig liegen.
Liebe Rita Süssmuth, zu den Familienstiftungen:
Man meint immer, eine Familienstiftung sei eine Stiftung, die den Namen einer Familie trage. Das ist aber
völlig falsch.
({10})
Eine Familienstiftung im reinen Sinne wäre eine, die
sich nur für den Erhalt einer Familie und ihrer Mitglieder einsetzt. Das haben Sie aber gar nicht gemeint. Natürlich unterstützen auch wir Familienstiftungen, die
gemeinnützige Zwecke haben. Aber daß es sozusagen
um die Feudalisierung von Vermögen in Privathand auf
Ewigkeit geht, kann nicht der Sinn der Sache sein und
ist es auch für niemanden.
({11})
Ein letzter Satz. Bei der großen Einigkeit, die es in
diesem Hause doch gibt, wäre es sehr schön, wenn wir
das als Anfang eines großen Dreierschrittes nehmen und
den dritten Sektor insgesamt, also das Element der Bürgergesellschaft, von Grund auf reformieren würden.
Man könnte im ersten Schritt das Stiftungsrecht reformieren, in einem zweiten Schritt das Freiwilligengesetz,
in dem es darum geht, was der einzelne für die Gesellschaft gibt, wenn er kein Vermögen hat, und in einem
dritten Schritt - das wäre eine Herkulesarbeit - das Gemeinnützigkeitsrecht insgesamt. Das heißt, die Gesellschaft sollte sich neu überlegen - auch das gehört zur
Modernisierung -, was sie unter heutigen Bedingungen
eigentlich unter Gemeinnützigkeit versteht.
({12})
Das wäre eine große Aufgabe für eine Bürgergesellschaft. Helfen Sie uns dabei!
Danke.
({13})
Für die PDSFraktion hat das Wort Kollege Heinrich Fink.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ein Gesetz
zur Reform des Stiftungsrechtes ist dringend nötig. Darüber sind wir uns alle einig. Das Interesse daran ist unterschiedlich. Meines ist, die Spendenfreudigkeit von
Bürgerinnen und Bürgern, die sich vielleicht sogar zur
Übertragung ihrer gesamten Hinterlassenschaft entschließen, zu fördern, insonderheit für die Kultur, für
die immer weniger Geld da ist.
Von diesem Standpunkt aus gesehen sind wir an allen
parlamentarischen Initiativen interessiert, die den Anspruch erheben, eine solche vielgestaltige Kulturlandschaft zu fördern.
Diesen Anspruch erhebt der vorliegende, auf eine Reform des Stiftungsrechtes zielende Gesetzentwurf der
F.D.P., der daher unser Interesse geweckt hat. Ausgehend von der im Grundgesetz verankerten Kulturförderpflicht des Staates halten wir die Kulturfinanzierung
über den Haushalt des Bundes und über die Stärkung der
Finanzkraft von Ländern und Kommunen als den wichtigsten Trägern von Kunst und Kultur in Verbindung mit
der weitgehend gewährleisteten demokratischen Kontrolle und Transparenz für notwendig,
({0})
weil noch am ehesten über eine öffentliche Kulturförderung diejenigen erreicht werden, die nicht im Blickfeld
des repräsentativen Kulturbetriebes liegen.
Die Beschreitung dieses Weges verlangt jedoch auch
einen verstärkten steuerlichen Zugriff auf die in diesem
Lande existierenden großen Vermögen. Eine solche Intervention des Staates zugunsten von Kultur, Bildung,
Forschung und vielen sozialen Belangen ist offenbar
auch von der gegenwärtigen Bundesregierung nicht zu
erwarten. Wenn diese Entschlußlosigkeit des Staates nun
mit der Mobilisierung von Teilen dieser Vermögen unter
anderem über einen Ausbau gemeinnütziger Stiftungen
kompensiert werden soll, so stellen wir uns dem nicht
generell entgegen. Wir werden aber die einzelnen
Schritte auf diesem Wege sehr kritisch begleiten.
Wir werden vor allem darauf achten, ob durch einzelne Regelungen dem Mißbrauch der Stiftungen für egoistische wirtschaftliche Interessen Tür und Tor geöffnet
werden. Im vorliegenden Entwurf ist dies unseres Erachtens durch die Einbeziehung der sogenannten unternehmensverbundenen Stiftungen bereits vorprogrammiert.
Die vorgesehene erweiterte Rücklagenbildung bedarf ebenfalls noch einer gründlichen Abschätzung ihrer
möglichen Folgen. Zu fragen ist auch: Stellt die bisherige Regelung wirklich ein Hindernis für das Engagement
von Mäzenen und Kulturförderern unter den begüterten
Stiftungswilligen dar? Auch die sehr vage Passage im
Abschnitt „Kosten“ gibt hinsichtlich der Frage, wer der
eigentliche Gewinner der vorgeschlagenen Veränderung
im Steuerrecht ist - die Kultur oder die Wirtschaft -,
keine eindeutige Antwort. Sie muß noch gegeben werden.
Hinsichtlich der ins Auge gefaßten Veränderung im
zivilrechtlichen Bereich plädieren wir für die weitgehende Entbürokratisierung, hohe Rechtssicherheit sowie
größte Transparenz und Öffentlichkeit.
({1})
Deshalb halten wir die Festschreibung des Normativsystems für wichtig. Demgegenüber wird der vorliegende Entwurf auf keinen Fall den genannten Kriterien gerecht, wenn er für die Entstehung einer rechtsfähigen
Stiftung lediglich eine notarielle Beurkundung des Stiftungsgeschäftes vorschreibt.
Ich komme zum Schluß - meine Redezeit beträgt leider nur 3 Minuten -: In summa: Stiftungsreform - ja, aber
mit einer hohen rechtlichen Absicherung im vorrangigen
Interesse von Kultur, Bildung und sozialen Belangen. Die
Stiftungen dürfen nicht ein Ort stiller Reserven für die
Wirtschaft und für nicht gezahlte Steuern sein.
({2})
Das Wort hat nun
Kollege Jörg Tauss, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe mir vorgenommen, heute
richtig nett zur F.D.P. zu sein, denn der Kollege Pick auch das ist selten - hat Sie ja genug „gepickt“.
Der Kollege Otto hat auf eine hinreißende Art und
Weise die Koalitionsvereinbarung zitiert. An diesem
Punkt haben Sie recht: Steuerpolitische Hemmnisse für
Stiftungen zu beseitigen, neue Möglichkeiten für Mäzenaten, Stifter und Kultursponsoren zu gewinnen ist
Originalton rotgrün. Sie können in der Koalitionsvereinbarung die entsprechende Stelle nachlesen. Wo sich die
F.D.P. der vernünftigen Linie anschließt, sollte man sie
nicht kritisieren.
Lieber Herr Kollege Otto, wir sind ja beide Mitglied
des Kulturausschusses, wo wir uns gelegentlich um Fragen des Urheberrechts streiten. Deshalb will ich Ihnen
offen sagen, daß Sie ein bißchen von den Vorlagen der
Grünen aus der letzten Legislaturperiode abgeschrieben
haben.
({0})
Ich weiß, daß wir das Rad nicht immer neu erfinden
müssen. Sie haben in der Tat berechtigterweise einige
Punkte angesprochen, in denen Dissens zwischen uns
besteht.
Sie sprachen völlig zu Recht - das hat mich von seiten der F.D.P. überrascht - von den großen Vermögen,
den Vermögen in Billionenhöhe, die in Deutschland zur
Vererbung anstehen. Vielleicht kann eine solche Feststellung manch emotionale Debatte über Steuerreformen
in diesem Haus etwas entemotionalisieren. Sie tun ja
gemeinhin so, als stünden die Reichen kurz vor der Verarmung.
({1})
Nein, es gibt Menschen mit Geld in diesem Lande. Es
gibt aber auch Menschen, die erkannt haben, daß ihnen
das Vermögen lediglich treuhänderisch zusteht und
daß sie es nach ihrem Ableben an die Gesellschaft „zurückzustiften“ haben. Dieses Verständnis sollte ausgeweitet werden: Reiche müssen erkennen, daß ihnen ihr
Vermögen nur treuhänderisch zusteht.
({2})
- Ich bin ja kein Reicher. - Damit Sie nicht denken, ich
hätte Marx zitiert - ich dachte schon, jetzt würde sich
Freiherr von Stetten zu Wort melden; aber er hat sich
zurückgehalten -: Dieser Satz stammt von dem amerikanischen Multimillionär Andrew Carnegie. Er hat 1890
formuliert: Reiche haben ihr Vermögen an die Gesellschaft zurückzugeben.
Dies hat 1890 in den USA zu einer Stimmung beigetragen, die eine Stiftungswelle auslöste. Ich halte dies
für interessant. Wer würde heute noch von Carnegie reden, hätten wir nicht in New York die Carnegie-Hall?
Sie ist eine Auswirkung dieser Stiftungswelle. - Es gab
also schon Multimillionäre, die für ihr Land mehr Verantwortung gezeigt haben als der eine oder andere Reiche, den Sie immer so leidenschaftlich verteidigen.
Unser Problem ist, daß wir in Deutschland keine Stifterkultur entwickelt haben, wie es in Ländern insbesondere des angelsächsischen Raums geschehen ist. Eine
Denkweise, wie sie bei Carnegie vorhanden war, ist hier
nicht ausgeprägt. Wir können sicherlich einen Beitrag
dazu leisten, daß dieses Denken gefördert wird: für Bildung und Forschung, für Kultur und Kunst.
Kollege Meyer hat mich darauf aufmerksam gemacht:
Wir brauchen Modelle der Prävention für Jugendliche,
die kriminell und gewalttätig geworden sind, wissen
aber nicht genau, in welche Richtung wir dabei gehen
müssen. Stiftungen könnten hier in eine ganz wesentliche Bresche springen, wie es beispielsweise bei der
Deutschen Krebshilfe der Fall ist. Diese kommt bis
heute ohne eine Mark an öffentlichen Mitteln aus, wirkt
aber dennoch segensreich. - Das ist das Stiftungswesen
positiv verstanden. Ich glaube, Frau Kollegin Süssmuth,
da sind wir in der Tat einer Meinung.
Etwas problematisch wird es aber bei den 20 Prozent,
die Sie vorgeschlagen haben; das sage ich ganz offen.
Wir werden das natürlich in aller Sorgfalt diskutieren.
Was wir allerdings nicht wollen, ist eine Familienstiftung. Damit keine Mißverständnisse aufkommen ich glaube, wir haben dies auch geklärt -: Eine Familienstiftung hat nichts damit zu tun, daß Familien ihren Namen geben. Es handelt sich hier in der Tat um ein Steuersparmodell, um den Erhalt privaten Vermögens. Das
ist nicht unser Ziel. Wenn Sie sagen, daß dies auch Ihr
Ziel nicht ist, dann kommen wir voran - auch bei den
Finanzbeamten, die dem, was wir tun, gründlich mißtrauen. Ich weiß nur nicht, ob Ihr Vorschlag hinsichtlich
der 20 Prozent sehr sinnvoll ist. Ich fürchte, Sie bekommen nicht das Geld, das Sie haben wollen, erfahren aber
auf der Finanzseite sehr viel Widerstand.
Kollege Tauss, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Sicher. Ich war schon überrascht,
daß bisher niemand eine Zwischenfrage stellen wollte.
Kollege Otto, bitte schön.
Ich bin
heute friedlich. - Herr Kollege Tauss, darf ich Sie in bezug auf Ihre Philippika gegen die Familienstiftungen
darauf aufmerksam machen, daß die Familienunterhaltsstiftung - diese haben Sie eben angesprochen - überhaupt keine Steuervorteile hat, weil die Mittel aus der
finanziellen Entlastung durch das Gemeinnützigkeitsrecht, über das wir heute sprechen, nur für gemeinnützige Zwecke ausgegeben werden dürfen? Der Vorwurf,
die Familienstiftungen seien ein Steuersparmodell, ist
leider von Unkenntnis getragen. Darüber muß ich Sie
aufklären.
({0})
Lieber Kollege Otto, über Unkenntnis können wir uns im Ausschuß lange unterhalten.
Erstens. Sie wissen ganz genau, daß es Konstruktionen gibt, die höchst fragwürdig sind. Wenn Großunternehmen in diesem Lande über Stiftungsmodelle mehr an
Körperschaftsteuer sparen, als sie an den Staat entrichten, dann ist das ein verkehrter Weg. Dies wollen wir
nicht.
({0})
Zweitens. Ich sage Ihnen noch etwas über die Familienstiftung: Da gibt es einen mißratenen Sohn oder eine
mißratene Tochter, und die Familie will nicht, daß diese
ihr Leben auf dem Golf- oder dem Tennisplatz verbringen. Sie will das Vermögen erhalten; es soll nicht für
Jachttouren in die Karibik ausgegeben werden. Das mag
auch legitim und vernünftig sein. Genau das aber ist
nicht das Ziel, das wir mit einer Reform des Stiftungsrechts verfolgen. Ich hoffe, daß wir uns darauf einigen
können. Das ist eine Idee, die legitim sein mag. Wer will
schon sein Geld, das er erarbeitet hat, an lockere Menschen verschenken! Aber das ist nicht das Ziel, über das
wir heute diskutieren.
({1})
Wenn wir diese Signale auch den Beamten im Finanzministerium deutlich machen, dann haben die weniger
schlaflose Nächte. Die denken ja immer, daß wir etwas
Unanständiges machen. Können wir uns darauf verständigen?
({2})
- Ich danke Ihnen, lieber Kollege Otto.
Das, was wir vorhaben, muß seriös durchgerechnet
werden. Das ist doch völlig klar. Die bestehenden
Rechtsprobleme hat Kollege Pick angesprochen. Ich
glaube tatsächlich, daß das Registermodell nicht im
Mittelpunkt unserer Betrachtungen stehen sollte. Wir befinden uns mit den Vertretern der Länder in einem sehr
intensiven Dialog. Wir haben seitens unserer Arbeitsgruppen für Kultur und Medien sowohl von grüner als
auch von roter Seite Vorschläge vorgelegt. Darüber
kann man sprechen. Die Stiftungsreferenten der Länder
haben ein großes Interesse signalisiert, mit uns einen
Dialog zu führen. Dies müssen wir auch tun, und zwar
auf vernünftige Weise. Wir werden Lösungen finden,
lieber Freiherr von Stetten, nicht deshalb, weil es seit
100 Jahren so ist,
({3})
sondern deshalb, weil wir miteinander etwas Vernünftiges erreichen wollen.
Wir können an dieser Stelle auch über Thesaurierungsverbote und all diese Dinge diskutieren. Das ist
schlichtweg Unfug. Da sind wir uns sehr schnell einig.
Das Land Rheinland-Pfalz wollte neulich eine Stiftung
gründen. Da stellte man fest, daß dies nicht geht. Ein
solches Vorgehen kann jedoch unter vielen Umständen
Sinn machen. Über all diese Dinge wollen wir sprechen.
Das ist unser Ziel.
Der Gedanke des Stiftungswesens - auch das ist zu
betonen - muß aufgewertet werden. Was passiert denn
heute, wenn einer eine Stiftung gründen will? Er muß
sich zum Beispiel im Regierungspräsidium an das Amt
für Abfallwirtschaft und Stiftungswesen wenden. Man
macht ihm damit schon auf dem Flur deutlich, daß er
eigentlich unwillkommen ist,
({4})
daß es der Verwaltung nicht willkommen ist, daß jemand privates Geld in gesellschaftliche Aufgaben, also
zum Beispiel in die Krebshilfe oder in andere Bereiche,
investiert.
({5})
Da können wir in der Tat - siehe Carnegie - etwas tun.
Das heißt also, wir werden einen ausgezeichneten
Gesetzentwurf vorlegen. Die Koalitionsvereinbarung
wird umgesetzt. Wenn die F.D.P. mitmacht und uns
hilft, dann ist das prima. Ich habe gehört, auch die Union
will einen Entwurf auf den Weg bringen.
({6})
- Das ist klasse. Sie sehen, die Oppositionsrolle setzt in
Ihrer Partei kreative Kräfte frei! Dabei sollte es bleiben.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/336 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Für die vorgesehenen Fraktionssitzungen unterbreche
ich jetzt die Sitzung. Sie wird um 11 Uhr mit der Regierungserklärung zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem
Eingreifen der NATO und zu den Ergebnissen der Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder und rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem Eingreifen der NATO und zu den Ergebnissen der
Sondertagung des Europäischen Rates in Berlin
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
PDS vor. Der Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/643 ({0}) wurde zurückgezogen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache nach der Regierungserklärung drei
Stunden vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht.
Dann ist so beschlossen.
Ich gebe jetzt das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung dem Herrn Bundeskanzler Gerhard Schröder.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser
Woche hat Europa Handlungsfähigkeit beweisen müssen. Die Kosovo-Krise, der Rücktritt der Kommission
und die Agenda 2000 waren in dieser Bündelung wohl
mit die größten Herausforderungen, die ein Europäischer
Rat jemals bewältigen mußte. Ich bin froh und bin auch
stolz, Ihnen heute sagen zu können, daß die Europäische
Union unter deutscher Ratspräsidentschaft diese Prüfung
bestanden hat.
({0})
In den frühen Morgenstunden ist es uns nach anstrengenden und gewiß harten Verhandlungen in Berlin gelungen, die Agenda 2000 zu verabschieden. Mit diesem,
wie ich es nennen möchte, Berlin-Paket haben wir
einen Kompromiß gefunden, bei dem alle beteiligten
Parteien, also auch wir, Abstriche von ihren Ausgangspositionen zu machen hatten. Es ist ein Kompromiß, der
vernünftig ist und mit dem alle leben können. Genau
deshalb ist er gut und richtig.
({1})
Bereits am Mittwoch habe ich in meiner Eigenschaft
als Präsident des Europäischen Rates Romano Prodi
namens und im Auftrage des Europäischen Rates für das
Amt des Präsidenten der Kommission vorgeschlagen.
Nach Zustimmung durch das Europäische Parlament
werden wir schon im Sommer wieder eine handlungsfähige Kommission unter seiner gewiß hochkompetenten
Leitung haben.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der
Nacht zum Donnerstag hat die NATO mit Luftschlägen
gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Das
Bündnis war zu diesem Schritt gezwungen, um weitere
schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte im Kosovo zu unterbinden und um eine humanitäre Katastrophe dort zu verhindern.
Der Bundesaußenminister, die Bundesregierung und
die Kontaktgruppe haben in den letzten Wochen und
Monaten nichts, aber auch gar nichts unversucht gelassen, eine friedliche Lösung des Kosovo-Konfliktes zu
erzielen. Präsident Milosevic hat sein eigenes Volk, die
albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo und die
Staatengemeinschaft ein ums andere Mal hintergangen.
Monatelang haben der EU-Sonderbeauftragte Petritsch und sein amerikanischer Kollege Hill in intensiver Reisediplomatie mit den beiden Konfliktparteien
Gespräche geführt und den Boden für ein faires Abkommen bereitet. In Rambouillet und Paris ist mehrere
Wochen lang - wir alle waren Zeugen - hartnäckig verhandelt worden. Zu dem dort vorgelegten Abkommen,
das die Menschenrechte der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo, aber auch die territoriale Integrität
der Republik Jugoslawien gewährleistet, gibt es nach
meiner festen Auffassung keine Alternative.
({3})
Das ist der Grund, warum alle Parteien diesem Abkommen hätten zustimmen müssen.
Die Ziele dieses Abkommens - das ist mir wichtig werden auch von Rußland geteilt. Ich selbst habe in
einem Telefongespräch mit dem russischen Premierminister Primakow unterstrichen, daß die Europäische
Union die Beziehungen zu Rußland nicht einschränken,
nicht relativieren, nein: gerade jetzt weiter ausbauen
wird.
({4})
Wir haben - das betrifft alle Parteien dieses Hauses mit Rußland eine Qualität in unseren Beziehungen erreicht, die wir von unserer Seite aus nicht in Frage gestellt sehen wollen.
Die Vertreter der Kosovo-Albaner haben dem Abkommen von Rambouillet schließlich zugestimmt. Einzig die Belgrader Delegation hat durch ihre Obstruktionspolitik alle, aber auch wirklich alle Vermittlungsversuche scheitern lassen. Sie allein trägt die Verantwortung für die entstandene Lage.
({5})
Gleichzeitig hat das Milosevic-Regime seinen Krieg
gegen die Bevölkerung im Kosovo noch intensiviert.
Unsagbares menschliches Leid ist die Folge dieser Politik. Mehr als 250 000 Menschen mußten aus ihren Häusern fliehen oder wurden gar mit Gewalt vertrieben. Allein in den letzten sechs Wochen haben noch einmal
80 000 Menschen dem Inferno, das es dort gibt, zu entrinnen versucht. Umgerechnet auf die Bevölkerung der
Bundesrepublik Deutschland wäre das die Einwohnerschaft einer Metropole wie Berlin. Es wäre zynisch und
verantwortungslos gewesen, dieser humanitären Katastrophe weiter tatenlos zuzusehen.
({6})
Bis zuletzt hat sich die Staatengemeinschaft bemüht,
dem Morden auf diplomatischem Wege Einhalt zu geVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
bieten. Außenminister Fischer als EU-Ratspräsident,
der russische Außenminister Iwanow und der OSZEVorsitzende Vollebaek haben Präsident Milosevic in
Belgrad zur Annahme des Rambouillet-Abkommens
gedrängt. Schließlich hat Richard Holbrooke als Sondergesandter der Vereinigten Staaten am Montag und
Dienstag dieser Woche einen allerletzten Versuch unternommen, das Regime in Belgrad zum Einlenken zu
bewegen - alles vergebens. Wir hatten deshalb keine
andere Wahl, als gemeinsam mit unseren Verbündeten
die Drohung der NATO wahrzumachen und ein deutliches Zeichen dafür zu setzen, daß wir als Staatengemeinschaft die weitere systematische Verletzung der
Menschenrechte im Kosovo nicht hinzunehmen bereit
sind.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß dies
das erste Mal seit dem zweiten Weltkrieg ist, daß deutsche Soldaten in einem Kampfeinsatz stehen. Ich darf
Ihnen deshalb versichern, daß die Bundesregierung sich
ihre Entscheidung nicht leichtgemacht hat. Aber wir
wissen uns einig und in Übereinstimmung mit der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung und, Gott sei
Dank, auch mit der großen Mehrheit des Deutschen
Bundestages - über alle Parteigrenzen hinweg.
Ich möchte von dieser Stelle aus ein Wort des aufrichtig empfundenen Dankes an unsere Soldaten und
ihre Familien richten.
({7})
Sie erfüllen eine schwierige und - das muß man redlicherweise hinzufügen - auch gefährliche Mission. Obwohl wir alles getan haben und tun werden, um für ihren
Schutz und ihre Sicherheit zu sorgen, können wir Gefahren für Leib und Leben nicht ausschließen. Gerade deshalb sollen sie wissen, daß die Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren Einsatz für die Menschlichkeit und den Frieden wohl zu würdigen weiß und
ihnen dafür zutiefst dankbar ist.
({8})
Ich denke, es ist ein Gebot des Anstandes und der Vernunft, auch vom Deutschen Bundestag aus ein Zeichen
der Solidarität und der Unterstützung an unsere Streitkräfte zu richten.
Die Verantwortung für die entstandene Lage trägt
allein die extremistische Belgrader Führung. Es liegt in
ihrer Hand, die Militäroperation unverzüglich zu beenden. Auch von dieser Stelle - aus dem deutschen Parlament heraus - fordere ich deshalb Präsident Milosevic
noch einmal auf, die Kämpfe im Kosovo sofort zu beenden und das Friedensabkommen zu unterzeichnen. Dann
wird Frieden sein können, meine Damen und Herren.
({9})
Die NATO und die internationale Gemeinschaft insgesamt sind unverändert bereit, mit Zustimmung der
Streitparteien mitzuhelfen, das Abkommen von Rambouillet umzusetzen. Wir sind auch bereit, für die militärische Absicherung eines Waffenstillstandes einzutreten. Dafür stehen erste NATO-Einheiten, darunter
3 000 deutsche Soldaten, bereit. Auch sie sollen wissen,
daß die Bundesregierung und das deutsche Parlament
hinter ihnen stehen.
({10})
Auf der Sondertagung des Europäischen Rates in
Berlin hat Europa seine Verantwortung für eine friedliche Entwicklung auf dem Kontinent bekräftigt. Wir
können heute mit berechtigtem Stolz sagen: Angesichts
der schwierigen Mission im Kosovo spricht Europa
wirklich mit einer Stimme.
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen
Union haben in Berlin einvernehmlich beschlossen, den
früheren italienischen Ministerpräsidenten Romano Prodi zu bitten, das wichtige Amt des Präsidenten der
Europäischen Kommission zu übernehmen. Gleichzeitig haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den Rücktritt der Kommission mit Respekt
zur Kenntnis genommen. Gleichgültig, was auch immer
kritisiert worden ist und wieviel Grund es dafür gegeben
haben mag - an dieser Stelle möchte ich der scheidenden Kommission und deren Präsidenten Jacques Santer
noch einmal für ihre Arbeit danken, die sie für Europa
geleistet haben.
({11})
Ich füge hinzu - ich denke, auch das ist gerade in einer
solchen Situation angemessen -: Ohne die Vorarbeiten,
ohne den Rat der Mitglieder sowie der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Kommission in Berlin und - trotz
allem, was vorgefallen ist - ohne ihre konstruktiven
Vorschläge wären wir auf diesem Sondergipfel wohl
kaum so schnell zu einer auskömmlichen Einigung gelangt. In Anwendung des im Vertrag von Amsterdam
festgelegten Verfahrens - unabhängig von seinem wohl
doch rechtzeitigen Inkrafttreten - wird die Nominierung
von Romani Prodi - nein, Romano - ({12})
- Es ist wirklich schwierig, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt.
({13})
Die Nominierung von Romano Prodi also wird dem gegenwärtigen Europäischen Parlament zur Zustimmung
vorgelegt werden. Anschließend soll der designierte
Kommissionspräsident versuchen, in Zusammenarbeit mit
den Regierungen der Mitgliedstaaten so früh wie möglich
die Ernennung einer neuen Kommission vorzubereiten.
Die Regierungen der Mitgliedstaaten werden dann im
Einvernehmen mit Romano Prodi
({14})
die übrigen Personen benennen, die sie als Kommissionsmitglieder zu ernennen beabsichtigen. Dieses neue
Kollegium wird sich schon im Sommer dieses Jahres
dem Votum des dann neu gewählten Europaparlaments
stellen. Damit schaffen Rat und Parlament die Voraussetzungen, daß die neue Kommission ihre Arbeit zum
frühestmöglichen Zeitpunkt beginnen und ab Januar
2000 für eine volle fünfjährige Amtszeit fortführen
kann.
({15})
Durch den Rücktritt der Kommission drohte dem vereinten Europa die Gefahr einer schweren institutionellen
Krise. Vor diesem Hintergrund läßt sich ermessen, wie
bedeutend die schnelle und überzeugende Lösung dieser
Krise durch die Ernennung des neuen Kommissionspräsidenten ist. Europa hat - das darf man ruhig deutlich
unterstreichen - in dieser Situation Entschlossenheit und
auch Handlungsfähigkeit bewiesen. Ich denke, das wird
Europa und der europäischen Idee im Bewußtsein der
Bürgerinnen und Bürger auch unseres Landes helfen.
({16})
Ich sage das keineswegs nur aus pragmatischen
Gründen. Die in Berlin versammelten Delegationen,
Minister sowie Staats- und Regierungschefs waren trotz
aller Unterschiede in Einzelfragen der Agenda 2000 in
einer Überzeugung geeint, nämlich in der, daß wir die
einmalige historische Chance, die sich den europäischen Völkern durch den konsequenten Integrationsprozeß bietet, wirklich beherzt ergreifen wollen. Wir haben
den Schritt zur Wirtschafts- und Währungsunion getan.
Weitere EU-Mitgliedstaaten werden sich dieser Union
anschließen. Genau dafür, also für die Erweiterung der
Union, sind in Berlin allerwichtigste Grundlagen gelegt
worden.
({17})
Wir haben heute die Möglichkeit, ausgehend von
50 Jahren Frieden in Europa, unsere Völker und Staaten
in freundschaftlicher Nachbarschaft immer enger miteinander zu verzahnen. Dies ist der Auftrag, den wir von
den Vätern und Müttern, die zwei schreckliche Kriege
auf diesem Kontinent erleben mußten, übernommen haben. Wir werden ihn konsequent ausführen. Dies ist der
Auftrag, den uns unsere Kinder, für die das vereinte
Europa auch eine kulturelle - nicht nur eine politische Selbstverständlichkeit geworden ist, täglich aufs neue
erteilen.
Dieses gemeinsame Europa kann nicht par ordre du
mufti oder auf einem Gipfeltreffen beschlossen werden.
Nein, es braucht die Unterstützung der freien Bürgerinnen und Bürger dieses Kontinents, sonst greift es zu
kurz. Es braucht auch nicht nur auf die Entscheidungen
der politischen Führungen zu starren; denn in der guten
Nachbarschaft unserer Völker ist ein Europa, das sich
auf die Menschen stützt und stützen kann, längst entstanden. Aber Europas Bürgerinnen und Bürger haben
ein Recht darauf, daß ihre Regierungen die europäischen
Institutionen handlungsfähig machen und sie dadurch
erhalten. Genau das haben wir getan.
({18})
Genau das in einer schwierigen Situation geschafft zu
haben ist der große, ja der durchschlagende und währende Erfolg des Gipfeltreffens in Berlin.
({19})
Meine Damen und Herren, die Europäische Union
- ich habe darauf verwiesen - braucht so bald wie möglich eine starke Kommission, die dem Gebot der Effizienz, der Transparenz und - das ist entscheidend - der
Bürgernähe wirklich gerecht wird. Wir werden deshalb
den designierten Kommissionspräsidenten Prodi bitten,
im Dialog mit den Mitgliedstaaten ein Programm auszuarbeiten, in dem die veränderte Arbeitsweise der neuen
Kommission fest umrissen wird. Ein erster Gedankenaustausch zwischen den Staats- und Regierungschefs
und dem neuen Kommissionspräsidenten über ein solches Reformprogramm wird bereits am 14. April, vermutlich in Brüssel, stattfinden.
Wir müssen und wollen bei der Verwaltung von Gemeinschaftsfonds, von Programmen und von Projekten
durch die Kommission ein Höchstmaß an Integrität, aber
auch ein Höchstmaß an Effizienz in der Durchführung
erreichen.
({20})
Unsere Bürgerinnen und Bürger haben genau darauf
einen Anspruch.
({21})
Die europäischen Völker wollen die Integration. Sie
drängen uns auch, den nächsten Schritt zu tun, ohne den
die europäische Vereinigung unvollendet bliebe: Ich
meine die Erweiterung der Europäischen Union um
unsere östlichen Nachbarstaaten.
({22})
Die Union, meine Damen und Herren, darf nicht an
Deutschlands Ostgrenze enden. Gerade deshalb haben
die Bürgerinnen und Bürger Europas kein Verständnis
für administrativen Unterschleif oder eine Politik des
nationalen Egoismus.
Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß es uns
auf dem Berliner Gipfeltreffen gelungen ist, darüber
hinaus wichtige Vereinbarungen zu erzielen. Nach rund
dreijährigen Verhandlungen ist eine Einigung zum
Handels- und Kooperationsabkommen mit Südafrika
erzielt worden.
({23})
Damit, meine Damen und Herren, stellt Europa unter
Beweis, daß es ihm mit seinem Engagement für das
neue Südafrika - für das Südafrika des so großartigen
Menschen Nelson Mandela - ernst ist.
({24})
Das geeinte Europa stellt unter Beweis, daß es eben keine Exklusivveranstaltung für die Reichen der Welt ist,
sondern daß es zu freundschaftlicher Zusammenarbeit
gerade mit denen fähig ist, denen es nicht so gut geht
wie den reichen Nationen dieser Welt. Daß wir übrigens
diese Einigung am letzten Tag der Amtszeit von Präsident Nelson Mandela, der auch mir ganz persönlich mit
seinem opferreichen Kampf für die Menschenrechte
stets ein Vorbild gewesen ist,
({25})
erzielen konnten, erfüllt mich wirklich mit Freude.
({26})
Meine Damen und Herren, wie es so ist: Ein guter
Kompromiß tut allen weh. Das gilt auch für den in Berlin erzielten Kompromiß zur Agenda 2000. Gleichwohl können alle Partner, also auch wir, mit den Ergebnissen zufrieden sein. Bedenkt man, wie weit die Ausgangspositionen auseinander lagen, ist das Ergebnis zufriedenstellend, weil es ausgewogen ist. Die Einigung,
die wir in Berlin erzielt haben, ist ein klares Signal an
die europäischen Bürgerinnen und Bürger, an die
Märkte und an die Beitrittskandidaten, und sie belegt,
daß wir alle am Ende unsere gemeinsame Verantwortung vor die jeweiligen Einzelinteressen gestellt haben.
Das Berliner Paket ist ein tragfähiges Fundament für das
Handeln der Europäischen Union.
Zwei Prinzipien standen und stehen dabei im Vordergrund: Ausgabenstabilität und Solidarität innerhalb
Europas mit den Schwächeren.
({27})
Wir haben uns auf einen Rahmen geeinigt, der uns vorgibt, auch in Europa strenge Haushaltsdisziplin zu
üben. Wir werden dabei den Zusammenhalt unter den
Mitgliedstaaten wahren, so wie es der Vertrag vorsieht.
Wir haben in Berlin eine Obergrenze für die
EU-Ausgaben bis zum Jahr 2006 einvernehmlich festgeschrieben. Das war am Anfang alles andere als eine
Selbstverständlichkeit. Diese Grenze wird bei 1,27 Prozent des EU-Bruttosozialproduktes liegen.
Wir werden in zwei Stufen bis zum Jahre 2004 die
Mehrwertsteuereigenmittel zur Hälfte auf Bruttosozialprodukteigenmittel umstellen. Wir erhöhen die Erhebungskostenpauschale bei den sogenannten traditionellen Eigenmitteln von 10 Prozent auf 25 Prozent. Beim
Beitragsrabatt für Großbritannien sowie beim Schlüssel
für die Finanzierung des Rabatts haben wir Modifikationen vereinbart, die zu einer größeren Beitragsgerechtigkeit für die Nettozahler - damit meine ich alle Nettozahler, nicht nur Deutschland - führen werden.
({28})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der
Agrarpolitik sind wir nach langem Ringen zu einer
auskömmlichen Lösung gelangt. Vielleicht wird es dem
einen oder anderen an Begeisterung mangeln. Denjenigen, bei dem das so ist, kann ich trösten: Bei mir ist das
nicht anders.
Kernstück sind die Preissenkungen bei Getreide und
Rindfleisch sowie die auf dem Petersberger Gipfel vereinbarte Höchstgrenze für die Agrarausgaben. Auch
über den Kohäsionsfonds haben wir eine Einigung erzielt. Innerhalb der Strukturfonds haben wir für die neuen Bundesländer auch für die nächsten sieben Jahre die
höchste Förderpriorität gesichert.
({29})
Übrigens, dazu gehört auch eine vernünftige Übergangsregelung für Ostberlin.
({30})
Man nennt das in der Sprache der europäischen Beamten
„phasing out“.
({31})
- Sehen Sie: Irgendeinen Grund zur Freude muß ich
Ihnen doch auch geben.
({32})
Auch wir Deutschen haben nicht alles von dem
durchsetzen können, was wir gern durchgesetzt hätten.
Das gerade hier zu sagen gebietet die Redlichkeit.
({33})
Etwas Wesentliches haben wir allerdings erreicht:
Die Ausgabenbegrenzung konnte so festgeschrieben
werden, wie Deutschland und einige unserer Partner es
im nationalen, aber auch im europäischen Interesse gefordert haben. Schritte hin zu mehr Beitragsgerechtigkeit liegen nicht nur im deutschen, im niederländischen,
im österreichischen oder im schwedischen Interesse; der
Gesichtspunkt der Solidarität und der Gerechtigkeit auch
den Stärkeren gegenüber liegt vielmehr auch im europäischen Interesse. Solidarität ist eben keine Einbahnstraße.
({34})
Wir haben uns deshalb in Berlin darauf geeinigt, daß
die Kurve der deutschen Nettozahlungen in der Tendenz gestoppt und - naturgemäß langsam - umgedreht
wird.
({35})
Aber es gilt ganz kühl festzustellen: Wir werden nicht
auf einen Schlag reparieren können, was in der Vergangenheit versäumt worden ist.
({36})
- Das ist so! Sollte sich der eine oder andere von dieser
oder jener Bank zu Wort melden, dann bin ich sehr gespannt darauf, ob er es schafft, das, was wir in Berlin erreicht haben, mit dem zu vergleichen, was andere aus
Edinburgh mitgebracht haben.
({37})
Auf diese Diskussion, die wir sicherlich noch mit
großem Nachdruck und mit großem Interesse miteinander - in welchen Gruppierungen bei Ihnen auch immer werden führen können, freuen wir uns wirklich.
({38})
Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft in einer
gewiß prekären Lage übernommen. Am Ende dieses
Halbjahres werden wir vier Gipfeltreffen der Staats- und
Regierungschefs hinter uns gebracht haben, und dies
- wie wir mit ein Stück weit Stolz sagen - durchaus mit
Erfolg.
Mit der Nominierung von Prodi haben wir eine institutionelle Krise in der Union abwenden können. Die Lage im Kosovo hat die europäische Wertegemeinschaft
erstmals seit dem zweiten Weltkrieg vor den Zwang gestellt, mit militärischen Mitteln eine humanitäre Katastrophe verhindern zu müssen.
Mit dem Berliner Paket haben wir eine gute Basis
gelegt, um die Osterweiterung der Europäischen Union
voranzutreiben. Diese Erweiterung ist und bleibt unsere
größte, unsere drängendste Aufgabe.
({39})
Die Europäische Union strukturell und finanziell für die
Aufnahme der Beitrittskandidaten fit zu machen - ich
habe darauf immer wieder hingewiesen - stand und steht
weit oben auf der europäischen Tagesordnung.
Auf dem Gipfel in Köln Anfang Juni wollen wir darüber hinaus einen Beschäftigungspakt für und in Europa
verabschieden und einen Fahrplan für die dringend notwendigen institutionellen Reformen der EU festlegen.
Damit erweisen wir uns einmal mehr als der in der Realität und nicht nur im Reden wirkliche und ehrliche Anwalt der Beitrittskandidaten.
({40})
Mit dem in Berlin erreichten Kompromiß sind wir
unseren Zielen, vor allen Dingen dem Ziel, Europa zu
erweitern, ein großes Stück näher gekommen. Ich erwarte nicht, daß alle Mitglieder dieses Hohen Hauses
allen Einzelheiten des Kompromisses zustimmen. Aber
ich erwarte, meine Damen und Herren, daß wir den
ernstgemeinten Versuch machen, europäische Politik ein
Stück weit herauszuhalten aus dem politischen Konkurrenzkampf der Parteien.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({41})
Das Wort hat
jetzt der Herr Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr.
Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eugen
Gerstenmaier, der große Präsident dieses Hauses, hat
seine Memoiren mit dem Titel überschrieben: „Streit
und Friede hat seine Zeit“. Wir sind heute in einer besonderen Situation. Wir haben, Herr Bundeskanzler, gestern schon kurz darüber debattiert. Deswegen will ich
ganz ruhig und klar sagen, inwieweit wir das unterstützen, was Sie gesagt haben, und worin wir uns unterscheiden.
Wir unterstützen, Herr Bundeskanzler, das, was Sie
zur Lage im Kosovo gesagt haben. Ich habe gestern für
die CDU/CSU-Fraktion erklärt, daß sich die Bundesregierung auf unsere Unterstützung verlassen kann.
({0})
Ich fand richtig - und wir unterstützen das -, was Sie
grundsätzlich zu Europa, zum Prozeß der europäischen
Integration und zu der Notwendigkeit der Erweiterung
gesagt haben. Wir unterstützen besonders und begrüßen,
daß es dem Europäischen Rat gelungen ist, sich so rasch
auf einen Nachfolger von Santer zu einigen. Wir begrüßen, daß man sich darauf geeinigt hat, Romano Prodi als
neuen Kommissionspräsidenten vorzuschlagen.
({1})
Wir sind in der Bewertung dessen, was auf dem Berliner Gipfel zur Agenda 2000 erreicht worden ist, unterschiedlicher Meinung. Das muß auch so bleiben. Herr
Bundeskanzler, ich glaube auch gar nicht, daß es gut wäre, wenn wir Europa und europapolitische Fragen, wie Sie
am Schluß ein bißchen mißverständlich - vielleicht habe
ich Sie nicht richtig verstanden - gesagt haben, aus dem
Streit, aus der politischen Konkurrenz herausnehmen
würden. Die Demokratie, die Suche nach Alternativen,
das Ringen um die besseren Lösungen muß bei aller Gemeinsamkeit darüber, daß die europäische Einigung das
wichtigste Projekt am Ende dieses Jahrhunderts ist, auch
und gerade in europäischen Fragen funktionieren.
Ich möchte gerne noch ein Wort zu der aktuellen Situation im Kosovo sagen. Das erste ist: Wir fühlen uns
in diesen Stunden mit den Soldaten, mit ihren Familien
und auch mit den Streitkräften unserer Verbündeten verbunden. Unsere Unterstützung gilt ihnen. Wir begrüßen,
daß alles getan wird, um Gefahren so gering wie möglich zu halten.
({2})
Man muß es immer und immer wieder sagen: Die
Völkergemeinschaft hat mit unendlicher Langmut versucht zu verhindern, was unvermeidlich geworden ist.
Aber es ist gut, notwendig und unausweichlich, daß am
Ende Langmut nicht mit Wankelmut verwechselt werden durfte. Deswegen mußte jetzt eine klare, feste Entscheidung getroffen werden.
({3})
Die Angriffe richten sich nicht gegen das serbische
Volk. Die Menschen sollten sich auch nicht durch die
jetzt angeworfene Propagandamaschine in die Irre leiten
lassen. Worum es geht, ist, Morden zu verhinden und zu
helfen, daß der Friede so rasch wie möglich überall in
Europa, auch in Jugoslawien und vor allem im Kosovo,
wiederhergestellt wird. Worum es geht, ist, daß eine
Tragödie für Hunderttausende von Menschen so rasch
wie möglich beendet wird. Darum und um nichts anderes geht es. Dafür werden wir geschlossen und entschlossen die getroffenen Entscheidungen unterstützen.
({4})
Wir stimmen darin überein, daß es notwendig und
richtig ist, so rasch wie möglich zu erreichen, daß die
Waffen im Kosovo schweigen, und so rasch wie möglich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wieder
humanitäre Hilfe geleistet werden kann, damit das
Elend, dem die Menschen durch die Aggression, das
Verbrechen, das Morden dieses Diktators ausgesetzt
sind, gelindert werden kann.
Ich will noch eine Bemerkung im Hinblick auf manche
Äußerungen aus diesem Hause am gestrigen Tage und
auch in der öffentlichen Debatte machen: Ich finde, wir
haben im Oktober in Kenntnis aller Probleme auf sicherer
verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Grundlage die notwendige Entscheidung dieses Bundestages
sorgfältig erwogen und getroffen. Ich bin dagegen, jetzt in
eine verfassungsrechtliche Rabulistik einzutreten, die
nicht weiterführt. Im übrigen will ich noch eine Bemerkung machen: Das Verfassungsgericht hat die Klage gegen diesen militärischen Einsatz ja zurückgewiesen.
Ich habe schon einmal diesen Aufsatz aus einer großen deutschen Tageszeitung im Zusammenhang damit
zitiert. Wenn ich mir die verfassungsrechtlichen Debatten dazu so anhöre, habe ich das Gefühl, daß man nicht
immer unterscheiden kann. Wir werden nicht durch
einen Verzicht auf militärische Mittel - eingesetzt zur
Bewahrung des Friedens und zur Beendigung des Mordens - Frieden erreichen und das Morden beenden. Es
geht darum, größeres Morden zu verhindern.
Es kann am Ende dieses Jahrhunderts doch nicht sein,
daß am Schluß dieser rabulistischen Diskussionen Überschriften stehen wie jene eines Zeitschriftenaufsatzes, die
da lautete: „Wir lassen uns in Ruhe - auch beim Morden“.
Wir dürfen uns in Europa und in dieser einen Welt beim
Morden nicht mehr in Ruhe lassen. Darum geht es.
({5})
Die aktuelle Lage unterstreicht - insofern fand dieser
Berliner Gipfel ganz gewiß unter bestimmten Umständen
statt -, wie notwendig ein handlungsfähiges, ein starkes
Europa ist. Es ist der beste Weg, die größte Chance an der
Schwelle zum kommenden Jahrhundert, Frieden in ganz
Europa sicherzustellen, was leider in diesen Tagen immer
noch nicht gelungen ist. Deswegen ist es auch richtig, daß
wir alle unsere Kraft darauf verwenden, den Beitritt der
Länder aus Mittelost- und Südosteuropa so rasch wie
möglich voranzubringen. In diesem Zusammenhang ist
daran zu erinnern, daß die Aufgabe der Agenda 2000 vor
allem darin bestand, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß dieser Beitritt erleichtert wird und er so rasch wie
möglich zustande kommen kann. Auch da stimmen wir
also im Grundsätzlichen überein.
Ich finde gut, daß die Entscheidung für Romano
Prodi so schnell getroffen worden ist. Wir unterstützen
auch die Absicht, schon jetzt nach den Regeln des Amsterdamer Vertrages - auch wenn er noch gar nicht in
Kraft ist - zu verfahren, so daß die Entscheidung des
Rates durch das jetzt im Amt befindliche Europäische
Parlament bestätigt und Prodi beauftragt wird, ein Reformprogramm zu entwickeln und eine Kommission zu
bilden. Diese muß dann noch einmal als Ganzes vom
neu zu wählenden Parlament einer Bestätigung zugeführt werden, um dann eine neue, handlungsfähige
Kommission zu haben, die für die volle Amtszeit von
fünf Jahren an einem Programm institutioneller Reformen arbeiten und somit einen Beitrag leisten kann, um
den wichtigen und schwierigen Reformprozeß in Europa
voranzubringen.
Aber die Beschlüsse zur Agenda 2000 bleiben - das
muß man sagen - hinter den Notwendigkeiten und hinter
den gesteckten Erwartungen zurück.
({6})
Das gilt in besonderer Weise für die Agrarpolitik; daran kann kein Zweifel sein. Natürlich muß man Kompromisse finden, natürlich war es schwierig. Aber was
wir schon vor einer Woche gesagt haben, gilt auch heute: Es war nach unserer Überzeugung ein schwerer Fehler, das von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten unterstützte Ziel der Kofinanzierung als einen ersten Schritt
für mehr Subsidiarität auch in der Agrarpolitik schon
vor dem Berliner Gipfel aufzugeben.
({7})
Die Aufgabe dieser Position hat sich auf die Ergebnisse des
Berliner Gipfels, so wie wir sie kennen, zum Nachteil einer
wirkungsvollen Reform der Agrarpolitik ausgewirkt.
({8})
Wir kennen die Zahlen nicht im einzelnen. Das ist
keine Kritik; der Berliner Gipfel ging ja bis in die frühen
Morgenstunden. Wir legen einen Entschließungsantrag
vor, in dem wir - gemäß unserer Überzeugung, daß das
Parlament als Ganzes Stellung beziehen sollte - eine
Position formulieren. Aber auch wenn man die Zahlen
nicht im einzelnen kennt, eines ist klar: Die grundlegenden Probleme in der Agrarpolitik werden durch das Ergebnis des Berliner Gipfels nicht gelöst. Manches wird
sogar schlechter. Der Preisdruck beispielsweise durch
die Milchquoten wird eher stärker werden. Die Einkommenseinbußen für die deutsche Landwirtschaft
- wie immer sich die Zahlen im einzelnen darstellen sind erheblich. Wir muten keinem anderen Teil unserer
Bevölkerung etwas Vergleichbares zu.
Angesichts dieser Situation, wo wir den Bauern in
Deutschland etwas zumuten, was wir keiner anderen
Bevölkerungsgruppe zumuten, will ich noch einmal mit
allem Nachdruck an die Mehrheit dieses Hauses appellieren: Es ist falsch und unverantwortlich, durch Maßnahmen nationaler Gesetzgebung - von der sogenannten
Steuerentlastung, die für die Landwirtschaft eine Steuermehrbelastung bedeutet,
({9})
über die Ökosteuer bis zur Kürzung der Zuschüsse für
die landwirtschaftliche Unfallversicherung - zusätzliche
Einkommensverluste in einer Größenordnung von
1,8 Milliarden DM für die deutsche Landwirtschaft zu
beschließen.
({10})
Auch wenn es unvermeidlich ist, im Zuge der Reform
der europäischen Agrarpolitik Kompromisse zu schließen, auch Opfer zuzumuten, ist es in einer solchen Situation auch um des inneren Friedens und der sozialer
Gerechtigkeit willen in diesem Lande geradezu verheerend, der Bevölkerungsgruppe, der man die meisten
Auswirkungen von Reformen zumutet - vielleicht teilweise zumuten muß -, durch nationale Maßnahmen zusätzliche Belastungen aufzuerlegen, anstatt daß man versucht, die Auswirkungen für die betroffenen Menschen,
für die betroffene Bevölkerungsgruppe durch nationale
Maßnahmen zu mindern.
({11})
Ich sage noch einmal, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Wer glaubt, die Bauern in unserem Lande seien
nur eine kleine Minderheit, über die man sich leicht
hinwegsetzen könne, der hat nicht verstanden, daß die
Stabilität unseres Landes auf einem ausgewogenen Verhältnis von städtischen Ballungszentren und ländlichen
Räumen beruht und daß der ländliche Raum ohne eine
funktionierende Landwirtschaft nicht lebensfähig ist.
Das wird auch in der Zukunft so bleiben.
({12})
Deswegen: Wer die Lebensfähigkeit unserer Landwirtschaft untergräbt, schadet nicht nur den Bauern,
sondern verletzt die innere Stabilität unseres Landes.
({13})
- Ja, natürlich, wegen der Ausgewogenheit im Vergleich
zu anderen Ländern. Ich komme gleich auf die Regionalpolitik zu sprechen.
({14})
Wenn Sie ein wenig über die Vorteile unserer Bundesrepublik Deutschland - eine größere Balance auch
als Folge unseres föderalen Systems und eine größere
Ausgewogenheit zwischen ländlichen Regionen, kleinen, mittleren und großen Städten bzw. Zentren - nachdenken, dann werden Sie vielleicht verstehen, daß die
Lebensfähigkeit des ländlichen Raumes nicht nur für die
Menschen dort, sondern auch für die Menschen in den
städtischen Ballungszentren wichtig ist. Deswegen geht
es nicht um Klientelpolitik, sondern um die richtigen
ordnungs- und strukturpolitischen Entscheidungen für
unser Land.
({15})
Ich will noch einmal sagen: Natürlich muß die europäische Agrarpolitik reformiert werden, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Erweiterung der
Europäischen Union besser vorankommt. Da wir aber
gleichzeitig darüber reden, Herr Bundeskanzler, wie der
weitere Weg institutioneller Reformen auszusehen hat
- von den Arbeiten, die Romano Prodi in der Vorbereitung auf eine neue Kommission und sein Programm zu
leisten hat bis zum Kölner Gipfel und zu dem Prozeß,
der von dort ausgehen muß -, will ich noch einmal das
Prinzip beschreiben: Wir werden die Probleme der europäischen Agrarpolitik besser lösen, wenn wir im Bereich
der Einkommenshilfen - wie immer sie heißen, ob es
landwirtschaftliche Sozialpolitik ist, ob es direkte Einkommensbeihilfen oder was auch immer sind - das
Subsidiaritätsprinzip stärker verwirklichen.
Wir können angesichts der ganz unterschiedlichen
klimatischen, regionalen und sonstigen Strukturen in Europa, des unterschiedlichen Wohlstands und Preisniveaus in Europa
({16})
bei der Reform der europäischen Agrarpolitik die Lebensfähigkeit der Landwirtschaft in Deutschland nicht
allein durch europäische Maßnahmen sichern. Deswegen brauchen wir stärker das Subsidiaritätsprinzip.
({17})
Weil auf dem Berliner Gipfel keine Vereinbarung über
Maßnahmen zu stärkeren nationalen Gestaltungsmöglichkeiten erreicht worden ist - die Kofinanzierung wäre
der entscheidende Schritt in diese Richtung gewesen -,
ist dieser Gipfel gescheitert. Dafür trägt die Bundesregierung erhebliche Verantwortung.
({18})
- Ich weiß doch, daß das für Frankreich ein ganz
schwieriges Thema ist.
({19})
- Die deutsch-französische Freundschaft ist doch kein
Grund dafür, daß man mit unseren französischen Freunden und Nachbarn nicht intensiv darüber reden kann und
muß, was der richtige Weg für Europa ist. Wenn man
aber die Debatte so, wie Bundeskanzler Schröder es Anfang des Jahres getan hat, als er sagte, jetzt ist Schluß
damit, daß in Brüssel das deutsche Geld verbraten wird,
beginnt, dann kann man mit Frankreich nicht zu einem
Ergebnis kommen.
({20})
Es ist doch bemerkenswert, daß Tony Blair nach seiner Rückkehr sagen kann - wenn ich die Agenturmeldungen richtig gelesen habe -, daß kein britisches Pfund
mehr bezahlt werde und man den britischen Beitragsrabatt gehalten habe. Auch die Franzosen können sagen:
Wir haben alles gehalten. Auch die Südländer können
sagen: Wir haben alles gehalten.
({21})
Aber der deutsche Bundeskanzler, der am Anfang der
deutschen Präsidentschaft am meisten davon geredet hat,
welche angeblichen Fehler seiner Vorgängerregierung
jetzt korrigiert werden müssen, hat am wenigsten erreicht. So macht man sich durch eigenes Reden die
Erfolge kaputt.
({22})
Herr Bundeskanzler, lassen Sie doch endlich davon
ab, die Legende zu bilden - ich drücke mich noch sehr
zurückhaltend aus -,
({23})
als sei in den vergangenen Jahren die Entwicklung dahin
gegangen, daß Deutschland immer mehr gezahlt habe,
und als habe Ihre Vorgängerregierung - wie haben Sie
sich ausgedrückt? - das Geld geradezu nach Brüssel geschaufelt, damit es dort verbraten werde. Die Wahrheit
ist, daß der deutsche Nettobeitrag nach den amtlichen
Zahlen der Kommission in den Jahren 1994 bis 1997
- für diese Jahre haben wir die amtlichen Zahlen; für
1998 gibt es die Zahlen noch nicht - von 27 Milliarden
DM auf 22 Milliarden DM gesunken ist. Die Trendwende ist also 1994 eingeläutet worden.
({24})
Die von Ihnen in Ihrer Regierungserklärung eingeforderte Gemeinsamkeit kann nicht auf der Grundlage falscher Zahlen und falscher Legenden zustande kommen,
mit denen Sie die Bevölkerung und das Parlament ein
Stück weit täuschen. Die Wahrheit ist, daß die Regierung Kohl/Waigel in den Jahren 1994 bis 1997 eine
Trendwende durch die Senkung des deutschen Nettobeitrags von 27 auf 22 Milliarden DM erreicht hat. Gemessen daran sind die Ergebnisse, die Sie in Berlin erreicht haben, ausgesprochen kläglich.
({25})
Ich will noch ein Wort zur europäischen Regionalpolitik sagen. In der heutigen Debatte will ich vor allen
Dingen noch einmal das Prinzip, um das es uns geht,
klarmachen. Wir sagen in unserem Entschließungsantrag
- ich habe das auch in der vergangenen Woche von diesem Platz aus gesagt -: Wir akzeptieren, daß die Förderung für die Bundesrepublik Deutschland aus den europäischen Strukturfonds zurückgeführt wird. Wir akzeptieren notfalls auch, daß die Strukturförderung für
Deutschland überdurchschnittlich zurückgeführt wird.
Das ist ja das Ergebnis von Berlin, wenn man die Zahlen, die wir jetzt kennen, einigermaßen richtig bewertet.
Wenn dies aber geschieht, dann ist es zwingend notwendig, daß die Mitgliedstaaten und die Regionen, soweit
sie in den Mitgliedstaaten eine rechtliche Qualität besitzen - für die Bundesrepublik Deutschland heißt das
Bund und Länder -, mehr Möglichkeiten erhalten, mit
eigenen Mitteln in eigener Zuständigkeit regionale Probleme zu lösen, für die es in Zukunft weniger Mittel aus
Brüsseler Kassen gibt. Das fordern wir; das haben Sie
nicht erreicht.
({26})
Das läßt sich an vielen Zahlen belegen.
Das Entscheidende ist, daß wir das Prinzip der Aufgabenabschichtung, der Subsidiarität, klarer durchsetzen
müssen: Wofür ist Europa, wofür sind die Mitgliedstaaten und wofür sind die Regionen zuständig? Das wird
auch die entscheidende Aufgabe für den institutionellen
Reformprozeß sein müssen.
Wenn wir in Europa weiterhin die Entwicklung haben, daß für immer mehr Aufgaben in immer stärkerem
Maße die europäische Ebene zuständig ist, daß wir eine
Mischfinanzierung haben, die am Ende keiner mehr
richtig durchschaut, und daß wir auf europäischen Gipfeln in den Nacht- und Morgenstunden Regelungen und
Geld hin- und herschieben - 10 Millionen für dich,
5 Millionen für mich -, so daß am Ende keiner mehr
weiß - das ist kein Vorwurf -, was nun im einzelnen beschlossen worden ist, dann werden wir - ({27})
- Ich bitte Sie herzlich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe mit keinem Wort kritisiert, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung keinerlei substantielle Angaben zu den Inhalten des Ergebnisses des
Berliner Gipfels gemacht hat.
({28})
Aber wenn Sie hier solche Zwischenrufe machen, dann
muß ich doch darauf hinweisen, daß ich ja verstehe, daß
man ein paar Stunden nach Abschluß des Gipfels noch
nicht in einer Regierungserklärung sagen kann, was im
einzelnen beschlossen worden ist.
({29})
Das zeigt doch die Absurdität dieses Verfahrens. Das
können wir nur dann besser lösen, wenn wir bei der institutionellen Reform der Europäischen Union zu einfacheren, klareren Regelungen kommen. Es muß nicht
jede Aufgabe in Europa durch europäische Institutionen
gelöst werden. Subsidiarität, mehr Bürgernähe, mehr
Transparenz und mehr Klarheit, das ist der bessere Weg,
um Europa voranzubringen.
({30})
Das ist vor allen Dingen deswegen wichtig, weil wir
Europa nur voranbringen werden, wenn es uns gelingt,
die Menschen in Europa und auch in Deutschland davon
zu überzeugen - und zwar sowohl im Großen und
Grundsätzlichen als auch im Kleinen und Konkreten,
also nicht nur in den Festreden, sondern auch im Alltag -,
daß Europa der bessere Weg für unsere Zukunft ist.
Deswegen müssen die Ergebnisse und die Entscheidungen in Europa für die Menschen nachvollziehbar sein.
Deswegen muß man wissen, wer was entscheidet, wer
wofür die Verantwortung trägt, warum welche Entscheidung getroffen wird und wie sie demokratisch legitimiert ist. Das ist, in einfachen Worten, die Aufgabe für
die institutionellen Reformen.
Davon war im übrigen der Berliner Gipfel ein Teil.
Die Ergebnisse des Berliner Gipfels werden diesem
Maßstab aber nicht gerecht. Sie bedeuten nicht eine
Stärkung der Subsidiarität in Europa, sondern sie resultieren wiederum nur aus dem Versuch - vielleicht war es
in dieser Woche in der Lage gar nicht anders möglich -,
die Milliarden ohne eine systematische Klarheit hin- und
herzuschieben. Bei diesem Hin- und Herschieben von
Milliarden hat die deutsche Präsidentschaft für die deutschen Interessen weniger erreicht, als die Regierungen
anderer Mitgliedstaaten erreicht haben, wie alle Agenturmeldungen von heute morgen zeigen.
({31})
Damit sich dies nicht wiederholt, wird es notwendig
sein - ich nütze die Gelegenheit dieser Debatte, dafür zu
werben -, daß wir Europa bei den institutionellen Reformen mit einer Art Verfassungsvertrag unterstützen,
um das Ganze für die Menschen einsehbar und nachvollziehbar zu machen, um die Menschen für Europa zu
gewinnen und sie mitzunehmen. Sie sollen sehen, daß
ihre Sache dort entschieden wird, und zwar nicht negativ, sondern positiv. Es soll erkennbar werden, wer in
Europa für welche Entscheidung zuständig ist und wie
jede Entscheidung in Europa demokratisch legitimiert
wird - auch das ist wichtig -, was wir nicht allein durch
die nationalen Parlamente machen können, weswegen
das Europäische Parlament gestärkt werden muß. Je besser das gelingt, um so größer sind die Chancen, daß wir
die Menschen dafür gewinnen, den Weg der europäischen Einigung in guten und in schwierigen Zeiten weiter voranzugehen. Das ist das Wichtigste. Die große
Aufgabe deutscher und europäischer Politik ist angesichts der Ereignisse dieser Woche, in der sich viele
dramatische Entwicklungen sozusagen wie zu einem
Knoten zusammengefügt haben, dafür zu sorgen, daß
sich die Menschen weiterhin für die demokratischen
Entscheidungsprozesse interessieren.
Deswegen darf dieser Punkt nicht aus dem demokratischen Meinungsstreit ausgeklammert werden, Herr
Bundeskanzler. Die entsprechende Diskussion muß
vielmehr Gegenstand des demokratischen Wettbewerbs
sein. Es muß klar sein, wer wo um welche Konzeptionen
streitet. Unsere Konzeption für Europa beinhaltet ein
handlungsfähiges und starkes Europa; ein Europa, das
Frieden, Freiheit, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlichen Wohlstand, ökologische Nachhaltigkeit und den Schutz von Natur und Umwelt sichert.
Aus diesem Grunde ist die Erweiterung so wichtig.
Wir müssen die Subsidiarität stärken, um demokratische Entscheidungen auf allen Ebenen zu ermöglichen,
und wir müssen die kommunale Selbstverwaltung und
die Zuständigkeit der Länder ernst nehmen. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Funktion, die sie bisher wahrgenommen haben, beibehalten und sich für die Interessen der Menschen einsetzen. Europa ist längst nicht
mehr eine Festveranstaltung, sondern - wenn die Politik
richtig angelegt ist - die beste Antwort, um die Interessen der Deutschen im kommenden Jahrhundert zu wahren.
Dazu gehört, daß wir die Kraft aufbringen, Entscheidungen zu treffen, auch wenn die Entscheidungen, für
die es wie im Falle der aktuellen Lage im Kosovo keine
bessere Alternative gibt, sehr weh tun.
({32})
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Peter Struck.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler,
im Namen der SPD-Fraktion gratuliere ich Ihnen zu den
Ergebnissen, die Sie in Berlin erreicht haben.
({0})
Bevor ich darauf und auch auf die Bemerkungen
meines Vorredners näher eingehe, möchte ich noch einige Ausführungen zur aktuellen Situation im Kosovo
machen. Niemand in diesem Hause wird in diesen Tagen
und Stunden ohne Skrupel sein; niemand wird unbeeindruckt von den Fernsehbildern der letzten beiden Nächte
sein. Es wird niemanden geben, der sich nicht eindringlich fragt und prüft, ob der militärische Einsatz in Jugoslawien wirklich berechtigt ist. Es wird auch niemanden
geben, der sich nicht der gewaltigen Zäsur bewußt ist,
daß erstmals nach dem zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten in Kampfeinsätze geschickt werden mußten.
Ich muß für meine Person bedrückt feststellen, daß ich
keine Alternative zu diesen Entscheidungen gefunden habe. Ich halte die begonnenen Luftschläge gegen militärische Ziele in Jugoslawien für unabdingbar. Die Gewaltherrschaft des jugoslawischen Präsidenten Milosevic und
das blutige, menschenverachtende Vorgehen der serbischen Polizei- und Militärkräfte im Kosovo konnten mit
diplomatischen und politischen Mitteln nicht mehr gestoppt werden. Im Gegenteil: Je intensiver sich die USA,
Europa und auch die Vereinten Nationen um Lösungen
bemühten, desto grausamer gingen die Schergen von Milosevic im Kosovo vor: mehr als 2 000 Tote, über 500
zerstörte Dörfer und 500 000 Vertriebene. Die Tragödie
der Kosovo-Albaner mußte ein Ende haben.
({1})
Es gab viele Stimmen, die das Zuwarten der NATO
seit dem Massaker von Racak im letzten Januar kritisiert
haben. Sie könnten vielleicht sogar recht haben. Unzweifelhaft ist aber auf jeden Fall, daß die Regierungen
der NATO-Mitgliedstaaten, die Bosnien-Kontaktgruppe,
die Europäische Union, die OSZE und die Vereinten
Nationen alles versucht und alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, um Milosevic zu einer friedlichen Lösung des Konflikts zu bewegen. Auch die russische Regierung hat sich intensiv an solchen Überzeugungsversuchen beteiligt.
Alle diese Versuche hatten das Ziel, einerseits Vertreibungen, Dorfzerstörungen und Tötungen durch serbische Einheiten zu beenden, andererseits den Gewaltakten der albanischen UCK Einhalt zu gebieten. Sie zielten
auf eine menschenrechtskonforme Lösung des Konflikts
im Rahmen einer fairen Lösung für beide Konfliktparteien: Bewahrung und Sicherstellung der Souveränität
und der territorialen Integrität Jugoslawiens, weitgehende Autonomie und Selbstverwaltung für die albanische
Mehrheit im Kosovo, Garantie der individuellen Menschenrechte. Alle diese Bemühungen aber prallten an
dem machtversessenen, zynischen Diktator Milosevic
ab.
Angesichts dieser Erfahrungen darf Europa kein
zweites Srebrenica zulassen!
({2})
In Bosnien haben wir zu lange gewartet, nicht frühzeitig
genug schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit
unterbunden und haben dadurch einen Völkermord mitten in Europa geschehen lassen. Das darf und wird uns
nicht noch einmal passieren. - Wenn wir glaubhaft für
den Aufbau und die Schaffung eines demokratischen
Europas eintreten wollen, wenn wir für dieses Europa
die höchsten Menschenrechtsnormen beanspruchen, dann
bleibt uns nichts, als gegen die humanitäre Katastrophe,
gegen Gewalt und Willkür im Kosovo entschieden vorzugehen.
Ich sehe das Dilemma, das eine Reihe von Ihnen hier
im Haus, auch aus meiner Fraktion beklagen. Wir standen vor der schwierigen Alternative, entweder ethnische
Säuberungen und andere schwerste Menschenrechtsverletzungen geschehen zu lassen oder ohne die Zustimmung Rußlands und Chinas im Sicherheitsrat für eine Beendigung dessen zu sorgen. Ich halte unsere Entscheidung und die unserer Partnerstaaten für letzteres
unter den konkreten Umständen für angemessen, vor
allem deshalb, weil die Verhinderung von Völkermord
schwerer ins Gewicht fällt als der Respekt vor dem Vetorecht von zwei Mitgliedern des Sicherheitsrates, zumal
dies aus sachfremden Gründen mißbraucht worden ist.
({3})
Von dieser Stelle aus wende ich mich an all die vielen
Mitbürgerinnen und Mitbürger jugoslawischer Herkunft
in unserem Land. Ihnen und dem serbischen Volk
möchte ich eindringlich klarmachen, daß weder die
NATO noch die Europäische Union, daß weder die USA
noch Deutschland oder ein anderer europäischer Staat
Feindschaft gegen das serbische Volk, die Republik
Serbien oder die Bundesrepublik Jugoslawien hegen.
({4})
Unser Vorgehen richtet sich allein gegen den Diktator
und gewalttätigen Hasardeur Milosevic und die von ihm
befehligten Polizei- und Streitkräfte. Er handelt gegen
die Interessen seines eigenen Volkes, indem er es vom
demokratischen Europa isoliert.
Meine Damen und Herren, mit Genugtuung und Respekt habe ich verfolgt, wie der Bundesverteidigungsminister mit großer Umsicht und Fürsorge den größtmöglichen Schutz für unsere am Einsatz beteiligten Soldaten veranlaßt hat.
({5})
Um die Last, die in diesen Tagen auf ihm liegt, ist er
nicht zu beneiden. Er verdient für diese Aufgabe die
Unterstützung aller, auch die seines Vorgängers im Amt.
({6})
Trotz aller Vorsichts- und Sicherheitsmaßnahmen
bleibt ein hohes Gefahrenpotential für die Gesundheit
und das Leben unserer Soldaten. Zum erstenmal nach
dem zweiten Weltkrieg beteiligen sie sich an einem
Kampfeinsatz, nach dem sich niemand von uns gedrängt
hat. Sie sind beteiligt an einem Einsatz, der Terror und
Völkermord mitten in Europa beenden und die Grundlage für ein friedliches Miteinander garantieren soll. Unsere Gedanken und unsere Anteilnahme sind bei den Tornadopiloten und bei den Bodentruppen in Mazedonien.
Wir bangen mit ihren Familien. Wir hoffen mit ihnen,
daß alle unbeschadet zurückkehren.
({7})
Die Schrecken im Kosovo machen uns bewußt, daß es
zur europäischen Integration keine Alternative gibt. Sie
allein ist der Weg zu Frieden und gemeinsamem Wohlstand auf diesem Kontinent.
Einen weiteren wichtigen Schritt in diese Richtung ist
in diesen Tagen die Europäische Union auf dem Sondergipfel in Berlin gegangen. Erstmals in der Geschichte der Europäischen Union mußten drei große Politikbereiche reformiert werden: die gemeinsame Agrarpolitik, der Strukturfonds und das gesamte EUFinanzsystem. Daß bei dieser komplexen Gemengelage
ein umfassender und tragfähiger Kompromiß gefunden
werden konnte, ist eine große Leistung des Europäischen Rates.
({8})
Die Ergebnisse des Gipfeltreffens in Berlin sind ein
großer persönlicher Erfolg auch für Sie, Herr Bundeskanzler, und für Sie, Herr Bundesaußenminister.
({9})
Die unermüdlichen Bemühungen des Bundeskanzlers im
Vorfeld und auf dem Gipfel des Europäischen Rates haben zu sehr beachtlichen Resultaten geführt. Sie, Herr
Bundeskanzler, habe Ihre Kritiker damit Lügen gestraft
und in kürzester Zeit diplomatische und europapolitische
Akzente gesetzt. Für Europa sind diese Ergebnisse sehr
ermutigend.
({10})
Wenn die Opposition hier im Hause das Ergebnis von
Berlin kritisiert, so gehört dies zu ihrer Aufgabe. Sie
würde ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie dies nicht täte.
Wenn sich allerdings Ihre Kritik, Herr Kollege
Schäuble, vor allen Dingen auf die Beschlüsse im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik konzentriert, dann,
denke ich, springen Sie viel zu kurz. Europa ist mehr als
nur eine gemeinsame europäische Agrarpolitik.
({11})
Die Verabschiedung der Agenda 2000 ist nach der
sehr schnellen und sehr übereinstimmenden Entscheidung zugunsten von Romano Prodi das zweite wesentliche Ergebnis des Gipfels. Mit der Agenda 2000 ist ein
Handlungsrahmen geschaffen worden, der die finanzielle Solidität der Gemeinschaft und die Stabilität der
Europäischen Währungsunion garantiert. Gleichzeitig
sind die in der Agenda 2000 getroffenen Regelungen
entscheidende Voraussetzungen für die Osterweiterung
der Europäischen Union. Jedem Kenner war klar, daß
nicht jedes Detail der deutschen Vorstellungen durchzusetzen war und daß alle Beteiligten Kompromißfähigkeit
zeigen mußten. Wesentlich ist aber, daß im Hinblick auf
die Agrarausgaben eine reale Konstante erreicht worden
ist. Sie liegt nur gering oberhalb der angestrebten Grenze von jährlich 40,5 Milliarden Euro.
Sie, Herr Kollege Schäuble, haben festgestellt, daß
alle beteiligten Regierungschefs in ihren Ländern aus ihrer nationalen Sicht das Ergebnis des Gipfels als Erfolg
bezeichnet haben. Ich denke, der Bundeskanzler hat genau das erreicht, was man auf einem solchen Gipfel
überhaupt erreichen kann: Alle sind zufrieden, das heißt,
alle tragen diesen Kompromiß mit.
({12})
Alles in allem konnte die deutsche Nettobelastung
durch die Berliner Entscheidungen gesenkt werden. Die
Entlastung ist nicht so hoch, wie wir es uns gewünscht
hätten. Sie ist ganz sicherlich nicht so hoch, wie es von
der Opposition absurderweise gefordert wurde, die von
einer Entlastung in Höhe von 14 Milliarden DM sprach
und die Möglichkeit der Durchsetzung einer solchen
Forderung suggerieren wollte. Jeder Experte wußte, daß
das eine unsinnige Forderung war.
({13})
Wir haben die Hypotheken, die wir von der Regierung
Kohl übernehmen mußten, nicht von heute auf morgen
abtragen können. Das dauert etwas länger, meine Damen
und Herren. Aber wir sind auf dem richtigen Wege.
({14})
Es ist eine Tendenzumkehr erreicht worden. Weitere
Schritte müssen folgen.
Mit dem erfolgreichen Abschluß des Berliner Gipfels
ist die Europäische Union dem Ziel, auf dem globalen
Markt wirtschaftlich konkurrenzfähig und mitgestaltend
bestehen zu können, ein gutes Stück nähergerückt.
({15})
Die neue Regierung, die nur zwei Monate Vorbereitungszeit hatte, kann mit dem Ergebnis mehr als zufrieden sein. Sie hat ihre europapolitische Kompetenz bewiesen.
({16})
Damit sind die Weichen für Erfolge beim Beschäftigungspakt und in der Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik positiv gestellt.
Berlin war ein entscheidender Meilenstein für den erfolgreichen Abschluß der deutschen Präsidentschaft. Dafür danken wir dem Bundeskanzler Gerhard Schröder
und seiner Bundesregierung.
({17})
Jetzt hat das
Wort der Franktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Wolfgang Gerhardt.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! In der heutigen Debatte werden wir bei SPD, den Grünen, der CDU/CSU und der
F.D.P. Gemeinsamkeiten feststellen; wir werden auch
Unterschiede markieren müssen. Das ist ein normaler
Vorgang in einer demokratischen Ordnung.
Zunächst zu den Punkten, bei denen Übereinstimmung besteht.
Herr Bundeskanzler, wir stimmen Ihnen - ich füge
hinzu: wir danken ausdrücklich auch dem Verteidigungsminister - beim Thema Kosovo zu, was Engagement, Zielrichtung, Verhandlungsführung und Entscheidung anbelangt.
({0})
Das konnten Sie erwarten. Wir haben es so beschlossen,
als wir noch Regierungsverantwortung hatten; das gilt
auch heute.
Mit Blick auf die gestrige Debatte möchte ich mich
nicht mit defensiven Auskünften begnügen. In einer solchen Debatte und angesichts der ersten europäischen
Herausforderung durch Gewalt muß man Festigkeit in
der Sache bewahren. Mir geht es nicht um generalstabsmäßige Diskussionen über den NATO-Einsatz dort.
Mir geht es darum, hier noch einmal klarzustellen, daß
sich dieses Hohe Haus bewußt ist, daß wir dort Prinzipien, die sich aus der Kulturgeschichte Europas ergeben,
verteidigen - gegen Menschen, die sie nicht achten und
die über andere Menschen herfallen. Deshalb sage ich
Ihnen, Herr Kollege Gysi: Pazifismus ist eine respektable Haltung. Wenn aber Pazifismus am Ende nicht mehr
fähig ist, Menschen in Not zu helfen, dann verliert er
seinen Bezug zur Menschlichkeit.
({1})
Das ist der Kernpunkt der Auseinandersetzung, die wir
führen.
Es mag richtig sein, auf den Zusammenbruch oder jedenfalls die Gefahr des Zusammenbruchs einer Weltordnung hinzuweisen, der sich dadurch ergibt, daß das
Gewaltmonopol der Vereinten Nationen und die Entscheidung der NATO in einen Konflikt miteinander geraten. Aber Weltordnungen, die am Ende nicht mehr in
der Lage sind, Gewaltanwendung gegen Menschen zurückzudrängen, verlieren an Legitimität. Deshalb kann
über die Weltordnung hier nicht nur unter dem Aspekt
diskutiert werden, ob sie verletzt wird. Eine Weltordnung muß sich mit allen ihren politischen Anstrengungen ständig dahin gehend legitimieren, daß sie der Idee
der Menschlichkeit auf dieser Welt gerecht wird. Deshalb ist nicht nur eine formale völkerrechtliche Diskussion zulässig, sondern auch eine zutiefst emotionale,
menschliche in der Zuwendung zu den Menschen.
Ich habe hier eine Meldung vor mir. Ob sie zutrifft,
kann ich noch nicht einmal sagen. Aber wir spüren alle,
daß sie zutreffen könnte. Diese Reuters-Meldung ist von
11.39 Uhr. Danach haben im Kosovo nach Informationen der albanischen Nachrichtenagentur jugoslawische
Soldaten und serbische Polizisten 21 Lehrer albanischer
Abstammung vor den Augen ihrer Schüler umgebracht.
Man vermutet, daß das so sein könnte. Wenn ich so etwas lese, bin ich nicht mehr in der Lage, eine Diskussion darüber zu führen, ob man sich da heraushalten kann.
({2})
Daß das vor den Toren Europas, nach den Massakern,
die wir schon erlebt haben, passieren kann, verlangt von
jedem Mitglied dieses Hauses sehr persönliche Stellungnahmen und sehr persönliche Bekenntnisse.
Deshalb, glaube ich, sind die getroffenen politischen
Entscheidungen der alten und der neuen Bundesregierung, der Mehrheit hier im Hause, auch Ihre Erklärung,
richtig. Daß wir uns in einem Dilemma befinden, stimmt
ebenso, wie die Tatsache richtig ist, daß wir dazu keine
Alternative haben. Wenn wir jetzt nicht diesem Rechtsbrecher entgegentreten, werden wir nie mehr in der Lage
sein, Rechtsbrechern entgegenzutreten.
({3})
Deshalb ist die Entscheidung richtig gewesen.
Das Handling des Bundesverteidigungsministers,
den ich an dieser Stelle für meine gesamte Fraktion ausdrücklich persönlich loben möchte, ist vorsichtig, der
Lage angemessen und, was den Schutz der deutschen
Soldaten betrifft, völlig richtig gewesen. Dafür danken
wir Ihnen. Auch das gehört zum Thema.
({4})
Die Deutschen wünschen sich immer international
geordnete Verhältnisse, wie das ordentlichen Menschen
wünschenswert erscheint. Aber leider entwickeln sich
die internationalen Verhältnisse nicht immer so, wie das
diesen guten deutschen Menschen wünschenswert erscheint.
Sie haben uns am Ende Ihrer Regierungserklärung
zum Thema „europäische Politik“ aufgefordert, möglichst den Versuch zu machen, europäische Entscheidungen aus Binnenwahlkämpfen und aus der Wettbewerbssituation deutscher Parteien herauszunehmen. Das
hätten wir uns früher gewünscht, als wir Ihre Äußerungen als niedersächsischer Ministerpräsident zu europäischen Themen gehört haben.
({5})
Darf ich Sie daran erinnern, was Sie zu dem wichtigsten
europäischen Projekt, dem Euro, der mit großen Kraftanstrengungen realisiert werden mußte, gesagt haben?
({6})
„Endlich haben wir ein nationales Thema“, haben Sie
erklärt. Sie haben zum Euro gesprochen wie Gauweiler.
- Heute appellieren Sie an uns, europäische Entscheidungen aus Binnenwahlkämpfen herauszuhalten.
Was hat Ihren früheren Finanzminister denn die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank geschert?
Das ist ein hohes Gut. Es geht nicht nur um Gipfel wie
den in Berlin, sondern auch um Ansehen, Souveränität
und Unabhängigkeit europäischer Institutionen. Was hat
ihn dazu getrieben, diese Institution eher anzugreifen,
ihre Unabhängigkeit in den Augen vieler Deutscher zu
beschädigen, die Geldwertstabilitätspolitik eher in Mißkredit zu bringen? Das war doch nicht hehres europäisches Bewußtsein. Das, was er vorgeführt hat, war ganz
kleines deutsches, sozialdemokratisches Karo.
({7})
Zu europäischer Politik gehört im Grunde nicht nur,
sich zu den europäischen Themen zu äußern. Was haben
die Auftritte Ihres Umweltministers Trittin in Frankreich
zum deutsch-französischen Verhältnis als Achse für die
Vorphase des Berliner Gipfels beigetragen? Das war
doch keine europäische Dimension. Das war noch kleineres Karo. Das war die alte 68er Bewegung, die den
Kernenergieausstieg will. Daß man damit am Ende dieses Jahrhunderts in Europa ein gutes Klima schaffen
kann, bezweifle ich.
({8})
Herr Bundeskanzler, die Aufforderung an uns geht
bemerkenswert ins Leere. Ordnen Sie erst einmal Ihre
Truppen, vermitteln Sie denen europäisches Bewußtsein,
ehe Sie an die übrigen Fraktionen des Bundestages
Empfehlungen geben, sich europäisch zu verhalten. Wir
als F.D.P. haben da keinen Nachholbedarf. Es ist eher in
Ihrem Lager einiges nachzuholen.
({9})
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung daran erinnert, daß die damalige Regierung und die damalige Opposition in diesem Hause der Übereinkunft von Edinburgh, die zur heutigen Nettozahlerposition geführt hat,
gemeinsam zugestimmt haben. Sie fügten hinzu: „Jetzt
ist es an der Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.“
Richtig. Hätten Sie zur Nettozahlerposition von Anfang
an in diesem Stil geredet, dann könnte ich jetzt gelassen
sagen: Er hat eine schöne Formulierung gefunden, daß
wir keinen Lottogewinn gemacht haben. - Aber da Sie
von Scheckbuchdiplomatie und davon, daß unser Geld
verbraten wird und unsere nationalen Interessen nicht
gewahrt werden, geredet haben, muß ich Ihnen sagen:
Sie haben nicht nur keinen Lottogewinn gemacht, Sie
haben nicht einmal drei Richtige aus Berlin mitgebracht,
Herr Bundeskanzler.
({10})
Dieses Vokabular stört mich ausdrücklich. In der
Vorphase der deutschen Ratspräsidentschaft haben Sie
mit diesem Vokabular die anderen erst in ihre Positionen
gebracht.
({11})
Das hat sie eher dazu veranlaßt, ihre Interessen wieder
stärker national zu behaupten, als in europäischer Dimension zu denken. Dadurch sind Sie natürlich in eine
Situation gekommen, in der Ihnen am Ende nichts anderes übrigblieb, als eine Addition von Interessen neu zu
verrechnen. Das ist der Vorgang des Berliner Gipfels,
den wir beklagen,
({12})
den wir uns so nicht gewünscht haben.
Unsere Kritik bezieht sich doch nicht darauf, daß Sie
sagen: Was konnte ich in der Situation anderes machen?
Unsere Kritik, Herr Bundeskanzler, bezieht sich darauf,
daß die Art Ihres Herangehens an das Thema nichts
weiter gebracht hat als dieses Ergebnis in Berlin. Das
Ergebnis sind traditionelle, alte westeuropäische Austauschsysteme in Finanzierungsfragen, Agrarkompromisse, Verlängerung der Milchquoten um zwei Jahre,
Absetzen von Struktur- und Kohäsionsfonds. Das Ergebnis ist keine Perspektive und das neue Kapitel für die
Osterweiterung der Europäischen Union.
Der Berliner Kompromiß ist zu schmal; er ist kein
großer Wurf, aus der westeuropäischen Union in die
Europäische Union nach Osten. Mit Ihrer Verhaltensweise - ich denke an die mangelnde Klugheit bei
der Wortwahl und dem Umgang mit europäischen Partnern - haben Sie - nicht nur Sie alleine, sondern manche
Mitglieder Ihres Kabinetts - vorher eine so schlechte
Aussaat gestreut, daß in Berlin nur diese schmale Ernte
übriggeblieben ist. Das ist der Vorgang, der uns zur Kritik bringt.
({13})
Deshalb ist das, was heute allgemein mitgeteilt worden ist - Haushaltsdisziplin, Zusammenhalt und Beitrittschancen - für meine Fraktion nicht ausreichend, um Ihnen zu avisieren, ob wir das gut fänden oder dem zustimmen könnten. Wir möchten das schon etwas genauer
wissen; wir möchten dem, was verhandelt worden ist,
auf den Grund gehen. Deshalb werden wir eine weitere
Debatte darüber im Deutschen Bundestag brauchen ({14})
vertiefter, inhaltlicher und konzeptioneller, als das heute
nach Ihren Mitteilungen möglich war. Deshalb meinen
wir, daß dieser kleine Schritt in Berlin - wenn auch in
einer durchaus bedrängten Situation - nicht ausreichend
ist. Gerade in kritischen Situationen liegen größere
Chancen, als Sie sie in Berlin verhandeln konnten. Sie
hätten sie verhandeln können, wenn Sie die Verhandlungen nicht durch die Aussagen der bundesdeutschen
Regierung vorher so gestört hätten.
({15})
Meine Damen und Herren, ich will mich auch deshalb nicht damit begnügen, weil Sie und der Bundesaußenminister, der nach mir reden wird, als Kritiker des
früheren Bundeskanzlers Kohl immer diese ambitionierte Europapolitik, diese Leidenschaft und diese Emotionen, Europa weiterzubringen, gefordert haben. Jetzt
sind Sie in der Verantwortung und sehen auf einmal, wo
Sie an Grenzen kommen. Natürlich - der Bundesaußenminister hat es dazwischengerufen - wissen wir, was
auch dann nur möglich gewesen wäre, wenn wir neben
Herrn Chirac gesessen hätten. Ich muß Ihnen aber vorwerfen: Sie haben vorher den Boden zerstört, auf dem
ein besserer Berliner Kompromiß hätte herauskommen
können.
({16})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesaußenminister, Joschka Fischer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war und
ist eine historische Woche für Europa. Wir haben es mit
einem sehr ungewöhnlichen Zusammentreffen dreier
Krisen, dreier großer Herausforderungen zu tun, die auf
dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs
in Berlin räumlich zusammengefügt wurden: Das war
die durch den Rücktritt der Kommission ausgelöste institutionelle Krise der Europäischen Kommission; das
war die Agenda 2000; und das war der beginnende
Krieg im Kosovo.
({0})
Es gibt dabei einen sehr engen inneren Zusammenhang, der sich auf den ersten Blick überhaupt nicht erschließt. Ich wurde oft von Journalisten gefragt, ob denn
der Einigungsdruck auf die Staats- und Regierungschefs
wegen der Krise im Kosovo jetzt größer sei. Ich habe
immer geantwortet: Nein, diesen direkten Zusammenhang gibt es nicht. - Was aber zu spüren war, war das
größere Maß an Verantwortung, das auf diesem Gipfel
auf den Schultern der Staats- und Regierungschefs ruhte,
eben weil es diesen Zusammenhang gab und weil klar
war, daß der Kosovo direkt und unmittelbar eine Krise
in Europa ist, durch Europa gelöst werden muß und daß
wir uns nicht wegdrehen können und dürfen. Vielmehr
muß uns bewußt sein, daß diese Krise, daß dieser Krieg
auf dem Balkan, der nicht erst in dieser Woche begonnen hat, sondern seit längerem tobt - mal ein heißer
Krieg, mal ein weniger heißer Krieg, aber immer gleich
brutal - ein Teil Europas ist und von den Europäern gelöst werden muß, meine Damen und Herren.
({1})
Gleichzeitig haben alle gespürt, wie wichtig es ist, dieses Europa voranzubringen. Sicherlich sind Milchquote,
Interventionspreise und Anteile an den Strukturfonds
ebenfalls eminent wichtige Fragen. Aber Europa kann
dabei nicht stehenbleiben. Die Lösung dieser Fragen in
Verbindung mit der Wahrung der Unverletzlichkeit der
Menschenrechte, Demokratie und Freiheit des Individuums, auf denen dieses Europa gründet, ist letztendlich
die gemeinsame Wertegrundlage. Das war in Berlin zu
spüren. Beide Bereiche haben die Staats- und Regierungschefs zum Gegenstand ihrer Beratungen in Berlin
gemacht. Sie haben eine Erklärung unter Teilnahme der
neutralen Staaten verfaßt, in der sie klargestellt haben,
daß wir Europäer eine Politik der Gewalt, eine Politik
des Mordens und eine Politik des Vertreibens nicht akzeptieren dürfen und nicht akzeptieren werden.
({2})
Das sind die Gründe dafür, daß wir einerseits der Gewaltpolitik von Herrn Milosevic Einhalt gebieten müssen. Auf der anderen Seite müssen wir durch die Lösung
der EU-Finanzprobleme einen wichtigen Schritt in
Richtung Aufbau einer Europäischen Union als ein
handlungsfähiges politisches Subjekt tun. Dieser Zusammenhang war in Berlin spürbar. Er bestand und besteht.
Ich habe gesagt, daß der Krieg im Kosovo ein Krieg
in Europa ist und uns deshalb unmittelbar angeht. Lassen Sie mich zu diesem Punkt gerade im Hinblick auf
die gestrige Debatte, deren Verlauf ich den Zeitungen
entnommen habe, noch einiges anfügen: Die Bundesregierung hat gemeinsam mit unseren Partnern nun wirklich alles versucht, um Belgrad eine Brücke zu bauen und zu diesen Partnern rechne ich ausdrücklich auch
Rußland; ich habe ständig telefonischen Kontakt mit
dem russischen Außenminister Iwanow; Herr Kollege
Gysi, ich möchte Ihnen nicht mitteilen, was er mir über
seinen Eindruck nach seinem letzten Belgrad-Besuch
gesagt hat, weil das die Vertraulichkeit verletzen würde;
aber ich kann soviel sagen, daß seine Einschätzung der
Motive und der Politik in Belgrad nicht sehr weit von
meiner entfernt war. Dick Holbrooke, der Sonderbotschafter der USA, den Ihre Partei, Herr Gysi, allzu gerne
als Kriegstreiber hinstellt, hat Milosevic noch in der
letzten Sekunde das Angebot gemacht: Stoppe deine
Soldateska im Kosovo! Führe nicht eine abschließende
Beschlußfassung des serbischen Parlaments herbei.
Wenn du das befolgst, dann können wir weiterverhandeln. So sah das Angebot in der letzten Sekunde aus. Es
ist ausgeschlagen worden, wissend, was dann passiert.
Insofern trägt Milosevic an dem jetzigen Krieg die alleinige Schuld und eine schwere Verantwortung.
({3})
Im Rahmen der EU, der OSZE und im UNSicherheitsrat wurde alles versucht, um eine friedliche
Lösung zu finden. Es kann doch nicht wahr sein, daß ein
Krieg gegen die eigene Bevölkerung und die Unterdrükkung einer großen Minderheit im eigenen Land wieder
zum europäischen Standard des 21. Jahrhunderts gehören. Das ist nicht der einzige Punkt. Erinnern wir uns: Es
begann im Kosovo 1989, und zwar mit der Aufhebung
des Autonomiestatuts. Ich darf Sie auch an den Krieg
in Slowenien erinnern, der allerdings auf Grund der entschiedenen Gegenwehr der Slowenen - Gott sei Dank sehr kurz war. Ich darf Sie an Dubrovnik und an Vukova
erinnern. Im Rückblick muß man sagen, spätestens nach
Vukova hätte die internationale Staatengemeinschaft
eingreifen müssen.
({4})
Ich darf Sie an die furchtbaren Grausamkeiten im Bosnien-Krieg erinnern. Ich darf Sie immer wieder an dieselben Erfahrungen erinnern: Es wurde immer wieder
versucht, den Krieg zu verhindern.
({5})
Es wurde immer wieder versucht, einen Friedensvertrag auszuhandeln. Die einzige Konsequenz war, daß
der Vertrag gebrochen wurde und daß die Politik der
Gewalt weitergegangen ist. Deswegen möchte ich mit
allem Nachdruck den Vorwurf zurückweisen, daß wir
hier von deutschem Boden aus eine Politik des Krieges
betreiben. Wir können nicht zulassen, daß sich in Europa eine Politik der Gewalt durchsetzt, eine Politik, die
keine Skrupel hat, Gewalt einzusetzen, und die bereit ist,
über Leichen zu gehen, auch wenn es Tausende, Zehntausende oder Hunderttausende Tote bedeutet. Das ist
keine Theorie, sondern Praxis auf dem Balkan; sie ist als
Ergebnis der Politik von Milosevic zu sehen. Wenn das
geschieht, würde das nicht nur unsägliches Leid für die
Menschen in der betroffenen Region, sondern auch eine
Gefährdung für Frieden und Sicherheit in dieser Region
mit fatalen Konsequenzen bedeuten. Deswegen muß
diesem jetzt Einhalt geboten werden.
({6})
Meine Damen und Herren, dies ist nicht mit einer
Aggressionspolitik vergleichbar, die aus nationalistischer Überhebung oder gar aus verbrecherischer rassistischer Verblendung entstanden ist und für die das Deutsche Reich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
zweimal verantwortlich war. Wir sind in die internationale Staatengemeinschaft, also in die Demokratien der
EU und der NATO, eingebunden. Diese Demokratien
riskieren jetzt das Leben ihrer Soldaten, um Menschenleben zu retten und vor allen Dingen um einen Friedensvertrag durchzusetzen.
Es war für mich - ich sage das all denen, deren Skrupel ich gut verstehe - einer der deprimierendsten Tage,
als klar war, daß die Konfrontation nicht mehr aufzuhalten ist, weil ein Frieden mit der langfristigen Konsequenz einer Gesamtordnung auf dem Balkan nicht zu
erreichen war. Was notwendig gewesen wäre, liegt auf
dem Tisch; wir können es mit Händen greifen: zunächst
das Autonomiestatut von Rambouillet und als nächstes
dann eine Friedenskonferenz für den südlichen Balkan
mit einem langfristigen Engagement von Europäischer
Union und dem Westen für eine Gesamtordnung. Der
einzige, der das verhindert, ist Milosevic mit seiner Gewaltpolitik. Der Kosovo würde Bestandteil nicht nur Jugoslawiens, sondern auch Serbiens bleiben; das war das
Ziel der internationalen Staatengemeinschaft. Milosevic
müßte nur ja sagen; aber er hat immer nur nein gesagt.
({7})
Herr Milutinovic - ({8})
- Warum soll ich nicht mit der PDS reden? Die PDS artikuliert eine Position, die in der deutschen Bevölkerung
weit verbreitet ist und die ich angesichts von Krieg und
Frieden als legitim empfinde. Das sind Fragen, die von
einer Regierung beantwortet werden müssen.
({9})
Entschuldigen Sie, auch das möchte ich einmal klarstellen: Jede Fraktion in diesem Hause ist nach meiner Auffassung als Diskussionspartner zu akzeptieren. Wenn
sich die Bundesregierung hier mit einer Position auseinandersetzt, die von der PDS und einigen anderen vertreten wird, dann ist das nicht abzuqualifizieren. Ich finde
Ihren Zwischenruf, Herr Kollege Haussmann, mit Verlaub gesagt, unmöglich und eines demokratischen Parlaments nicht würdig.
({10})
Ich möchte hier die Argumente wägen, die uns entgegengehalten werden. Ich möchte es mir nicht so einfach
machen; denn es sind teilweise Argumente, mit denen
ich mich selbst auseinandergesetzt habe. Ich nehme an,
daß auch viele von Ihnen diese Argumente abgewogen
haben, weil die Risiken ja in der Tat auf der Hand liegen.
Meine Damen und Herren, für mich ist ganz entscheidend, daß die Verantwortung bei Milosevic liegt.
Es hätte nur eines Wortes bedurft und es bedarf auch
heute nur eines Wortes, um die Konfrontation zu beenden, nämlich des Wortes: Wir wollen substantiell verhandeln und unterschreiben. In dem Moment wäre die
Konfrontation beendet, und wir könnten dann über den
Frieden und die Implementierung des Friedens reden.
Dies ist - ich kann dem Bundeskanzler nur zustimmen der einzige Weg.
Wir haben uns unmittelbar für die Flüchtlinge und
die Flüchtlingshilfe verwandt. Die Stützung von Mazedonien, von Albanien und von Montenegro ist uns ein
ganz entscheidender Punkt. Darüber hinaus stehen wir in
enger Kooperation mit den Partnern - das gilt nicht nur
für den Gipfel von Berlin, sondern auch für die USA
und Rußland -, um eine weitere Friedensinitiative zu
ermöglichen. Aber dies alles wird nur bei einer klaren
Absage von Milosevic an eine Politik der Gewalt gehen.
Wenn er diesen Schritt nicht tut, dann kann die Konfrontation nicht enden. Die Voraussetzung für Frieden
ist der Verzicht auf Gewalt. Wir können nicht Friedensgespräche führen, wenn im Kosovo das Morden
durch die jugoslawische Armee und die serbische Sonderpolizei weitergeht; das ist kein Frieden.
({11})
Deswegen möchte ich auch von dieser Stelle aus noch
einmal an die Verantwortlichen in Belgrad appellieren,
endlich umzukehren und den Weg zum Frieden zu ermöglichen.
({12})
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einige
wenige Minuten auf den Berliner Gipfel eingehen. Ich
hätte ja Lust, in die hier übliche Polemik einzusteigen.
Herr Gerhardt, Sie haben dem Bundeskanzler vorgehalten, hätte er sich anders verhalten, sozusagen F.D.P.kompatibler,
({13})
dann hätten Jacques Chirac und José María Aznar heute
nacht eine andere Position vertreten. Herr Gerhardt, ich
schätze Sie zu sehr, als daß ich Ihnen unterstellte, Sie
würden diesen Unfug im Ernst glauben.
({14})
Sie mögen ja durchaus das eine oder andere an uns kritisieren.
Weil ich dabei war - was ich vorher dachte, war
Theorie -, ist mir heute nacht zum erstenmal wirklich
klargeworden - ich sage das als überzeugter Europäer;
vielleicht kann es Dr. Kohl aus seinen vielen Erfahrungen bestätigen -, daß dieses Europa mit Horrido auseinanderfliegt, wenn unser Land die europäische Führungsaufgabe nicht wahrnimmt.
({15})
Wenn das wahr ist, dann müssen Herr Schäuble und
Herr Gerhardt ihre Reden sofort wieder einpacken. Das
sage ich Ihnen.
({16})
Ich hätte die beiden bei so einer Gelegenheit gern einmal
dabei. Warum soll man bei einem europäischen Gipfel
nicht einmal überparteilich zusammensitzen? Das wäre
wirklich hervorragend.
({17})
Die Alternative zu der Entscheidung von heute nacht
war, daß wir ausschließlich unseren nationalen Standpunkt vertreten. Manchmal war man angesichts dessen,
was einem an nationalen Standpunkten entgegengebracht wurde, wirklich versucht, zu sagen: Jetzt reicht's.
Alles andere, als eine Entscheidung für Europa zu treffen, wäre aber kurzsichtig gewesen.
({18})
Die Bedeutung der Entscheidung von heute nacht besteht darin, daß sie für Europa ausgefallen ist.
({19})
Wir haben Europa in einer historisch einmalig
schwierigen Situation zusammengehalten. Dennoch haben wir gleichzeitig die wesentlichen Ziele der realen
Konstanz - ich kann sie in der Kürze der Zeit nicht einzeln aufführen - erreicht.
({20})
- Ich stimme Ihnen hinsichtlich der Kofinanzierung
doch zu. Aber mit Frankreich war die Kofinanzierung
jetzt nicht durchsetzbar. Wenn das hätte geschehen sollen, hätten Sie mit entsprechenden Verhandlungen früher beginnen müssen.
({21})
- Herr Dr. Kohl, sagen Sie es Ihren Buben doch einmal.
Sie wissen es doch besser.
({22})
Ich teile manches von Ihrer Kritik an der Agrarpolitik. Nur, was geschehen ist, war eine Entscheidung für
Europa. Das ist der Punkt. Im entscheidenden Augenblick stellte sich die Frage, ob der Bundeskanzler nationales Interesse - im kurzfristigen und damit im falsch
verstandenen Sinne - vertritt oder ob unser nationales
Interesse im Sinne der europäischen Einigung an erster
Stelle steht. Um diese Frage drehte sich die Entscheidung, und diese Entscheidung haben wir in die richtige
Bahn gelenkt.
({23})
Wenn die Zahlen auf dem Tisch liegen, werden wir
die Debatte dazu mit ausreichend Zeit, wie es der Kollege Gerhardt angeboten hat, schön quantifiziert führen.
({24})
- Ich wünsche mir gerne weiterhin so schwache Reden
und so starke Ergebnisse, wie wir sie heute im Bundestag erleben.
({25})
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Gestatten Sie mir, mit dem EUGipfel zu beginnen. Ich finde eine solche Debatte einfach deshalb schwierig, weil die meisten im Hause das
Ergebnis noch nicht kennen. Wir hatten überhaupt keine
Möglichkeit, die Vereinbarungen zu studieren. Wir
sind also allein auf die Informationen des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers angewiesen, und wir
sollen darüber diskutieren. Nur, diese Informationen
sind so allgemein, daß eine Beurteilung wirklich ausgesprochen schwerfällt.
Andererseits möchte ich der rechten Opposition in
diesem Hause sagen: Man kann an das Ergebnis eines
solchen Gipfels auch nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie an einen Kabinettsbeschluß; denn es muß eine
Übereinstimmung mit sehr vielen Ländern in Europa
herbeigeführt werden. Exkanzler Kohl und viele andere
wissen, wie schwierig das ist. Das muß schon der Ausgangspunkt für die Beurteilung sein.
({0})
Auf jeden Fall kann man jetzt schon zwei Dinge begrüßen, nämlich erstens, daß es der Europäischen Union
gelungen ist, sich sehr schnell auf einen neuen Kommissionspräsidenten zu verständigen, und zweitens, daß
dies Herr Prodi sein soll. Daß das so zügig ging, ist auf
jeden Fall zu begrüßen. Das wird auch von meiner
Fraktion ausdrücklich begrüßt.
({1})
Natürlich begrüßen wir auch die Vereinbarung mit
Südafrika als einen ganz wichtigen Schritt zur Kooperation mit diesem in jeder Hinsicht geschundenen Land.
({2})
Es wäre übrigens gut gewesen, wenn die Solidarität mit
Mandela in diesem Hause nicht erst begonnen hätte, als
er Präsident dieses Landes geworden ist. Dies sage ich
in Richtung des gesamten Hauses.
({3})
Ich stelle fest, daß es dann mit der Beurteilung allerdings sehr schwierig und auch kritisch wird. Die Bundesregierung hat vorher - das können Sie nicht leugnen,
Herr Bundesaußenminister - wirklich groß getönt, was
die Nettoentlastung der Bundesrepublik Deutschland
betrifft. Daß die Töne von Herrn Stoiber da noch lauter
wurden, ist zwar richtig. Aber animiert worden ist er ursprünglich durch den Bundeskanzler, der damit begonnen hat. Das Ganze konnte so nicht funktionieren.
({4})
Nun habe ich mir die Rede des Bundeskanzlers
durchgelesen, um zu sehen, was er dazu gesagt hat. Da
habe ich wirklich einen schönen Satz gefunden. Da steht
nämlich folgendes:
Wir haben uns in Berlin geeinigt, daß die Kurve der
deutschen Nettozahlungen in der Tendenz gestoppt
und umgedreht wird.
Das ist so nebulös, Herr Bundesaußenminister, daß
damit nun überhaupt kein Mensch etwas anfangen kann.
Was heißt „in der Tendenz“? Wann wird das sein? In
welche Richtung wird das gehen, und in welchen Stufen
wird das geschehen? Das ist als Information ein bißchen
dünn. Ich denke einmal, wenn die Ergebnisse erfolgreicher gewesen wären, hätte der Bundeskanzler bei diesem Punkt etwas länger verharrt; dann wäre er darauf
ausführlicher eingegangen, als er es getan hat.
({5})
Dann gibt es noch einen schönen Satz, und zwar zur
Frage der Beitragsgerechtigkeit, was Großbritannien
betrifft. Da heißt es:
Bei dem Beitragsrabatt für Großbritannien sowie
beim Schlüssel für die Finanzierung dieses Rabatts
haben wir Modifikationen vereinbart, die zu einer
größeren Beitragsgerechtigkeit führen.
Allgemeiner und verschwommener kann man es nicht
ausdrücken. Kein Mensch weiß, was da nun wirklich
vereinbart worden ist, wie das Ergebnis aussieht.
Ich meine auch, daß die Ergebnisse für die Landwirtschaft bedrückend sind. Nun kann es ja sein - das
muß ich durchaus einräumen -, daß in Berlin kein anderer Kompromiß zu erreichen war; das ist möglich. Aber
dann ist das, was Sie im Zusammenhang mit der sogenannten ökologischen Steuerreform und durch andere
Gesetze an zusätzlichen Belastungen für die Landwirtschaft beschlossen haben, einfach unvertretbar.
({6})
Wenn man auf europäischer Ebene keinen Ausgleich
erreicht, dann hätte man ihn innerstaatlich erstreiten
müssen. Aber die Landwirtschaft jetzt von allen Seiten
kaputtzumachen, ist einfach indiskutabel. Das gilt für
die Landwirtschaft in Ost und West. Wir werden die
Folgen zu spüren bekommen.
Ansonsten muß man, auch wenn man die Ergebnisse
noch nicht kennt, würdigend sagen: Es gab auch in diesem Hause und in der Presse, und zwar in der gesamten
europäischen Presse, sehr viele, die es überhaupt nicht
mehr für möglich gehalten haben, daß dort ein Kompromiß gefunden wird. Es wurde von einer lang anhaltenden Strukturkrise gesprochen. Daß heute nacht ein
Ergebnis zustande gekommen ist, ist zunächst einmal
ein Ergebnis für sich, das man auch positiv bewerten
sollte.
({7})
Ich komme jetzt zu dem wesentlich schwereren Konflikt, der uns hier bewegt, über den wir gestern schon
debattiert haben und zu dem der Bundesaußenminister
eben noch einmal sehr eindringlich gesprochen hat. Das
ist die Frage des europäischen Krieges gegen Jugoslawien und des Kosovo-Konflikts.
Es hat mich schon bestürzt, Herr Bundesaußenminister, daß Sie zur rechtlichen Grundlage dieses Krieges kein einziges Wort verloren haben, genausowenig
wie der Bundeskanzler und genausowenig wie der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Gerhardt. Der einzige, der
etwas dazu gesagt hat, war der Fraktionsvorsitzende der
CDU/CSU, Herr Schäuble.
Er hat gesagt, daß der Beschluß vom 16. Oktober
1998 auf sicherer verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Grundlage gefaßt worden sei; dies hätte jetzt
auch das Bundesverfassungsgericht bestätigt.
({8})
Das ist völlig falsch. Erstens hat das Bundesverfassungsgericht das überhaupt nicht bestätigt, weil es sich
nur mit der Zulässigkeit eines Antrages auseinandergesetzt hat. Es hat diese Frage sogar ausdrücklich offengelassen und festgestellt, daß es damit kein Urteil über
die Verfassungsmäßigkeit trifft. Zweitens ist es ganz
eindeutig: In der Wissenschaft, im Großteil der Medien,
von der UNO - nicht nur von Rußland -, vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, wird klar darauf hingewiesen, dieser europäische Krieg ist ein Völkerrechtsbruch.
({9})
Nun haben Sie, Herr Gerhardt, dazu gesagt: Rechtsbrechern muß man entgegentreten. Das ist wahr. Aber
muß man ihnen mit Rechtsbruch entgegentreten? Ich sage nein. Das ist immer der falsche Weg.
({10})
Wissen Sie, Völkerrecht dann einzuhalten, wenn es mit
den eigenen Zielen, mit dem, was man ohnehin tun will,
übereinstimmt, das ist ja leicht. Das ist wie beim innerstaatlichen Recht. Aber es dann einzuhalten, wenn es
einem politisch nicht paßt, das ist die eigentliche
Schwierigkeit. Für genau solche Fälle schafft man
Recht. Wenn man es verletzt, dann ist man nicht viel
besser als andere Rechtsverletzer. Dieser Tatsache müssen wir einfach ins Auge sehen.
({11})
Sie - sowohl der Bundeskanzler als auch Herr
Schäuble - haben gesagt, die Bomben richten sich nicht
gegen das serbische Volk, sondern gegen Milosevic.
Meine Damen und Herren, das ist doch nichts weiter als
eine abstrakte Phrase, die mit Realitäten nichts zu tun
hat. Bomben richten sich niemals gegen einen einzelnen
Diktator, sondern immer gegen das Volk.
({12})
Es sind immer die Zivilisten und die wehrpflichtigen
Soldaten, die dabei sterben, nicht der Diktator. Das war
im Irak so. Erklären Sie mir doch einmal: Ist denn Saddam Hussein durch die Bombenangriffe heute in irgendeiner Form geschwächt? Ich behaupte, auch hinter Milosevic standen noch nie so viele Jugoslawen wie heute.
Das ist auch das Ergebnis der Bombenangriffe.
({13})
Wir liegen doch in der Beurteilung dieses Mannes gar
nicht so weit auseinander, Herr Bundesaußenminister
Fischer, und auch nicht in der Beurteilung des Kosovo,
obwohl man dazu noch einiges sagen muß. Ich sage nur:
Ihre Antwort darauf, die Antwort Krieg, das ist genau
die falsche. Sie bringt uns keinen Schritt weiter und setzt
uns völkerrechtlich und nach dem eigenen Grundgesetz
ins Unrecht.
({14})
Krieg darf nicht wieder zum Mittel der Politik werden. Mir wird immer gesagt: Ja, würden Sie denn tatenlos zusehen? Sie, Herr Gerhardt, haben gesagt: Pazifismus ist etwas Ehrenwertes, führt hier aber nicht weiter.
Es gibt in meiner Partei viele Pazifisten. Ich würde mich
gar nicht so bezeichnen, weil ich zum Beispiel das Recht
auf Notwehr innerstaatlich durchaus akzeptiere. Ich gehe
auch so weit zu sagen: Man muß sich auch militärisch
gegen eine Aggression wehren dürfen.
({15})
Das Problem ist nur, Herr Gerhardt, Jugoslawien hat
keinen der Staaten angegriffen, die jetzt Jugoslawien
bombardieren. Deshalb ist es eben kein Verteidigungs-,
sondern ein Angriffskrieg. Und der ist völkerrechtlich
verboten. Das ist eine Tatsache. Im Völkerrecht gibt es
nichts dazwischen.
({16})
Sie können doch eines nicht leugnen, Frau MatthäusMaier: Die Ordnung, die nach 1945 in der UN-Charta
festgelegt worden ist, ist beseitigt. Wenn Sie mir das
schon nicht glauben, vielleicht glauben Sie es dann Professor Bradeddo von der Bundeswehrakademie Hamburg, also jemandem, der sich nun wirklich mit Bundeswehr beschäftigt und mit Sicherheit, wenn er dort
Professor ist, eine positive Beziehung dazu hat. Dieser
Mann hat heute im Frühstücksfernsehen gesagt: Es ist
ein klarer Verfassungs- und Völkerrechtsbruch; 40 Jahre
UN-Politik sind damit zerstört.
({17})
Wenn Sie das Vetorecht Rußlands und Chinas aushebeln, dann hat auch das von Frankreich und Großbritannien in anderen Situationen keinen Wert mehr. Sie geben doch die UN-Charta nicht nur für die NATO frei,
die Sie davon abkoppeln, sondern praktisch für alle
Kontinente. Das ist das Problem. Es geht doch nicht nur
um kurzfristige Folgen, sondern auch um Spätfolgen, die
man mitzubedenken hat.
({18})
Ich sage noch etwas anderes. Natürlich weiß ich, daß
die Situation schwer ist. Aber wie hat denn alles angefangen? Alles hat nach Dayton damit angefangen, daß
Jugoslawien die Rechte der albanischen Minderheit in
Jugoslawien bzw. der albanischen Mehrheit im Kosovo
verletzt hat. Das ist wahr. Aber es gab damals keine
Massaker, es gab eine Verletzung der Rechte. Das kennen wir von der Welt. Dann passiert irgendwann folgendes: Diese Bevölkerung fängt an, sich zu bewaffnen, um
für Unabhängigkeit und Loslösung von dem Staat einzutreten. Jeder Zentralstaat setzt dagegen Militär ein.
Das war und ist im Baskenland so, das war und ist so in
Nordirland, das ist vor allem im kurdischen Gebiet der
Türkei so. Das war in Tschetschenien so und im Kaukasus. Erinnern Sie sich noch, als die russische Armee gegen Tschetschenien lief und wir alle - nicht wir alle,
leider - protestiert und gesagt haben: Das ist kein Lösungsmittel? Herr Kohl, Sie haben sich damals als Bundeskanzler hingestellt und gesagt: Man muß auch das
Recht Rußlands auf territoriale Integrität respektieren.
Deshalb hätten Sie Verständnis für diesen Einsatzbefehl.
Ich hatte dieses Verständnis überhaupt nicht. Ich hatte es
auch nicht bei Jugoslawien, weil ich nicht glaube, daß
man solche Probleme - und seien sie auch innerstaatlich
- mit militärischen oder polizeilichen Mitteln lösen
kann.
({19})
Insofern gibt es eine Glaubwürdigkeitslücke: Sie beurteilen das je nach Situation anders. Die Türkei ist
Mitglied der NATO und macht jetzt bei der Abwendung
einer humanitären Katastrophe mit, während sie seit
Jahrzehnten eine schlimme humanitäre Katastrophe im
eigenen Land organisiert. In der letzten Woche hat eine
Regierung aus SPD und Grünen neuen Waffenlieferungen an die Türkei zugestimmt, anstatt diese wenigstens,
wie sie es vorher immer hier im Bundestag gefordert haben, zu stoppen.
({20})
Die Alternative ist nicht Tatenlosigkeit. Das kommt gar
nicht in Frage; das ist ganz klar.
Was ist denn passiert? Nachdem sich die Zustände
verschlimmert hatten, hat man im Oktober ein Abkommen getroffen. Tatsächlich haben sich - das kann man ja
nicht leugnen - die jugoslawischen Streitkräfte und die
Polizei zurückgezogen. Es wurde sozusagen etwas erträglicher. Dann wurden OSZE-Beobachter hingeschickt. 2 000 waren vereinbart. Die Höchstzahl derjenigen, die da waren, betrug 1 200. Warum haben wir nicht
wirklich die 2 000 entsandt? Anschließend begannen die
Verhandlungen in Rambouillet. Immerhin hatte Jugoslawien der Autonomie schon im Prinzip zugestimmt. Es
ist doch nicht so, daß in Rambouillet gar nichts herausgekommen wäre. Im übrigen gab es ja zwei Vertragsentwürfe, Herr Bundesaußenminister. Auf dieser
Grundlage hätte man zwingend weiter verhandeln müssen. Denn ganz schlimm wurde es im Kosovo wieder,
nachdem die OSZE-Beobachter im Zuge der Vorbereitungen der Bombardierungen abgezogen wurden, weil
die jugoslawische Armee und Polizei dann nachstieß.
Was Sie, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesaußenminister, mir nicht beantwortet haben: Worin soll denn die
Lösung Ihrer Alternative bestehen? Es gibt keine andere
als die von Verhandlungen. Sie sagen, Milosevic müsse
nur zustimmen. Sie haben Ihn als schlimmen Diktator,
als irrational bezeichnet.
({21})
Sie sagen, er nehme den Krieg in Kauf und handele gegen die Interessen seines eigenen Volkes. Können Sie
mir dann erklären, warum er nach vier, fünf Bombenangriffen plötzlich rational werden, plötzlich sein Volk
lieben und plötzlich den Krieg als ein Mittel ausschließen soll? Er wird nicht unterschreiben.
Und was machen wir dann? Diese Frage ist nicht beantwortet. Was ist das politische Ziel, wenn er nicht unterschreibt? Denn wenn er allein einem Waffenstillstand
zustimmen würde, genügte das nicht; Sie verlangen ja
zudem die Unterschrift. Sie haben der deutschen Bevölkerung bislang keine Antwort auf die Frage gegeben,
was Sie dann machen. Sollen dann Bodentruppen einmarschieren? Wo ist das politische Lösungskonzept?
Das ist hier nicht offenbar geworden. Das sind Fragen,
die ganz viele Menschen bewegen - ich finde, zu Recht.
Sie haben eine Antwort darauf verdient.
({22})
Man kann doch nicht einfach sagen: Wir bomben bis
zur Unterschrift. Wie lange soll das gehen, wenn sie
nicht kommt?
({23})
- Ich glaube schon, daß ich es verstanden habe.
({24})
- Stellen Sie eine Zwischenfrage! Ich kann das akustisch
nicht verstehen. Ich bin sehr gerne bereit, darauf zu ant-
worten.
Wir müssen die Bombardierungen beenden. Wir
müssen zurück zu Verhandlungen. Wir müssen Ruß-
land wieder in das Boot nehmen. Rußland war bereit,
den Druck zu verschärfen. Vor allem müssen wir den
UN-Sicherheitsrat wieder einschalten. Ansonsten hat das
katastrophale Folgen. Das Tischtuch zu Rußland ist
doch schon nahezu zerschnitten.
Jetzt noch zu etwas, was mich in den letzten Tagen
sehr beschäftigt hat: Die Argumente sind fatal. Es wird
immer von der militärischen Überlegenheit der NATO
gegenüber Jugoslawien gesprochen, die natürlich zwei-
fellos gegeben ist. Das Argument in bezug auf Rußland
ist dann: Die können gar nichts machen, die brauchen
neue Kredite, und zwar spätestens im Mai, wenn die
neue Charge des IWF ansteht. Wo sind wir moralisch
hingekommen, wenn das die entscheidenden politischen
Argumente werden: Wir sind a) militärisch überlegen
und b) finanziell stärker; deshalb können wir eh entscheiden, was die anderen machen?
({25})
Wer sagt Ihnen denn, wer in einem halben Jahr in Rußland die Macht hat? Wer garantiert, daß dann, wenn das
Argument mit dem Geld noch zehnmal gebraucht wird,
dort nicht ganz irrationale Entscheidungen getroffen
werden? Politik ist nicht nur rational; sie ist auch irrational. Das macht mir große Sorgen.
Herr Kollege
Gysi, Sie haben schon die ganze Ihrer Fraktion zustehenden Redezeit ausgeschöpft.
Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Satz. - Über die historische Dimension
ist übrigens so gut wie gar nicht gesprochen worden; lediglich der Bundesaußenminister hat am Rande darauf
hingewiesen.
Es bleibt eine traurige Tatsache: Europa und die Welt
werden hinterher anders aussehen. Das gilt ebenso für
die SPD, aber auch für die Grünen, die ihren Pazifismus
aufgegeben haben.
Ich finde es traurig
Herr Kollege
Gysi!
-, daß dieser Krieg in Europa in Deutschland durch einen Kanzler der Sozialdemokratie angeordnet wurde. Das hätte nie passieren dürfen.
Das wird Folgen haben - kurzfristige, mittelfristige und
auch langfristige Folgen.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Norbert Wieczorek.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Gysi, nur ein
Wort zu Ihnen: Wenn Sie von Notwehr sprechen und dafür sind, dann ist auch Nothilfe erforderlich.
Zu dem, was jetzt passiert ist, möchte ich das wiederholen, was andere bereits gesagt haben: Wir tun gut daran, an unsere Soldaten und ihre Angehörigen zu denken.
Wir tun aber auch sehr gut daran - ich würde mir wünschen, daß das stärker geschieht -, ebenfalls der Opfer
dieser Politik von Milosevic zu gedenken. Die künftigen
Planungen der EU sollten eine Hilfe für diese Opfer und
diese Region vorsehen. Denn nur so kann dort eine auf
die Zukunft gerichtete Entwicklung einsetzen. Aber der
Kampf muß jetzt wohl ausgefochten werden.
({0})
Ich habe deshalb großen Respekt vor dem, was auf
dem Gipfel in dieser Situation erreicht worden ist. Es
war schon vorher schwierig genug, auf einen Kompromiß hinzusteuern. In dieser Situation war der Gipfel, glaube ich, ein großer Erfolg. Es sind auch die
Grundlagen der EU deutlicher geworden; sie gehen im
Gerangel um Milchquoten und Milchkühe manchmal
unter.
Lassen Sie mich zu diesem Gerangel etwas sagen: Ich
sehe in diesem Streit um kleinliche Interessen in Wirklichkeit einen Teil der vollzogenen Integration. Denn in
der EU sind mittlerweile überall Interessen betroffen,
über die verhandelt werden muß. Aber sicherlich erinnerte man sich auch daran, was die EU für uns darstellt:
In Europa - jedenfalls in Westeuropa, wir hoffen, bald
auch in Mittel- und Osteuropa - ist sie ein Garant für
Frieden, Sicherheit, Freiheit und Wohlstand. Ich glaube,
der erzielte Kompromiß ist auf dieser Grundlage ein
großer Schritt in diese Richtung.
({1})
Deswegen gilt es als erstes, jetzt die Funktionsfähigkeit der EU-Institutionen zu sichern. Darum begrüße ich
für die SPD-Fraktion ausdrücklich, daß sich die Staatsund Regierungschefs auf Romano Prodi als Präsidenten
der EU-Kommission geeinigt haben. Ich begrüße ebenfalls, daß bereits im April mit ihm über die weiteren anstehenden Reformen geredet werden soll.
({2})
Die Entwicklungen auf dem Balkan zeigen uns überdeutlich, welche Bedeutung der Handlungsfähigkeit der
Europäischen Union für Frieden und Sicherheit in Europa zukommt. Im Amsterdamer Vertrag, Herr Kohl, ist ja
einiges erreicht worden; das ist begrüßenswert. Nun ist
es erforderlich, daß der besondere Beauftragte - Mister
GASP, oder wie immer man ihn benennt - eingesetzt
wird, damit wir zu einer Strategie kommen. Es gilt jetzt,
diese außenpolitischen Strategien zu entwickeln und anzuwenden, und zwar mit Blick auf mehr gemeinsame
europäische Politik, auch wenn sie weitgehend noch intergouvernemental bleibt. Ich sehe das als eine Aufgabe
auch auf der Basis dieses Gipfels. Ohne eine Einigung
bei der Agenda 2000 würde das im luftleeren Raum stehen.
Ich möchte noch darauf hinweisen, daß es in der EU
lange eine schwierige Periode gegeben hat. Ich glaube,
daß mit dieser Agenda 2000 der Reformstau aufgehoben
ist und daß wir wieder handlungsfähig geworden sind,
({3})
und zwar in der Kombination von Agenda 2000, Reform
der Kommission und der Verwaltung und der neuen
Stellung des Präsidenten sowie durch die Bewältigung
neuer Aufgaben, die uns zwar schon der Amsterdamer
Vertrag aufgegeben hat, mit deren Bewältigung wir aber
noch nicht sehr weit gekommen waren, weil über die
Agenda 2000 noch nicht entschieden war.
Ich glaube, daß dieser Gipfel ein großer Erfolg für die
Bundesregierung war, insbesondere auch für den Bundeskanzler.
({4})
Ich darf daran erinnern, daß bei der letzten Europadebatte in der vergangenen Woche die CDU/CSU der
Bundesregierung Substanzlosigkeit in der Europapolitik
vorgeworfen hat. Herr Ministerpräsident Stoiber hat angesichts des Rücktritts der Kommission sogar die Verschiebung des Berliner Gipfels gefordert; dies wurde
mehrfach gesagt. Herr Schäuble wollte das in der letzten
Debatte zwar nicht wahrhaben; aber dummerweise für
ihn kam die Meldung während der Debatte hier herein.
Es wäre verantwortungslos gewesen, so zu handeln.
Durch ein Verschieben des Gipfels wäre die Europäische Union sehenden Auges zu einer Zeit in eine ganz
ernste Krise geraten, in der Europa insgesamt sich in
einer Konfliktsituation befindet. Ich sage das gerade mit
Blick auf den Kosovo, aber nicht ausschließlich.
({5})
Für uns stand daher immer fest: Es gibt keine Verschiebung der Agenda. Das gehörte nie zu unserer Strategie. Unsere Standfestigkeit hat sich ausgezahlt. Die
Agenda 2000 ist jetzt verabschiedet. Damit haben wir
Europa an drei strategischen Punkten in eine gute Ausgangslage gebracht: Die notwendigen internen Reformen sind auf den Weg gebracht; sie werden zum Abbau
von Bürokratie, zu mehr Transparenz in den Sachpolitiken, zum Beispiel im Agrarbereich, zu mehr Spielraum
für die Mitgliedstaaten und Regionen, zum Beispiel bei
der Prämiengestaltung, führen. Die Reformen sind deshalb auch ein Schritt zu mehr Subsidiarität in der Europäischen Union. Nur, Subsidiarität kann nicht heißen,
alles wieder zu renationalisieren, so daß es dann keine
Gemeinsamkeiten mehr gibt. Dieser Begriff meint etwas
anderes.
Die zentralen Reformschritte im Hinblick auf die EUFinanzen sind: Die Ausgaben werden wesentlich langsamer steigen, als es die Kommission in ihren eigenen
Vorschlägen vorgesehen hatte; es wird mehr Beitragsgerechtigkeit geben. Beispielhaft möchte ich auf den Rabatt für Großbritannien eingehen. Es stimmt, daß er erhalten geblieben ist; das war auch nicht anders zu erwarten. Aber seine Berechnungsart und die Art und
Weise, wie - und von wem - er finanziert wird, hat sich
deutlich geändert; dieses wird sich günstig auf die BeiDr. Norbert Wieczorek
tragszahlungen der Bundesrepublik Deutschland auswirken, um es einmal deutlich zu sagen.
({6})
- Das ist so, ich könnte Ihnen die Zahlen jetzt nennen,
möchte es aber mit Rücksicht auf Herrn Blair und die
Diskussionen in seinem Land nicht machen. Sie können
jedenfalls die vorläufigen Zahlen nachher gern von mir
bekommen.
({7})
- Das werden wir mit Freude tun. Sie werden sich dann
für die Fehlinformationen, die Sie gegeben haben, mit
„mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“ entschuldigen. Ich hoffe zumindest, daß Sie diese Größe haben,
Herr Hirche.
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß es gelungen
ist, die reale Konstanz einzuhalten und insgesamt einen
Oberdeckel von 1,27 Prozent vom BIP für den Haushalt
festzuschreiben. Das schließt die Mittel für die Erweiterung ein, die separiert bleiben. Herr Kollege Haussmann, Sie haben jetzt den Sitz von Herrn Gerhardt eingenommen. Ist Ihnen völlig entgangen, was Herr Aznar
für die spanische Regierung gefordert hat? Er forderte
deutlich mehr als 1,27 Prozent und Deutschland möge
noch mehr Beitrag zahlen. Haben Sie das nicht wahrgenommen? Oder wollen Sie es nicht wahrnehmen, weil
Sie nur noch an den Europa-Wahlkampf denken und
deshalb Scheuklappen tragen?
({8})
Ich möchte auch darauf hinweisen, daß mit der
Agrarreform, die ich mir etwas weitgehender gewünscht hätte - ich sage das auch hier -, die deutsche
Landwirtschaft in Europa insgesamt wieder wettbewerbsfähiger, umweltverträglicher und marktorientierter
wird. Die Strukturfondsförderung wird künftig viel stärker als bisher auf die strukturschwächsten und damit
förderbedürftigsten Regionen konzentriert. Das ist bei
uns zum Beispiel Ostdeutschland, das als Ziel-1Fördergebiet eingestuft ist. Die Mittel werden also viel
effizienter eingesetzt. Zudem wird die Förderung vereinfacht und Bürokratie abgebaut. Das ist ja ein alter
Wunsch, Herr Stoiber, der gerade vom Bundesrat immer
geäußert wurde. In den Details wurden also Verbesserungen erzielt. Das ist zu begrüßen.
Die Europäische Union ist auf dem Weg zur Erweiterungsfähigkeit einen großen Schritt vorangekommen.
Sie hat damit den Beitrittskandidaten in Mittel- und Osteuropa unmißverständlich signalisiert: Ihr könnt euch
auf uns verlassen. Die deutsche Bundesregierung weiß
auch um die Verantwortung für den Beitrittsprozeß.
Verantwortung tragen - das sage ich an die Adresse
derjenigen, die immer möglichst frühe Daten nennen
wollen - heißt auch, keine leichtfertigen Versprechungen abzugeben.
({9})
Wir haben jedenfalls zu keinem Zeitpunkt unrealistische
Versprechungen gegenüber unseren Partnern im Osten
gemacht. Wir haben vielmehr versprochen, alles zu tun,
um die materiellen Voraussetzungen für die Erweiterungsfähigkeit zu schaffen. Das ist mit dem in Berlin beschlossenen Paket geschehen.
({10})
Der Agrarkompromiß - bei all seinen Feinheiten hat auch die Ausgangsposition für die WTO-Runde gestärkt.
({11})
- Sie brauchen gar nicht so zu lachen, Herr Haussmann.
({12})
- Nein, das ist schon so, die Preise werden abgesenkt
usw. Das ist schon ein Einstieg.
Ich sage aber ausdrücklich: Dies ist nicht ausreichend. Denjenigen, die ganz besonders auf ihren persönlichen, nationalen Interessen herumgeritten sind und
deshalb den ursprünglichen Kompromiß, den Herr Funke ausgehandelt hatte, verlassen hatten, rate ich nur,
noch einmal zu überlegen, ob sie nicht zuviel gefordert
haben und ob sie nicht sehr bald durch die WTOVerhandlungen zu einer Revision gezwungen werden.
Ich sage das in Richtung auf einen bestimmten westlichen Nachbarn, der sogar in diesem Zusammenhang, in
einer Situation von relativ geringer Bedeutung, das Wort
der „vitalen nationalen Interessen“ ins Spiel gebracht
hat. Ich halte dieses Wort für sehr gefährlich, denn das
war damals die Begründung für den Rückzug von de
Gaulle aus dem Brüsseler Geschehen. Ich erinnere daran
für den Fall, daß das jemand nicht mehr weiß. Ich sage
deshalb auch nicht, daß WTO und freier Welthandel für
uns von vitalem nationalen Interesse sind, jedenfalls
nicht in dem rechtlichen Sinne, in dem dieser Begriff
verwendet wurde. Aber ich möchte doch darauf verweisen, daß die WTO für uns von ganz zentralem Interesse
ist;
({13})
denn wir leben vom freien Welthandel, und das darf
nicht durch ein kleinliches Durchsetzen von Partikularinteressen in der Landwirtschaftspolitik gefährdet werden.
({14})
Ich wollte damit deutlich machen: Man kann mit dem
Ergebnis nicht hundertprozentig zufrieden sein. Aber ein
alter Freund hat mir kurz vor den Verhandlungen gesagt:
Weißt du, Norbert, wenn alle gleichermaßen unglücklich
aus den Verhandlungen gehen, dann ist es eigentlich ein
glückliches Ergebnis. Ich glaube, das haben wir fast erreicht. Insofern bin ich ganz zufrieden.
({15})
Auf dem Berliner Gipfel ist die Stabilisierung der
Ausgaben im EU-Haushalt beschlossen worden. Die
Ausgaben werden übrigens zwischen 2000 und 2006
deutlich geringer steigen, als sie zwischen 1994 und
1999 gestiegen sind. Bei den wichtigsten Ausgabenblöcken, nämlich der Agrar- und Strukturpolitik, werden
die Haushaltsansätze künftig erheblich unter dem
Niveau liegen, das die Europäische Kommission im
Rahmen der Agenda 2000 vorgeschlagen hatte. Die Initiative der Kommission war die ursprüngliche Verhandlungsgrundlage; daran muß erinnert werden.
Das heißt aber auch, daß unsere Beiträge stabilisiert
werden. Für die gemeinsame Agrarpolitik haben sich die
Staats- und Regierungschefs auf die reale Konstanz verständigt. Auch dies wird unseren Beitrag durch geringere Zahlungen an den EU-Haushalt stabilisieren.
Es wird auch zu einer gerechteren Verteilung der
finanziellen Lasten kommen. Das geht nicht von heute
auf morgen; aber die Reform auf der Einnahmeseite ist
fest vereinbart. Der Übergang vom Mehrwertsteuerregime zur Bemessungsgrundlage Bruttoinlandsprodukt
- wobei Italien einen mutigen Schritt gemacht hat; auch
das muß man einmal erwähnen - ist ein ganz erheblicher
Fortschritt, der weit über das Jahr 2006 hinausgeht, insbesondere im Hinblick darauf, daß entsprechend der
Erweiterung der EU im Haushalt mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Dies halte ich für einen
ganz entscheidenden Fortschritt.
({16})
Den Korrekturmechanismus beim britischen Beitragsrabatt habe ich schon genannt. Wenn ich es richtig gesehen habe, ist das sogar Teil eines Korrekturmechanismus, der ein Einstieg in einen künftigen allgemeinen
Korrekturmechanismus sein könnte.
({17})
Dies wäre sehr positiv, wenn es im schriftlichen Ergebnis endgültig so geregelt wäre.
Dann zur Kofinanzierung. Ich persönlich - ich glaube, auch die SPD insgesamt - bedaure sehr, daß Kofinanzierung nicht möglich war. Sie hätte nämlich einen
viel besseren Einstieg in die Agrarreform bedeutet und
manches erleichtert. Nur, eines verstehe ich nicht, Herr
Schäuble: wie Sie Kofinanzierung so fordern können,
obwohl in der Kofinanzierungsvariante von Herrn Stoiber ausdrücklich das enthalten war, was die Franzosen
dauernd gegen die Kofinanzierung angeführt haben,
nämlich eine Aufkündigung der gemeinsamen Agrarpolitik, ein Weggehen von der obligatorischen Agrarpolitik.
({18})
- Wenn Sie sagen, das sei falsch, dann müssen Sie das
Herrn Védrine, Herrn Chirac und dem französischen
Parlament sagen, die das in ihren Beschlüssen festgehalten haben. Ich referiere hier lediglich, was Sie gesagt
haben. Die Franzosen haben gesagt, wir wollten diese
Kofinanzierung, während der Vorschlag der deutschen
Bundesregierung anders war als der der CSU; das ist
richtig. Denn wir haben gesagt: Das Ganze bleibt obligatorisch, und es geht lediglich darum, daß die Auszahlungen nicht aus dem Brüsseler Haushalt, sondern national erfolgen; es soll aber keinen Spielraum mehr für diskretionäre nationale Maßnahmen geben. Das, was Sie
als Kofinanzierung gefordert haben, war genau das, wogegen sich die Franzosen gewendet haben. Sie haben
also mit diesem Gerede den Franzosen überhaupt erst
den Vorwand geliefert, das insgesamt abzulehnen.
({19})
Soweit zur historischen Wahrheit, wenn Sie sich schon
nicht um die Details kümmern.
Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich das Protokoll der
Beratung im französischen Parlament anzuschauen.
Dann werden Sie genau sehen, wie dort Kofinanzierung
interpretiert wurde, nämlich wie von Herrn Stoiber und
nicht so wie wir es gefordert haben. Das müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Ich kann Ihnen nicht helfen,
wenn Sie sich zuwenig in der Europapolitik tummeln
und das nicht mitbekommen. Das ist Ihr Problem.
Mit dem Agrarkompromiß wird übrigens die Politik
der schrittweisen Anpassung an den Markt fortgesetzt.
Ich halte das für positiv, wenn ich es mir auch besser
gewünscht hätte. Aber eines möchte ich auch sagen: Die
unsachliche Begleitmusik, die von den Bauernverbänden
kam, halte ich auf dieser Basis nicht für gerechtfertigt.
Um einmal mit einer Mär aufzuräumen: Die alte Agrarreform hat durchaus eine Verbesserung der Einkommenssituation gebracht. Ich nehme an, daß die Bauern
das sehr viel schneller begreifen werden als ihre Funktionäre.
Da Sie so skeptisch schauen: Vor mir liegt der Agrarbericht des Jahres 1999 der alten Bundesregierung. Die
Steigerung der Gewinne der landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe betrug 1995/96 7,2 Prozent, 1996/97
3,4 Prozent und 1997/98 3,7 Prozent. Diese Steigerung
liegt weit über der Steigerung der Arbeitnehmereinkommen insgesamt. Auf diesen Punkt wollte ich verweisen.
({20})
- Ihre Koalition war doch für diesen Bericht verantwortlich. Entweder nehmen Sie den Bericht zur Kenntnis, oder Sie sagen, daß Ihre damalige Bundesregierung
einen falschen Bericht vorgelegt hat. Ich kann mir aber
nicht vorstellen, daß die zuständigen Beamten so gehandelt haben.
({21})
Ein Wort zu den Strukturfonds. In diesem Bereich
finde ich das Ergebnis besonders respektabel. Die
Kommission hatte 240 Milliarden Euro gefordert; herausgekommen sind jetzt 213 Milliarden Euro mit einer
gleichzeitigen Konzentration auf die Ziel-1-Gebiete, was
insbesondere für die neuen Bundesländer wichtig ist. Es
wird noch eine weitere Verbesserung des Rückflusses in
die neuen Bundesländer geben. Eine Quote von 68 Prozent für die Ziel-1-Gebiete ist sogar höher als geplant.
In diesem Zusammenhang muß man darauf hinweisen, daß Berlin auf Grund der positiven Entwicklung in
Ostberlin nicht mehr ein Ziel-1-Gebiet sein kann. Die
Übergangshilfen werden aber mit der „kleinen“ Summe
von 100 Millionen Euro großzügig bemessen. Dies ist
ein sehr gutes Signal. Ich finde es ferner sehr positiv,
daß die Ziel-2-Gebiete zusammengeschnitten worden
sind. Aber auch hier wurden Sicherheitssätze eingebaut,
die den Übergang erleichtern.
Ein Wort zum Kohäsionsfonds. Es hat die Legende
gegeben - leider ist sie von vielen geteilt worden -, der
Kohäsionsfonds sei nur zur Heranführung an die Währungsunion geschaffen worden. Ich muß daran erinnern,
daß sich darüber kein einziges Wort im Vertrag findet.
Ich habe aber in einem alten Ecofin-Bericht gelesen, daß
1992 der damalige Staatssekretär von Theo Waigel, den
ich nach wie vor sehr schätze, ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß es sich beim Kohäsionsfonds nicht um
Mittel handeln sollte, die die Konvergenz - damit ist die
Annäherung an die Maastricht-Kriterien gemeint - bewirken sollten.
In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern,
daß der Kohäsionsfonds eine andere Funktion hatte.
Herr Kohl weiß vermutlich - ich will diesen Punkt aber
nicht weiter vertiefen oder sein Handeln gar kritisieren -,
was die Folgen auf Grund seiner Zusage waren, daß
nach der Aufnahme der ostdeutschen Länder in die Ziel1-Gebiete die bisherigen Ziel-1-Gebiete nicht weniger
Geld bekommen sollten. Ich habe für diese Haltung
volles Verständnis und kritisiere sie nicht. Aber man
kann nicht den Popanz aufbauen, als sei der Kohäsionsfonds nur für die Heranführung an die Währungsunion
eingerichtet worden.
({22})
Ich will an dieser Stelle noch einen Punkt hinzufügen:
Ich halte den Kohäsionsfonds gerade in bezug auf die
Osterweiterung für ein zielgerichtetes und daher erhaltenswertes Instrument.
({23})
- Ich rede über den Kohäsionsfonds als Instrument; ich
rede nicht über Dotierung. - Dieses Instrument hat sich
in der Praxis als besonders zielgerichtet in Fragen des
Umweltschutzes und der Verbesserung der Infrastruktur
erwiesen. Ich bitte, über diesen Punkt einmal nachzudenken und dann vielleicht die Debatte anders zu führen.
Das heißt nicht, daß Spanien noch Geld erhalten sollte,
wenn sein Bruttoinlandsprodukt 90 Prozent des Durchschnitts der EU überschritten hat. In diesem Punkt sind
wir uns doch einig.
Ich möchte noch einen kurzen Ausblick auf das geben, was noch vor uns liegt. Wir haben einen Gipfel erfolgreich abgeschlossen; ein anderer steht uns bevor. Bei
diesem Gipfel geht es unter anderem um die Reform der
Europäischen Kommission. Mit Prodi als neuem Präsidenten wird der Einstieg in die Reform der Kommission vollzogen. Unter Reform verstehe ich insbesondere
die Schaffung neuer interner Verhaltensvorschriften. Es
muß mehr Transparenz, mehr Verantwortlichkeit und
mehr Effizienz geben. Man muß sich in diesem Zusammenhang auch überlegen, ob das Kabinetts- und Generaldirektorensystem in der bisherigen Art und Weise
fortgeführt werden sollte.
({24})
Zu der anstehenden institutionellen Reform wird die
Bundesregierung im Auftrag des Gipfels von Wien auf
dem Gipfel in Köln einen Verfahrensvorschlag machen.
Auch die Überprüfung der im Amsterdamer Vertrag
festgelegten Stellung der Kommission gehört dazu. Ich
kann mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen, daß der Präsident der Europäischen Kommission künftig vom Europäischen Parlament gewählt wird - das wollen wir alle -,
daß es aber nach wie vor keine Vorschrift gibt, die besagt, daß er selbst die Vertrauensfrage im Parlament
stellen kann. In diesem Bereich liegt ein Revisionsbedarf. Man muß sich ferner fragen, welche Regelung gilt,
wenn die gesamte Kommission zurücktritt. Heute tut
man so, als könne sie weiterarbeiten, wenn nur ein
Kommissar aus irgendeinem Grund ausgeschieden wäre.
Dieser Punkt ist nicht in Ordnung. Er muß in das Lastenheft aufgenommen werden.
Ich warne davor, die Regierungskonferenz mit anderen Dingen, zum Beispiel mit der WEU-Integration, zu
überfrachten. Wir müssen uns auf die institutionellen
Reformen beschränken, weil das der zweite Teil der
Beitrittsfähigkeit der EU ist. Ich bin sehr dafür und auch
sicher, daß wir das machen werden.
Ein Wort noch zum europäischen Beschäftigungspakt. Es wird eine große Aufgabe sein, die beschäftigungs- und wirtschaftspolitischen Leitlinien zusammenzuführen. Wenn wir die Arbeitslosigkeit gemeinsam bekämpfen wollen - es ist unbestritten, daß dies vor allen
Dingen eine nationale Aufgabe ist, aber wir können uns
gegenseitig helfen -, dann gilt es, zu einer vernünftigen
Kombination aus makroökonomischen Strategien - das
Modewort lautet: Policy-mix -, richtigen Strukturreformen und einem maßgeschneiderten arbeits- und beschäftigungspolitischen Instrumentarium zu kommen;
für mich sind alle drei Punkte gleichwertig. Das wird
unsere Aufgabe für den Gipfel in Köln sein. Ich erwähne
dies hier, weil die Entscheidung des Ältestenrates eine
Debatte im Plenum vor dem Gipfel in Köln praktisch
nicht möglich macht.
({25})
Ich wünsche mir, daß dieser Gipfel in diesen Fragen im
Ergebnis genauso erfolgreich ist wie der Gipfel in Berlin.
({26})
Gestatten Sie mir zum Abschluß noch eine Bemerkung: Natürlich bedanken wir uns beim Bundeskanzler
und bei den Kabinettsmitgliedern, die mitgewirkt haben,
für das erreichte Ergebnis. Ich möchte aber ausdrücklich
alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesen Dank
einschließen, die eine gewaltige Arbeit geleistet und diesen Erfolg möglich gemacht haben.
Vielen Dank.
({27})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich Heinrich,
F.D.P., das Wort.
Frau Präsidentin, ich habe
mich wegen der Aussagen des Herrn Kollegen Wieczorek zur Agrarpolitik zu einer Kurzintervention gemeldet.
Eine Einigung ist erfolgt; das stimmt. Die Probleme
aber sind nicht gelöst. Die Einkommen der Landwirte
werden sinken. Die Landwirte werden mit bis zu 2 Milliarden DM zusätzlich belastet. Im Gegensatz zu dem,
was Sie gesagt haben, Herr Wieczorek, ist nicht zu erwarten, daß von dieser Reform positive Impulse für die
Einkommensentwicklung in der Landwirtschaft ausgehen werden. Die Überschüsse werden nicht abgebaut.
Vor allen Dingen aber werden die Exportsubventionen
nicht geregelt. Das heißt, im Herbst, wenn wir diese
Politik in der WTO-Runde darzustellen haben, werden
wir entsprechend unter Druck geraten. Wenn die 15 Regierungen nur einen solchen Kompromiß zustande bringen, frage ich mich, warum wir als Parlament dies auch
noch beklatschen sollen. Dafür habe ich kein Verständnis.
Meine Damen und Herren, zu der Entwicklung der
Weltmarktpreise. Die eingeschlagene Richtung ist
falsch. Es wird nämlich nicht zu einer stärkeren Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft kommen. Vielmehr
wird die Abhängigkeit der Landwirtschaft von der Politik erhöht, und das können wir nicht gebrauchen.
({0})
Sie werfen den Landwirten nachher wieder vor, sie
seien Subventionsempfänger. Monatelang ist von Ihnen
aufs Tapet gebracht worden, daß wir einen zu hohen
Anteil an Subventionen kassieren und daß die Landwirte
nur deshalb gegen die Agenda 2000 sind, weil sie dann
weniger an Subventionen bekommen. Dies wird natürlich durch die Weltmarktpreisphilosophie noch verstärkt. Genau das ist der Punkt, wo wir ansetzen müssen.
Anstatt eine eigenständige europäische Preispolitik zu
betreiben, mit der wir die Überschüsse planmäßig abbauen können und mit der wir die Abhängigkeit der
Landwirtschaft von dem Geld der Steuerzahler reduzieren, gehen Sie in eine völlig falsche Richtung.
({1})
- Ich habe eine Redezeit von drei Minuten.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
({0})
Ich komme zu meinem
Schlußwort. Ich sage Ihnen: So kommt es zu einer
Vernichtung von Volkswirtschaftsvermögen. Wissenschaftler belegen das. Wenn das so weitergeht, dann
wird das Agrarsystem bald nicht mehr finanzierbar sein.
({0})
Zur Erwiderung,
Herr Kollege Dr. Wieczorek, bitte.
Herr Kollege, wenn
ich Sie richtig verstanden habe, wollten Sie einen Beitrag zur Landwirtschaft machen und nicht so sehr zu
dem, was ich gesagt habe. Ich möchte auf drei Dinge
Ihrer Kurzintervention eingehen, die ich tatsächlich angesprochen habe. Mit Ihren anderen Bemerkungen haben Sie Ihre Redezeit ausgenutzt. Dafür hat man ja Verständnis.
Erstens. Im Hinblick auf die Preisstützung und diesbezügliche Interventionen ist, soweit ich es aus dem,
was bisher veröffentlicht wurde, erkennen konnte, ausdrücklich eine Überprüfung vorgesehen. Ich schlage vor,
daß man sich genauer anschaut, was festgelegt worden
ist.
Zweitens. Bei der letzten Reform, bei der Mc-SharryReform, gab es erst eine sehr große Aufregung, bis sich
herausstellte, daß eine Reihe von Landwirten bessergestellt wurde. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür nennen,
warum wir in diese Situation - etwa bei der Milchquote gekommen sind. Die französischen Bauern haben damals
einen Aufstand gemacht. Die Regelung der Milchquote
hat sich für sie so entwickelt, daß sie dabei ausgesprochen gut weggekommen sind. Deswegen hat Herr Chirac - ich muß diesen Namen jetzt doch einmal nennen so darauf insistiert, daß dieses System bis 2006 erhalten
bleibt. So kann man sich täuschen, wenn man zu schnell
sagt: Das oder jenes ist das Ergebnis. Darauf wollte ich
noch einmal hinweisen.
Drittens zur WTO. Da könnte ich fast sagen, Sie
wollten mich unterstützen. Aber ich bin nicht sicher, ob
Sie das wirklich wollten. Ich sehe sehr wohl die Problematik, daß die WTO-Konformität angesichts dessen,
was jetzt im Ergebnis herausgekommen ist, bei weitem
nicht in dem Maße zu erreichen ist, wie es vorgesehen
war. Auch da war sie noch nicht ganz erreicht. Etwa in
der Hälfte der Periode 2000 bis 2006 wird es im Verhandlungsablauf einen Überprüfungszwang im Rahmen
der EU geben.
Sie sollten sich erinnern: Ich habe gesagt, daß ich den
Begriff „vitale nationale Interessen“ ausdrücklich nicht
verwende. Ich halte ihn in der Europapolitik für alles
andere als angebracht. Ich wiederhole - zu diesem Punkt
gab es von Ihrer Fraktion sogar Beifall -, daß wir ein
sehr zentrales Interesse daran haben, daß der Welthandel
noch liberaler wird, daß der freie Welthandel erhalten
bleibt - das ist ja im Moment gar nicht so sicher, wenn
Sie die Diskussion im amerikanischen Kongreß betrachten -, und daß dazu eine Abwägung dahin gehend
gehört, was man im Landwirtschaftsbereich und was
man insgesamt tut.
Aus diesem Grunde wird eine Diskussion über diese
Dinge mit unseren französischen Freunden noch sehr
notwendig sein. Ich hoffe, daß Sie uns dabei unterstützen, wenn wir das tun werden, und daß Sie nicht - wie
bei der Kofinanzierung - durch andere Modelle Verwirrung stiften.
Danke sehr.
({0})
Es spricht jetzt der
Ministerpräsident des Freistaates Bayern, Dr. Edmund
Stoiber.
({0})
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine
sehr verehrten Herren! Die Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland, wir alle in diesem Hohen Hause stehen
unter dem Eindruck der dramatischen Ereignisse im Kosovo. Wir alle sind angesichts der Bilder, die uns abends
und in der Früh über die Fernsehschirme erreichen, bedrückt. Mitten in Europa muß mit Waffengewalt um
Frieden, Freiheit und Recht gekämpft werden. Die
Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens, des
friedlichen Miteinanders der Völker und die Menschenrechte müssen in ganz Europa gelten.
Bei dem NATO-Einsatz gegen das Regime in Belgrad geht es deshalb auch um die Zukunft Europas. Das
menschenverachtende System von Milosevic hat der
Staatengemeinschaft keine andere Wahl gelassen, als
mit militärischen Mitteln den organisierten und eskalierenden Verletzungen der Menschenrechte im Kosovo
entgegenzutreten.
Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, daß es uns allen gemeinsam gelingt, diese Sichtweise besonders auch den
jugoslawischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in
Deutschland eindeutig darzulegen. Ich bin ein wenig
betroffen davon, wie sehr Menschen aus Jugoslawien,
die bereits lange Zeit hier in Deutschland leben, an der
Politik und an der Position von Milosevic hängen. Wir
sollten diese Gefahren nicht geringschätzen und uns
deswegen bemühen, daß die Menschen in Deutschland,
auch die ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger,
unsere Position, die eine gemeinsame Position ist, richtig einordnen können und sie verstehen.
({2})
Die bosnische Tragödie darf sich im Kosovo nicht
wiederholen. Anders als mit militärischen Mitteln war
offenbar keine Einsicht zu erzwingen, um dem Unheil
für Hunderttausende von Menschen Einhalt zu gebieten.
Wir dürfen die Augen vor Unrecht, Vertreibung und
Mord unmittelbar vor unserer Haustüre nicht verschließen. - Ich respektiere, was der Außenminister hier gesagt hat, der in der Beurteilung solcher Fragen in den
letzten 20 Jahren - wenn ich mir alle seine Äußerungen,
die von früher und die von heute, anschaue - einen weiten Weg zurückgelegt hat.
({3})
Ich halte das in der Tat für bemerkenswert und positiv.
- Aus dieser Mitverantwortung heraus tragen wir alle
die schwierige Entscheidung der Bundesregierung mit.
Mit persönlichem Einsatz und großem Risiko treten
unsere Soldaten dieser Aggression gegen die Bevölkerung des Kosovo entgegen. Für diese Pflichterfüllung
gilt allen, die den Menschenrechten dort wieder zur
Geltung verhelfen und Frieden schaffen wollen, unser
persönlicher Dank. In diesen Dank beziehe ich alle Angehörigen unserer Soldaten ausdrücklich mit ein, die
natürlich jetzt ganz schwierige Stunden erleben. Es ist
wichtig, daß alle in der Bundesrepublik Deutschland
deutlich erklären, wie sehr sie mit ihnen fühlen und wie
sehr sie ihnen zur Seite stehen.
({4})
Angesichts des tausendfachen Leids und der drohenden Gefahren treten selbstverständlich alle anderen
wichtigen politischen Themen etwas in den Hintergrund.
Dieser Konflikt macht uns einmal mehr den historischen
Auftrag deutlich, die Teilung Europas endgültig zu
überwinden. Deshalb liegt die Osterweiterung der Europäischen Union nicht nur im Interesse Deutschlands,
sondern auch im Interesse aller europäischen Nationen.
({5})
Dafür will die Agenda 2000 die Voraussetzungen schaffen. Doch so klar dieses Ziel ist, so schwierig ist die Lösung der Einzelfragen. Es geht um den Ausgleich der
nationalen Interessen und die Verteilung der Ressourcen. Wegen der gravierenden Folgen ist hart gerungen
worden. Über die Ergebnisse ist heute nur kursorisch zu
sprechen. Die Ereignisse im Kosovo bewegen uns natürlich innerlich mehr.
Am Tag der Beendigung des Europäischen Rates von
Berlin gilt es zu bilanzieren: Was waren die Ziele? Was
wurde erreicht? Und wie geht es weiter? Ihre Ziele, Herr
Bundeskanzler, haben Sie in Ihrer Regierungserklärung
am 10. November 1998 und natürlich auch bei anderen
Gelegenheiten, in besonderem Maße auf dem SPDParteitag in Saarbrücken, im einzelnen erläutert. Zu
Ihren Kernpunkten des Jahrhundertwerks der Agenda 2000, das für die nächsten sieben Jahre immerhin ein
Finanzvolumen von weit über 1 000 Milliarden DM bedeutet, zählt die Neuregelung der EU-Finanzen. In Ihrer
Regierungserklärung am 10. November haben Sie gesagt
- ich zitiere -:
Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzen
wollen wir … auch zu einer höheren Beitragsgerechtigkeit kommen und die deutsche Nettobelastung auf ein faires Maß verringern.
Das haben Sie in Ihrer Erklärung als Ziel angegeben.
({6})
Durch einen Sparhaushalt sollte der finanzielle Spielraum für die Osterweiterung geschaffen werden. Sie
sprachen von - ich zitiere - „eiserner Haushaltsdisziplin“. In der Agrarpolitik wollten Sie „grundlegende
Veränderungen“ erreichen. Ihre Ziele waren eine Kofinanzierung, die Sie in vielen Interviews und auch in Reden vor diesem Haus immer wieder gefordert haben, und
eine „Agrarreform, die zu weniger Ausgaben“ führt. Sie
haben sich für eine grundlegende Reform der Strukturpolitik ausgesprochen. Sie sollte sparsam, effizient und
zielgerichtet sein. Das waren die Vorgaben, mit denen
Sie Ihre Position vor diesem Hohen Hause erläutert
haben.
In diesen Zielen waren sich Regierung und Opposition weitgehend einig. Doch sie waren nicht neu. Schon
die von Helmut Kohl und Theo Waigel geführte Bundesregierung hatte sich dafür eindeutig eingesetzt. CDU
und CSU haben am 19. Februar in einem gemeinsamen
Positionspapier offengelegt, woran sie das Ergebnis der
Agenda 2000 messen werden. Dabei haben wir - auch
wenn das oft behauptet wird - nie Maximalforderungen
aufgestellt. Wir haben die berechtigten Anliegen unserer
Partner anerkannt. Wir stehen zu unserer Verpflichtung
zu europäischer Solidarität. Wir haben ausdrücklich anerkannt und in diesem Positionspapier festgestellt, daß
Deutschland auch nach der Korrektur größter Nettozahler in der Europäischen Union bleiben wird. Wir haben
ausdrücklich unser Einverständnis mit der Reduzierung
der EU-Förderkulisse in Deutschland signalisiert. Wir
haben die Notwendigkeit einer Reform der gemeinsamen Agrarpolitik akzeptiert.
Was wurde erreicht? Das ist die zweite Frage. Wir
müssen heute mit großer Enttäuschung zur Kenntnis
nehmen: Die Bundesregierung hat ihre selbstgesetzten
Ziele, die hier formuliert worden sind, verfehlt. Die
Agenda 2000 sollte das Regierungsprogramm für die
nächsten sieben Jahre sein. Doch das, was uns heute präsentiert wird, ist eher eine Verfestigung des Status quo
als ein Aufbruch in die Zukunft.
({7})
Das Ziel eines strikten Sparkurses wurde verfehlt.
Der EU-Haushalt steigt von 164 Milliarden DM im Jahre 1998 auf 206 Milliarden DM im Jahre 2006 und zwar
ohne Berücksichtigung der Inflation. Das widerspricht
dem, was Sie hier als Ihr Ziel vorgegeben haben. In dieser Summe sind die Kosten für die Osterweiterung bereits berücksichtigt. Selbst wenn man diese Kosten herausrechnet, liegt der Haushalt im Jahre 2006 mit 189
Milliarden DM - wiederum ohne Inflation - immer noch
deutlich über dem von 1998. Von Sparkurs kann also
überhaupt keine Rede sein.
({8})
Die Gerechtigkeitslücke bei der Finanzierung der Europäischen Union besteht weiter. Natürlich wußten wir,
daß wir Nettozahler bleiben würden. Aber wir hätten
erwartet, daß Sie eine merkliche Korrektur der ungerechten Nettobelastung erreichen. Die Konzepte dafür
lagen auf dem Tisch, zum Beispiel die nationale Kofinanzierung in der Landwirtschaft. Hier haben Sie
frühzeitig Positionen geräumt. Ich will das noch einmal
deutlich machen: Die Kofinanzierung ist - nach der langen Verweigerung der Europäischen Kommission, das
Thema auf die Tagesordnung zu setzen - ein Verdienst
der Regierung Kohl, ein Verdienst des früheren Finanzministers Waigel. Die Europäische Kommission hat die
Kofinanzierung Mitte der 90er Jahre als ein wichtiges
Mittel zu einer gerechteren Beitragsgestaltung für viele
Länder fixiert.
({9})
Ich muß ganz offen sagen: Sie haben dieses System sehr
schnell aufgegeben. Ich werde versuchen, im Laufe der
nächsten Wochen zu eruieren, was dahintersteckt.
({10})
Ein anderes Konzept ist die Bemessung der Beiträge
nach dem Bruttosozialprodukt. Hier haben Sie, Herr
Bundeskanzler, allenfalls eine Teilkorrektur erreicht.
Von einem allgemeinen Korrekturmechanismus in der
Form eines Kappungsmodells ist leider nicht mehr die
Rede.
Sie haben gerade gesagt, Sie seien neugierig, wie ein
Vergleich der Regierung Kohl/Waigel mit der Regierung Schröder/Fischer hinsichtlich des deutschen
Finanzbeitrags aus der Sicht dieser oder jener Seite
ausfallen wird. Kollege Schäuble hat schon dargestellt,
daß sich der deutsche Nettobeitrag von 27 Milliarden
DM im Jahre 1994 auf 22 Milliarden DM im Jahre 1998
ermäßigt hat. Herr Bundeskanzler, ich betrachte jetzt
einmal die Zahlen des Bruttobeitrages: 1994 betrug der
Bruttobeitrag Deutschlands - in den jeweiligen IstZahlen, also unter Berücksichtigung der Inflation 42 Milliarden DM; vier Jahre später, 1998, betrug er
44 Milliarden DM. Nach dem von Ihnen ausgehandelten
Ergebnis wird der deutsche Bruttobeitrag im Jahre 2006
bei 58 Milliarden DM liegen.
({11})
Diese Zahlen sagen alles!
Wir werden noch darüber zu reden haben, wie Sie bei
dieser beachtlichen Steigerungsrate des Bruttobeitrages
und bei weiteren Maßnahmen im Bereich der Rückflüsse
überhaupt zu einer weiteren Senkung des Nettobeitrags
kommen wollen. Das bleibt der weiteren Diskussion
überlassen. Auf Grund der mir vorliegenden Zahlen Bruttobeitrag von 58 Milliarden DM - kann ich nicht
nachvollziehen, was Sie heute früh gesagt haben, nämlich daß Sie den Nettobeitrag in den nächsten Jahren
senken werden.
({12})
Die Korrektur bei der Bemessung der Beiträge - nach
dem Bruttosozialprodukt anstatt nach der Mehrwertsteuer - ist nun in zwei Stufen verwirklicht worden. Ich
sage Ihnen aber angesichts der jetzigen Berechnungen
voraus: Sie werden nicht das erreichen, was Kollege
Waigel und Bundeskanzler Kohl damals in Edinburgh
erreicht haben, nämlich daß der Nettobeitrag dadurch,
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({13})
daß man bei der Bemessung der Beiträge von der
Mehrwertsteuer auf das Bruttosozialprodukt übergegangen ist, in den letzten vier Jahren um 5 Milliarden DM
gesenkt worden ist. Erst dann, wenn Sie Vergleichbares
erreichen - nach dem heutigen Ergebnis werden Sie das
nicht schaffen -, können Sie ernsthaft sagen, Sie hätten
bei der Senkung des Nettobeitrages mehr als die frühere
Regierung erreicht. Sie stellen sich heute aber hin und
sagen, die Vorgängerregierung sei schuld, Sie hätten die
Weichen erst neu stellen müssen. Die alte Regierung hat
die Weichen gestellt; und ich bezweifele, daß Sie zu
besseren Weichenstellungen kommen werden, meine
sehr verehrten Damen und Herren.
({14})
Das Ergebnis kann auch bei der Strukturpolitik
nicht befriedigen. Bei den Strukturfonds wird nicht gespart: Obwohl weniger Gebiete gefördert werden, wird
mehr Geld ausgegeben. Das, was sich durch die Agenda
2000 ändert, geht sowohl bei den Ziel-2-Fördergebieten
als auch bei den Kostensteigerungen überproportional zu
Lasten Deutschlands. Wenn Sie doch wenigstens das geschafft hätten, was Sie in den Runden mit den Ministerpräsidenten zugesagt hatten! Wenn wir bei der europäischen Förderung schon mehrere Gebiete verlieren, dann
hätten Sie uns wenigstens Spielraum beim Einsatz unserer eigenen Mittel zur Förderung unserer Problemgebiete verschaffen müssen! Genau das - mehr Möglichkeiten für die Nationen, wenn man schon Gebiete aus
der europäischen Förderung herausnimmt - wäre Subsidiarität gewesen.
({15})
Herr Bundeskanzler, Sie haben außerdem nicht erreicht, ein definitives Ende des Kohäsionsfonds für die
Eurostaaten zu vereinbaren. Der Kohäsionsfonds wurde
geschaffen, um möglichst viele Mitgliedstaaten für die
Währungsunion fit zu machen. Das war die Intention
von Maastricht.
({16})
- Doch, das war die Intention von Maastricht. - Nun
aber werden auch solche Staaten weiter unterstützt - und
zwar beinahe in alter Höhe -, denen das Attest für die
Eurotauglichkeit ausgestellt wurde. Das ist der Weg in
die Transferunion, die gerade nicht in unserem Interesse
sein kann.
Weil also unklar ist, was im Jahr 2006 geschieht, muß
man davon ausgehen, daß der Kohäsionsfonds wahrscheinlich wie bisher weitergeführt wird. Dann fällt der
Vorwurf, den Sie - unbilligerweise - der alten Regierung gemacht haben, in voller Schärfe auf Sie selber zurück.
Sie haben Bundeskanzler Kohl immer wieder kritisiert - zuletzt noch vor einigen Wochen -, weil in Edinburgh nicht geregelt worden sei, was nach dem Ende des
Eigenmittelbeschlusses 1999 geschehen solle. Sie haben
behauptet, Kohl und Waigel hätten in Edinburgh einen
schweren Fehler begangen, weil die Anschlußregelungen nach dem Jahre 1999 nur einstimmig festgelegt
werden könnten.
({17})
Von einer Stärkung der Eigenverantwortung der
Regionen, von Transparenz und Bürgernähe ist meines
Erachtens nichts zu sehen. Spätestens der Rücktritt der
EU-Kommission hätte Anlaß dafür sein müssen, Systemänderungen einzuleiten: Abbau der Subventionen und
Stärkung der politisch Verantwortlichen vor Ort. Ich hoffe, daß auf dem Sondergipfel, den Sie heute angesprochen
haben, auch dafür die Weichen gestellt werden.
Auch eine wirkliche Reform der Agrarpolitik
- darüber ist heute schon viel geredet worden - bleibt
aus. Entscheidend wäre - trotz aller Schwierigkeiten, die
es mit dem französischen Partner gibt - die Einführung
der Kofinanzierung gewesen. Mit dieser Einführung
hätten Sie gleich drei Ziele erreichen können: eine Sicherung der Existenzgrundlage unserer Landwirte, ein
gerechteres Finanzierungssystem und vor allen Dingen
einen ausreichenden finanziellen Spielraum für die
Osterweiterung. Die Osterweiterung ist angesichts der
Probleme, die im Rahmen dieser Erweiterung auf die
Landwirtschaft zukommen, ohne Kofinanzierung finanziell nicht zu schaffen. Deswegen ist bei den Verhandlungen in Berlin die Durchsetzung dieses wichtigen
Elements für die Osterweiterung wie für die Reduzierung der deutschen Nettobeiträge versäumt worden. Man
muß sich nur einmal vorstellen, wie viele Bauern es in
der Europäischen Union geben wird, wenn die drei
Staaten Tschechische Republik, Ungarn und Polen beigetreten sind. Das kann gar nicht über das gegenwärtige
Finanzierungssystem aufgefangen werden. Hierfür wäre
eine Kofinanzierung notwendig gewesen. Deswegen
muß man auch zu dieser Stunde an diesem Punkt deutlich Kritik üben.
({18})
Eine wesentliche Schwachstelle bei den Verhandlungen war meines Erachtens - wenn es nicht so gewesen
wäre, wäre ein besseres Ergebnis erzielbar gewesen die mangelnde Koordinierung der deutschen Position.
Oftmals wurde nicht klar, was die Deutschen wirklich
wollten und wer für die Bundesregierung handelt.
({19})
Ein Schulterschluß mit der Opposition wurde überhaupt
nicht angestrebt. Darüber wurde hier noch nicht einmal
diskutiert.
({20})
- Es war so. - Forderungen der Länder im Bundesrat
haben Sie ignoriert. Wir haben den nationalen Konsens
in der Europapolitik nicht aufgekündigt, wie Sie es uns
immer wieder vorwerfen; vielmehr haben Sie diesen
Konsens überhaupt nicht gesucht. Sie haben mit einigen
flapsigen Bemerkungen Ihre Verhandlungsposition in
Berlin erschwert. Und dann ist auch noch der Finanzund Europaminister - das darf man nicht vergessen;
auch das sollte zu dieser Stunde angesprochen werden in der heißen Phase der Verhandlungen zurückgetreten.
Das hat die Verhandlungen sicherlich nicht erleichtert.
Das darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Auch
dafür tragen Sie Verantwortung.
({21})
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({22})
Ich stelle auf Grund des Kenntnisstandes, den wir momentan haben - die Verhandlungen sind ja erst heute früh
beendet worden -, fest: Die Bundesregierung hat in Brüssel und in Berlin so verhandelt, wie sie in Bonn regiert.
({23})
Da hilft es auch gar nichts, wenn Sie uns immer wieder
wortreich erklären, was mit wem nicht zu machen war Sie haben das gerade getan, Herr Außenminister -: mit
Frankreich die Kofinanzierung, mit Spanien der Ausstieg aus dem Kohäsionsfonds für die WWUTeilnehmer, mit Großbritannien die Abschaffung des
Beitragsrabatts und mit Italien die volle Umstellung der
Finanzbeiträge auf einen gerechten Maßstab, das Bruttosozialprodukt. Ich frage Sie hier ganz deutlich: Was war
eigentlich mit Deutschland „nicht zu machen“, Herr
Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister?
({24})
Sie sagen hier, die Aufgabenverteilung in Europa
sei etwa wie folgt: Die anderen vertreten nationale Interessen - so habe ich Sie verstanden, Herr Außenminister -,
während Deutschland nur europäische Interessen zu
vertreten habe, auch wenn sie nationalen Interessen widersprechen. Diese Politik werden Sie den Menschen
draußen nicht erläutern können. Deswegen werden wir
immer wieder auf diesen Satz zurückkommen.
({25})
Genauso wie in Deutschland Kommunalinteressen
nicht mit Landesinteressen und Landesinteressen nicht
immer mit deutschen Interessen identisch sein müssen,
ist natürlich auch das nationale Interesse nicht immer
mit dem europäischen Interesse identisch. Das ist oft ein
schwieriger Balanceakt - das gebe ich zu -; denn wir
haben ein besonderes Interesse an der europäischen Integration. Deswegen sage ich auch, daß wir immer Nettozahler bleiben werden. Aber Sie dürfen es der Bevölkerung nicht so erklären, daß wir auf die anderen, die
nationale Interessen vertreten, Rücksicht zu nehmen
hätten, während wir unsere eigenen Interessen generell
zurückzustellen hätten. Damit schaffen Sie keine Akzeptanz Europas, meine Damen und Herren.
({26})
Sie haben meines Erachtens Ihre Versprechungen aus
der Regierungserklärung und aus vielen anderen Reden
nicht erfüllt. Wir werden in den nächsten Wochen und
Monaten die Folgen des Ergebnisses des Gipfels von
Berlin noch heftig zu diskutieren haben; denn die Probleme, die nun für Teile unserer Bevölkerung entstehen,
verlangen dann zumindest - dazu hätten Sie heute auch
etwas sagen können - eine nationale Hilfe, um dramatische Strukturbrüche abzumildern. In dem Sinne erwarte
ich noch klare Worte von Ihnen.
Danke schön.
({27})
Es spricht nun der
Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Rezzo
Schlauch.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich
mich mit dem Herrn Ministerpräsidenten aus Bayern
auseinandersetze, möchte ich erst einmal meine Freude
und die Freude unserer Fraktion über das Ergebnis von
Berlin zum Ausdruck bringen. Wir beglückwünschen
den Herrn Bundeskanzler, unseren Außenminister und
die übrigen Regierungsmitglieder zu ihrem Erfolg von
heute morgen.
({0})
Mit der Einigung über die Agenda 2000 und dem Ergebnis des Gipfels von Berlin hat die Europäische Union
in einer schwierigen Situation Handlungsfähigkeit bewiesen. Von dem Gipfel in Berlin geht ein klares Zeichen an die beitrittswilligen osteuropäischen Länder aus:
Die Europäische Union will die Osterweiterung. Sie
hat mit der Reform ihrer Finanzverfassung die Voraussetzung für eine Vertiefung der europäischen Integration
und für ihre Erweiterung geschaffen. Die entscheidende
und unmißverständliche Botschaft des Berlin-Gipfels ist:
Der Weg für die Osterweiterung ist frei. Meine Damen
und Herren, das ist hundertmal mehr wert als Versprechungen hinsichtlich Daten, die von vornherein nicht zu
halten waren.
({1})
- Wer hat denn die Versprechungen in Richtung der osteuropäischen Länder im Hinblick auf konkrete Beitrittsdaten gemacht und nicht eingehalten? Es war doch die
ehemalige Regierung, die von vollkommen illusionären
Daten ausgegangen ist.
({2})
Aber auch innenpolitisch hat die Europäische Union
Handlungsfähigkeit bewiesen. Die Nominierung Romano Prodis für den Vorsitz der EU-Kommission zeigt
die Entschlossenheit der Mitgliedsländer zu einer raschen Beendigung der Krise, die durch den Rücktritt der
Kommission eingetreten ist.
Der Berliner Gipfel hat ein neues Kapitel in der Geschichte der Europäischen Union aufgeschlagen. Er hat
bewiesen, daß die Staatengemeinschaft schwierige Situationen meistern, sich selbst reformieren und die
Osterweiterung auf den Weg bringen kann. Insbesondere
durch die wochenlangen Bemühungen von Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer wurde dieses Ergebnis möglich,
({3})
und dafür gebührt ihnen unser Dank und unsere Anerkennung.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({4})
Die Bedeutung dieses Berliner Gipfels ist international unumstritten. Der österreichische
Wir haben Handlungsfähigkeit bewiesen.
Jospin sagt: Das ist ein guter Moment für Europa. Auch
innenpolitisch findet die Leistung der Regierung Schröder/Fischer große Anerkennung. Sowohl der Deutsche
Industrie- und Handelstag als auch der Deutsche Bauernverband - Herr Kollege Heinrich, ich habe mich darüber gewundert, aber ich habe es so gelesen - haben in
ersten Stellungnahmen die Ergebnisse des Berliner Gipfels ausdrücklich begrüßt,
({0})
weil dort - trotz einer sehr schlechten Ausgangssituation
- Verbesserungen ausgehandelt worden sind.
Die einzigen, die den Erfolg schlechtreden, sind die
Damen und Herren von der Opposition und der bayerische Ministerpräsident.
({1})
Herr Stoiber, heute sind Sie anders als noch vor wenigen
Wochen dahergekommen. Heute sind Sie wie das österliche Lamm aufgetreten.
({2})
Was allerdings das Verhandlungsergebnis angeht, waren
Sie gegen das, was ausgehandelt worden ist, nach wie
vor hart, und damit waren Sie auch hart gegen die beitrittswilligen osteuropäischen Länder.
Wenn Sie sagen, man habe oft den Eindruck gehabt,
nicht zu wissen, was die deutsche Ratspräsidentschaft
verhandeln wolle, dann entgegne ich Ihnen: Bei Ihnen
wußte man genau, was Sie wollten. Sie wollten die
Agenda 2000 stoppen; Sie wollten den Berliner Gipfel
platzen lassen. Sie hätten damit Stagnation und Rückschritt der europäischen Einigung in Kauf genommen.
({3})
Wo stünden wir denn heute, wenn wir Ihren fundamentalistischen Ratschlägen gefolgt wären? Was hätte
es denn bedeutet, den Gipfel abzusagen? Welcher Schaden wäre für unser Land entstanden? - Wir hätten keine
Agenda 2000, wir hätten keine positive Perspektive für
die Beitrittskandidaten, und wir hätten uns vor der gesamten Welt lächerlich gemacht!
({4})
Wir haben Sie angesichts der Forderungen, die Sie letzte
Woche erhoben haben, eines Besseren belehrt. Mit Zauderei, Wankelmut und bayerischer Kleinkrämerei werden wir den historischen Dimensionen der europäischen
Einigung nicht gerecht.
({5})
Es ist doch klar, daß wir uns mit unseren deutschen
Forderungen bei einer Kompromißlösung nicht in Reinform - darin besteht das Wesen des Kompromisses; das
wissen wir doch alle - durchsetzen konnten. Angesichts
Ihrer Maximalforderungen wäre der Gipfel allerdings
von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Weil
Sie es immer wieder gern vergessen, erinnere ich Sie
daran: Die Höhe der deutschen Nettozahlungen ist doch
nicht das Ergebnis unserer Politik, sondern das Ergebnis
Ihrer langjährigen Politik.
({6})
Es ist ein gutes Zeichen, daß wir - wenn auch noch nicht
in ausreichendem Maße - die Tendenz nun umgekehrt
haben und den jetzigen Stand der deutschen Nettozahlungen reduzieren konnten. Sie aber haben die Dimension der europäischen Einigung aus den Augen verloren.
Wenn Sie den Erfolg von Berlin schlechtreden, dann tun
Sie dies oft auch aus innenpolitischen Gründen.
Sie haben hier heute - jedenfalls für meine Begriffe keine Alternative aufgezeigt. Das gilt auch für Sie, Herr
bayerischer Ministerpräsident. Sie haben das europäische Erbe Helmut Kohls nicht angetreten, sondern Ihre
Rede war eigentlich von einem nationalen und regionalen Egoismus durchsetzt, den wir mit diesem Ergebnis von Berlin Gott sei Dank überwunden haben.
({7})
Wenn Sie sich selbst und Ihre Rede ernst nehmen,
dann müssen Sie zugeben, daß Ihre Kritik, übertragen
auf die außenpolitische Situation, insbesondere in Richtung der osteuropäischen Länder, bedeutet: Wir wollen
euch nicht, jedenfalls nicht so schnell wie möglich.
- Wir hingegen rufen den beitrittswilligen Ländern zu:
Wir wollen die Erweiterung. Wir wollen die europäische Integration. Wir wollen Frieden und Stabilität in
Europa. - Deshalb freuen wir uns mit der Bundesregierung über die Ergebnisse dieses Gipfels.
Danke schön.
({8})
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben Verständnis dafür, daß Sie sich angesichts der innenpolitischen Lage auch über bescheidene außenpolitische Erfolge freuen. Wenn man die Gipfel verfolgt, so muß man
sagen: Der Berliner Gipfel wird nicht in die europäische
Geschichte eingehen. Er war ein Gipfel auf kleinstem
gemeinsamen Nenner.
Herr Fischer, ich gönne es Ihnen, daß Sie Ihre erste
Gipfelerfahrung gemacht haben. Bundeskanzler Kohl
hat über 25 EU-Gipfel gestaltet, Außenminister Genscher über 30. Aber mit so kurzen Hosen, mit so beRezzo Schlauch
scheidenen Ergebnissen kam die frühere Regierung nie
nach Hause, Herr Fischer.
({0})
Es ist schade, Herr Schlauch, daß wir unter einer rotgrünen Regierung nur noch über das Geld reden müssen,
ohne Leidenschaft und ohne Vision für Europa. Aber
wenn wir schon über das Geld reden, dann muß ich sagen: Das große Versprechen war doch die Senkung des
deutschen Nettobeitrags.
Ich zitiere jetzt aus der Regierungserklärung: Erstens.
Die Obergrenze wurde auf 1,27 Prozent des EUBruttosozialprodukts festgeschrieben. - Das ist überhaupt nichts Neues. Das hatte die alte Regierung längst
erreicht.
Zweitens. Die Eigenmittel werden bis zum Jahre
2004 in zwei Stufen zur Hälfte reduziert. - Das ist eine
dreifache Relativierung. Man kann überhaupt nicht
quantifizieren, was das bringt.
Drittens. Der Beitragsrabatt für Großbritannien
wird modifiziert. - Heute morgen habe ich Herrn Blair
im Fernsehen gesehen. Er hat sich sehr gefreut und gesagt, kein Penny werde hingegeben. Es ist auch verständlich, daß sich Herr Blair und Herr Chirac freuen;
denn so einfach haben es die anderen Länder auf Gipfeln
noch nie gehabt. Das ist der Punkt.
({1})
Man darf sich auch nicht wundern, daß andere Länder
ihre Interessen so massiv vertreten, wenn der Bundeskanzler zu Beginn sagt: Ich habe zwar die Präsidentschaft, aber ich habe ein Ziel: Die deutsche Position
muß sich verändern.
({2})
Es ist doch klar, daß die anderen dann genau das gleiche
machen. Daß es Herrn Aznar sogar gelingt, eine Erhöhung der Mittel für den Kohäsionsfonds zu erreichen,
hätte ich nie gedacht. Ich hätte nie gedacht, daß das noch
teurer wird.
Im Agrarbereich - so hörte ich heute morgen von
Fachleuten - wurden die Nahrungsmittelbeihilfen nicht
so stark abgesenkt. Da wurde noch etwas draufgelegt,
um Herrn Chirac zufriedenzustellen. Es wird alles nur
teurer. Das heißt, für die Bauern wird es bürokratischer,
und für die deutschen Steuerzahler wird es teurer. Es
gehört schon einiges dazu, das als großen Erfolg zu feiern.
Daß es so gekommen ist, ist ja auch kein Wunder,
wenn man bedenkt, daß der wichtigste Fachminister
während der Verhandlungen über Bord gegangen ist.
Man muß sich das einmal vorstellen: In der entscheidenden Sitzung des Ecofin-Rats muß der Ersatzmann,
der arme Herr Müller, dem man vorher die Europakompetenz weggenommen hat, auftreten und muß sich vor
Leute wie Herrn Strauss-Kahn und andere hinstellen und
deutsche Interessen vertreten. Dabei kann nicht mehr
herauskommen.
({3})
Insofern ist das Ergebnis äußerst bescheiden.
Aber ich bin fair genug, um zu sagen, angesichts der
Kosovo-Krise, angesichts des Rücktritts der gesamten
EU-Kommission wäre ein völliges Scheitern eine absolute Katastrophe gewesen. Nur, das Ergebnis jetzt schönzureden und zu sagen, wir haben uns durchgesetzt ist
nicht richtig. Die Zahlen werden ergeben - da kann ich
nur dem bayerischen Ministerpräsidenten zustimmen -:
Wir werden in der Strukturpolitik, in der Agrarpolitik,
bei der Verrechnung, bei der Finanzarchitektur mehr
zahlen müssen.
Ich finde, die „Süddeutsche Zeitung“ hat recht - sie
steht uns ja nicht immer so nahe -, wenn sie schreibt:
Berlin war eben kein Reformgipfel; es hätten auch
Staatssekretäre beurkunden können, daß Deutschland in
wesentlichen Dingen einfach nachgegeben hat.
({4})
Das beste Ergebnis war die schnelle Nominierung
von Herrn Prodi. Da konnte man auch nicht viel falsch
machen. Es ist interessant, daß Herr Prodi jetzt von
Herrn Schröder gerühmt wird. Mich freut es; denn Herr
Prodi ist ein absolut liberaler Reformer. Er hat internationale Erfahrung. Er hat im übrigen in Harvard, in Stanford auf der London School of Economics studiert. Das
sind alles liberale Kaderschmieden.
(Beifall bei der F.D.P. - Rezzo Schlauch
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie
mal, Stanford eine liberale Kaderschmiede?]
- Ja, natürlich, Herr Schlauch. Herr Schlauch, waren Sie
einmal in Stanford?
({5})
Das sind die „schlimmen“ Kaderschmieden, wo die
Marktwirtschaft so hart vertreten wird. Daß dieser Mann
jetzt so gerühmt wird, läßt hoffen. Er hat ja in einer Rede in Frankfurt darauf hingewiesen, was er für wichtig
hält, nämlich radikale Privatisierung, Staatsverschlankung, offene und flexible Arbeitsmärkte das heißt, genau
das Gegenteil von dem, was Rotgrün hier in Deutschland macht, meine Damen und Herren.
({6})
Deshalb hoffen wir auf Herrn Prodi. Wir können nur
sagen, Herr Prodi hat auch eine gute Kommission verdient. Deshalb kann es nicht sein, daß Kommissarinnen,
die belastet wurden, erneut antreten wollen.
({7})
Deutschland hat das Anrecht, daß ein frischer Start erfolgt. Es kann auch nicht so sein, daß in Kürze im sogenannten Parteirat der Grünen ausgeklüngelt wird, wer
- ohne jede Europaerfahrung - die Quote für die Frauen
erfüllt. So können wir in Zukunft die Europäische
Kommission nicht mehr besetzen. Das neue Parlament
wird solchen Nominierungen auch nicht mehr zustimmen; denn da gilt bereits der Vertrag von Amsterdam.
({8})
Meine Damen und Herren, wir müssen die Krise der
Kommission für einen echten Neubeginn mit wirklich
guten Leuten nutzen. Ich hoffe, daß Deutschland gute
Vorschläge macht, nicht nach dem Parteienproporz. Wir
brauchen eine Stärkung des Europäischen Parlaments, das seine Feuertaufe, wenn auch erst im zweiten
Anlauf, bestanden hat. Wir hätten das gleich damals im
Januar machen können. Langfristiges Ziel muß eine
europäische Verfassung sein, für die wir seit langer Zeit
eintreten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Für die SPDFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Gerald Thalheim.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Einigung über das Gesamtpaket der Agenda 2000 stellt
auch aus der Perspektive der Agrarpolitik einen großen
Erfolg dar. Zumindest kommt man zu der Bewertung,
wenn man sich erstens die Ausgangssituation vergegenwärtigt und zweitens an die Tatsachen hält.
Was die Ausgangsposition anbelangt, so ist erstens
festzustellen, daß nach vielen Jahren der Untätigkeit
eine Reform durchgeführt werden mußte, ohne daß mehr
Geld, sondern eher weniger Geld zur Verfügung steht.
Zweitens hat es die alte Bundesregierung versäumt, gerade im Landwirtschaftsbereich strategische Partner für
viele Positionen zu suchen. Im Gegenteil hatten die Mitgliedstaaten eher sehr unterschiedliche Positionen.
Das zu der Ausgangssituation. Nun zu den Ergebnissen. Zunächst ist als Erfolg festzuhalten: Die Agrarausgaben werden auf 40,5 Milliarden DM beschränkt. Das
erlaubt es, die Nettozahlungen zurückzuführen und die
Osterweiterung voranzutreiben. Daß das nur durch die
Zusage harter Sparmaßnahmen erreicht werden konnte,
steht auf einem anderen Blatt. Eine Möglichkeit stand
jedoch nicht offen, nämlich die der Kofinanzierung der
Agrarausgaben - ein Punkt, der auch heute wieder
mehrfach gefordert wurde.
Die Antwort, die man auf diese Forderung geben
sollte, ist in der „Süddeutschen Zeitung“ vom vergangenen Freitag nachzulesen. Dort schreibt Udo Bergdoll:
Wer behauptet, … Frankreich könne zur Akzeptanz
der Kofinanzierung in der Landwirtschaft gezwungen werden, nimmt sich selbst nicht mehr ernst.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
({0})
Wenn man es dennoch tun wollte, dann das: In der Opposition ist in der Tat die Gefahr groß, populäre Forderungen zu erheben und sich selbst nicht mehr ernst zu
nehmen.
Wenn für die Landwirtschaft etwas erreicht wurde,
dann die Gewißheit, daß man mit den zugesagten Zahlen
rechnen kann. Die Ausgleichszahlungen bis zum Jahre
2006 sind eine verläßliche Basis für die Landwirtschaft.
Künftig wird von den Brüsseler Geldern mehr bei den
Bauern ankommen und weniger für Lagerhaltung und
Exporterstattungen draufgehen - ein wichtiger Erfolg
der Agenda 2000. Aber die Landwirtschaft muß sich
künftig viel stärker am Markt orientieren. Damit wird
ein Versäumnis der Vergangenheit offengelegt.
Tatsache ist, daß die zunehmende Verflechtung der
Märkte zu einer stärkeren Liberalisierung der Agrarmärkte führt. Das GATT-Abkommen von 1994 hat
nicht diese Bundesregierung, sondern die Vorgängerregierung beschlossen. Es grenzt an Realitätsverweigerung, wenn man so tut, als hätten die Beschlüsse von
damals für die Landwirtschaft heute keine Konsequenzen. Das Gegenteil ist der Fall. Ich habe in den letzten
Wochen in Versammlungen von vielen Bauern gehört,
daß sie die Notwendigkeit einer Reform einräumen. Das
wird von Ihnen und den Vertretern der Bauernverbände
natürlich geleugnet.
Tatsache ist auch, daß die Intervention als Instrument der Agrarpolitik ausgedient hat. Gegenwärtig belaufen sich die Interventionsbestände bei Rindfleisch auf
mehr als 500 000 Tonnen, bei Getreide auf 19 Millionen
Tonnen, mit der Aussicht, daß letztere bis Ende des
Wirtschaftsjahres auf 20 Millionen Tonnen oder darüber
steigen werden.
({1})
Wer leugnet, daß es hier Handlungsbedarf gibt, der geht
an der Realität vorbei.
({2})
Angesichts dieser Entwicklung brauchen wir eine Mengenbegrenzung bei der Produktion. Hier ist oft gefragt
worden, welche Erfolge denn unter deutscher Präsidentschaft erreicht worden sind.
({3})
Bis zum Jahr 2006 werden 10 Prozent stillgelegt - eine
Forderung, die ich von Dir, Siegfried Hornung, in den
letzten Wochen mehrfach gehört habe. Dies ist ein eindeutiger Erfolg der Bundesregierung.
({4})
Auch die Milchquotenregelung wird fortgeführt.
Diesbezüglich fällt meine Freude aber schon viel gedämpfter aus. Denn wir wissen, daß sich die Intention
der Milchquotenregelung längst in ihr Gegenteil verkehrt hat: hohe Kostenbelastungen für die aktiven
Milcherzeuger und niedrige Preise. Wenn jetzt erneut
gefordert wird - so zum Beispiel vom bayerischen
Landwirtschaftsminister Miller -, endlich das AltpachtDr. Helmut Haussmann
problem zu klären, kann ich nur fragen: Was hat die alte
Bundesregierung, was hat die Bayerische Staatsregierung in den letzten Jahren getan, um dieses Problem zu
klären?
({5})
Wir werden das angehen. Allerdings: Die Erblast der
Verrechtlichung - mit 34 Änderungsverordnungen allein
für den Milchbereich - stellt gerade auf diesem Gebiet
eine schwere Hypothek für Veränderungen dar.
({6})
- Sie können sicher sein, das werden wir tun. Dafür sind
wir auch gewählt worden.
({7})
Zu den Tatsachen der Agenda 2000 gehört auch, daß
es im Landwirtschaftsbereich mehr Chancen gibt, als
immer wieder behauptet wird, und die Einkommensverluste bei weitem nicht in der Höhe eintreten, wie Sie
hier immer wieder behaupten, wobei Sie Horrorszenarien an die Wand malen.
Unter der deutschen Präsidentschaft ist erreicht worden, daß es eine Degression, also die Verringerung der
Ausgleichszahlungen, für größere Betriebe nicht geben
wird.
Ich verstehe die Welt nicht mehr, daß hier gerade von
der PDS die Agrarpolitik kritisiert wurde. Bei der Agenda 2000 sind alle die Positionen erfüllt worden, die vor
allen Dingen von Ostdeutschland gefordert wurden, ob
das die betriebsbezogene Degression, der Abbau der
150 000 Hektar prämienberechtigten Flächen oder die
90-Tier-Grenze ist. Ich kann nur sagen, Herr Gysi: Mehr
Unfug zu diesem Thema habe ich von Ihnen in der letzten Zeit hier nicht gehört.
({8})
Ein Erfolg bei der Agenda 2000 - nach Erfolgen ist
von Ihnen immer gefragt worden - sind die Ergebnisse
im Rindfleischbereich und beim Getreide. Das Ergebnis der Kiechle-Reform von 1992 ist, daß Deutschland
in erheblichem Umfang Prämienrechte beim Rindfleisch
verloren hat. In den Verhandlungen ist es der Bundesregierung gelungen, die Prämienrechte für Deutschland
von 9 auf 14 Prozent zu steigern. Das wird vor allen
Dingen den bayerischen Bauern zugute kommen. Auch
insofern ist nicht zu verstehen, daß die Ergebnisse immer wieder kleingeredet werden.
Das gleiche gilt für die Preisabsenkung um 15 Prozent beim Getreide. Auch hier ist es gelungen, eine Absenkung um 20 Prozent zu verhindern.
Weniger zufrieden sind wir mit dem Ergebnis bei der
Milch, auch wenn es den Forderungen der CDU und des
Bauernverbandes eher entspricht. Wir befürchten, daß es
zu Preisabsenkungen am Markt ohne Ausgleich kommt.
({9})
Mancher Bauernverbandsfunktionär hat uns hinter
der vorgehaltenen Hand gesagt: Wir nehmen die Erweiterung der Quote ganz gerne hin, wenn ihr euch bei den
Ausgleichszahlungen bei der Milch durchsetzt.
Die Bundesregierung wird also in den nächsten Jahren dafür sorgen, daß sich die Belastungen in Grenzen
halten.
Mit Ihrer Kritik bleiben Sie eher Ihrer Entwicklung in
der Vergangenheit treu; denn die Einkommenssicherung
für die Zukunft kann nicht durch Intervention und staatlich vorgegebene Preise geschehen, sondern nur durch
ein erfolgreiches Bemühen am Markt. Vor allen Dingen
dort liegen die Versäumnisse der alten Bundesregierung.
Die Vermarktungsstrukturen in Deutschland sind in
Europa, zumindest im Vergleich zu anderen wichtigen
Agrarstaaten, kaum wettbewerbsfähig. Insofern geht
Ihre Kritik an den Beschlüssen der Agenda 2000 ins
Leere.
Wir gehen davon aus, daß die Landwirtschaft in den
nächsten Jahren die Vorteile und Chancen einsehen
wird, die die Beschlüsse der Agenda gebracht haben.
Wir als Bundesregierung werden auch künftig die
Landwirtschaft weiter unterstützen.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist
der Kollge Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Erfolg oder nicht
Erfolg, das ist die Frage in dieser Debatte. Ich glaube,
der bisherige Diskussionsstand hat deutlich gemacht:
Das Ergebnis von Berlin hat bei kritischer und auch bei
vorsichtiger Würdigung schwere Mängel.
({0})
Nun ist in dieser Debatte vom Herrn Außenminister
- der nicht mehr auf der Regierungsbank sitzt -, die Frage
aufgeworfen worden, was denn eine Regierung - ({1})
Es wurde die Frage aufgeworfen, was denn eine Regierung Helmut Kohl in einer solchen Situation erreicht
hätte. Ich stehe hier nicht an zu sagen: Ich weiß nicht,
welches Ergebnis wir in einer solchen Situation erreicht
hätten. Ich weiß aber, daß eine Regierung Helmut Kohl
am Anfang einer deutschen Präsidentschaft Frankreich
und Großbritannien in der Frage der Einhaltung von
Verträgen zur Entsorgung von Brennelementen nicht
verprellt hätte. Ich weiß, daß ein Bundeskanzler Helmut
Kohl in Paris den französischen Staatspräsidenten nicht
dadurch angegangen hätte, daß er ihm sagte, ich will
nicht französischer Bauernpräsident werden. Ich weiß
auch, daß in einer Regierung Helmut Kohl der Finanzminister Theo Waigel nicht durch vorzeitige SelbstpenDr. Gerald Thalheim
sionierung den Ecofin-Rat und die deutsche Präsidentschaft ins Schleudern gebracht hätte. Soviel weiß ich,
meine Damen und Herren.
({2})
Nun hat der Herr Bundeskanzler in seiner ersten Einschätzung im Fernsehen - ich berücksichtige, daß sie
nach einer Nachtsitzung erfolgte und er erschöpft war gesagt, dies und jenes sei erreicht worden und man sei
froh, daß man überhaupt etwas geschafft habe. So eine
Grundbewertung muß ja auch zulässig sein. Dann hat er
gesagt, für Deutschland sei aber „kein Lottogewinn“ dabei herausgesprungen. Das ist eine lockere Formulierung, die aber vielleicht doch einiges verrät.
({3})
- Ja eben, den haben wir nicht erreicht. Der Begriff
„Lottogewinn“ ist das Interessante; das möchte ich dem
Zwischenrufer von der Regierungsbank sagen.
Eine solche Präsidentschaft ist eben kein Lotteriespiel, bei dem man abwartet, was herauskommt, und
hinterher enttäuscht feststellen muß, daß nichts herausgekommen ist,
({4})
sondern eine solche Präsidentschaft hat die Aufgabe, die
Reformen, die nötig sind, um die Erweiterung der
Europäischen Union zu ermöglichen und im Prozeß der
Globalisierung klarzukommen, anzupacken.
Unser Urteil, Herr Verheugen, wäre vielleicht nicht
so kritisch ausgefallen, wenn es nur um Mark und Pfennig ginge. Wir haben in diesem Hause schon oft darüber
gesprochen, daß man große und überragende Ziele nicht
immer nur in kleine Münze umrechnen kann. Unser
Vorwurf ist aber - Wolfgang Schäuble hat das in seinem
Debattenbeitrag deutlich gemacht; ich will das hier am
Ende der Debatte noch einmal sagen -, daß die grundsätzliche Reform und die mit ihr verbundenen großen
Ziele, also mehr Subsidiarität, mehr Bürgernähe in
Europa, mehr Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung,
nicht so von Ihnen angegangen wurde, daß sie in ihrer
Struktur die nächsten Jahre über trägt. Das haben Sie
nicht geschafft. Deshalb sind die kläglichen finanziellen
Ergebnisse auch Ausdruck der Konzeptionslosigkeit in
der Gesamtanlage.
({5})
Die anderen fahren strahlend nach Hause. Robin
Cook, der englische Außenminister: Wir haben keinen
Penny unseres Rabattes abgegeben. Die Spanier sagen:
Das Ergebnis ist prima für Spanien. Der Bundeskanzler
hat hier gesagt: Wir wollen doch einmal würdigen, daß
Berlin erfreulicherweise weiterhin in der Phasing-outFörderung verbleibt. Ich habe eben in dem englischen
Bericht nachgeschaut. Es ist ja auch eine neue Mode in
Europa, daß selbst dann, wenn wir Deutschen die Präsidentschaft innehaben, die Schlußfolgerungen zuerst in
englischer Sprache erscheinen. Sei es, wie es sei.
Es ist erfreulich, daß Berlin durch die Phasing-outFörderung 100 Millionen bekommt; aber Lissabon erhält
durch das Phasing-out 500 Millionen. Es sei den Portugiesen und auch Lissabon gegönnt. Aber man muß es ins
Verhältnis setzen.
Besonders interessant in diesem Bericht ist - das ist
in den vorab herausgekommenen Pressemeldungen nicht
deutlich geworden -, daß das ursprüngliche Versprechen, den Kohäsionsfonds wenigstens abzuschmelzen
und ihn auslaufen zu lassen, glatt gebrochen wurde. Der
Kohäsionsfonds wird eher noch aufgebläht. Von einem
Auslaufen ist nicht die Rede. Diese Grundsatzentscheidung geht in die völlig falsche Richtung.
({6})
Wenn wir ihn nicht auslaufen lassen, dann werden wir
die zusätzlichen Mittel, die wir für die Osterweiterung
brauchen, nicht schultern können.
Nun hat hier eben der Vertreter des Herrn Landwirtschaftsministers zur Landwirtschaft gesprochen. Ich
möchte darauf nur ganz kurz eingehen, weil Gerd Müller
es gleich für unsere Fraktion noch auf den Punkt bringen
wird.
({7})
- Jawohl.
Was hier mit der Landwirtschaft geschieht, ist mehr
als bedenklich. Schauen wir uns nur einmal die Situation
eines normalen Hofes, eines kleinen Betriebes mit
40 Milchkühen und 47 Hektar landwirtschaftlicher Fläche an. Gewinn im Wirtschaftsjahr 1997/98: 45 000
DM. Gewinn am Ende der Reform im Jahr 2006: abzüglich der Agenda-Lasten 35 000 DM, abzüglich weiterer 2 000 DM wegen der Senkung der Vorsteuerpauschalierung und abzüglich 1 500 DM Ökosteuer - die
mögliche Mehrwertsteuererhöhung und die Erhöhung
der Unfallversicherung lassen wir einmal weg -: etwa
31 000 DM. Und da sagen Sie, Sie hätten für die Landwirtschaft etwas herausgeholt! Diese Aussage liegt auf
der Grenze zwischen Zynismus und Unkenntnis.
({8})
Das ist es, was uns so beschwert. Wenn es im Bereich
der Landwirtschaft gelungen wäre, den zentralen Problemen, etwa daß wir eine Überproduktion haben, so zu
begegnen, daß sie gelöst und gleichzeitig die Einkommen der Landwirtschaft gesichert werden können,
könnte man darüber reden. Aber was macht man? Man
senkt den Preis, schafft einen Teilausgleich, zwingt die
Landwirtschaft, die Produktivität eher noch zu erhöhen
und dafür zu sorgen, daß die Einkommensverluste hier
ausgeglichen werden, und drückt kleine und mittlere
Betriebe langsam, aber sicher über die Kante. Der Bundeskanzler nannte den Agrarkompromiß heute morgen
eine „auskömmliche Lösung“. Ich finde diesen Begriff
fehl am Platze, wenn man sich die Zahlen ganz genau
anschaut.
({9})
Wir haben für die heutige Debatte einen Entschließungsantrag eingebracht, über den wir auch gerne abstimmen würden. Aber die Mehrheit im Hause verweiPeter Hintze
gert uns die Abstimmung. Deswegen wird er an den
Ausschuß überwiesen. Ich schlage aber hier vor, daß wir
uns, wenn die Dokumente dieses Gipfels und die Einzelheiten vorliegen - einige Details habe ich Ihnen eben
aus der englischen Fassung vorgetragen -, im Plenum
des Deutschen Bundestages noch einmal Zeit nehmen
({10})
- Sie von der SPD nicken, das freut mich -, die Dinge
ganz gründlich zu besprechen und bei dieser Debatte
auch zu überlegen, wie wir in Deutschland durch mögliche innerstaatliche Maßnahmen, etwa im Bereich der
Landwirtschaft, die gröbsten Härten für die Menschen
abwenden können, die nach dem jetzigen politischen
Stand der Dinge die Agenda 2000 durch massive Einkommensverluste bezahlen sollen. Die Agenda 2000 ist
weiß Gott kein großer Wurf. Sie greift wesentlich zu
kurz. Es kommt darauf an, daß wir mit unseren innerstaatlichen Möglichkeiten das zum Besseren korrigieren,
was dieser Regierung auf europäischer Ebene nicht
gelungen ist.
({11})
Es spricht jetzt der
Staatsminister im Auswärtigen Amt, Günter Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Ich mache einmal einen Vorschlag zur
Güte: Ich glaube, daß die etwas aufgeregten Reaktionen
des bayerischen Ministerpräsidenten - der hier, wie auch
bei der letzten Unterrichtung der Ministerpräsidenten
durch den Bundeskanzler, nicht mehr anwesend ist und der Kollegen Haussmann und Hintze zurückgestellt
werden sollten, bis wir die tatsächlichen Zahlen haben.
Es hat doch gar keinen Zweck, jetzt ein Ergebnis zu beurteilen, dessen Einzelheiten niemand hier bewerten
kann, weil sie nicht vorliegen. Herr Hintze, machen Sie
bitte den Übersetzern keinen Vorwurf dafür, daß Sie,
wenn morgens um viertel nach sechs die Verhandlungen abgeschlossen sind, mittags keine deutsche Fassung
haben können. Wir sind froh, daß wir um sieben Uhr
eine englische Fassung hatten. Das sollten Sie bitte verstehen.
({0})
Hier einen billigen Punkt zu Lasten von Mitarbeitern zu
machen, die 58 Stunden ununterbrochen zu arbeiten
hatten, finde ich schäbig, Herr Hintze.
({1})
- Das ist so; das müssen Sie sich schon gefallen lassen.
Zum anderen müssen Sie sich endlich einmal entscheiden, was Sie nun eigentlich für Ihre Argumentation
als Maßstab nehmen wollen. Beim letzten Mal hat uns
Herr Schäuble hier vorgetragen, was für eine grauenhafte Vorlage diese Agenda 2000 - eine Vorlage der
Kommission, was Sie nicht vergessen dürfen - eigentlich sei. Da stimme ich zu; sie war wirklich grauenhaft.
Wenn Sie aber nun anfangen zu vergleichen, dann müssen Sie das Ergebnis des heutigen Tages mit der
ursprünglichen Vorlage vergleichen. Sie, Herr Hintze,
der Sie nun, glaube ich, der europapolitische Sprecher
Ihrer Fraktion sind, sollten inzwischen wissen, daß wir
eine Agenda, die auf einem Vorschlag der Kommission
beruht, nicht einfach mit neuen Vorschlägen und neuen
Themen befrachten können. Sie haben hier eine Reihe
von Forderungen aufgestellt, was wir hätten tun sollen.
Das war aber nicht das Thema dieser Agenda.
({2})
Das war nicht der Vorschlag der Kommission. Das ist
das Thema für den nächsten Gipfel. Dazu sage ich
gleich noch etwas.
Nun will ich einmal etwas zu den Zahlen sagen. Das
sind jetzt bereits verbindliche Zahlen; ich kann Ihnen
sagen, daß sie stimmen. Die Kommission hatte vorgeschlagen, für Struktur- und Kohäsionsfonds in der
vollen Periode 239 Milliarden Euro auszugeben. Wir
sind bei 213 Milliarden Euro gelandet. Ich finde,
26 Milliarden Euro weniger als vorgeschlagen sind ein
schönes Ergebnis.
({3})
Wenn wir das hätten bezahlen müssen, was in der finanziellen Vorausschau vorgesehen war, dann würden unsere Nettobeiträge ganz anders aussehen.
Dasselbe ist bei der Landwirtschaftspolitik der Fall.
Nach dem Vorschlag der Kommission waren als
Grundlage der Agenda 2000 - Herr Schäuble hat uns das
letztes Mal vorgehalten, als sei es unsere Grundlage gewesen - 313 Milliarden Euro für die Agrarpolitik in der
ganzen Periode vorgesehen. Aus den Verhandlungen
herausgekommen sind wir mit 283,5 Milliarden Euro.
Das ist wiederum eine Ersparnis von knapp 30 Milliarden Euro. Damit sind wir zusammen bereits bei fast
60 Milliarden Euro. Wenn das für Sie Peanuts sind bitte schön. Bei einem Volumen von 1,3 Billionen Euro
mögen 60 Milliarden Euro keine große Rolle spielen.
Für mich spielt es aber eine große Rolle, ob wir in den
nächsten sieben Jahren 60 Milliarden Euro zusätzlich
finanzieren müssen oder nicht.
({4})
Ich denke, Sie sollten einmal abwarten, wie das tatsächliche Ergebnis aussieht. Warten Sie bitte auch einmal ab, wie die Verordnungen aussehen, die bekanntlich
noch durch das Parlament müssen. Die Agenda 2000 in
der Berliner Fassung ist eine politische Einigung. Hier
werden zum Teil bereits Details verlangt, oder es wird
schon über Details geredet, die überhaupt noch nicht in
Verordnungstexten formuliert sind.
Ich möchte noch einmal auf ein sehr ernstes Thema
zurückkommen, das in mehreren Reden angesprochen
wurde, damit das wirklich einmal aus der Welt ist. Es
geht um die angeblich aus der Hand gegebenen VerPeter Hintze
handlungsinstrumente; als Beispiel wurde immer die
Kofinanzierung genannt. Das ist wirklich ein sehr ernstes Thema. Ich habe gar keinen Zweifel daran, daß die
Kofinanzierung genau die positiven Elemente hat, die
Sie alle beschrieben haben. Sie ist das für uns genau
maßgeschneiderte Instrument; daran besteht gar kein
Zweifel. Darum haben wir es, zusammen mit einer Reihe von anderen Instrumenten, auch in die Verhandlungen eingeführt. Aber fragen Sie, Herr Kollege Hintze,
doch einmal die Kolleginnen und Kollegen aus Ihrer
Fraktion, die schon Mitglied einer Regierung waren
- Herr Schäuble, der einmal Chef des Kanzleramtes war,
weiß es ganz genau -: An einem bestimmten Punkt wissen Sie, was mit einem wichtigen Partner - in diesem
Fall dem wichtigsten, nämlich Frankreich - geht und
was mit ihm nicht geht. Es gab, wie Sie wissen, eine
wirkliche Störung im deutsch-französischen Verhältnis.
({5})
- Ich werde Ihnen sagen, wodurch sie ausgelöst worden
war.
({6})
- Schreien Sie doch nicht dazwischen. Hier geht es
wirklich um ein sehr ernstes Thema. - Sie war dadurch
ausgelöst worden, daß unsere französischen Partner
nicht verstanden haben, warum wir das Thema Kofinanzierung auf der Tagesordnung der Agendaverhandlungen gelassen haben, obwohl Frankreich ganz klar gesagt
hatte: Wir machen das unter keinen Umständen mit. Ich muß Ihnen wirklich sagen: Das war der späteste
Zeitpunkt, das Thema fallenzulassen. Frankreich hat
selbstverständlich erwartet, daß der engste Partner in
dem Augenblick, in dem er weiß, daß Frankreich etwas
als eine Zumutung betrachtet, die es nicht akzeptieren
wird, dieses Thema nicht weiter verfolgt. Wenn wir
Ihrem Rat gefolgt wären, wäre das deutschfranzösische Verhältnis jetzt in Trümmern. Das müssen Sie ganz deutlich sehen. Das konnte man nicht
riskieren.
({7})
Wenn Sie also Kritik üben wollen, daß ein ganz bestimmtes Instrument nicht angewandt werden kann,
melden Sie diese Kritik bitte in Paris bei Herrn Präsident
Chirac an, der ja seine Gründe hat, warum er das nicht
wollte.
Bei den anderen Punkten ist es genauso. Sie tun geradezu so, als lägen hier die Elemente auf dem Tisch, und
Deutschland bräuchte nur noch zuzugreifen: Wir nehmen dieses Element, wir nehmen jenes Element; dann
setzen wir das zusammen, und alle anderen haben dann
gefälligst zu parieren - als ginge es in Europa immer nur
nach der Mütze eines einzigen Landes! Sie müssen eine
Lösung finden, der 15 Staaten zustimmen können, nicht
nur einer. All diese wunderschönen Elemente - wir
kennen sie und hatten sie immer im Blick - haben leider
einen schwerwiegenden Nachteil: Über kein einziges
dieser Instrumente konnte mit allen 15 EU-Staaten eine
Einigung erreicht werden.
Was macht man in einem solchen Fall, angesichts
einer Lage, die wir in Europa noch nie hatten: eine
zurückgetretene EU-Kommission,
({8})
eine Kosovo-Krise auf dem Höhepunkt
({9})
und das schwierigste und umfangreichste Finanzpaket in
der Geschichte der Europäischen Union auf der Tagesordnung? Gemäß Ihrem Rat hätten wir den Gipfel nach
einigen Stunden abbrechen und sagen sollen: Leider
können die deutschen Vorstellungen hier nicht durchgesetzt werden, lassen wir es also sein! ({10})
Herr Hintze, das ist doch eine lächerliche Vorstellung.
({11})
In einer solchen Situation steht man immer vor der
Frage: Ist es dieses eine Element wert, daß in Europa ein
völlig falsches Signal gesetzt wird, daß der Einigungsprozeß zum Stehen kommt, daß vielleicht sogar ein
Rückschritt erfolgt? Sie würden dann genau wie ich immer sagen: Nein, der Prozeß der europäischen Einigung
ist wichtiger als ein einzelnes Element. So haben wir uns
verhalten; das war auch richtig so.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Eine Reihe von
Außenministern und Regierungschefs in Europa haben
im vergangenen Jahr, vor der Bundestagswahl, wissen
lassen, warum sie wollen, daß die Agenda 2000 unter
deutscher Präsidentschaft behandelt wird. Die Agenda
war alt genug; man hätte sie bereits im vergangenen Jahr
abschließen können. Es war aber gewollt, daß dies unter
deutscher Präsidentschaft geschieht. Was glauben Sie,
warum? Dafür gibt es einen sehr einfachen Grund; darauf kann jeder leicht kommen. Der Grund war der Gedanke, daß Deutschland im Rahmen seiner Präsidentschaft in dem Zwang, einen Kompromiß anzubieten, am
Ende auch bereit sein würde, diesen Kompromiß zu
bezahlen.
Darum war es notwendig, zu Beginn der Präsidentschaft deutlich zu machen, daß es für uns eine Grenze
gibt. Diese Grenze wurde klar beschrieben: Neben der
Stabilisierung und der Beachtung der Haushaltsdisziplin
mußte erreicht werden, daß bezüglich der Lastenverteilung innerhalb der EU Gerechtigkeit eintritt.
Was ist in dieser Hinsicht gelungen? Italien konnte
durch die Umstellung der Mehrwertsteuer-Eigenmittel
auf Bruttosozialprodukt-Eigenmittel 50 Prozent abgenommen werden, wenn auch in einer etwas verklausulierten Form.
({12})
- Es war eine diplomatische Veranstaltung. Sie müssen
schon erlauben, daß man Formulierungen wählt, die es
einem befreundeten Regierungschef erlauben, damit in
seinem Land vor das Parlament zu treten.
Zur Frage des Rabatts für Großbritannien hat der
Bundeskanzler gesagt, daß Modifikationen vereinbart
wurden. Das heißt auf deutsch: Der Rabatt wird anders
aufgebracht und nach anderen Maßstäben berechnet, und
zwar nicht zugunsten Großbritanniens, sondern zu unseren Gunsten.
Das ist ein Einstieg in die Veränderung dieses
Systems; dies hat es bisher nicht gegeben. - Herr Hintze,
das ist eine ganze Menge, viel mehr, als man erwarten
konnte, auf diesem Gipfel zu erreichen.
Wenn ich unter all das einen Strich ziehe, dann
komme ich zu dem Ergebnis:
({13})
Dieser Gipfel ist, verglichen mit vielen anderen in den
zurückliegenden Jahren, der wahrscheinlich erfolgreichste Gipfel in der Geschichte deutscher EU-Präsidentschaften gewesen.
({14})
Jetzt spricht der
Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Staatsminister
Verheugen, nach einem solchen Gipfel leidet man offensichtlich ein wenig an Wahrnehmungsstörungen. Man
erkennt nicht, wie die Wirklichkeit aussieht.
({0})
Ich habe mir schon lange Zeit, in den letzten Monaten
im Ausschuß und auch heute, da wir die Ergebnisse dieses Gipfels diskutieren, immer wieder die Frage gestellt:
Warum ist das Ergebnis so schlecht, so katastrophal?
({1})
Herr Staatsminister Verheugen, Sie haben mit Ihrer
Rede gerade ein Beispiel für Arroganz, Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit in bezug auf das Auftreten der
Regierung zu Hause und im Ausland gegeben.
({2})
Wenn ich an Herrn Trittin denke, dann möchte ich hinzufügen, daß das Auftreten der Regierung ein Beispiel
für Unverschämtheit war. Im Stil, wie Sie Politik betreiben, liegen die Ursachen und die wahren Gründe, für das
vorliegende Ergebnis. Diplomatie ist das nicht. Minister
Fischer würde sagen: Avanti, dilettanti!
({3})
Ich habe eine Redezeit von nur wenigen Minuten.
({4})
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Was mir
bei dieser Zahlenspielerei von heute gefehlt hat, ist die
Gestaltungsidee. Unser Fraktionsvorsitzender hat danach
gefragt. Sie reduzieren Europa auf Prämien. Sie machen
aus Europa einen Kuhhandel. Sie haben keine Idee zur
Gestaltung Europas.
({5})
Ich komme zu einem weiteren Aspekt. Diese Reform
hat verheerende Auswirkungen auf die deutsche Landwirtschaft. Gerhard Schröder und Minister Funke haben
die deutschen Bauern betrogen.
({6})
Sie ruinieren das Land. Dies ist ein Generalangriff auf
die deutsche Landwirtschaft und auf den ländlichen
Raum.
({7})
Die Ergebnisse dieser Reform möchte ich Ihnen verdeutlichen. Es ist der pure Zynismus! Wissen Sie überhaupt, was 1 Doppelzentner Weizen heute noch kostet?
Ganze 14 DM.
({8})
Angesichts dessen stellt sich Staatssekretär Thalheim
hierher und sagt: Es ist ein großer Erfolg, wenn wir diese 14 DM für 1 Doppelzentner Weizen - das ist ein
geringerer Preis als der, den man heute für Müll bezahlen muß - noch einmal um 20 Prozent reduzieren. - Das
ist die Perspektive, die Sie unseren Bauern eröffnen.
Deshalb sagen wir zum Agrarteil der Agenda 2000 ganz
klar nein.
({9})
Ich komme zu meinem letzten Gedanken. Sie sprechen immer wieder von der Kofinanzierung. Minister
Fischer sagte: Das ist eine Kriegserklärung an Frankreich. Ich sehe Theo Waigel hier sitzen. Was waren die
Milchquote und die Kofinanzierung für historische
Themen! All dies konnten Sie nicht durchsetzen, weil
das in Frankreich, wie Sie sagten, historische Themen
von national-dramatischem Rang sind. Ich frage Sie:
Warum hat Theo Waigel es geschafft,
({10})
den europäischen Stabilitätspakt durchzusetzen und die
Einführung des Euro zu verwirklichen, die Europäische
Zentralbank nach Frankfurt zu holen und Wim Duisenberg zum Präsidenten zu machen? Weil er besser verhandelt hat und weil wir eine bessere Regierung hatten.
Herzlichen Dank.
({11})
Es spricht jetzt der
Kollege Dr. Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich komme
zu dem ernsteren Thema zurück. Wir haben hier gestern
und heute Worte leidenschaftlicher Empörung und der
Anklage von Herrn Gysi für seine Fraktion
({0})
und von meinem Freund Ströbele für einige unserer
Fraktionskolleginnen gehört. Wir haben aber auch eine
Rhetorik gehört, die manche Zusammenhänge auf den
Kopf gestellt hat.
Ich glaube, niemand hier in diesem Hause ist sich
nicht der Tragweite bewußt, die die erste deutsche
Beteiligung an Kampfeinsätzen der NATO hat. Wir
haben den Rubikon überschritten. Auch ich habe meine
Hand bei der Zustimmung zu diesem Einsatz gehoben.
Deshalb darf ich darauf hinweisen, was mich am
Morgen des 24. März dieses Jahres - wissend, daß die
Flugzeuge und die Raketen geflogen waren - bewegt
hat: Ich habe - Historiker, der ich nun einmal bin - an
den August 1914 gedacht, an patriotisch begeisterte
Menschen, die ihre soldatischen Angehörigen zu den
Zügen an die Front begleiteten, an eine patriotische Begeisterung, die später in den Schützengräben von Verdun erstarb. Ich denke, jeder hier hat Remarque gelesen,
und jeder teilt das Gelöbnis: Nie wieder Krieg!
({1})
Ich habe aber auch an den August 1939 gedacht, als
Hitler eine Panzereinheit durch Berlin rollen ließ, um die
Stimmung der Bevölkerung zu testen. Diese stand
stumm und erschrocken am Straßenrand, so wie heute in
Belgrad Menschen am Straßenrand stehen und nicht begreifen können, was da mit ihnen geschieht. Und sie
wurden doch - ich spreche jetzt von der Berliner Bevölkerung - in die Verbrechen verwickelt, die Namen tragen wie Auschwitz, Treblinka, aber auch Oradour,
Lidice, Marzobotto und Kragujevac - eben jenes Kragujevac in jenem Serbien, dessen Bevölkerung jetzt von
dem Regime Milosevic in seine Verbrechen verwickelt
wird. Deshalb muß man den nach Europa zurückgekehrten ethnischen Mord auch so benennen.
({2})
Herr Kollege Gysi hat uns gestern den Vorwurf
gemacht, daß wir vieles ausblenden, aber er selber hat
auch Namen wie Omarska, wie Srebrenica, wie Racak
ausgeblendet. Man darf auch nicht die Reihe der gebrochenen Verträge ausblenden. Es handelt sich allein um
17 oder 18 Waffenstillstandsverträge, mit denen die internationale Gemeinschaft in Bosnien das Morden zu
stoppen versuchte. Auf das Kosovo bezogen: Man darf
nicht vergessen, daß die Jelzin/Milosevic-Vereinbarung
schon nach einer Woche gebrochen wurde. Man darf
nicht verschweigen, daß das Holbrooke/MilosevicAbkommen vom Oktober nach kurzer Zeit ebenfalls gebrochen wurde, und man darf nicht diesen letzten europäischen Versuch einer politischen Lösung vergessen,
die mit den Stichworten Rambouillet und Paris bezeichnet wird. Man darf auch nicht das kühle Kalkül eines
Regimes vergessen, mit dem das Ende der Pariser Gespräche als Beginn eines erneuten Angriffs auf die
Kosovo-albanische Bevölkerung angesetzt wurde. Dieses Regime hat natürlich mit dem russisch-amerikanischen Gipfel in der folgenden Woche und mit dem
europäischen Gipfel kalkuliert, weil man meinte, eine
Woche Zeit zu haben, in der man dann die Situation zu
„bereinigen“ dachte.
({3})
Wenn der Kollege Gysi gestern - das hat er heute
wieder getan - die Zerstörung einer mühsam errichteten
Weltfriedensordnung beklagt, möchte ich ihm entgegnen: Ja, auch wir beklagen das. Aber es gilt doch: Mord
zerstört jede Friedensordnung, ob im kleinen oder im
großen. Massenmord beschädigt jeden Versuch einer
Weltfriedensordnung. Wir stimmen mit dem Kollegin
Gysi darin überein, daß wir nicht die Rolle eines Weltpolizisten, weder für uns noch für die NATO, anstreben.
Aber sollte man, wenn man das Morden überall in der
Welt nicht verhindern kann, es nicht dort zu verhindern
versuchen, wo man es kann, nämlich in der Mitte Europas?
({4})
Ich habe sehr genau zugehört, als der Kollege Gysi,
der ja ein vorzüglicher Jurist ist,
({5})
auf internationale Rechtsexperten Bezug genommen hat,
und mir ist klar geworden: Diese Definitionen erfolgten
immer auf der Grundlage zwischenstaatlichen Rechts.
Was aber geschieht bei innerstaatlichen „ethnischen
Säuberungen“?
({6})
Das Regime begeht ja Morde am ethnisch andersartigen,
aber staatsrechtlich eigenen Volk. Das ist das Problem.
Ich möchte den Kollegen Gysi gern fragen, ob er denn
glaubt, daß eine wirkliche Weltfriedensordnung, die wir
ja alle erst entwickeln müssen, innerstaatlichen Völkermord übersehen kann. Ich glaube, sie kann es nicht,
meine Freunde glauben es auch nicht. Deshalb trägt die
Mehrheit meiner Fraktion diesen Einsatz mit, auch wenn
wir beschimpft werden mit den Worten, daß das ein
erstmaliger deutscher Kriegseinsatz sei.
({7})
Es spricht jetzt der
Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es
ist richtig, daß wir im Zusammenhang mit Europa auch
über das Kosovo reden. Denn was wir in Europa, zunächst in seinem westlichen Teil, als ein einzigartiges
Modell an Zivilisation und Friedenssicherung durch Integration zu schätzen gelernt haben, ist ja Ergebnis
schwerer Prüfungen. Manches für die Zukunft erwächst
offenbar nur aus solchen schweren Prüfungen.
Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß wir
den Idealen der europäischen Aufklärung, des europäischen Humanismus ins Gesicht schlagen würden, wenn
wir nach der Methode verfahren würden, die uns gestern
anempfohlen wurde. Diese Methode lautet: Wenn zehn
Menschen zu ertrinken drohen und ich nur einen retten
kann, lasse ich es lieber ganz bleiben; dann sind jedenfalls alle gleichbehandelt. - Diese zynische Argumentation nimmt nicht zur Kenntnis, daß man einerseits für
Menschenrechte, für Freiheit und für Demokratie mit
einem durchaus weltweiten, nämlich universellen Anspruch eintritt und andererseits weiß, welche begrenzten
Handlungsmöglichkeiten man hat, gerade militärisch.
Wer aus diesem Dilemma den Schluß zieht, seine Verantwortung überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, seine
Handlungsmöglichkeiten überhaupt nicht mehr einzusetzen, der handelt, Herr Kollege Gysi, in meinen Augen
völlig verantwortungslos.
({0})
Ich weiß nicht, wie es anderen Mitgliedern in diesem
Hause geht, aber ich erinnere mich sehr gut an Erfahrungen, die im Jahre 1968 begonnen haben. Das ist übrigens ein Umstand, den Sie gestern wohlweislich verschwiegen haben: diese eigenartige Form des sozialistischen Internationalismus, die es da gegeben hat.
({1})
Vor diesem Hintergrund sage ich Ihnen: Wenn man sich
an das Gefühl der Ohnmacht bei der Besetzung der
Tschechoslowakei, an das Gefühl der Ohnmacht bei der
Unterdrückung der Charta 77, an das Gefühl der Ohnmacht bei der Verhängung des Kriegsrechtes in Polen
erinnert und das mit seinen ganz persönlichen Erinnerungen verknüpft - ich jedenfalls tue das -, muß man
sagen: Nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist
für meine Begriffe das Gefühl des Skrupels und der Besorgnis angesichts der Handlungszwänge, in denen wir
stehen, wesentlich besser zu tragen als dieses Gefühl der
völlig hilflosen und wirklich verfluchten Ohnmacht, den
Menschen nicht helfen zu können, denen die ganze
Sympathie und die ganze politische Unterstützung galt.
Daß wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts in
Europa in der Lage sind, unsere Werte und unsere Ideale
nicht nur zu reklamieren, sondern mehr für sie zu tun als
in den Zeiten davor, finde ich, ist auch ein Teil der Verantwortung, die mit dem Kosovo verbunden ist. Deshalb
sage ich, daß angesichts der Realitäten, die sich dort
entwickelt haben, angesichts des monatelangen Bemühens um eine politisch vereinbarte Verhandlungslösung
und angesichts der grauenhaften Umstände, die dort
mittlerweile herrschen, auch das problembeladene Tun
immer noch besser ist als jedes Nichtstun. Dieses
Nichtstun, daß ist der Winkel, in den sich nur die Menschen zurückziehen können, die am Ende aus ihrem Gefühl für Menschen keine praktischen Konsequenzen
mehr zu ziehen bereit sind.
({2})
Da droht das humane Ideal zur Phrase zu verkommen.
Die jugoslawische Armee hat im Kosovo - entgegen allen internationalen Vereinbarungen - mittlerweile 40 000 Soldaten zusammengezogen. Sie hat über
300 Panzer, über 700 Gefechtsfahrzeuge und über
700 Artilleriegeschütze im Kosovo zusammengezogen.
Warum?
({3})
Wenn es wirklich darum ginge, im Kosovo Terrorismus
zu bekämpfen - wie das reklamiert wird -, wenn es
wirklich darum ginge, nur die staatliche Integrität Jugoslawiens zu sichern, dann hätte die Regierung Milosevic
in allen europäischen Staaten einen Partner. Es geht ihr
aber um etwas anderes.
({4})
Sollten wir das alles - die großserbische Obsession,
die gegen Slowenien, in der Krajina und in BosnienHerzegowina vorging, die immer wieder Menschen das
Leben gekostet hat und unschuldige, nur nach Unabhängigkeit oder wenigstens Autonomie strebende Bevölkerungsgruppen mit Mord und mit Krieg überzogen hat vergessen? Sollen wir wirklich alle diese Erfahrungen
vergessen? Sollen wir die hilflose Situation der Soldaten, die im Auftrag der Vereinten Nationen vor Ort waren, angekettet waren und am Ende bei dem Massaker in
Srebrenica zuschauen mußten, vergessen? Sollen wir das
alles vergessen?
Wir müssen heute mit einem Völkerrecht umgehen,
das ich nicht gering schätzen will. Ich weiß, welchen
Mißverständnissen man sich aussetzt, wenn man das in
diesem Zusammenhang diskutiert. Diesen Punkt habe
ich schon am 16. Oktober des letzten Jahres im Deutschen Bundestag einmal angeschnitten. Aber ist es
wirklich zu rechtfertigen, an den Weltsicherheitsrat
gebunden zu sein, wenn sich dort drei von fünfzehn Nationen - Rußland, China und Namibia - gegen das Vorgehen der NATO und der westlichen Staatengemeinschaft ausgesprochen haben und von den zwölf anderen
zwei mindestens Verständnis und die übrigen Unterstützung bekundet haben? Können wir es uns auf Dauer leisten, daß die Weltgemeinschaft mit dem aus der Rolle
der Atommächte begründeten Vetorecht lebt und daß
damit die Durchsetzung von Recht aus Gründen, wie sie
zum Beispiel die Volksrepublik China hatte, verhindert
wird - die Souveränität Mazedoniens und seine Politik
mißachtend, das UNPREDEP-Mandat beendend, den
Staat einem großen Risiko aussetzend usw.? Ist es zu
rechtfertigen, daß eine solch große Macht wie China
wegen ihrer Belange - oder was sie dafür hält - in Tibet
glaubt, sie müsse auf der ganzen Welt ethnisch begründeten Völkermord einfach deshalb akzeptieren, weil er
in innerstaatlichen Grenzen stattfindet?
Was im Kosovo geschieht, ist eine Prüfung. Zunächst
ist es für die Menschen eine fürchterliche, eine schreckliche, eine unmenschliche Prüfung. Es ist aber auch eine
Prüfung für uns, für unser politisches Gewissen, für unsere Fähigkeit, aus beanspruchter Moral praktische Konsequenzen zu ziehen, und auch für unsere Fähigkeit, die
Grenzen militärischer Handlungsmöglichkeiten sehr genau zu kennen. Es wäre auch gegenüber den eingesetzten Soldaten ganz und gar unverantwortlich, zu glauben,
daß Frieden schon aus der Beendigung von Mord und
Gewalt entstünde. Das ist der erste Schritt auf einem
langen Weg. Europa hat aber neben dem, was wir alle
gemeinsam tun, um das Morden zu beenden, noch eine
andere Verpflichtung, nämlich die ökonomischen, die
sozialen und die kulturellen Grundlagen für einen Friedensprozeß auf dem Balkan zu schaffen - genau so,
wie wir es im Westen Europas nach den verheerenden
Erfahrungen von Faschismus und Zweitem Weltkrieg
begonnen haben.
({5})
Ich füge hinzu: Man muß in der Geschichte Deutschlands schon sehr weit zurückdenken, um einen Punkt zu
finden, an dem Deutschland in den Jahrhunderten vor
dem Entstehen der Bundesrepublik einmal in Einklang
mit der westlichen Zivilisation und in Einklang mit den
humanistischen und demokratischen Idealen gehandelt
hätte. Das tun wir seit 1949, seit der Verabschiedung des
Grundgesetzes, das bald 50 Jahre alt sein wird. Was für
einen Sinn sollte es machen, diese freiheitliche Verfassung als stabiles Fundament von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit zu preisen, wenn wir den Anspruch
aus dem ersten Artikel des Grundgesetzes, die Würde
des Menschen zu schützen, auf uns selbst - und hier bei
uns möglicherweise auf die Inhaber eines deutschen
Passes - beschränken wollten? Das war nicht das Ideal
der Mütter und Väter unserer Verfassung.
Deshalb sage ich: Es darf unbeschadet aller militärischer Maßnahmen und der notwendigen Diskussion über
die damit zusammenhängenden Einzelheiten sowie der
Skrupel, die hoffentlich immer mit militärischen Maßnahmen verbunden sind, auch kein Zweifel daran bestehen, daß wir aus unseren eigenen Erfahrungen Konsequenzen ziehen, zwar mit Standfestigkeit und mit
Klarheit, und uns nicht von dem Weg abbringen lassen,
der für Deutschland in Europa Aussöhnung, Freundschaft, Frieden und Wohlstand gebracht hat. Wenn man
das alles genießen will, dann hat man auch die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, im Rahmen seiner
Handlungsmöglichkeiten wenigstens denen in der unmittelbaren Nachbarschaft zu helfen, wenn man es
schon weltweit nicht kann.
({6})
Lassen Sie mich zum Abschluß noch etwas zu den
Detaildiskussionen der letzten Tage sagen, die mich erstaunt haben. Die Menschen, die jetzt als Soldaten im
Kosovo eingesetzt werden, brauchen zweierlei: Sie
brauchen eine eigene innere Überzeugung, um dem, was
sie dort tun, Sinn zu geben. Das ist Gott sei Dank so. Es
ist ein großes Glück für die Bundesrepublik Deutschland, daß sie zum erstenmal eine Armee hat, die demokratisch und gesellschaftlich fest verankert ist.
({7})
Aber unsere Soldaten und ihre Familien brauchen noch
etwas anderes, nämlich Rückhalt im Parlament und in
der Öffentlichkeit. Dieser Rückhalt könnte durch Debatten geschmälert werden, die dafür nicht gut sind, die
allenfalls gut für die eine oder andere Schlagzeile oder
die eine oder andere kurzatmige Nachricht sind.
Ich muß den Kollegen von der CDU/CSU sagen: Ich
war erschrocken, als mein Vorgänger
({8})
am vergangenen Freitag ein Interview gab,
({9})
das am darauffolgenden Samstag, Herr Kollege Breuer,
erschien, genau an dem Tag, als der Abzug der OSZEBeobachter aus dem Kosovo begann - der Abzug
wurde wegen der Gefahren notwendig; die Menschen
schwebten in einer immer größer werdenden Gefahr; sie
wurden beispielsweise beschossen -, und darin über den
Abzug der Soldaten redete, die zum Schutz der OSZEBeobachter dort sind
({10})
- ich beziehe mich auf das Interview in den „Lübecker
Nachrichten“; ich habe es bei mir -, also zu einem Zeitpunkt, als der Abzug der Beobachter noch nicht einmal
begonnen hatte, geschweige denn abgeschlossen war.
({11})
Das kann man nicht machen. Das ist nicht verantwortbar.
({12})
Wir müssen auch keine Diskussionen über Themen
führen, die wirklich keine Themen sind. Wenn jemand
beginnt, Befürchtungen auszuräumen, die er selbst in die
Welt gesetzt hat, dann ist das sein höchst privates Anliegen. Das soll er dann auch tun. Aber die Wirkung solcher geäußerten Befürchtungen auf die Öffentlichkeit
und auf die eingesetzten Soldaten und ihre Familien
sollten doch vorher sorgfältig bedacht werden.
Ich habe in diesem Hause einige Male dafür geworben, daß es einen außen- und sicherheitspolitischen
Konsens in Deutschland gibt. Ich halte ihn aus vielen
Gründen für wertvoll. Er bewährt sich unter anderem in
der jetzigen Situation. Für Deutschland ist dies eine Prüfung und zugleich mit Blick auf seine Geschichte eine
gute Erfahrung, daß es sich zum erstenmal in einer so
schwierigen Situation in völliger Übereinstimmung mit
Europa und mit den westlichen Demokratien befindet.
Es sollte uns allen bewußt bleiben: Wenn diese schwierige Zeit vorbei ist - hoffentlich bald; es liegt an Milosevic -, dann müssen Voraussetzungen für eine andere
Zeit geschaffen werden, die den Menschen eine größere
Hoffnung vermittelt und die anknüpft an die Erfahrungen, die wir in den letzten Jahrzehnten Gott sei Dank
sammeln konnten.
Vielen Dank.
({13})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Gregor Gysi das
Wort.
Herr Bundesverteidigungsminister, Sie haben mich unter anderem dafür kritisiert,
daß ich gestern nicht auf den Einmarsch in die CSSR
und auch nicht auf das Kriegsrecht in Polen eingegangen
bin. Es gab für mich zumindest gestern dafür auch keinen Grund. Aber ich will das gerne tun.
Der Einmarsch der damaligen Sowjetunion und der
anderen Länder des Warschauer Pakts mit Ausnahme
von Rumänien in die CSSR war ein klarer Verstoß
gegen das Völkerrecht. Er war nach meiner tiefsten
Überzeugung übrigens auch völlig antisozialistisch und
deshalb scharf zu verurteilen.
({0})
- Ich will Ihnen das gerne erläutern: Ich war damals
Student an der Humboldt-Universität und habe wegen
meiner Äußerungen zu diesem Einmarsch mein einziges
Parteiverfahren bekommen. Interessant an der Begründung der Strafe war, daß es hieß, ich stellte das formale
Völkerrecht über die notwendige Sicherung der sozialistischen Errungenschaften in der CSSR. Aus dieser Erfahrung heraus - das ist mir danach noch ganz häufig in
der DDR begegnet - bin ich gegen das Argument besonders empfindlich, in Situationen, in denen es um
andere Zwecke geht, Recht als formal zu bezeichnen.
Als Sie die Beispiele CSSR und Polen nannten, hätten Sie auch noch auf Afghanistan hinweisen können,
wo der Einmarsch der Sowjetunion genauso völkerrechtswidrig und indiskutabel war und Folgen gezeitigt
hat, mit denen wir noch heute in Afghanistan zu tun
haben.
Sie haben gesagt, Sie hätten darunter gelitten, daß der
Westen damals ohnmächtig war und nicht helfen konnte.
Meine Kritik ist - lassen Sie mich das deutlich sagen,
denn es geht mir nahe -: Das Gegenteil von Ohnmacht,
Herr Bundesverteidigungsminister, können doch nicht
Bomben sein. Morden beendet man doch nicht, indem
man selbst mit Bomben völlig ungezielt tötet. Ich empfinde also die Antwort als falsch, nicht die Analyse der
Situation. Bei ihr mag es auch gewisse Differenzen
geben, die aber nicht sehr dramatisch sind. Ich sehe bei
Ihnen keine politische Lösung. Das kritisiere ich, und
darum streite ich.
Sie haben gesagt, daß im Weltsicherheitsrat nur drei
Länder, nämlich China, Rußland und Namibia, dagegen
gestimmt hätten, und hinzugefügt, es könne nicht angehen, daß diese drei Länder eine bestimmte Entscheidung
verhinderten, auch wenn das Völkerrecht - das Vetorecht von Rußland und China - dies ausdrücklich erlaubt. Sie wissen ganz genau, daß es Hunderte von Beschlüssen im Sicherheitsrat gegeben hat, die mehrheitsfähig waren und daran gescheitert sind, daß die USA
von ihrem Vetorecht Gebrauch gemacht haben. Aus verschiedensten Gründen ist das nun einmal so in der
UN-Charta festgelegt worden.
Wenn man das überwinden und demokratischer gestalten will, wenn man dadurch auch zu einer anderen
Friedensordnung kommen will, dann ist dagegen nichts
zu sagen. Nur, wir haben es nicht wirklich überwunden,
wir haben keine neue Friedensordnung. Wir schaffen die
alte Ordnung ab und setzen keine neue Ordnung an die
Stelle, sondern nur das Recht der militärischen Macht
und des Geldes. Das werden sich noch ganz andere in
ganz anderen Situationen herausnehmen. Davor wird
man doch wenigstens warnen dürfen. Darum ging es
mir, weil ich glaube, daß hinterher diese Welt eine andere sein wird, als sie es vorher war. Ich glaube nicht an
den Krieg als Mittel der Politik.
({1})
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Paul Breuer,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ohne jeden Zweifel und ohne jeden
Vorbehalt können wir dem Sinn dessen, was Bundesverteidigungsminister Scharping gesagt hat, zustimmen.
({0})
Sie wissen, Herr Minister, daß Sie der Zustimmung der
übergroßen Mehrheit des Deutschen Bundestages einschließlich der gesamten CDU/CSU-Fraktion sicher sein
können. Das ist wichtig für Sie, für die Soldaten der
Bundeswehr und für Deutschland.
({1})
Sie haben in Ihrer Rede zum Ausdruck gebracht, daß
man in einer solchen Situation ein hohes Maß an Solidarität benötigt. Dem stimme ich zu. Ich stimme auch zu,
daß man in einer öffentlichen Diskussion sehr genau
abwägen muß, was man sagt. Aber wenn Sie die Solidarität, die Sie fordern und bekommen, so betonen, dann
frage ich mich auch, warum es notwendig ist, den Kollegen Rühe hier in dieser Art und Weise anzusprechen.
({2})
- Der Kollege Rühe hat heute nachmittag eine Verpflichtung. Wenn ich auf Ihre Bänke schaue, dann stelle
ich fest, daß es auch dort Kollegen gibt, die eine Verpflichtung haben. Versuchen wir doch, in einer vernünftigen Art und Weise miteinander zu sprechen!
({3})
Herr Minister, daß Sie heute so handeln können, wie
Sie es tun, und daß eine Grundsolidarität, ein Grundkonsens vorhanden ist, verdanken Sie insbesondere dem
Kollegen Volker Rühe.
({4})
Das möchte ich an dieser Stelle betonen.
({5})
Daß die Bundeswehr heute - ich sage das ohne Vorwurf trotz aller vorhandenen Schwierigkeiten die notwendige
Struktur für einen solchen Einsatz aufweist und daß
nicht nur in der Bundeswehr, sondern in unserer Bevölkerung das notwendige Bewußtsein für einen solchen
Einsatz vorhanden ist, verdanken Sie insbesondere dem
Kollegen Volker Rühe. Er hat in den vergangenen Jahren mit der CDU/CSU, mit der F.D.P. und mit Teilen
der SPD in einer hohen Verantwortung diese Auseinandersetzung gegen zum Teil erhebliche Widerstände geführt. Diese Feststellung müssen wir heute treffen, wenn
es um Solidarität geht.
Lassen Sie mich eine zweite Feststellung machen.
({6})
Herr Minister Scharping, es kann nicht sein, daß unterhalb der Ebene einer grundsätzlichen Solidarität ein derartiger Konsensdruck erzeugt wird, daß eine freie öffentliche Äußerung nicht mehr möglich ist.
({7})
Volker Rühe hat aus der Sorge heraus gesprochen - ich
teile diese Sorge -, daß deutsche Soldaten in etwas verwickelt werden können, was wir alle - auch Sie - nicht
wollen. Ich weiß, daß Sie Ihrer Aufgabe mit hoher Verantwortung nachgehen.
Wir sollten uns hier gegenseitig versichern, daß wir
auch dann, wenn etwas schiefgeht und deutsche Soldaten zu Schaden kommen, dazu bereit sind, grundsätzliche Solidarität zu üben und nicht in etwas zu verfallen,
was nicht nur unseren Soldaten, sondern uns alle in erheblicher Weise belasten könnte. Das ist das eigentlich
Wichtige.
({8})
Zu Erwiderung Herr
Bundesminister Scharping, bitte.
Herr Kollege Breuer, damit wir uns nicht falsch
verstehen: Ich kann gut nachvollziehen, daß es andere
Verpflichtungen gibt. Gestatten Sie mir - bei allem Respekt und bei aller Wertschätzung einer Grundsolidarität
- eine offene Bemerkung: Wenn die Fülle der Interviews mit der Fülle der Abwesenheit stark korreliert,
dann ist es etwas schwierig, noch miteinander zu reden.
({0})
Ansonsten geht es mir um einen einzigen Punkt, der
mit Konsensdruck überhaupt nichts zu tun hat: Man
sollte sehr vorsichtig damit umgehen, Fragen aufzuwerfen, in denen alle beteiligten Staaten - die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder die
USA - einig sind. Auch die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright hat es gerade noch einmal öffentlich gesagt: Wir haben nicht die Absicht, über die
vorhandenen Mandate hinauszugehen.
Es wäre ganz gut, keine Befürchtung in die Welt zu
setzen, um am Ende als derjenige auftreten zu können,
der die Grenze gegen diese Befürchtung gezogen hat.
Denn damit wird unterstellt - das macht, wohlgemerkt,
nur in dieser Frage den Konsens etwas schwierig -, andere hätten möglicherweise die Absicht, die hinter dieser
Befürchtung steht. Wie Sie vielleicht verstehen, lasse ich
mir das nicht so gerne gefallen.
({1})
Als nächster Redner
hat das Wort der Kollege Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Ich spreche jetzt für die
Frauen - vor allen Dingen - und Männer meiner Fraktion,
die sich schon in der letzten und auch in dieser Legislaturperiode immer konsequent gegen den Einsatz deutscher
Soldaten out of area eingesetzt haben und dies auch bei
ihrem Stimmverhalten hier im Hause gezeigt haben.
Herr Bundesminister, auch ich bin geprägt von einer
jahrelangen Ohnmacht. Ich kann Ihre Gefühle nachvollziehen. Meine Ohnmacht bestand darin, daß ich Jahre
vor dem Fernseher saß und mit ansehen mußte, wie in
Vietnam ein Krieg geführt wurde, der - ich will versuchen, das neutral zu formulieren ({0})
Hunderttausende von Menschen das Leben kostete, während wir hier in Europa saßen und daran nichts ändern
konnten. Ich habe die Forderung der Friedensbewegung
„Nie wieder Krieg!“ immer so verstanden - das will ich
klarstellend zu dem sagen, was ich gestern geäußert habe und was zum Teil kritisiert worden ist -, daß ich
mich mit meinem politischen Handeln, mit meinem ganzen politischen Engagement dafür einsetze, daß sich
deutsche Soldaten an keinem Krieg mehr beteiligen.
({1})
Das ist meine Grundüberzeugung.
Nun stelle ich fest, daß eine Regierung, die ich mit
gewählt habe, mit dafür verantwortlich ist, daß deutsche
Soldaten vorgestern abend und gestern abend - das werden Sie heute abend wahrscheinlich wieder tun - Bomben und Raketen auf Belgrad, auf Pristina, im Kosovo
und in Montenegro - keiner weiß genau, wo; ich jedenfalls nicht - abgeworfen haben.
Ich gebe Ihnen recht, sich danebenzustellen und zu
sagen, ich tue nichts, ist das Schlechteste. Auch ich will
etwas tun. Aber heißt das, daß man Bomben und Raketen wirft?
({2})
Ich will jetzt versuchen - das wollte ich gestern auch
schon -, die Diskussion ohne viel Polemik zu führen.
Etwas tun, was heißt das im Hinblick darauf, daß diese
Zustände im Kosovo, die unerträglich sind, wirklich beendet werden - daß ich dies erreichen will, können Sie
mir abnehmen; das nehme ich auch Ihnen ab; das nehme
ich allen ab, die sich hierzu engagiert geäußert haben -,
die Zustände, wie sie vor Wochen und Monaten und
auch in der letzten Woche gewesen sind? Daß da etwas
geschehen muß, darin sind wir uns ja einig. Die Frage
aber ist das Wie.
Ich und meine politischen Freunde und Freundinnen
verstehen oder versuchen zu verstehen, daß Sie andere
Schlußfolgerungen aus der deutschen Geschichte ziehen.
Wir sagen: Wir wollen das nie wieder zulassen. Auch
Sie sagen, daß Sie das nie wieder zulassen wollen. Das
kann für Sie jedoch auch heißen, daß mit kriegerischen
Mitteln, mit Bomben und Raketen und möglicherweise
auch noch mit mehr eingegriffen wird.
Dazu sage ich: Das ist kurzsichtig. Sehen Sie sich
doch jetzt einmal die Situation im Kosovo an, und vergleichen Sie sie mit der Situation von vor einer Woche.
Heute sind dort zehnmal mehr Menschen auf der Flucht.
Es werden Menschen getötet, wahrscheinlich mehr, als
bekannt wird. Vorhin wurde hier ein Beispiel genannt,
das so grausam ist, daß ich es nicht glauben kann, obwohl es durchaus möglich ist. Durch einen solchen
Krieg, dadurch, daß da jede Nacht Bomben und Raketen
abgeworfen werden, daß Menschen umgebracht werden
und Zerstörungen angerichtet werden, werden doch die
Grausamkeit und der Haß gefördert. Es wird doch in den
nächsten Tagen und Wochen noch mehr an Menschenrechtsverletzungen, an Tötungen, an Zerstörung angerichtet werden, wenn das so weitergeht.
({3})
Das heißt, Krieg ist doch gerade in dieser Situation
ein ganz schlechtes und gefährliches Mittel, weil er die
Situation der Menschen im Kosovo nicht verbessert,
sondern erheblich verschlechtert. Es gibt dort auch keine
Menschenrechtsorganisationen mehr. Es gibt keine OSZE-Beobachter mehr. Mit dem Abbruch der Verhandlungen, mit dem Rückzug der OSZE-Beobachter hat
sich die Situation, die Hilflosigkeit der Menschen dramatisch verschlechtert. Das müssen wir zur Kenntnis
nehmen.
({4})
Die Bundesregierung und die Parlamentsmehrheit
konnten und mußten von Anfang an wissen: Wenn man
sich in diese Logik des Krieges begibt, wird eine solche
Situation eintreten und ist eine Eskalation nicht auszuschließen. Wir alle hoffen, daß sie nicht eintritt.
Auch wir überlegen uns natürlich, was man machen
kann. Von unserem Minister ist vorhin darauf hingewiesen worden: Wenn Milosevic und die Serben erklären,
auch sie wollen die Autonomie hinnehmen, akzeptieren
und garantieren, dann kann man sofort telefonieren und
das Ganze abbrechen.
Ich sage Ihnen aber - das kann man jeden Tag in der
Zeitung lesen -: Die Sache scheitert doch für den Kosovo im Augenblick nicht an der Frage der Autonomie,
wenigstens nicht verbal. Vielmehr gibt es keinen anderen Weg, als NATO-Truppen im Kosovo zu implantieren oder einrücken zu lassen und dort zu stationieren.
Das ist doch das Entscheidende. Da frage ich mich:
Mußte man sich den Forderungen der UCK und denen
der USA so weit unterwerfen, daß man über andere
Möglichkeiten wie etwa über die Stationierung einer
Friedenstruppe unter UNO-Mandat überhaupt nicht
mehr diskutiert hat?
({5})
Muß man sich auch heute noch so weit unterwerfen,
daß man von Milosevic fordert: Wenn du die sofortige
Implantierung von UNO-Truppen im Kosovo nicht sofort akzeptierst, dann bomben wir weiter? Heißt das
wirklich, daß Sie sagen, die Entscheidung liegt allein bei
Milosevic? Müssen er und die serbische Regierung sich
in dieser Weise unterwerfen? Oder können wir nicht
eine sofortige Beendigung des Bombardements, natürlich eine sofortige Beendigung der Gewalttätigkeiten der
Serben im Kosovo, einen Wiederbeginn von Verhandlungen fordern mit dem Ziel, eine abgesicherte Autonomie für den Kosovo zu garantieren? Wir können doch
nicht nur mit diesem Prestigedenken sagen: Es geht
nicht anders als mit den Truppen der NATO.
({6})
Würde man diesen Vorschlag heute machen, hätten wir
eine Chance, daß dieses Töten, daß der Krieg dort beendet werden könnte.
Ich bitte Sie, ich fordere die Bundesregierung auf:
Stellen Sie diesen Krieg und unsere deutsche Beteiligung ein! Beenden Sie das Ganze! Versuchen Sie, auf
dem Verhandlungsweg weiterzukommen. Die Situation
der Menschen im Kosovo würde sich dadurch sofort
verbessern.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Gernot Erler das Wort.
Herr Kollege Ströbele, ich bin
Ihnen dankbar, daß Sie heute im Deutschen Bundestag
etwas leisere Töne angeschlagen haben als gestern. Wir
wissen ja auch, daß Sie hier nicht die Mehrheitsmeinung
Ihrer Fraktion vertreten. Aber Ihre Äußerungen können
nicht ohne Hinterfragung im Raum stehenbleiben.
Sie haben im Grunde genommen noch einmal behauptet, daß es eine Alternative dazu gegeben hätte,
({0})
in dem Augenblick etwas zu tun, wo mitten in Europa
im Jahre 1999 ganze Dörfer und Landstriche durch die
Anwendung von militärischer Gewalt gegen wehrlose
Menschen entvölkert werden.
({1})
- Dazu gibt es keine andere Alternative, als etwas zu
tun.
Oder, Herr Kollege Ströbele, wollten Sie ernsthaft
vorschlagen, daß wir in der Situation, als die Serben
nein zum dem Ergebnis von Rambouillet gesagt haben was nicht der entscheidende Punkt war; vielmehr sind
die Serbein parallel den Verhandlungen mit Panzern und
Artillerie gegen die Dörfer im Kosovo verstärkt vorgegangen und haben damit den Krieg eröffnet - folgendes
zu den Albanern sagen: Prima, ihr habt Rambouillet unterzeichnet, ihr ward sogar zur Entwaffnung der UCK
bereit, aber es tut uns leid, dagegen, daß die Gewalt gegen eure Familien fortgesetzt wird, können wir nichts
machen; wir sind bestenfalls bereit, die Flüchtlinge aufzunehmen.
Herr Ströbele, Sie können hier im Bundestag nicht
ernsthaft die Meinung vertreten, das sei eine Alternative
gewesen.
({2})
Jetzt noch etwas dazu, wie man da wieder herauskommt. Ich glaube, der Ernst dieser Diskussion hat gezeigt: Wir alle wollen die erstbeste Gelegenheit nutzen,
um aus dieser Tragödie wieder herauszukommen. Aber
Sie haben ja den Spieß umgedreht. Zuerst muß der Befehl von Milosevic kommen, die Kampfhandlungen im
Kosovo einzustellen.
({3})
Zunächst muß er bereit sein zu verhandeln. Das ist er ja
nicht. Auch Herr Draskovic, der Vizepräsident Jugoslawiens, hat heute morgen gesagt, die NATO solle mit den
Luftangriffen aufhören; dann seien auch sie bereit aufzuhören. Das aber war die Situation bei den Verhandlungen von Rambouillet. Da ist der Krieg begonnen
worden. Nicht die NATO hat doch den Krieg begonnen,
sondern die Truppen von Milosevic.
Einen letzten Gedanken. Ich finde, am Ende einer
solchen Debatte muß man auch Ihnen, Herr Ströbele,
sagen: Wir haben großen Respekt vor dem serbischen
Beitrag zur europäischen Kultur. Wir leben mit 500 000
Serben, die in der Bundesrepublik leben, gut zusammen.
Von dieser Debatte sollte auch das Signal ausgehen: Wir
wollen, daß die Serben so schnell wie möglich wieder in
die europäische Integration einbiegen. Wir wollen sie
hier in Europa haben.
({4})
Eine Voraussetzung dafür ist, daß dieser furchtbare
Krieg, der von serbischer Seite und leider in serbischem
Namen geführt wird, aufhört. Dieses Signal muß von
dort kommen.
({5})
Zur Erwiderung Herr
Kollege Ströbele, bitte.
Ich freue mich, daß wir endlich zum Austausch
von Argumenten kommen und nicht bei Polemik hängenbleiben.
Herr Kollege, ich sehe das anders. Sie haben die Situation so geschildert, wie auch ich sie nie gewollt habe.
Ich würde nie sagen: Lassen wir das alles! Nur, wir befinden uns im Augenblick im Krieg. Wenn man einen
Krieg beenden will - das ist immer so gewesen und
sollte auch jetzt so sein -, sollte man als erstes sagen:
Wir lassen die Waffen auf beiden Seiten schweigen. Wir
treffen eine Übereinkunft; ab dieser Stunde gibt es keinen Waffengang mehr.
({0})
- Schicken Sie ein Telegramm nach Belgrad mit dem
Inhalt: Wir lassen die Waffen schweigen; ab heute wird
nicht mehr bombardiert,
({1})
im Kosovo darf nicht mehr geschossen werden. Dann
kann man sich an den Verhandlungstisch setzen.
Sie haben völlig recht - ich will gar nicht polemisieren -: Die Albaner haben noch ein bißchen gewartet, bis
sie den Vertrag unterschrieben haben. Aber entscheidend war, daß die Verhandlungen abgebrochen wurden
und die NATO, die Vertreter der USA und der Bundesrepublik Deutschland gesagt haben: Jetzt gibt es Luftangriffe. Sie haben ja nicht gesagt: Wir müssen mal sehen,
warten wir mal noch bis übermorgen!, sondern: Die
Verhandlungen haben nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt - ihr habt nicht unterschrieben -, jetzt
gibt es Luftangriffe. In dem Augenblick war der Krieg
erklärt. Das ist eine Kriegserklärung, wenn man sagt: Es
ist nur noch eine Frage der Zeit, wann unsere Flugzeuge
aufsteigen können.
Deshalb stimmt Ihre Argumentation einfach nicht.
Sie hätten recht, wenn man hätte weiter verhandeln
wollen, wenn man sich in dem einen oder anderen
Punkt, zum Beispiel bei der Frage der Stationierung der
Sicherungskräfte, flexibel gezeigt hätte und bereit gewesen wäre, noch das eine oder andere zu erörtern, und die
Serben sich dennoch so verhalten hätten, wie es der Fall
war. Aber so war es nicht. Die Verhandlungen wurden
abgebrochen, und man hat gesagt: Jetzt wird bombardiert; es ist nur noch eine Frage der Zeit.
({2})
Daraufhin haben die Serben das gemacht, was ihnen
heute auch der Minister vorwirft: Sie sind mit erheblichen
zusätzlichen Kräften militärisch im Kosovo eingerückt.
({3})
Sie standen an der Grenze von Mazedonien der NATOMacht in fünf Kilometer Entfernung gegenüber und sagen
heute: Wir müssen uns gegen diese NATO-Macht schützen, die übermorgen möglicherweise einmarschiert. Sie
können doch nicht das eine vom anderen trennen.
({4})
- Nein.
Deshalb nochmals mein Appell: Stellen Sie die Luftangriffe ein, setzen Sie sich in der NATO dafür ein, daß
das auch die anderen tun, und beginnen Sie morgen
wieder mit Verhandlungen! Jeder Tag Verhandlungen
- selbst wenn er noch so mühselig ist - ist besser als das,
was im Augenblick im Kosovo passiert.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
auf der Drucksache 14/675 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für die Angelegenheiten der
Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Finanzausschuß, den Haushaltsausschuß, den Ausschuß für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf der Drucksache 14/669. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion
bei einer Enthaltung aus der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich
berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages
auf Montag, den 19. April 1999, 12 Uhr ein. Diese Sitzung wird in Berlin durchgeführt.
Die Sitzung ist geschlossen.