Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/25/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir tagen heute in einer ernsten Situation. Seit gestern Abend finden Luftschläge der NATO gegen jugoslawische militärische Ziele statt. Diese Aktion ist ein ernster Einschnitt auch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Aber wir Europäer können und dürfen nicht weiter zusehen, wie im Kosovo eine Mehrheit der Bürger vertrieben, wie dort gemordet wird. Diese Aktion richtet sich nicht gegen das serbische Volk. Wir hoffen und wünschen, daß der jugoslawische Staatspräsident Milosevic zu der Vernunft kommt, zu der ihm die langen diplomatischen Verhandlungen und das Abkommen von Rambouillet Gelegenheit gegeben hatten. Der Deutsche Bundestag steht zu den Soldaten, die im Einsatz sind - in einem Einsatz, der durch unser Grundgesetz und durch Beschlüsse unseres Parlaments gedeckt ist. Wir hoffen sehr, daß die militärische Aktion von kürzestmöglicher Dauer ist und daß es endlich gelingt, die humanitäre Katastrophe im Kosovo zu beenden. Meine Damen und Herren, wir kommen zu den Bemerkungen vor Eintritt in die Tagesordnung. ({0}) Zunächst möchte ich dem Kollegen Benno Zierer, der gestern seinen 65. Geburtstag feierte, nachträglich im Namen des Hauses gratulieren. ({1}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste vorliegenden Punkte zu erweitern: ZP1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Haltung der Bundesregierung auf die jüngste Kritik aus der BfA zur Praktikabilität der Neuregelungen der Scheinselbständigkeit ZP2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen 23 bis 29 in Drucksache 14/576 ({2}) ZP3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({3}) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Notenwechsel vom 29. April 1998 über die Rechtsstellung der dänischen, griechischen, italienischen, luxemburgischen, norwegischen, portugiesischen, spanischen und türkischen Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 14/584 ZP4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({4}) a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 34 zu Petitionen - Drucksache 14/647 - b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 35 zu Petitionen - Drucksache 14/648 - c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 36 zu Petitionen - Drucksache 14/649 - d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 37 zu Petitionen - Drucksache 14/650 - ZP5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Adam, Paul Breuer, Georg Janovsky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Öffentliche feierliche Gelöbnisse der Bundeswehr - Drucksache 14/641 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi Lippmann, Dr. Winfried Wolf, Fred Gebhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Keine feierlichen Gelöbnisse der Bundeswehr in der Öffentlichkeit - Drucksache 14/642 ZP6 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die allgemeine und die repräsentative Wahlstatistik bei der Wahl zum Deutschen Bundestag und bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland - Drucksachen 14/401, 14/635 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 11 - es handelt sich um die Beschlußempfehlung zu den Akten der HVA - bereits nach der Aktuellen Stunde aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Des weiteren möchte ich Sie schon jetzt darauf hinweisen, daß sich der Ablauf der Plenarsitzung morgen, Freitag, ändern und erheblich verlängern kann, falls die Beratungen des EU-Gipfels heute weit über Mitternacht hinaus andauern werden. Die Einzelheiten hierzu werden Ihnen zu gegebener Zeit mitgeteilt. ({9}) Die Fraktion der PDS hat einen Antrag auf Änderung der Tagesordnung gemäß § 20 der Geschäftsordnung des Bundestages gestellt. Sie beantragt eine Debatte über die erste Beteiligung der Bundeswehr an einem bewaffneten Angriff in ihrer Geschichte. Ich erteile hierzu dem Kollegen Gregor Gysi das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie, dem Antrag der PDSFraktion zu einer sofortigen Debatte zur ersten Beteiligung der Bundeswehr in ihrer Geschichte an einem Krieg zuzustimmen. Ursprünglich war für diese Woche eine solche Debatte überhaupt nicht vorgesehen. Bei der Beratung des Bundeskanzlers mit den Fraktionsvorsitzenden am vergangenen Dienstag wurde auf Frage und Anregung des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion und auf meine Frage hin die Notwendigkeit einer solchen Debatte akzeptiert. Wegen der Termine des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers beim EU-Gipfel in Berlin wurde vorgeschlagen, diese Debatte am Freitag, das heißt morgen, zu führen. Damit waren alle Anwesenden auch einverstanden, mich eingeschlossen. Das Problem ist aber, daß zu diesem Zeitpunkt niemand wußte, wann der Krieg beginnt, der gestern abend bereits begonnen hat. Ich meine, daß auf dieser Grundlage die Zeitschiene einfach nicht mehr stimmt und daß es deshalb dringend erforderlich ist, auch heute wenigstens kurz darüber zu debattieren. Wir können morgen noch eine ausführliche Debatte abhalten. Natürlich verstehe ich, daß sowohl der Bundeskanzler als auch der Bundesaußenminister an einer solchen Debatte teilnehmen wollen. Ich weiß nicht, ob es nicht möglich gewesen wäre, dies noch zu organisieren; das will ich auch gar nicht beurteilen. ({0}) - Moment, lassen Sie mich fortfahren. - Aber hier geht es nicht um den Bundeskanzler und auch nicht um den Bundesaußenminister, sondern es geht um das Selbstverständnis des Deutschen Bundestages. ({1}) Es ist undenkbar, meine Damen und Herren, daß die NATO gestern das erste Mal in der Geschichte nach 1945 einen Angriff auf einen souveränen Staat gestartet hat - über die Gründe müssen wir selbstverständlich auch diskutieren -, daß Deutschland erstmalig in seiner Geschichte daran beteiligt ist, was eine Vielzahl völkerrechtlicher, verfassungsrechtlicher, politischer und moralischer Probleme aufwirft, und daß der Deutsche Bundestag am nächsten Tag mit einer BAföG-Debatte beginnt und nicht bereit ist, hier wenigstens kurz über diese Situation zu debattieren. ({2}) Das muß einfach sein, auch wenn der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister nicht anwesend sind. Die können morgen dazu sprechen. Wir können morgen weiter darüber debattieren. Aber wortlos - außer drei Sätzen des Bundestagspräsidenten - darüber hinwegzugehen - das heißt, der Bundestag selbst äußert sich dazu nicht -, das ist meines Erachtens der Situation in keiner Hinsicht angemessen, und zwar weder gegenüber der Bevölkerung der Bundesrepublik Jugoslawien noch gegenüber der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, noch gegenüber den Soldaten, die in diesen Krieg verwickelt sind. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Namen aller übrigen Fraktionen des Hauses ({0}) widerspreche ich dem Aufsetzungsantrag der PDS. Wir könnten es uns leichtmachen, meine Damen und Herren, und auf die formalen Hintergründe verweisen; das will ich ausdrücklich nicht. ({1}) Ich will an dieser Stelle allerdings sehr nachdrücklich auf die Verabredungen des Bundeskanzlers mit den Fraktionsvorsitzenden aufmerksam machen, in die auch Sie, Herr Gysi, persönlich eingebunden gewesen sind. ({2}) Ich will auch sagen, daß es überhaupt kein Argument für eine Debatte ist, so zu tun, als würde uns der Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen in Jugoslawien zeitlich überraschen. ({3}) Präsident Wolfgang Thierse Es war schon am Anfang dieser Woche klar, daß es jederzeit losgehen könnte und wir in der Situation stehen würden, daß die Auseinandersetzungen dort beginnen. Von daher sehe ich sehr deutlich, daß Sie sich aus der Verabredung, die der Kanzler mit den Fraktionsvorsitzenden getroffen hat, herausziehen wollen. Dies lassen wir nicht zu. Wir sagen Ihnen gleichzeitig: Gerade dieses Thema und der Anlaß dafür sind nicht geeignet, sich in parteipolitische Auseinandersetzungen zu begeben, die vordergründig sind. ({4}) Ich will darauf hinweisen, meine Damen und Herren, daß wir uns mitten in einem operativen Einsatz, in einer laufenden Operation befinden, ({5}) deren Ausgang noch nicht klar ist. Ich will auch darauf hinweisen, daß in Berlin derzeit der EU-Gipfel stattfindet - das erklärt, Herr Gysi, die Ihnen bekannte Abwesenheit von Kanzler, Außenminister und anderen Vertretern der Bundesregierung -, auf dem der KosovoEinsatz ein ganz wichtiger Teil der Beratungen sein wird und auch schon gewesen ist. Wir wollen und müssen die Ergebnisse dieses Gipfels von Berlin in dieser Hinsicht abwarten und sie, wie wir es verabredet haben, zur Grundlage weiterer Beratungen in diesem Hause machen. Von daher ist es richtig, daß wir heute morgen durch den Präsidenten einen kurzen Hinweis auf die Situation erhalten haben. Wir gehen nicht einfach zur Tagesordnung über. Das ist Ihnen bekannt, weil wir das gestern abend und heute morgen so besprochen haben. Wir wollen aber jetzt keine ausführliche Debatte, weil sie nichts bringt, weil wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht alle Informationen haben. Allerdings wollen und sollen der Bundeskanzler, der Außenminister, der Verteidigungsminister und wir alle gemeinsam morgen hier über dieses Thema debattieren. Ich kann Ihnen im übrigen im Namen aller Fraktionen sagen - das ist nichts Neues; aber ich will das bekräftigen -, daß wir uns an der Seite der deutschen Soldaten fühlen. Wir hoffen, daß derjenige, der dafür verantwortlich ist, daß es zu diesem Einsatz gekommen ist, nämlich der jugoslawische Staatspräsident, in diesen Minuten, in den nächsten Stunden oder auch in den nächsten Tagen einlenkt, damit die Gefahr für die Menschen im Kosovo, für die Menschen in Jugoslawien und für unsere Soldaten und ihre Partner aus den NATO-Staaten ein Ende hat. Er allein, Milosevic, trägt die Verantwortung für den jetzigen Einsatz. ({6}) Ich glaube, es ist angemessen, an dieser Stelle und zu dieser Stunde nicht mehr zu sagen. Ich sage Ihnen jedenfalls zu, daß wir morgen eine ausführliche Debatte zu diesem Thema führen werden, mit allen Informationen, die dann zur Verfügung stehen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liegen noch weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnungsdebatte vor? Kollege Ströbele, ich weise Sie darauf hin, daß wir uns in einer Geschäftsordnungsdebatte befinden und nicht in einer Sachdebatte. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch der Kollege, der vor mir gesprochen hat, hat sich durchaus zur Sache geäußert. Es ist unwürdig für dieses Haus, daß Deutschland nach 54 Jahren seit gestern abend wieder Krieg führt und daß sich dieser Bundestag weigert, darüber zu reden und auch nur seine Meinung zu äußern. Das ist ungeheuerlich. ({0}) Ich verstehe meine Fraktion nicht, die für mehr Frieden in der Welt angetreten ist, die eine Friedenspolitik machen will. Sie setzt sich hierhin und ist damit einverstanden, daß, wenn von deutschem Boden nach 54 Jahren wieder Krieg ausgeht, darüber hier nicht einmal geredet wird. ({1}) Von deutschem Boden sind die Tornados gestartet, die jetzt gerade Belgrad bombardieren. Ich halte das für völlig unwürdig für dieses Haus. Fragen Sie sich einmal, was es für einen Eindruck macht, wenn wir uns jetzt mit der Veränderung des Sachenrechts oder des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes beschäftigen, während deutsche Soldaten im Kosovo, in Belgrad, in Montenegro Bomben abwerfen. Ich appelliere an Sie: Ändern Sie die Tagesordnung! Lassen Sie uns darüber sprechen! Ich bin bereit, darüber sachlich zu reden. Ich bin auch bereit, die Argumente sachlich abzuwägen, die die eine oder andere Seite hier vorbringt. Aber das ist doch völlig unmöglich: Unser Land beschäftigt sich heute mit diesem Krieg, und der Deutsche Bundestag schweigt dazu und beschäftigt sich mit der Änderung des Sachenrechts. Das kann und darf nicht wahr sein. Ich schäme mich für mein Land, das jetzt wieder im Kosovo Krieg führt und das wieder Bomben auf Belgrad wirft. ({2}) Wilhelm Schmidt ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verstehe, daß man im Rahmen einer Geschäftsordnungsdebatte versucht einzuhalten, was zwischen dem Bundeskanzler und allen Fraktionsvorsitzenden vereinbart worden ist. Allerdings gibt es auch Geschäftsordnungsdebatten, die es dann erforderlich machen, auf einige Dinge hinzuweisen, von denen ich denke, daß sie klarbleiben sollten. Die militärischen Aktionen der NATO ({0}) sind Ergebnis und Endpunkt langer Bemühungen vieler Monate, auf friedlichem Wege zu einem Abkommen zu kommen, das den Menschen im Kosovo ein friedliches Leben ermöglichen sollte. ({1}) Ich muß Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, daß das Ergebnis des brutalen Vorgehens der jugoslawischen Armee gegen die Bevölkerung im Kosovo darin besteht, daß über 400 000 Menschen auf der Flucht sind, daß allein im Kosovo 250 000 Menschen auf der Flucht sind, daß viele Dörfer brennen und daß immer mehr Menschen die Grenze überschreiten. Diese Brutalität muß beendet werden. ({2}) Es ist eine Verpflichtung auf Grund der Erfahrungen aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, ({3}) und es ist eine Verpflichtung auf Grund unserer eigenen Ideale, nicht zuzulassen, daß in Europa die Fratze der Kriege der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts und der Vergangenheit die Zukunft bestimmt. ({4}) Es ist also unser Ziel, eine humanitäre Katastrophe zu beenden, die Einhaltung schon vereinbarter Abkommen zu gewährleisten und die Resolution des Weltsicherheitsrates Nr. 11/99 mit ihren Forderungen durchzusetzen - auf der Grundlage der Beschlüsse des Deutschen Bundestages vom 16. Oktober 1998. Es ist auch unser Ziel, ein Abkommen zu ermöglichen, das den Menschen im Kosovo die Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten erlaubt. Es bleibt unser Ziel, die Tragödie zu beenden, die sich dort abspielt - nicht gegen das serbische Volk, wohl aber gegen eine Diktatur, die schändlich und verächtlich mit der Würde, der Freiheit und dem Leben von Menschen umgeht. ({5}) In diesem Handeln stecken weitere Verpflichtungen: Wir sind verpflichtet, den Flüchtlingen zu helfen, die die Grenze des Kosovo und der Bundesrepublik Jugoslawien überschreiten. Wir sind verpflichtet, für die Stabilität der umliegenden Staaten zu sorgen und ihnen zu helfen. Wir sind verpflichtet, dem ganzen Balkan eine europäische Perspektive zu geben - einer Region in Europa, die in ihrer ganzen Geschichte sehr viele Erfahrungen mit Terror, Unterdrückung und Gewalt sammeln mußte, aber keine Erfahrung mit dem zivilen Austragen von Konflikten, mit Rechtsstaatlichkeit und mit Demokratie sammeln konnte. Wir haben uns die Entscheidungen, die wir gemeinsam innerhalb der NATO und der Europäischen Union getroffen haben, nicht leichtgemacht. Ich möchte an dieser Stelle sagen, daß besonderer Respekt jenen Menschen zu schulden ist, die sich als Soldaten - nicht allein im Auftrag Deutschlands, sondern der NATO insgesamt - einer erheblichen Gefahr aussetzen, um anderen Menschen helfen zu können. ({6}) Deshalb hoffe ich, daß nicht nur die Mehrheit des Deutschen Bundestages, sondern daß auch die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und wir alle gemeinsam verstehen, daß unsere Soldaten in dieser schwierigen Situation den Rückhalt und die Fürsorge derjenigen brauchen, die die Entscheidung für ihren Einsatz verantworten müssen. Vor diesem Hintergrund appelliere ich nicht nur an unsere Vernunft und unsere Klugheit; ich appelliere vor allen Dingen an die Regierung in Belgrad. Niemand gibt dieser Regierung das Recht, das Morden im Kosovo fortzusetzen. ({7}) Niemand gibt dieser Regierung das Recht, die Lebensinteressen einer ganzen Bevölkerung zu mißachten, nur weil sie anderen Ursprungs ist. ({8}) Niemand gibt dieser Regierung das Recht, nicht nur die Selbstbestimmung einer ganzen Bevölkerung mit Waffen zu behindern, sondern sogar systematisch zu morden. Ich appelliere an die Regierung in Belgrad, im Kosovo die Waffen sofort schweigen zu lassen, damit auch wir die Möglichkeit haben, die Waffen schweigen zu lassen, damit auch wir die Möglichkeit haben, die Waffen schweigen zu lassen und auf andere, nämlich friedliche Weise den Menschen im Kosovo zu helfen. Der Schlüssel zur Beendigung aller militärischen Maßnahmen liegt in Belgrad, nirgendwo sonst. Es ist die Verpflichtung der dortigen Regierung, den Menschen im Kosovo weiteres Leid zu ersparen. ({9}) Wenn die Bundesrepublik Jugoslawien und ihre Regierung klar erklärt, daß sie zu einem Waffenstillstand im Kosovo und zur Unterzeichnung eines Abkommens, das einen friedlichen Weg eröffnet, bereit ist, dann haben auch wir die Möglichkeit, die militärischen Maßnahmen zu beenden und auf den Weg zurückzukehren, den wir über Monate hinweg versucht haben zu gehen. Unser friedliches Bemühen - auch das muß man sehr deutlich sagen - ist mißbraucht worden, weil während laufender Verhandlungen immer mehr Menschen systematisch um ihr Recht auf Leben, auf Unversehrtheit und Gesundheit gebracht wurden. Es ist unsere Verpflichtung, diesen Weg zu beenden und dafür zu sorgen, daß die Menschen im Kosovo eine Perspektive für ein friedliches Leben erhalten. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Werte Kolleginnen und Kollegen, da die Debatte einen anderen Verlauf als geplant genommen hat, schlage ich vor, daß jede Fraktion Gelegenheit zu einer kurzen Erklärung erhält, damit wir dieses Thema in angemessener Weise behandeln. Danach kehren wir zur ursprünglich geplanten Tagesordnung zurück. ({0}) Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem, was der Bundesverteidigungsminister soeben für die Bundesregierung ausgeführt hat, zu. ({0}) Wir haben im Oktober letzten Jahres dem Antrag der Bundesregierung zugestimmt. Es gibt in Deutschland richtigerweise eine ungewöhnliche Verfassungslage, die eine vorherige Zustimmung des Parlaments zu Entscheidungen, wie sie bezüglich des Kosovo-Einsatzes getroffen wurden, erfordert. Den meisten von uns war schon bei der Debatte im Bundestag im Oktober letzten Jahres klar - ich hoffe, daß es uns allen klar war -, daß wir damals eine Entscheidung von ungewöhnlich großer Verantwortung und Tragweite getroffen haben. Wir haben im Januar und im Februar dieses Jahres erneut über den Einsatz im Kosovo diskutiert und haben keinen Zweifel daran gelassen, daß wir zu der Entscheidung stehen, die wir im Oktober letzten Jahres getroffen haben, und daß sie richtig und notwendig war. Ich füge hinzu: Wir sind durch die Bundesregierung in den zurückliegenden Wochen zu jedem Zeitpunkt korrekt unterrichtet worden. Deswegen gibt es in dieser Frage zwischen der großen Oppositionsfraktion und der Bundesregierung keinen Dissens. Sie können sich auf die Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion verlassen. ({1}) Auf die Unterstützung des - ich hoffe - ganzen Parlaments können sich vor allen Dingen die Soldaten der Bundeswehr und die Soldaten der Streitkräfte unserer Verbündeten im atlantischen Bündnis verlassen. Das sind wir ihnen in einer solchen Situation schuldig. ({2}) Wir gehen davon aus, daß eine menschenmögliche Vorsorge getroffen worden ist, um die Risiken für alle so klein wie möglich zu halten. Wir gehen auch davon aus, daß alles Menschenmögliche im Rahmen der atlantischen Allianz getan wird, um die Risiken für die unschuldigen Menschen in Jugoslawien so gering wie möglich zu halten. Der Bundesverteidigungsminister hat soeben zu Recht gesagt: Vielleicht hat man eher zu lang als zu kurz versucht, das zu verhindern, was jetzt durch die Uneinsichtigkeit der Regierung in Belgrad unvermeidlich notwendig geworden ist - so bitter das auch ist. Ich habe gestern darauf hingewiesen: Niemand hat dem, was unvermeidlich geworden ist, mit Freude zugestimmt. Das ist nach meiner Erinnerung eine der bittersten Stunden in meiner auch nicht mehr ganz jungen Laufbahn als Mitglied dieses Hauses. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn wir unsere Verantwortung für Frieden, für Freiheit und für Menschenrechte ernst nehmen, haben wir keine Alternative. Deswegen muß unser geschlossener Appell an den Aggressor lauten: Das Morden in Europa muß aufhören! ({3}) Die Gemeinschaft der Demokraten dieser Erde und der Europäer muß die Kraft haben, das Ende des Mordens durchzusetzen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich das Wort der Kollegin Angelika Beer.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, für alle Mitglieder meiner Fraktion sagen zu Bundesminister Rodolf Scharping können, daß die Entscheidungen der letzten Stunden für uns schwierig waren, daß aber die Mehrheit meiner Fraktion nach vielen Diskussionen dem Bundeskanzler, seiner gestrigen Erklärung und der Erklärung des Bundesverteidigungsministers heute die volle Unterstützung gewährt. Damit positionieren wir uns in voller Verantwortung in dieser Regierungskoalition. ({0}) Ich will eine gewisse Hilflosigkeit gerade bei den Grünen, die aus der Friedens- und Menschenrechtsbewegung kommen, nicht verhehlen. Ich glaube aber, daß wir uns in Wahrnehmung der Verantwortung - damals in der Diskussion über das Vorgehen in Bosnien und in den letzten Wochen und Monaten über das Vorgehen im Kosovo - bewußt vor die Alternative haben stellen lassen und darüber entschieden haben. Die Alternative war, ob eine grüne Partei sagen kann: „Zehn Jahre lang wurde alles versäumt, und daraus leiten wir das Recht ab, der sich zuspitzenden humanitären Katastrophe im Kosovo einfach zuzusehen“, oder aber, ob man versucht wie es insbesondere unser Außenminister getan hat -, die diplomatischen Möglichkeiten bis zur letzten Sekunde auszunutzen, um Milosevic klarzumachen, daß er derjenige ist, der als einziger den Knoten der Gewalt lösen kann, indem er ein Friedensabkommen unterschreibt und die Angriffe auf die Zivilbevölkerung unterläßt; oder daß, wenn er dies nicht tut - so wie gestern -, die Konsequenz lautet, dem Vorgehen der NATO zuzustimmen, mit dem Ziel, eine sich anbahnende humanitäre Tragödie im Kosovo zu verhindern. Vor dieser Alternative haben wir uns klar positioniert. Ich hoffe, daß diejenigen, die uns oder mich persönlich, wie in den letzten Tagen geschehen, als Kriegstreiber bezeichnen, endlich die Antwort auf die Frage geben, was denn die Alternative zu dieser schwierigen Entscheidung gewesen wäre. ({1}) Ich möchte für meine Fraktion unterstreichen, daß wir natürlich die Hoffnung haben, daß Milosevic spätestens jetzt einlenkt. Es gibt keine Alternative zu der Unterschrift unter den Friedensvertrag. ({2}) Es gibt keine neuen Verhandlungen, sondern nur die Abkehr von Krieg und Mord im Kosovo. Wir hoffen in der gleichen Verantwortung, daß die deutschen Soldaten mit ihren Tornados, die im Rahmen des NATOEinsatzes eingesetzt werden, und jene Soldaten, die im Moment in einer sehr schwierigen Situation in Tetovo stationiert sind, um die Umsetzung eines Friedensvertrags und ein politisches Konzept auf dem Balkan zu gewährleisten, die Solidarität für ihre schwere Aufgabe finden; denn auch dann wird es schwieriger sein, als es vor wenigen Jahren in Bosnien war. Ich wünsche insofern den Soldaten, die heute diese schwere Aufgabe zu tragen haben, daß sie gesund zurückkommen. Ich hoffe, daß sich unsere Partei in dem Dialog, dem wir uns auch nachträglich noch stellen werden, in Fragen des Völkerrechts wie auch der Glaubwürdigkeit des zukünftigen Handelns, wenn es darum geht, frühzeitig nichtmilitärisch zu intervenieren, wenn Menschenrechte verletzt werden, der Verantwortung stellt. Ich hoffe, daß wir auch danach noch sagen können, daß es das Richtige war, dem wir gestern und heute zugestimmt haben. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort für die F.D.P.-Fraktion hat Kollege Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte zuerst für meine gesamte Fraktion betonen, daß wir den Entscheidungen des Verteidigungsministers, die wir alle mit getroffen haben, sowie seinen heutigen Ausführungen zustimmen. ({0}) - Ich spreche für meine Fraktion. Die Debatte zeigt auch heute morgen wieder die Skrupel, die freiheitliche Demokratien immer haben, wenn es auf ein letztes Mittel zugeht. Diese Debatte führen wir schon seit einigen Jahren, nicht erst seit heute. Wir haben mehrere Bundestagsdebatten geführt, die deutlich widergespiegelt haben, welche Schwierigkeiten freiheitlich verfaßte Gesellschaften haben, zur Ultima ratio zu greifen. Aber es gibt auch für freiheitlich verfaßte Gesellschaften eine Grenze: Niemals dürfen sie Despoten erlauben, sie lächerlich zu machen, weil sie diese Skrupel haben. ({1}) Diese Grenze ist zweifellos erreicht: nicht nur nach den Verhandlungen in Rambouillet und den vielen Gesprächen im Kosovo, sondern auch nach den vielen einzelnen Zusagen der serbischen Führung, von denen sie sich im nachhinein wieder distanziert hat. Freiheitliche Gesellschaften müssen wissen, daß das Völkerrecht nicht selbst trägt, sondern daß sie es tragen müssen. Sie müssen es auch tragen wollen. Im Kosovo geht es nicht um ein Kriegsziel der NATO, sondern um die Frage an freiheitlich verfaßte Gesellschaften, ob sie wegschauen wollen, wenn Menschen vertrieben werden, wenn das Leben von Menschen in Gefahr gebracht wird und wenn Vernichtung über sie gebracht wird. ({2}) Dann tritt die Kernfrage nach dem politischen Ziel auf, die wir beantworten müssen. Ich weigere mich einfach, nur in einen Dialog über Luftoperationen einzuAngelika Beer treten, wenn nicht auch gesagt wird, welches politische Ziel wir haben. Unser Ziel ist doch kein aggressives, kein feindseliges. Wir wollen dort internationale Garantien, wir wollen Minderheitenrechte, wir wollen schlicht, daß das, was die europäische Kulturgeschichte für die Menschen gebracht hat, alle Menschen genießen können. Alle Menschen im Kosovo haben einen Anspruch darauf, menschlich behandelt zu werden. Darum geht es im Kern. ({3}) Wir setzen nicht Soldaten ein, um einen Staat zu beschädigen und Menschen in Not zu bringen, sondern wir setzen sie für zutiefst humanitäre Zwecke ein. Nichts anderes legitimiert überhaupt diesen Einsatz als unsere Absicht, Menschen zu helfen und zu schützen. Die serbische Führung zeigt nahezu jeden Tag, daß sie ein menschenverachtendes Regime repräsentiert. Nach allen Erfahrungen in der Geschichte dieses Jahrhunderts kann es für freiheitliche Demokratien am Ende keine Alternative dazu geben, einem Aggressor auch mit Soldaten entgegenzutreten. Die deutschen Soldaten und ihre Familien haben einen Anspruch auf unsere Solidarität, unsere Unterstützung und unseren Respekt. Sie stehen im Dienst einer guten Sache. Sie sind zu dem Einsatz legitimiert. Sie kämpfen für Menschenrechte, die vor unserer Tür mit Füßen getreten werden. Sie sollen wissen, daß die Fraktion der F.D.P. - das sage ich auch für die Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU sowie die Mehrheit der Grünen und der SPD - zu ihnen steht. Wir wünschen ihnen Erfolg und hoffen, daß sie alle gesund zurückkommen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Gregor Gysi für die PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst meinen ganz ehrlichen Respekt dafür zum Ausdruck bringen, daß sich der Bundestag in eigener Souveränität doch noch ganz kurzfristig zu dieser Debatte entschieden hat. ({0}) Ich finde, es ist dieses Hauses würdig, das nicht im Rahmen einer GO-Debatte verhindert zu haben. Deshalb nehmen wir unseren Antrag selbstverständlich zurück. Ich kann die hier genannten Argumente zu einem Großteil nicht teilen. Vor allen Dingen sind viele Fragen gar nicht angesprochen worden, zum Beispiel die nach der rechtlichen Grundlage für den Krieg, der gestern begonnen hat. ({1}) - Ich komme darauf zurück. - Sie alle wissen, daß die UN-Charta nur zwei Fälle des berechtigten militärischen Eingreifens kennt: den Fall der individuellen Selbstverteidigung oder kollektiven Selbstverteidigung im Rahmen eines Bündnisses und den Fall, daß der UNSicherheitsrat - kein anderer; nur er besitzt das Gewaltmonopol, was aus guten Gründen nach 1945 so festgelegt worden ist - anordnet, zur Herstellung des Friedens militärische Maßnahmen einzusetzen. ({2}) Beide Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Bundesrepublik Jugoslawien - wie auch immer die inneren Zustände zu beurteilen sind - hat kein anderes Land angegriffen; deshalb liegt der Fall einer individuellen Selbstverteidigung oder kollektiven Selbstverteidigung nach Art. 51 der UNCharta nicht vor. Sie wissen genauso gut wie ich, daß der UN-Sicherheitsrat keine militärischen Maßnahmen nach Kap. VII der UN-Charta - der anderen Möglichkeit, die militärisches Eingreifen erlaubt - beschlossen hat und daß er sich sogar ausdrücklich vorbehalten hat, über die weitere Situation zu beraten und zu entscheiden. Die NATO hat ihm diese Entscheidung aus der Hand genommen; sie hat sich damit von der UNO abgekoppelt. ({3}) Ich sage Ihnen: Das zerstört eine Weltordnung; aber es schafft keine neue. Auch ich kann mir eine bessere Weltordnung als die gegenwärtige vorstellen. ({4}) Die jetzige aber zu beseitigen, ohne eine neue zu haben, wird Europa und die Welt sehr grundsätzlich verändern. Was glauben Sie denn, wie wenig Rücksicht andere Staaten in Zukunft auf die UN-Charta nehmen werden, wenn die NATO und auch die Bundesrepublik Deutschland erst einmal bewiesen haben, daß sie bereit sind, die UN-Charta zu ignorieren und dennoch militärisch aktiv zu werden, und zwar in Form eines Krieges! ({5}) Juristisch gilt - auch wenn es Sie sehr ärgert -: Wenn man einen Krieg führt, ohne selbst angegriffen worden zu sein, dann ist das ein Angriffskrieg und kein Verteidigungskrieg. Genau diesen verbietet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Auch dagegen haben Sie verstoßen. ({6}) Sie sprechen von der Sicherheit unserer Soldaten. Ich finde, die größte Unsicherheit besteht darin, sie in einen Krieg zu schicken, der weder völkerrechtlich noch durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland legitimiert ist. ({7}) - Dazu kann ich gerne etwas sagen. Ich spreche jetzt über die selektive Wahrnehmung humanitärer Katastrophen. Die Situation ist doch in Wirklichkeit nicht neu. Es gab schon ganz häufig bewaffnete Bewegungen von Bevölkerungsgruppen, die aus einem Staatenverband ausscheiden wollten. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich in solchen Fällen, wie andere Staaten auch, sehr unterschiedlich verhalten. Ich erinnere Sie an ein noch viel verbrecherischeres Regime, an das Pol-Pot-Regime. Damals griff Vietnam ein. Das wurde international mit dem Hinweis darauf verurteilt, daß sich das kambodschanische Volk selbst befreien müsse, solange Kambodscha keinen anderen Staat angegriffen habe. Ein Angriff durch Vietnam auf Kambodscha sei nicht gerechtfertigt. So lautete damals die Argumentation. Als der US-Präsident vor kurzem im Senat seines eigenen Landes gefragt worden ist, warum die NATO nicht in Kaschmir oder in Burundi militärisch eingreife, sondern gerade im Kosovo in Jugoslawien, hat er geantwortet: Dort haben wir andere Interessen. - Das ist eine Begründung, die mit Moral nichts zu tun hat. ({8}) Wenn Menschenrechte gelten sollen, dann müssen sie universal gelten. Südafrika hat über Jahrzehnte die große Mehrheit der Bevölkerung nicht nur unterdrückt, nicht nur der einfachsten Menschenrechte beraubt, sondern hat Menschen auch massakriert. Nicht einmal zu einem Wirtschaftsboykott konnte sich die Bundesrepublik Deutschland entschließen. Die Deutsche Bank und andere haben dort weiter große Geschäfte gemacht. ({9}) Was passiert denn seit Jahrzehnten und Jahren in der Türkei? Sie wissen, daß die Rechte der Kurdinnen und Kurden erheblich beeinträchtigt werden. Sie wissen, daß sie nicht einmal das Recht auf eigene Sprache und eigene Kultur haben. Sie wissen, daß auch dort Militär und Polizei massakrieren, daß es auch militärische Gegenbewegungen gibt. Auch ich kritisiere die PKK; das ist nicht die Frage. Aber entstanden ist sie aus der Unterdrückung des kurdischen Volkes. Auch das ist eine Tatsache. Die Türkei ist Partner im Bündnis, Partner der NATO, die jetzt sagt, aus humanitären Gründen müsse sie gegen Jugoslawien einen Angriffskrieg starten. ({10}) Wie selektiv wollen wir denn diese Probleme in der Welt wahrnehmen? Damit ich hier nicht mißverstanden werde: Wenn Sie eines Tages auf die Idee kommen sollten, deshalb in die Türkei einzumarschieren, wäre ich auch dagegen - um das ganz klar zu sagen. Aber ich will Sie darauf aufmerksam machen, wie selektiv die Wahrnehmung ist. Sie sagen immer, der Krieg richtet sich gegen Milosevic und nicht gegen das serbische Volk. Das sagt sich so leicht. Aber die Tatsachen sind doch andere. Was glauben Sie denn, wer kein Wasser hat, weil die Bomber gestern das Wasserwerk in Belgrad zerstört haben, die serbische Bevölkerung oder Milosevic? Ich kann Ihnen garantieren: Milosevic wird noch lange Wasser haben. ({11}) Wer werden die Toten sein? Das werden Frauen und Kinder sowie Soldaten sein, darunter sehr viele Wehrpflichtige in Jugoslawien, die gar keine Chance haben, nicht zur Armee zu gehen, und es wird nicht Milosevic sein. Nein, ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht: Ein solcher Krieg richtet sich immer gegen die Bevölkerung und nicht gegen einen einzelnen Diktator. Einen Krieg gegen einen einzelnen Diktator hat es noch nicht gegeben, auch im Irak nicht, und es wird ihn auch nicht in Jugoslawien geben. - Das macht mir alles größte Sorgen, muß ich Ihnen sagen. Lassen Sie mich, weil die Redezeit um ist, nur noch eines sagen. Ich verstehe auch folgendes nicht: Hier wird immer gesagt: Milosevic ist völlig irrational, er kalkuliert den Krieg mit ein. Er trägt die alleinige Verantwortung. - Was aber ist das politische Ziel? Da wird mir gesagt: Nach zwei, drei Bombenangriffen wird der Mann rational. Dann denkt er plötzlich an sein Volk und unterschreibt, und damit ist der Krieg beendet. Eine von beiden Thesen kann doch nur stimmen. Wenn er ein so irrationaler Diktator ist, wenn er sein eigenes Volk opfert, wie es mir die Regierung und die Vertreter der Fraktionen sagen, wie kommen Sie denn dann darauf, daß der nach zwei, drei Tagen unterschreiben würde? Und was ist, wenn er es nicht macht? Was ist denn dann die politische Lösung? ({12}) Das haben Sie noch nie gesagt. Sie haben nur gesagt, daß Sie auf eine Unterschrift von Milosevic hoffen. Ich erwarte sie nicht; das muß ich Ihnen ganz ernsthaft sagen. Lassen Sie mich einen letzten Satz sagen: Mit Bomben verhindert man keine humanitären Katastrophen, man verschärft sie nur. ({13}) Deutschland hat in diesem Jahrhundert überhaupt kein Recht mehr, Bomben auf Belgrad zu werfen. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Peter Zumkley das Wort.

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Worte des Herrn Gysi haben mich insofern nachdenklich gemacht, als ich die Gegenfrage stelle: Wenn man heute nicht eingreift, werden denn dann die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo beendet? Das ist doch die Frage. ({0}) Diese Frage beantworte ich für mich mit Nein, leider Nein. Zu den Luftoperationen gibt es nur eine Alternative, nämlich das Einlenken der serbischen Führung. ({1}) Monatelang ist vergeblich versucht worden, mit großer Geduld eine Friedensregelung im Sinne der geschundenen Bevölkerung des Kosovo zu implementieren. Jetzt mußte die NATO entschlossen handeln, um die Ziele zu erreichen, nämlich die Gewalt im Kosovo zu beenden, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern und vor allem die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß endlich den vielen tausend Flüchtlingen geholfen wird, die unter schlimmsten Witterungsbedingungen in den Wäldern hausen müssen, weil Unfriede herrscht, weil sie aus ihren Dörfern vertrieben worden sind, weil die Dörfer verbrannt worden sind. Diese Voraussetzungen müssen doch endlich geschaffen werden. Dazu muß die serbische Regierung leider gezwungen werden. ({2}) Es ging darüber hinaus um die Beilegung eines Konflikts, der sich auch ausweiten kann: Wenn dort nicht etwas geschieht, was geschieht denn dann möglicherweise mit den Nachbarstaaten? ({3}) Das ist doch ein Risiko, das man in Europa nicht eingehen kann. Insofern haben wir auch eine Verantwortung für die Nachbarstaaten in diesem Gebiet. Die diplomatischen Kanäle sind doch weiterhin offen. Die Serben müssen doch nur endlich dazu übergehen, diese zu nutzen und auch entsprechend zu handeln. ({4}) Belgrad kann jederzeit dazu beitragen, daß diese Luftoperationen beendet werden. Einen Gedanken zu unseren deutschen Soldaten und den Soldaten der Alliierten, die dort eine schwierige Aufgabe erfüllen müssen, möchte ich noch mitteilen: Wir müssen an sie denken, unsere Fürsorge muß ihnen und auch ihren Familien gelten. Dazu gehört auch, daß wir ihnen ganz deutlich sagen, daß sie einen rechtmäßigen Einsatz in unserem Sinne wahrnehmen. Das gehört dazu, Herr Gysi. ({5}) Ich möchte mit zwei Sätzen aus der Erklärung des EU-Gipfels schließen: Die Aggression darf sich nicht lohnen; das ist die Lehre des 20. Jahrhunderts. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Da die PDS-Fraktion ihren Geschäftsordnungsantrag zurückgezogen hat, brauchen wir darüber nicht abzustimmen. Ich beende damit diesen Punkt unserer Debatte. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ({0}) - Drucksachen 14/371, 14/460 ({1}) aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) - Drucksache 14/581 Berichterstattung: Abgeordnete Brigitte Wimmer ({3}) Matthias Berninger Maritta Böttcher bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/582 - Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Siegrun Klemmer Dr. Günter Rexrodt b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({5}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen W. Möllemann, Cornelia Pieper, Horst Friedrich ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Reform des Bundesausbildungsförderungsgesetzes - zu dem Antrag der Abgeordneten Maritta Böttcher und der Fraktion der PDS Umsetzung der Reform der Ausbildungsförderung - Drucksachen 14/358, 14/398 ({7}), 14/581 Berichterstattung: Abgeordnete Brigitte Wimmer ({8}) Matthias Berninger Maritta Böttcher Zum Gesetzentwurf liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor. Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Aussprache zwei namentliche Abstimmungen durchführen werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Brigitte Wimmer, SPD.

Brigitte Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003265, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist sicher kein Tag wie jeder andere. Es fällt mir als neuem Mitglied dieses Hohen Hauses sicherlich nicht leicht, jetzt zur Tagesordnung zu reden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? Da es Ihre erste Rede ist, möchte ich doch für ein wenig Aufmerksamkeit sorgen. ({0}) Die Kolleginnen und Kollegen, die den Saal verlassen möchten, bitte ich, das schnell zu tun. Wir warten noch ein paar Sekunden, damit die anderen, die hierbleiben, Ihnen ungestört folgen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie doch Platz, oder gehen Sie schnell ins Foyer.

Brigitte Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003265, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Mir ist bei dem Redebeitrag von Herrn Gysi schlecht geworden. Ich ziehe für uns daraus die Konsequenz, daß wir noch mehr zur Unterstützung von Friedens- und Konfliktforschung tun müssen, um solche Vorgänge, wie wir sie derzeit erleben, nicht mehr erleben zu müssen. ({0}) Ich freue mich, daß unsere beiden die Regierung tragenden Fraktionen zum erstenmal überhaupt im Haushalt Mittel für die Friedens- und Konfliktforschung eingestellt haben. ({1}) Es passiert nicht oft, daß wir für Entscheidungen gelobt werden. Wie schön, daß wir für die 20. BAföGNovelle Zustimmung erhalten. Selbst der RCDS begrüßt unseren Gesetzentwurf. ({2}) Unser Gesetzentwurf wird aus zwei Gründen begrüßt: Wir halten, was wir versprochen haben, auch beim BAföG. Die Erhöhung der Bedarfssätze um 2 Prozent und der Beiträge um 6 Prozent führt dazu, daß die Zahl der Geförderten nicht weiter absinkt, sondern nach langer Zeit, wenn auch nur leicht, wieder steigt. ({3}) Es werden 23 000 zusätzliche Studierende gefördert werden. Aber nicht nur das: Wir nehmen auch die schlimmsten und unsinnigsten Teile der 18. Novelle zurück. Die Wiedereinführung des § 5a beseitigt den krassen Fehler, ein Auslandsstudium zu bestrafen. ({4}) In Zukunft bleibt ein Auslandsaufenthalt bis zu einem Jahr bei der Förderungshöchstdauer unberücksichtigt. Es geht nicht - wie Sie es getan haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der F.D.P. -, die angebliche Immobilität der jungen Menschen zu beklagen und die finanzielle Grundlage für ein Auslandsstudium zu zerstören. ({5}) Wir billigen jungen Auszubildenden künftig eine angemessene Orientierungszeit zu. Ein Ausbildungsabbruch oder Fachrichtungswechsel aus wichtigem Grund wird bis zum Beginn des vierten Fachsemesters zugelassen. Es gibt eben Fälle - dies hat der Beirat für Ausbildungsförderung nachdrücklich bestätigt -, in denen der Studienaufbau die Anerkennung eines Fachrichtungswechsels aus wichtigen Gründen noch am Ende des dritten Fachsemesters rechtfertigt. Wer die Förderungshöchstdauer aus gesellschaftspolitisch erwünschten Gründen, zum Beispiel Engagement in Gremien der studentischen Selbstverwaltung, überschreitet oder sonstige schwerwiegende Verlängerungsgründe angeben kann, wird nicht länger mit der Förderungsart Bankdarlehen bestraft. Die befristet eingeführte Studienabschlußförderung wird um weitere zwei Jahre verlängert in der Hoffnung, daß zu diesem Zeitpunkt weitere Erfolge der Hochschulstrukturreform sichtbar werden. ({6}) Dieses Worthalten war außerdem außerordentlich wichtig, weil die frühere Regierung das BAföG in seiner Wirkung für Chancengleichheit beinahe zerstört hat. 1982, als CDU/CSU und F.D.P. an die Regierung kamen, gab es noch 37 Prozent geförderte Studierende. 1997 und 1998, am Ende Ihrer Regierungszeit, waren es noch 17 Prozent der Studierenden. In den neuen Bundesländern erhielten 1994 54 Prozent der Studierenden BAföG, 1997 waren es nur noch 30 Prozent. Meine Damen und Herren der früheren Regierung, Sie haben beim BAföG einen Kahlschlag betrieben. Präsident Wolfgang Thierse Das sieht man auch bei den Ausgaben. 1992 waren es noch 2,5 Milliarden DM, 1996 nur noch ganze 1,5 Milliarden DM. Sie haben die Familien im Stich gelassen, Sie haben die Studierenden im Stich gelassen, und Sie haben eine riesige Staatsverschuldung hinterlassen, mit der wir jetzt umgehen müssen. Das ist eine Bankrotterklärung in diesem Bereich. ({7}) Für uns ist die 20. BAföG-Novelle gleichzeitig eine notwendige Vorbereitung auf eine umfassende Reform der Ausbildungsförderung, wie sie im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen vorgesehen ist. Danach werden zukünftig alle ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen in einem einheitlichen Modell der Ausbildungsförderung zusammengefaßt. Diese Fragen können durch die vorgeschaltete Novelle ohne übermäßigen Zeitdruck, der zu Lasten der Qualität gehen würde, gelöst werden. In die Debatte um die Strukturreform gehören auch die Anträge der PDS und der F.D.P., Stichworte: Angleichung Ost und West, Bankdarlehen. Es würde der Sache nicht dienen, wenn wir hier Schauanträge à la F.D.P. vorlegen würden, bei allem Verständnis für eine kleine Oppositionsfraktion. Gründlichkeit und Seriosität gehen vor Schnelligkeit. ({8}) Schauanträge helfen den Studierenden nicht. Wir, Parlament, Regierung und die Bundesländer, sollten die Strukturreform zum Ende dieses Jahres gemeinsam auf den Weg bringen. Die grundlegende Strukturreform ist ein wichtiger Beitrag zur Ausbildungsförderung. Sie stellt die Ausbildung auf die Anforderungen des 21. Jahrhunderts ein. Die Verbesserung der materiellen Rahmenbedingungen für Studentinnen und Studenten trägt dazu bei, einen effizienten und einen qualitativ verbesserten Studienablauf zu ermöglichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Sozialdemokraten lassen uns dabei vom Prinzip der Chancengleichheit leiten. Chancengleichheit zu gewährleisten heißt, alle Begabungen zu fördern - unabhängig von der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Auszubildenden und ihrer Familien. Die SPD hält an dieser zentralen bildungspolitischen Forderung fest. Wir handeln dementsprechend. Dies gilt vor allem für die Ministerin, die für diese Forderung einsteht, und auch für diese Regierung, die erkannt hat, daß der Ausbau von Bildung und Forschung ein wichtiger Standortfaktor für unser Land ist. Auf uns können sich die jungen Menschen verlassen. Wir halten unser Versprechen. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war - wie vorhin schon gesagt - die erste Rede der Kollegin Wimmer. Unsere herzliche Gratulation! ({0}) Nun erteile ich das Wort der Kollegin Angelika Volquartz, CDU/CSU-Fraktion.

Angelika Volquartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über die 20. BAföGNovelle. Wenn man sich die lange Serie dieser Novellen ansieht, dann kann man erkennen, daß es hier um einen bildungspolitischen Baustein mit einer langen Geschichte geht. Dieser Baustein war allen Regierungen außerordentlich wichtig; denn Ausbildungsförderung ist ein Beitrag dazu, für den einzelnen das Recht auf Bildung - unabhängig von der finanziellen Lage des Elternhauses - zu gewährleisten und damit zugleich unsere Chancen im weltweiten Wettbewerb zu behaupten. ({0}) Im Zeitalter der Globalisierung und des Wandels von der Industrie- zur Wissensgesellschaft ist Bildung der Schlüssel zur Chancengerechtigkeit. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist die Vermittlung von Allgemeinwissen und Grundwissen. Auch die Medienkompetenz ist ein unverzichtbares Element. Wir brauchen in unserem Land dringender als je zuvor eine Kultur des lebenslangen Lernens. Der Bundespräsident hat recht, wenn er sagt, ein Ruck müsse durch unser Land gehen. Wir brauchen eine neue bildungspolitische Offensive. ({1}) Für uns gilt deshalb wie bisher, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daß jeder, der das Zeug und den Willen - unabhängig von seiner sozialen Herkunft dazu hat, studieren soll. Es gilt aber auch, daß ein Studium nicht der alleinige Königsweg ist. Berufliche und akademische Bildung haben für uns den gleichen Stellenwert. ({2}) Insoweit ist es nicht nachvollziehbar, daß beim MeisterBAföG jetzt gespart werden soll. Meine Kollegen werden auf diesen Punkt in der anschließenden Debatte noch eingehen. ({3}) Es gilt der Grundsatz, daß alle Begabungen gleichermaßen gefördert und gefordert werden sollen. ({4}) Wir müssen die Chance zur Leistung eröffnen, soziales Lernen ermöglichen, Schlüsselqualifikationen vermitteln und damit die so dringend notwendige Entwicklung der Persönlichkeit ebenso fördern wie die Befähigung, sich auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden, der hohe Flexibilität verlangt. Wir treten für Leistung ein. Sie ist die einzige Chance, unser Land zukunftsorientiert weiterzuentwickeln. Dazu gehört auch eine Eliteförderung. Ich finde es interessant, daß die Ministerin diesen Zusammenhang Brigitte Wimmer ({5}) endlich begriffen hat und sich nun für die Eliteförderung einsetzt. ({6}) Bisher haben die Sozialdemokraten Leistung als eine Sekundärtugend bezeichnet und in den Ländern in der Vergangenheit verhindert, daß eine Förderung der Hochbegabten durchgeführt werden konnte. ({7}) Endlich haben wir in diesem Punkt eine gemeinsame Linie. ({8}) Endlich haben wir da eine gemeinsame Linie: Gleichmacherei und Nivellierung sind der falsche Weg. Wir eröffnen die Chance zum Wettbewerb, zur Bewährung, zur Selbstfindung und zur Selbstbestätigung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gilt, unser Bildungssystem für die Zukunft fit zu machen. Dabei spielt auch die Ausbildungsförderung eine wesentliche Rolle. Deshalb ist es zu bedauern, daß die Gefördertenquote beim BAföG in den letzten Jahren gesunken ist. Allerdings ist die Zahl, die Sie genannt haben, Frau Wimmer, falsch. Es geht nämlich nicht um alle Studierenden, sondern nur um diejenigen, die tatsächlich förderungswürdig sind. Und das sind 22,6 Prozent. Das bedeutet also, verglichen mit dem vergangenen Jahr, einen Anstieg in diesem Jahr. Das dürfen Sie natürlich nicht vergessen. ({9}) Die Auswirkung der Entwicklung, daß die Gefördertenquote zu gering ist - darin sind wir uns einig -, ist aber nicht allein auf den Schultern der ehemaligen Regierung abzuladen, sondern auf Bund und Länder; denn die Länder haben verhindert, daß wir hier eine verbesserte Situation erhalten. ({10}) Dies ist abgelehnt worden; das muß man einmal nüchtern feststellen. Nutzen wir jetzt also die Chance! Zeigen wir Einigkeit, daß die Bildung in Deutschland einen hohen Stellenwert hat! Was wir heute als 20. BAföG-Novelle verabschieden werden, verdient allerdings nicht, mit dem Prädikat „Zukunft“ in Verbindung gebracht zu werden. Die Erhöhung der Bedarfssätze um 2 Prozent und die Erhöhung der Freibeträge um 6 Prozent bedeuten für die Studierenden lediglich die schon viel zitierte eine Pizza mehr im Monat. Wenn wir der Novelle trotzdem zustimmen - und die Zustimmung der CDU/CSU findet auch der F.D.P.-Antrag zur Angleichung der Finanzierung von Unterkünften in den neuen Ländern; es interessiert mich übrigens, warum Sie diesem Antrag nicht zustimmen -, erfolgt dies allein, um die Studierenden wenigstens in den Genuß dieser kleinen Vergünstigung kommen zu lassen. Vielleicht entschließen Sie sich aber noch am Ende der Debatte, dem Antrag der F.D.P. doch zuzustimmen. Dann wären Sie ein Stück glaubwürdiger als jetzt. ({11}) Aber erinnern wir uns: Als die CDU/CSU-F.D.P.Regierung 1994 eine solche Erhöhung unter dem Eindruck der finanziellen Belastungen durch die deutsche Einheit durchführte, hat die damalige Sprecherin der SPD, Doris Odendahl, dies in einer Pressemitteilung so kommentiert: Bundesregierung erteilt bedürftigen Studierenden eine erneute krasse Abfuhr. ({12}) So Doris Odendahl zur gleichen Erhöhung, die Sie heute vornehmen. Sagen Sie doch einmal ein Wort dazu: Hat Frau Odendahl damals recht gehabt? Dann aber müssen Sie sagen, daß das, was Sie mit Ihrer Gesetzesvorlage machen, eine krasse Abfuhr gegenüber den Studierenden bedeutet. ({13}) Frau Wimmer, Sie haben davon gesprochen, daß Sie die Wahlversprechen halten. Das meinen Sie sicher nicht ernst. ({14}) Das kann nicht ernstgemeint sein, weil Sie in Ihrem Wahlversprechen - das haben wir schon in der letzten Debatte hier diskutiert - in Aussicht gestellt haben, die Ausgaben im Bildungsbereich in den nächsten fünf Jahren zu verdoppeln. Das ist bis jetzt nicht erkennbar. Im Gegenteil: Im Haushaltsausschuß wurde durch die rotgrüne Mehrheit der Etat um 75 Millionen DM für Technologieförderung gekürzt. ({15}) Weitere 80 Millionen DM Technologieförderungsmittel mußte der Wirtschaftsminister opfern. Statt Steigerung ist schlicht Kürzung angesagt. Das sind die Realitäten. ({16}) Von Ihren BAföG-Erhöhungen können die Studierenden nicht einmal mehr eine Kinokarte bezahlen, weil die Mehrwertsteuererhöhung so gut wie beschlossen ist. ({17}) So wird aus der 20. BAföG-Novelle eine Mehrwertsteuererhöhungskompensationsnovelle. Das ist nun wirklich das letzte, was wir gebrauchen können - ganz zu schweigen von der verabschiedeten Steuerreform, die natürlich auch die Studierenden betrifft; denn der öffentliche Personennahverkehr wird gravierend teurer. Und das betrifft die Studierenden ebenfalls. ({18}) Das, Frau Ministerin Bulmahn, nenne ich neue Ungerechtigkeit. Sie sprachen in der Debatte am 26. Februar dieses Jahres in Richtung der ehemaligen Regierungsfraktionen von „Scheinheiligkeit in Potenz“. ({19}) Schauen Sie sich einmal an, was Sie heute in bezug auf die Mehrwertsteuer planen, was Ihr Parteifreund Oppermann in Niedersachsen bezüglich der Studiengebühren beabsichtigt und wie Sie selbst dazu stehen. Dazu würden wir gerne einmal ein Wort von Ihnen hören. Sie, Frau Ministerin Bulmahn, sind doch die Landesvorsitzende der SPD in Niedersachsen. ({20}) Meine Damen und Herren, es kommt jetzt darauf an, das Bildungssystem zukunftsfähig zu machen. Daran arbeiten wir. ({21}) Es gilt, Strukturen zu schaffen, die qualifizierte Bildungsabschlüsse garantieren und die internationale Vergleichbarkeit von Ausbildungsgängen und -abschlüssen voranbringen. Das ist bisher in vielen sozialdemokratisch regierten Ländern schlicht verhindert worden. ({22}) Über landeseinheitliche Leistungen bei Abschlußprüfungen soll die Qualität in allen Bundesländern gesichert und eine höhere Transparenz ermöglicht werden. Durch Evaluation sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite müssen wir eine Effizienzsteigerung in Schule und Hochschule erreichen. In diesem Kontext brauchen wir ein zukunftsorientiertes und bestandsfähiges System der Ausbildungsförderung. ({23}) Dazu hört man bislang von Rotgrün außer vagen Ankündigungen nichts. Sie behandeln vielmehr die dringend notwendige BAföG-Strukturreform nach unserer Einschätzung wie ein Staatsgeheimnis. Wir erwarten von Ihnen die schnelle Vorlage diskussionsfähiger Eckpunkte. Dabei wollen wir von Ihnen wissen, wie Sie sich zukünftig die Stellung der Studierenden in Gesellschaft und Familie vorstellen. Wir wollen außerdem wissen, welche Schlußfolgerungen Sie aus den beiden Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes zum Familienlastenausgleich und zur Vermögensanrechnung der Auszubildenden ziehen. ({24}) Wie halten Sie es mit der familiären Anbindung der Studierenden beim sogenannten Ausbildungsgeld bzw. mit dem Prinzip der Subsidiarität? Wie stehen Sie zu einkommensunabhängigen Kindergeldzahlungen? Wir fordern Sie auf, eine breite gesellschaftliche und parlamentarische Diskussion zu ermöglichen. ({25}) Eine solche Diskussion haben die Studierenden verdient. Sie ist notwendig, wenn wir am Ende zu einer konsensfähigen Lösung kommen wollen, auf die Sie, Frau Ministerin, vernünftigerweise Wert legen. Bildung und Erziehung, Ausbildung und Weiterbildung bestimmen ganz wesentlich die Modernität unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Für uns ist die Bildung der Schlüssel zu individuellen Lebenschancen, internationaler Konkurrenzfähigkeit und Wohlstand. ({26}) Deshalb müssen auch unsere Hochschulen wieder international Spitze werden. Ich danke. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit Sie sich darauf einstellen können, möchte ich Ihnen mitteilen, daß die Fraktion der CDU/CSU zum Zwecke einer Fraktionssitzung eine Unterbrechung der Sitzung im Anschluß an die namentlichen Abstimmungen zu diesem Tagesordnungspunkt beantragt hat. Diese Unterbrechung dürfte in etwa zwischen 12 und 13 Uhr sein. Nun erteile ich dem Kollegen Matthias Berninger, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war hier sowohl als Redner als auch als Zuhörer schon an einigen Debatten zum Thema BAföG beteiligt. Ich bin zwar jemand, der sehr entschieden für die Reform des BAföG eintritt und der dafür kämpft, daß wir eine Strukturreform des BAföG hinbekommen. Ich muß Ihnen aber sagen, daß ich heute meinen Vortrag in der Sache etwas weniger kämpferisch gestalten werde, da mir in Anbetracht der gegenwärtigen internationalen Situation die Lust vergeht, hier eine fachpolitische Diskussion klassischer Prägung zu führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemand in der Koalition bestreitet, daß die jetzige Reform des BAföG bzw. das 20. BAföG-Änderungsgesetz noch nicht ausreichend ist. Wir selbst sprechen von einer Reparaturnovelle, die das Notdürftigste macht; wir sagen: Wir wollen den Trend stoppen, daß immer weniger Personen BAföG-Leistungen in Anspruch nehmen können, daß das BAföG einen schleichenden Tod stirbt. Das haben wir erreicht, wenn auch nicht - auch das sage ich Ihnen - in dem Maße, wie wir uns alle das gewünscht hätten. Immerhin werden etwa 23 000 Studierende im Vergleich zum letzten Jahr zusätzlich Förderung erhalten. Das ist ein kleiner, überhaupt nicht ausreichender Schritt. Die grundsätzliche Reform, die wir vorhaben, wird dadurch, daß wir diese 20. Novelle heute wahrscheinlich verabschieden werden - auch die CDU/CSU wird ihr ja zuAngelika Volquartz stimmen -, überhaupt nicht erreicht. Ein großer Berg Arbeit steht uns bevor. Das sehen wir alle so. Ich denke, daß wir im Bildungsausschuß sehr viel diskutieren müssen. Ich glaube aber auch, daß die Grundlagen, die diese Koalition für eine solche BAföG-Reform gelegt hat, durchaus tragfähig sind. Wir wollen diese Strukturreform, aber sie soll sorgfältig vorbereitet sein, und wir wollen sie nicht übers Knie brechen. Viele Vorwürfe, die dieser Regierung in den letzten Monaten gemacht wurden, beziehen sich darauf, daß sie zu hastig vorgegangen sei, daß sie unausgegorene Reformen dem Parlament vorgelegt habe und entsprechend in Schwierigkeiten gekommen sei. Ich brauche Ihnen die verschiedenen Reformwerke nicht aufzuzählen. Wir haben das bei der BAföG-Reform nicht vor. Vielmehr wollen wir eine Reform machen, die breite Zustimmung erhalten kann. Sie wissen, der Bundesrat muß dieser Reform zustimmen. Wir wollen schon vorher mit den Ländern reden. Wir wollen einen Konsens hinbekommen, weil diese Reform den Grundstein für die zweite Bildungsreform bilden muß. So wie die erste Bildungsreform mit Veränderungen beim BAföG ausgestaltet wurde, wird auch die zweite Bildungsreform dann gelingen, wenn wir den Menschen am Start wieder gleiche Chancen geben und wenn wir unterschiedliche Biographien berücksichtigen, etwa die von Menschen, die ein Teilzeitstudium machen wollen. Wir wollen auch stärker das Studieren mit Kind oder etwa das Auslandsstudium ermöglichen, das ja derzeit vor allem von jenen aufgenommen wird, deren Eltern sehr viel Geld haben, während diejenigen, die aus weniger wohlhabenden Familien kommen, in aller Regel im Inland studieren müssen. Auch das ist ein großes Anliegen, nämlich daß wir in dieser Beziehung eine Korrektur hinbekommen. Diese grundsätzliche Strukturreform, so fordern einige, müsse schneller, als wir das in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, möglichst noch vor der Sommerpause, auf den Weg gebracht werden. Ich habe in der letzten Legislaturperiode - da war ich in der Opposition - über ein Jahr in den Fraktionsgremien darüber diskutiert, wie eine solche Strukturreform aussehen könnte. Wir haben einen eigenen Gesetzentwurf dazu gemacht. Ich kann Ihnen sagen: Das ist ein sehr, sehr aufwendiges Reformwerk, und das aus drei Gründen. Der erste Grund. Wir wollen uns im Bereich des Familienleistungsausgleichs daranmachen, daß alle Studierenden die gleiche Grundförderung erhalten. Diese Förderung wollen wir Ausbildungsgeld nennen. Das bringt sehr weitreichende Veränderungen mit sich, die etwa mit Familienpolitikerinnen und -politikern zu besprechen sind. Sie alle wissen, daß es im Unterhaltsrecht erhebliche Schwierigkeiten gibt, die wir ausräumen müssen, Schwierigkeiten, die durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verschärft wurden. Ich freue mich darüber, daß sie verschärft worden sind. Die Konsequenz der Rechtsprechung ist nämlich, daß Familien noch stärker entlastet werden und daß diese noch stärkere Entlastung der Familien sich positiv auf das Gesamtvolumen der BAföG-Reform auswirken wird. Damit bin ich bei dem zweiten Problem. Es besteht darin, daß wir diese Reform finanzierbar gestalten müssen. Es ist von den Kolleginnen ja schon angesprochen worden, daß wir im Bildungsbereich mehr Geld ausgeben. Wir alle sind uns darin einig, daß man noch mehr Geld ausgeben könnte. Aber ich finde, es muß anerkannt werden, daß diese Bundesregierung im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen in der Bildung tatsächlich ein Feld sieht, für das mehr Geld ausgegeben werden soll. ({0}) Wir werden ein großes Problem mit den Finanzpolitikern bei der Frage bekommen: Wie finanziert man eine solche Reform? Auch das macht es nötig, daß wir an diese Reform behutsam herangehen. Ich glaube aber, daß es Möglichkeiten gibt, das zu lösen. Der dritte Punkt. Diese Bundesregierung wird Veränderungen beim Wohngeld auf den Weg bringen. Wir wollen, daß zumindest geprüft wird, inwieweit Studierende auch von diesen Veränderungen profitieren können. Wir werden einige politische Bereiche, die von der Bildungspolitik weit weg sind, tangieren müssen, um eine gute Reform auf den Weg zu bringen. Frau Kollegin Pieper, Sie haben ja den Antrag gestellt, in dem es heißt, daß man das schneller machen muß. Ich bitte Sie um Verständnis dafür, daß wir, so wie wir es in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, diese Reform bis Ende 1999 vorlegen wollen. Sollten wir mit diesem, wie ich finde, ehrgeizigen Terminplan scheitern, haben Sie jedes Recht, uns vorzuwerfen, daß uns das nicht wichtig genug sei oder aber daß wir es nicht auf die Reihe bekämen. Ich bitte Sie aber, dieser Regierung - so wie wir Ihnen auch drei Jahre geduldig die Chance gegeben haben, eine Strukturreform vorzulegen - die nötige Zeit einzuräumen, die sie braucht, um eine vernünftige BAföG-Reform zu machen. Ich freue mich - dies zum Abschluß -, daß es einebreite Mehrheit dafür gibt, sehr viele Fehler, die in der letzten Legislaturperiode gemacht wurden, zu bereinigen. Allerdings kam es zu dieser Mehrheit durch einen Kompromiß, an dessen Ende stand, daß noch in der letzten Legislaturperiode vereinbart wurde, eine Strukturreform auf den Weg zu bringen. Es wurden viele Fehler gemacht: Die Gremientätigkeit der Studierenden wurde bei der BAföG-Reform der letzten Wahlperiode nicht genügend beachtet. Man hat es nicht geschafft, das Auslandsstudium positiv zu berücksichtigen. Die Ost-West-Angleichung ist nicht vorangekommen. Diese, so räume ich ein, hätte ich mir auch schon bei dieser Reform gewünscht. Das haben wir aber nicht durchbekommen. Die Frage, wieviel Geld man für eine solche Reform mobilisieren kann, wird in der Diskussion um eine Strukturreform ein wichtiges Thema sein. Nicht zuletzt geht es um die Frage, wie man es schafft, durch die BAföG-Strukturreform die Zahl der Geförderten so zu erhöhen, daß der Trend des Bergab gebremst wird. In all diesen Fragen haben wir in diesem Parlament in der letzten Legislaturperiode Fehler gemacht. Manche haben das lauter, manche haben das leiser kritisiert. Ich denke, es ist ein guter Weg, daß das Parlament jetzt geschlossen sagt: Wir wollen Gremientätigkeit anerkennen. Wir wollen das Studieren im Ausland stärker als vorher fördern. Zweierlei muß zusätzlich hineingenommen werden: Das Studieren mit Kind muß stärker als bisher beachtet werden - ich habe zugestanden, daß auch diese Regelung unzureichend ist -, und eine OstWest-Angleichung wollen wir Ende des Jahres in unser Reformpaket aufnehmen. Ich hoffe, daß uns das gelingt. Es wird uns um so besser gelingen, je konstruktiver die Opposition daran mitarbeitet. Dazu muß ich Sie nicht einladen, weil Sie Ihre Bereitschaft dazu bereits erklärt haben. Wir werden sehr spannende Diskussionen führen. Ich hoffe, daß die Bundesregierung insgesamt hinter einem Reformwerk steht, das jungen Menschen unabhängig vom elterlichen Einkommen gleiche Chancen beim Start gewährt. Das ist mein Wunsch. Ich glaube, daß wir das schaffen können. Aber wir müssen es mit der nötigen Ruhe machen. Dafür bitte ich um Verständnis. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die F.D.P.Fraktion hat nun Kollegin Cornelia Pieper das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte deutlich machen, daß es mir heute nicht leicht fällt, zur Tagesordnung überzugehen. Wo andere junge Menschen um ihr Leben fürchten, diskutieren wir jetzt über die Bundesausbildungsförderung, die für die jungen Leute hier im Land wichtig ist. - Ich wollte diese Bemerkung vorwegschicken. Wir sollten die Debatte deswegen nicht kämpferisch führen. Ich glaube, das ist der Sache heute nicht angemessen. Trotzdem stehen wir in der Sache zu unserem Antrag, zu unserer Position. Die F.D.P.-Fraktion ist vehement der Auffassung, daß die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine einmalige Chance für eine rechtzeitige BAföG-Reform verpaßt hat. Die Chance, die Reform der Bundesausbildungsförderung mit einer großen Mehrheit im Bundestag zu beschließen, war noch nie so groß, und damit der Forderung der Länder und Verbände nachzukommen, die Bundesausbildungsförderung von einem verzinsten auf ein zinsloses Darlehen umzustellen. Die 20. BAföG-Novelle bleibt im alten Trott. Eine lediglich 2prozentige Anhebung der Bedarfssätze sprich: für den Höchstbetrag sind das 20 DM mehr und eine 6prozentige Steigerung der Freibeträge bringen keine Chancengerechtigkeit für die Studierenden. BAföG beziehen weiterhin nur 17 Prozent von 1,8 Millionen Studierenden in Deutschland, liebe Kollegin Wimmer. ({0}) Der Antrag der F.D.P. ist auch kein Schauantrag. Ich möchte Sie daran erinnern, daß auch Sie in der letzten Legislaturperiode Anträge gestellt haben, ({1}) mit denen Sie das Drei-Körbe-Modell vorgeschlagen und von der damaligen Bundesregierung eine entsprechende BAföG-Reform verlangt haben. ({2}) Die F.D.P.-Fraktion hat - dies wollte ich hier noch einmal deutlich sagen - diese Debatte in der alten Regierung vorangetrieben. ({3}) - Das liegt an den Mehrheiten, lieber Herr Kollege. Sie wissen, daß wir innerhalb der Fraktion ständig zulegen. Uns geht es um die Sache, meine Damen und Herren. ({4}) Die F.D.P. will für die Studierenden endlich eine BAföG-Reform. Wir wollen diese nicht auf die lange Bank schieben. Das Ziel muß es also sein, daß die Studierenden recht bald - das heißt, wenn wir diesen Antrag stellen, sollte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Reform der Bundesausbildungsförderung vorlegen -, spätestens mit dem Frühjahrssemester, in größerer Anzahl BAföG beziehen können; jetzt sind das nur 19 Prozent. ({5}) Ich erinnere noch einmal an das, was wir vorgeschlagen haben - auch für die vielen jungen Leute, die hier heute Gast sind. Der erste Korb beinhaltet einen Sockelbetrag in Höhe von 400 DM zur Deckung des Grundbedarfes, der jedem Studierenden unabhängig vom Einkommen der Eltern zur Verfügung gestellt werden soll. Dieses Grundstipendium soll aus der Zusammenführung von Kindergeld und Kinderfreibeträgen finanziert werden. Der zweite Korb besteht aus einem rückzahlungspflichtigen, aber unverzinslichen Darlehen bis zu 400 DM und ist vom Elterneinkommen abhängig. Der dritte Korb sieht einen Zuschuß von 350 DM vor, der den Studierenden abhängig von der Leistungsfähigkeit der Eltern gezahlt wird. Die Ablehnung unseres Antrages mit der Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Familienlastenausgleich zu begründen ist eine Ausrede der Regierungskoalition. ({6}) Wenn die Bundesregierung ihren Aussagen zufolge sowieso bis zum Sommer die Umsetzung dieses Bundesverfassungsgerichtsurteils vorhat, spricht absolut nichts gegen unsere Forderung, ebenso einen Gesetzentwurf zur BAföG-Reform bis zur Sommerpause vorzulegen. ({7}) Ziel muß es sein, die Anzahl der Studierenden, die BAföG beziehen, möglichst mit Beginn des neuen Jahres zu erhöhen. Da geht es um Chancengerechtigkeit für junge Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({8}) Das muß die Antwort auf die drängenden Probleme in der Bildungspolitik sein. Dabei erklärten Ihre Kollegen selbst - ich kenne es aus Ihren Pressemitteilungen vom 26. Februar 1999, Dr. Rossmann und Herr Hilsberg -: Die Reform der Ausbildungsförderung muß nunmehr in die notwendige Reform des gesamten Familienleistungsausgleichs eingebettet werden. ({9}) Das wollen wir auch. Aber warum bringen Sie Ihren Gesetzentwurf dann nicht auf den Weg? Wir erwarten ihn. ({10}) Wenn Sie dies nicht tun, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir werden handeln. Wir werden heute die Ablehnung unseres F.D.P.-Antrages zur BAföG-Reform nicht einfach so hinnehmen. Ich glaube, daß es dringend notwendig ist, einen Gesetzentwurf hierzu vorzulegen, damit wir ihn im Ausschuß beraten - auch vor dem Hintergrund des entsprechenden Urteils von Karlsruhe und noch im Herbst dieses Jahres beschließen können. Das muß das Ziel sein. Ich darf an dieser Stelle auch noch einmal an die Forderung des Bundesrates nach der ersten Lesung der 20. BAföG-Novelle erinnern. Zitat aus einer Presseerklärung: Bedauert wurde allerdings - vom Bundesrat -, daß eine wesentliche Verschlechterung, nämlich die Förderung der Studienabschlußförderung durch die Förderungsart „verzinsliches Bankdarlehen“, beibehalten wird. Die Bundesregierung wurde gebeten, im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens Möglichkeiten zu prüfen, auf die Förderungsart zu verzichten. Außerdem soll die Bundesregierung im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens prüfen, ob die Höhe der Beträge, welche für die Unterkunft an Studierende gezahlt werden, die bei den Eltern wohnen, in den neuen Ländern an die in den alten Ländern angeglichen werden kann. Meine Damen und Herren, genau in diesem Punkt enttäuschen Sie die Studierenden in den neuen Ländern am meisten. Die F.D.P. fordert mit der Verabschiedung der 20. BAföG-Novelle eine Angleichung der Beträge, die für Unterkunft gemäß § 13 Abs. 2 BAföG an die Studierenden in den neuen Ländern gezahlt werden. ({11}) Die gestiegenen Lebenshaltungskosten, die sich durch die ökologische Steuerreform noch erhöhen, insbesondere für die Mieten, machen diese Veränderung mit der Verabschiedung der 20. BAföG-Novelle notwendig. Der Vergleich der Ergebnisse der 14. und 15. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes haben das bewiesen. ({12}) An diesem Punkt wird sich heute in der Abstimmung erweisen, ob die Bundesregierung tatsächlich die neuen Länder zur Chefsache macht. Deswegen fordere ich namens der F.D.P.-Bundestagsfraktion eine namentliche Abstimmung zu unserem Änderungsantrag in dieser Sache. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Maritta Böttcher, PDS-Fraktion.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nun führen wir wieder eine Debatte, die wir schon häufig im Plenum und im Ausschuß geführt haben, und sagen uns immer wieder fast dasselbe. Lassen Sie mich deshalb beim Grundsätzlichen bleiben. Das BAföG wurde mit dem Argument eingeführt, der soziale Rechtsstaat sei verpflichtet, durch Gewährung individueller Ausbildungsförderung auf eine Gleichheit der beruflichen Chancen hinzuwirken und dem einzelnen eine Ausbildung zu ermöglichen, die seiner Neigung, Eignung und Leistung entspricht. Diesem Ansinnen kam die Ausbildungsförderung in den ersten Jahren auch nach. Seit Anfang der 80er Jahre verzeichnen wir aber einen Rückgang. Dieses Ergebnis neoliberaler Bildungspolitik der alten Bundesregierung, Frau Volquartz, ({0}) soll jetzt korrigiert werden. Immerhin! Leider ist die Korrektur dürftig. Eine Verdoppelung der Zahl der GeCornelia Pieper förderten wird nicht erreicht. Auch erreichen Sie nicht, daß der Bedarf von Studierenden wirklich gedeckt wird. Vieles, was Sie jetzt nicht tun, soll mit der grundlegenden BAföG-Reform im Herbst kommen. Ich sage nur: hoffentlich. Denn ich glaube, daß dabei nur ein mehr oder weniger guter Kompromiß aus drei Körben und BAFF herauskommen wird. Mit dem Argument, die Modernisierungsgewinner sollen bezahlen, werden die so Genannten weiter gewinnen und die anderen abgeschreckt werden. ({1}) Die von Ihnen so genannten Gewinner der Modernisierung sollen sich durchaus an den Kosten für die Hochschulen und die Studienfinanzierung beteiligen: über die Steuern, die sie zu bezahlen haben, über Einkommensteuer und vor allem über die Vermögensteuer. Hier liegt Ihre politische Verantwortung, umzuverteilen, damit der Staat seiner Aufgabe, Chancengleichheit herzustellen, nachkommen kann. Machen Sie sich doch bitte einmal klar, in welcher Situation sich junge Menschen für oder gegen ein Studium entscheiden. Bereits vor dem Abitur, ein halbes Jahr, bevor sie die Lehre oder das Studium aufnehmen, entscheiden sich die meisten für eines von beidem. In dieser Situation erfährt niemand, ob er oder sie wirklich berechtigt ist, BAföG zu erhalten. Erst recht erfährt man nicht, ob das BAföG zum Leben reicht und ob es bis zum Studienabschluß reicht. Das sind viele Unsicherheiten, wenn man aus einem Elternhaus kommt, das nicht zusichern kann, in einer finanziellen Patsche auf jeden Fall helfen zu können. Die derzeitige BAföG-Regelung - daran ändert auch die Novelle nichts - verstärkt soziale Ungleichheiten bei der Entscheidung, wie der Lebensweg fortgesetzt wird. Das kann nur geändert werden, indem neue, eindeutige Regelungen geschaffen werden, die das Studium in jedem Fall ermöglichen. ({2}) Sie müssen so eindeutig sein, daß jedes Schulkind das immer im Bewußtsein hat. Es darf nicht an der finanziellen Situation der Eltern oder an deren Bereitschaft liegen, ein Studium zu finanzieren - jedenfalls dann nicht, wenn man den Auftrag, Chancengleichheit herzustellen, ernst nimmt. Eine eindeutige Regelung ist entweder eine soziale Grundsicherung oder eine klare BAföG-Regelung, wie wir sie schon in der 13. Wahlperiode vorgeschlagen haben. Beide Lösungen haben den Vorteil, daß sie den Lebensunterhalt sicher abdecken. Den Vorschlag der PDS zur BAföG-Regelung kann man wirklich in einem Satz darstellen: Kinder von Geringverdienern bekommen das Studium als Zuschuß finanziert, Kinder von Besserverdienern nutzen entweder das Vermögen ihrer Eltern oder erhalten ein zinsloses Darlehen, damit sie sich nicht mit den Eltern streiten müssen. ({3}) Die Grenze zwischen den hier einfach Gering- und Besserverdienern Genannten ergibt sich aus dem durchschnittlichen Einkommen und ist abhängig von der Familiengröße. Diese Regel ist eindeutig und sichert ohne Klippen allen den freien Zugang zum Studium. Diese Eindeutigkeit erreicht keiner der anderen Entwürfe, keiner der Körbe - egal, wie viele -, kein BAFF und keine 20. Novelle. Unser Vorschlag ermöglicht es jedem Schüler und jeder Schülerin vor dem Abitur, sich frei zu entscheiden, was aus ihrem Leben werden soll - jedenfalls bezüglich des Studiums. Chancengleichheit hat viel damit zu tun, daß finanzielle Voraussetzungen keine lebensentscheidende Rolle spielen. Die Sicherheit, immer genug zum einfachen Leben zu haben, würde die Lebensqualität vieler Menschen in diesem Land, die ihre Existenz an oder unter der Armutsgrenze wahren, deutlich erhöhen. Zur Lebensqualität gehören zuerst Essen, Kleidung und Wohnung, darüber hinaus aber auch die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das kostet bekanntlich Geld, und zwar nicht wenig. Die PDS fordert die Einführung der sozialen Grundsicherung für alle, also auch für Studierende. Damit hätten viele, die - egal in welcher Lebenslage und in welchem Alter - gerne studieren wollen und für die sonst immer Ausnahmeregelungen geschaffen werden müssen, die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten an einer Hochschule zu bilden und weiterzubilden. Die soziale Grundsicherung ist so angelegt, daß sie neben dem bloßen Leben auch den Kauf von Büchern und den Besuch von Kulturveranstaltungen ermöglicht. Das ist in einer modernen Gesellschaft, in der Wissen immer wichtiger wird und in der lebenslang gelernt werden muß, unerläßlich. Falls Sie es schon vergessen haben: Die soziale Grundsicherung soll allen Menschen ein Einkommen in Höhe von derzeit 1 450 DM sichern. Reichen die eigenen Einkommen - sei es geringer Lohn, sei es Rente, sei es Sozialhilfe oder sei es wegen Studiums auch gar kein Einkommen - nicht, gewährleistet die soziale Grundsicherung die Mittel, die zu einem Leben befähigen, das mehr ist, als genug zu essen und ein Dach über dem Kopf zu haben. Laut EU-Definition beträgt die derzeitige Armutsgrenze 1 450 DM. Mit diesem Betrag soll nicht jedem ein Champagnerbad ermöglicht werden; dieser Betrag ist nötig, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und um in der Wissensgesellschaft nicht von den aktuellen Entwicklungen abgehängt zu werden. Die PDS-Fraktion wird dem Änderungsantrag der F.D.P. zur Ost-West-Angleichung - ich verkürze den Titel einmal - auch aus diesem Grund die Zustimmung geben. ({4}) Eine weitere Anmerkung. Warum, glauben Sie, entscheiden sich inzwischen so viele junge Leute, erst eine Lehre zu machen und dann zu studieren und damit in den Genuß zu kommen, elternunabhängiges BAföG zu erhalten? - Sie machen das, weil ihnen die Unsicherheit zu groß ist, bei den BAföG-Regelungen wirklich studieren zu können. Ich sagte bereits, zur Lebensqualität gehören zuerst Essen, Kleidung und Wohnung. Um aber am gesellschaftlichen Leben wirklich gestaltend teilMaritta Böttcher nehmen zu können, müssen darüber hinausgehende Regelungen herbeigeführt werden. Damit ich nicht mißverstanden werde, möchte ich abschließend sagen, daß die Fraktion der PDS selbstverständlich weiter an einer umfassenden BAföG-Reform mitarbeiten und weiterhin Vorschläge machen wird. Was heute vorliegt, ist nur eine Reparaturnovelle. ({5}) Meine Damen und Herren, ich möchte noch - die anderen Rednerinnen und Redner haben das jeweils am Anfang ihrer Rede getan - eine Anmerkung machen, die mit dem jetzigen Thema nichts zu tun hat. Frau Wimmer, so unterschiedlich reagieren Menschen: Mir ist schlecht geworden, als heute nacht Bomben auf Jugoslawien fielen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun Bundesministerin Edelgard Bulmahn das Wort.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß der Bundestag heute für die 20. BAföG-Novelle grünes Licht gibt, ({0}) weil wir mit dieser 20. BAföG-Novelle für die Studierenden deutliche Verbesserungen erreichen. Mit dieser 20. BAföG-Novelle stoppen wir endlich die jahrelange Talfahrt des BAföG. ({1}) Diese Regierung will mehr Chancengleichheit für junge Menschen. Wir wollen nicht, daß Bildung, Ausbildung und damit Lebenschancen von dem Geldbeutel der Eltern abhängig sind. Deshalb erreichen wir mit dieser „Reparaturnovelle“ - das ist ein Begriff, den ich selber geprägt habe -, daß zusätzlich 23 000 Studierende BAföG erhalten. Ich sage Ihnen ganz klar: Es ist mir nicht egal, ob 23 000 Jugendliche das Recht auf eine individuelle Ausbildungsförderung erhalten oder nicht. Deshalb war die Novelle notwendig. ({2}) Ich sage genauso klar: Das ist noch lange nicht genug. Deshalb werden wir insgesamt eine Trendwende einläuten, nicht nur bei der Ausbildungsförderung, sondern im gesamten Bildungsbereich. Frau Volquartz, von einer Parlamentarierin erwarte ich zumindest einen Hauch von Vernunft. ({3}) Wenn Sie darauf hinweisen, daß das, was wir tun, bei weitem nicht ausreicht, dann antworte ich darauf: Stimmt, das reicht nicht aus. Aber wenn Sie gleichzeitig in dieser Debatte den Eindruck erwecken, daß eine Erhöhung des Haushaltes um rund 900 Millionen DM, die Ihnen in den vergangenen 16 Jahren nie, auch nicht ansatzweise, gelungen ist, kein Erfolg ist - auch wenn man dabei eine 0,5prozentige Kürzung hinnehmen muß -, dann muß ich Ihnen sagen, daß Ihre Aussage bar jeder Vernunft ist. Bei solchen Äußerungen fragen sich die Menschen zu Recht, worüber im Deutschen Bundestag eigentlich diskutiert wird. ({4}) Ich habe bereits in der ersten Lesung zur 20. BAföGNovelle deutlich gemacht, daß wir nicht auf eine überhastet zustandegekommene Symbolik setzen, sondern daß wir ein Änderungsgesetz brauchen, das sehr sorgfältig vorbereitet wird. Es wird eine Strukturnovelle sein, die wir Ende des Jahres vorlegen werden. Der Kollege Berninger hat auf die Einzelpunkte hingewiesen, die geklärt werden müssen. Weil wir eine Strukturreform wollen, die für die nächsten Jahre wirklich trägt, und nicht jedes Jahr erneut reparieren wollen, müssen wir uns Zeit dafür nehmen. Diese Zeit nehmen wir uns im Interesse der Jugendlichen. Deshalb fordere ich Sie auf: Seien Sie sachlich, so wie es ein Teil der Kollegen, auch von den Oppositionsfraktionen, in der letzten Debatte glücklicherweise war. ({5}) Ich habe in den Ausschußberatungen zu meiner Freude feststellen können, daß es für ein solches Verfahren der Vernunft einen fraktionsübergreifenden Konsens gibt. Der federführende Ausschuß hat ohne Gegenstimmen die Annahme des vorliegenden Gesetzentwurfs empfohlen, also auch mit den Stimmen der CDU/CSU wie auch der F.D.P. Herr Mayer und Herr Friedrich, das begrüße ich ausdrücklich. Mit der Anhebung der Bedarfssätze um 2 Prozent und der Freibeträge um 6 Prozent zum Herbst 1999 verhindern wir, wie gesagt, zunächst einmal ein weiteres Sinken der Gefördertenquote. Aber wir tun noch mehr: Wir korrigieren die ärgsten Fehlentwicklungen der 18. BAföG-Novelle. ({6}) Ich will die Korrekturen kurz in Erinnerung rufen: Erstens. Studierende, die zum Studieren ins Ausland gehen, werden für ihr Engagement nicht länger bestraft. ({7}) Künftig bleibt ein Auslandsaufenthalt bis zu einem Jahr bei der Förderungshöchstdauer wieder unberücksichtigt. Das halten wir für dringend notwendig, weil wir es für richtig und wünschenswert halten, wenn auch Studierende, die BAföG beziehen, ins Ausland gehen. ({8}) Zweitens. Wenn ein wichtiger Grund vorliegt, kann bis zu Beginn des vierten Fachsemesters die FachrichMaritta Böttcher tung ohne finanzielle Nachteile gewechselt werden. Das ist nach allen vorliegenden empirischen Untersuchungen eine richtige Entscheidung, weil es besser ist, daß Studierende nach dem vierten Fachsemester wechseln können, als wenn sie ein Studium zu Ende führen, das ihnen erkennbar keine Beschäftigungschance ermöglicht oder für das sie erkennbar nicht geeignet sind. Drittens. Die Arbeit in Gremien und in der studentischen Selbstverwaltung wird nicht länger mit der Förderungsart „Bankdarlehen“ bestraft. Ich sage ganz klar: Ich möchte, daß sich Studierende politisch engagieren. ({9}) Ich möchte, daß Studierende in Fachschaftsbeiräten tätig sind und sich dort engagieren. Ich möchte, daß sie im AStA mitwirken. ({10}) Deshalb habe ich mich sehr darüber geärgert, daß Sie damals einen Beschluß gefaßt haben, mit dem genau dieses ehrenamtliche Engagement, von dem unsere Gesellschaft lebt, bestraft wurde. Deshalb korrigieren und verändern wir dies. ({11}) Viertens. Die befristet eingeführte Studienabschlußförderung wird um zwei Jahre verlängert.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Bulmahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Möllemann?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Gerne.

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Bundesministerin, können Sie sich so wie ich auf Grund eigener Erfahrungen nicht vorstellen, daß es sehr wohl möglich ist, sich während seiner Studienzeit in einem AStA oder in einer Fachschaft zu engagieren, ohne die Dauer des Studiums und damit auch die der Förderung zwangsläufig zu verlängern? Können Sie sich vorstellen, daß die von Ihnen vorgenommene Gleichsetzung einer Veränderung des Förderpassus mit einer Ablehnung des politischen Engagements nicht auf die Zustimmung derer stoßen kann ({0}) - ich weiß, hier sind eine ganze Menge in allen Fraktionen -, die sich im Studium politisch engagiert haben, ohne deswegen eine längere Förderung bekommen zu haben? Ich halte es für überzogen zu sagen, man braucht eine längere BAföG-Förderung, wenn man sich in einem Studentenparlament oder im AStA engagieren will. Ich halte diese Gleichsetzung für nicht gerechtfertigt. ({1})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Herr Möllemann, wenn man sich sehr stark engagiert - es gibt immer Phasen, in denen man sehr viel Zeit aufwenden muß; das wissen Sie doch auch, denn Sie haben im AStA an vorderster Front mitgearbeitet -, dann bringt das einen sehr hohen Zeitaufwand mit sich. Dann muß man die Rahmenbedingungen so gestalten, daß sich das Engagement nicht zum Nachteil von Studenten auswirkt, die BAföG beziehen. ({0}) Ich möchte nicht, daß wir in eine Situation geraten, in der sich diejenigen, die BAföG erhalten, entscheiden müssen, solche Tätigkeiten und Aufgaben nicht mehr zu übernehmen, weil sie Angst haben müssen, keine Förderung mehr zu erhalten. Ich sage Ihnen ganz klar: Das möchte ich nicht. ({1}) Ich möchte, daß sich Studierende, die BAföG erhalten, nicht aus finanziellen Gründen gegen ein Engagement in Fachschaftsbeiräten oder im AStA entscheiden, sondern daß sie, wenn sie wollen, die gleichen Chancen haben. Von daher halte ich die Entscheidung, die wir getroffen haben, für genau richtig. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der Kollege Möllemann möchte nachfragen.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Aber bitte, eine weitere Frage. ({0})

Jürgen W. Möllemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001520, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Unterschied zwischen damals und heute ist an uns beiden sichtbar, Herr Kollege. Das weiß ich. ({0}) Ich wollte die Ministerin, da sie eine Bemerkung gemacht hat, die ich nicht anders als durch eine Frage aufklären kann, fragen: Sind Sie der Meinung, daß die Tatsache, im Studienjahr 1967/68 AStA-Vorsitzender gewesen zu sein, vielleicht doch belegt, daß es machbar war, ohne zusätzliche Förderung zu bekommen? Das war doch nun wirklich ein Jahr, in dem sehr viel Engagement angesagt war. ({1}) Ich bleibe dabei: Studentinnen und Studenten können sich politisch engagieren, ohne dafür staatliche Mittel bekommen zu müssen. ({2})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Herr Möllemann, da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht studierte, müssen Sie diese Diskussion mit dem Kollegen Wolf-Michael Catenhusen führen. ({0}) Er war, soweit ich weiß, mit Ihnen gemeinsam im AStA. ({1}) - Nein? Ich nehme alles zurück. Herr Kollege Möllemann, ich weiß, wovon ich rede, weil ich zu denjenigen gehöre, die BAföG erhalten haben. Deshalb weiß ich, daß man mit BAföG wahrlich keine großen Sprünge machen kann und eigentlich immer noch nebenbei arbeiten muß, zumindest in den Semesterferien. Ich erinnere, daß ich ein hohes Arbeitspensum während des Semesters aufwenden mußte und daß es manchmal nicht ganz einfach war, beides miteinander zu kombinieren. Mein Ziel ist es daher, Studierende, die BaföG beziehen, nicht davon auszuschließen, sich politisch zu engagieren. Ich will, daß sie sich in den studentischen Verwaltungsgremien und -organisationen engagieren; denn ich halte es für eine tragende Säule unserer Gesellschaft, daß es Menschen gibt, die sich ehrenamtlich betätigen. Deshalb - ich kann das nur wiederholen ist das die richtige Entscheidung. ({2}) Mein nächster Punkt ist die Bitte des Bundesrats, zu prüfen, ob die Bankdarlehen insgesamt abgeschafft und Wohnzuschläge für Studierende, die zu Hause wohnen, in den neuen und alten Ländern angeglichen werden sollen. Dazu möchte ich - auch Frau Pieper hat darauf hingewiesen - folgendes sagen: Für diejenigen Studierenden, die in den neuen Bundesländern auswärtig wohnen und für die das ein Problem darstellen kann, ist bereits für einen Ausgleich gesorgt. Diese Studierenden erhalten die Differenz über die sogenannte Härtefallregelung. Für sie gibt es keine Schlechterstellung gegenüber den Studierenden in den alten Bundesländern. Ich finde, das muß man einfach zur Kenntnis nehmen. Es ist nämlich falsch, was hier teilweise behauptet wird. Auch für die Jugendlichen, die zu Hause wohnen, gibt es einen Ausgleich, der über die Wohngelderstattung für die Eltern, also für die gesamte Familie, erfolgt. Es ist für beide Gruppen bereits ein Ausgleich geschaffen worden, und deshalb verstehe ich nicht - das sage ich ganz offen -, was Sie machen. Das entbehrt wirklich jeder sachlichen Grundlage. Ich habe gesagt, daß wir mit der BAföG-Erhebung nach § 35 genau nachprüfen werden, ob die von mir eben geschilderten Regelungen tatsächlich ausreichen oder ob es Einzelfälle gibt, in denen eine ungerechte Situation entsteht. ({3}) - Auf die Erhebung, mit der wir das überprüfen wollen, habe ich mich gerade bezogen. Wir werden mit der BAföG-Erhebung nach § 35 überprüfen, ob es noch Einzelfälle gibt, die durch die beiden Regelungen nicht berührt sind. Sollte das der Fall sein, werden wir das aufgreifen und eine Änderung vornehmen. Ich habe bereits in der letzten Debatte angekündigt, daß wir im Rahmen der Strukturnovelle für ein einheitliches System in Ost- und Westdeutschland Sorge tragen werden. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Bulmahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Jawohl. Ich bitte Sie aber, die Uhr nicht wieder weiterlaufen zu lassen.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, abgesehen davon, daß es Wohngeld auch für Studierende in den alten Bundesländern gibt, frage ich Sie, ob Sie es nicht als befremdlich empfinden, daß im Bundesrat selbst Kultusminister der SPD-geführten Länder das, was wir heute im Hinblick auf die Angleichung der Zuschüsse für Unterkünfte für die Studierenden in den neuen Ländern fordern, ebenfalls gefordert haben. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sie wollen mit ihrer Forderung das Verfahren erreichen, das ich mit der Strukturnovelle erreichen möchte. ({0}) Im Augenblick müssen die Studierenden in den neuen Bundesländern auf die sogenannte Härtefallregelung zurückgreifen, wenn sie auswärts wohnen. Darüber werden sie auch von den BAföG-Ämtern informiert, so daß eine Förderung nicht daran scheitern kann, daß sie diese Regelung nicht kennen. Aber dies bedeutet einen zusätzlichen Aufwand, den ich im Rahmen der Strukturnovelle bereinigen möchte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Auch die Kollegin Pieper hat das Bedürfnis nach einer Nachfrage.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Tatsache ist, daß in Ost und West unterschiedliche Regelungen gelten. Mit anderen Worten, Sie beurteilen die Studierenden in den neuen Ländern als Studierende zweiter Klasse. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Frau Pieper, es macht überhaupt keinen Sinn, wenn man sich hier gegenseitig diffamiert. Auch wenn Sie einen solchen Versuch unternommen haben, werde ich mich zurückhalten; ({0}) denn dies dient weder der Sache noch dem politischen Stil in diesem Haus. Deshalb gehe jetzt ich auf Ihre Bemerkung nicht weiter ein. Strukturelle Veränderungen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sind notwendig. Das wird über Parteigrenzen hinweg inzwischen von keinem Bildungspolitiker mehr ernsthaft bestritten. Ich habe auch genau hingehört, als der Kollege Mayer anläßlich der ersten Lesung Aufgeschlossenheit für neue Modelle und Strukturen der Ausbildungsförderung bekundet hat, zum Beispiel für unseren Vorschlag, den erwachsenen Studierenden die finanziellen Leistungen des Kindergeldes künftig direkt auszuzahlen. Solche Äußerungen - ich meine nicht die der Kollegin Pieper, die wirklich abseits jeder Wirklichkeit und Wahrheit stehen -, wie Sie sie, Herr Mayer, gemacht haben - ({1}) - Frau Pieper, ich habe zu den Studierenden in den neuen Bundesländern eine deutliche Aussage gemacht. Aber ich bin nicht bereit, mir hier Lügen oder besser Vorwürfe anzuhören, die jeder realistischen Grundlage und jedes Wahrheitsgehaltes entbehren. ({2}) Sorry, das muß sich eine Ministerin auch von einer Parlamentarierin nicht bieten lassen. ({3}) Die Studierenden in Ost- und Westdeutschland erhalten dieselben BAföG-Sätze. Das ist notwendig, und wir wollen das auch. Die Studierenden erhalten über die Härtefallregelung einen Ausgleich, wenn sie mehr Miete bezahlen müssen. Wenn eine Parlamentarierin dies nicht begreift, dann bitte ich sie, es nachzulesen. Wenn Sie es dann noch einmal und vielleicht auch ein drittes Mal nachlesen, dann werden Sie es wohl verstanden haben. ({4}) Wir sollten hier wirklich darüber diskutieren, wie wir die Ausbildungsförderung insgesamt verbessern, weil das der eigentliche Anspruch ist. Ich will noch eine andere Bemerkung machen. Es ist sehr schwer zu ertragen, daß die Opposition in dieser Debatte jetzt so tut, als wenn sie an der Spitze der Reformen stünde; schließlich war es die Vorgängerregierung, die 16 Jahre lang die Strukturreform nicht angepackt und es in den vier Jahren der letzten Legislaturperiode nicht geschafft hat, eine Strukturreform zu beschließen, obwohl es dafür im gesamten Parlament eine breite Unterstützung gab. ({5}) Jeder vernünftige Mensch fragt sich: Warum jetzt auf einmal und warum nicht in den letzten vier Jahren? ({6}) Das von uns geplante neue System der Ausbildungsförderung muß für die Auszubildenden, für ihre Eltern und für die Gesellschaft insgesamt transparent, nachvollziehbar und vor allen Dingen auch sozial gerecht sein. Es muß Verteilungsgerechtigkeit zugunsten unterer und mittlerer Einkommensschichten schaffen. Wir wollen gleichzeitig mit dieser Reform eine Vereinfachung der gesetzlichen Vorschriften, des Verwaltungsvollzuges und eine Stärkung der elternunabhängigen Förderung erreichen. Mit der von uns angestrebten großen BAföG-Reform wollen wir folgende Ziele erreichen: Kindbezogene staatliche Leistungen sollen in Form eines Ausbildungsgeldes direkt an die Studierenden gezahlt werden. Vor allen Dingen diejenigen, die aus den einkommensschwächsten Familien kommen und eine einkommensabhängige Förderung erhalten, sollen in Zukunft einen höheren Zuschuß und ein geringeres Darlehen erhalten. Das heißt, wir werden das Verhältnis von Zuschuß zu Darlehen, das im Augenblick für alle 50 : 50 beträgt, verändern. Nach unseren Vorstellungen wird in Zukunft für die einkommensschwächsten Familien der Zuschuß höher und das Darlehen geringer sein. Das ist ein Stück Herstellung von sozialer Gerechtigkeit. ({7}) Wir wollen die Einkommensgrenzen der Eltern für den Anspruch auf volle BAföG-Leistung heben. In diesem Zusammenhang möchte ich eine kurze Anmerkung zum Thema Studiengebühren machen. Studiengebühren für ein Erststudium, das in angemessener Zeit abgeschlossen wird, sind mit unseren Grundvorstellungen zur Öffnung der Hochschulen für alle Gesellschaftsschichten nicht vereinbar. ({8}) Ich freue mich, daß mir die Kultusministerkonferenz in diesem Punkt zugestimmt hat und daß es eine breite Übereinstimmung gab, einen Staatsvertrag zu schließen, mit dem das Verbot der Erhebung von Studiengebühren für das Grundstudium festgeschrieben wird. Im übrigen: Alle Länder haben diese Auffassung geteilt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Bulmahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Aigner?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Ja.

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, können Sie mir den Unterschied zwischen Verwaltungsgebühren an den niedersächsischen Universitäten und Studiengebühren, insbesondere was die Auswirkungen auf die Studierenden angeht, erklären? ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Den Unterschied kann ich Ihnen erklären: Verwaltungsgebühren kann man nicht beliebig erhöhen; vielmehr müssen sie den tatsächlichen Verwaltungsaufwand ganz genau widerspiegeln. ({0}) Das heißt, man kann sie nicht einfach festlegen; vielmehr müssen sie im Unterschied zu Studiengebühren dem Kostenaufwand entsprechen. Sie wissen, daß die Kosten für einen Studienplatz zwischen 5 000 DM und 50 000 DM pro Jahr variieren. Die Spannbreite ist also sehr groß. Die Grundlagen für Studiengebühren müssen nicht im Detail belegt werden, sie sind viel höher, haben eine studienabschreckende Wirkung und führen zu sozialer Ungerechtigkeit. Das alles trifft auf Verwaltungsgebühren nicht zu, weil ihre Höhe ganz klar begrenzt ist. ({1}) Ich habe selber gesagt, daß ich Verwaltungsgebühren zur Zeit für ein falsches Signal halte, weil sie die Diskussion um Studiengebühren in eine Richtung lenken, die wir alle in diesem Parlament nicht wollen. Wir waren uns darin einig. ({2}) Das Land Niedersachsen wird einen Staatsvertrag unterschreiben, nach dem das Erheben von Studiengebühren für das Grundstudium ausgeschlossen werden wird. ({3}) - Auch das Land Niedersachsen wird sich dem Verbot der Erhebung von Studiengebühren in einem Staatsvertrag anschließen. Das habe ich sehr deutlich gesagt. ({4}) Unsere Gesellschaft befindet sich an einem Scheideweg. Sie braucht Innovationen für Arbeit, Umwelt und einen modernen Sozialstaat. Wer einen Reformaufbruch in der Gesellschaft will, der muß die Hochschulen dafür begeistern und mobilisieren. Wer eine Erneuerung der Hochschulen will, muß die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die nachwachsende Akademikergeneration am gesellschaftlichen Diskurs, an Problemlösungen und der Gestaltung unserer Zukunft beteiligen. Reform unserer Gesellschaft und Erneuerung der Hochschulen sind gleichermaßen angewiesen auf die Qualifikation, Kreativität und Motivation dieser wichtigen Meinungs- und Leistungsträger. Die Hochschulen spielen eine Schlüsselrolle für die Ausbildung hochqualifizierter Arbeitskräfte, die in einer Gesellschaft, in der Wissen eine immer größere Bedeutung hat, dringend benötigt werden. Die Forschung an den Hochschulen bildet das Fundament für unser Forschungssystem. Wenn wir die Leistungsfähigkeit der Hochschulen verbessern wollen, dann muß den Hochschulen ein größtmögliches Maß an Autonomie eingeräumt werden, damit sie diese Aufgaben auch wirklich bewältigen können. ({5}) Das geht nicht ohne eine Reform der Personalstruktur und des Dienstrechts an den Hochschulen. ({6}) Wissenschaftler müssen mobil sein. Unser derzeitiges Dienst- und Besoldungsrecht bestraft aber Mobilität. ({7}) Wir brauchen jedoch einen Wechsel zwischen Hochschulen in verschiedenen Ländern. ({8}) Wir brauchen einen Wechsel zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. ({9}) Deshalb brauchen wir eine Reform des Dienstrechts und des Besoldungsrechts sowie der Personalstruktur. ({10}) Exzellente Lehre und Forschung an der Hochschule muß unserer Meinung nach honoriert werden. Deshalb plädiere ich dafür, daß ein Teil des Hochschullehrergehalts künftig leistungsbezogen gezahlt wird. Die lange und mühsame Habilitationsphase, die wir in der Bundesrepublik haben, mindert zur Zeit ganz deutlich die Attraktivität des Hochschullehrerberufs. Habilitierte sind in der Regel über 40 Jahre alt. Hochqualifizierter Nachwuchs kehrt deshalb der Hochschule inzwischen häufig den Rücken, sobald sich eine interessante Stelle in der Wirtschaft oder an ausländischen Hochschulen findet. Deshalb bin ich für die Einführung von Assistenzprofessuren. Deutschland muß wieder zu einem attraktiven Standort für internationale Forschungsinvestitionen werden. Mit einer stärkeren Internationalisierung der deutschen Hochschulen wollen wir die besten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei uns halten oder für uns gewinnen. Neben der notwendigen Einführung internationaler Studiengänge und Abschlüsse werden daher die Mittel zur Finanzierung von Stipendien für Ausländer in den nächsten Jahren aufgestockt. ({11}) Im Wettbewerb der Hochschulen müssen Qualität in Lehre und Forschung, gute Betreuung der Studierenden und eine moderne Ausstattung die wichtigsten Kriterien sein. Lassen Sie uns die Chance, die wir auf Grund des bevorstehenden Generationenwechsels an den Hochschulen haben, nutzen. Robert May, Wissenschaftsberater von Tony Blair, hat mit dem kritischen Blick von außen die Situation des deutschen Wissenschaftssystems sehr treffend, wie ich meine, analysiert. Er sagt: Das von strengen Hierarchien geprägte System nutzt die Energie junger Leute nicht. Es ist hocheffektiv für etablierte Forscher in Spitzenpositionen, die auf die Sklavendienste Jüngerer zurückgreifen können. Aber die deutsche Forschung insgesamt wäre vermutlich effektiver, wenn man den älteren Wissenschaftlern das Leben weniger angenehm machen und den jüngeren Leuten mehr Freiheit geben würde. Ich halte diese Aussage von ihrer Tendenz her für richtig. ({12}) Deshalb werden wir bei der Nachwuchsförderung neue Wege beschreiten. Eigenständigkeit und Selbständigkeit stehen dabei im Vordergrund. Nachwuchswissenschaftler und Nachwuchswissenschaftlerinnen müssen mehr Möglichkeiten haben, in eigenen Forschergruppen unabhängig von althergebrachten Strukturen zu arbeiten. Mit dem in diesem Jahr beginnenden EmmyNoether-Programm werden wir die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich künftige Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer wissenschaftlich qualifizieren können, ohne den Zwängen einer Habilitation unterworfen zu sein. 500 Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler werden mit diesem Programm in den nächsten Jahren gefördert werden. Darüber hinaus werden wir die Förderung der Graduiertenkollegs aufbauen bzw. fortsetzen. Dabei muß völlig klar sein, daß in allen Formen der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses die Durchsetzung von Chancengleichheit für Frauen und Männer ein leitender Grundsatz ist. Um dieses Ziel zu erreichen, halte ich eine gemeinsame Förderung von speziellen frauenspezifischen Maßnahmen durch Bund und Länder auch nach dem Auslaufen des Hochschulsonderprogramms III für erforderlich. ({13}) Die Bundesregierung setzt die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses - ein Kernbereich des Hochschulsonderprogramms III - unter Ausweitung der Mittel fort. Wir werden uns nicht aus unserer Verantwortung für die Weiterentwicklung des Hochschulsystems verabschieden. Wir werden Hochschulförderung als Daueraufgabe und nicht länger als Sonderaufgabe durchführen. ({14}) Ich will noch einen Baustein hinzufügen: Ich bin der Auffassung, daß man, wenn man Kreativität und Eigenverantwortung der Hochschule stärken will, den Wettbewerb zwischen den Hochschulen fördern muß. Bei all diesen Überlegungen ist bisher der Hochschulbau außen vor geblieben. Die Finanzierung des Hochschulbaus wird bei uns aber in einem extrem finanzaufwendigen und zeitaufwendigen Verfahren durchgeführt. Deshalb habe ich die Einführung von Investitionsgutscheinen vorgeschlagen. Mit Investitionsgutscheinen werden den Ländern Mittel des Hochschulbaus zugewiesen, die von bestimmten Studenten- und Studierendenzahlen abhängen sollen. Die Mittel werden dann von den Ländern an die jeweiligen Hochschulen für Investitionsmaßnahmen weitergeleitet. Bei der Gestaltung dieser Investitionsgutscheine gibt es noch eine Reihe von offenen Fragen, die wir in den nächsten Wochen und Monaten sehr sorgfältig behandeln werden. Ich halte es aber für richtig, Überlegungen in diese Richtung anzustellen. Zukunftsorientierte Lösungen sind notwendig. Auch die Frage, wie wir bundesweit relevante Gesichtspunkte berücksichtigen können, werden wir bei unseren Überlegungen aufgreifen und entsprechend berücksichtigen. Das gilt genauso für die Frage, wie wir die spezielle Situation in den neuen Bundesländern, die in den nächsten Jahren noch deutlich mehr Mittel für den Hochschulbau benötigen, entsprechend berücksichtigen können. ({15}) Meine Damen und Herren, zukunftsorientierte Lösungen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich können nur in gemeinsamer Anstrengung von allen im Bildungsund Wissenschaftsbereich Verantwortlichen erreicht werden. Eine Modernisierung unseres Bildungswesens kann nicht allein von oben verordnet werden, sondern es müssen sich alle Betroffenen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft dafür einsetzen. Ich hoffe, daß diese Reformen am Ende dieser Legislaturperiode auch wirksam werden und tatsächlich zu einer Verbesserung der Qualität von Lehre und Forschung in den Hochschulen beitragen. Vielen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Norbert Hauser, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Bulmahn, Sie haben in einer für mich etwas neuen Art und Weise an Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses Noten verteilt. ({0}) Ich weiß nicht, ob das hier üblich ist. ({1}) Eines weiß ich aber: Wenn Sie von Trendwende sprechen, haben Sie hier keine Trendwende des guten Stils eingeleitet. ({2}) Was Sie mit der 20. BAföG-Novelle vorlegen, ({3}) ist unzureichend; es handelt sich um keine Strukturnovelle. ({4}) Damit Sie sehen, wie zutreffend diese Aussage ist, möchte ich einmal den Kollegen Berninger aus der letzten Sitzung am 26. Februar zitieren, als wir über diese Frage diskutiert haben. Ich denke, - so der Kollege Berninger das, was wir vorlegen, ist selbstverständlich unzureichend. Es ist noch keine Strukturnovelle. Was wir vorlegen, reicht überhaupt noch nicht aus. Wir haben in der letzten Legislaturperiode im Vergleich zu dem, was wir heute vorlegen, viel mehr eingefordert. So ist es. Deshalb können Sie sich, Frau Ministerin, auch nicht hier hinstellen und so tun, als hätten Sie der 18. BAföG-Novelle nicht zugestimmt. Ein bißchen von dieser grünen Bescheidenheit hätte der heutigen Debatte, wie ich glaube, wesentlich besser getan, ({5}) als großspurig von Trendwende und vom Einhalten der Versprechen, die Sie im Wahlkampf gemacht haben, zu sprechen. ({6}) Meine Damen und Herren, im Wahlkampf haben Sie davon gesprochen, die Investitionen in die Bildung zu verdoppeln. ({7}) Davon sind Sie meilenweit entfernt. Sie hatten zwar einen sehr guten Ansatz, Frau Ministerin; das wollen wir Ihnen nicht absprechen. ({8}) - Ich hoffe, daß Sie diese Ausgewogenheit auch in ein paar Jahren, wenn Sie wieder in der Opposition sind, zustande bringen können. ({9}) Nur, Frau Ministerin, Sie haben doch schon 75 Millionen DM wieder abgeben müssen. Herr Müller mußte von diesen Mitteln 80 Millionen DM abgeben. Es ist Ihnen bis heute nicht gelungen, eine Finanzplanung vorzulegen. Deshalb können Sie sich heute auch noch nicht hier hinstellen und behaupten, daß Sie eine dauerhafte Förderung im Hochschulbereich, im Studienbereich garantieren können, denn Sie wissen noch nicht, was auf Sie zukommt. Nicht umsonst diskutieren Sie über eine Mehrwertsteuererhöhung, weil Sie nicht wissen, wo Sie die Gelder für die Geschenke herbekommen sollen, die Sie kurz vor Weihnachten in den Nikolausgesetzen verteilt haben. ({10}) Was haben Sie tatsächlich erreicht? Sie heben die Bedarfssätze um 2 Prozent und die Freibeträge um 6 Prozent an. Dies ist eine Leistung, die Sie uns bei der 19. Novelle als völlig ungenügend um die Ohren gehauen haben. Deswegen haben Sie diese Novelle abgelehnt. Diese Anhebung bedeutet 5 DM bis 20 DM mehr; 20 DM in der Höchstforderung - wahrlich eine großartige soziale Leistung. Ein Student, der aus einer Familie mit zwei Kindern und einem Bruttolohn von 2 000 DM kommt, hat auch unter Berücksichtigung der Steuergesetze, die Sie verabschiedet haben, unter dem Strich monatlich 23 DM weniger in der Tasche.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wage es in der Jungfernrede einfach einmal.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bitte um Entschuldigung und gratuliere Ihnen zumindest zum ersten Teil Ihrer Jungfernrede. Aber meine Frage ist: Wie kommt es eigentlich, daß Sie hier so tränenreich die unzureichende Erhöhung für die Studenten beklagen, aber eine Erhöhung des Kindergeldes in gleicher Form als „Nikolausgeschenk“ diffamieren? Ich glaube, das paßt nicht zusammen. ({0})

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Tauss, die Frage verstehe ich wohl. Nur, ich habe bereits darauf hingewiesen, daß Sie heute noch nicht wissen, wie Sie diese Dinge finanzieren sollen, und daß in Ihren Reihen bereits heute darüber nachgedacht wird, die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte anzuheben. Dies bedeutet, daß Sie 30 Milliarden DM von den Geschenken, die Sie verteilt haben, wieder einkassieren. In die linke Tasche rein, aus der rechten Tasche raus - das, Herr Kollege Tauss, ist keine dauerhafte Leistung, sondern das ist Betrug am Wähler. ({0}) Nicht einmal die zusätzliche Belastung der Studenten, die durch die Ökosteuer nur draufzahlen, weil sie bei Norbert Hauser ({1}) den Sozialabgaben nicht entlastet werden, ist in diese 23 DM, die sie mehr bezahlen müssen, einbezogen. So kommt es nicht von ungefähr, daß diese Erhöhung auch von den Studentenorganisationen nicht als ausreichend betrachtet wird. Zu Recht weist der RCDS darauf hin, daß diese Erhöhung von 2 Prozent nicht einmal einen Inflationsausgleich für die Studenten darstellt, weil die Teuerungsraten für Lernmittel höher liegen als die allgemeinen Kostensteigerungen. ({2}) Frau Ministerin, Sie haben in Ihrer Rede am 26. Februar an dieser Stelle allen Ernstes erklärt, daß die Steigerung des BAföG-Höchstsatzes um 20 DM zu einer Verkürzung der Studienzeit führen könne. Sie haben eben einige Kolleginnen und Kollegen hier kritisiert und ihnen vorgeworfen, ihrer Argumentation fehle der Hauch von Vernunft. Ich gehe einmal davon aus, daß Sie das nicht selber geglaubt oder es nicht ernst gemeint haben. Ansonsten müßte ich Ihnen vorwerfen, daß dieser Aussage der Hauch von Vernunft fehlt. Denn was verändern Sie mit 20 DM im Blick auf eine Studienzeitverkürzung? Sie ermöglichen einem hinzuverdienenden Studenten, wenn wir einmal von einem Stundensatz von 15 DM ausgehen, eine Verkürzung seiner Arbeitszeit um eine Stunde und 20 Minuten im Monat. Eine Stunde und zwanzig Minuten - wohlgemerkt: im Monat - sind aufs Jahr gerechnet 16 Stunden. ({3}) Ihr auf diese Weise beglückter Student, Herr Kollege Tauss, hat nach acht Semestern gerade einmal 64 Stunden, also nicht einmal zwei Wochen, mehr Zeit zum Studieren erhalten. ({4}) Das ist ein wahrlich grandioser Beitrag, den Sie zur Studienzeitverkürzung leisten. ({5}) - Herr Kollege Tauss, Ihre Frage ist berechtigt. Wir haben aber nicht, so wie Sie das getan haben, von einer Trendwende und von einem neuen Zeitalter in der Studienfinanzierung gesprochen. ({6}) Sie müssen sich an Ihren Ansprüchen und an Ihren Aussagen messen lassen. ({7}) Frau Bulmahn, wenn Sie wirklich eine Verkürzung der Studienzeit wollen, dann ist dies nur mit wirksamer Unterstützung der Hochschulen möglich. Damit helfen Sie nicht nur den BAföG-Empfängern, sondern allen Studenten. Dies geht natürlich nur in Zusammenarbeit mit den Ländern. Einer der Hauptgründe für die langen Studienzeiten ist die vielfach schlechte Ausstattung der Hochschulen. Volle Hörsäle, schlecht ausgestattete Bibliotheken und Wartezeiten bei der Vergabe von Praktikumsplätzen kennzeichnen leider oft den Hochschulalltag. Hier liegen die Potentiale einer Studienzeitverkürzung. Frau Ministerin, man könnte es ironisch folgendermaßen ausdrücken: Beseitigen Sie den Papierstau in den veralteten Kopiergeräten unserer Hochschulen, und Sie leisten einen größeren Beitrag zur Studienzeitverkürzung, als dies mit der 20. BAföG-Novelle der Fall ist. ({8}) Wir dürfen aber nicht vergessen, daß es sich bei den Geförderten nur um einen Teil der Studierenden handelt. Durchgreifenden Erfolg werden Sie deshalb nur haben, wenn auch für die übrigen Hochschulabsolventen die Studienbedingungen deutlich verbessert werden. Ein richtiger Vorschlag - wir räumen dies durchaus ein - ist sicherlich die Neuregelung der Nichtberücksichtigung von Ausbildungszeiten im Ausland. Aber in diesem Zusammenhang möchte ich Sie daran erinnern, daß Sie damals der 18. Novelle zugestimmt haben, mit der die entsprechende Änderung eingeführt wurde. ({9}) Die Bundesrepublik Deutschland braucht junge Menschen mit Auslandserfahrung. Wissenschaft und Wirtschaft und letztlich auch die Politik leben von internationalen Kontakten. Wenn Sie Studierende als selbständige erwachsene Menschen ansehen wollen, dann behandeln Sie sie auch so. Beliebige Studienabbrüche und Selbstfindungsphasen bis zum 4. Semester zu fördern, wie das durch die geplante Regelung für Fachrichtungswechsel in § 7 Abs. 3 vorgesehen ist, spricht nicht für großes Zutrauen in die Urteilsfähigkeit der Studierenden. Von unseren Auszubildenden verlangen wir eine Berufsentscheidung gegebenenfalls schon mit 16 Jahren nach dem 10. Schuljahr. Dieser 16jährige finanziert drei Jahre später als 19jähriger das Hochschulstudium eines Studenten mit seinen Steuern mit. Ihm müssen Sie erklären, warum Sie den Studierenden eine dreisemestrige Orientierungsphase einräumen wollen. In § 17 des BAföG wollen Sie die Berücksichtigung der Gremienarbeit wieder einführen. Darüber haben wir eben schon gesprochen. Frau Ministerin, Sie möchten, daß sich Studierende engagieren - dazu sage ich ja -, daß sie sich auch in den Gremien der Hochschulen engagieren - dazu sage ich ja -, aber ich frage Sie: Warum werden eigentlich nur die Studenten berücksichtigt, die in Hochschulgremien arbeiten? Sind die in der Kommunalpolitik tätigen Studenten weniger förderungswürdig, obwohl sie sich genauso für die Gesellschaft wie ihre Kommilitonen in den Hochschulgremien einsetzen? ({10}) Wir halten nichts von selektiver Chancengerechtigkeit. Wenn es Ihnen um mehr als um eine vermeintliche Klientelpolitik geht, dann öffnen Sie die Förderung auch für Gremientätigkeit außerhalb der Hochschulen, zum Beispiel in der Kommunalpolitik. ({11}) Norbert Hauser ({12}) Wenn man eine Strukturreform wirklich will, muß man davon abkommen, eine reine Finanzdiskussion zu führen. Wir sind auf dem Weg aus der Industriegesellschaft in die Wissensgesellschaft. Unser Rohstoff Nummer eins ist das Wissen unserer Bürger und ihre Fähigkeit, Innovationen einzuleiten. Wir leben nicht vom Öl, wir leben vom Grips. ({13}) Die Fähigkeit, Wissen zu erwerben und damit umzugehen, bedeutet für unser rohstoffarmes Land die wichtigste Ressource. Eine international wettbewerbsfähige Hochschullandschaft ist für uns überlebenswichtig. ({14}) Die nächsten Monate müssen deshalb dazu genutzt werden, durch eine wirkliche Reformdiskussion Ergebnisse herbeizuführen. Wir brauchen ein deutliches Signal, daß die Bundesrepublik im internationalen Wettbewerb des Wissens mit an der Spitze liegen will. Zu einigen wenigen Aspekten der Reformdiskussion noch kurze Anmerkungen: Sowohl das Drei-Körbe-Modell, in welcher Fassung auch immer, als auch die Vorstellung von Bündnis 90/ Die Grünen zum Bundesausbildungsförderungsfonds basieren auf einer elternunabhängigen Förderung. Kann eine solche elternunabhängige Förderung tatsächlich in unserem Sinne sein? Wir beklagen allenthalben den Verlust an gesellschaftlichen Strukturen und Bindungen. Gleichzeitig wissen wir, daß intakte Familien die besten Garanten für ein erfolgreiches Erwachsenenleben im besten Sinne des Wortes sind, für eine Entwicklung frei von Kriminalität und Drogen, für eine Entwicklung, die letztlich dazu befähigt, das eigene Leben soweit wie überhaupt möglich selbstbestimmt, mit Erfolg in Ausbildung und Beruf zu gestalten. Hieran sollten wir denken, wenn wir über eine elternunabhängige Förderung diskutieren. Wir sollten nicht leichtfertig ein hohes Gut aufgeben. ({15}) Der Zugang zur Hochschule hängt nicht nur von der finanziellen Förderung ab, sondern in sehr vielen Fällen auch vom familiären Umfeld während der Schulzeit. Hier erfolgen oft sehr frühzeitig Weichenstellungen, die erst viel später korrigiert werden können. Die Förderung junger Menschen in ihrer Schulzeit ist ein wesentliches Element des späteren Erfolges. Wir sollten dies bei all unseren Überlegungen zur Reform der Studienfinanzierung nicht vergessen. Zu einem erwachsenen Menschen gehört auch, daß er für sich und seine Familie Vorsorge trifft. Vorsorgeelemente für Alter und Pflege halten wir mittlerweile für selbstverständlich. Auch in einigen Überlegungen zur Studienfinanzierung spielen Vorsorgeelemente eine Rolle. Wir sollten über diese vorurteils- und ideologiefrei diskutieren und prüfen, ob durch sie verbesserte Studienbedingungen für Studenten und Studentinnen erreicht werden können. Einige Vorschläge, zum Beispiel das Drei-KörbeModell, sehen eine Verteilung von Leistungen an jeden vor, unabhängig von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, und tragen damit nicht zu einer größeren sozialen Gerechtigkeit bei. In einem neuen Strukturmodell darf diese Sozialkomponente nicht verwischt werden. Gleichzeitig sollten allen Studierenden, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, Prämien für überragende Studienergebnisse zukommen. Deutschland kann sich im Wettbewerb des Wissens in der Welt nur dann behaupten, wenn bereits im Studium Spitzenleistungen entsprechend gefördert werden. Unabhängig davon, ob Studierende Leistungen nach dem BAföG erhalten oder nicht: Die Leistung, die die Steuerzahler während der Studienzeit für ihn oder sie erbringen, ist enorm und keineswegs selbstverständlich. Eine Reform der Studienfinanzierung hat dieser staatlichen Leistung, letztlich der Leistung aller Steuerzahler, Rechnung zu tragen. Die Studenten und Studentinnen sind, wie wir wissen, in ihrer ganz überwiegenden Zahl auch bereit und in der Lage, durch zügige Abschlüsse und gute Leistungen diesen Anforderungen gerecht zu werden und dadurch nicht zuletzt ihre Berufsaussichten zu verbessern. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist nur ein erster Schritt. Es muß sich eine grundlegende Reformdiskussion über die reinen BAföG-Leistungen hinaus anschließen, die nicht durch ideologische Zwänge im voraus eingeengt werden darf. ({16}) Wie gesagt, die BAföG-Novelle ist nur ein erster kleiner Schritt, der für die BAföG-Empfänger kaum Vorteile bringt. Damit aber wenigstens diese kleine Verbesserung in die Tat umgesetzt wird, stimmt meine Fraktion der Novelle zu. Die Zeit bis zur Vorlage Ihres Entwurfes einer Strukturreform werden wir nutzen, um mit allen Beteiligten Vorschläge zu erarbeiten, wie wir unsere Studentinnen und Studenten und damit die Wissenschaftslandschaft in Deutschland ein wesentliches Stück voranbringen können. Ich danke Ihnen für Ihr engagiertes Zuhören. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Hauser, dies war Ihre erste Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen des gesamten Hauses gratuliere ich Ihnen dazu recht herzlich. ({0}) Als letzter Redner in dieser Debatte spricht nunmehr der Kollege Ernst Dieter Rossmann. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, auch dem letzten Redner vor der namentlichen Abstimmung die entsprechende Aufmerksamkeit zu widmen.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer - wie ich gerade aus den Reihen der Abgeordneten kommt und Norbert Hauser ({0}) gemerkt hat, daß die Mitglieder dieses Hauses nicht mehr sonderlich bereit sind, zu dem gegenwärtigen Thema umfangreiche Debatten zu führen bzw. zu erleiden, der muß sich selbst auch konzentrieren. Deshalb möchte ich nur wenige Punkte an Sie von der CDU/CSU und der F.D.P. richten, da Sie mit Vorwürfen gegenüber der Regierung aufgetreten sind. Erstens. Sie mögen noch so häufig einfordern, es hätte zu weitreichenderen Verbesserungen kommen müssen. Wir antworten Ihnen darauf dann immer gerne, daß 900 Millionen DM mehr für Bildung und Forschung zur Verfügung gestellt werden. ({1}) Das ist eine Qualitätsverbesserung speziell für den wissenschaftlichen Nachwuchs, die es unter Ihrer Ägide nie gegeben hat. Wenn Sie dieses Spiel so fortführen wollen, dann machen wir das gerne mit. Es bestärkt uns immer wieder darin, daß das, was geleistet worden ist, ein schöner Erfolg ist. ({2}) Zweitens. Sie haben angemahnt, daß die Steigerungssätze deutlich höher hätten ausfallen sollen. Angesichts dessen erinnern wir uns an unseren Bezugspunkt. Bezugspunkt ist die letzte Legislaturperiode, in der es durch Beschlüsse der CDU/CSU und der F.D.P. eine Steigerung der Elternfreibeträge um insgesamt 12 Prozent gegeben hat. Wir sagen: Wenn wir im ersten Schritt eine Steigerung um 6 Prozent erreichen, dann ist das ein gutes Ergebnis. Was haben Sie dagegen geleistet, und was leiten wir damit ein? ({3}) Wir sagen Ihnen immer wieder: Sosehr Sie auch die Erhöhung der Bedarfssätze um 2 Prozent - das sind die 2 Prozent von Rüttgers - kritisieren, entscheidend bleibt die absolute Zahl der Studentinnen und Studenten, die jetzt den Anspruch auf BAföG erhalten. Drittens. Manchmal wundern wir uns, wie viele Worte Sie hier machen, um Ihre Zustimmung zu unserem Änderungsgesetz kleinzureden. Wenn man dem Kollegen Hauser, der Kollegin Volquartz und dem Kollegen Möllemann zugehört hat, dann wundert man sich, wie Sie im Ausschuß abgestimmt haben. Auch Sie haben sich dort dafür ausgesprochen, daß die Tätigkeit von Studenten in Gremien nicht zu Bestrafungen führt. ({4}) Sie haben zugestimmt, daß Auslandsstudien nicht mit Bestrafungen versehen werden. Sie haben zugestimmt, daß wir, was die Studienabschlußförderung angeht, weitere Verbesserungen durchführen. Daher sollten Sie hier nicht mit billiger Münze einen anderen Eindruck erwecken. ({5}) Wir meinen, daß sich das, was jetzt beschlossen wird, sehen lassen kann. Es ist besser, ehrlich miteinander umzugehen, statt hier die Legende von 1997 zu pflegen, daß die Länder erwartungslos dem zugestimmt hätten, was wir jetzt reparieren. Die damalige Situation war eine andere. Sie war schlimmerweise von Erpressung und dem großen Versprechen, zu einer grundsätzlichen Verbesserung im Hinblick auf das BAföG zu kommen, geprägt. Nichts von dem ist eingetreten. In bezug auf das Verhältnis zwischen den beiden Kammern, zwischen Bundestag und Bundesrat, soll ein neuer Stil eingeführt werden. Man sollte diesen Stil dann so pflegen - das ist speziell an die Adresse der Kollegin Pieper von der F.D.P. gerichtet -, daß man den Bundesrat nicht für etwas in Anspruch nimmt, was er nicht wollte. Der Bundesrat hat ausdrücklich nicht gesagt, daß er eine grundsätzliche Anhebung des Wohngeldes will, sondern nur für einen kleinen Teil, nämlich für denjenigen Teil der Studierenden, die zu Hause wohnen. Diese erste kleine BAföG-Novelle unserer Regierung ist so gut, daß wir sie abhaken können, wenn wir sie nicht überhöhen, was wir nicht tun. Eine Bemerkung möchte ich noch machen; denn es wird hier immer eingefordert, die Regierungskoalition solle endlich das vorgesehene BAföG-Strukturkonzept auf den Weg bringen. Dazu denke ich mir manchmal: Auch Sie von der CDU/CSU sollten einmal etwas auf den Weg bringen und Ihre Eckpunkte präsentieren. ({6}) Noch eine Bemerkung an die F.D.P.: Nehmen Sie Ihre Eckpunkte, die Sie hier dargestellt haben, bitte so ernst, daß man, wenn Sie mit wenigen Fragen konfrontiert werden, nicht merkt: Neue Entwicklungen haben Sie nicht aufgenommen. Gewiß, Sie sprechen davon, daß es als Grundsockel ein Ausbildungsgeld geben solle. Das setzen Sie jetzt ziemlich freihändig mit 400 DM an. Darf man Sie fragen, ob Sie den Beschluß des Verfassungsgerichts zur Familienbesteuerung eigentlich gedanklich durchdrungen haben? Wenn man alle Freibeträge, die bei Spitzeneinkommen anfallen können - einschließlich des abgesenkten Steuersatzes, den wir erwarten -, zusammennimmt, kommt man nämlich als Äquivalent auf einen Kindergeldbetrag in Höhe von 514 DM. Wie wollen Sie daran eigentlich herankommen, wenn Sie einen Sockelbetrag von 400 DM, der alles einschließen soll - das entnehme ich Ihrer Drucksache -, was jetzt in der Form von Kindergeld und Freibeträgen Eltern ausgezahlt wird, vorsehen? Ihr Sockelbetrag beläuft sich auf 400 DM, aber nach dem Verfassungsgerichtsbeschluß müßten es 514 DM sein. Dieses Problem zeigt, daß es auch Ihnen gut anstehen würde, länger darüber nachzudenken. ({7}) Mein letzter Abschnitt: Wir teilen Überlegungen dahin gehend, zu einem Ausbildungsgeld zu kommen, das elternunabhängig ist. Wir haben ja noch die Bemerkungen der Kollegen Friedrich, Mayer und weiterer Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion, die das eben gesagt haben, im Ohr, die meinen: Dann nehmen wir doch die jungen Erwachsenen ernst. Sie ernst nehmen heißt eben auch, ihnen eine Verfügung über diese Mittel zuzugestehen. Orientieren wir uns am nordischen Modell. Denn in den nordischen Ländern Europas, Dänemark, SchweDr. Ernst Dieter Rossmann den, Finnland, gibt es eine elternunabhängige Förderung. Wir sollten das nicht kleinreden. Wir greifen aber auch den Gedanken auf - er ist ja auch von konservativer Seite angesprochen worden -, daß es dann keinen Unterschied mehr zwischen denjenigen, die bisher - elternabhängig - BAföG bekommen haben, und denen, die Kindergeld und Freibeträge für ihre Familien bekommen haben, dahin gehend geben darf, daß sich für sie aus diesen staatlichen Transfers Verpflichtungen ergeben. Dann haben beide, die BAföG-Bezieher wie die Ausbildungsgeldbezieher, Nachweise darüber zu erbringen, daß sie ihr Studium ernsthaft betreiben. Diesen Gedanken von Ihnen übernehmen wir gern. Der zweite Block bei Ihnen, die Ausbildungshilfe, ist auch bei uns fest verankert. Es bleibt ja das eigentliche BAföG. Wir müssen ja einen Spielraum dafür haben, in diesem Bereich die Freibeträge so festzusetzen, daß von der Ausbildungshilfe auch diejenigen erfaßt werden, die ihrer in sozialer Hinsicht bedürfen, bis hin zu den Beziehern kleinerer und mittlerer Einkommen in den Mittelschichten. Wir wenden uns allerdings dagegen, es so vorzusehen, wie es die F.D.P. jetzt will, die den Darlehensanteil erhöhen und den Zuschußanteil senken will. Wir sind aber sehr wohl dafür - das hat die Ministerin angesprochen -, die Lasten für diejenigen, die wegen der eventuellen Rückzahlung eines großen Darlehensanteils gegebenenfalls vor einem Studium zurückschrecken könnten, zu mindern, weil es sich dabei um Personen handelt, die ohnehin aus finanziell schwächer gestellten Familien kommen. Die Überlegung ist ja durchaus auch von den Grünen angestoßen worden - das ist bemerkenswert -, ob jemand nicht dann, wenn er Aufsteiger geworden ist - das wollen wir ihm gern gönnen -, später, bei der Abzahlung, einen entsprechend höheren Beitrag leisten kann. Die dritte Fördermöglichkeit ist bei uns weiterhin die Studienabschlußförderung. Darf man die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. fragen, ob sie das wirklich ernst meinen, eine Studiendauer von neun Semester Regelstudienzeit plus zwei Prüfungssemester automatisch in die Förderung einzubeziehen? Das steht in Ihrem Antrag. Liebe Frau Kollegin Pieper, diesen Vorschlag von Ihrer Seite, der eine Studienabschlußförderung als Regelförderung vorsieht - dazu kommen noch die zwei Prüfungssemester -, können wir nicht ganz ernst nehmen. Denn dann kommen Sie faktisch auf eine Regelstudienzeit von elf Semestern, eingeschlossen zwei Prüfungssemester. Ich wollte das nur als Beispiel dafür anführen, daß man, wenn man sich mit Ihrem Antrag ernsthaft auseinandersetzt, merkt: Er ist mit heißer Nadel gestrickt; er ist nicht ausgewogen; er berücksichtigt nicht die grundsätzlichen Urteile der Gerichte. Es werden auch nicht die grundsätzlichen Fragen aufgegriffen, deren Beantwortung wir von einer BAföG-Reform erwarten. Ich nenne einige: Wie können wir Teilzeitstudiengänge berücksichtigen? Wie können wir dem modernen Studium gerecht werden, das in seinem Ablauf die soziale Wirklichkeit vieler Studenten widerspiegelt? Wie kann man dem wachsendem Interesse am Auslandsstudium gerecht werden? Wie können wir es schaffen, daß junge Menschen, die nicht nur für kurze Zeit, sondern auch länger im Ausland studieren, von der Förderung erfaßt werden? Wie bekommen wir es hin, daß Kindererziehungszeiten und andere soziale Verpflichtungen vom BAföG erfaßt werden? Mein Schlußsatz. Das Stöckchen, das die F.D.P. uns hinhalten will in der Form einer namentlichen Abstimmung, ist ein schwaches Stöckchen; denn wir haben ihm schon die Spitze gebrochen. Der Antrag, den die F.D.P. uns hinsichtlich einer grundsätzlichen Strukturreform vorlegt, ist zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht, weil uns allen zuvor grundsätzliches Nachdenken gut ansteht. Danke schön. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, Drucksachen 14/371 und 14/581 Buchstabe a. Ich weise darauf hin, daß es dazu zwei namentliche Abstimmungen gibt. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor, über den wir zunächst abstimmen. Die Fraktion der F.D.P. verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. zu dem Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf Drucksache 14/651 bekannt. Abgegebene Stimmen 582. Mit Ja haben gestimmt 280, mit Nein haben gestimmt 302, Enthaltungen keine. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 582; davon ja: 280 nein: 302 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Peter Altmaier Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Dr. Norbert Blüm Dr. Maria Böhmer Sylvia Bonitz Wolfgang Börnsen ({0}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler ({1}) Hartmut Büttner ({2}) Cajus Caesar Peter H. Carstensen ({3}) Leo Dautzenberg Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Albert Deß Wilhelm Dietzel Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Ulf Fink Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({4}) Axel Fischer ({5}) Dr. Gerhard Friedrich ({6}) ({7}) Jochen-Konrad Fromme Dr. Jürgen Gehb Dr. Heiner Geißler Georg Girisch Michael Glos Dr. Reinhard Göhner Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Hermann Gröhe Manfred Grund Gottfried Haschke ({8}) Gerda Hasselfeldt Norbert Hauser ({9}) Hansgeorg Hauser ({10}) Klaus-Jürgen Hedrich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Peter Hintze Klaus Hofbauer Martin Hohmann Klaus Holetschek Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster Hubert Hüppe Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Dr. Harald Kahl Dr. Dietmar Kansy Irmgard Karwatzki Volker Kauder Ulrich Klinkert Dr. Helmut Kohl Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Dr. Martina Krogmann Dr. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({11}) Dr. Norbert Lammert Karl-Josef Laumann Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({12}) Eduard Lintner Dr. Klaus Lippold ({13}) Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann ({14}) Julius Louven Dr. Michael Luther Dr. Martin Mayer ({15}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Bernward Müller ({16}) Elmar Müller ({17}) Bernd Neumann ({18}) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Eduard Oswald Norbert Otto ({19}) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Christa Reichard ({20}) Katherina Reiche Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch ({21}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt Rossmanith Dr. Christian Ruck Volker Rühe Dr. Jürgen Rüttgers Anita Schäfer Hartmut Schauerte Heinz Schemken Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({22}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({23}) Andreas Schmidt ({24}) Hans Peter Schmitz ({25}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Heinz Seiffert Werner Siemann Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Dr. Rita Süssmuth Dr. Susanne Tiemann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Gunnar Uldall Arnold Vaatz Andrea Voßhoff Dr. Theodor Waigel Peter Weiß ({26}) Gerald Weiß ({27}) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({28}) Hans-Otto Wilhelm ({29}) Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({30}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller F.D.P. Hildebrecht Braun ({31}) Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Ulrike Flach Gisela Frick Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({32}) Rainer Funke Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({33}) Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich Birgit Homburger Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Gudrun Kopp Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dirk Niebel Günter Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({34}) Detlef Parr Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Gerhard Schüßler Dr. Irmgard Schwaetzer Marita Sehn Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Vizepräsidentin Petra Bläss Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle PDS Dr. Dietmar Bartsch Maritta Böttcher Roland Claus Dr. Heinrich Fink Dr. Ruth Fuchs Fred Gebhardt Wolfgang Gehrcke-Reymann Dr. Klaus Grehn Dr. Barbara Höll Carsten Hübner Sabine Jünger Gerhard Jüttemann Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Kutzmutz Heidi Lippmann-Kasten Ursula Lötzer Heidemarie Lüth Manfred Müller ({35}) Kersten Naumann Christine Ostrowski Petra Pau Christina Schenk Gustav-Adolf Schur Dr. Ilja Seifert Dr. Winfried Wolf Nein SPD Brigitte Adler Gerd Andres Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({36}) Klaus Barthel ({37}) Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({38}) Kurt Bodewig Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Dr. Eberhard Brecht Rainer Brinkmann ({39}) Bernhard Brinkmann ({40}) Hans-Günter Bruckmann Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({41}) Wolf-Michael Catenhusen Dr. Peter Wilhelm Danckert Christel Deichmann Peter Dreßen Rudolf Dreßler Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Sebastian Edathy Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Petra Ernstberger Annette Faße Lothar Fischer ({42}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({43}) Harald Friese Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({44}) Angelika Graf ({45}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Karl-Hermann Haack ({46}) Hans-Joachim Hacker Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Monika Heubaum Uwe Hiksch Reinhold Hiller ({47}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({48}) Walter Hoffmann ({49}) Frank Hofmann ({50}) Ingrid Holzhüter Eike Hovermann Christel Humme Lothar Ibrügger Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Dr. Uwe Jens Volker Jung ({51}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Hans-Ulrich Klose Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({52}) Detlev von Larcher Christine Lehder Robert Leidinger Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({53}) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({54}) Winfried Mante Tobias Marhold Ulrike Mascher Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer ({55}) Ursula Mogg Christoph Moosbauer Siegmar Mosdorf Michael Müller ({56}) Jutta Müller ({57}) Christian Müller ({58}) Franz Müntefering Andrea Maria Nahles Volker Neumann ({59}) Gerhard Neumann ({60}) Dr. Edith Niehuis Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Eckhard Ohl Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Andreas Pflug Joachim Poß Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe René Röspel Michael Roth ({61}) Birgit Roth ({62}) Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Otto Schily Dieter Schloten Horst Schmidbauer ({63}) Ulla Schmidt ({64}) Silvia Schmidt ({65}) Dagmar Schmidt ({66}) Wilhelm Schmidt ({67}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({68}) Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Dr. Mathias Schubert Brigitte Schulte ({69}) Reinhard Schultz ({70}) Volkmar Schultz ({71}) Ilse Schumann Dr. R. Werner Schuster Ernst Schwanhold Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Joachim Stünker Joachim Tappe Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Adelheid Tröscher Rüdiger Veit Simone Violka Ute Vogt ({72}) Vizepräsidentin Petra Bläss Hedi Wegener Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({73}) Matthias Weisheit Gert Weisskirchen ({74}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Hans-Joachim Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek ({75}) Jürgen Wieczorek ({76}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Heino Wiese ({77}) Klaus Wiesehügel Brigitte Wimmer ({78}) Engelbert Clemens Wistuba Barbara Wittig Verena Wohlleben Hanna Wolf ({79}) Waltraud Wolff ({80}) Heidemarie Wright Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Gila Altmann ({81}) Marieluise Beck ({82}) Volker Beck ({83}) Matthias Berninger Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Andrea Fischer ({84}) Katrin Göring-Eckardt Rita Grießhaber Kristin Heyne Ulrike Höfken Michaele Hustedt Monika Knoche Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske Klaus Wolfgang Müller ({85}) Kerstin Müller ({86}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Cem Özdemir Simone Probst Claudia Roth ({87}) Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({88}) Werner Schulz ({89}) Christian Simmert Christian Sterzing Dr. Antje Vollmer Ludger Volmer Sylvia Ingeborg Voß Helmut Wilhelm ({90}) ({91}) Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPU Abgeordnete Adam, Ulrich, CDU/CSU Hempelmann, Rolf, SPD Dr. Wodarg, Wolfgang, SPD Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen verlangen namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben. Wir setzen die Beratungen fort. Ich bitte Sie, dafür die Plätze wieder einzunehmen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Reform des Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf der Drucksache 14/581 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/358 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion der PDS angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Umsetzung der Reform der Ausbildungsförderung auf der Drucksache 14/581 Buchstabe c. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/398 ({92}) abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich unterbreche jetzt die Sitzung bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung für einige wenige Minuten. ({93})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf den Drucksachen 14/371 und 14/581 Buchstabe a bekannt. Abgegebene Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 553, mit Nein hat keiner gestimmt, Enthaltungen 31. Der Gesetzentwurf ist angenommen. ({0}) Vizepräsidentin Petra Bläss Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 583; davon ja: 552 enthalten: 031 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Peter Altmaier Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Dr. Norbert Blüm Dr. Maria Böhmer Sylvia Bonitz Wolfgang Börnsen ({1}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Monika Brudlewsky Georg Brunnhuber Klaus Bühler ({2}) Hartmut Büttner ({3}) Cajus Caesar Peter H. Carstensen ({4}) Leo Dautzenberg Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Albert Deß Wilhelm Dietzel Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Ulf Fink Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({5}) Axel Fischer ({6}) Dr. Gerhard Friedrich ({7}) ({8}) Jochen-Konrad Fromme Dr. Jürgen Gehb Dr. Heiner Geißler Georg Girisch Michael Glos Dr. Reinhard Göhner Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Hermann Gröhe Manfred Grund Gottfried Haschke ({9}) Gerda Hasselfeldt Norbert Hauser ({10}) Hansgeorg Hauser ({11}) Klaus-Jürgen Hedrich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Peter Hintze Klaus Hofbauer Martin Hohmann Klaus Holetschek Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster Hubert Hüppe Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Dr. Harald Kahl Dr. Dietmar Kansy Irmgard Karwatzki Volker Kauder Ulrich Klinkert Dr. Helmut Kohl Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Dr. Martina Krogmann Dr. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Karl Lamers Dr. Karl A. Lamers ({12}) Dr. Norbert Lammert Karl-Josef Laumann Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({13}) Eduard Lintner Dr. Klaus Lippold ({14}) Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann ({15}) Julius Louven Dr. Michael Luther Dr. Martin Mayer ({16}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Bernward Müller ({17}) Elmar Müller ({18}) Bernd Neumann ({19}) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Eduard Oswald Norbert Otto ({20}) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Christa Reichard ({21}) Katherina Reiche Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch ({22}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt Rossmanith Dr. Christian Ruck Volker Rühe Dr. Jürgen Rüttgers Anita Schäfer Hartmut Schauerte Heinz Schemken Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({23}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({24}) Andreas Schmidt ({25}) Hans Peter Schmitz ({26}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm - Josef Sebastian Horst Seehofer Heinz Seiffert Werner Siemann Bärbel Sothmann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Dr. Rita Süssmuth Dr. Susanne Tiemann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Gunnar Uldall Arnold Vaatz Andrea Voßhoff Dr. Theodor Waigel Peter Weiß ({27}) Gerald Weiß ({28}) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({29}) Hans-Otto Wilhelm ({30}) Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({31}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller SPD Brigitte Adler Gerd Andres Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({32}) Klaus Barthel ({33}) Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({34}) Kurt Bodewig Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Dr. Eberhard Brecht Rainer Brinkmann ({35}) Bernhard Brinkmann ({36}) Hans-Günter Bruckmann Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({37}) Wolf-Michael Catenhusen Dr. Peter Wilhelm Danckert Christel Deichmann Peter Dreßen Rudolf Dreßler Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Vizepräsidentin Petra Bläss Dr. Peter Eckardt Sebastian Edathy Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Petra Ernstberger Annette Faße Lothar Fischer ({38}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({39}) Harald Friese Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({40}) Angelika Graf ({41}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Karl-Hermann Haack ({42}) Hans-Joachim Hacker Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Monika Heubaum Uwe Hiksch Reinhold Hiller ({43}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({44}) Walter Hoffmann ({45}) Frank Hofmann ({46}) Ingrid Holzhüter Eike Hovermann Christel Humme Lothar Ibrügger Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Dr. Uwe Jens Volker Jung ({47}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Hans-Ulrich Klose Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({48}) Detlev von Larcher Christine Lehder Robert Leidinger Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({49}) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({50}) Winfried Mante Tobias Marhold Ulrike Mascher Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer ({51}) Ursula Mogg Christoph Moosbauer Siegmar Mosdorf Michael Müller ({52}) Jutta Müller ({53}) Christian Müller ({54}) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann ({55}) Gerhard Neumann ({56}) Dr. Edith Niehuis Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Eckhard Ohl Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Andreas Pflug Joachim Poß Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe René Röspel Michael Roth ({57}) Birgit Roth ({58}) Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Otto Schily Dieter Schloten Horst Schmidbauer ({59}) Ulla Schmidt ({60}) Silvia Schmidt ({61}) Dagmar Schmidt ({62}) ({63}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({64}) Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Dr. Mathias Schubert Brigitte Schulte ({65}) Reinhard Schultz ({66}) Volkmar Schultz ({67}) Ilse Schumann Dr. R. Werner Schuster Ernst Schwanhold Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Joachim Stünker Joachim Tappe Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Adelheid Tröscher Rüdiger Veit Simone Violka Ute Vogt ({68}) Hedi Wegener Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({69}) Matthias Weisheit Gert Weisskirchen ({70}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Hans-Joachim Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek ({71}) Jürgen Wieczorek ({72}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Heino Wiese ({73}) Klaus Wiesehügel Brigitte Wimmer ({74}) Engelbert Clemens Wistuba Barbara Wittig Verena Wohlleben Hanna Wolf ({75}) Waltraud Wolff ({76}) Heidemarie Wright Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Gila Altmann ({77}) Marieluise Beck ({78}) Volker Beck ({79}) Matthias Berninger Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Andrea Fischer ({80}) Katrin Göring-Eckardt Rita Grießhaber Kristin Heyne Ulrike Höfken Michaele Hustedt Monika Knoche Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske Klaus Wolfgang Müller ({81}) Kerstin Müller ({82}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Cem Özdemir Simone Probst Claudia Roth ({83}) Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({84}) Werner Schulz ({85}) Christian Simmert Christian Sterzing Dr. Antje Vollmer Ludger Volmer Sylvia Ingeborg Voß Helmut Wilhelm ({86}) ({87}) Vizepräsidentin Petra Bläss F.D.P. Hildebrecht Braun ({88}) Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Ulrike Flach Gisela Frick Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({89}) Rainer Funke Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({90}) Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich Birgit Homburger Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Gudrun Kopp Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dirk Niebel Günter Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({91}) Detlef Parr Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Gerhard Schüßler Dr. Irmgard Schwaetzer Marita Sehn Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle Enthalten PDS Dr. Dietmar Bartsch Maritta Böttcher Roland Claus Dr. Heinrich Fink Dr. Ruth Fuchs Fred Gebhardt Wolfgang Gehrcke-Reymann Dr. Klaus Grehn Carsten Hübner Ulla Ursula Jelpke Sabine Jünger Gerhard Jüttemann Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Kutzmutz Heidi Lippmann-Kasten Ursula Lötzer Heidemarie Lüth Manfred Müller ({92}) Kersten Naumann Christine Ostrowski Petra Pau Christina Schenk Gustav-Adolf Schur Dr. Ilja Seifert Dr. Winfried Wolf Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPU Abgeordnete Adam, Ulrich, CDU/CSU Hempelmann, Rolf, SPD Dr. Wodarg, Wolfgang, SPD Für die Fraktionssitzungen der CDU/CSU und der SPD unterbreche ich die Sitzung für zirka eine Stunde. Der voraussichtliche Wiederbeginn der Sitzung, der gegen 13 Uhr erfolgen soll, wird rechtzeitig durch das Klingelsignal angekündigt. Die Sitzung ist unterbrochen. ({93})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Lensing, Ilse Aigner, Axel E. Fischer ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausbau der Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung - Drucksache 14/541 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Werner Lensing.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zur besseren Wirksamkeit der Verantwortung in der Politik, insbesondere in der Bildungspolitik, gehört die Klarheit der Argumentation. Diese wiederum erfahre ich am ehesten durch eine saubere Faktensammlung. Ich frage also: Wie sieht im Zusammenhang mit unserer heutigen Thematik, der beruflichen Aufstiegsfortbildung in Deutschland, die Wirklichkeit aus? Hier quält uns zunächst ein besonders beunruhigender Faktor. In Deutschland gibt es nämlich einen signifikanten und besorgniserregenden Mangel an Unternehmern. Zum Erreichen der durchschnittlichen OECD-Selbständigenquote fehlen hierzulande rund 500 000 zusätzliche Betriebsleiter. Ein solches Defizit wirkt sich natürlich besonders verheerend auf den Arbeitsmarkt aus. Schließlich sorgt fast jeder Existenzgründer im Schnitt für drei weitere Arbeitsplätze. ({0}) Dieses Dilemma aber wird durch weitere ernstzunehmende Fakten - ich betone dies noch einmal - verstärkt. Ich benenne diese: Jeder fünfte der 3,5 Millionen Betriebsinhaber in Deutschland hat bereits das 55. Lebensjahr überschritten. Rund 700 000 Unternehmer werden sich innerhalb der nächsten zehn Jahre zur Ruhe setzen, davon voraussichtlich 300 000 noch in diesem Jahr. Nur in jedem dritten Fall dürfte sich noch eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger aus dem Familienkreis finden lassen. Allein im Handwerk stehen in den nächsten fünf Jahren rund 200 000 Betriebe zur Übergabe bereit. Davon sind mangels geeigneter Nachfolger bereits heute rund Vizepräsidentin Petra Bläss 50 000 Betriebe und damit zugleich eine halbe Million Arbeitsplätze akut gefährdet. Sofern die Problematik des bevorstehenden Generationenwechsels im Mittelstand von der jetzigen Bundesregierung weiter auf die lange Bank geschoben oder sogar sträflich vernachlässigt werden sollte, stehen in Deutschland in beängstigender Weise sehr viele Arbeitsplätze weiterhin und zusätzlich auf dem Spiel. Damit ist evident: Ein reibungsloser Generationenwechsel und die Gründung neuer Betriebe sind die überaus wichtigen Voraussetzungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. ({1}) - Man soll nicht meinen, daß Sie in einem Bildungsausschuß sind. Sie haben nicht einen einzigen neuen, innovativen Gedanken. Sie geben immer nur den Hinweis auf diesen einen Zeitraum. Das zeugt nicht einmal von historischem Verständnis, meine sehr verehrte Kollegin. ({2}) Eine besonders beherzte Förderung der Gründertätigkeit müßte daher das besondere Anliegen einer jeden Bundesregierung sein. Doch gerade hier hat die rotgrüne Koalition bekanntlich - wie auch schon in viel zu vielen anderen Bereichen -, bisher zumindest, auf der ganzen Linie versagt. ({3}) Denn die zusätzlichen Belastungen von Mittelstand und Wirtschaft, zum Beispiel durch das jetzt verabschiedete sogenannte Steuerentlastungsgesetz, das diesen Namen nicht einmal im Ansatz verdient, werden leider nicht zu vermehrten Existenzgründungen und damit auch nicht zur Schaffung neuer Beschäftigungsverhältnisse führen können. Im Gegenteil, wir haben eine neue Rationalisierungswelle und einen weiteren Abbau von Arbeitsplätzen zu befürchten. ({4}) Daher benötigen wir neben wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen - das sage ich speziell dem Herrn Tauss, der ja immer etwas länger braucht, um meine Worte zu verstehen - eine Vielzahl weiterer Anreize; auch das ist leider zum Teil noch nicht bis zur neuen Bundesregierung durchgedrungen. Vor diesem Hintergrund hat die frühere Bundesregierung in der vergangenen 13. Legislaturperiode mit dem sogenannten Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz ein überaus effizientes Mittel geschaffen, um vor allen Dingen jungen Menschen den Weg zu Betriebsgründungen zu erleichtern. Auch das ist ein Faktum. Mit besonderer Genugtuung nenne ich Ihnen die erfreulichen Fakten. Seit Inkrafttreten des sogenannten AFBG am 1. Januar 1996 wurden über 130 000 Förderanträge gestellt. ({5}) In nahezu 100 000 Fällen wurden Leistungen nach diesem Gesetz bewilligt. In den Jahren 1996 und 1997 wurden bundesweit zirka 70 000 Personen gefördert. In diesem Jahr dürfte der hunderttausendste angehende Meister bzw. Techniker seinen Bewilligungsbescheid erhalten. Ist das denn gar nichts? ({6}) Bisher wurden mehr als 780 Millionen DM Fördermittel an angehende Meister, Techniker und an andere Aufstiegswillige ausgezahlt. Es eröffnet also einem jeden die individuelle Chance, eine berufliche Weiterqualifikation mit begrenzten finanziellen Belastungen auch während der Fortbildungszeit zu erreichen. Die Opposition war seinerzeit alles andere als begeistert. Wir können Ihnen das im einzelnen nachweisen. ({7}) - Ich bin Ihnen für das Stichwort Bundesrat unglaublich dankbar. Denn gerade die SPD hat permanent versucht, diesen Gesetzentwurf im Bundesrat zu verhindern. Wir haben das Gesetz daraufhin so gestrickt denn wir haben mehr als Sie an die Jugendlichen gedacht -, daß wir nicht mehr der Zustimmung des Bundesrates bedurften. Deswegen können wir uns heute über dieses Gesetz überhaupt verständigen. Ich habe gesagt, es geht um Fakten. Ich habe gesagt, es geht um die Wahrheit. ({8}) - Angesichts der Fakten, die ich genannt habe, kann man da überhaupt keinen Zweifel haben. - Deswegen sage ich auch, daß wir auf Grund der Erfahrungen in der Vergangenheit mitbekommen haben, daß es hier und da einen Veränderungs- bzw. Ergänzungsbedarf bei bisher schon guten, gültigen Regelungen gibt. Daher haben wir heute unseren Antrag eingebracht, für dessen Qualität Sie uns beneiden, weil Sie nie auf die Idee gekommen sind, dies in einer solchen Konzeption einzubringen. ({9}) Das Problem, das wir heute haben, ist beispielsweise, daß die damalige Opposition - sie ist heute die Regierung - immer wieder gesagt hat: Wir müssen dieses ausbauen. Wenn man aber jetzt den ersten Haushalt sieht, den diese Regierung eingebracht hat, muß man feststellen, daß die von unserer Regierung noch vorgesehenen Mittel gerade für diesen Bereich um sage und schreibe 40 Prozent gekürzt worden sind. ({10}) Hier wird uns ein verbessertes Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz eher helfen, wenn es das berücksichtigt, was wir auch auf Anregung der Industrie- und Handelskammern, der Handwerkskammern und der Vollzugsbehörden als Antrag eingebracht haben. Diesen Antrag möchte ich in wenigen Punkten vorstellen. Erstens. Wir möchten mit unserem Antrag erreichen, daß es eine wirkliche förderungsrechtliche GleichstelWerner Lensing lung von Studium und Aufstiegsfortbildung gibt, und wir wollen, wie beim allgemeinen BAföG auch, den Zuschußanteil der Förderbeiträge beim AFBG von derzeit rund 35 Prozent auf 50 Prozent angehoben wissen. Damit wird die schon von Beginn an gewünschte förderungsrechtliche Gleichstellung realisiert. Zweitens. Die Förderungsdauer ist bis zum Zeitpunkt der letzten Prüfung auszudehnen. Nach der bisherigen Regelung wurde die Bewilligung der monatlichen Unterhaltszahlungen bei Tagesschülern auf die reinen Kurszeiten beschränkt, und somit fiel eine Reihe von Schülerinnen und Schülern in manchen Gewerken, etwa dem des Tischlers, während der praktischen Prüfungsphase automatisch aus der Förderung heraus. Dieser Umstand wurde natürlich als negativ empfunden. Mit unserem Antrag wollen wir solche finanziell nicht abgesicherten Zeiträume - und dies in einer kritischen Prüfungsphase - für die Zukunft verhindern. ({11}) Drittens. Die Leistungen für Familien und für die Betreuung von Kindern sind den gestiegenen Lebenshaltungskosten anzupassen. Ich verweise auf die entsprechenden Angaben in unserem Antrag. Über die moderaten Vorschläge unseres Antrages hinaus sollte auch einmal darüber nachgedacht werden, ob und inwieweit der Erhaltung eines gewissen Lebensstandards für Familien in Zukunft besser Rechnung getragen werden kann und folgerichtig die Bedarfssätze des MeisterBAföG von den entsprechenden Sätzen des allgemeinen BAföG abgekoppelt werden könnten. Um Alleinerziehenden die Vereinbarkeit von Fortbildung und Kinderbetreuung weiter zu erleichtern, möchten wir zudem die Leistungen zu den Kosten der Kinderbetreuung angemessen erhöhen. Wir regen hierzu eine Aussprache in den zuständigen Ausschüssen an. Viertens. Die Inanspruchnahme des sogenannten Meister-BAföG wird verfahrenstechnisch vereinfacht. Die bisherige Praxis der Bewilligungsbehörden, bei Anträgen für mehrjährige Fortbildungen schon nach einem Jahr einen Folgeantrag zu verlangen, wird abgeschafft. Künftig soll vielmehr die Bewilligung für die gesamte Fortbildung in einem Schritt erfolgen. Fünftens. Wir wünschen, die Anreize für anschließende Existenzgründungen deutlich zu verstärken. Bekanntlich müssen nach dem derzeitigen AFBG Betriebsgründer bereits im ersten Jahr ihrer Existenzgründung zwei Beschäftigte für die Dauer von mindestens vier Monaten einstellen, um einen Darlehenserlaß zu erhalten. Dies ist eine strenge Auflage, die nach Auskunft der für die Abwicklung der Darlehen zuständigen Deutschen Ausgleichsbank nur schwer zu verwirklichen ist. Um der schwierigen Anfangsphase eines jungen Unternehmens besser gerecht zu werden, sollte folglich diese Frist von einem halben Jahr auf zwei Jahre verlängert werden. Zudem sollte der Erlaßbetrag von derzeit 50 Prozent um einen deutlichen Satz angehoben werden. Dies schafft mit Sicherheit zusätzlichen Investitionsspielraum. Sechstens. Die Regelungen zur Vermögensanrechnung müssen mit dem Ziel überprüft werden, daß Existenzgründer ihre Ersparnisse verstärkt da einsetzen können, wo sie hingehören, nämlich bei der Betriebsgründung. Eine Ansparung des notwendigen Eigenkapitals innerhalb von zwei bis drei Jahren scheint nämlich für den potentiellen Existenzgründer aus eigener Kraft kaum möglich. Nach den Vorstellungen der CDU/CSU-Fraktion sollten auch die Rückzahlungsbedingungen erleichtert und die Karenzzeit verlängert werden. Begründung: Bekanntlich liegt der Kapitalbedarf für eine Existenzgründung oder eine Betriebsübernahme bei einer Untergrenze von zirka 150 000 DM. Je nach Branche kann dieser sogar schnell in die Millionen gehen. Rückzahlungsverpflichtungen und Investitionserfordernisse stehen deshalb gerade in der Anfangsphase der Existenzgründung im Widerspruch zueinander. Wenn wir hier eine Verlängerung der Karenzzeit erreichen, werden wir, so glaube ich, mit diesem Maßnahmenkatalog richtigliegen. Das derzeitig strukturelle Ungleichgewicht zwischen der Förderung von Vollzeitund Teilzeitmaßnahmen führt zu der bedauerlichen Tatsache, daß die Aufstiegsfortbildungsförderung im Handwerksbereich mehr als dreimal so viel in Anspruch genommen wird wie bei den Industrie- und Handelskammern, obwohl die Teilnehmerzahlen in beiden Institutionen etwa in der gleichen Größenordnung liegen dürften. Die Diskrepanz zeigt sich noch deutlicher in der jeweils abgerufenen Fördersumme. Ich will das jetzt nicht im Detail erläutern; aber auf eine gerechtere Gleichbehandlung müssen wir unser Augenmerk richten. Ich habe auf diesen unseren Antragsentwurf selbstverständlich viele positive Rückmeldungen von verschiedenen regionalen Handwerkskammern, vom BDA, vom ZDH, vom DIHT und - das freut mich natürlich besonders - aus Teilen des DGB erhalten. Zudem stimmen die meisten Äußerungen darin überein, daß die von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgebrachten Änderungswünsche den Kern des Problems treffen und eine durchgreifende Belebung der Nachfrage nach Förderung einleiten werden. Meine Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, in Ihrer Koalitionsvereinbarung finde ich einen Satz - es gibt ja nicht viele, die man zitieren kann, aber dieser hier stimmt mit meiner Überzeugung überein -, der da lautet: „Wir wollen den Generationswechsel bei mittelständischen Betrieben erleichtern.“ ({12}) Wenn Ihnen diese Worte ernst sind - Sie haben sie ja offensichtlich begriffen, Herr Hilsberg - und Ihnen der Mittelstand wirklich am Herzen liegt, ({13}) so lade ich Sie ein, den vorliegenden Antrag zum Ausbau der Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung mitzutragen, ({14}) ihn bei Bedarf in den kommenden Ausschußberatungen gemeinsam mit uns zu erweitern, um ihn schließlich zum Wohle vieler junger und tatkräftiger Menschen Gesetz werden zu lassen. Ich danke Ihnen allen für Ihre wohltuende, lebendige und feurige Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Wolf-Michael Catenhusen. Wolf-Michael Catenhusen Parl. Staatsekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein Zweifel: Wir brauchen in Deutschland, auch unter jungen Menschen, Bereitschaft zur Leistung, Bereitschaft zur Weiterqualifizierung und zur Vorbereitung auf Selbständigkeit und Existenzgründungen. Das ist auch eines der Grundanliegen dieser Koalition. ({0}) Die Einführung einer Aufstiegsfortbildungsförderung im Jahr 1996 war bildungspolitisch überfällig - von der Wirtschaft, vom Bundesrat und der damaligen Opposition lange verlangt. Denn es ging ja im Kern darum, einen alten Fehler von 1993 zu korrigieren, ({1}) mit dem die damalige Regierung das Meister-BAföG aus dem Arbeitsförderungsgesetz herausbefördert hatte. Es ist noch kein Jahr her, da verkündete Jürgen Rüttgers, damals verantwortlicher Ressortminister, großspurig - ich zitiere -: „Meister-BAföG auf dem Erfolgskurs“ und sprach von „Erfolgsstory“. ({2}) Wenn man den heute vorliegenden Antrag der CDU/CSU liest, dann stellt man fest, daß der Opposition dieser Anfall von Großspurigkeit und Schönfärberei offenkundig zumindest partiell vergangen ist. Sie gehen in Ihrem Antrag mit gespaltenem Bewußtsein vor, indem Sie das Problem im ersten Teil schönreden und im Anschluß daran überraschenderweise einen langen Katalog von Mängeln, die Sie beheben wollen, vorlegen. Angesichts dessen bekommt man eine Ahnung davon, daß Ihre kräftige Aussage, Herr Lensing, dieses Instrument habe sich als - ich zitiere Sie - „überaus effizientes Mittel“ erwiesen, nicht ganz stimmen kann. ({3}) Ich knüpfe an die von Ihnen aufgestellten Anforderungen an: Wie sind die Fakten? Was ist die Meßlatte für den Erfolg des Gesetzes? Ich denke, das Fairste und Objektivste ist, Herr Lensing, in den Antrag der damaligen Regierung hineinzuschauen und sich in Erinnerung zu rufen, was die damalige Koalition 1996 selbst als Meßlatte gewählt hat. Da heißt es, man habe sich zum Ziel gesetzt, 90 000 förderungsfähige Teilnehmer an Aufstiegsfortbildungen mit dem AFBG zu erreichen. In diesem Sinne hatten Sie zunächst auch Ihre finanziellen Dispositionen getroffen. Man muß nur sagen, daß diese Erwartung in keiner Weise erfüllt worden ist. Im Jahre 1996 wurden etwa 29 000, 1997 knapp unter 50 000 und 1998 etwa 60 000 Fortbildungswillige gefördert. Wie Sie auf 70 000 für beide Jahre kommen, weiß ich nicht. Vielleicht haben Sie die Zahlen in einer etwas ungewöhnlichen Weise addiert. Die Zahl, die in Ihrem Antrag steht, ist falsch. Auch im dritten Jahr nach dem Inkrafttreten des AFBG wurden also nur maximal zwei Drittel von dem erreicht, was Sie sich in Regierungszeiten selbst als Zielgröße vorgegeben hatten. Wenn ich Ihre damaligen Erwartungen ernst nehme, dann kann ich nur sagen: unzureichend, Ziel verfehlt. ({4}) Ich möchte noch einen weiteren Gedanken vortragen. Auch Ihre damaligen Schätzungen zum Finanzbedarf, die Sie uns hier im Bundestag vorgelegt haben, waren wohl grotesk überzogen; denn Sie erwarteten einen Bedarf an Bundesmitteln von 127 Millionen DM im Jahr 1996 und von 185 Millionen DM im Jahr 1997 und waren davon ausgegangen, daß im abgelaufenen Jahr 234 Millionen DM vom Bund zu verausgaben seien. Wir wären übrigens froh gewesen, wenn das eingetreten wäre. Tatsächlich abgeflossen sind 1996 aber nur fast 14 Millionen DM, 1997 nur 50 Millionen DM und im vergangenen Jahr nur knapp 56 Millionen. Das ist ein groteskes Auseinanderklaffen: Sie hatten erwartet, daß 234 Millionen DM abfließen; tatsächlich waren es aber nur 56 Millionen DM. Das hat auch dazu geführt, Herr Lensing, daß Sie selbst schon für die Jahre 1997 und 1998 die Mittel, die im Haushalt eingestellt waren, abgesenkt haben.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege, gestatten Sie dem Kollegen Lensing eine Zwischenfrage?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Ich führe den Gedanken noch zu Ende. - Daher müssen Sie sich, glaube ich, anders mit der Tatsache auseinandersetzen, warum die Bundesregierung im Haushaltsansatz für 1999 die Mittel auf 100 Millionen DM abgesenkt hat. Angesichts von verausgabten 56,2 Millionen DM war die Erwartung einer Verdoppelung der Mittel immer noch sehr kühn. Daß der Haushaltsausschuß in seiner Weisheit gesagt hat, es könne davon ausgegangen werden, daß schon ein 60prozentiger Zuwachs der Mittel in diesem Jahr ungewöhnlich wäre, ist die reale Grundlage für die von Ihnen beschworene Kürzungsaktion. Der wahre Hintergrund ist, daß Ihre Erwartungen in keiner Weise eingetroffen sind. Wir sind natürlich über jeden froh, der da mitgemacht hat. Aber die Meßlatte ist eine andere. - Kollege Lensing. ({0})

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär Catenhusen, können wir uns zunächst einmal darauf verständigen, daß natürlich jeder seine eigenen Berechnungsdaten hat. Ich bin gern bereit, in der nächsten Ausschußsitzung die Daten, die ich genannt habe, im einzelnen zu verifizieren. Das hier ist, glaube ich, nicht der richtige Raum dafür, zumal ich dann keine Frage stellen kann. Sind Sie mit mir der Auffassung - ich denke, Sie sind es -, ({0}) daß Sie seinerzeit in keiner Weise das Meister-BAföG gewünscht haben, weil Sie die Fortsetzung des von Ihnen schon angesprochenen AFG favorisiert haben, wobei der große Nachteil beim AFG darin liegt, daß es sich hierbei nie um eine Maßnahme handelte, bei der der Antragsteller einen gesetzlichen Anspruch hatte, berücksichtigt zu werden? Können wir uns auch darauf verständigen, daß der lange Anlauf für die Akzeptanz der Maßnahmen auch darin begründet lag, daß es damals einige Regierungen - nicht meiner Couleur - lange versäumt hatten, rechtzeitig die entsprechenden Landesbehörden einzurichten, so daß bei uns der Eindruck entstand, man wünschte die ganze Sache nicht, die im übrigen ohnehin nur noch durch Vermittlung von Herrn Schröder über die Bühne gegangen ist? ({1})

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Kollege Lensing, ich glaube, der Sachverhalt, den ich gerade beschrieben habe, wird durch Ihre Zusatzfrage auch nicht positiver, im Gegenteil. Sie kennen die Geschichte des Gesetzes genau so gut wie ich und wissen, daß es, als sich die damalige Regierung entschieden hatte, den Weg über dieses Gesetz zu gehen, ungeachtet der grundsätzlichen Frage, welchen Weg man geht, zu einer sehr konstruktiven Zusammenarbeit gekommen ist. Ich muß Sie auf eins hinweisen: Es hat damals eine Stellungnahme des Bundesrates gegeben, mit der Erwartung, daß man ins Vermittlungsverfahren gehe. Wenn Sie die Mängelliste und die Erweiterungsliste, die der Bundesrat damals formuliert hat, einmal nachlesen, dann werden Sie merken, daß das, was Sie nach der Wahl als Mängel entdeckt haben, der Bundesrat schon damals in großer Weitsicht vorhergesagt hat. Ich will deutlich sagen, daß es hier eine bedauerliche Entwicklung bei den Antragszahlen gibt, hinter der sich strukturelle Schieflagen des jetzigen Gesetzes verbergen. Wir führen heute die Diskussion über die Frage: Brauchen wir ein besseres Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz? Es geht um nichts anderes. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Kollege Catenhusen?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Ich weiß, daß Münsterländer hartnäckig sind. Auch ich komme aus Münster. - Bitte, Kollege Lensing.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann werden Sie erst recht Verständnis für meine Frage haben und mit einem klaren Ja antworten. - Können Sie zugeben, daß wir die Verbesserungsvorschläge, die wir heute eingebracht haben, schon zu der Zeit, als wir noch die Regierung stellten, folgerichtig in der Form eingebracht haben, daß wir in unserem Haushaltsansatz für 1999 eine deutliche Verbesserung vorgenommen haben?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Herr Lensing, jetzt werden wieder Legenden gestrickt. Ich bin jetzt nicht wild entschlossen, mit Ihnen über Ihre Wahlkampflegenden zu diskutieren, mit denen Sie bis zum Wahltag versucht haben, die Blößen des Gesetzes zu verschleiern. ({0}) Vielmehr möchte ich mich mit den realen Verhältnissen auseinandersetzen. So hat im Jahre 1998, als Sie im Wahlkampf durch das Land gezogen sind, das krasse Mißverhältnis weiterbestanden. Vor allem ist es zwischen 1997 und 1998 zu keinem weiteren Anstieg der Zahl der Geförderten gekommen. Das ist die Wahrheit, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, aber nicht mit den Wahlkampfaussagen vergangener Regierungen. Entschuldigen Sie bitte! ({1}) Zur Schieflage: Es geht zum einen darum, daß das Gesetz auf alle Arten von Fortbildung abzielte, die ein spezifisches Qualifikationsniveau als Voraussetzung für einen beruflichen Aufstieg verbriefte. Die Konditionen des Gesetzes haben sich aber offenkundig auf einen ganz bestimmten spezifischen Sektor konzentriert; denn mehr als zwei Drittel der Geförderten absolvierten 1997 eine Fortbildung im Handwerksbereich, etwas mehr als ein Fünftel eine Fortbildung nach dem Berufsbildungsgesetz und der Rest eine vergleichbare nach Bundesoder Landesrecht. Natürlich ist das Handwerk mit seiner mittelständischen Struktur und seiner Ausbildungsleistung im Rahmen der beruflichen Erstausbildung und seinem starken Anteil am deutschen Bruttoinlandsprodukt ein wesentliches Standbein unserer Wirtschaftsstruktur. Aber die Intention muß sein, daß sich dieses Gesetz in seiner Zielrichtung auf alle Bereiche unserer Wirtschaft erstreckt. Überall werden hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte benötigt. Diesen Zielsetzungen wird das Gesetz bisher nur unzureichend gerecht. Ich denke, es ist auch richtig - Sie weisen in einem Akt tätiger Reue darauf hin -, daß das Gesetz in seiner gegenwärtigen Fassung offenkundig nicht familienfreundlich ist. Denn von denjenigen, die die Fortbildungskurse in Vollzeitform absolvierten, hatten 1997 fast 14 Prozent Kinder, und sie waren vermutlich sehr häufig überwiegend auf die Unterstützung im Rahmen des AFBG angewiesen. Das Statistische Bundesamt hat für das Jahr 1997 einen durchschnittlichen Förderungsbeitrag bei diesen anspruchsberechtigten Fortbildungsteilnehmern pro Monat von 286 DM Zuschuß zum Unterhalt, 741 DM Unterhaltsdarlehen und 194 DM Kinderbetreuungszuschuß errechnet. Das könnte man vordergründig auf 1 221 DM pro Monat pro Familie zusammenrechnen. Dann wird, glaube ich, klar, wie bescheiden Familien während der Fortbildungszeiten mit einer solchen Liquiditätshilfe haushalten müssen. Hier gibt es ein strukturelles Defizit; Sie haben das in dem Antrag offenkundig erkannt. Zu den Ungereimtheiten dieses Gesetzes gehört es auch, daß es ein schreiendes Mißverhältnis zwischen folgenden Sachverhalten gibt: Zwei Drittel der Geförderten, die ihre Aufstiegsfortbildung in der Vollzeitform absolvieren, haben einen Anspruch auf die Finanzierung des Lebensunterhalts, zum Teil als Zuschuß, zum Teil als Darlehen. Das Drittel der Geförderten, das seine Aufstiegsfortbildung in der Teilzeitform neben dem Beruf organisiert, hat dagegen nur einen Anspruch auf Darlehen zur Finanzierung der Fortbildungsmaßnahme. Das benachteiligt vor allem Frauen, die in besonderer Weise auf Teilzeitmöglichkeiten zur Fortbildung angewiesen sind. ({2}) Ich will nur kurz auf etwas eingehen, was der Kollege Lange sicherlich noch vertiefen wird. Sie sagen heute unverdrossen, daß das AFBG ein wirksames Mittel darstelle, um Menschen den Weg zur Betriebsgründung zu erleichtern. Wir würden uns sehr freuen, wenn wir heute de facto an Hand der Erfahrungen des Gesetzes zu diesem Ergebnis kommen würden. ({3}) Nur müssen wir uns doch damit auseinandersetzen, daß die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Meisterprüfungen seit 1993 ungeachtet dieses Gesetzes insgesamt rückläufig ist. Ich denke, wir müssen an die Fragen, wie wir die Bedingungen für die Ablegung von Meisterprüfungen und wie wir die Motivation dafür verbessern, sehr viel umfassender herangehen. Es gibt aber eine Förderrealität, die Sie - ich nenne das einmal so - nur sehr zart angedeutet haben: Durch die Deutsche Ausgleichsbank wurden bis zum 30. September 1998 insgesamt 58 600 Darlehensverträge im Rahmen des AFBG abgeschlossen. Bis zum gleichen Datum sind aber auf Grund von Existenzgründungen nur 98 Darlehenserlasse erfolgt. Sie können jetzt natürlich sagen, das komme alles noch; aber das Zahlenverhältnis fällt schon auf. Vor allem fällt auf, daß 60 Prozent der eingereichten Anträge abgelehnt worden sind. Die Rahmenbedingungen für Existenzgründer in diesem Gesetz stimmen offenkundig hinten und vorne nicht. ({4}) Demgegenüber kann man loben, daß der Gesetzesvollzug gut funktioniert. Da Sie sich nun wieder in der altbekannten Masche der früheren Regierung am BundLänder-Verhältnis abarbeiten wollen, sage ich Ihnen, daß wir anders vorgehen werden. Bei diesem Thema muß man einmal deutlich sagen, daß sich das Zusammenwirken mit den Ländern und die Durchführung des Gesetzes durch die Länder gut eingespielt haben und daß auch die Zusammenarbeit zwischen den durchführenden Stellen der Länder, der Deutschen Ausgleichsbank, unserem Hause und dem Wirtschaftsministerium weitgehend reibungslos und konstruktiv abläuft. Es ist völlig klar, daß wir dabei die Rolle der Kammern würdigen müssen. Denn diese geben nach unseren Erfahrungen den Interessenten sehr gute Hinweise und eine gute Beratung bezüglich der Möglichkeiten zur Förderung nach dem AFBG. In Nordrhein-Westfalen sind sie sogar vielfach bei dem Ausfüllen der Förderanträge behilflich, was von den Fortbildungswilligen als außerordentlich hilfreich geschätzt wird. ({5}) Zur Frage der unbürokratischen Verfahren und der bürokratischen Mängel. Es ist gut, daß Sie - wie Ihr Antrag zeigt - zu begreifen beginnen, daß die Praxis in den letzten Jahren offenkundige Mängel aufwies, die man übrigens ohne Gesetzgebung beheben kann. Deshalb werden wir jetzt schon die Vereinfachung der Formblätter, eine Bestimmung über die Ausreichung der Darlehensdokumente in einem Zug mit der Bewilligungsbescheinigung und etwas flexiblere Bewilligungszeiten in Angriff nehmen. Wir werden nicht das Gesetzgebungsverfahren abwarten. ({6}) Die Tatsache, daß Sie das ganze Wahljahr damit verbracht haben, Ankündigungen zu machen, anstatt die praktischen Dinge, die man aus dem Stand hätte regeln können, anzupacken, spricht für sich. Kollege Hinsken.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Bitte schön. ({0}) - Es ist ja gut, wenn Sie mir ein bißchen Arbeit abnehmen - also einverstanden. Es ist auch schwer, bei Ihnen dazwischenzukommen. Das muß ich einmal sagen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Das kann ja manchmal auch Absicht sein.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, es führt uns nicht weiter, wenn wir darüber diskutieren, ob jemand beim Ausfüllen der Formulare behilflich sein soll oder nicht. Wir müssen uns doch gerade in dieser Debatte die grundsätzliche Frage stellen, warum nicht mehr von dem Angebot des Meister-BAföG Gebrauch machen. ({0}) Deshalb frage ich Sie: Finden Sie es richtig, wenn der ursprünglich ausgewiesene Betrag nicht erhöht - womit die Konditionen verbessert würden -, sondern um 20 Millionen DM gesenkt wird? Das paßt doch nicht zusammen. ({1}) Machen wir uns doch im Sinne derjenigen, die das benötigen, gemeinsam daran, das Programm attraktiver zu gestalten, so daß die Gelder auf dem freien Kreditmarkt nicht billiger als momentan über dieses Programm zu bekommen sind! An dieser Stelle können Sie ansetzen. Sind Sie bereit, in diese Richtung zu marschieren? Was tun Sie dafür?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Kollege Hinsken, es ist schön, daß Sie mir das Stichwort für den letzten Teil meiner Rede geben. Zu den Zahlen möchte ich aber schon noch einmal etwas sagen. Ich schätze Sie als sehr sachkundigen Teilnehmer an der Diskussion über die Zukunft der beruflichen Bildung, aber verstehen Sie doch: Wenn im letzten Jahr 56 Millionen DM abgeflossen sind, dann ist es doch verständlich, daß eine Bundesregierung sagt - immerhin handelt es sich um ein Leistungsgesetz -, mit einer Verdoppelung der Ausgaben zu rechnen sei unter den gegenwärtigen Bedingungen schon sehr kühn, und daß der Haushaltsausschuß sagt, 60 oder 55 Prozent Wachstum seien auch sehr ordentlich. Als sehr erfahrener Parlamentarier sage ich Ihnen: Sie beschließen erst die Veränderung der Leistungsgesetze und passen dann den Haushalt an den Reformbedarf an. Diesen Weg werden wir natürlich auch gehen. Darüber werde ich in dem Restteil meiner Rede sprechen. Meine Damen und Herren, es ist Aufgabe und Zielsetzung der Bundesregierung und dieser Koalition, mit einem erneuerten AFBG die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung zu stärken. Wir wollen die Gleichwertigkeit von beruflicher Bildung und allgemeiner Bildung durch die Förderung der beruflichen Aufstiegsförderung einen Schritt voranbringen. Deshalb bereiten wir den vom Bundestag angeforderten Bericht über die Erfahrungen mit dem AFBG vor. Das wissen Sie alles. Der Entwurf dieses Berichtes wird in den nächsten Wochen in den Ressorts der Bundesregierung abgestimmt werden. Nach gründlicher Erörterung des Erfahrungsberichtes im Kabinett werden wir dem Parlament Veränderungen des Aufstiegsfortbildungsrechts im sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Reform des BAföG und in genauerer Kenntnis des Finanzbedarfs vorschlagen. Wir haben dabei durchaus den Ehrgeiz, Fehler und Pannen, die der heutigen Opposition bei ihrer Arbeit am AFBG passiert sind, im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens nicht zu wiederholen. Ihren Antrag, eine Notoperation an dem Gesetz aus dem Stand politaktionistisch einzufordern, verstehe ich als einen Versuch tätiger Reue. Sie wollen Ihrer Klientel dokumentieren - wie das der amerikanische Präsident Ford auch einmal getan hat -: Wir haben gelernt. - Das ist in Ordnung. Wenn wir daraus Ihre Bereitschaft ableiten können, im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens am Ausbügeln der von Ihnen zu verantwortenden Fehler konstruktiv mitzuwirken, dann werden wir auf das Angebot zurückkommen. Ich möchte einige Stichworte nennen, von denen wir uns bei der Novellierung des Gesetzes leiten lassen werden: Wir werden uns natürlich auf eine Annäherung an eine wirkliche Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung auch in förderungsrechtlicher Hinsicht konzentrieren. Die Familienkomponente des AFBG bedarf einer Prüfung; denn die Lebenssituation der durch dieses Gesetz Geförderten ist oft eine andere als die von Studierenden. Wir wollen auch mehr Chancen auf eine Aufstiegsfortbildung und auf die damit verbundene Förderung einräumen. Wir werden den Verfahrens- und Verwaltungsaufwand weiterhin reduzieren. Schließlich werden wir auch darüber entscheiden, inwieweit man Existenzgründern, die Arbeitsplätze wirklich schnell schaffen wollen und die als Voraussetzung für ihre Existenzgründung eine förderungsfähige Aufstiegsfortbildung absolvieren, verbesserte Konditionen einräumen kann, insbesondere bei der Rückzahlung der gewährten Mittel, nachdem sie den erhofften Schritt in die Selbständigkeit getan haben. Sie merken, Ihrer Anstrengung, mit Hilfe dieses Gesetzentwurfes eine Diskussion loszutreten, bedarf es nicht. Wir werden in absehbarer Zeit den Erfahrungsbericht über das AFBG im Bundestag vorliegen haben. Ich erwarte dann von Ihnen, daß Sie die Chance nutzen, Ihren Antrag in Kenntnis aller Fakten zu überarbeiten. Schönen Dank. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die F.D.P.-Fraktion hat die Kollegin Cornelia Pieper.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Catenhusen, Sie sprachen in Ihrer Rede von der Motivation, die Sie jungen Menschen, die ein Handwerk ausüben und eine Meisterprüfung ablegen wollen, vermitteln möchten. Aber ich habe, als ich Ihre Rede gehört habe, den Eindruck gehabt, daß Ihre Begeisterung für dieses Thema nicht sehr groß war. Deshalb kann ich mir schlecht vorstellen, wie Sie junge Menschen motivieren wollen, sich auf das Meister-BAföG einzulassen und eine Meisterprüfung abzulegen. ({0}) Unser Land braucht eine Kultur der Selbständigkeit. Nicht nur das Studium, sondern auch das Erlernen eines Berufes mit einem Meisterabschluß und mit dem Ziel, den Weg in die Selbständigkeit zu wagen, muß attraktiver gemacht werden. ({1}) Viel zu wenige junge Menschen erkennen heute die Chance, die sich mit einer selbständigen Existenz bietet. Frauen und Männer, die mit hohem persönlichen Engagement ein Unternehmen gründen, haben bei weitem nicht die gesellschaftliche Akzeptanz, die sie verdienen. ({2}) Die meisten jungen Menschen, die im Rahmen der mir bekannten Untersuchungen befragt wurden, halten eine berufliche Karriere im öffentlichen Dienst noch immer für erstrebenswerter, als sich selbständig zu machen und ein eigenes Unternehmen zu gründen. In der vergangenen Legislaturperiode hat die Bundesregierung per Gesetz im Januar 1996 das MeisterBAföG für berufliche Aufstiegsfortbildung sowie für einen Teil des Lebensunterhalts erfolgreich auf den Weg gebracht. Ich möchte mich hier nicht über die Zahlen streiten. Ich glaube, darum kann es in der Tat nicht gehen. Allein die Tatsache, daß durch den Ausbau der Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung Existenzgründungen und damit Arbeits- und Ausbildungsplätze auf den Weg gebracht werden, zwingt uns zum Handeln. ({3}) Deshalb unterstützt die F.D.P. das Vorhaben der Union, die Aufstiegsfortbildung im Parlament und in den entsprechenden Ausschüssen überhaupt zum Thema zu machen. Das ist immerhin besser als die vollmundigen Ankündigungen der rotgrünen Bundesregierung zur grundlegenden Strukturreform der Bildungsförderung in Deutschland. Aber dem vorliegenden Antrag, dem wir durchaus unsere Zustimmung geben können, fehlt der zeitliche Horizont. Was für das BAföG gilt, gilt auch für das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz. Wir brauchen eine grundlegende Reform der Struktur der Bildungsfinanzierung in Deutschland und damit ein grundlegend neustrukturiertes Bundesausbildungsförderungsgesetz, in dem die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung festgeschrieben wird. ({4}) Mit welchen Zielen sind wir damals angetreten? Welche Leitlinien zeigte die F.D.P. in einer Diskussion in der letzten Legislaturperiode auf? Die F.D.P. wollte damals schon einen Beitrag zur Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung unter förderungsrechtlichen Aspekten leisten. ({5}) Sie können das leugnen, wie Sie wollen, die Erfolge, die die alte Koalition erzielt hatte, können Sie nicht niederreden. ({6}) Die F.D.P. wollte damals schon eine Steigerung der Attraktivität der beruflichen Fortbildung und der Fortbildungsmotivationen des Fachkräftenachwuchses. Wir wollten eine Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland durch Förderung von Existenzgründungen und Betriebsübernahmen. ({7}) - Ich finde es langsam schon anmaßend, daß Sie sich solche Zwischenrufe leisten, wenn es um Ausbildungsund Arbeitsplätze für junge Menschen geht. Ich kann das in den Debatten nicht nachvollziehen. ({8}) Wir wollten zusätzliche Arbeits- und Ausbildungsplätze in neu gegründeten Unternehmen schaffen. Deshalb haben wir die Diskussion angestoßen. Ebenso wollten wir die berufliche Aufstiegsfortbildung sozial flankieren. Das Meister-BAföG war ein guter Anfang, doch wenn wir es zu einer wirklichen Erfolgsstory werden lassen wollen, dann ist die Zeit reif, die Förderung weiterzuentwickeln. Im übrigen war es gerade Bundeskanzler Schröder, der damalige Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, der feststellte, daß die vorgesehenen Maßnahmen des Meister-BAföG deutlich hinter dem sachlichen Gebot zurückblieben. ({9}) War er es nicht, der im Bundesrat die verzinslichen Bankdarlehen zur Finanzierung der Lehrgangs- und Prüfungsgebühren für unangemessen hielt? War er es nicht, der die Bemessung der Unterhaltsbeiträge am Arbeitsförderungsgesetz orientieren wollte und darüber hinaus jeweils zur Hälfte Zuschußzahlungen und zinsfreie Darlehen direkt aus öffentlichen Mitteln forderte? Von den anderen Forderungen möchte ich jetzt nicht sprechen, weil die Genossen sie sicherlich unter dem Druck ihrer Regierungsverantwortung als nicht mehr zeitgemäß einstufen würden. Ja, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, wir kennen das: Das Machbare hängt immer von der Finanzierbarkeit ab. Wichtig ist, über dieses Thema zu diskutieren, und dieses Tor haben wir aufgestoßen. Bei der Förderung der Ausbildung von qualifizierten Fach- und Führungskräften im mittleren Managementbereich zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sind wir uns einig. Sie ist sozusagen eine Zukunftsinvestition und vor dem Hintergrund des „Bündnisses für Arbeit“ auch eine unabdingbare Voraussetzung dafür, daß der anstehende Generationswechsel im Handwerk und in vielen kleinen und mittleren Betrieben erfolgreich bewältigt werden kann. Somit ist es auch eine Zukunftsinvestition zur Sicherung vorhandener und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Ich kenne auch die Kritik der Kolleginnen und Kollegen von den Grünen bezüglich der Streichung des Meister-BAföG aus dem Arbeitsförderungsgesetz ebenso wie ihre Kritik am bestehenden beruflichen Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz. Aber auch Sie wollen - Sie haben das öffentlich kundgetan - angeblich im Rahmen eines Bündnisses für Bildung eine umfassende Reform der Ausbildungsförderung in Angriff nehmen. Eine Diskussion zum Arbeitsförderungsgesetz möchte ich hier nicht unbedingt neu beginnen, aber eines möchte ich feststellen: Die AFG-Förderung war eine Leistung der Arbeitslosenversicherung und war an die Voraussetzung einer mindestens zweijährigen beitragspflichtigen Beschäftigungszeit geknüpft und hatte sozusagen eine Art Lohnersatzfunktion. Die Finanzierung der AFG-Förderung hing stark von konjunkturellen Entwicklungen ab. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wurde die Förderung der beruflichen Fortbildung, wenn es sich nicht gerade um Wiedereingliederungmaßnahmen von Arbeitslosen handelte, immer wieder zusammengestrichen. Ein aus Steuermitteln finanziertes Aufstiegsfortbildungsgesetz, das einen Rechtsanspruch begründet, ist meines Erachtens der richtige Weg. Auch die Berechnungsgrundlagen des Unterhaltsgeldes nach dem AFG waren geeignet, die berufliche Aufstiegsfortbildung vor dem Hintergrund der Gleichheit von beruflicher und allgemeiner Bildung zu sehen. Das Herangehen der Kollegen von der Union bei der Erarbeitung Ihres Antrags und der Formulierung Ihrer Forderungen läßt mich allerdings wieder zu der Feststellung kommen, daß bis zum Sommer der Entwurf eines einheitlichen Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf den Tisch gelegt werden muß. Zu nahe stehen Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz und Bundesausbildungsförderungsgesetz beieinander, als daß wir heute die uns gegebene Chance wieder einmal verpassen dürften. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat sich wie folgt geäußert: Im Hinblick auf rund 200 000 Handwerksbetriebe, die in den nächsten Jahren zur Übernahme anstehen, muß insbesondere die Existenzgründungskomponente des Gesetzes praxisnäher ausgestaltet werden. Das wollen auch wir. Der Zentralverband forderte ebenfalls, daß bei Existenzgründungen und Übernahmen verstärkt Darlehen erlassen und bei späteren Existenzgründungsdarlehen Zinsvergünstigungen gewährt werden. Das ist unterstützungswürdig. Ferner sollte das Antrags- und Bewilligungsverfahren auf das unbedingt notwendige Maß an Bürokratie beschränkt werden. Dieses Thema treibt die F.D.P. ziemlich stark um. Ich frage mich, warum man bei der Beantragung von Meister-BAföG 20 Seiten ausfüllen muß. Das halte ich für durchaus korrigierbar. Über dieses Thema sollten wir uns verständigen. Herr Kollege Lensing von der Union, wir freuen uns mit Ihnen auf die Beratung im Ausschuß ({11}) und hoffen auf weitere interessante Gespräche. Vielen Dank. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Margareta Wolf.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Pieper, ich finde es gut, daß Sie für eine grundlegende Reform des Bildungssystems einstehen. Ich finde es auch gut, daß Sie, nachdem Sie jetzt fünf Monate in der Opposition sind, sich für eine grundlegende Förderung von Existenzgründungen aussprechen. Ziel der Politik der Koalition ist es, Existenzgründungen zu erleichtern und die Innovationskraft des Handwerks zu stärken, ({0}) um so mehr Arbeitsplätze beim Handwerk zu schaffen. Das ist eine wirtschaftspolitische, eine gesellschaftspolitische und eine arbeitsmarktpolitische Herausforderung. ({1}) - Ich habe den Eindruck, daß Sie es zum System machen, ständig dazwischenzuquatschen. Wenn Sie sich langweilen, dann gehen Sie doch hinaus. Sie können auch eine Zwischenfrage stellen. ({2}) Meine Damen und Herren, uns geht es darum, die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß Menschen selbständig und eigenverantwortlich zentrale wirtschaftliche Aufgaben übernehmen. Es ist für uns eine Herausforderung, wenn die OECD festgestellt hat, daß es in Deutschland ein Defizit von 500 000 Existenzgründern und Selbständigen gibt. Geht man pro selbständigen Unternehmer von einer durchschnittlichen BeschäftigCornelia Pieper tenzahl von drei aus, so ist mehr Selbständigkeit auch die Voraussetzung für mehr Beschäftigung in Deutschland. Besonders in bezug auf das von Ihnen, Herr Lensing, und auch vom ZDH angesprochene Problem des anstehenden Generationenwechsels - es ist die Rede von 200 000 Betrieben - ist es dringend erforderlich, zu Lösungen zu kommen, die mehr Wettbewerb und mehr Selbständigkeit ermöglichen. Wirtschaftspolitisch ist es daher geboten, die Fachkräfte aus den Handwerksbetrieben auf die Führung eines selbständigen Handwerksunternehmens vorzubereiten. ({3}) Es ist notwendig, faire Zugangschancen zum Erwerb des Meisterbriefes zu schaffen. Diese fairen Chancen müssen für unsere Begriffe zwei Kriterien berücksichtigen: Es muß erstens um die Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen gehen, die auf die Prüfung zum sogenannten großen Befähigungsnachweis vorbereiten; hier sind dringend zusätzliche Anstrengungen bei den Handwerkskammern notwendig. ({4}) Zweitens geht es uns um die staatliche Unterstützung bei der Übernahme der Kosten. Das in der letzten Legislaturperiode geschaffene Instrument der Aufstiegsfortbildungsförderung stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar. Wir finden es gut, daß auch Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, erkannt haben, daß es hier Nachbesserungsbedarf gibt. Ich greife auf, was vorhin jemand aus Ihren Reihen sagte: „Wir haben verstanden.“

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Scherhag?

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. ({0})

Karl Heinz Scherhag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002773, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Wolf, ich kann mich noch erinnern, daß Sie in der letzten Legislaturperiode nicht bereit waren, die Novellierung der Handwerksordnung gemeinsam mit der SPD, der F.D.P. und uns zu verabschieden. Sie waren damals gegen die Meisterprüfung und sagten, daß man eigentlich keine Meisterprüfung brauche. Nachdem Sie nun in die Regierung eingetreten sind, frage ich Sie: Hat sich Ihre Meinung in diesem Punkt geändert, oder wie soll ich das verstehen, was Sie gerade ausgeführt haben?

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Scherhag, das ist eigentlich eine klassische Frage, wie ich sie immer von Herrn Hinsken erwarte. Er ist im Moment nicht anwesend. Gedulden Sie sich bitte etwas. Ich komme selbstredend noch zu diesem Punkt, und dann können wir uns darüber weiterunterhalten. Herr Catenhusen hat darauf hingewiesen, daß der Bundestag in der letzten Legislaturperiode einen Erfahrungsbericht in Auftrag gegeben hat, der jetzt fertiggestellt wird, in die Ressortabstimmung geht und mit den Ländern diskutiert werden wird. Ich fände es gut - das hat aber auch schon Herr Catenhusen gesagt -, wenn wir diesen Erfahrungsbericht und die Defizite und die notwendigen Reformen des jetzt noch in Kraft befindlichen Gesetzes im Wirtschaftsausschuß ({0}) diskutierten und entsprechende Reformen am Gesetz vornähmen. Ich glaube - darüber herrscht in diesem Hause ganz offensichtlich Konsens -, Reformbedarf besteht ganz zweifelsohne. Die Förderung der Ausbildung zum Meister hat sich als nicht ausreichend praktikabel erwiesen. Die Zahl der erfolgreich abgelegten Meisterprüfungen ist in den letzten Jahren - auch das wurde schon angesprochen - immer weiter zurückgegangen. Die Eigenkapitaldecke muß gewährleistet bleiben und darf nicht angeknabbert werden. Das muß im Gesetzentwurf geregelt werden. Ich glaube auch, daß Rückzahlungen flexibler gestaltet werden sollten und daß die Berücksichtigung des Familienstatus - das Leben mit Kindern - Einzug in das Gesetz finden sollte. ({1}) Ich bin auch der Meinung, daß die derzeitige Verwaltungspraxis bei der Bewilligung des Meister-BAföG offensichtlich zu kompliziert ist. Heute ist es nötig, für einen Antrag 25 DIN-A4-Seiten auszufüllen. Das ist Bürokratie, die wir abbauen sollten. Wir sollten transparente und leicht nachvollziehbare Regelungen schaffen. Eine Förderung von mehr Selbständigkeit im Handwerk darf nicht an bürokratischen Hürden scheitern. ({2}) Unserer Vermutung nach - das sagen uns auch die Handwerkskammern - hat die Überregulation im Gesetz etwas damit zu tun, daß die Förderung zumindest nicht in dem Umfang, in dem es geplant war, in Anspruch genommen wurde. Aber gerade weil sie nicht in diesem Ausmaß in Anspruch genommen wurde, haben wir im Haushalt 1999 eine Korrektur des Ansatzes gegenüber dem Entwurf der alten Koalition vorgenommen. 1998 - das wurde schon gesagt - sind von den eingestellten Mitteln lediglich 56,2 Millionen DM in Anspruch genommen worden. In Ihrem Entwurf gingen Sie für das laufende Haushaltsjahr von 166,7 Millionen DM aus. Wir haben diesen Ansatz auf 100 Millionen DM zurückgeführt. Damit liegen die zur Verfügung stehenden Mittel noch immer über denen, die im letzten Jahr in Anspruch genommen wurden. Margareta Wolf ({3}) Meine Damen und Herren von der Opposition, in diesem Kontext muß ich Sie etwas fragen: Warum haben Sie nicht im Wirtschaftsausschuß den heute vorliegenden Antrag vorgelegt? Diese Frage beschäftigt mich. Sie haben im Wirtschaftsausschuß einen Antrag vorgelegt, die Mittel im laufenden Haushalt auf 166,6 Millionen DM zu erhöhen. Ich stelle diese Frage deshalb, weil ich mich im Kontext der uns bevorstehenden zweiten und dritten Lesung des Haushalts frage, was für eine Haushaltsstrategie Sie verfolgen. Verfolgen Sie eine Strategie der Konsolidierung, wie sie die SPD verfolgt - Herr Faltlhauser spricht sich übrigens sehr für diese Strategie aus -, oder verfolgen Sie eine Politik des leichten Geldes, die erst einmal Mittel einstellt und sich dann mit irgendwelchen Reformen beschäftigt? ({4}) - Wir haben einen entsprechenden Antrag im Wirtschaftsausschuß gehabt. Im Ausschuß wurde von einem Antrag „Strukturelle Innovation des Meister-BAföG“ überhaupt nicht gesprochen. Sehr geehrte Damen und Herren, mir scheint klar zu sein, daß mehr Ausbildungsberechtigte und mehr neue Unternehmen durch die Abschaffung oder die Reduktion von Ausbildungshemmnissen dem Mangel an Ausbildungsplätzen nachhaltig entgegenwirken könnten. Die bestehenden Beschränkungen der Ausbildungsberechtigung weisen auf ein großes Potential zur Erhöhung der Zahl der Ausbildungsberechtigten und damit Selbständigen hin. 50 bis 60 Prozent aller Auszubildenden werden nach den allgemeinen Regeln des Berufsbildungsgesetzes ausgebildet. Hier reicht das Facharbeiterniveau als fachliche Voraussetzung für die Ausbildung zum Facharbeiter, aber auch für Selbständigkeit aus. Für rund 30 bis 40 Prozent der Auszubildenden, die in Berufen der Anlage A der Handwerksordnung ausgebildet werden, wird jedoch Meisterniveau als fachliche Voraussetzung für die Berechtigung zur Ausbildung von Facharbeitern und Selbständigkeit gefordert. Diese historisch gewachsenen unterschiedlichen fachlichen Voraussetzungen für Ausbildereignung und Selbständigkeit halte ich weder für zeitgemäß, noch sind sie meiner Ansicht nach sachlich zu rechtfertigen. Wenn es noch eines Nachweises bedurft hätte, so belegt der Erfolg des Berufsbildungsgesetzes seit 30 Jahren, daß es völlig ausreicht, wenn der Ausbilder eines Facharbeiters über Facharbeiterniveau verfügt. In der Industrie hat es sich bewährt, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß derjenige, der die Ausbildereignungsprüfung abgelegt hat, fachlich qualifiziert ist, diesen Beruf selbständig auszuüben. Ich meine, daß es zu einem schnellen Anstieg der Zahl der Unternehmensgründungen führen würde, wenn die Ausbildungsberechtigung und Selbständigkeit im Handwerk nach Ablegen der Gesellenprüfung und der Ausbildungseignungsprüfung eingeräumt würde. Damit würde auch dem von Ihnen zu Recht angesprochenen Problem des Generationenwechsels im Handwerk Rechnung getragen. ({5}) Diese Flexibilisierung halten wir im Interesse einer Erleichterung der schon angesprochenen Übernahmen, aber auch im Interesse von mehr Ausbildungsplätzen im Handwerk für notwendig. Diese Flexibilisierung würde nicht nur zu mehr Arbeitsplätzen führen. Sie wäre insgesamt belebend für die gesamte Wirtschaftsentwicklung in diesem Land und würde wichtige Teile der Schwarzarbeit - wir wissen, wenn ein Markt heute wirklich gut funktioniert und expansiv ist, dann ist es der Schwarzmarkt - in den Bereich der legalen Wirtschaft überführen. Die Praxis in der Industrie und den nichthandwerklichen Gewerben belegt nicht erst seit der Schaffung des Berufsbildungsgesetzes vor 30 Jahren, sondern bereits seit dem 19. Jahrhundert, daß die Ausbildung hochqualifizierter Facharbeiter in ausreichender Zahl möglich ist, ohne die Freiheit von Betriebsinhabern zu selbständiger Gewerbeausübung an den Nachweis persönlicher Fachqualifikation zu binden. Ich möchte Sie daran erinnern, daß wissenschaftliche Gremien, wie die Monopolkommission, Herr Scherhag, die Deregulierungskommission, Verbände wie der DIHT, der BDI, der Bundesverband Junger Unternehmer und die ASU, in den letzten Monaten und Jahren ständig auf das Problem der Einschränkung der Gewerbefreiheit - Wettbewerb auf dem Markt, Schaffung von mehr Arbeitsplätzen, von mehr Selbständigkeit und deren Folgen hingewiesen hat. Ich glaube, daß der von Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, beschriebene und auch von mir als besorgniserregend angesehene Mangel an Unternehmen in Deutschland mehr Ursachen hat als ein nicht wirkungsvolles Meister-BAföG. ({6}) Ich bin sicher, daß vielmehr die Zugangsvoraussetzungen für die Gründung einer selbständigen Existenz in Deutschland, die im europäischen Vergleich sehr hoch sind, der Grund für die schwache Selbständigenquote ist. Um in einem Vollhandwerk selbständig zu sein, ist nach wie vor die Eintragung in die Handwerksrolle erforderlich, wofür wiederum das erfolgreiche Ablegen der Meisterprüfung Voraussetzung ist. Fast alle anderen europäischen Länder begnügen sich mit Zulassungsregeln für die sogenannten gefahrengeneigten Handwerke. Ich glaube, daß der schwierige Zugang zum Handwerk nicht nur unter wettbewerblichen Gründen, worauf die Monopolkommission vor allem hingewiesen hat, bedenklich ist, sondern ich glaube, daß er Existenzgründungen behindert, für die niedrige Selbständigenquote verantwortlich ist und daß diese hohen Hürden beim Zugang zum Handwerk die eigentliche Ursache für das dramatische Problem sind, daß für 200 000 Betriebe im Handwerk keine Nachfolge vorhanden ist. Margareta Wolf ({7}) Wir, die Koalition, haben uns vorgenommen, hier für Erleichterungen zu sorgen. Ich würde mich freuen, wenn wir auch die Bildungspolitiker an unserer Seite hätten, die offenbar erkannt haben, daß wir mehr Selbständigkeit und mehr Unternehmen in Deutschland brauchen, wodurch wir mehr Arbeits- und Ausbildungsplätze bekommen würden. Danke. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Maritta Böttcher von der PDS-Fraktion.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon seltsam, wenn ausgerechnet von denjenigen, die die Förderung der Aufstiegsfortbildung dorthin gebracht haben, wo sie heute ist, der Ausbau ihres Meisterstücks beantragt wird. Deshalb möchte ich einiges in Erinnerung rufen. Bereits in den Debatten um die Einführung des Meister-BAföG wurde von den Sachverständigen darauf hingewiesen, daß die von der damaligen Bundesregierung großmundig verkündete Reformtat zur Aufwertung des beruflichen Bildungsweges sich bei näherem Hinsehen als Rückschritt und Begräbnis der Aufstiegsfortbildung entpuppt. Mit dem Scheinargument der Angleichung der Weiterbildungsförderung Berufstätiger an die Studienförderung wurde verschleiert, daß es bis 1993 weitaus günstigere Förderungsmöglichkeiten über das AFG gab. Damals bekam ein Facharbeiter, der sich zum Techniker fortbilden ließ, etwa ein Drittel der Lehrgangsgebühren bezahlt. Dazu kam ein Darlehen in Höhe von 58 Prozent des letzten Nettoverdienstes. Der Betrag war nach einer zweijährigen tilgungsfreien Zeit innerhalb von siebeneinhalb Jahren zurückzuzahlen. Auch wenn die Fortbildung Schulden mit sich brachte, konnte doch zumindest der Lebensunterhalt bezahlt werden. Seit der Abschaffung der Aufstiegsfortbildungsförderung im AFG ging die Zahl der Teilnehmer und Teilnehmerinnen erheblich zurück. Diese Lücke sollte dann durch ein Reparaturgesetz - mehr war die Einführung des Meister-BAföG nicht - geschlossen werden. Mit der Neuregelung laufen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Maßnahmen mit Vollzeitschule Gefahr, ihre laufenden Ausgaben nicht mehr bestreiten zu können und unter den Sozialhilfesatz zu fallen. Für Lehrgangs- und Prüfungsgebühren gibt es keine Zuschüsse, sondern nur Bankdarlehen. Für die PDS war die Einführung der privatrechtlichen Regelung des Darlehenteils der entscheidende Grund, das Gesetz in der vorgelegten Form abzulehnen. Damit wurde ein weiterer Schritt zur Privatisierung der Bildungskosten gegangen, da verzinste Bankdarlehen voll zu Lasten von Teilnehmerinnen und Teilnehmern gehen, die nicht über ausreichende Finanzierungsmöglichkeiten verfügen. Bildungskosten werden individualisiert, so daß gleichberechtigte Teilhabe für immer weniger Gruppen möglich wird. Das bedeutet: Das soziale Grundrecht auf Bildung wird ausgehebelt. Mit genau diesen Effekten in der Wirkung des Gesetzes haben wir es nun zu tun. Wer über genügend finanzielle Mittel verfügt, ist nicht auf den Staat angewiesen, wenn er sich weiterbilden will. Eben jene, die staatliche Unterstützung brauchen, sollen sich auf Grund völlig unzureichender Fördersätze auch noch bei privaten Banken mit allen Risiken der Rückzahlung solcher Darlehen verschulden. So ist es kaum verwunderlich, wenn zwischen den Prognosen der alten Bundesregierung und der tatsächlichen Inanspruchnahme des Gesetzes eine erhebliche Lücke klafft. Das ist eben nicht nur mit den vielzitierten Anlaufschwierigkeiten, sondern vor allem mit Konstruktionsfehlern des Gesetzes insgesamt zu erklären. Während des Gesetzgebungsverfahrens war die Bundesregierung davon ausgegangen, daß im Jahresdurchschnitt 90 000 förderungsfähige Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Aufstiegsfortbildungsmaßnahmen zu erwarten seien. Real kamen - die Zahl ist heute schon einmal genannt worden - in den Jahren 1996 und 1997 nicht einmal 70 000 Personen zusammen. Auf die stolze Feststellung im CDU/CSU-Antrag, daß in diesem Jahr möglicherweise der 100 000. angehende Meister seinen Bewilligungsbescheid erhält, möchte ich mit dem Hinweis antworten, daß wir uns bereits im Jahre 1999 befinden und diese Zahl nach den ursprünglichen Prognosen eigentlich schon 1997 erreicht sein sollte. Ob sich das Meister-BAföG damit tatsächlich, wie im Antrag formuliert, als wirksames Mittel erwiesen hat, um Menschen den Weg zur Betriebsgründung zu erleichtern, ist wohl mehr als zweifelhaft. Leider liegt auch dem Parlament der von der alten Bundesregierung zum Herbst 1998 angekündigte Erfahrungsbericht nicht vor. Der durchschnittliche Unterhaltsbeitrag von 1 009 DM, der 1996 gezahlt wurde und von dem 730 DM als Darlehen gewährt wurden, wirkte offensichtlich weniger motivierend als abschreckend auf potentielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Noch deutlicher wird das Problem hinsichtlich der Akzeptanz der Darlehensbestimmungen, des Frauenanteils und der Inanspruchnahme des Kinderbetreuungszuschusses. 1996 lag der Frauenanteil bei 14,6 Prozent. Lediglich 92 AFBG-Geförderte erhielten einen Zuschuß zu den Kosten der Kinderbetreuung. Trotz dieser Zahlen sah die damalige Bundesregierung hier keinen Handlungsbedarf, da ja die Förderbedingungen angeblich die Situation von Frauen durch die Einbeziehung von Kinderbetreuungskosten ausreichend berücksichtigen. Im vorliegenden Antrag wird nun immerhin eine Erhöhung auf 250 DM gefordert. Abgesehen davon, daß die Antragstellerinnen und Antragsteller alle nun geforderten Verbesserungen schon lange hätten realisieren können, bleibt die gesetzliche Regelung auf diesem Gebiet unterm Strich selbst mit den im Antrag geforderten Verbesserungen ungenügend. Berufliche Aufstiegsfortbildung ist der zentrale Drehund Angelpunkt für eine tatsächliche Erhöhung der Margareta Wolf ({0}) Attraktivität beruflicher Bildung. Nur wenn sie in bezug auf Zugangs-, Berufs- und Karrierechancen gleichwertig neben dem Hochschulstudium steht, wird Gleichwertigkeit vom leeren Versprechen zur Realität. Die Verknüpfung mit dem BAföG hatte in diesem Zusammenhang auch weniger mit dem Anspruch der Gleichwertigkeit zu tun, als daß hier Türen zum ZinsBAföG aufgestoßen werden sollten. Am Ende kam keine bessere Förderung der größeren Gruppen von Lernenden und Studierenden heraus, sondern eine schlechtere Förderung für immer weniger Bedürftige. Gleichheit herrscht vor allem hinsichtlich des Risikos, sich für eine Aus- oder Weiterbildung ordentlich zu verschulden. Für uns dagegen muß staatliche Förderung von Ausund Weiterbildung zuerst und vor allem zum Ausgleich von Startunterschieden und zum Abbau von sozialen Hürden beitragen. ({1}) Das tut dieses Gesetz auf keinen Fall. Wir brauchen eine sozialstaatlich und auf Chancengleichheit ausgerichtete Bildungsfinanzierung, und zwar in allen Bildungsbereichen. Darüber sollten wir uns in den einzelnen Ausschüssen und hier im Parlament Klarheit verschaffen. Dann bekommen wir auch Ergebnisse, die all diesen Bedingungen allumfassend gerecht werden. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Ilse Aigner.

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Rund 70 Prozent aller Beschäftigten werden auch in Zukunft eine praxisnahe, in beruflicher Erst- und Weiterbildung erworbene berufliche Qualifikation benötigen. Gerade die berufliche Aus- und Weiterbildung wird damit mehr denn je zu einer wesentlichen Zukunftsaufgabe; ich glaube, da sind wir uns alle einig. Die berufliche Qualifikation ist in hohem Maße ausschlaggebend für die Qualität eines Wirtschaftsstandortes, für die Chancen im Wettbewerb auf dem Weltmarkt und die Anziehungskraft für Investoren. Berufliche Qualifikation muß von uns noch deutlicher als Standortvorteil erkannt werden. Dieser Standortvorteil muß gesichert und ausgebaut werden. Angesichts des rascheren Technologiewandels und des internationalen Wettbewerbs um Standorte und Marktanteile können wir uns hier keine Versäumnisse leisten. Der sich abzeichnende Mangel an qualifizierten Betriebsführern bedroht den reibungslosen Generationenwechsel. Es ist schon ausführlich darauf hingewiesen worden. Mit dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, AFBG, besser unter Meister-BAföG bekannt, wurde in der letzten Legislaturperiode von der damaligen Regierung ein wirksames Mittel geschaffen, ({0}) um jungen, begabten Menschen den Weg in die Selbständigkeit zu eröffnen und Betriebsgründungen zu erleichtern. ({1}) Bedauerlicherweise wurden die Mittel in diesem Haushaltsentwurf um 40 Prozent gekürzt; wir haben die Zahl jetzt schon mehrfach gehört. Herr Staatssekretär Catenhusen, wenn Sie erkannt haben, daß die Mittel nicht ausgeschöpft werden, vielleicht auch weil Mängel im bisherigen Entwurf sind, dann hätten Sie eigentlich schon Zeit gehabt, dies gemeinsam mit der generellen BAföG-Novelle in Angriff zu nehmen. ({2}) Es gäbe ein paar Punkte, die Sie durchaus hätten aufgreifen können. Ich begrüße es, wenn Sie jetzt im Verfahren, auch ohne Gesetzentwurf, einiges erleichtern wollen. Aber das kann keine Entschuldigung dafür sein, daß man, weil Mängel bestehen, die Mittel zurückführt und damit ein vollkommen falsches Signal Richtung Mittelstand sendet. ({3}) Weil wir dies erkannt haben, haben wir von der CDU/CSU diesen Antrag eingebracht, um durch die Aufwertung des AFBG ein deutliches Zeichen in Richtung Mittelstand zu setzen. Mit einer Verbesserung des Meister-BAföG würde sich die Zahl der Fortbildungsteilnehmer deutlich erhöhen, was wir alle hoffen. Damit würde die so dringend benötigte unternehmerische Gründungswelle in unserem Land deutlich beschleunigt werden. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, daß der heute besprochene Antrag meiner Ansicht nach noch ein Stück weitergehen könnte. Ich werde deshalb versuchen, einen Ergänzungsantrag einzubringen, und zwar in zwei Richtungen. Zwei Beispiele. Hinsichtlich der angestrebten förderrechtlichen Gleichstellung von Studium und Aufstiegsfortbildung sollte meiner Meinung nach der Beitrag zur Deckung des Unterhaltsbedarfs den Teilnehmern dieser Maßnahme auch in Teilzeitform gewährt werden, was bisher noch nicht der Fall ist. ({4}) Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, daß ein Großteil der Teilnehmer die Maßnahmen in Teilzeitform durchlaufen. Dies gilt insbesondere für Maßnahmen der IHK. Diese Teilnehmer erzielen aber nicht notwendigerweise ein eigenes Einkommen, aus dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Gerade für familiär Gebundene, die auf Grund der finanziellen Situation der Familie auf Nebeneinkünfte angewiesen sind, wird eine Fortbildung in Teilzeitform attraktiv, wenn sie Fortbildung und Familie verbinden können und dabei der Lebensunterhalt gesichert ist. Außerdem bin ich der Ansicht - in diesem Punkt muß ich der PDS zustimmen, was mir, ehrlicherweise gesagt, nicht ganz leicht fällt -, ({5}) daß die Lehrgangs-, Prüfungs- und Meisterstückkosten bei der Vollzeitförderung, aber auch natürlich bei der Teilzeitförderung vollkommen übernommen werden sollten. Warum bin ich dieser Ansicht? Nachdem in der universitären Ausbildung sowohl das Studium als auch die Prüfungen kostenlos sind, würde diese Maßnahme zu einer wirklichen Gleichstellung von akademischer und beruflicher Bildung in diesem Bereich führen. Auch die Chancengleichheit zwischen denen, die einen beruflichen Weg beschreiten, und denen, die eine akademische Ausbildung durchlaufen, würde sichergestellt werden. ({6}) Das heißt nicht zuletzt: Wichtige Aufgabe einer zukunftsgerichteten Bildungspolitik muß auch sein, darauf hinzuweisen, daß Abitur und Studium nicht unbedingt der alleinseligmachende Königsweg sind. Das MeisterBAföG kann dazu beitragen, die Attraktivität der nichtakademischen Laufbahn gegenüber der akademischen Laufbahn zu steigern. Ich möchte dazu noch einen Punkt anschließen. Die Förderung sollte nicht nur diejenigen betreffen, die sich selbständig machen. Sie ist auch für diejenigen wichtig, die sich innerhalb ihres Berufes weiterqualifizieren wollen. Ich kann aus eigener Erfahrung sprechen: Technikerlaufbahn, Aufstieg innerhalb des abhängigen Beschäftigungsverhältnisses. Solange viele meinen, nur mit dem Abitur wirklich etwas werden zu können, darf es uns nicht wundern, wenn in manchen Ländern die Gymnasien schon kurz davor sind, die meisten Schülerzahlen zu tragen und damit zur eigentlichen Hauptschule zu werden. Dies führt übrigens nicht unbedingt zu einer Qualitätssteigerung an den Hochschulen, insbesondere nicht im internationalen Vergleich. Die Förderung und der Ausbau des Meister-BAföG muß auch zukünftig ein zentrales Anliegen dieser Regierung sein. Wir brauchen in unseren Unternehmen Menschen, die für Neues aufgeschlossen sind, zukunftsorientiert handeln und dadurch im Ergebnis Unternehmen auf Erfolgskurs halten. ({7}) Die an unseren Meister- und Technikerschulen gebotene Qualität setzt Maßstäbe; das Leistungsniveau ist anerkannt hoch. An dieser Stelle muß ich leider einen kleinen Seitenhieb in Richtung des Herrn Bundeskanzlers loswerden. Mich hat sehr geärgert, daß er sich als Model zur Verfügung gestellt hat und dann die deutsche Textilwirtschaft verunglimpft hat, indem er sagte, nur die italienischen Maßanzüge würden passen. Das ist eine Beleidigung des deutschen Handwerks und insbesondere der deutschen Textilindustrie. ({8}) Zurück zur Förderung von Absolventen von beruflichen Aufstiegslehrgängen. Die Bayerische Staatsregierung hat einer ihrer Grundaussagen - „Leistung muß sich lohnen“ - auch Taten folgen lassen. Ich möchte ein Beispiel anführen: Der Freistaat Bayern hat für die besten 30 Prozent der Absolventen von Meister-, Techniker- und sonstigen vergleichbaren Ausbildungslehrgängen einen Meisterpreis mit Prämien zwischen 1 000 DM und 3000 DM ausgelobt. Damit wurde in diesem Bereich ein wichtiges Zeichen gesetzt. Seit 1995 wurden knapp 30 Millionen DM als Prämie für den Meisterpreis ausbezahlt. Dies könnte auch auf Bundesebene ein gutes Beispiel sein, dem Sie gern folgen können. Ich appelliere an Sie, den Antrag zum Ausbau der Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung zu unterstützen. Das Aufstiegsfortbildungsgesetz ist ein Beitrag, den Fachkräftenachwuchs vor allem der mittelständischen Wirtschaft zu sichern und die Anzahl der Fachkräfte zu erhöhen. Die Wirtschaft muß auch durch Qualität der Ausbildung im Lande gehalten werden. Das vordergründig Billigste ist nicht unbedingt immer das Kostengünstigste. Deutsche Qualitätsarbeit ist im In- und Ausland stets honoriert worden. Hier müssen wir weiter am Ball bleiben. Längst sind die Zeiten vorüber, wo man Bildung bzw. Ausbildung im Gegensatz zu den sogenannten harten Standortfaktoren eher gering einschätzte. Wir müssen deshalb alle Anstrengungen unternehmen, um durch eine zukunftsgerichtete Bildungspolitik den Fachkräftenachwuchs für unser Land zu sichern. Vielen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPDFraktion hat der Kollege Heinz Schmitt das Wort.

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Verbesserung der Aufstiegsfortbildung, der zeigt, daß unsere Argumente in dem einen oder anderen Fall auch bei der Opposition auf fruchtbaren Boden fallen können. ({0}) - Herr Lensing, Sie kommen gleich dran. Wir können Ihrem Antrag zum bestehenden Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz - schon der Name ist eigentlich eine Zumutung ({1}) - ich komme gleich zu Ihnen - in vielen Punkten durchaus zustimmen. Natürlich will die Bundesregierung, natürlich wollen wir, die SPD-Fraktion, daß unternehIlse Aigner merisch denkenden und handelnden Menschen der Weg in die Selbständigkeit geebnet wird. Natürlich wollen wir, daß genügend gute Fachkräfte ausgebildet werden, zum Beispiel um die über 700 000 anstehenden Betriebsübergaben bewerkstelligen zu können. Natürlich wollen wir, daß junge Frauen und Männer lernen, einen Betrieb zu führen und Lehrlinge auszubilden, und sich umfassende fachliche, betriebswirtschaftliche und rechtliche Kenntnisse aneignen können. Und: Natürlich wollen wir, daß die duale Ausbildung in der Meisterprüfung ihre Weiterqualifizierung erfahren kann. Wir brauchen also auch in Zukunft den sogenannten großen Befähigungsnachweis. ({2}) Es ist aber auch richtig, daß das Gesetz zur Förderung der Aufstiegsfortbildung noch ein Werk der alten Bundesregierung ist. ({3}) Die Kollegin Aigner hat gerade gesagt, daß wir, wenn wir Mängel erkannt haben, auch diese - in der kurzen Zeit - hätten angehen können. Ich kann Ihnen sagen, Frau Aigner: Wir haben in diesen ersten 120 Tagen schon einiges von dem gerichtet, was Sie uns hinterlassen haben. ({4}) Lassen Sie uns noch etwas Arbeit für die nächsten über 1 000 Tage übrig! Mit Ihrem Antrag bestätigen Sie: Das AFBG ist eben nicht die Erfolgsstory, wie Sie und der ehemalige Bundesbildungsminister vor zwei Jahren verkündet haben. Das wird durch die Zahlen, die mittlerweile vorliegen, belegt. Der Mittelabfluß für Fördermaßnahmen nach dem AFBG lag in den letzten drei Jahren, nach Inkrafttreten des Gesetzes, grundsätzlich, und zwar beträchtlich, unter den jeweiligen Haushaltsansätzen. Darauf haben wir reagiert. Deshalb haben wir für 1999 einen realitätsnahen Haushaltsansatz vorgesehen. Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine kurze Bemerkung zum Kollegen Werner Lensing. Herr Lensing, Sie haben im „Deutschen Handwerksblatt“ vom 18. März gesagt, die Kürzung des Meister-BAföG sei eine Tat der Bundesregierung. Diese Aussage ist - ich sage es einmal kollegial - zumindest irreführend. Sie haben vorhin von Wahrheit und Moral gesprochen; Sie standen hier wie ein regelrechter Wahrheitsapostel. ({5}) Sie wissen es aber besser. Sie wissen, daß den Leistungen des AFBG ein Rechtsanspruch zugrunde liegt. Sie wissen, daß jeder/jede nach dem Gesetz förderungsfähige Antragsteller/Antragstellerin auch in Zukunft uneingeschränkt die Leistungen erhalten wird. Wenn Sie und Ihre Parteifreunde in der Öffentlichkeit solche Fehlinformationen verbreiten, dann verunsichern Sie angehende Jungmeister und Fachkräfte erst recht. Dies ist das genaue Gegenteil von Motivation. ({6}) Eigentlich können Sie sich Ihren Antrag sparen, wenn Sie in der Öffentlichkeit mit einer solchen Polemik operieren. ({7}) Das AFBG hat Mängel; diese haben wir schon vor drei Jahren immer wieder moniert. Es ist ein Reparaturgesetz. Es wurde verabschiedet, nachdem Sie gesehen haben, was Sie mit der Abschaffung der alten Aufstiegsförderung angerichtet haben. Hinzu kam das Tempo, der Zeitdruck, unter dem das Gesetz damals zustande kam. Wir brauchen daher keine Schauanträge und keine Schnellschüsse, sondern eine Reform der Aufstiegsförderung. ({8}) Wir brauchen eine Reform der Aufstiegsförderung, die gründlich durchdacht und attraktiv sein muß. Wir müssen auf die geänderte Lebenssituation der jungen Meisterinnen und Meister eingehen. Wir müssen die geänderten Berufsfelder berücksichtigen. Wir müssen auch die gesamte Veränderung der wirtschaftlichen Lage beachten. All dies gilt es zu berücksichtigen. Es nützt deshalb nichts, wenn wir jetzt nur punktuell nachbessern. Das ist auch der Grund dafür, daß wir Ihren Antrag heute leichten Herzens ablehnen werden. ({9}) Die Bundesregierung wird im Laufe der Legislaturperiode eine Neuregelung vorlegen. Ich lade Sie, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, herzlich ein, in Zukunft konstruktiv und kooperativ an diesem wichtigen Vorhaben mitzuarbeiten. Vielen Dank. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Walter Hirche.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Immerhin hat diese Debatte ergeben, daß es verbal Gemeinsamkeiten gibt, mehr Aufstiegsfortbildung und mehr Selbständigkeit zu ermöglichen. Ich halte aber daran fest, daß es in der Sache in etlichen Punkten erhebliche Unterschiede gibt. Für die F.D.P. stelle ich fest: Erstens. Wir sind der Meinung, daß sich das MeisterBAföG trotz der Zahlen, über die man nicht diskutieren kann, bewährt hat und eine Grundlage bildet, auf der man weiter aufbauen kann. Deswegen haben wir den von der CDU/CSU eingebrachten Antrag begrüßt und halten ihn für richtig. ({0}) Heinz Schmitt ({1}) Man muß das Meister-BAföG in Richtung Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung und Förderung weiterentwickeln. Vielleicht könnten wir darüber Einigkeit erzielen. ({2}) Zweitens. Ich sage - gerade im Anschluß an das, was Frau Wolf und soeben auch der Kollege Schmitt gesagt haben - dazu: Wir sind der Auffassung, daß sich die Qualifikationsmuster im Handwerk bewährt haben und daß man an eine Änderung nicht in Form einer plumpen Nivellierung herangehen und sagen kann: Weil das in der Industrie anders geregelt ist, tun wir das jetzt im Handwerk genauso. Es sollte vielmehr am großen Befähigungsnachweis festgehalten werden. ({3}) Gewisse Flexibilitäten sind möglich. Herr Schwanhold, dazu hat es in der letzten Legislaturperiode einen Kompromiß gegeben. Auch für uns ist das nicht einfach. Die Gewerbefreiheit ist ein sehr hohes Gut. Aber wenn ich sehe, daß im Handwerk die Zahl der Insolvenzen nur halb so hoch ist wie in der übrigen Wirtschaft, dann bedeutet das, daß ich, wenn der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen an erster Stelle stehen sollen, eine Güterabwägung vornehmen muß. Daher ist an der Meisterprüfung festzuhalten. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, daß sie als Qualitätsmerkmal erhalten bleibt. ({4}) Drittens. Frau Wolf, einen von Ihnen aufgeführten Punkt nehme ich durchaus positiv auf. Sie haben gesagt: Die vorhandenen Mängel betreffen nicht nur das Thema Meister-BAföG. Da sind wir uns einig. Aber Sie haben einen der wichtigsten Punkte vergessen. Wenn Sie die steuerlichen Rahmenbedingungen für Selbständige in der Weise, wie Sie das getan haben, von einem Tag auf den anderen dramatisch verschlechtern, dann können Sie nicht erwarten, daß das ein Signal für mehr Selbständigkeit ist. ({5}) Wenn mit der Änderung des Einkommensteuergesetzes von heute auf morgen die außerordentlichen Einkünfte bei der Betriebsübergabe oder -abgabe vom halben auf den vollen Steuersatz erhöht werden, dann bedeutet das, wie es das „Handelsblatt“ richtig geschrieben hat, daß die selbständigen Handwerker ein Viertel ihres Betriebsvermögens von einem auf den anderen Tag verlieren. Das ist staatliche Willkür. Das ist ein solcher Faustschlag gegen die Selbständigkeit, wie man sich das nicht vorstellen kann. Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang - wir werden noch an anderen Tagen Gelegenheit haben, darüber zu sprechen -: Das, was Sie in puncto Scheinselbständigkeit getan haben, haben Sie - das will ich Ihnen unterstellen - auf Grund Ihres Hintergrundes durchaus gut gemeint. Ich weise Sie aber darauf hin: Mit den Regelungen, die Sie getroffen haben, verhindern Sie in vielen Fällen Existenzgründungen und mehr Selbständigkeit in unserer Gesellschaft. Deswegen sind all die Maßnahmen, die ich unter Punkt 3 angesprochen habe, geeignet, die Selbständigkeit in Deutschland zu behindern und zu weniger Aufstiegsfortbildung zu führen. Das sollten Sie sich einmal durch den Kopf gehen lassen. Dann könnten wir, wenn Sie Ihre Maßnahmen korrigieren würden, von der verbalen Übereinstimmung zu einer tatsächlichen kommen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die SPD hat der Kollege Christian Lange.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Hirche, zurück zum AFBG. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, warum stellen Sie eigentlich diesen Antrag? ({0}) Er hat einen Vorläufer. Bei den Haushaltsberatungen im Wirtschaftsausschuß stellten Sie einen Antrag auf Mittelerhöhungen, obwohl im vergangenen Jahr kein vollständiger Abfluß stattgefunden hat. ({1}) Ich bin der Meinung: Bevor wir über eine Erhöhung des Haushaltsansatzes nachdenken - das war ja das Ziel Ihres Antrages -, sollte man hinterfragen, weshalb die bereitgestellten Mittel von insgesamt 166,66 Millionen DM für 1998 nur zu zirka einem Drittel ausgeschöpft worden sind. Anderenfalls würde weiterhin ein wichtiges Potential zur Förderung von Existenzgründungen verschenkt - und das will niemand. Sie wollten aber wohl mit diesem Haushaltsantrag bei den Handwerkskammern Eindruck schinden. ({2}) Doch diese wissen - jetzt hören Sie mir einmal genau zu -, wo die wirklichen Probleme liegen. Sie brauchen sich da keine Hoffnungen zu machen. Hanns-Eberhard Schleyer, Generalsekretär des ZDH, klagte gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vom 23. März denn auch nicht über den Etatansatz; er bekennt vielmehr: Es stört mich, daß unsere Leute es so wenig in Anspruch nehmen. ({3}) Irgendwann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, haben Ihnen dann wohl die Handwerkskammern gesagt, daß das der falsche Ansatz ist, und jetzt sind Sie umgeschwenkt. ({4}) Jetzt machen Sie plötzlich Vorschläge, wie die Mittel besser genutzt werden können. Gut, ein bißchen spät, aber immerhin. Wir alle wissen doch: Über 3 Millionen kleine und mittlere Unternehmen sind die Basis der deutschen Wirtschaft; sie stellen rund 70 Prozent der Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze zur Verfügung. Dafür gilt ihnen zunächst einmal unser herzlicher Dank. ({5}) Einen besonderen Stellenwert in der neuen Mittelstandspolitik in der 14. Legislaturperiode nimmt deshalb die Förderung der Existenzgründungen ein. Das Handwerk hat einen hohen Bedarf an Unternehmerpersönlichkeiten, die entweder eine eigene Existenz gründen oder die einen bereits bestehenden Handwerksbetrieb übernehmen wollen. Die Übernahmeproblematik ist angesichts der hohen Zahl von Betriebsinhabern, die in den nächsten fünf bis zehn Jahren aus Altersgründen einen Nachfolger suchen, besonders drängend. Wenn kein geeigneter Nachfolger gefunden wird, besteht besonders bei kleinen Betrieben die Gefahr, daß sie aufgegeben werden. Damit verbunden wäre der Verlust von Arbeitsplätzen. Es ist ebenfalls eine Tatsache, daß jeder Existenzgründer in der Regel zwei bis drei neue Arbeitsplätze schafft. Daher ist die Förderung von Existenzgründungen gleichzeitig eine sehr wirksame Maßnahme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. ({6}) Wir haben diesen wichtigen Aspekt deshalb in unsere Koalitionsvereinbarung aufgenommen und die Bedeutung des Mittelstandes, insbesondere des Handwerks, im Hinblick auf die Chancen für mehr Beschäftigung hervorgehoben. Dabei sind wir uns alle darin einig, daß die geringe Gründungsdynamik in Deutschland Anlaß zur Besorgnis ist. Der internationale Vergleich zeigt in der Tat, daß mit Ausnahme von Dänemark die Selbständigenquote in den übrigen Staaten der Europäischen Union teilweise wesentlich höher als in Deutschland ist. ({7}) - Herr Hinsken, hören Sie doch einmal zu. Im Rahmen der Offensive der Bundesregierung für mehr Selbständigkeit soll das BAföG in Zukunft verstärkt zur Förderung von Privatinitiativen beitragen und wirtschaftliche Entwicklungspotentiale zur Entfaltung bringen. Dafür danken wir der Bundesregierung ({8}) - jetzt hören Sie sich das einmal an -, ({9}) die damit nämlich der Motor für die Meisterausbildung in Deutschland ist. ({10}) Welches sind nun die Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gesammelt haben? Das AFBG trat am 1. Januar 1996 - das ist erwähnt worden - in Kraft, nachdem Sie, die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P., Anfang der 90er Jahre das Meister-BAföG aus dem AFG komplett gestrichen hatten. Sie wollten nämlich auf Kosten der Meister in Deutschland sparen. Das verschweigen Sie sehr gern an dieser Stelle. ({11}) Ich sage Ihnen auch, woher ich das weiß; denn auch ich hatte ein Leben vor dem Parlament, Herr Hinsken, und war für die Rechtsaufsicht der Maßnahmen zum Meister-BAföG in Baden-Württemberg zuständig. Weil es sich um die Anlaufphase handelte, wurden die Mittel im ersten Jahr, 1996, in geringerem Umfang als erwartet in Anspruch genommen. 1997 stiegen die Antragszahlen deutlich; 1998 beliefen sich die Bundesleistungen auf 56,2 Millionen DM. Das Fördervolumen blieb damit erheblich hinter den Erwartungen zurück. Denn das Bundeswirtschaftsministerium stellte Mittel in Höhe von 66,6 Millionen DM bereit; zusätzliche Mittel für das Meister-BAföG in Höhe von 100 Millionen kamen vom BMBF. Damit wurde nur rund ein Drittel der insgesamt bereitgestellten Mittel ausgeschöpft. Aus diesem Grunde wurde der Haushaltsansatz für das MeisterBAföG erstmals nur noch im Einzelplan 09 aufgenommen und auf 100 Millionen DM reduziert. Ihre Unterstellung allerdings, mit dieser Maßnahme werde das Meister-BAföG eingeschränkt, ist ganz besonders bösartig. ({12}) Der Rechtsanspruch auf Förderung - ich wiederhole es - bleibt bestehen und ist durch den Mittelansatz ausreichend gedeckt. ({13}) Ich sage Ihnen: Wegen der Haushaltsausstattung wurde und wird kein Meisteranwärter abgewiesen; denn das wäre rechtswidrig. Das wissen Sie auch. Also behaupten Sie bitte nichts Gegenteiliges. ({14}) Das Problem liegt ganz woanders. Als einer der Konstruktionsfehler ist die starke Orientierung am Studenten-BAföG zu nennen. Das müssen wir jetzt ausbügeln. Eine bessere Akzeptanz des Meister-BAföGs könnte beispielsweise erreicht werden, indem die Freibeträge bei der Anrechnung des Einkommens erhöht werden. Die Betroffenen sind meist älter, haben häufig schon Familie und bereits Vermögen aufgebaut, so daß die Übertragung der Regelungen aus dem Studenten-BAföG nicht sinnvoll ist. Die niedrigen Freibeträge verhalten sich zu dem eigentlichen Ziel der Förderung von Existenzgründungen konträr, wenn gleichermaßen - beispielsweise für die Gründung eines Unternehmens - von den Banken relativ hohe Eigenmittel verlangt werden. Deshalb gibt es Überlegungen, das Vermögen, das für die Existenzgründung angespart wird - natürlich bei entChristian Lange ({15}) sprechendem Nachweis -, nicht in die Anrechnung für die Förderung nach dem AFBG einzubeziehen. ({16}) Vor allem aber ist notwendig, das Antrags- und Bewilligungsverfahren zu vereinfachen. Daß ausgerechnet Sie, Frau Pieper von der F.D.P., die Sie mit ursächlich für den Antragswust der vergangenen Jahre waren, ({17}) hier eine entsprechende Vereinfachung verlangen, finde ich schon ganz besonders bemerkenswert. ({18}) Die Bundesregierung - so auch Herr Staatssekretär Catenhusen - hat wiederholt angekündigt, die Akzeptanz des Programms zu erhöhen. Was soll dann also noch Ihr Antrag? Haben Sie keine Geduld, oder geht es Ihnen nur darum, auf billige Art und Weise bei den Handwerkskammern hausieren zu gehen? Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen jedenfalls werden eine ordentliche Akzeptanzverbesserung auf den Weg bringen, gemeinsam mit dem betroffenen Handwerk, und damit die Mängel des AFBG, die Mängel Ihrer Regierungszeit, bereinigen. Herzlichen Dank. ({19})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Karl-Heinz Scherhag.

Karl Heinz Scherhag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002773, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Lange, hier spricht der Präsident der Handwerkskammer Koblenz. Ich werde nachher im Laufe meiner Ausführungen noch darauf zu sprechen kommen. Das, was Sie über die Aussage von Herrn Schleyer gesagt haben, ist ja nur die halbe Wahrheit. Herr Schleyer hat zwar bedauert, daß die Mittel nicht in dem Maße, wie er sich das vorgestellt hat, abgeflossen sind, aber er hat gleichzeitig die Erweiterungen gefordert, die die CDU/CSU jetzt in ihrem Antrag vorstellt, wobei Sie um Zustimmung gebeten werden. ({0}) Denn im Grunde weiß das Handwerk genau, was fehlt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das von der alten Bundesregierung verabschiedete Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz war der richtige Weg, um zur Unterstützung der beruflichen Qualifikation zukünftiger Meister eine finanzielle Hilfe zu geben, Existenzgründungen zu erleichtern und damit Voraussetzungen für Betriebsübernahmen zu schaffen. Auch hat das Gesetz erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik einen Rechtsanspruch auf staatliche Unterstützung beruflicher Aufstiegsförderung festgeschrieben. Das ist richtig, Herr Lange. Nach nunmehr drei Jahren ist der richtige Zeitpunkt gekommen, die Erfahrungen mit Förderprogrammen zu analysieren und entsprechend zu erweitern. Es ist zwar richtig, daß die im Haushalt jährlich vorgesehenen Mittel bisher nicht voll ausgeschöpft wurden. Doch falsch ist, wenn die neue Bundesregierung den Schluß zieht, die Mittel um 40 Prozent zu kürzen, ({1}) ohne die Gründe für die Nichtausschöpfung zu ermitteln. Verwunderlich für mich ist dies insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, daß diese Regierung angetreten ist, besondere Priorität darauf zu legen, den Abbau der Arbeitslosigkeit zu bewirken. Mit der Kürzung wird doch genau das Gegenteil erreicht, ({2}) weil wir mehr selbständige Meister brauchen und deshalb mehr Hilfe gegeben werden muß. Ich hätte von dieser Regierung erwartet, daß sie dem Parlament den längst fälligen Erfahrungsbericht vorlegt und daraus die entsprechenden Konsequenzen zieht. ({3}) Statt dessen wurde der Erfahrungsbericht nach meiner Information - ich habe eine sehr gute aus dem Ministerium - zwischen dem Bildungs- und dem Wirtschaftsministerium hin- und hergeschoben, ohne daß er bisher dem Kabinett oder dem Parlament zur weiteren Beratung vorgelegt wurde. ({4}) Ich hoffe nicht, daß hinter dieser Handhabung eine wohlüberlegte Taktik der Regierung steht, den großen Befähigungsnachweis zu unterlaufen, um damit die Meisterprüfung auf Dauer einzufrieren, wie es im Koalitionsvertrag beschrieben wird. Dort heißt es nämlich, der Meisterbrief solle auch nach der Selbständigmachung parallel erworben werden können. Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß dies für einen jungen Unternehmer nicht möglich ist; er hat weder die Mittel noch die Zeit dafür. Das heißt, das muß vorher geschehen. ({5}) Wenn dies so wäre, hätte die Kürzung der Mittel aus Sicht der Regierung einen Sinn; denn dann würden in der Tat noch weniger Anträge gestellt. Die CDU/CSU hat mit ihrem Antrag wesentliche Verbesserungen der Förderbedingungen vorgelegt, um den Betroffenen mehr Anreiz für die Inanspruchnahme zu bieten, weil sie aus der Praxis weiß, daß Veränderungen des Gesetzes vorgenommen werden müssen. Hier sind wir dem Handwerk, dem ZDH, und den Verbänden entgegengekommen. Ich möchte darauf verzichten, die Punkte unseres Antrags im einzelnen darzustellen, da dies meine Kolleginnen und Kollegen bereits getan haben. Christian Lange ({6}) Als selbständiger Handwerksunternehmer und auch als Träger eines Ehrenamts im Handwerk möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, Ihnen aus der Praxis ein paar Beispiele zu nennen, die die Erweiterung des Anspruchs rechtfertigen. Eine repräsentative Umfrage der Handwerkskammer Koblenz unter 1 500 Handwerksmeistern des Jahrganges 1996/97 hat ergeben, daß für 60 Prozent der Befragten das Hauptmotiv für die Meisterprüfung die Gründung oder Übernahme eines Betriebes, also die Selbständigkeit im Handwerk, ist. Dabei ist zu bedenken, daß jede Existenzgründung im Schnitt - hier wurde gesagt: drei zwischen drei und fünf neue Arbeitsplätze bringt, aber auch Ausbildungsplätze, die immer wieder vergessen werden. ({7}) Angesichts des bevorstehenden Generationswechsels im Handwerk in den nächsten fünf Jahren, in denen mindestens 200 000 Betriebe vor einer Übergabe aus Altersgründen stehen, scheint mir dies ein gutes Ergebnis zu sein. Die restlichen 40 Prozent der Befragten geben zur Nichtselbständigkeit folgende Gründe an: unternehmerisches Risiko, fehlendes Eigenkapital. Trotzdem bin ich der Meinung, daß bei einer Veränderung der Fördermaßnahmen und mehr Hilfestellungen durch den Bund und die Länder die Bereitschaft zur Selbständigkeit noch erhöht werden kann; denn die Befragung hat auch gezeigt, daß viele junge Meister die bisherige Förderpraxis als nicht ausreichend ansehen. Nachdem die neue Bundesregierung mit ihrer Wirtschafts- und Steuerpolitik das Risiko der unternehmerischen Selbständigkeit noch erhöht hat, sind wir meiner Meinung nach alle aufgerufen, die Bedenken der zukünftigen Jungunternehmer durch gute Rahmenbedingungen zu zerstreuen. ({8}) Die Hemmnisse bei der Gründung und Übernahme von Betrieben müssen abgebaut werden. Unternehmergeist und Gründermut dürfen nicht schon im Keim erstickt werden. Wenn ein junger Mensch vor einem kaum zu überblickenden Berg von Anträgen, Vorschriften und Schulden steht, wird er kaum den Weg in die Selbständigkeit suchen. ({9}) - Lieber Herr Schwanhold, das glauben Sie doch selbst nicht. ({10}) Man muß jungen Leuten die Chance geben, auch mit geringen Mitteln Betriebe zu gründen. Sie sollten nicht schon vor der Betriebsgründung das angesparte Eigenkapital belasten müssen. ({11}) Ich selbst habe meine Unternehmertätigkeit in einer Garage begonnen, was nach den heutigen Vorschriften wahrscheinlich gar nicht mehr möglich wäre. ({12}) Wir müssen jungen Unternehmern realistische Chancen bieten und sie mit der notwendigen Liquidität ausstatten, damit die ersten schweren Jahre überstanden werden. Meine Damen und Herren, es zeigt sich jetzt vor allem in den neuen Bundesländern, daß man Betriebe nicht am Leben hält, wenn sie trotz guter Auftragslage von Schulden und Abgaben aufgefressen und in den Ruin getrieben werden. Das neue Steuerbelastungsgesetz wird dies noch verstärken. Es ist falsch, daß die neue Regierung von Entlastungen für kleine und mittelständische Unternehmen von 5,5 Milliarden DM spricht, obwohl sie weiß, daß dies eine Nullnummer ist. Die Wirtschaftspolitik der neuen Regierung hinterläßt für Unternehmer den Eindruck, als habe man ein altes Folterinstrument der Wirtschaft aus dem Museum genommen. Jetzt beginnt man, die Daumenschrauben der Belastung bis zur letzten Drehung fest anzuziehen. Dann erfolgt der Aufschrei aus dem Unternehmen. Und was macht man? - Man dreht zwei Umdrehungen zurück und spricht von Entlastung. So kann man junge Unternehmer und angehende Meister jedenfalls nicht davon überzeugen, Risiken einzugehen. ({13}) Wenn Sie mich jetzt fragen, was dies alles mit dem Meister-BAföG zu tun hat, so entgegne ich Ihnen: Dies alles sind Ursachen dafür, daß das Förderangebot auch künftig nicht im erhofften Maße beansprucht wird. Nur wenn der Staat attraktive Rahmenbedingungen setzt, ist der Schritt in die Selbständigkeit erstrebenswert. Dann wird er auch gegangen. ({14}) Dazu gehört aber zunächst, daß die bestehenden Förderbedingungen attraktiver gestaltet werden. Der von CDU und CSU vorgelegte Antrag bezweckt, daß junge Menschen die wichtige Voraussetzung zur Unternehmensgründung, den Meisterbrief, leichter erlangen können. Der Meisterbrief ist ein Qualitätssiegel für die ausgezeichnete Ausbildung in Deutschland sowie das erstrebenswerte Sprungbrett in die Selbständigkeit. Liebe Frau Wolf, Sie werden nicht bestreiten können: Wenn Sie Ihre Vorschläge in Zukunft durchsetzen wollen, dann werden Sie niemanden haben, der diese Ausbildung durchführt. Sie werden ein neues System in Deutschland brauchen. ({15}) Kleine und mittlere Betriebe sind die besten Sozialpartner. Deshalb enthält der Antrag der CDU/CSUFraktion Verbesserungen bei den Förderbedingungen in dieser Phase der Ausbildung. ({16}) Es ist doch zum Beispiel nicht einzusehen, warum angehende Meister im Rahmen des Meister-BAföG schlechtergestellt sind als Studenten. Deshalb muß der Zuschußanteil der Förderbeträge auf 50 Prozent angehoben werden, und die Dauer der Förderung muß wie in der universitären Ausbildung bis zum Ablegen der letzten Prüfung ausgeweitet werden. ({17}) Ebenso muß der Aspekt des verstärkten Anreizes für eine Existenzgründung konsequenter in den Vordergrund gestellt werden, indem die Regelungen für den Darlehenserlaß im Rahmen des Meister-BAföGs freundlicher gestaltet werden. Demjenigen, der die Voraussetzungen für den Erlaß erfüllt und erfolgreich ein Unternehmen gegründet hat, sollten zwei Drittel des Darlehens erlassen werden. Meine Damen und Herren, wer Existenzgründungen will, wer Arbeitsplätze schaffen will, wer Betriebsübernahmen erleichtern will, der muß eine solide, überschaubare Wirtschafts- und Steuerpolitik machen. Die CDU/CSU wird nicht hinnehmen, daß der Mittelstand und das Handwerk der Lastesel dieser Nation werden. Wir werden die Versprechungen der Koalition und ihre Umsetzung verfolgen, im Interesse unserer Betriebe und unseres Landes. ({18})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun als letzter in dieser Debatte der Kollege Klaus Barthel, SPD-Fraktion.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für den Antrag, den die Union heute hier gestellt hat, können wir eigentlich nur dankbar sein; denn er liefert zunächst nur eins, nämlich die niederschmetternde Bilanz in puncto Unternehmensgründungs- und Mittelstandspolitik der vorausgegangenen Regierung: 500 000 fehlende Betriebsleiter, möglicherweise 300 000 fehlende Betriebsnachfolger in diesem und im nächsten Jahr - und das, obwohl die Probleme seit Jahren bekannt sind, die Sie heute plötzlich als etwas Neues entdecken. Aber auch Ihr angeblich „wirksames Mittel“ - wie Sie schreiben - des AFBG ist nur ein sehr bescheidenes Pflänzchen in dieser alles andere als blühenden Landschaft. Selbst wenn man Ihre Zahlen, die für uns nicht nachvollziehbar sind, zugrunde legt, fällt erst einmal folgendes auf: Sie schreiben, 780 Millionen DM sind ausgegeben worden, und es hat 100 000 Meisterinnen und Meister gegeben. Wenn ich das einmal umrechne, sind das sage und schreibe 7 800 DM pro Empfängerin und Empfänger. Davon wird ein großer Teil, nämlich fast 90 Prozent, als Darlehen gewährt. Da muß man doch sagen: Das sind wirklich beeindruckende Beträge für eine Fortbildung, die mindestens viele Monate, manche sogar bis zu drei Jahren dauern. ({0}) Das soll dann auch noch ein Beitrag zur Förderung von Unternehmensgründungen sein! Dazu muß ich sagen: In der Relation dazu sind doch „Peanuts“ Kokosnüsse. Es ist also kein Wunder, daß das gutgemeinte Gesetz, das wir damals mangels anderer Mehrheiten und Durchsetzungsmöglichkeiten mitgetragen haben, bei weitem nicht den Zuspruch gefunden hat, den Sie erwartet haben. Sie haben Jahr für Jahr Beträge in den Haushalt geschrieben, für die es keine Nachfrage gab. So wurden trotz einer Berechnungsgrundlage von 90 000 Teilnehmern im Jahr 1997 nur 50 000 gefördert. Zuletzt dürfte gerade einmal ein Drittel der ohnehin schon reduzierten Mittel abgerufen worden sein. Der einzige Nutznießer dieses berufsbildungspolitischen Papiertigermodells war Herr Waigel, der aus dieser Sparschweinaktion am Jahresende jeweils dreistellige Millionenbeträge zurückbekommen hat. ({1}) In der Amtszeit der Regierung von Union und F.D.P. waren diese Defizite von Anfang an bekannt - zum Beispiel durch die Anhörung im Ausschuß, zum Beispiel durch unsere Kleine Anfrage. Es gab keine Korrekturen, dafür aber neue Füllmengen für die Sparschweine und für die Selbstdarstellung. ({2}) Einer der von Ihnen genannten Hauptzwecke des AFBG, nämlich die Förderung beruflicher Selbständigkeit, wurde erst recht bei weitem verfehlt. Ein Hinweis darauf sind die wenigen Anträge auf Darlehenserlaß nach erfolgter Unternehmensgründung. Man muß sich das einmal vorstellen: Die Zahl dieser Anträge bewegt sich im Vergleich zur Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Maßnahmen im Promillebereich. Nach diesen äußerst bescheidenen Ergebnissen Ihrer Aufstiegsfortbildungsförderung liest sich der heutige Antrag der CDU/CSU wie ein hilfloser Versuch der Bewältigung der eigenen Vergangenheit. Meister können Sie damit nicht mehr werden, denn bekanntlich gilt: Früh übt sich, wer ein Meister werden will! ({3}) Immerhin üben Sie jetzt wenigstens. Sie schlagen eine ganze Reihe von Verbesserungen vor, über die zu reden sich tatsächlich lohnt. ({4}) Ich denke an Erleichterungen bei Existenzgründungen, Entbürokratisierung, Ausdehnung der Förderungsdauer auf die Prüfungsphase und Verbesserungen für Frauen. Das alles bleibt aber insgesamt bruchstückhaft und kann nicht heute im Schnellschuß behandelt werden. ({5}) Ich will Ihnen die vier Hauptgründe dafür nennen, warum wir heute keine Entscheidung treffen wollen: Erster Grund: Wir brauchen eine gründliche Analyse und Auswertung der bisherigen Erfahrungen. ({6}) Genau das haben Sie seinerzeit, als wir es gefordert haben - auch daran kann ich mich noch sehr gut erinnern -, abgelehnt; in Ihrer Regierungszeit wurde so etwas nicht geleistet. Wir haben gerade von Herrn Catenhusen gehört, daß derzeit ein Bericht in Arbeit ist. Wir sollten wenigstens diesen Bericht abwarten und können dann über seine Ergebnisse diskutieren. Zweiter Grund: Einige Elemente des AFBG beziehen sich bekanntlich auf BAföG-Regelungen. Zum einen hat sich das BAföG als zu bürokratisch herausgestellt, und zum anderen hat es sich nicht immer als der Lebenssituation der Menschen, um die es geht, angemessen erwiesen. Elterliche Wohnung, Unterhaltsbedarf, Maßnahmebeiträge und Überschneidungsbereich Fachschulen sind ein paar Stichworte für diese Tatsache. Wie wir heute vormittag gehört haben, steht eine BAföG-Reform an. Deshalb macht es doch überhaupt keinen Sinn, gesetzliche Regelungen jetzt losgelöst von den Zielen und Ergebnissen dieser BAföG-Reform zu ändern, die sich dann auf überholte Vorschriften und Strukturen beziehen würden, so daß gleich wieder ein Nachbesserungsbedarf entstünde. ({7}) Dritter Grund: Wir halten es für erforderlich, das Thema Aufstiegsfortbildung auch im Zusammenhang mit der gesamten Weiterbildungsdiskussion zu sehen, die bekanntlich den Schwerpunkt unserer Regierungsarbeit darstellt. Das Thema gehört auch in das „Bündnis für Arbeit“. Dabei geht es aus meiner Sicht beispielsweise um Fragen wie Weiterbeschäftigung und Freistellung. Da entsprechende Regelungen fehlen, können viele den Schritt zu einer Weiterbildung oder zu einer Aufstiegsfortbildung gar nicht riskieren. In diesem Zusammenhang geht es auch um Lohnersatzleistungen; demzufolge ergeben sich aus meiner Sicht Berührungspunkte zur Arbeitsmarktpolitik. Vierter Grund - damit sind wir beim Geld -: Beim Geld, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, hört der Spaß bekanntlich auf - auch mit Ihnen. Sie stellen heute wieder einmal einen wohlfeilen Antrag, der etwas kostet, sagen aber nichts darüber, wo das Geld herkommen soll. Aber das ist ja nicht alles. Sie verstehen sich doch zusammen mit der F.D.P. hier als Sprachrohr derjenigen, die auf Grund der Steuerschlupflöcher auf den Milliarden sitzen, die Herr Waigel in den vergangenen Jahren unter ganz wenigen reichlich verteilt hat. ({8}) Sie überschlagen sich jeden Tag mit maßlosen Steuersenkungsforderungen und schwätzen Betriebe und Unternehmen ins Ausland, bloß weil wir ein bißchen gerechtere Steuergesetze gemacht haben. Jeden Tag erheben Sie Forderungen nach neuen Geschenken an die Wirtschaft. Sie reden hier immer vom Mittelstand und vom Handwerk - wenn Sie das dürfen, dann darf auch mein Vorredner hier sprechen -, obwohl Sie im Grunde genommen ganz andere Interessen vertreten, nämlich die Interessen der großen Steuersparer. Gleichzeitig stellen Sie neue Programme auf, in deren Rahmen Sie von uns neue Ausgaben fordern. Ich schlage Ihnen vor: Wenn wir ernsthaft darüber reden wollen, dann sollten wir über den Gesamtzusammenhang reden. Alle fordern Aus- und Weiterbildung. Das haben wir gerade erst heute wieder gehört. Auch die Unternehmer- und Arbeitgeberverbände fordern dies. Die Betriebe brauchen qualifiziertes Personal, also auch Meisterinnen und Meister sowie Technikerinnen und Techniker. Die Wirtschaft braucht Unternehmensgründer. Deswegen erlaube ich mir heute zu fragen: Was tragen die Arbeitgeber und Unternehmer sowie ihre Verbände zur der von ihnen ständig geforderten Weiterbildung bei, wenn denen gleichzeitig jede Mark Steuern zuviel ist? Sie haben diesen Zusammenhang selbst thematisiert. Die Vertreter des DIHT haben in den Anhörungen darauf hingewiesen, daß es auch um Freistellungsregelungen und um die Entgeltfortzahlung bei der Weiterbildung geht. Ich meine, man kann und muß mit den Arbeitgebern über dieses Thema im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ und im Gesamtzusammenhang reden. Auch dorthin muß sich Ihr heutiger Antrag richten. Sie sehen also, wir verschließen uns den Anliegen und den meisten Forderungen in der Tendenz nicht. Aber wir sind der Meinung, daß diese Anliegen nicht isoliert, sondern im richtigen Zusammenhang betrachtet und auf eine solide Grundlage gestellt werden müssen, also auf gut deutsch: gründliche Lösung statt LensingGericht. ({9}) Zum Schluß möchte ich sagen: Wenn Sie von der Union sich heute einbilden, uns anzutreiben, dann kann ich nur als Beispiel den jetzt beginnenden Frühling anführen: Es wächst und blüht, und ab und zu kann man sehen, wie welkes Laub durch das, was wächst, nach oben getragen wird. Sie unterscheiden sich von diesem welken Laub nur durch Ihren Glauben, daß Sie es sind, die die Dinge zum Wachsen bringen. ({10}) Sie glauben, weil Sie von den Kräften der Zukunft getragen werden, daß Sie es sind, die nach oben wachsen. Aber es wird nicht lange dauern, bis das welke Laub seinen Platz, wo es hingehört, findet. Außer Ihnen dürfte es in der Republik kaum jemanden geben, der Ihrer Verwechslung von Schein und Wirklichkeit aufsitzt. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache und weise darauf hin, daß wir gleich zu einigen Abstimmungen kommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/541 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Klaus Barthel ({0}) Wir kommen jetzt zu Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16a bis 16c sowie Zusatzpunkt 3 auf: 16a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch - 4. SGB XI-Änderungsgesetz - ({1}) - Drucksache 14/580 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ({2}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 17. Januar 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Unab- hängigen Staat Papua-Neuguinea zur Vermei- dung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Ver- mögen - Drucksache 14/486 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß c) Beratung des Antrags der Präsidentin des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1998 - Einzelplan 20 - Drucksache 14/498 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ZP3 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Notenwechsel vom 29. April 1998 über die Rechtsstellung der dänischen, griechischen, italienischen, luxemburgischen, norwegischen, portugiesischen, spanischen und türkischen Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 14/584 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({3}) Rechtsausschuß Verteidigungsausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17a auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Internationalen Privatrecht für außervertragliche Schuldverhältnisse und für Sachen - Drucksache 14/343 ({4}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5}) - Drucksache 14/654 Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht Dr. Susanne Tiemann Rainer Funke Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist das einstimmig so beschlossen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Jetzt bitte ich diejenigen, die dagegen sind, sich zu erheben. - Enthaltungen? - Keine. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17b: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) zu der Verordnung der Bundesregierung Aufhebbare Fünfundneunzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - - Drucksachen 14/188, 14/305 Nr. 2.1, 14/579 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- genprobe! - Stimmenthaltungen? - Die Beschlußemp- fehlung ist damit angenommen. Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 17c bis 17f: c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({7}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1998 Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 10 Titel 642 07 ({8}) - Drucksachen 14/231, 14/305 Nr. 1.5, 14/475 - Berichterstattung: Abgeordnete Antje-Marie Steen Manfred Kolbe Dr. Christa Luft Antje Hermenau Vizepräsidentin Anke Fuchs d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({9}) zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1998 Überplanmäßige Ausgabe im Einzelplan 23 Kapitel 23 02 Titel 896 03 - Bilaterale Technische Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern - - Drucksachen 14/236, 14/305 Nr. 1.6, 14/476 - Berichterstattung: Abgeordnete Antje Hermenau Dr. Emil Schnell Michael von Schmude Dr. Christa Luft e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({10}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1998 Weitere überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Titel 642 01 - Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz - Drucksachen 14/263, 14/305 Nr. 1.7, 14/477 Berichterstattung: Abgeordente Dietrich Austermann Dietmar Schütz ({11}) Dr. Günter Rexrodt f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({12}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsführung 1998 Einwilligung in eine überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 10 Titel 681 01 ({13}) - Drucksachen 14/210, 14/305 Nr. 1.4, 14/478 Berichterstattung: Abgeordnete Antje-Marie Steen Antje Hermenau Dr. Christa Luft Manfred Kolbe Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind angenommen. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 17g: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({14}) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Entwurf eines Statuts für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments - Drucksachen 14/342 Nr. 1.8, 14/575 Berichterstattung: Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier Joachim Hörster Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen. Wir kommen jetzt zu den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses, zunächst zu Tagesordnungspunkt 17h: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 25 zu Petitionen - Drucksache 14/558 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 25 ist bei wenigen Enthaltungen angenommen worden. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 17i: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 26 zu Petitionen - Drucksache 14/559 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 26 ist einstimmig angenommen worden. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17j: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 27 zu Petitionen - Drucksache 14/560 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 27 ist bei einigen Enthaltungen angenommen worden. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17k: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 28 zu Petitionen - Drucksache 14/561 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 28 ist bei einigen Enthaltungen angenommen worden. ({19}) - Diese Sammelübersicht ist bei geschlossener Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen worden. Vizepräsidentin Anke Fuchs Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17l: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 29 zu Petitionen - Drucksache 14/562 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 29 ist bei geschlossener Ablehnung der PDS-Fraktion angenommen worden. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17m: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 30 zu Petitionen - Drucksache 14/563 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 30 ist bei Ablehnung der PDS-Fraktion angenommen worden. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 17n: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 32 zu Petitionen - Drucksache 14/565 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 32 ist bei geschlossener Ablehnung der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 17o: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 33 zu Petitionen - Drucksache 14/566 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 33 ist bei Gegenstimmen aus der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden. Wir kommen zum Zusatzpunkt 4a: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 34 zu Petitionen - Drucksache 14/647 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 34 ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen worden. Wir kommen zu Zusatzpunkt 4b: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 35 zu Petitionen - Drucksache 14/648 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 35 ist angenommen worden. Wir kommen zu Zusatzpunkt 4c: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 36 zu Petitionen - Drucksache 14/649 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 36 ist angenommen worden. Wir kommen zu Zusatzpunkt 4 d: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 37 zu Petitionen - Drucksache 14/650 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 37 ist angenommen worden. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde Haltung der Bundesregierung zur jüngsten Kritik aus der BfA zur Praktikabilität der Neuregelungen der Scheinselbständigkeit Die Fraktion der F.D.P. hat diese Aktuelle Stunde beantragt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Leonhard Kolb, F.D.P.-Fraktion. Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken Sie bitte daran, in der Aktuellen Stunde Ihre Redezeit von fünf Minuten nicht zu überschreiten.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst allmählich wird der Öffentlichkeit klar, welche verheerenden Folgen das von der Koalition unlängst beschlossene Gesetz mit dem scheinbar harmlosen Titel Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte hat. Tausende selbständiger Existenzen werden vernichtet, Abertausende von möglichen Existenzgründungen werden vereitelt. ({0}) Die Telefone stehen - hoffentlich nicht nur bei mir, sondern auch bei Ihnen, Herr Gilges - nicht mehr still, weil besorgte Auftraggeber wie Auftragnehmer fassungslos vor einem im Eilverfahren schludrig zusammengezimmerten Regelwerk stehen, das sich beim schnellen Griff nach dem Geld nicht lange mit den Realitäten und gewachsenen Strukturen in unserer Wirtschaft aufgehalten hat und über moderne Entwicklungen wie eine Dampfwalze hinweggeht. ({1}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Jetzt hat auch die BfA, die zunächst in Erwartung höherer Beitragseinnahmen glaubte, dem Gesetzeswerk etwas abgewinnen zu können, Alarm geschlagen. Ihr Vorstandsvorsitzender Hans-Dieter Richardt hat jetzt offen zugegeben, die Durchsetzung des neuen Gesetzes werde „nicht ohne Probleme abgehen“, ({2}) und es werde „lange dauern, bis wieder Rechtssicherheit für die Unternehmen“ hergestellt sei. Um genau diesen Punkt geht es, meine Damen und Herren. Die Praktikabilität dieses Gesetzes ist nicht gegeben. Ich halte jede Wette, Herr Gilges, daß in der Regierungskoalition nur wenige Experten, wenn überhaupt welche, wirklich übersehen, was sie da angerichtet haben, was den Unterschied zwischen einem Scheinselbständigen, einem arbeitnehmerähnlichen Selbständigen und einem in Ihren Augen „richtigen“ Selbständigen ausmacht und welche Rechtsfolgen sich vor allem daran knüpfen. ({3}) - Ja, sie wissen nicht, was sie tun. Es ist deswegen nur folgerichtig, daß sich namhafte Zeitungen und Magazine in einzelnen Artikeln, ja in ganzen Serien mit dem von Ihnen angerichteten Chaos befassen und Branche für Branche, Wirtschaftszweig für Wirtschaftszweig aufzeigen, welche desaströsen Wirkungen Ihre Gesetzgebung zeigen wird. ({4}) All diese Veröffentlichungen, Herr Gilges, kommen zu dem gleichen Ergebnis: Die von uns befürchteten und von Ihnen verdrängten Verluste von Selbständigkeit und Arbeitsplätzen sind nur allzu realistisch. ({5}) Spediteure, Rechtsanwälte, Versicherungsvertreter, Architekten, Journalisten, Messebauer, Franchiseunternehmen, um nur einige zu nennen, sind in Gefahr, unter die Räder rotgrüner Sozial- und Wirtschaftsideologie zu kommen. ({6}) Das darf nicht sein. Deswegen fordern wir heute die Bundesregierung auf, Stellung zu beziehen. ({7}) Die Wirkungen Ihres verfehlten Ansatzes und dessen mangelnder Praktikabilität sind dreierlei: Erstens. Auf viele bisher Selbständige kommen Probleme zu, weil Sie diese - in den allermeisten Fällen gegen deren erklärten Willen - in die Sozialversicherung zwingen wollen. Aber nicht einmal das bekommen Sie geregelt. ({8}) Das Schlimme ist, Herr Riester, daß Sie diese Menschen bis zum letzten Augenblick im ungewissen über ihre Zukunft lassen, weil Sie nicht fähig sind, ein klares und einheitliches Verfahren zur Feststellung des Sachverhaltes der von Ihnen so genannten Scheinselbständigkeit zu installieren. Die Praxis sieht dann so aus, daß jede Krankenkasse ihren eigenen Fragebogen hat, der von Kasse zu Kasse, von Region zu Region unterschiedlich ist. Die eine Kasse handhabt das Ganze etwas lockerer, die andere etwas rigider. Wer das Pech hat, an die falsche Kasse zu geraten, wird gegen seinen Willen zum Arbeitnehmer gemacht. ({9}) Manche Fragebögen sind suggestiv so aufgebaut, daß bei unbedarftem Herangehen in vielen Fällen am Ende die Scheinselbständigkeit oder die arbeitnehmerähnliche Selbständigkeit steht. Ich habe es mir selbst angeschaut, und ich finde unerträglich, was hier läuft. ({10}) Zweitens. Noch mehr Unwägbarkeiten entstehen für den bisherigen Auftraggeber, der Gefahr läuft, sich unversehens als Arbeitgeber wiederzufinden. Er muß möglicherweise für seinen bisherigen Auftragnehmer, der, weil Sie das so wollen, zukünftig sein Arbeitnehmer ist, für bis zu vier Jahre Sozialversicherungsbeiträge nachentrichten und kann diese allenfalls für drei Monate von seinem unfreiwilligen Mitarbeiter zurückfordern. Viele kleine, mittlere und große Unternehmen werden als Folge dessen in den Konkurs getrieben. ({11}) Das gilt zum Beispiel für das Transportgewerbe. Auch dort sind die Gewinnmargen nicht so groß, daß solche zusätzlichen Kosten verkraftbar wären. Ich weiß von einem größeren deutschen Logistikkonzern, daß er schlicht nicht in der Lage ist, für den im Sinne Ihrer Regelung einschlägigen Kreis seiner Frachtführer die Sozialversicherungsbeiträge nachzuzahlen. Hier werden wirtschaftlich gesunde Unternehmen ganz bewußt in wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht. Das ist unakzeptabel. ({12}) Drittens. Die Neuregelung betrifft die Existenzgründer besonders hart. Ihnen wird in vielen Fällen die Möglichkeit zur Gründung und Entwicklung eines eigenen Unternehmens genommen, und zwar deshalb, weil kein Auftraggeber, der verantwortlich handelt, einem Anfänger in Zukunft einen größeren Auftrag erteilen kann; denn dieser Auftragnehmer landet dann, wenn er nicht mindestens ein Sechstel seiner Umsätze mit einem anderen Auftraggeber tätigt, ganz unweigerlich auf seiner Lohnliste. Die Folge ist - um ein Beispiel zu geben -, daß Zeitungsverleger, Radiostationen und Fernsehsender Aufträge nicht an in der Gefahr der Scheinselbständigkeit stehende freie Journalisten vergeben, sondern an große Agenturen, bei denen der Verdacht der Scheinselbständigkeit gar nicht erst aufkommen kann.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Denken Sie bitte an die Zeit.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende. In anderen Bereichen ist es ähnlich: Bei den freien Architekten, bei den freien Bauingenieuren, bei den freien Informatikern und bei den Rechtsanwälten bleiben Ihre vollmundigen Ankündigungen, den Mittelstand und die Existenzgründer zu unterstützen, ohne Grund und Boden. Die ersten Reaktionen zeigen sich bereits. Ich jedenfalls beobachte mit Interesse und Freude die Ergebnisse der Meinungsumfragen bei den Entscheidungsträgern der Wirtschaft. Ich kann Sie, Herr Riester, nur auffordern: Kehren Sie um! Sie sind auf dem falschen Weg. Wenn Sie in der rotgrünen Koalition keine Unterstützung finden, dann seien Sie wenigstens so konsequent, zurückzutreten. Danke schön. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Bundesarbeitsminister Walter Riester.

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor einer Woche hatte ich ein sehr konstruktives Gespräch mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Rentenversicherungen. Die Sozialversicherungsträger haben mir zugesagt, die Neuregelung zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit zügig durchzuführen. Herr Kolb, ich darf Ihnen sagen, daß es hinsichtlich der Listen ein koordiniertes Vorgehen geben wird. Außerdem werden die Betroffenen über die Inhalte der Neuregelung verstärkt informiert werden. Auch ich habe das Presseseminar über die Medien verfolgt. Deswegen möchte ich kurz eine Klarstellung abgeben: Dieses Gesetz ist von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte stark beeinflußt worden. Ich erinnere daran, daß meine Partei, die SPD, 1997 einen Gesetzentwurf zur Scheinselbständigkeit vorgelegt hat. Die damals vorgesehenen Regelungen entsprechen fast exakt dem heute beschlossenen Gesetz. ({0}) Die BfA vertrat damals die Auffassung, daß die Vermutungsregelung allein zuwenig bewirke, weil es auf eine Gesamtschau der jeweiligen Erwerbstätigkeit ankomme. Deshalb hat sie damals vorgeschlagen, den Katalog der versicherungspflichtigen Selbständigen um eine weitere Gruppe zu ergänzen, nämlich um die der arbeitnehmerähnlichen Selbständigen. ({1}) Ich verweise auf Seite 35 und auf Seite 38 des Wortprotokolls der 103. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 11. Juni 1997. Uns waren die Erfahrungen und die Kompetenz der BfA wichtig. Wir haben den Vorschlag aufgegriffen. ({2}) Diese Neuregelungen sind im Presseseminar der BfA am 22./23. März nicht in Frage gestellt worden. Ich habe das Protokoll nachgelesen: Es war lediglich zur neugeschaffenen Vermutungsregelung und zur Neuregelung der arbeitnehmerähnlichen Selbständigen auf folgendes hingewiesen worden - ich zitiere -: „Abschließende Bewertung ist erst in einiger Zeit möglich.“ Das ist für mich fast eine Banalität, eine Erkenntnis, die bei gesetzlichen Neuregelungen nicht gerade umwerfend ist und die Schlagzeile von vor zwei Tagen meiner Meinung nach nicht rechtfertigt. ({3}) Die BfA hat nach wie vor allen Grund, das Gesetz in seiner Umsetzung zu unterstützen. Vor allem sie hat sich in der Vergangenheit dafür stark gemacht, die Flucht aus der Sozialversicherung durch geeignete Maßnahmen gegen Scheinselbständigkeit zu stoppen. Scheinselbständigkeit ist ein Synonym für unfairen Wettbewerb, für Sozialdumping und für unzureichende soziale Absicherung. Wir alle kennen doch die Beispiele von den selbständigen Kellnern und den selbständigen Auslieferungsfahrern. Sie sind in der Regel Arbeitnehmer, häufig allerdings unter Tarif bezahlt und sozial unzureichend abgesichert. Diese Beschäftigungsverhältnisse haben inzwischen ein gravierendes Ausmaß angenommen. ({4}) Solche Auswüchse haben wir sofort nach dem Regierungswechsel gestoppt. ({5}) Dafür haben wir geltendes Recht, das früher Einzelfall für Einzelfall in Gerichtsverfahren hergestellt werden mußte, kodifiziert. ({6}) Wenn man beachtet, wie Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P., gebetsmühlenhaft Ihre Kritik an unserem Gesetz wiederholen, dann drängt sich für mich der Eindruck auf: Es ist ein Plädoyer für Scheinselbständigkeit. ({7}) Lassen Sie mich noch einmal verdeutlichen, um was es geht. Die Neuregelung erleichtert es, Scheinselbständigkeit zu erfassen, ({8}) sichert den Betroffenen dauerhaft sozial ab, schützt die Sozialversicherungen davor, daß ihre Beitragsbasis weiter abbröckelt, und schafft wieder faire Wettbewerbsbedingungen. ({9}) Damit haben wir die Grenzen zwischen Selbständigen und Nichtselbständigen nicht verschoben, sondern klar definiert. Scheinselbständige sind tatsächlich Arbeitnehmer und seit jeher sozialversicherungspflichtig. Da ist überhaupt nichts Neues geschehen. Das Problem ist jedoch, daß man mit diesen ungeschützten Arbeitsverhältnissen im allgemeinen erst bei Betriebsprüfungen konfrontiert wird. Deshalb haben wir die Beweislast umgekehrt: ({10}) Wird eine Arbeitnehmertätigkeit vermutet, dann ist es Sache des Betreffenden oder des Auftraggebers, das Vorliegen einer echten Selbständigkeit nachzuweisen. ({11}) Sie sollen die Fakten auf den Tisch legen, nicht die Sozialversicherungsträger, die im Regelfall überfordert wären. ({12}) Es geht also nicht darum, Selbständige zu abhängig Beschäftigten zu machen, sondern es geht darum, solche Beschäftigten besser zu erfassen, die bisher unter Umgehung der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften als Selbständige aufgetreten sind. ({13}) Bei den Scheinselbständigen geht es eben nicht um Selbständige, sondern um Arbeitnehmer. Wenn die Neuregelung jemanden belastet, dann doch nur die Auftraggeber, die von der unzureichenden sozialen Sicherung Scheinselbständiger profitieren. Die wollen wir belasten. ({14}) Wir haben mit den Sozialversicherungsträgern gemeinsam klargestellt, daß jemand, der nur durch die neue Vermutungsregelung als scheinselbständiger Arbeitnehmer eingestuft wird, nicht rückwirkend sozialversicherungspflichtig wird, sondern erst ab dem 1. Januar 1999; das ist ganz wichtig. ({15}) - Für die Auftraggeber gilt das auch. - Das gilt natürlich nicht - das sage ich auch klar; da muß man ein gemeinsames Interesse haben -, wenn die Versicherungspflicht auch nach dem bisher geltenden Recht schon bestand, aber umgangen wurde. ({16}) - Was heißt hier „Aha!“? Das wäre ja noch schöner. Wir weisen die Kritik von Interessenverbänden zurück, daß unser Gesetz Existenzgründern den Weg in die berufliche Selbständigkeit erschwert. ({17}) Wer Existenzgründer ist und Fördermittel bekommt, ist Selbständiger. ({18}) Echte Existenzgründer werden durch die neue Rentenversicherungspflicht für arbeitnehmerähnliche Selbständige nicht unangemessen belastet. Für sie sind Beitragserleichterungen vorgesehen: In den ersten drei Jahren zahlen sie nur den halben Regelbeitrag, bei niedrigerem Einkommen unter Umständen noch weniger; bei ernsthaften Zahlungsproblemen können die Beiträge sogar gestundet werden. Daß von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, würde ich mir für manchen Beschäftigten sogar wünschen. Im übrigen war fast jeder Existenzgründer vorher Arbeitnehmer und hatte damit in der Regel einen Berufsund Erwerbsunfähigkeitsschutz in der Rentenversicherung erworben. Er hat daher selbst ein Interesse daran, diesen Schutz in der Anlaufphase aufrechtzuerhalten. Als arbeitnehmerähnlicher Selbständiger behält er seine Ansprüche, indem er Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung weiterzahlt. Die getroffenen Maßnahmen müssen sich natürlich in der Praxis bewähren. Wenn es Anfangsschwierigkeiten geben sollte, dann wäre das - wie bei jedem Gesetz zuerst einmal normal. ({19}) Wenn sich der eine oder andere umstellen muß, dann ist auch das normal. Aber wer sich scheut, sich umzustellen und Anfangsschwierigkeiten zu überwinden, dem wird es wohl auch kaum gelingen, Gesetze, die die Realität gestalten, auf den Weg zu bringen. ({20}) Meine Damen und Herren von der F.D.P., Sie haben diese Scheu gerade in der Frage der Scheinselbständigkeit jahrelang unter Beweis gestellt. Nehmen Sie es hin, daß wir den Mut haben, die Sache anzugehen. ({21})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Birgit Schnieber-Jastram, CDU/CSUFraktion. ({0})

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was Sie, Herr Riester, hier als Wunderwerk verkaufen, ist schon, wie es organisiert und angelegt wurde, ein Unwerk, um es Ihnen deutlich zu sagen. Dieses dicke Papier - die Richtlinien der Sozialversicherungsträger - enthält die Auslegung von nur zwei Paragraphen. ({0}) Wer soll das eigentlich alles durcharbeiten? Die Richtlinien der Sozialversicherungsträger zu diesem einzigen Gesetz sind ein Wust von Papier. Ich wünsche Ihnen wirklich viel Vergnügen bei der Umsetzung dieses Gesetzes. Es wird ein Flop werden, Herr Riester. ({1}) Wir haben hier oft über dieses Problem diskutiert. Trotz der Notwendigkeit, Flexibilisierung zu ermöglichen, muß sichergestellt sein - das ist immer unsere Position gewesen -, daß für schutzwürdige Personen auch in Zukunft ein ausreichender Versicherungsschutz besteht. Weiterhin muß sichergestellt sein - das ist eben nicht sichergestellt -, daß die fortschreitende Flexibilisierung der Beschäftigungsformen und damit das Entstehen neuer Formen der Selbständigkeit nicht behindert werden. An dieser Stelle sehe ich nur deutliche Fehlleistungen. ({2}) Durch so einen Schnellschuß, wie Sie ihn hier wieder einmal gemacht haben, dieses Problem in den Griff bekommen zu wollen kann gar nicht funktionieren. Ich wundere mich schon sehr, daß aus den Reihen der Grünen und der SPD immer wieder Äußerungen zu hören waren wie: Wir wollen eine zweite Chance für die Wirtschaft; das Gesetz zur Begrenzung der Scheinselbständigkeit muß überprüft werden. Der Kollege Bury hat gesagt, Existenzgründer dürften während ihrer Startphase nicht behindert werden. ({3}) Und was passiert? Nichts passiert. Sie lassen sich, lieber Herr Riester - das tut mir ja leid -, mal ein Stückchen vom Bundeskanzler, mal von der Fraktion wie an einem Gängelband durch die Gegend führen, ohne daß Sie wirkliche Lösungen im schwierigen Bereich der Sozialpolitik vorlegen. ({4}) Ich fordere Sie an dieser Stelle auf: Machen Sie dieses Spielchen nicht mehr mit, auch nicht in anderen Bereichen, wie bei der Rente. Heute hü, morgen hott, rin und rut, je nachdem, was Bundeskanzler Schröder in seinem vornehmen Brioni-Anzug, in dem innen vielleicht noch eine Plakette „Für Solidarität und Gerechtigkeit“ angebracht ist, Ihnen in das eine oder andere Ohr flüstert, laufen Sie an seinem Gängelband durch die Gegend. Dadurch laufen Sie Gefahr, daß Sie auf Dauer die Sozialsysteme in eine Situation bringen, die noch viel schwieriger sein wird, als sie ohnehin schon ist. Machen Sie dies nicht mehr mit! ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann Sie beruhigen, Frau Schnieber-Jastram: Wir werden den Kurs halten. Wir wollen nämlich jede dauerhafte Beschäftigung in die Sozialversicherung einbeziehen. ({0}) - Aber ja, das ist unser Ziel und bleibt auch unser Ziel. Sie wissen genausogut wie wir, daß das dringend nötig ist. In den letzten Jahren hat die Zahl der Arbeitsverhältnisse ohne vernünftige Absicherung unglaublich zugenommen: Ich meine Minjobs unterhalb der Sozialversicherungsgrenze, Werkverträge, Befristungen, Kettenverträge und eben auch die Scheinselbständigkeit. ({1}) Ich will klarmachen, worum es dabei eigentlich geht; denn: ich habe den Eindruck, daß Sie in dieser Debatte schlichtweg das Problem verdrängen, das Sie selbst mitverursacht haben. Es geht zum Beispiel um den Transportfahrer, der von seinem Arbeitgeber aus der Sozialversicherung herausgedrängt wird, weil der Arbeitgeber die Kosten für die Sozialversicherung nicht bezahlen will. An der Tätigkeit des Transportfahrers ändert sich nichts. Er hat auch keinen größeren Handlungsspielraum, was für Selbständigkeit spräche. Er gewinnt nichts dazu, aber er verliert. ({2}) - Sie haben vielleicht gleich noch Gelegenheit, zu reden. Hören Sie doch mit Ihren unqualifizierten Zwischenrufen auf! ({3}) Der Transportfahrer ist dann nicht etwa selbständig, er gewinnt nichts dazu, aber er verliert seine soziale Absicherung. Das ist kein Einzelfall, sondern erstreckt sich über die unterschiedlichsten Branchen: von der selbständigen Regalauffüllerin im Kaufhaus bis zur Kellnerin, die an der Theke die Tasse Kaffee einkauft und sie dann am Tisch als Selbständige an den Kunden verkauft. Arbeitgeber haben in den letzten Jahren immer mehr Wege gefunden, sich um die Kosten für die Sozialversicherung zu drücken, sich aus ihrer sozialen Verantwortung zu stehlen und ihre Beschäftigten schlicht aus der Sozialversicherung herauszudrängen. All diese Menschen, sehr geehrte Kollegen von der F.D.P., die hier unter die Räder gekommen sind, haben Sie in den letzten Jahren nicht interessiert, und zwar nicht für fünf Pfennig, und sie interessieren Sie offensichtlich auch heute nicht. ({4}) Es ist völlig unverantwortlich, wie Sie das Problem über lange Jahre haben wuchern lassen. Frau Schnieber-Jastram, Sie haben gesagt, wir hätten einen Schnellschuß gemacht. ({5}) Da muß ich Ihnen sagen: Sie haben jahrelang Zeit gehabt, und Sie wissen genausogut wie wir, daß es hier ein Problem gibt, das dringend der Regelung bedarf. Die alte Regierung war nicht imstande und schlicht nicht willens, wenigstens irgend etwas zur Eindämmung des Problems zu unternehmen. ({6}) Das liegt gerade an den Deregulierern aus der F.D.P., die sich heute als Rächer der Enterbten in die Bresche werfen. ({7}) Ein großer Teil der Schwierigkeiten, die bei der Umsetzung dieses Gesetzes unzweifelhaft auftauchen, sind genau das Ergebnis davon, daß erst wir als neue Regierung uns diesem Problem gestellt haben. Wenn Menschen über Jahre hinweg in dem von Ihnen angerichteten Chaos ihre Existenz aufbauen müssen, dann planen sie natürlich die Nischen, die sie darin gefunden haben, auch für ihre Zukunft ein. Wenn wir versuchen, das Chaos zu beseitigen, dann beseitigen wir selbstverständlich auch diese Nischen. ({8}) Dabei müssen wir - das darf ich selbstkritisch auch an unsere Adresse richten - die Betroffenen besser unterstützen, besser informieren und ihnen mit diesen Informationen eine andere Sicherheit bieten. Hier hat es - das räume ich ein - Versäumnisse gegeben. Aber wir geloben nicht nur Besserung, sondern - das hat Minister Riester eben schon gesagt - wir haben schon damit angefangen. ({9}) - Das kann ich Ihnen gerne sagen: Zum Beispiel gibt es inzwischen schriftliches Informationsmaterial, und es gibt eine Hotline des BMA, die Ihnen aber offensichtlich auch nicht paßt. Wir werden die Leute darüber informieren, weil wir genau wissen, daß wir Raum für völlig verzerrte Darstellungen gegeben haben, mit denen - das muß ich Ihnen und auch den Verbänden vorwerfen, die regelrecht den Rausschmiß von Mitarbeitern empfohlen haben - Unsicherheit und Angst der Menschen geschürt worden sind. Das finde ich unverantwortlich. ({10}) Ihre Tiraden über die Existenzgründungen stimmen definitiv nicht. ({11}) Sie wissen, es gibt einen Mindestbeitrag - auch davon ist eine Befreiung möglich -, der bei monatlich 122 DM im Westen und 103 DM im Osten liegt. Wer das nicht bezahlen kann - das tut mir leid -, hätte besser keine Existenz gegründet. ({12}) Vier Jahre Rückwirkung - das ist eben angesprochen worden - wird es nicht geben. Es gibt eine Reihe von anderen Informationen, die Sie der Hotline und auch den anderen Informationsquellen entnehmen können. ({13}) Ich glaube - das möchte ich hier noch einmal zusammenfassend darstellen -, daß wir einen Schritt in die richtige Richtung gemacht haben. Ich glaube aber auch, daß dieser Schritt nicht ausreichen wird. Es hat sich nämlich auch gezeigt, daß die Machtverhältnisse am Markt offensichtlich so sind, daß die Umgehungstatbestände von seiten der Arbeitgeber nicht auszuschließen sind und daß wir uns damit auseinandersetzen müssen, wenn zum Beispiel Arbeitnehmer zu einer GmbHGründung erpreßt werden. ({14}) Das sage ich zum Beispiel für den Bereich der Transportfahrer, wo dann der Beweis erbracht werden muß, daß der Arbeitgeber auf gar keinen Fall riskiert, Sozialversicherungsbeiträge zahlen zu müssen. Das, finde ich, kann die Lösung nicht sein. Lassen Sie mich als letzten Satz sagen: Wir müssen gerade die Basis der Sozialversicherung verbreitern und mehr Menschen in die Sozialversicherung einbeziehen; das ist absolut dringend. ({15}) Wir brauchen eine soziale Absicherung auch für atypische Beschäftigungsverhältnisse - darüber werden wir diskutieren müssen -, aus denen kein typisches Beschäftigungsverhältnis werden kann. ({16}) Da müssen wir auch über Modelle wie die Künstlersozialversicherung nachdenken, die für alle mehr soziale Sicherheit bieten können. ({17})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort die Kollegin Monika Balt, PDS-Fraktion.

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorige Woche beantragte die F.D.P. eine Aktuelle Stunde zu ersten Erfahrungen mit den Regelungen zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit. Dann zog sie diese zurück, was gut war, weil ja noch gar keine Erfahrungen vorliegen können. Danach beantragte sie eine Aktuelle Stunde zum Rücktritt des Bundesfinanzministers Oskar Lafontaine ({0}) und zum Festhalten der Bundesregierung an ihren Steuergesetzen, um diese wieder zurückzuziehen und nun erneut die Aktuelle Stunde zur Scheinselbständigkeit auf die Tagesordnung setzen zu lassen. Man sieht: Es gibt nicht nur rotgrünes, sondern auch blaugelbes Chaos. ({1}) Die PDS - dies haben wir in letzter Zeit mehrfach betont - unterstützt das Bestreben der Bundesregierung, dem Mißbrauch verschiedener Formen von Scheinselbständigkeit entgegenzuwirken. ({2}) Uns geht es darum, zu verhindern, daß mit der schlichten Umbenennung von abhängig Beschäftigten in Selbständige der Ausstieg aus dem Sozialversicherungssystem für Arbeitgeber immer einfacher wird. Wir wollen die Aushöhlung des Solidarsystems endlich stoppen und nicht länger zulassen, daß Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegen ihren Willen in prekäre und nicht selten in existenzbedrohende Arbeitssituationen gepreßt werden. ({3}) Wer zum Beispiel - dies sind typische Problemfälle als Kellnerin in der Küche das Essen kaufen muß, um es den Gästen dann zu verkaufen, oder wer als Kraftfahrer aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet, seinen Lkw kaufen oder leasen muß und die Verpflichtung auferlegt bekommt, nur für dieses Unternehmen zu fahren, der ist ein Arbeitnehmer. Es geht darum, eine solche Situation zu verhindern. Herr Riester wies heute ebenfalls darauf hin. Das Gesetz zielt in die richtige Richtung. Es soll verhindern, daß Arbeitnehmer in die Scheinselbständigkeit getrieben werden. Ausdrücklich ist nicht ausgeschlossen worden, Korrekturen vorzunehmen, wenn erste Erfahrungen mit der Neuregelung vorliegen. ({4}) Aber es sind ja noch keine drei Monate vergangen. ({5}) Der Zeitraum ist viel zu kurz, um zu sagen: Wir haben echte fundierte Erfahrungen. Ich kann Ihre Panikmache, meine Damen und Herren von der F.D.P., nicht verstehen. ({6}) Aber auch Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, haben selbst für beträchtliche Unsicherheit gesorgt. Die Medien vermeldeten, daß bei einer spät festgestellten Scheinselbständigkeit der Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge der vergangenen vier Jahre nachzuzahlen hat, ({7}) was für viele Firmen den Konkurs bedeuten würde. Dem entgegen steht die Information aus dem Arbeitsministerium, wonach die Rückforderung lediglich zum 1. Januar 1999 möglich sein wird. Die Verwirrung zeigt, daß die Bundesregierung hier an Information und Aufklärung noch einiges zu leisten hat. ({8}) Nun zur Kritik der BfA. Der Vorstand der BfA kritisiert unter anderem, daß zum einen die Neuregelungen zum Teil undurchschaubar seien und daß sich zum anderen ein erheblicher Verwaltungsaufwand ergeben werde. Es würde mich schon sehr interessieren, wie hoch der Aufwand beziffert wird und in welcher Relation er zu den zu erwartenden zusätzlichen Einnahmen in der Höhe von 200 Millionen DM steht. Ich weiß, daß bereits jetzt bei der BfA in Berlin ein großer Stapel von Anträgen auf Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 231 Abs. 5 SGB VI vorliegt, dessen Bearbeitung mindestens ein halbes Jahr beanspruchen wird. Hier geht es doch vor allem um den sozialen Schutz der Betroffenen. Hilft ihnen das Gesetz oder nicht? ({9}) Das ist die zentrale Frage. Wir werden mit großer Aufmerksamkeit verfolgen, wie das Gesetz in der Praxis greift. Werden die Unternehmer zu Ausweichstrategien übergehen und ihre Subunternehmer als sogenannte arbeitnehmerähnliche Selbständige einordnen? Werden Entlassungen und Angst vor Kündigungen zunehmen? Wird es einen Anstieg von illegaler Beschäftigung geben? Oder führt das Gesetz - das ist unser Ziel - zu festen, zu ordentlichen und damit zu sozial gesicherten Arbeitsverhältnissen? ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin Balt, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses. ({0}) Nun erteile ich das Wort der Kollegin Birgit Roth, SPD-Fraktion.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts der doch sehr heftigen Debatte und vor allem auch der Polemik, die in dieser Aktuellen Stunde bereits geäußert wurde, ({0}) möchte ich kurz die Gelegenheit ergreifen, wirklich sachlich - Herr Niebel, ich betone: sachlich - einige wichtige Zusammenhänge in bezug auf arbeitnehmerähnliche Selbständige zu erläutern. ({1}) - Vielleicht sollten wir einmal über den Ausdruck „Sachlichkeit“ reden. ({2}) Das seit dem 1. Januar 1999 gültige Gesetz berücksichtigt natürlich auch Freiberufler, Existenzgründer und Selbständige, die in einer arbeitnehmerähnlichen Position arbeiten. Das heißt: Selbstverständlich hat die Bundesregierung den speziellen Charakteristika der Berufsgruppen Rechnung getragen. Lesen Sie es doch einfach mal nach! Es gibt besondere Konditionen für Existenzgründer, Ausnahmeregelungen für die Jahrgänge vor 1949, Übergangs- und Kompensationsregelungen. Wenn bereits eine Altersversorgung besteht, wird diese natürlich anerkannt. Wir wollen natürlich nicht einerseits Existenzgründerinnen und Existenzgründer durch Chancenkapital, durch Förderprogramme und durch innovative Preise unterstützen, ihnen aber andererseits das wenige Geld, über das sie verfügen, gleich wieder abnehmen. Das kann es ja wohl nicht sein. Um nur einige Eckpunkte zu nennen: In den ersten drei Jahren wird nur die Hälfte der Beiträge für die Rentenversicherung fällig. Wenn man von einem Durchschnittseinkommen von 4 500 DM ausgeht, beläuft sich der monatliche Beitrag für einen Existenzgründer in den alten Bundesländern auf 220 DM. Wenn die Einkünfte von Existenzgründern unter dieser Marge liegen, ist ein Mindestbeitrag von 120 DM zu zahlen. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Das muß jeder Existenzgründer, jede Existenzgründerin schlicht und einfach zahlen können. Wenn dieser Betrag nicht drin ist, dann kann man sich es tut mir leid - auch nicht selbständig machen. ({3}) Dies müssen Sie ebenfalls berücksichtigen: Während dieser Zeit ist die Person vollständig abgesichert, was eine private Rentenversicherung zu diesen Konditionen überhaupt nicht leisten könnte. Denken Sie doch einmal an die Berufs- und Erwerbsunfähigkeit! ({4}) Abgesehen davon: Wenn jemand in den ersten zwei, drei Jahren arbeitnehmerähnlich selbständig ist, weil er erst später jemanden einstellen kann, und dann in eine reguläre Selbständigkeit übergeht, bekommt er die eingezahlten Beiträge sogar bis zu fünf Jahren rückwirkend zurück. Was wollen Sie mehr? ({5}) - Wunderbar. Dann sind wir ja einer Meinung. ({6}) Ich muß Ihnen aber noch etwas sagen, Frau Schnieber-Jastram: Wie kann man fünf Minuten lang reden ohne irgendein sachliches Argument? ({7}) Sie haben eigentlich nur das „Gängelband“ angesprochen, sonst gar nichts. ({8}) Auch der Vorwurf, im boomenden Multimediabereich würden viele arbeitnehmerähnliche Selbständige wie zum Beispiel Programmierer, Texter oder Screendesigner - um nur einige zu nennen - ihre Aufträge verlieren, weil der Auftraggeber fürchtet, er müsse auf einmal Sozialversicherungsbeiträge leisten, trifft überhaupt nicht zu. ({9}) - Ich habe es gelesen. Vielleicht sollten Sie es noch einmal lesen. ({10}) Die Auftraggeber müssen überhaupt keine Beiträge abführen; für einen arbeitnehmerähnlichen Selbständigen geht es nur um die Rentenversicherung. ({11}) - Danke schön, ich bin im Wirtschaftsausschuß. Ich kenne ihre Meinung. Natürlich kann man an gegebener Stelle einmal darüber nachdenken, ob die Unterteilung in arbeitnehMonika Balt merähnliche Selbständige wirklich vonnöten ist. Das aber wird in den nächsten Jahren die Praxis zeigen. Die Sorgen vieler arbeitnehmerähnlicher Selbständiger, eben Existenzgründer, nehmen wir ernst. Das ist überhaupt keine Frage. Sie befürchten, durch die neue Regelung in ihrer Existenz bedroht zu sein. Zum Großteil aber beruhen diese Befürchtungen auf Informationsdefiziten. ({12}) Sie können mittlerweile bei der Krankenkasse und bei der BfA anrufen. Es gibt auch entsprechende Broschüren. ({13}) Um zum Schluß zu kommen: Es ist das erklärte Ziel der rotgrünen Bundesregierung, Existenzgründungen zu fördern und zu unterstützen und auf die Belange der Existenzgründer einzugehen. Was wir meines Erachtens brauchen, ist eine neue Gründungsoffensive. ({14}) Wir danken all den Personen, die den Schritt in die Selbständigkeit gewagt, damit Arbeitsplätze aufgebaut und gesichert haben; denn der Abbau der Arbeitslosigkeit hat bei dieser Regierung ganz klar oberste Priorität. Danke schön. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Kollegin Roth, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich. ({0}) Ich erlaube mir einen Hinweis: Sie kennen mich als fleißige Zwischenruferin, aber manchmal denke ich, daß die Männer besonders viele Zurufe machen, wenn Frauen sprechen. Ich hoffe, daß Sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich das so sage. ({1}) Jetzt hat der Kollege Johannes Singhammer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesarbeitsminister, wer statt der Scheinselbständigkeit Existenzgründungen bekämpft, der macht nicht vieles besser, sondern alles schlechter. ({0}) Ihr Problem in bezug auf die 630-DM-Beschäftigungsverhältnisse und auf die Scheinselbständigkeit, ist doch, daß Sie etwas durchgepeitscht haben, dessen Mängel bereits jetzt offenkundig geworden sind. Sie haben die Warnungen der Verbände in den Wind geschlagen. Sie haben zum Beispiel die präzisen Warnungen der Zeitungsverleger nicht beachtet. ({1}) Letztendlich machen Sie mit der Kette von Schwierigkeiten, die dieses Gesetz mit sich bringt, und mit Ihren Nachbesserungen das Chaos zum System. Das wird dieses Gesetz auch weiterhin begleiten. Daß dieses Gesetz so nicht gültig bleiben wird, schätzen nicht nur wir so ein, sondern auch eine Reihe von Kollegen aus den Regierungsfraktionen. Frau Kollegin Wolf, da ich Sie gerade sehe: Am 11. März dieses Jahres haben Sie gesagt - ich habe das vor wenigen Tagen in einer Zeitung gelesen; bitte korrigieren Sie mich, wenn das Zitat nicht stimmen sollte -: Das Gesetz muß überarbeitet werden; schließlich muß es sich an der Wirklichkeit orientieren. - Frau Kollegin, Sie haben recht. ({2}) Auch der Bundeswirtschaftsminister hat in München bestätigt, daß Nachbesserungsbedarf besteht. Unbestritten ist, daß ein Regelungsbedarf im Hinblick auf eine sinnvolle und gerechte Unterscheidung von Selbständigen und Scheinselbständigen in diesem dynamischen Prozeß besteht, in dem ständig neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden. Wer ist Arbeitnehmer? Wer ist wirklich Selbständiger? Der Gesetzentwurf der rotgrünen Bundesregierung aber hat den Balanceakt einer sauberen und treffsicheren Unterscheidung weit verfehlt. Die schlimmsten Fehler sind: Zehntausende von tatsächlich Selbständigen werden - mit erheblichem Risiko - zwangsweise in abhängig Beschäftigte umgewandelt. ({3}) - Herr Kollege Dreßen, ich sage Ihnen: Wenn Gottlieb Daimler, Max Grundig, Herr Nixdorf oder gar Bill Gates mit diesem Gesetz konfrontiert worden wären, dann wären deren große Unternehmen niemals zustande gekommen. ({4}) Wege in die Selbständigkeit und in die Existenzgründung werden erschwert. Das steht doch fest. Die von Ihnen vorgesehenen Abgrenzungskriterien sind unklar und führen zu absurden Ergebnissen. Das Beispiel, das ich jetzt zitiere, ist schon mehrfach angeführt worden - es ist aber so wunderschön, daß ich es wiederhole -: Sagt jemand zu seiner Putzfrau: „Machen Sie einmal“, dann ist sie selbständig; sagt er zu ihr: „Putzen Sie mit Birgit Roth ({5}) Ata“, wird sie zu seiner Angestellten. Das sind doch Differenzierungen, die niemand nachvollziehen kann. ({6}) Der Verwaltungsaufwand ist immens. Neue Arbeitsplätze werden mit diesem Gesetz verhindert. Ich zitiere den Deutschen Franchise-Verband, der feststellt, daß mit dem neuen Gesetz der Arbeitsplatzzuwachs, der in dieser Branche im Jahre 1998 noch 40 000 betrug, gestoppt wurde und im Franchisesystem kaum mehr neue Selbständige hinzukommen. Geplante Vertragsverhandlungen werden abgebrochen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie schon uns nicht glauben, dann sollten Sie zumindest den Verbänden glauben, beispielsweise der Arbeitsgemeinschaft „Privater Rundfunk“, die anmahnt: Setzen Sie dieses Gesetz aus! Überlegen Sie noch einmal! Denken Sie noch einmal nach, und bringen Sie dann ohne unheilige Hast ein Gesetz ein, das Hand und Fuß hat. Herr Bundesarbeitsminister Riester, Kunst kommt von Können. Wenn es allein vom Wollen käme, dann würde es „Wunst“ heißen. Das gilt auch für Regierungskunst. Das, was Sie hier abgeliefert haben, ist nicht Regierungskunst, sondern „Regierungswunst“. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort die Kollegin Margareta Wolf, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. und der CDU/CSU, wir alle wissen, daß wir in einer Zeit des Umbruchs von Erwerbsbiographien und in einer Zeit des Übergangs von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft leben. Wir wissen, daß es viele Patchwork-Biographien gibt. Ich glaube, vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß es eine widerspruchsfreie Lösung überhaupt nicht geben kann. ({0}) Ich meine aber, die Notwendigkeit der Zielsetzung, die in den letzten Jahren explodierende Scheinselbständigkeit zu bekämpfen, wird in einem hohen Maße von fast allen Verbänden, allen gesellschaftlichen Gruppen und Experten in dieser Gesellschaft gesehen. Das sollten auch die Herren von der F.D.P. zur Kenntnis nehmen. ({1}) Es ist ebenso unbestritten, daß die Solidargemeinschaft davor bewahrt werden muß, verehrter Herr Solms, daß ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung keine hinreichende Vorsorge für das Alter hat. Darüber besteht ebenfalls Konsens in dieser Gesellschaft, vielleicht nicht bei Ihnen. ({2}) Wir haben mit diesem Gesetz auf diese Entwicklung reagiert. Sie haben die Entwicklung einfach laufen lassen; deshalb stellt sie sich uns heute so dar, wie sie ist. Worum geht es uns in diesem Gesetz? - Es geht uns um den sozialen Schutz von Menschen; es geht uns darum, die Erosion der Sozialversicherung nicht weiter voranschreiten zu lassen, und, verehrter Herr Solms, es geht uns auch darum, Wettbewerbsverzerrungen zwischen Unternehmen entgegenzutreten. ({3}) Daß wir das Gesetz nunmehr vor dem Hintergrund des von mir angesprochenen Wandels in der Industriegesellschaft ganz kritisch auf seine Tauglichkeit in der Praxis überprüfen müssen, halte ich für selbstverständlich. Daher freue ich mich, daß im Gespräch mit Vertretern der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger und des BMA Einigkeit darüber erzielt werden konnte, daß derjenige, der allein auf Grund der neu eingeführten Vermutungsregelung als Scheinselbständiger eingestuft wird, nicht rückwirkend versicherungspflichtig wird. Das war ein ganz entscheidender Kritikpunkt; wir haben ihn aufgegriffen und das Gesetz entsprechend verändert. Das spricht für unsere dialogorientierte Politik, die Sie nie gepflegt haben. ({4}) Wenn wir ferner der Praxistauglichkeit dieses neuen Gesetzes Rechnung tragen wollen, bin ich der Meinung - das muß ich ganz kritisch sagen -, daß man dringend mit dem Bundesverband der Freien Berufe reden sollte, daß man sich mit den Zeitungsverlegern und der IG Medien zusammensetzt. Ich halte deren Einwände für bemerkenswert. ({5}) - Wir reden mit denen. Diese Damen und Herren der Verbände teilen das Ziel dieses Gesetzes; das ist ein erheblicher Unterschied zu Ihnen. Sie stehen relativ isoliert da. ({6}) Sie machen Vorschläge, wie man unterhalb der Schwelle einer Gesetzesänderung, etwa in Ausführungsbestimmungen, Änderungen vornehmen kann. Ich halte es überhaupt nicht für ehrenrührig, wenn man sehr genau beobachtet, ob die getroffenen Regelungen dem konsensual gefundenen Ziel, das wir alle verfolgen, gerecht werden. Wir benötigen Ihre Aktuelle Stunde überhaupt nicht, wenn wir da Präzisierungen einfügen wollen. Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen. Ich bin der Meinung, daß wir vor dem Hintergrund der von mir beschriebenen Veränderungen in unserer Gesellschaft eines einarbeiten müßten - ich habe das Herrn Riester auch schon schriftlich mitgeteilt -: Das Gesetz muß Vorsorgewahlmöglichkeiten vorsehen. Beispielsweise müssen die Einlagen in Aktienfonds oder der Immobilienbesitz als Äquivalent zu den Beiträgen zur Rentenversicherung eingestuft werden. Das halte ich für absolut notwendig. Wir sagen: Wir wollen die Umlagefinanzierung bei der Rentenversicherung dadurch absichern, daß wir private Vorsorge fördern und ermöglichen. ({7}) - Ich weiß; aber bis zum 30. Juni kann man hier noch Freistellungsregelungen hineinnehmen, wofür ich plädieren möchte. ({8}) - Es ist überhaupt nicht scheinheilig. ({9}) Das kann man tatsächlich noch machen. Ich plädiere auch dafür, daß die Mitarbeiter der Sozialversicherungsträger, die derzeit die Betriebe hinsichtlich des Vorhandenseins von Scheinselbständigkeit überprüfen, dort mit Augenmaß vorgehen. Denn es kann nicht im Interesse von Politik und Rentenkassen sein, daß durch einen zu peniblen Vollzug Existenzen vernichtet werden. ({10}) Ihnen, meine Damen und Herren von der F.D.P., sage ich: Sie haben bis heute kein Konzept vorgelegt, ({11}) wie Sie die Erosion bei den Sozialversicherungskassen aufhalten wollen. ({12}) Ich höre, Sie wollen eine 1.-Mai-Demo mit den Scheinselbständigen machen, um auf das Problem aufmerksam zu machen. Ich kann Sie nur davor warnen. Sie müssen, wenn Sie in diesem Land für das Gemeinwohl Politik machen wollen, konzeptionell arbeiten und können nicht, zusammen mit den Industrieverbänden, jedes Thema hochspielen. Machen Sie endlich einmal Vorschläge! In Ihrer Regierungszeit ist es zu einer weiteren Erosion der Sozialversicherungssysteme gekommen. Es ist soweit gekommen, daß Unternehmen uns fragen: Warum sollen wir die Leute überhaupt noch sozialversicherungspflichtig beschäftigen? Da haben wir ohnehin nur Wettbewerbsnachteile gegenüber anderen. So kann es nicht gehen. Handeln Sie im Interesse des Gemeinwohls, im Interesse der sozialen Marktwirtschaft, und hören Sie endlich auf, jeden Punkt eines Verfahrens zu Ihrem Ziel nutzen zu wollen, über die 5 Prozent zu kommen! Damit kommen Sie nicht weiter. Danke schön. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß Sie, noch bevor ich irgend etwas gesagt habe, aufheulen, kann ich gut verstehen. Bei diesem Gesetz kann einem ja wirklich nur schlecht werden. Frau Kollegin Wolf, beim besten Willen: Das, was Sie gerade gesagt haben, ist geradezu infam. Sie reden offenkundig über ein ganz anderes Gesetz als wir. Die Auswirkungen sollten Sie einmal an Hand Ihrer Post festzustellen versuchen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß nur die F.D.P. und die Christlichen Demokraten diese Briefe bekommen. Ich bin fest davon überzeugt: Sie bekommen die gleichen Briefe, Sie kriegen die gleichen Anrufe. Sie spielen hier mit Existenzängsten. ({0}) Herr Minister Riester, Sie haben in der ersten Lesung zum Korrekturgesetz zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte gesagt - ich zitiere -: Wir stehen vor großen Umwälzungsprogrammen in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sind zum Teil Ausdruck dieser Umwälzungen. Für viele Menschen bringt der Wandel Unsicherheit und Vertrauensverluste mit sich. Herr Riester, zumindest der letzte Satz trifft die Sache ja wirklich im Kern: Durch rotgrüne Politik werden die Menschen verunsichert; sie haben Angst. Sie akzeptieren als Investition für die Alterssicherung nicht die Investition in den eigenen Betrieb. Ihre Politik führt zu Arbeitsplatzabbau und treibt die Menschen, die initiativ sind und Arbeitsplätze schaffen wollen, in die Schattenwirtschaft. ({1}) Ihre Politik der Zwangsbeglückung trifft die gesamte Gesellschaft. Das ist nicht nur der von Ihnen immer Margareta Wolf ({2}) wieder angesprochene Transportfahrer - dessen Fall war in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ganz gut geregelt -; betroffen durch Ihre Politik ist unter anderem auch der bekannte Schriftsteller, der nur für einen Verlag arbeitet. ({3}) Betroffen durch Ihre Politik ist der Surflehrer am Bodensee ebenso wie der Lehrer an der Musikschule, der nur für eine Musikschule arbeitet. Betroffen ist der Musiker, der im Augenblick nur ein Engagement hat; betroffen sind die Sportvereine, die sich ihre Übungsleiter nicht mehr werden leisten können. ({4}) Ihre Politik wirkt sich in der Praxis aus. Ich habe hier ein Schreiben der IHK Rhein-Neckar mitgebracht. Das ist das einzige, was ich mitgenommen habe; denn die gesamte Masse an Papier hätte ich nicht tragen können. ({5}) Ich erlaube mir, daraus einmal zu zitieren, um deutlich zu machen, welche Auswirkungen Ihre Politik auf bestehende Arbeitsverhältnisse hat: Wo Risiken erkannt werden, insbesondere bei kleinen Familienbetrieben, werden die Vertragsverhältnisse gekündigt, oder dem Kleinunternehmer wird ein Ultimatum zum Nachweis der Selbständigkeit gestellt. Tausende kleiner Unternehmer sind auf diese Weise vom Verlust ihrer Hauptauftraggeber bedroht und stehen vor dem Ende ihrer wirtschaftlichen Existenz. ({6}) Was machen Sie bei der Förderung von Existenzgründern? Sie wollen offenkundig keine Arbeitsplätze schaffen. Auch hiervon weiß die IHK Rhein-Neckar zu berichten. Sie schreibt: Welcher potentielle Auftraggeber möchte aber bei der gegenwärtigen Rechtslage noch das Risiko einer Auftragsvergabe an einen solchen Marktneuling eingehen? Denn jeder Existenzgründer erfüllt in aller Regel mindestens zwei Ihrer vier Kriterien: im wesentlichen nur von einem Auftraggeber abhängig zu sein und keine sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zu haben. Schon greift die Beweislastumkehr, und er muß sich in erster Linie damit beschäftigen, zu erklären, ob er selbständig tätig ist oder nicht. ({7}) Man sieht bei diesem Gesetzentwurf wieder einmal, daß Sie Ihrem selbstgesteckten Ziel, dem Abbau der Arbeitslosigkeit, kein Stück näher kommen. Im Gegenteil: Sie bauen Arbeitsplätze ab. Sie treiben Existenzen in die Illegalität und schaffen zusätzliche Regulierung auf dem Arbeitsmarkt, ({8}) wodurch im Endeffekt neue Arbeitslosigkeit geschaffen werden wird. ({9}) Die IHK Rhein-Neckar, auf die ich noch einmal zurückkommen möchte, stellt allerdings fest - das trifft sich mit den anderen Gesetzen, wo es Ihnen um das Abkassieren geht; ich zitiere auch hier -: Die Landesversicherungsanstalten haben nach unseren Informationen die Zahl ihrer Betriebsprüfer kurzfristig von 1 000 auf 4 000 erhöht. Diese haben ihr neues Betätigungsfeld offenbar mit der Weisung angetreten, ohne Rücksicht auf die Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz der Betroffenen Kasse zu machen. ({10}) Herr Riester, Sie setzen Ihre Politik des Abkassierens fort. Sie haben, seitdem Sie in der Regierung sind, ein Gesetz nach dem anderen nachgebessert. Ich fordere Sie auf - Sie werden dieses Gesetz ja nicht zurücknehmen -: Seien Sie so großmütig und bessern Sie dieses Gesetz wenigstens nach! Machen Sie Politik für Arbeitsplätze und keine Politik für die Verlagerung von Arbeitsplätzen in die Schattenwirtschaft! ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Klaus Brandner, SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie wir hier heute erfahren haben, reden wir in der Tat nicht über Peanuts. Die Größenordnung, um die es bei Scheinselbständigen geht, muß man einigen Damen und Herren dieses Hauses erst noch einmal in Erinnerung rufen. Bereits in der letzten Wahlperiode hat der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär Horst Günther beim ehemaligen Bundesminister für Arbeit, dem Kollegen Norbert Blüm, folgendes zugegeben: ({0}) - Dann hören Sie es noch einmal. Daran erkennen Sie die Wichtigkeit des Falles. Je nach Abgrenzung dürften 330 000 bis zu 1 Million Personen eine scheinselbständige - das heißt: tatsächlich abhängige - Nebentätigkeit ausüben. So sagte es der ehemalige Staatssekretär, zitiert aus dem Plenarprotokoll 13/233 vom 30. April 1998. ({1}) Das Problem war also auch schon der jetzigen Opposition bekannt. Doch hat man dort nicht sozialpolitisch zugunsten der Menschen und der Firmen eingegriffen, die sich sozial verantwortlich verhalten; denn die damalige Gesetzeslage wurde als ausreichend und angenehm empfunden. Als Ergebnis haben Sie ungeschützte Arbeitsverhältnisse en masse bekommen. Die damit verbundenen Fehlentwicklungen wurden nicht angegangen. Begründet wurde die Untätigkeit nur damit, daß jeder Scheinselbständige seinen Status selber klären könne. Schon Ihnen mußte bewußt sein, daß dies nur unter dem Risiko des Arbeitsplatzverlustes möglich ist. ({2}) Das Schicksal von über 100 000 Menschen hat uns zum schnellen Handeln gedrängt. Die vielen Beispiele, die meine Vorredner, auch Bundesarbeitsminister Riester, hier genannt haben, stehen hierfür Pate. Der einzige Grund für deren scheinbare - ich wiederhole: scheinbare - Selbständigkeit war die Sozialversicherungsmüdigkeit einiger Arbeitgeber. ({3}) Doch die überwiegende Anzahl der Arbeitgeber erfüllt ihre Verpflichtungen gegenüber den Beschäftigten und den Sozialkassen. Wir müssen die Beschäftigten und die verantwortungsbewußten Arbeitgeber vor den Wildwestmethoden der Konkurrenz schützen. Das tun wir mit diesem Gesetz. ({4}) Ich bin davon überzeugt, daß unser Gesetz viele Probleme löst, aber nicht alle. Wir sind bereit, den Dialog aufzunehmen. Doch mit der Polemik von heute ist sicherlich kein Dialoganfang gemacht worden. Das war in der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Soziales anders, als Herr Laumann von der CDU/CSUFraktion sehr erfreuliche Ansätze zu genau dieser Thematik mitteilte. ({5}) Ich vermisse ihn als Redner in der heutigen Debatte, weil ich denke: Das sind Dinge, die letztlich mithelfen, einen Dialog aufzunehmen. Ich muß heute aber leider feststellen: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Also werben Sie in Ihren Reihen, Herr Laumann! ({6}) Richtig ist, daß der Vorsitzende der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Hans-Dieter Richardt - im übrigen, wie Sie alle wissen, ein Arbeitgebervertreter -, das von uns getragene Gesetz heftig kritisiert hat. ({7}) - Deshalb ist er kein schlechter Mensch. Aber ich will Ihnen damit deutlich sagen, daß die politisch motivierten Ansätze hier ganz klar durchscheinen. Ich weiß natürlich auch, wie sehr Sie und wir nach dem politischen Wechsel von Unternehmer- und Arbeitgeberverbänden mit Briefen und Agitationen vollgepackt werden. Herr Kolb, Sie haben eben gesagt: Von der BfA wird Alarm geschlagen. - Ich kann von diesem Alarm überhaupt nichts spüren. ({8}) Ein Arbeitgebervertreter in der BfA, der Kritik übt, ist noch nicht die BfA. ({9}) Ich sage Ihnen ganz salopp: Ein Pups ist noch keine Explosion im Gaswerk. So schnell werden wir nicht müde, eine sinnvolle Regelung auch umzusetzen. Im übrigen will ich Ihnen ganz offen sagen: Die Aussagen von Herrn Richardt stehen im Widerspruch zum Verwaltungshandeln; denn die BfA gab am 19. Januar 1999 mit anderen Spitzenverbänden der Sozialversicherungen eine Stellungnahme zu dem Gesetz, mit dem wir uns hier befassen, heraus. Darin steht wörtlich - ich zitiere -: Durch das Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte ... wird zum 01.01.1999 die Einbeziehung scheinselbständiger Arbeitnehmer in die Sozialversicherung erleichtert. Nicht verkompliziert, wie Sie hier behaupten, sondern erleichtert! Weiter heißt es in diesem Brief: Um scheinselbständige Arbeitnehmer schneller und besser zu erfassen, wird ein Kriterienkatalog ... vorgesehen, ... Sie sehen also, daß die Verwaltung der BfA diese Regelung durchaus als handhabbar und als eine sachgerechte Lösung dieses Problemkreises ansieht. Sie werden dies im übrigen auch in vielen Faltblättern der BfA, in aktuellen Sonderinformationen in diesem Kontext so nachlesen können. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es hilft nicht weiter - lassen Sie mich das deutlich sagen - wenn hier im Hause eine sinnvolle rechtliche Regelung mehr und mehr durch Polemik attackiert wird. Der mittelstandspolitische Sprecher der CDU/CSU hat in einer Pressemitteilung von gestern deutlich gesagt: Wie antiquiert das Unternehmerbild der Regierung ist, zeigt die Vorstellung, daß sie Betriebsräume, Firmenwagen und die Schaltungen von Werbeanzeigen als Voraussetzung für Selbständigkeit ansieht. Daß ein Unternehmer mit einem Laptop von der Parkbank aus erfolgreich sein kann, ist für Ideologen unvorstellbar. So der Kollege Doss in seiner Medienarbeit.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zu solchen Ergüssen kann ich Sie nur beglückwünschen. Würden Sie Ihre Oppositionsarbeit konstruktiv angehen, dann hätten Sie uns schon längst von Ihrem Laptop-Parkbank-Unternehmerbild überzeugt und uns aufgefordert, an allen Parkbänken Steckdosen zu installieren, da mit die Arbeit dort wirkungsvoller wird und zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden können. Herzlichen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich, CDU/CSUFraktion.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man in diesen Tagen beobachtet, wie die Medien Ihre Regierungskunst kommentieren, könnte man als Oppositionspolitiker eigentlich sehr gelassen und entspannt sein. Aber es regt einen auf, und man ist überhaupt nicht mehr gelassen, wenn man täglich Anrufe von Menschen, von Existenzgründern, von Selbständigen, bekommt, die einem schildern, daß sie unmittelbar vor dem Aus stehen, weil diese rotgrüne Regierung ein neues Gesetz gemacht hat. ({0}) Man leidet mit diesen Menschen mit, und man versteht ihre Probleme. Sie haben mit der Ausweitung der Sozialversicherungspflicht auf kleine selbständige Unternehmer unter dem politischen Kampfbegriff „Scheinselbständigkeit“ Tausende von Existenzen auf dem Gewissen, wenn dieses Gesetz tatsächlich umgesetzt und nicht schleunigst korrigiert wird. ({1}) Das größte Problem dabei ist die Verunsicherung der betroffenen Unternehmer, und zwar sowohl der Auftraggeber als auch der Auftragnehmer. Grund dafür ist die Tatsache, daß dieses Gesetz nicht durchdacht ist, daß es viel zu kurzfristig umgesetzt werden soll und daß es vor allem an der Realität in der Wirtschaft völlig vorbeigeht. ({2}) Liebe Frau Kollegin Buntenbach, Sie haben vorhin von den Fuhrunternehmern gesprochen. Letzte Woche hat mich so ein Fuhrunternehmer angerufen, der ein gesundes Unternehmen hat und seit Jahren für einen Auftraggeber Fahrten durchführt. Er hat jetzt eine Frist bis zum 31. März gesetzt bekommen, um zu beweisen, daß er nicht scheinselbständig ist. Sie erwarten jetzt wahrscheinlich, daß der Auftraggeber ansonsten Sozialbeiträge zahlen müßte. Nein, der Fuhrunternehmer bekommt keine Aufträge mehr! Das ist die Realität in diesem Land. Das müssen Sie endlich einmal verstehen. ({3}) Mit völlig untauglichen Kriterien bringen Sie diesen kleinen selbständigen Fuhrunternehmer in Beweiszwänge, aus denen er sich nicht mehr befreien kann. Natürlich erfüllt er die Kriterien für die Beweislastumkehr. Aber er hält es nicht durch, jahrelang zu prozessieren, um zu beweisen, daß er doch selbständig ist. Eine jahrelange gute geschäftliche Zusammenarbeit, eine gesunde Existenz eines Fuhrunternehmers wird auf diese Weise durch Ihren Gesetzesdilettantismus zerstört. ({4}) Betroffen sind aber nicht nur die Auftragnehmer, sondern auch die Auftraggeber. Herr Minister, es ist schon interessant, daß Sie jetzt sagen, es gebe keine Rückwirkungen. Momentan ist das Bedrohungsszenario für die mittelständischen Auftraggeber ein anderes. Sie wissen, daß es - insbesondere in Baden-Württemberg Fälle gibt, bei denen Sozialversicherungsbeiträge für Honorare an selbständige Unternehmer für vier Jahre nachgefordert werden. Ich bitte Sie, das ganz schnell zu ändern und die Heere von LVA-Prüfern zu stoppen, die die mittelständischen Betriebe verunsichern. ({5}) Einige Kommentatoren in den Medien unterstellen der Koalition, sie habe es gut gemeint und habe die Abhängigen schützen wollen. Das behaupten ja auch einige von Ihnen. Es ist schlimm genug, wenn eine Regierung es nur gut meint, aber in Wirklichkeit überhaupt nicht merkt, was sie anrichtet. Für die Abgrenzung von Selbständigen und Abhängigen wäre diese gesetzliche Regelung nämlich nicht notwendig gewesen. Die Rechtsprechung hat seit Jahren Kriterien entwickelt, die völlig ausreichend waren. ({6}) In Wahrheit geht es Rotgrün nicht um den Schutz der Menschen, sondern um die Ausweitung der Versicherungspflicht auf Selbständige, weil Sie in der Rentenpolitik einen verheerenden Fehler gemacht haben. Sie haben die Rentenreform der Regierung Kohl zurückgenommen und brauchen jetzt Geld, das Sie sich von den kleinen Selbständigen holen wollen. ({7}) Ihnen muß aber eines klar sein: Die Existenzen, die Sie jetzt vernichten, retten Sie nicht mehr. Das ist wahrscheinlich ganz im Sinne der grünen Ewigkeitspolitiker, die alles unumkehrbar machen wollen: Kernenergieausstieg: unumkehrbar; Staatsangehörigkeit: unumkehrbar. Jetzt machen Sie wirklich etwas Unumkehrbares: Sie vernichten die Existenzen von Tausenden von selbständigen Unternehmern. ({8}) Täglich rufen junge Existenzgründer verzweifelt bei ihren Steuerberatern und bei den Handelskammern, seltener aber bei der LVA an; denn inzwischen ist Mißtrauen gesät worden. Ja, das muß man einmal sagen: Ihre Politik sät Mißtrauen unter den am Wirtschaftsprozeß Beteiligten. ({9}) Das Problem ist, daß nicht mehr viel Zeit bleibt. Ich habe vorhin die Frist für viele Unternehmer genannt: 31. März. ({10}) Seit einigen Wochen werden täglich Verträge gekündigt, schlagen Vertragsverhandlungen fehl und werden Geschäftsverbindungen beendet. Ich appelliere an die Koalition: Nehmen Sie dieses Gesetz möglichst schnell zurück, oder korrigieren Sie es wenigstens so, wie der DIHT es vorschlägt: Wer ins Handelsregister eingetragen ist, ist selbständig. Ich erwarte, daß sich der Bundeskanzler selber um diese Angelegenheiten kümmert. ({11}) Er kann sich nicht damit entschuldigen, daß er einen Wirtschaftsminister hat, der aus der Großindustrie kommt und nichts vom Mittelstand versteht. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, achten Sie auf die Zeit?

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Er kann sich auch nicht damit entschuldigen, daß er einen Arbeits- und Sozialminister hat, der nichts von moderner Wirtschaftspolitik versteht. ({0}) Hören Sie endlich auf, die Menschen, die Wirtschaft, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer in diesem Lande zu bevormunden und zu gängeln! Ihre Vorstellungen von staatlicher Zwangsbeglückung passen nicht mehr in das Jahr 1999. Vielen Dank. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Olaf Scholz, SPD-Fraktion, das Wort.

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Ich glaube, die Diskussion, die wir gerade führen, leidet unter anderem darunter, daß sich ganz viele mit der Rechtssituation in unserem Lande nicht auskennen. ({0}) - Die ist ganz einfach. ({1}) Hintergrund für die Debatten, die wir jetzt führen, und Hintergrund für die Gesetzesänderung ist die gemeinsame Feststellung aller Parteien im Bundestag und weit darüber hinaus gewesen, daß die Gesetze zur Abgrenzung von selbständiger und abhängiger Beschäftigung, die wir in unserem Lande schon lange haben, immer weniger beachtet werden. Der größte Teil derjenigen, die sich jetzt öffentlich und laut beschweren, beklagt sich darüber, daß jetzt herauskommt, daß er in der Vergangenheit Gesetze nicht beachtet hat. Das ist die Wirklichkeit. ({2}) Alle Untersuchungen - auch die, die Ihnen zur Verfügung stehen - gehen davon aus, daß in den letzten Jahren zwischen einer und zwei Millionen Menschen nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt worden sind, obwohl sie das von Gesetzes wegen gemußt hätten. Die eigentliche von uns vorgenommene Veränderung liegt darin, daß wir dem schon geltenden Gesetz zu mehr Wirksamkeit verholfen haben. Woran liegt das alles? Es liegt daran, daß die Sozialversicherungspflicht und der Schutz abhängiger Menschen in der Bundesrepublik Deutschland an dem Arbeitnehmerstatus hängt. Das ist nicht überall so. Zum Beispiel besteht in der Schweiz eine Sozialversicherungspflicht für jedes Einkommen. Aber in der Bundesrepublik Deutschland ist diese Pflicht an den Arbeitnehmerstatus, an die abhängige Beschäftigung geknüpft. Eine Abgrenzung zwischen Arbeitnehmerstatus und Selbständigkeit war nie leicht. Damit mußte man sich immer ein bißchen auskennen. Die Beurteilung dieser rechtlichen Abgrenzung fiel denjenigen, die sich auskannten, noch nie schwer; vielmehr ist in diesem Zusammenhang ein ganz anderes Problem aufgetaucht: Es dauerte ein paar Jahre, bis die Sozialversicherung in einem Prozeß nachweisen konnte, daß jemand ein Gesetz nicht so beachtet hat, wie er es hätte tun sollen. In den entsprechenden Gesetzen ist eine Abgrenzung zwischen Arbeitnehmerstatus und Selbständigkeit vorgesehen. Aber wenn Sie ins Bürgerliche Gesetzbuch schauen, dann werden Sie feststellen, daß es dort keine Definition von abhängiger Beschäftigung und von selbständiger Tätigkeit gibt, obwohl sie große und bedeutsame Folgewirkungen auf unsere Gesetzeslage hat. Dies ist der Hintergrund, mit dem wir uns beschäftigen. Ich sage Ihnen: Wir ändern kein einziges Gesetz. Wir wollen lediglich erreichen, daß es den Sozialversicherungen etwas leichter fällt, die Beachtung der Gesetze durchzusetzen. Diese Veränderung haben wir beschlossen. ({3}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({4}) Darum wäre es auch ausgesprochen hilfreich, wenn sich die Zeitungen, in denen jetzt alle möglichen Fälle beurteilt werden, eine korrekte Rechtsberatung zulegen würden. Wenn sie das täten, würden sie bei der Beurteilung vieler Fälle feststellen, daß man eigentlich schon immer Sozialversicherungsbeiträge hätte zahlen müssen. Wir haben hier auch Beispiele für eine arbeitnehmerähnliche Selbständigkeit kennengelernt. Die Firma Eismann hat uns während des Anhörungsverfahrens mit Briefen bombardiert. Parallel dazu hat der Bundesgerichtshof in einem mehrjährigen Verfahren entschieden, daß die Rechtstreitigkeiten der bei der Firma Eismann beschäftigten sogenannten Selbständigen vor den Arbeitsgerichten auszutragen sind. ({5}) Sie sehen also, daß wir hier nur helfen wollen, den Gesetzen Geltung zu verschaffen. Ich möchte noch eine Ergänzung dazu machen: Wenn es sich so verhält, wie ich es schildere, dann kann die Gesetzeslösung nicht nach dem Motto funktionieren: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß. ({6}) Wenn es tatsächlich so viele Gesetzesbrüche gegeben hat, dann werden jetzt viele gezwungen, die Gesetze zu befolgen. Das ist das Ziel unseres Gesetzes Lassen Sie mich zum Abschluß noch auf folgendes hinweisen: Es gibt einen Unterschied zwischen der Selbständigkeit in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht und der Selbständigkeit in arbeitsrechtlicher Hinsicht. Aber dieser Unterschied ist nur klein. Die Fälle, die genannt worden sind, können nicht auf die hier beschriebene Weise gelöst werden. Wenn jemand seine Beschäftigten zu Unrecht als Selbständige angestellt hat und sie auf Grund der neuen Regelung nicht weiterbeschäftigen will, dann steht jedem der Betroffenen der Weg zu den Arbeitsgerichten offen. ({7}) Dort wird festgestellt werden, daß die Beschäftigten viele Jahre lang Arbeitnehmer waren. Damit genießen sie dann Kündigungsschutz, der in diesem Lande für Betriebe ab fünf Beschäftigte wieder gilt. Schönen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat der Kollege Hartmut Schauerte, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Natürlich gibt es ein objektives Problem. Die Frage ist einfach, wie man es löst. Die Frage besteht darin, wie wir mit diesem Problem in einer sich stark verändernden Welt und angesichts veränderter Biographien sowie der neuen Flexibilität, zu der wir positiv eingestellt sein müssen - es gibt keine Alternative -, gesetzgeberisch umgehen. Der Konflikt in diesem Haus läßt sich an einer ganz einfachen Grenzlinie festmachen: Im Zweifel entscheiden Sie sich für den Zwang, für die Pflicht und für das Zurückgliedern in ein - ich sage einmal - „Muß-Arbeitnehmerverhältnis“, und wir entscheiden uns im Zweifel lieber für mehr Chancen, für Freiheit, für Risiko und für Eigenverantwortung. ({0}) Sie haben sich mit diesem Gesetz die Abgrenzungsproblematik entschieden zu einfach gemacht. Das, was die Menschen uns draußen im Land sagen, bestätigt das doch. ({1}) Es ist nicht so, daß wir die guten Briefe und Sie die schlechten verstecken; vielmehr werden an alle Mitglieder dieses Hauses aus sehr großer Betroffenheit heraus nur schlechte und sorgenvolle Briefe gerichtet, in denen gefordert wird: Ändert es! Laßt es so nicht zu! Sie formen sich die Wirklichkeit nach Ihrem ideologischen Bild. Aber das ist nicht die Wirklichkeit. Sie gehen nach dem Prinzip vor: Wer Arbeitnehmer ist, bestimmen wir. - Nein, so geht das nicht mehr. Ihr Gesetz ist rückschrittlich in bezug auf die Probleme, die es anerkanntermaßen gibt. ({2}) Deswegen können wir Sie nur eindringlich auffordern, noch einmal darüber nachzudenken und nicht einfach zu sagen: Hier wird inhaltlich nichts geändert, sondern nur ein wenig bei der Durchführung. Ich will Ihnen ein ganz einfaches Beispiel nennen: Sie bestimmen, Arbeitnehmer ist nach dieser Gesetzeslage derjenige, der seine Frau beschäftigt und nur einen Auftraggeber hat. Wer sich von seiner Frau scheiden läßt, ist ein Unternehmer. Stellen Sie sich diese Idiotie vor! ({3}) Das kann doch nicht wahr und nicht rechtsfest sein. Als Jurist weiß ich, wovon ich rede. Es wird ein Vergnügen sein, die Frage zu prüfen, ob das eine Diskriminierung von Familienmitgliedern in einer modernen Arbeitswelt mit Heimarbeitsplätzen ist. Mit allem, was Sie tun, werden Sie Schiffbruch erleiden. Das kann doch nicht wahr sein. ({4}) Dann haben Sie umgekehrt eine Positivbeschreibung vorgenommen. Ich habe sie heute gehört, und sie steht auch in irgendwelchen Unterlagen. Ich habe mich gewundert. Darin steht: Wer von uns gefördert wird, ist selbständig. ({5}) Wer also mit eigenen Mitteln das gleiche tut wie derjenige, der eine öffentliche Förderung erhält, wird anders eingestuft. Derjenige, der die öffentliche Förderung bekommen hat, ist selbständig - das muß man genüßlich bedenken -, ({6}) und der andere, der es aus eigenen Mitteln bestritten oder seine Schwiegermutter belastet hat, ist nicht selbständig. Sie sehen, Sie können das so nicht durchhalten. Machen Sie schnell eine ordentliche Korrektur; denn die Verunsicherung ist sehr schädlich. ({7}) Wir sind doch gemeinsam daran interessiert, daß der Schritt zur Selbständigkeit leichter wird, daß die Hürde, aus der Arbeitnehmerschaft in die Selbständigkeit zu wechseln, niedriger wird. Wir fördern mit Arbeitslosenunterstützungsgeldern den Weg in die Selbständigkeit. Wir versuchen es in allen Bereichen, und Sie schaffen hier ein zu enges Korsett. Es wäre doch schade, wenn 10 000, 20 000 junge Existenzen deswegen nicht gegründet würden, weil die Hürde ein Stück höher geworden ist. Das ist doch das Thema, das uns gemeinsam bewegen muß. Ich kann Sie nur herzlich auffordern, in dieser Frage offenzubleiben und sich nicht zu verbeißen. Man kann einen Fehler machen; bei Ihnen sind es zugegebenermaßen viele geworden. Deswegen dürfen wir aber nicht an einer Entwicklung festhalten, die die Selbständigkeit eher erschwert. Das ist kein Gesetz zur Bekämpfung von Scheinselbständigkeit - das ist es nur in wenigen Bereichen -, es ist in der Hauptsache ein Gesetz zur Muß-Arbeitnehmerschaft, ich könnte auch sagen: zur Zwangsarbeitnehmerschaft. Sie kennen den Begriff von Zwangsbeiträgen. Das ist doch ein ganz normaler Begriff. Man spricht entweder von Pflicht- oder von Zwangsbeiträgen. Genau das machen Sie. Im Zweifel entscheiden Sie sich für den Rückschritt in den Zwang und nicht für den mutigen Weg nach vorn in die Freiheit. ({8}) Deswegen bitte ich Sie noch einmal, das Gesetz ein Stück weit zurückzunehmen. Es kann nicht sein, daß Sie bestimmen wollen, wer ein Arbeitnehmer ist. Herr Dr. Friedrich, ich muß Ihnen bei einer Bemerkung widersprechen. Sie haben gesagt, der Bundeskanzler soll das Ding übernehmen. Diese Hoffnung lassen Sie fahren. ({9}) Er hat zu den 630-Mark-Jobs von diesem Pult aus Erklärungen und Versprechungen abgegeben, ({10}) von denen die wenigsten heute noch im Gesetz stehen. Eine weitere Glaubwürdigkeitslücke möchte ich ihm in diesen schwierigen Zeiten nicht zumuten. ({11}) Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Geduld. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als letzter erteile ich das Wort der Kollegin Doris Barnett, SPD-Fraktion. ({0})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schauerte! Wem wir welche Gesetzgebungsinitiativen überlassen sollten, lassen Sie einmal unsere Sorge sein. ({0}) Ich habe noch einen Hinweis an Sie in Sachen arbeitnehmerähnliche Selbständige: Unterhalten Sie sich einmal mit Ihrem Kollegen Laumann. Von dem können Sie etwas lernen. ({1}) - Ja, der hat Ahnung. Gestern hat er im Ausschuß wirklich ein Lehrstück abgeliefert. Schade, daß er das heute hier nicht wiederholt. Herr Niebel, nun zu Ihnen. ({2}) Sie haben vorgetragen, rotgrüne Politik führt zu Arbeitsplatzabbau. Dazu kann ich nur fragen: Hatten wir nicht 16 Jahre CDU/CSU-F.D.P.-Regierung mit über 4 Millionen Arbeitslosen? ({3}) Das war wohl der Einzug in die Freizeitgesellschaft. ({4}) An dieser Stelle wünsche ich mir, daß wir eine andere Debattenkultur beginnen und uns nicht dauernd darüber unterhalten, was wer in welcher Zeitung gesagt hat oder wie er zitiert wird. Dieser Stil ist dieses Hauses nicht würdig. Wir sollten uns hier im Originalton und nicht über Zeitungszitate unterhalten. Aber jetzt zum eigentlichen Thema: Die Arbeitswelt - darüber haben wir gestern im Ausschuß gesprochen ist in Bewegung; das Normalarbeitsverhältnis ist nicht mehr die Norm. Atypische Arbeitsverhältnisse wie Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, befristete Arbeitsverhältnisse, Arbeitnehmerüberlassung, neue Arten von Selbständigkeit, aber auch Scheinselbständigkeit nehmen zu. Wir haben mittlerweile - so hat es das IAB festgestellt - 938 000 Scheinselbständige. ({5}) Deswegen hat sich die SPD vorgenommen, Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. ({6}) Es muß Schluß sein mit Mißständen und mit der Verwilderung der Sitten auf dem Arbeitsmarkt. Wenn aufgeräumt wird - das ist nun einmal so; vielleicht staubt es bei Ihnen zu Hause auch -, kommt so manches ans Tageslicht, was an sich das Licht scheut. So ist es auch hier. Ans Tageslicht kommen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und Lohndumping. Dafür fehlt Ihnen vielleicht die Phantasie; uns fehlte sie übrigens auch, wenn ich daran denke, was wir alles über Arbeitsverhältnisse erfahren haben. Wir waren zum Teil von den Socken. ({7}) Besonders überrascht hat uns aber, was Sie weiterhin gutheißen wollen. So, wie wir mit der Steuerhinterziehung Schluß machen, machen wir auch Schluß mit der Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen. ({8}) Es muß Schluß sein mit der Schattenwirtschaft, ({9}) die auch in Richtung Schwarzarbeit geht. ({10}) Hier kann ich Gott sei Dank auch einmal auf einen CSU-Minister verweisen, der dieses Problem in Bayern angehen will. Halten Sie sich einmal an ihn; vielleicht können Sie von ihm sogar noch etwas lernen. Dieser Minister hat nämlich festgestellt, daß durch die Schattenwirtschaft dem Staat immerhin 600 Milliarden DM verlorengehen. Wir haben so viel Kritik gehört, aber noch keinen einzigen vernünftigen Vorschlag. Ich frage mich wirklich, wo solche Vorschläge bleiben. ({11}) Sonntags fordern Sie in Ihren Reden, die Lohnnebenkosten zu senken, und montags überlegen Sie sich tausenderlei Befreiungstatbestände, damit die Arbeitgeber ja nichts zu zahlen brauchen. Wo sind wir denn eigentlich? Die Umgehungstatbestände sind Ihnen lange bekannt. Wir müssen diese jetzt endlich abschaffen; das werden wir auch tun. Es wurde viel dazu gesagt. Der VDR hat unsere Regelungen ausdrücklich begrüßt. Aber noch etwas zu Ihnen, weil Sie dauernd mit einem Papier wedeln: Dieses Papier ist für die Verwaltung; für den einfachen Bürger, der lesen kann, hat die Bundesversicherungsanstalt eine Broschüre herausgegeben, die ich Ihnen wärmstens zur Lektüre empfehle. Die Broschüre ist so einfach gefaßt, daß sie sogar ein ganz normaler Bundestagsabgeordneter verstehen müßte, selbst wenn er nicht dem Sozialausschuß angehört. ({12}) Scheinselbständige sind Arbeitnehmer. Die Folgen dieser Art von Beschäftigung sind für die Betroffenen fatal: instabile Auslastung des eigenen Arbeitsvermögens, unterdurchschnittliche Einkommensentwicklung, geringe Finanzkraft zur Vorsorge gegen Krankheit, Unterbeschäftigung und Altersrisiken, geringe Planbarkeit der Geschäftsverläufe und der Einkommensperspektiven sowie ein erhöhtes Armutsrisiko. Das alles haben wir vor über eineinhalb Jahren in der Enquetekommission „Informationsgesellschaft“ als richtig angesehen. Angesichts dessen wollen Sie mir etwas darüber erzählen, daß sich die neue Gesellschaft vom Zwang zur Versicherung befreien müßte? ({13}) Die Kollegin Roth hat Ihnen vorhin aufs Brot geschmiert, wie teuer das eigentlich kommt. Warum lesen Sie nicht einmal die Unterlagen, statt einfach aufs Geratewohl, wider besseres Wissen und ohne eigene Vorschläge ganz vernünftige gesetzliche Regelungen zu verdammen, die praktikabel sind und die gut für die Wirtschaft und für Existenzgründer sind? Wir werden uns in vier Jahren wieder sprechen, wenn wir erste harte Daten haben. ({14}) Vielleicht werden wir dann statt der Protestschreiben sogar Dankesschreiben haben. Vielen Dank. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun gebe ich dem Kollegen Laumann das Wort zu einer Erklärung nach § 30. In einer Erklärung zur Aussprache darf er sich nur auf Äußerungen beziehen, die ihm gegenüber auf seine Person bezogen gemacht werden. Er darf sie zurückweisen und richtigstellen. - Bitte sehr, Herr Kollege Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Schönen Dank dafür, daß ich hierzu etwas sagen darf. - Einige Rednerinnen und Redner der SPDFraktion haben im Plenum den Eindruck erweckt, als hätte ich gestern im Ausschuß ihr Gesetz zur Scheinselbständigkeit für richtig befunden. Ich finde, daß ich Ihr Gesetz gestern sehr kritisiert habe. Das Problem Ihres Gesetzes besteht darin, daß es unpraktikabel ist. Ihre Behauptung, Ihre Gesetzgebungsarbeit sei handwerklich gut, ist eine Beleidigung für jeden Handwerker. ({0}) Ich habe gestern im Ausschuß gesagt - das ist auch meine feste politische Überzeugung -: Wir haben in den 50er Jahren eine Entscheidung zugunsten der selbständigen Handwerker getroffen. Nach dieser Entscheidung kann ein selbständiger Handwerksmeister nur dann aus der Rentenversicherung austreten, wenn er 18 Jahre lang Mitglied der Rentenversicherung war. Das ist damals so beschlossen worden, damit die Rentenansprüche oberhalb des Sozialhilfeniveaus liegen. Diese Regelung ist bis heute im Handwerk akzeptiert und wird von niemandem in Frage gestellt. ({1}) - Auch nicht von den Existenzgründern. - Ich kenne keine Handwerkskammer und keine Innung, die diese Regelung in Frage stellt. Ich habe im Ausschuß den Denkansatz ins Spiel gebracht, es für diejenigen, die sich außerhalb der Handwerksordnung selbständig machen, genauso zu regeln, wie wir es seit Jahr und Tag für die Handwerker geregelt haben. ({2}) Wenn das geschähe, dann hätte man ein durchschaubares und anerkanntes Gesetz. Ein Kanzler aber - auch das habe ich Ihnen gestern gesagt -, der lieber für italienische Maßschneider als für die deutsche Textilindustrie wirbt, hat mit der Sozialversicherung nichts am Hut. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Vera Lengsfeld, Norbert Otto ({1}), Hartmut Büttner ({2}) und der Fraktion der CDU/CSU Überlassung der Akten der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR durch die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika - Drucksachen 14/89, 14/515 Berichterstattung: Abgeordnete Gisela Schröter Hartmut Büttner ({3}) Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich erteile das Wort der Kollegin Vera Lengsfeld, CDU/CSUFraktion. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diejenigen, die hierbleiben wollen, sind herzlich eingeladen, sich hinzusetzen. Diejenigen, die weggehen wollen - ich bedaure, daß sie das tun -, mögen es bitte schweigend tun, damit wir anfangen können.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Machiavelli hat uns gelehrt, daß der Verräter die wichtigste Figur im Spiel der Macht ist. Aber seine Zeit ist begrenzt; sie dauert nur so lange, bis der Fürst die Fäden in der Hand hält. Heute haben die westlichen Demokratien über den Kommunismus gesiegt; jedoch stellt uns dieser Sieg vor viele Fragen: politische, juristische und moralische. Wie gehen wir mit den Hinterlassenschaften der zweiten deutschen Diktatur um? In einer großen deutschen Tageszeitung erschien vor einiger Zeit ein Artikel mit der Überschrift „Die Gnade der westdeutschen Geburt“. Darin wurde nicht zu Unrecht behauptet, daß diejenigen Westdeutschen, die für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet haben, unentdeckt geblieben seien, weil die Akten der HVA in der Wendezeit vollständig vernichtet worden seien. Haben wir es also der Stasi zu verdanken, daß heute fast ausschließlich ehemalige Bürger der DDR am Pranger stehen, weil sie für die Geheimpolizei der SED gespitzelt haben? Noch gibt es die reale Möglichkeit, dieses falsche Bild zu korrigieren. Eine „Gnade der einseitigen Aktenlage“ darf es nicht geben. ({0}) Auch in Westdeutschland muß die Stasi-Vergangenheit endlich aufgearbeitet werden. Parteien und Verbände, Kirchen und Gewerkschaften, Medien und Universitäten müssen sich ihrer Geschichte stellen. Wir wollen wissen, wer die Geschicke der Bundesrepublik im Hintergrund wie und warum mitgesteuert hat. Aus welchen Motiven wurde gemeinsame Sache mit der SED gemacht? Wie nachhaltig wirkt diese Motivation? Wir müssen fragen, ob Landesverräter in verantwortlichen gesellschaftlichen Stellungen weiter tätig sein dürfen. Die Entschlüsselung der Datenbank der HVA in der Berliner Stasi-Akten-Behörde kann die Aufarbeitung im Westen einen großen Schritt voranbringen. Historiker und Journalisten müssen umgehend die Möglichkeit erhalten, diese Daten zu nutzen. Dann kann nicht nur Klarheit darüber erlangt werden, wer im Westen für die Stasi gearbeitet hat, sondern es können auch ungerechtfertigte Vorwürfe aus der Welt geschafft werden. Erst wenn diese Akten so zugänglich sind wie die Akten über die Ost-IMs, wird das Geraune über „Tulpe“, „Wotan“ oder „Junior“ aufhören. Die Entschlüsselung der Bänder erst jetzt, neun Jahre nach der Besetzung der Stasi-Zentrale, wirft die Frage auf, ob die Aufarbeitung West weiterhin als weniger vorrangig gelten darf als die Aufklärung über die StasiMachenschaften in den neuen Bundesländern. Spionage ist verjährt. Nur schwerer Landesverrat kann noch bestraft werden. Die Westdeutschen, die sich - im GegenKarl-Josef Laumann satz zu vielen Spitzeln in der DDR - meist ohne äußeren Druck auf die Stasi eingelassen haben und genau wußten, daß dies strafbar ist, sind meist gut weggekommen. Die Zuträger der roten Diktatur nutzen die Liberalität dieses Landes und den Anschein, der Kommunismus sei nur ein Problem des Ostens. Die Maßstäbe für Gut und Böse haben sich in den letzten Jahren bedenklich verschoben. Ein bißchen StasiSpitzelei, Landesverrat gar wird mittlerweile beinahe wie ein Kavaliersdelikt behandelt. Spionage für einen demokratischen Rechtsstaat wird bösartig oder leichtfertig mit der Spionage für eine Diktatur gleichgesetzt. Die Forderung nach einer Amnestie - wie sie von der PDS erhoben wird und die schon deshalb üble Demagogie ist, weil es nicht einen einzigen Häftling gibt, den man amnestieren könnte - soll dazu dienen, das gesamte System der SED-Herrschaft zu amnestieren und politisch zu rehabilitieren. ({1}) Daß solche Forderungen auf naives Wohlwollen auch im Westen hoffen dürfen, ist bestürzend. Oder sind die Motive gar nicht so naiv? Die Herrschaft der SED sowie der anderen kommunistischen Parteien und die Schwäche der Oppositionsgruppen konnten sich nur perpetuieren, weil die kommunistischen Systeme in den Ostblockstaaten auf willige Helfer in den westlichen Demokratien zurückgreifen konnten. Deren Verantwortung für den Erhalt der totalitären Herrschaftsmechanismen muß endlich ins öffentliche Bewußtsein gerückt und diskutiert werden. Verraten wurden von diesen Handlangern aus dem Westen ja nicht nur wirtschaftliche und militärische Daten, die ein todkrankes System retten sollten. Nein, sie verrieten auch Informationen über oppositionelles Verhalten und Fluchtpläne. So wurde die ganze Bevölkerung der DDR und der anderen Ostblockstaaten ein Opfer dieser Agenten. Die politische - und nicht nur die juristische - Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit ist im Westen dringlich. Die Kollaboration mit dem Geheimdienst der SED sagt viel über Verfassungstreue aus, gibt viel von einem politischen Charakter preis. Wer an maßgeblicher Stelle in der Bundesrepublik freiwillig mit dem MfS zusammengearbeitet hat, wer bei Prosecco und Carpaccio mit dem netten Genossen von drüben Informationen getauscht und dabei vielleicht noch ideologische Nestwärme gespürt hat, ist politisch belasteter und moralisch unmöglicher als ein kleiner IM, der unter dem Druck der geschlossenen DDR bieder berichtet hat. ({2}) Die Westspione haben ohne Not die Freiheit und die westlichen Demokratien gefährdet, und dies aus Gründen, die keineswegs immer nur politisch waren. Auf einige, die dummerweise glaubten, für den Weltfrieden kämpfen zu müssen, kamen Tausende, die rein materielle Motive hatten. Sicher gab es auch welche, die erpreßt wurden. Schon die Unterschiede in den Verratsmotiven begründen die Notwendigkeit einer systematischen Klärung. Die Spionage aus Profitgier bleibt eine Gefahr für die heutige Demokratie in Deutschland, weil die Leute nach wie vor erpreßbar sind. Aber das Stasi-Problem im Westen hat noch andere Facetten. Es geht um politische und ideologische Affinitäten, die heute allzugern vertuscht werden. Es geht auch um das historische Reinwaschen der kommunistischen Herrschaft - vielleicht auch, um sie wieder koalitionsfähig zu machen? Sind die Verharmloser von heute vielleicht die Landesverräter von gestern? Eine Aufdeckung wird mit Sicherheit schmerzhaft werden, weil wahrscheinlich zahlreiche Institutionen und alle demokratischen Parteien betroffen sein werden. Wir brauchen diese Aufklärung dennoch; denn diese Demokratie braucht Transparenz als unverzichtbaren Teil des demokratischen Zusammenwachsens von Ost und West. Die Enttarnung der Schuldigen ist nicht nur für den Schutz unserer Demokratie wichtig, sondern auch deshalb, weil nur sie es uns ermöglicht, diesen Leuten wieder einen ehrlichen Platz in unserer Gesellschaft anzubieten. Wenn es nicht zu einer umfassenden Aufdeckung kommt, bestehen für die Bundesrepublik nachhaltige Sicherheitsprobleme. Es bleibt die Gefahr, daß eine große Anzahl von unbekannten Agenten der HVA in West und Ost die demokratischen Institutionen unterläuft. Für uns ergeben sich deshalb folgende Forderungen: Erstens. Es ist erforderlich, daß die während der Wendezeit geretteten und nur teilweise vernichteten Unterlagen zugänglich gemacht werden. Wir können nicht 400 Jahre warten, bis eine Handvoll Mitarbeiter des Bundesbeauftragten in Zirndorf die Aktenschnipsel per Hand zusammengesetzt hat. Deshalb müssen jetzt die finanziellen Mittel bereitgestellt werden, damit die zerrissenen Akten per Computer rekonstruiert werden können. Schon die bisher wieder zusammengesetzten Unterlagen haben gezeigt: Die Stasi wollte die brisantesten Dokumente vernichten. Wir dürfen uns nicht damit zufriedengeben, was das MfS uns wie Brosamen übriggelassen hat, denn sonst machen wir uns mitschuldig an der Verharmlosung dieser größten politischen Geheimpolizei der deutschen Geschichte und - das ist entscheidend - der Politik und der Ideologie ihrer Auftraggeber. Zweitens. Alle vorhandenen Datenträger und Magnetbänder müssen jetzt so schnell wie möglich lesbar gemacht werden. Die in Amerika abgeschriebenen Karteikarten über 1 553 Westagenten, die schon jetzt in der Gauck-Behörde lagern, müssen ebenfalls zugänglich gemacht werden. Sie sind ein Schlüssel für die neu aufgefundene Datenbank der HVA. Drittens. Die Agentenkartei der HVA, die vollständig im Besitz des CIA ist, muß zurück nach Deutschland kommen. Diese Dateien enthalten sämtliche Klar- und Decknamen. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, daß die Bundesregierung in dieser Angelegenheit mit Erfolg in den USA vorstellig geworden ist und die CIA uns Details aus dem Nachlaß der DDR-Spionage mitteilen will. Zu fragen ist, wann und in welcher Form das Material zu erwarten ist. Werden Kopien der nach Amerika verVera Lengsfeld brachten Akten der Gauck-Behörde zur Verfügung gestellt? Die Konzentration aller Akten in der GauckBehörde ist die unerläßliche Voraussetzung für die Gleichbehandlung aller Fälle und für die notwendige Auseinandersetzung. Die Recherchen der Gauck-Behörde haben ergeben, daß die von den USA gelieferten Daten zu den 1 553 Westagenten nur einen Teil der Agenten umfassen. Vermutlich etwa 3 000 Namen von Spitzeln, die gegen die Bundesrepublik spioniert haben, hält der Geheimdienst CIA noch unter Verschluß. Außerdem sind schätzungsweise 10 000 ehemalige StasiSpitzel in der DDR durch alle Überprüfungen gerutscht, weil die HVA ihre Akten vernichtet hat. Auch dazu liegen in den USA Daten vor. Die Amerikaner haben den Westdeutschen nach dem zweiten Weltkrieg beim Aufbau der Demokratie entscheidend geholfen. Sie haben damals auch beschlagnahmte NS-Akten zurückgegeben oder zugänglich gemacht. ({3}) Damit wir Deutschen nicht nur die nationalsozialistische, sondern auch die kommunistische Vergangenheit bald aufarbeiten können, müssen die in den USA befindlichen Akten der politischen Analyse und der gesellschaftlichen Diskussion in Deutschland zur Verfügung gestellt werden. ({4}) Wie die Geschichte gezeigt hat, reicht es nicht, ein paar Fachleuten Einblick in streng geheime Dossiers zu gewähren. Wir brauchen vielmehr eine offene und öffentliche Auseinandersetzung, keineswegs nur in den neuen Bundesländern, sondern in ganz Deutschland. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Gisela Schröter, SPD-Fraktion.

Gisela Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002086, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß die vorliegende Beschlußempfehlung im Innenausschuß mit breiter Zustimmung zustande gekommen ist. Auch die mitberatenden Ausschüsse haben sich mit der gleichen Einstimmigkeit für den Antrag ausgesprochen. Damit setzt der Deutsche Bundestag eine gute Tradition fort. Mit breitem parlamentarischen Konsens werden wir einer der wichtigsten Aufgaben gerecht, die sich dem vereinten Deutschland stellen: der Bewältigung der DDR-Vergangenheit, vor allem durch die historische Aufarbeitung der Arbeitsweise des Ministeriums für Staatssicherheit und durch die Aufdeckung seines Spionagesystems. Hierin liegt ein Grundstein für den Aufbau der Demokratie in den neuen Ländern. ({0}) Wir alle wissen: Die Aufarbeitung ist ein langer, zäher und schwieriger Prozeß. Bei der rechtlichen und historischen Aufarbeitung ist bereits sehr viel erreicht worden. Hier hat die Behörde des Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes bisher sehr gute Arbeit geleistet. Aufarbeitung können wir aber nur in dem Maße leisten, in dem wir Einblick in die existierenden Unterlagen des SED-Machtapparates haben. Hier sind wir bei dem bekannten Thema unserer heutigen Beschlußempfehlung. Wie wir wissen, sind - auf welchem Wege auch immer - HVA-relevante Materialien in die USA und nach Rußland gelangt. Auch diese Unterlagen sind für unsere gesamtdeutsche Aufarbeitung unverzichtbar. Seit 1991 gibt es Bemühungen, Zugang zu den Dokumenten zu bekommen. Ich weiß als Mitglied des Innenausschusses, daß wir uns hier immer wieder gemeinsam bemüht haben. Auch die alte Bundesregierung hat sich, allerdings erfolglos, bemüht, Zugang zu diesen Unterlagen zu bekommen. Seit Ende des vergangenen Jahres ist es nun der neuen Bundesregierung gelungen, Bewegung in die Verhandlungen mit der amerikanischen Regierung zu bringen. ({1}) In der entscheidenden Phase der Gespräche wurde die vorliegende Beschlußempfehlung in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages auf den Weg gebracht. - Es sei mir gestattet, meinen Kollegen Büttner, SchmidtJortzig und Ströbele dafür ganz herzlich zu danken.({2}) In unserer Beschlußempfehlung wird die amerikanische Regierung gebeten, die Akten der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR der Gauck-Behörde zur Verfügung zu stellen. Mit der Beschlußempfehlung unterstützen wir nachdrücklich die Bemühungen der Bundesregierung. Ich weiß aus den Vereinigten Staaten, daß man dort die Initiative des deutschen Parlamentes mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Jetzt haben die Gespräche einen Durchbruch gebracht. An dieser Stelle möchte ich den Vertretern der Bundesregierung, die die Verhandlungen geführt haben, meinen ausdrücklichen Respekt für die bisherigen Ergebnisse aussprechen. ({3}) Sie waren mit großem Geschick und vor allem mit dem notwendigen Fingerspitzengefühl am Werk. Mit dem vorliegenden Verhandlungsergebnis hat sich die Beschlußempfehlung natürlich keinesfalls erledigt. Die amerikanische Regierung hat erkennen lassen, daß sie das deutsche Anliegen sehr ernst nimmt. Wir haben die Zusicherung, daß wir alle für die deutschen Sicherheitsinteressen relevanten Informationen bekommen. Darüber, wie das geschehen soll, müssen selbstverständlich noch Gespräche geführt werden, in denen die Modalitäten des Zugangs zu den für uns so wichtigen Materialien noch geklärt werden müssen. Da ist es sehr hilfreich, wenn sich jetzt im Deutschen Bundestag eine möglichst breite Mehrheit für den vorliegenden Antrag findet. Mir liegt daran, hier noch einmal nachdrücklich zu betonen: Der ganze Komplex der Unterlagen erfordert nach meiner Erkenntnis größte Sensibilität. Aber allergrößtes Fingerspitzengefühl ist gefragt, wenn es darum geht, Zugang zu dem HVA-relevanten Material zu bekommen, das sich im Ausland befindet, sei es in den USA oder in Rußland. Das ist nach meinem Dafürhalten kein Thema für Schlapphüte, für Agenten à la 007 oder Hollywood-Verfilmungen. Dazu ist es zu wichtig. Mit der vorliegenden Beschlußempfehlung wird der Deutsche Bundestag diesem Anspruch gerecht. Ich bitte also um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun Professor Dr. Schmidt-Jortzig, F.D.P.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Unumwunden sage ich für die F.D.P.: Der Antrag der Union, aus dem unsere Beschlußempfehlung hervorgegangen ist, ist voll unterstützenswert. Aber er mußte eben doch noch mit den Bedürfnissen operativen Regierungshandelns in Einklang gebracht werden, denn wir wollten nicht nur eine stramme Forderung aufstellen, sondern wirklich zum Erfolg kommen. Dazu bedurfte es etlicher Gespräche mit den amerikanischen Stellen. Der Innenausschuß hat einstimmig die vorliegende Beschlußempfehlung formuliert, in der die Sachverhalte vorsichtig und diplomatisch bewertet werden. Jetzt kann mit der Aufklärungsarbeit begonnen werden. Wir hatten zunächst ein bißchen die Sorge, daß die Regierungsverhandlungen dadurch ins Stocken geraten könnten, daß über manche Aspekte dieses Vorhabens Ende des letzten Jahres sehr oft in der Presse berichtet wurde. Tatsache ist, daß die Dienste diese Art der Informationspolitik nicht lieben. Deshalb schien die Neigung der CIA, sich auf einen Handel mit der deutschen Seite einzulassen, gen Null zu tendieren. Diese Entwicklung hat sich erfreulicherweise nicht bestätigt, denn seit gestern - darüber haben die Zeitungen ausführlich informiert - wissen wir, daß es eine Grundsatzentscheidung auf Fachebene gegeben hat, die entsprechenden Materialien in einem noch in den Einzelheiten zu verabredenden Verfahren auszutauschen. Es stellt sich natürlich die Frage, wie wir angesichts dieser Entwicklung mit dem vorliegenden Antrag jetzt umgehen. Ich will dazu drei Feststellungen machen: Erstens. Wir sollten diesen Antrag heute annehmen wir befinden uns damit voll in Übereinstimmung mit Ihnen, liebe Frau Schröter -, denn damit kann die Behandlung der noch ausstehenden Fragen in den Fachgesprächen nur unterstützt werden. Auch die Ernsthaftigkeit des Wunsches der deutschen Seite wird damit dokumentiert. Zweitens. Wenn die Meldungen in den Zeitungen zutreffen - davon gehe ich aus -, daß sich die GauckBehörde zu Wort gemeldet und gesagt habe, so gehe das alles bei der Hingabe deutschen Materials an die Amerikaner nicht, man müsse streng nach den Vorschriften des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vorgehen, dann sage ich: Die Gauck-Behörde hat im Prinzip recht, aber man muß sehen, daß die Vorschriften des Stasi-UnterlagenGesetzes wohl nicht auf die Überlassung von Materialien an ausländische Stellen angewendet werden können. Die entsprechenden Regelungen des Stasi-UnterlagenGesetzes beziehen sich nur auf nationale Stellen. Das Gesetz hat aber ein spezifisches Verfahren für den Fall vorgesehen, daß Unterlagen ausländischen Stellen überlassen werden. - Ich erwähne diesen Punkt, weil wir die Reform der Kontrolle der Nachrichtendienste noch auf der heutigen Tagesordnung haben. - § 25 Abs. 4 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes sagt deutlich, daß an dieser Stelle das PKG - die frühere PKK - mitwirken muß. Drittens. Sicherlich müssen - Herr Staatsminister, ich gehe davon aus, daß dies auch ein Erfordernis der praktischen Regierungsarbeit ist - bei diesem Austausch auch die Rechte der Betroffenen in der Weise sichergestellt werden, daß die Gauck-Behörde zu Rate gezogen wird. Aber sie wird kein förmliches Vetorecht bekommen können. Im übrigen wird sie hilfreiche Dienste bei der Feststellung der Authentizität des Materials, das Deutschland von den Amerikanern zurückerhält, leisten müssen. ({0}) Lassen Sie uns den vorliegenden Antrag deshalb also auch angesichts der jetzt schon erfreulichen Entwicklung verabschieden! Ich freue mich, daß dieser Antrag aller Voraussicht nach eine breite Zustimmung finden wird. Besten Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Lengsfeld hat versucht, uns katholischer zu machen, als wir schon sind. Wir alle sind uns einig, daß die Akten nach Deutschland gehören, daß sie unrechtmäßig in die Hände der CIA geraten sind, daß die Akten ausgewertet werden müssen, wie es sich nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz gehört. Dabei könnte man es eigentlich belassen. Worum geht es? In den „hellen Tagen“ 1989/90 gab es einige Dunkelmänner - wahrscheinlich waren es Männer, wir wissen es nicht genau -, die einen ganzen Teil wesentlicher Akten aus der Stasibehörde an die CIA wahrscheinlich verkauft haben. Es handelt sich um UnGisela Schröter terlagen, in denen die Agenten der Hauptverwaltung Aufklärung im Westen mit Deck- und Klarnamen aufgelistet sind. Daran hatte die CIA erhebliches Interesse, darum hat sie diese Akten mitgenommen. Soweit mir bekannt ist - es gibt Gerüchte, man muß sehr vorsichtig sein, weil man nicht weiß, was wirklich wahr ist -, soll es unter anderem einen Oberst Wiegand aus der Hauptverwaltung Aufklärung gegeben haben er ist heute nicht mehr am Leben -, der Geld dafür genommen hat. Er soll auch die Zusicherung bekommen haben, daß er selbst nicht verfolgt wird. Es kann sein; wir wissen es nicht genau. Das alles ist in diesen „hellen Tagen“ im Dunkeln passiert. Die Akten, die durch die Aktion „Rosewood“ - „Rosenholz“ sagen wir; bei Geheimdiensten ist dies hinter schönen Bezeichnungen verborgen - in die Hände der CIA gelangt sind, werden uns vorenthalten. In der 12. und 13. Wahlperiode - ich war damals noch nicht im Bundestag - ist versucht worden, sie zurückzubekommen. Das ist nicht gelungen. Deshalb haben sich im November letzten Jahres einige Bürgerrechtler an uns und an den amerikanischen Botschafter gewandt und gesagt: Jetzt reicht's! Wir wollen diese Akten wiederhaben! - Dieser Brief hat auch die Fraktion der Bündnisgrünen erreicht. Da ich dafür zuständig bin, habe ich daraufhin an unseren verehrten neuen Bundesaußenminister einen Brief geschrieben und ihn gebeten, bei einem der nächsten Gespräche in den USA darauf hinzuwirken, daß wir diese Akten endlich bekommen. So einfach war das aber offenbar nicht. Die neue Bundesregierung - da erwarte ich von allen Seiten Beifall - hat mehrere sehr hochrangige Emissäre zu Verhandlungen in die USA geschickt - darunter den Herrn Staatsminister Hombach und Herrn Uhrlau aus dem Kanzleramt; auch der Kanzler selber hat dieses Thema angesprochen -, um endlich einen Schlußstrich ziehen zu können und die Akten zurückzubekommen. Offenbar waren diese Bemühungen zumindest zum Teil erfolgreich; darüber sollten wir alle glücklich sein. Ohne auf die Einzelheiten einzugehen, was nun tatsächlich realisiert ist, sollten wir dem Staatsminister dafür dankbar sein, daß ein Teil der Akten zurückkommt. Auch der Gauck-Behörde sollten wir dankbar sein, daß sie es geschafft hat, die Datenbänder zu entschlüsseln, auf denen 180 000 Informationen über Berichte von Kundschaftern der HVA abgelegt sind, allerdings unter Decknamen. - Wenn wir die Akten hätten, könnten wir all diese Berichte zuordnen. Der Gedanke ist also lobenswert. Daran sollten wir weiter arbeiten. Eine letzte Bemerkung: Woran ist dies vermutlich bisher gescheitert? Ihre Bemerkungen von der Opposition dazu waren hier an die falsche Stelle gerichtet. Ganz offenbar hat, wie es Geheimdienste zu tun pflegen, die CIA versucht, diese Agenten, diese Kundschafter aus Zeiten der DDR für sich zu nutzen, zumindest zum Teil. Weil sie diese nicht enttarnen will, weil sie die Namen weder dem Bundestag noch der Gauck-Behörde mitteilen will - sie will sie möglicherweise noch für ihr dunkles Handwerk gebrauchen -, ist es bisher nicht gelungen, die Akten zu bekommen. Ich fürchte, wir werden sie auch jetzt nicht vollständig bekommen. Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, daß die Akten der Gauck-Behörde vollständig sind. Wir sollten die Gauck-Behörde an dem Zurückholen der Akten beteiligen, damit alles seinen ordnungsgemäßen Gang geht. Die Gauck-Behörde hat unser aller Vertrauen. Deshalb werbe auch ich im Hinblick auf die folgende Abstimmung für eine große Mehrheit, für Einstimmigkeit im Deutschen Bundestag, um dem Staatsminister den Rücken so zu stärken, daß er auf Grundlage dieses Papieres in Washington sagen kann: Liebe CIA, der gesamte Deutsche Bundestag bittet euch, uns die Akten zurückzugeben. Wir brauchen sie, um unsere Akten zu entschlüsseln, um das Archiv der Gauck-Behörde und endlich auch diesen Teil der Erinnerung der neuen Bundesrepublik Deutschland zu vervollständigen. Danke sehr. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mehrheit unserer Fraktion wird dem vorliegenden Antrag zustimmen, ({0}) weil wir einer Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR natürlich nicht entgegenstehen wollen. Gleichzeitig will ich darauf hinweisen, daß ich die hier geäußerten - übertriebenen - Erwartungen, zu welchen Erleuchtungen es im Rahmen der Aufarbeitung kommen soll, nicht teile. Aber wir werden sehen. Ich meine, man sollte nicht übertreiben. Die Akten sind gestohlen worden. Es ist also unser legitimes Recht, diese Akten zurückzubekommen. Es ist schon ein bißchen peinlich, wenn man sich jetzt anhören muß, daß die Amerikaner entscheiden, was für die Deutschen im Rahmen der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit wissenswert bzw. notwendig ist. Mir ist in diesem Zusammenhang noch ein anderer Aspekt wichtig: Zum Glück wird es, wenn wir die diesbezüglichen Materialien und mikroverfilmten Akten der HVA erhalten, keine erneute Welle der Strafverfolgung geben. Das ist sehr wichtig. Dennoch möchte ich an die Bundesregierung appellieren: Sie sind im Zusammenhang mit der Rückgabe der Akten als Rechtsnachfolgerin der DDR aufgetreten. Wenn man dies tut - dies können Sie natürlich tun -, sollte man auch für die noch einsitzenden DDR-Spione, die in den USA verurteilt worden sind, eintreten und ihnen gegenüber eine gewisse Fürsorgepflicht walten lassen. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, daß manche dort bis zu 17 Jahre Haft absitzen müssen. Auch um diese Fälle sollte sich die Bundesregierung kümmern. Die unterschiedliche Behandlung der östlichen und der westlichen Spionage bleibt meines Erachtens ein Unrecht. Das sollte man in dieser Debatte nicht vergessen. Danke. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Herr Bundesminister Bodo Hombach das Wort.

Bodo Hombach (Minister:in)

Politiker ID: 11005296

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann mich angesichts des breiten Konsenses und der sachlichen Übereinstimmung kurz fassen. Ich möchte jedoch einige Bemerkungen machen, damit keine Mißverständnisse entstehen. Die Bundesregierung empfindet den vorliegenden Antrag als sehr nützlich und hilfreich, als so hilfreich, daß der Kanzler in seinem Schreiben an den Präsidenten der USA, in dem er noch einmal mit Nachdruck die Herausgabe der Unterlagen anmahnt, auf die gemeinsame Willensbildung des Bundestages - soweit uns das zumindest aus dem Innenausschuß bekannt war - Bezug genommen hat. Ich hatte im Innenausschuß die Gelegenheit, die entsprechenden Abläufe darzustellen. Die Fachebene hat, wie es sich gehört, in der PKK über die Angelegenheit berichtet. Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß wir das, was wir tun, in der Kontinuität dessen sehen, was schon unsere Vorgänger zu unternehmen versucht haben. Eine Bemerkung, die Herr Schmidt-Jortzig gemacht hat, veranlaßt mich, auf folgenden Aspekt einzugehen: Die Geheimdienste, also die Fachebene, hatten in dieser Angelegenheit längst Kontakt untereinander, haben das eine oder andere schon miteinander zu unternehmen versucht und haben sich das eine oder andere schon offenbart. Das ist nicht das Thema. In der öffentlichen Debatte aber rankten sich um diese Unterlagen zum Teil giftige Legenden und Ideen, die aus meiner Sicht von der politischen Ebene öffentlich ausgeräumt werden müssen, damit das, was sich darum herumrankt, nicht mißbraucht werden kann, das heißt, an einer Stelle entzweit und spaltet, wo es nicht hingehört. Deshalb muß diese Angelegenheit bewußt öffentlich und politisch gelöst werden. Es waren die Geheimdienste, die die Bundesregierung, nachdem sie in ihrem Tun nicht mehr weiterkamen bzw. festgefahren waren, gebeten haben, den Vorgang politisch aufzugreifen. So ist es auch geschehen. Ich lege Wert darauf, daß wir nach den Fortschritten, die sich jetzt im fachlichen Bereich abzeichnen, die Gelegenheit haben - dies ist vermutlich Konsens im gesamten Haus -, das Ganze politisch - sprich: öffentlich - aufzubereiten und zu verwenden, damit sich im öffentlichen Bewußtsein durch die Störungen und das, was in dieser Angelegenheit gestreut wird und Mißverständnisse provozieren könnte, keine Schimmelpilze ansetzen. Insofern, Herr Schmidt-Jortzig, war das, was Sie andeuteten, notwendig, nämlich die öffentliche Auseinandersetzung auch mit den Vereinigten Staaten darüber, daß wir einen Anspruch darauf haben, zu wissen: Was habt ihr da? Wir wollten wissen, was das für die Aufarbeitung unserer Geschichte und die Verstrikkungen bedeutet, die hier schon eine Rolle spielten: Hat sich da jemand schuldig gemacht? Das meine ich nicht im strafrechtlichen Sinne, sondern im moralisch-politischen. Insofern haben wir die Öffentlichkeit absichtlich hergestellt, und sie gehört auch dazu, wenn man das leisten will, was Sie jetzt zum Teil im Konsens gefordert haben, nämlich ein Stück Geschichtsbewältigung. Schönen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußemp- fehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Überlassung der Akten der Hauptver- waltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR durch die Regierung der Vereinig- ten Staaten von Amerika; Drucksache 14/515. Der Aus- schuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/89 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- schlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlußempfehlung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5a und 5b auf: a) Beratung des Abschlußberichts der EnqueteKommission „Schutz des Menschen und der Umwelt - Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ Konzept Nachhaltigkeit Vom Leitbild zur Umsetzung - Drucksache 13/11200 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuß für Tourismus b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: „Forschungs- und Technologiepolitik für eine nachhaltige Entwicklung“ - Drucksache 14/571 Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen W. Möllemann Axel E. Fischer ({2}) Angela Marquardt Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Kollegin Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bekenne ehrlich, daß es angesichts der heutigen Situation im Kosovo schwerfällt, zur Tagesordnung zurückzukehren, und es auch schwerfällt, über einen Bericht der EnqueteKommission zu reden, der friedliche Verhältnisse voraussetzt. Uns geht es mit dem Konzept der Nachhaltigkeit und dem Enquete-Bericht darum, die Chancen künftiger Generationen hier und heute zu verbessern und dafür zu sorgen, daß wir in Zukunft nicht mehr vom Naturkapital leben, sondern nur noch von den Zinsen der Natur. Wir wollen, daß unsere Kinder dieselben Lebenschancen haben wie wir. Das wünschen wir natürlich, gerade am heutigen Tag, nicht nur unseren Kindern. Vielmehr wollen wir diese Chance allen Kindern auf der ganzen Welt geben. Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Enquete-Berichte sind in aller Regel ein Stück parlamentarische Fleißarbeit. Sie sind nach gründlicher Beratung entstanden; sie beziehen das vorhandene Expertenwissen vollständig ein; sie organisieren einen politischen Konsens. Sie sind also ein Stück weit ein runder Tisch im Parlament. Es wird dort über langfristig bedeutsame, schwierige Fragen geredet, die uns alle auch nach dieser Legislaturperiode noch beschäftigen werden. Sie sind also, in einem Wort, langatmig, kompliziert. Es handelt sich um gewichtige Werke - dieses, das ich jetzt in der Hand halte, wiegt immerhin fast 400 Gramm -, und sie setzen sehr leicht Staub an. Immer wenn mir jemand voll Stolz mitteilt, er habe den Enquete-Bericht „Konzept Nachhaltigkeit - Vom Leitbild zur Umsetzung“ gelesen, haben wir gemeinsam in der Kommission den Witz gemacht: Ach, Sie waren das. Nun verhält es sich gerade mit diesem EnqueteBericht so, daß er eigentlich eine ungewöhnliche Wirkungsgeschichte hat. Wir wissen ja von alten EnqueteBerichten, daß man zu ihrer Abfassung einen großen zeitlichen Vorlauf brauchte und sie erst nach und nach verwirklicht wurden. Ich darf in diesem Zusammenhang den Kolleginnen und Kollegen auch einmal danken, die das Thema „Schutz der Erdatmosphäre“ über Jahre im Deutschen Bundestag behandelt haben, die das Klimaschutzziel erarbeitet haben und ohne deren Vorarbeiten wir heute nicht mit der Bevölkerung über das Thema der CO2-Reduktion einvernehmlich reden könnten. Da ist wirklich über Jahre eine grundlegende Arbeit geleistet worden. Ohne diese Vorarbeiten wäre auch eine Energiewende heute nicht möglich. Insofern gibt es eine langfristige Wirkung dieser Enquete-Kommission. ({1}) Dafür den Kolleginnen und Kollegen in allen Fraktionen herzlichen Dank! Die Wirkungsgeschichte ist insofern einmalig, als Forderungen einer Enquete-Kommission noch nie so zeitnah in politisches Handeln umgesetzt wurden. Es gibt eine ganze Reihe von Forderungen aus dem Kommissionsbericht, die unmittelbar in die Koalitionsvereinbarung eingeflossen sind. Wir haben also ein Stück weit durchgesetzt, daß diese Erkenntnisse ernsthaft umgesetzt werden. So findet sich in der Koalitionsvereinbarung das Ziel wieder, für die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam eine Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten - das ist die zentrale Botschaft dieses Berichts - und in Zukunft mit der Fläche sparsamer umzugehen, also den Flächenverbrauch vom Wirtschaftswachstum abzukoppeln. Darüber hinaus hat die Enquete-Kommission deutlich gemacht, daß wir langfristig 10 Prozent der Fläche für Naturschutz in Deutschland brauchen, wenn wir dem Artensterben Einhalt gebieten wollen. All diese Forderungen des Enquete-Berichts sind sehr zeitnah umgesetzt worden. Die neue Bundesregierung hat die Berichte also ernst genommen und einiges sogar in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen. ({2}) Wenn wir heute den Enquete-Bericht diskutieren, dann müssen wir uns auch um den Umsetzungsprozeß kümmern. Wir wollen diese Debatte über einen abgeschlossenen Bericht zum Anlaß nehmen, einen neuen Anlauf zu machen. Es ist nicht damit getan, zu sagen, daß wir eine Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland erarbeiten wollen. Vielmehr sollten wir uns gemeinsam Gedanken machen, wie wir diesen Prozeß organisieren wollen, wie wir ihn parlamentarisch, von allen Seiten des Hauses, begleiten können und wie es uns gelingen kann, die Ergebnisse dieses Berichts in politisches Handeln umzusetzen. Deshalb müssen zuallererst drei Fragen beantwortet werden: Was soll mit einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie erreicht werden; was muß ihr Inhalt sein? Wie, mit welchen Instrumenten und Maßnahmen, kann man dies erreichen? Wer muß auf welcher politischen Ebene diese Maßnahmen umsetzen? - Diese drei Fragen sind zu beantworten. Zunächst: Was soll mit einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie erreicht werden? Ich habe es schon gesagt: Wir tun dies nicht, um die Menschen zu quälen, sondern wir tun dies, damit die künftigen Generationen dieselben Lebenschancen haben. Das heißt, unsere Wirtschaftsweise, unsere Konsummuster müssen sich ein Stück weit ändern, und zwar in einem gesellschaftlichen Grundkonsens. Es hat wenig Sinn, das von oben zu verordnen. Es muß umgedacht werden, und diesen Prozeß gilt es gemeinsam einzuläuten. Als zweites müssen wir die Frage beantworten, wie das erreicht werden soll. Es soll erreicht werden, indem wir uns Ziele vornehmen. Nun sind schon eine Vielzahl von Zielen aufgeschrieben worden: Das Umweltbundesamt hat einige Ziele erarbeitet; wir haben in unserem Enquete-Bericht einige Ziele erarbeitet. Aber auch andeVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer re Vorarbeiten sind geleistet worden: beispielsweise durch das Wuppertal-Institut oder durch die alte Bundesregierung, den „Schritte-Prozeß“, den Frau Merkel formuliert hat. Dies alles müssen wir zur Grundlage machen, um gemeinsam umweltpolitische Ziele festzulegen. Dann aber müssen auch Maßnahmen und Instrumente diskutiert werden, damit man nicht ein hehres Ziel wie eine Monstranz vor sich herträgt und aus den Augen verliert, wie man dort hinkommt. ({3}) Wer muß das Ganze organisieren? Zunächst einmal ist die Bundesregierung am Zug. Wir haben im Umweltausschuß darüber geredet, daß es jetzt notwendig ist, daß die Bundesregierung die Vorarbeiten und Ziele sammelt und Vorschläge erarbeitet, mit welchem Ziel die gesellschaftlichen Gruppen beteiligt werden. Denn Agendaprozesse haben Inhalte - betreffen also die Frage: wo wollen wir hin? -, aber sind gleichzeitig auch ein neues Verfahren. Sie stehen für ein Verfahren, in dem gesellschaftliche Partizipation praktiziert wird, also Bürger- und Mitwirkungsrechte ernst genommen werden. Auf Bundesebene ist das sehr schwierig zu gestalten. Jeder, der Lokale-Agenda-Prozesse in Städten kennt, weiß, daß es dort viel einfacher ist. Da sind wir mittlerweile auf einem sehr guten Weg. Deshalb ist es wichtig, daß wir diesen partizipativen Prozeß auf Bundesebene gestalten. Das heißt, wir brauchen einen „Rat für nachhaltige Entwicklung“, und zwar nicht als zusätzliches, sondern als eigenständiges Gremium, das die bisherige Beratungslandschaft praktisch ersetzt. Wir haben dafür in Deutschland eine einmalige Chance, nämlich die, aus den Prozessen in unseren Nachbarländern zu lernen. Wir wissen, daß zum Beispiel die Niederlande einen Umweltplan erarbeitet haben. Die Ziele sind schön und hehr. Aber die Frage ist: Werden sie überhaupt erreicht? Wir wissen, daß zum Beispiel die Österreicher mit gesellschaftlichen Gruppen ein wunderbares Modell für einen Prozeß erarbeitet haben. Aber es ist später nie mehr aus der Schublade herausgeholt worden. Wir wissen, daß auch die Schweiz einen sogenannten „IDA-Rio-Prozeß“, einen gemeinsamen Umweltplan, erarbeitet haben, daß aber auch dort die Schritte der Umsetzung noch nicht konkret genug sind. Das heißt, wir können von den Nachbarn lernen; das ist die eine Chance. Die andere Chance ist: Wir haben nun eine Bundesregierung, die entschlossen ist, das, was wir aufgeschrieben haben, auch umzusetzen. Dafür bin ich sehr dankbar. ({4}) Wie kann die bundespolitische Situation fruchtbar gemacht werden? Wir brauchen neben dem Ansatz, auf Bundesebene aktiv zu werden, ein Unterfutter. Wir brauchen - wie man es neuhochdeutsch sagt - „Bottomup-Prozesse“. Das heißt, wir brauchen Lokale-AgendaProzesse nicht nur in einzelnen Gemeinden, sondern bundesweit. Auch da brauchen wir ein Umweltziel. Tony Blair hat zugesagt, daß 100 Prozent der englischen Gemeinden bis zum Jahr 2000 eine lokale Agenda haben. Davon sind wir noch weit entfernt. Aber wir sollten uns das Ziel setzen: Bis zum Jahr 2000 sollte die Hälfte der Gemeinden den Prozeß begonnen haben, damit wir in diesem Bereich nicht Schwellenland oder Mittelfeld sind, sondern auch dort eine umweltpolitische Vorreiterschaft übernehmen. Ich danke den vielen Städten, die das schon getan haben, ganz besonders; denn sie haben es ohne finanzielle Unterstützung durch den Bund getan, sie haben es alleine getan. Sie sind da ein Stück weit von der alten Bundesregierung alleine gelassen worden. Ich denke an Vorreiterstädte wie Aachen, Heidelberg, München. Mittlerweile ziehen auch kleine Städte nach. Man muß ganz klar sehen, daß insgesamt drei Viertel aller Städte, die diesen Prozeß machen, aus nur drei Bundesländern kommen: Hessen, Nordrhein-Westfalen und Bayern. In diesen drei Bundesländern wurden den Kommunen Zuschüsse gegeben. Der Prozeß wurde von den Landesregierungen aktiv begleitet. Mittlerweile holt Baden-Württemberg - nach schwierigen Anfangsprozessen - Gott sei Dank etwas auf. Ich denke, wir müssen es uns zum Ziel machen, daß dieser Prozeß in allen Bundesländern gefördert wird und daß wir die Kommunen bei diesem schwierigen Verfahren nicht alleine lassen. ({5}) Insofern haben wir uns mit diesem Bericht viel vorgenommen. Er wird uns Leitlinie und Richtschnur sein. Wir werden die nationale Nachhaltigkeitsstrategie auf allen drei Ebenen angehen. Wir werden Ziele erarbeiten; das ist Aufgabe der Bundesregierung. Wir werden die gesellschaftlichen Gruppen beteiligen. Da hat auch das Parlament ein gewichtiges Wort mitzureden. Wir brauchen die Unterstützung der kommunalen Seite und wollen ihnen von dieser Stelle aus sagen: Wir sind stolz auf euch. Macht weiter so! Wir werden es euch nachtun. Unsere Kinder werden es uns danken. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christa Reichard.

Christa Reichard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002757, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut und richtig und auch angemessen, daß sich der Deutsche Bundestag mit den Zielen und Rahmenbedingungen einer nachhaltigen Entwicklung beschäftigt. Ich bin davon überzeugt, daß er es dabei nicht bewenden lassen wird und daß wir uns auch in Zukunft mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission zu beschäftigen haben werden. Weltweiter Start für diese Bemühungen war die Konferenz für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro. 170 Staaten waren daran beteiligt. Auf dieser Konferenz wurde ein Aktionsprogramm verabschiedet, das unter dem Namen Agenda 21 bekanntgeworden ist. Dieser Name trägt allerdings aktuell durch die Debatten um die Agenda 2000 eher zur Verwirrung bei. Dieser globale Aktionsplan ist durch Aktionspläne oder auch Nachhaltigkeitsstrategien durch in der Agenda aufgeführte Akteure zu untersetzen. Dies wurde auch durch das Motto „Global denken, lokal handeln“ deutlich gemacht. Dieser Aufgabe haben sich sowohl die Bundesregierung als auch der Deutsche Bundestag in den vergangenen Jahren auf vielfältige Weise gestellt, wie meine Vorrednerin schon deutlich gemacht hat, auch im Wissen darum, daß staatliche Reglementierung nicht im Mittelpunkt dieses Prozesses steht, sondern daß er im wesentlichen von den Akteuren, die vor Ort Projekte umsetzen, getragen wird. Es gibt in vielen anderen Ländern auf unterschiedlichsten Ebenen von unterschiedlichen Akteuren eine Reihe von Bemühungen. Ich denke, es ist auch ein Verdienst der Enquete-Kommission, daß sie sich damit beschäftigt hat, daß sie den gegenwärtigen Stand von Diskussion und Umsetzung in Europa und in den USA zusammengetragen hat und daß sie auch die Kommunen, die sich in Deutschland mit einer lokalen Agenda 21 befassen, im Rahmen einer Anhörung hat zu Wort kommen lassen. Ich möchte auf zwei grundsätzliche Schwierigkeiten bei der Debatte und Umsetzung des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung in meinem Beitrag eingehen. Das erste und schwer zu lösende Problem scheint mir nach wie vor das Kommunikationsproblem zu sein. Darauf hatte ich schon in meiner letzten Rede in diesem Thema hingewiesen. Aber leider hat sich an dieser Tatsache bisher wenig geändert. Voraussetzung für die Umsetzung all unserer Vorschläge ist es aber, den Gedanken der Nachhaltigkeit zum Allgemeingut und für jedermann verständlich zu machen. Eigentlich sagt dieser Begriff verkürzt, daß wir nicht den Ast absägen dürfen, auf dem wir sitzen bzw. auf dem unsere Kinder und Enkel noch sitzen wollen. Ganz so einfach ist das natürlich nicht. Aber unsere wissenschaftlichen Definitionen müssen durch einprägsame, für jeden verständliche Bilder ergänzt werden. Dort sehe ich auch über unser Parlament hinaus weiteren Handlungsbedarf. Unsere Vorgängerkommission hat uns bereits Nachhaltigkeitsregeln für die ökologische Dimension mit auf den Weg gegeben. Im Leitbild der Nachhaltigkeit geht es uns allerdings um die Integration der drei Dimensionen Umwelt, Wirtschaft und Soziales, die untereinander in einem Spannungsverhältnis stehen, was wir aus vielen einzelnen Beispielen kennen. Damit komme ich zum zweiten Problem bei der Umsetzung des Leitbildes einer nachhaltigen Entwicklung. In der Arbeit der Enquete-Kommission ist es uns trotz mancher Bemühungen und auch im Wissen darum nicht ausreichend gelungen, die Gleichwertigkeit der drei Dimensionen hinreichend deutlich zu machen. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Wenn es uns jetzt nicht gelingt, das Thema von einem einseitig ökologisch orientierten Zugang zu befreien, wird uns das auch in Zukunft nicht gelingen. Es ist durchaus folgerichtig, daß der Anstoß zu dieser dreidimensionalen Nachhaltigkeitsdebatte von der Umweltpolitik ausgegangen ist. Historisch betrachtet hat die Beschäftigung mit Interessen von Wirtschaft und Sozialem eine wesentlich längere Tradition als die Beachtung von Umweltinteressen. Im Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft sind Mechanismen, Ziele und Rahmenbedingungen für den Interessenausgleich von Wirtschaft und Sozialem bereits entwickelt worden. Aber auch hier stellen wir fest, daß der Gedanke der Nachhaltigkeit nicht immer ausreichend berücksichtigt wurde. Unter anderem deshalb sind Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen notwendig. Wenn aber dieses Modell der sozialen Marktwirtschaft erfolgreich bleiben soll, muß die ökologische Dimension als dritte und gleichrangige Säule dazukommen. Aber dabei dürfen wir nicht von einem Extrem ins andere fallen. Stellen Sie sich einen dreibeinigen Tisch vor, dessen Beine nicht die gleiche Länge aufweisen. Die Platte gerät in eine bedrohliche Schieflage. Genau diese Schieflage hat sich auch bei der Behandlung des Nachhaltigkeitsthemas nicht nur in der Enquete-Kommission herausgestellt. Unsere Debatten im Teilnehmerkreis hier und anderswo und die Anbindung an das Umweltressort auf allen Ebenen zeigen, daß es noch nicht gelungen ist, die nachhaltige Entwicklung zu einem wirklich zentralen Anliegen zu machen, eben weil wir diese umweltorientierte Schieflage haben. Meine Damen und Herren, für den Erfolg der Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien ist eines von entscheidender Bedeutung: Nachhaltigkeit muß Chefsache sein und muß im Zentrum der politischen Bemühungen stehen. Das gilt nicht nur für staatliche Stellen, die den Prozeß begleiten, sondern vor allem auch für Akteure in ihrer jeweiligen Verantwortung. Gerade weil in diesem Prozeß der vielen Schritte die Einbeziehung vieler gesellschaftlicher Gruppen unbedingt dazugehört, muß das Hauptanliegen Chefsache sein. Auch Arbeitgeber und Gewerkschaften sind aufgerufen, sich aus ihrer Sicht noch intensiver als bisher mit einer nachhaltigen Entwicklung zu beschäftigen, wie es beispielsweise der VCI gemeinsam mit der Gewerkschaft für Chemie, Bergbau und Energie in beeindruckender Weise begonnen hat. Nur durch die Integration der Nachhaltigkeitsüberlegungen in alle anderen Politikbereiche können wir die Diskussion in die richtige Richtung bringen. Trotz mancher Unvollkommenheiten und Mängel des vorgelegten Abschlußberichtes bin ich davon überzeugt, daß er wichtige Anregungen für viele Akteure geben kann und daß er eine Einladung an alle darstellt, die sich Christa Reichard ({0}) am Zukunftsprojekt einer nachhaltigen Entwicklung beteiligen wollen. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winne Hermann. ({0})

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist nun bald sieben Jahre her, daß sich in Rio über 170 Nationen auf ein umfangreiches Vertragspaket über die Zukunft der Menschheit, über die Agenda 21, verständigt haben. In diesem Vertragspaket hat auch die Bundesrepublik Deutschland sehr weitreichende Verpflichtungen übernommen. Wir haben uns - übrigens hat das der Bundestag einstimmig nachvollzogen - dem anspruchsvollen Konzept der nachhaltigen Entwicklung verschrieben. Das ist ein hoher Anspruch. In all diesen Jahren ist viel diskutiert, viel geforscht, viel debattiert und es sind viele Berichte geschrieben worden. Aber in all diesen Jahren ist auf der Ebene des politischen Handelns wenig - ich meine: deutlich zu wenig - geschehen. ({0}) In Deutschland mangelt es noch immer an dem Konzept einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie oder auch nur eines Umweltplans. Es gibt keinen Innovationsvorschlag, der das neue Entwicklungsmodell aufgreift und die Institutionsreform umsetzt. Es ist schon von Frau Kollegin Caspers-Merk angesprochen worden, daß lokale Agendaprozesse - so wichtig sie sind - in der Bundesrepublik Deutschland immer noch eine bescheidene, randständige Rolle spielen. Das ist in vielen anderen europäischen Ländern weit besser als bei uns in der Bundesrepublik gemacht. ({1}) Es ist erstaunlich, daß diese Kommission in all den Jahren des „nachhaltigen Nichtstuns“ so gut gearbeitet hat; das sage ich bewußt und absichtlich. Man konnte nicht von Anfang an erwarten, daß diese Kommission so viele Beiträge zur Debatte in der Bundesrepublik bringt. Ein Kompliment an alle Mitglieder - auch an die, die heute in der Opposition sind, und an diejenigen, die das heute anders sehen! Sie haben gute Arbeit geleistet; das meine ich wirklich ernst und ehrlich. ({2}) Wenn es ein bleibendes Verdienst dieser Kommission gibt, dann ist es sicherlich die Tatsache, daß die Dreidimensionalität des Entwicklungsbegriffs Nachhaltigkeit - Ökologie und Soziales verbunden mit der Ökonomie - nun auch in der deutschen Politik eine Rolle spielt. Damit hat man, glaube ich, den Horizont der Politik ein Stück weit erweitert und zu einem neuen integrativen Politikverständnis beigetragen. ({3}) Dieser Bericht enthält eine ganze Reihe von Vorschlägen - viele ganz konkrete, viele eher allgemeine Vorschläge. Zunächst will ich einige positive Beispiele herausgreifen, zunächst das Problem des Flächenverbrauchs und des Naturverbrauchs. Mit dem Vorschlag, den Flächenverbrauch in der Bundesrepublik auf 10 Prozent des heutigen Niveaus bis zum Jahre 2010 zu reduzieren, hat sich die Kommission auf ein sehr hohes Ziel geeinigt. Das Ziel bedeutet zwar nicht einen Stopp des Flächenverbrauchs. Aber es ist sehr hoch und anspruchsvoll. Ich muß Ihnen sagen: Wenn es uns gelingt, dieses Ziel zu erreichen, dann haben wir in dieser Republik viel für den Landschafts- und Artenschutz getan. ({4}) Ein zweites schönes Beispiel stammt aus dem Bereich des Wohnens. Wir wissen, daß Wohnen und Bauen gemessen an den Gesamtstoffströmen und an dem Energieverbrauch der Wirtschaft ungeheuer wichtige Bereiche sind. Hier hat die Kommission die Idee des Gebäudepasses aufgegriffen. Mit Hilfe dieses Passes sollen Gebäude und Wohnungen daraufhin untersucht werden, wo Energie verbraucht wird und wo sie abgeht, welche Baumaterialen verwendet werden und welche ungesund sind und wie die ökologische Qualität eines Gebäudes oder einer Wohnung beschaffen ist. Mit Hilfe eines solchen Passes läßt sich der Bereich des Wohnens und Bauens, wie ich meine, nachhaltig ökologisieren. Das wäre ein Fortschritt. Ich hoffe, wir können diese Idee in den nächsten Jahren implementieren. ({5}) Der dritte Bereich betrifft die Informations- und Kommunikationstechnologie. Hier hat man über die Jahre hinweg, wie ich meine, ziemlich geschlampt. In dieser Republik wurden über Jahre hinweg Fernsehgeräte und Computer ohne jegliches Recyclingsystem irgendwie entsorgt. Zum Teil stehen diese Geräte noch auf Hausspeichern herum. Viele Leute haben also Sondermüll. Sie wissen es nur noch nicht. Viele Wertstoffe und gefährliche Stoffe werden verbrannt. Hier ist viel schiefgelaufen. Die Kommission hat das aufgearbeitet, Vorschläge gemacht und Alternativen entwickelt, zum Beispiel ein Öko-Label und ein ökologisches Design. Diese Ansätze sollten nicht nur im Kommunikationsbereich, sondern auch in allen anderen Bereichen verwirklicht werden. Sie sind Beispiele für einen produkt- und produktionsintegrierten Umweltschutz. Es muß möglich sein, daß der Umweltschutz schon beim Produkt und im Produktionsprozeß beginnt und damit die Umwelt geschützt wird. Das wäre eine Neuorientierung des Umweltschutzes. Das ist die Zukunft. Christa Reichard ({6}) Nach so viel Lob muß ich auch ein paar kritische Anmerkungen machen. Eine grundsätzlich kritische Anmerkung muß ich zu dem Anspruch der Kommission machen: Der Untertitel des Kommissions-Berichtes lautet: „Vom Leitbild zur Umsetzung“. Diesen Anspruch haben Sie leider nicht sehr gut eingelöst. ({7}) - Zwar klingt es gut, und es gibt auch ein paar schöne Beispiele, die ich genannt habe, aber im großen und ganzen gibt der Bericht keine Anleitung für Politik, zu handeln. Dazu ist er viel zu kursorisch und in vielen Punkten auch viel zu allgemein gehalten und zu wenig handlungsanleitend konkret. Er ist an vielen Stellen nicht nur detailliert, sondern, wie ich finde, sogar detaillistisch. Man kann schon fast sagen, er ist überkomplex. In dem Bericht wird eine Sprache verwendet, die eigentlich nur ein Fachpublikum verstehen kann. Das ist das eigentliche Bedauerliche. Wenn man will, daß Nachhaltigkeit ein gesellschaftliches Anliegen wird, daß die Medien dies aufgreifen und die Bürgerinnen und Bürger davon so berührt werden, daß sie sich Gedanken machen, dann muß ein solcher Bericht in einer anderen Sprache geschrieben werden. Ich hoffe sehr, daß es demnächst eine Übersetzung dieses Berichtes gibt, damit dieser Bericht auch die Resonanz findet, die er verdient hat. Nun zum Inhalt. Kollegin Reichhard, Sie haben darauf hingewiesen, daß die Dreidimensionalität wichtig sei. Ich schätze das auch so ein. Sie haben aus Ihrer Sicht gesagt, es sei wichtig, daß man von der Einseitigkeit der Ökologie herunterkomme. Ich möchte Ihnen dazu sagen: Nach vielen Jahrzehnten der ökologischen Blindheit kann ich nicht sehen, daß wir jetzt irgendwie ökologisch einseitig geworden sind; ({8}) vielmehr halte ich es für einen wirklichen Fortschritt, daß wir die angesprochenen drei Dimensionen als Einheit begreifen und daß es klar ist, daß Ökologie nicht ohne soziale und ökonomische Dimension gedacht werden kann. Aber das gilt dann auch umgekehrt. Es gibt noch immer viele ökonomische Prozesse, die nicht darauf geprüft werden, welche ökologischen und sozialen Auswirkungen sie haben. Genau das fehlt noch. Wir müssen dafür sorgen, daß es anders wird. Das wird eine Aufgabe der Zukunft sein. ({9}) Ein weiterer gravierender Mangel besteht darin - das liegt im übrigen nicht an der Kommission selber, sondern schon an ihrem Auftrag -, daß die Kommission die Nord-Süd-Dimension der Entwicklung, die Kerngegenstand aller Verträge in Rio war, einfach ausgeklammert hat. Man kann das eigentlich kaum verstehen; ({10}) denn es ist doch klar, daß wir im Norden nicht in Frieden, Gerechtigkeit und geschützter Umwelt leben können, wenn wir kein Entwicklungskonzept auch für die anderen haben, das auf Dauer auf der ganzen Welt trägt. Das ist übrigens eine Zukunftsaufgabe für unsere neue Regierung, Frau Staatssekretärin. ({11}) Ich glaube, daß wir uns schon einiges vorgenommen haben. Der vorliegende Bericht ist aus unserer Sicht zwar keine konkrete Grundlage für die neue Regierung, aber wir nehmen ihn zum Anlaß. Wir haben uns vorgenommen - das ist im Koalitionsvertrag festgehalten -, endlich eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie zu entwikkeln. Aus unserer grünen Sicht wäre es günstig, mit einem nationalen Umweltplan einzusteigen, wohlgemerkt: einzusteigen. Ich sage klar dazu: Es muß ein Umweltplan sein, der sozial und ökonomisch durchdacht ist, es darf also kein einseitiger Umweltplan sein. Ich sage dazu klar, daß ein solcher Umweltplan einen zeitlichen Rahmen haben und Ziele und Maßnahmen beinhalten muß und daß es gut ist, daß andere Länder nun Erfahrungen gemacht haben, von denen wir lernen können. Wir müssen nicht die gleichen Fehler machen, aber wir können sehen, daß andere Länder weiter sind als wir. In diesem Bereich können wir zuschauen, was andere gemacht haben, weil wir selber so lange untätig waren. Manche Debattierende - ich nehme an, das kommt auch heute noch zur Sprache - sagen: Ein Umweltplan ist nichts, das ist irgendwie DDR in Richtung Ökologie. Ich sage Ihnen aber ganz klar: Wenn wir in diesem Zusammenhang von Planungen reden, dann wollen wir nicht die DDR-Planwirtschaft ökologisch recyclen, nein, es geht schlicht und einfach um die Planung von Zukunft. Das gibt es übrigens in allen Bereichen der Politik, und in der Wirtschaft ist es eine Selbstverständlichkeit. Es kommt darauf an, daß wir offen planen, daß die Planung nicht von oben herab entwickelt wird, daß die Zielvorgaben und Maßnahmen im gesellschaftlichen Diskurs, im Parlament, mit den gesellschaftlichen Gruppen, auch mit den Interessensgruppen ausgearbeitet werden. Nur ein solcher Nachhaltigkeitsdiskurs kann zielgerichtet sein im Sinne eines nationalen Umweltplans und darüber hinaus zu einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie führen. Das muß unser Ziel sein. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Wir wollen nicht wie die alte Regierung am Ende unserer Regierungszeit ein Schwerpunktprogramm vorlegen, das die Regierung selber nicht trägt, das eher abgelehnt wird. Nemesis ist die Rachegöttin, Zeitknappheit ist die Nemesis der Moderne. Wir haben nicht mehr viel Zeit, wir sollten endlich zum Handeln kommen. Wir wollen das mit unserer neuen Regierung tun. Wir wollen im Jahre 2002 - zehn Jahre nach Rio - nicht mit leeren Händen dastehen, sondern mit einer umfassenden natioWinfried Hermann nalen Nachhaltigkeitsstrategie, über die wir auch im internationalen Vergleich sagen können: Wir haben einen großen Schritt nach vorne getan. Vielen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag befaßt sich schon seit längerem mit der Gestaltung einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung. Die Enquete-Kommission ist eine Institution, in der sich Abgeordnete und Sachverständige der unterschiedlichen politischen, aber auch wissenschaftlichen Richtungen mit wichtigen und interessanten Themen befassen. Neben der Einsetzung der Enquete-Kommission beauftragte der Deutsche Bundestag auch das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag mit einem Monitoring und einem Projekt zur Forschungs- und Technologiepolitik für eine nachhaltige Entwicklung. Aus den beiden vorliegenden Berichten lassen sich aus der Sicht der F.D.P. wichtige Ergebnisse ableiten. Herr Kollege Hermann, Sie haben gesagt, der Dank richtet sich auch an die, die das heute alles anders sehen. Ich sage Ihnen: Wir sehen das heute gar nicht alles anders. Bei der Arbeit am Bericht der EnqueteKommission gab es nämlich nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen, sondern auch richtig schöne Auseinandersetzungen, die inhaltlich orientiert waren und bei denen wir nicht auf einen Nenner kamen. Ich werde nachher noch etwas zum Thema nationale Nachhaltigkeitsstrategie sagen. Wir verabschieden uns nicht von dem, dem wir zugestimmt haben. Aber natürlich bleibt auch nach diesem Schlußbericht der EnqueteKommission ein weiter Interpretationsspielraum hinsichtlich einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung. Da baut sich immer wieder der Dissens auf, und das wird sich auch nicht ändern, solange wir nicht den gesellschaftlichen Diskurs darüber geführt haben. Wichtigstes Ergebnis der Arbeit der EnqueteKommission ist auch aus unserer Sicht - das wurde schon angesprochen -, daß Umwelt, Soziales und Wirtschaft drei gleichrangige Säulen einer nachhaltigen Entwicklung sind. Das hat zu Beginn der Kommissionsarbeit in der letzten Legislaturperiode noch nicht unbedingt die ungeteilte Zustimmung aller Mitglieder gefunden. Deswegen ist diese Feststellung eines der wichtigsten Ergebnisse. In diesem Sinne besteht eine vorrangige Zukunftsaufgabe darin, daß Nachhaltigkeitsaspekte eben nicht nur in die Umweltpolitik, sondern auch in die Sozialpolitik und in die Wirtschaftspolitik integriert werden. ({0}) Der vorliegende Bericht zur Forschungs- und Technologiepolitik für eine nachhaltige Entwicklung, den wir heute auch debattieren, zeigt, daß das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung erst ansatzweise in den entsprechenden Politikbereichen umgesetzt wurde. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten, da auch eine Neuorientierung der Forschungspolitik im Sinne der Nachhaltigkeit noch nicht erreicht ist. Der Ausschuß für Bildung, der in dieser Wahlperiode für die Technikfolgenabschätzung zuständig ist, hat allerdings auf die Fortsetzung dieses Projekts verzichtet. Grund dafür sei, so wurde gesagt, daß die rotgrüne Bundesregierung die Nachhaltigkeit zu einem Regierungsschwerpunkt erklärt habe. Dazu stelle ich fest, daß SPD und Grüne sich in der Enquete-Kommission in der Tat massiv dafür eingesetzt haben, daß das Thema Nachhaltigkeit zur Chefsache wird. Jetzt darf man einmal gespannt sein, wie die Umsetzung dieser Forderung vorangebracht wird, da der „Chef“ nun aus dem rotgrünen Lager kommt. Ich beobachte jedenfalls die rotgrüne Umwelt- wie auch Wirtschafts-, Sozial- und Technologiepolitik unter diesem Gesichtspunkt sehr genau und kann nur sagen, daß mir Nachhaltiges bisher noch nicht aufgefallen ist. ({1}) Eher sind mir jede Menge unüberlegter Schnellschüsse aufgefallen, die zwar nicht nachhaltig, dafür aber verbesserungswürdig sind. ({2}) Frau Caspers-Merk, Sie hatten darauf hingewiesen, daß die Koalitionsvereinbarung weitgehend auf die Enquete-Kommission Bezug nehme. Im Vorspann der Vereinbarung gibt es in der Tat einen Punkt, in dem es heißt, die Bundesregierung werde eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie entwickeln. Bis jetzt habe ich davon noch nichts gehört. Sie haben dafür noch ein bißchen Zeit; das ist ja in Ordnung. Aber wenn man das so in den Vordergrund stellt und zur Chefsache erklärt, dann hätte ich zumindest erwartet, daß man sich auch darauf einigt, wer dafür zuständig ist. Bisher merke ich noch nicht einmal, daß überhaupt jemand von den Herren und Damen Ministern in der Regierung daran denkt, sich für zuständig zu erklären - schon gar nicht der, der vielleicht in der Nachfolge von Frau Merkel das machen sollte, nämlich Herr Trittin. Von ihm habe ich zu diesem Thema überhaupt noch nichts gehört. ({3}) Als zweites steht in der Koalitionsvereinbarung, daß die chemiepolitischen Empfehlungen der EnqueteKommission umgesetzt werden sollen. Wenn man allerdings den Bericht liest, findet man solche Empfehlungen nicht. Vielleicht kann man mir das einmal erklären. Darum habe ich schon einmal gebeten, und es ist nicht gemacht worden. Der Grund dafür ist wahrscheinlich, daß auch Sie es in dem Enquetebericht nicht finden können. Sie sagen zwar, in diesem Bereich sei alles wunWinfried Hermann derbar vorbereitet und Nachhaltigkeit werde jetzt eine zentrale Rolle spielen. Wenn man dann aber näher hinschaut, stellt man fest, daß der Schein trügt. Herr Kollege Hermann, Sie haben uns gerade gesagt, der Bericht biete keine oder jedenfalls zu wenige Handlungsanleitungen für konkrete Maßnahmen, sieht man einmal von den Beispielen ab, die Sie genannt haben. Das ist zwar richtig, liegt aber an dem Problem, daß Sie unter Nachhaltigkeitsaspekten alle Bereiche durchdeklinieren müssen. Das konnte die Enquete-Kommission nicht vollständig leisten. Hinzu kommt, daß natürlich genau an den Stellen, an denen es in der Politik Dissens gibt, dieser in der Enquete-Kommission ebenfalls aufgebrochen ist. Wenn man bei der Formulierung der Ziele einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung lediglich an Vorschriften denkt, dann geht das an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. Dagegen hat sich die F.D.P. immer gewehrt, und dagegen wird sie sich auch weiter wehren. ({4}) Es kann nicht sein, daß der Begriff der Nachhaltigkeit, der von seiner Definition und von dem her, was jetzt erarbeitet worden ist, zentral wichtig für die Zukunft ist, dafür mißbraucht wird, daß alte, gescheiterte Politikkonzepte wieder zum Vortrag gebracht werden. ({5}) Das ist zu den Themen Tempolimit, Quotenregelung bei Verkehrs-, Siedlungs- und Naturschutzflächen, Lenkung aller Stoffströme und anderen mehr passiert. Dazu gab es Auseinandersetzungen, und deswegen werden Sie dazu keine konkreten Empfehlungen finden. Die Angelegenheit hat einen politischen Hintergrund. Daß es dazu keine konkreten Empfehlungen gab, liegt nicht daran, daß man keine hatte geben wollen. ({6}) Ein Regelungsdickicht und auch eine gewisse Bevormundungspolitik - also das, was damit einhergehen würde - können wir, die F.D.P., nicht mittragen. Es ist einfach, aber falsch, den Bürgerinnen und Bürgern seine eigenen Vorstellungen von einem nachhaltigen Konsumund Produktionsstil zu verordnen. Wir erreichen eine nachhaltige Entwicklung nur durch einen gesellschaftlichen Prozeß der gemeinsamen Zielsetzung und auch durch den Konsens über Wege dorthin. ({7}) Ich finde, dafür sollten alle gesellschaftlichen Gruppen in die Verantwortung einbezogen werden, um so Bewußtsein und Strategien zu entwickeln. Wir haben uns gestern im Umweltausschuß über eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie noch einmal unterhalten und vereinbart, daß wir an Hand der weiteren Diskussion über den Bericht der Enquete-Kommission darüber beraten wollen, ob wir diesen Prozeß gemeinsam in Gang bringen wollen. Im übrigen zeigt sich, daß die Regierung es offensichtlich noch nicht ganz von allein macht, daran, daß die SPD und die Grünen gestern einen Antrag im Umweltausschuß eingebracht haben, daß die Regierung aufzufordern sei, das zu tun. ({8}) Wir werden gerne dazu beitragen, daß das Parlament ein bißchen nachhilft. Sie haben unsere volle Unterstützung dabei, der Regierung Beine zu machen. ({9}) - „Nachhaltige Nachhilfe“, das ist ein schöner Begriff, den Sie da prägen. Wir werden uns bemühen, nachhaltige Nachhilfe zu geben. Unter dem Aspekt, daß die gesellschaftlichen Gruppen nach Möglichkeit einbezogen werden, werden wir einen Weg finden müssen, wie dieser Prozeß aussehen kann.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Fritz?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Homburger, Sie haben jetzt zweimal darauf hingewiesen, daß es offensichtlich Umsetzungsprobleme gibt, die einerseits verständlich sind, weil so etwas Zeit braucht, die aber auf der anderen Seite bei der Verve, mit der die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der SPD in der Kommission ihre Vorstellungen vorgetragen haben, nicht zu erwarten waren. Sind nicht auch Sie der Meinung, daß man nach der Verve, mit der damals die Querschnittsneuorientierungen als Chefsache durch die Ministerien vorgetragen worden sind, eigentlich hätte erwarten können, daß der Chef des Kanzleramts bereits heute in diese Debatte eingreift und sein Konzept für eine nachhaltige Regierungsarbeit vorträgt?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich weiß nicht, ob man das wirklich hat erwarten können. Wenigstens hätte man erwarten können, daß er mit seiner Anwesenheit das Interesse an diesem Thema dokumentiert ({0}) und bei Gelegenheit vielleicht auch deutlich macht, daß man dieses Thema aufgreifen will. Daß man diese Sache jetzt aufgreifen will, daß man diese Sache in die Regierungsarbeit hineinnehmen will, daß man im Kabinett eine Strategie entwickeln will, wie das gemacht werden soll, habe ich noch nicht gehört, auch nicht aus dem Kanzleramt. Vor allen Dingen hat man noch niemanden bestimmt, der für die Angelegenheit die Federführung übernimmt; denn wenn man das nicht macht, dann kann man auch nicht erwarten, daß es irgendwann geschieht. Wenn sich von den Ministern offensichtlich keiner zuBirgit Homburger ständig fühlt, dann muß man einmal ein Machtwort sprechen. Ich habe nicht erwartet, daß das heute hier passiert, sondern vielleicht hinter verschlossenen Türen. Die heutige Debatte könnte dazu beitragen. ({1}) Ich wollte gerade darauf hinweisen, daß wir, wenn wir diese Strategie erarbeiten und wenn wir uns auf einen gesellschaftlichen Prozeß einigen, darauf achten müssen, daß das nicht zur Errichtung neuer Gremien, Ausschüsse oder zur Einsetzung neuer Umweltbeauftragter genutzt wird. Vielmehr müssen wir darauf achten, daß auch unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit Institutionen und Gremien beleuchtet werden, daß neue Aufgaben aus dem Bereich der Nachhaltigkeit unter Umständen bestimmten Institutionen zugewiesen werden, daß verschiedene bestehende Institutionen im Sinne der Nachhaltigkeit neu kombiniert werden. Außerdem müssen wir darauf achten, ob bestimmte Kommissionen und Gremien zu Selbstläufern geworden sind und ob sie nicht vielleicht abgeschafft werden können. Das sind alles Punkte, die geprüft werden müssen. Von der Abschaffung überflüssiger Gremien habe ich im übrigen noch nicht viel gemerkt. Es ist absolut wichtig, daß wir diese Ziele nicht mit neuen Formen der Bürokratie erreichen. ({2}) Dazu gehört auch, daß, wenn man einen Rat für Nachhaltigkeit einsetzen wollte, dieser nicht einfach nur durch die Entsendung von Mitgliedern aus anderen Räten bestückt wird. Diesen neuen Rat sollte man mit einer Reform der bestehenden Räte begleiten, das heißt, andere Räte sollte man abschaffen und reduzieren. Es genügt eben nicht, aus den bestehenden Räten heraus immer und immer wieder etwas Neues zu entwickeln. Das hilft uns nämlich auch nicht weiter. Bei einer Reform der existierenden Institutionen ist es natürlich auch notwendig, Entscheidungsstrukturen so zu gestalten, daß Innovationen in Richtung Nachhaltigkeit aus Eigeninteresse angestoßen werden. Das war auch ein wichtiges Arbeitsgebiet dieser EnqueteKommission. Nicht zuletzt gehören zu diesen institutionellen Reformen auch solche im Bereich Bildung und Ausbildung, mit denen die Beachtung des Nachhaltigkeitsgedankens für künftige Generationen zur Selbstverständlichkeit werden kann. In der derzeitigen Diskussion um Nachhaltigkeit wird gern die These vertreten, daß die Marktwirtschaft zur Nicht-Nachhaltigkeit neige und daß deswegen durch staatliche Lenkung zu mehr Nachhaltigkeit gezwungen werden müsse. Insbesondere die Aufstellung von Plänen und die Kooperation von Akteuren werden immer wieder empfohlen. Die Übertragung von Aufgaben an den Staat bedeutet aber auch mehr Bürokratie und Kontrolle, und das geht zu Lasten der Freiheit. Ich meine, Nachhaltigkeit muß vielmehr durch Anreize, durch Einsicht, durch Überzeugung und darf nicht durch Vorschriften verwirklicht werden. Das ist kostengünstiger, und es geht schneller. Es ist auch nachhaltiger als staatliche Lenkung. ({3}) Auch über die Notwendigkeit von Innovationen hat die Enquete-Kommission diskutiert; ich habe es gerade angesprochen. Ich möchte einen letzten Gedanken aufgreifen, Herr Kollege Hermann. Mich hat das, was Sie sagten, überrascht. Aber die Ansicht der Grünen hierzu war geradezu makaber. Ich möchte den Kollegen Rochlitz, der seinerzeit für die Grünen in dieser Enquete-Kommission saß, zitieren. Er sagte am 15. Dezember 1997: Innovationen vernichten Arbeitsplätze. Am besten wäre es, es gäbe gar keine Innovationen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind der Auffassung, daß Innovationen im Nachhaltigkeitsprozeß dringend erforderlich sind. ({5}) Man darf dabei nicht nur die Risiken sehen, sondern man muß auch die Chancen sehen. Ich will daher an dieser Stelle noch einmal sagen: Wir sollten dazu kommen, nicht alle Risiken ausschließen zu wollen; denn wer alle Risiken ausschließen will, der zerstört letztendlich auch alle Chancen. Wir sind eher dafür, die Chancen, die in diesem Prozeß liegen, zu nutzen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Vorbereitung dieser Rede habe ich mir noch einmal die Debatten zum Zwischenbericht und zur Großen Anfrage der SPD zur Umsetzung der Ziele der Enquete-Kommission durchgelesen. Ich möchte nur noch einmal an Folgendes erinnern: Die Enquete-Kommission wurde seinerzeit in trauter Gemeinsamkeit von CDU/CSU, SPD, F.D.P. und Bündnis 90/Die Grünen eingerichtet, allerdings ohne die PDS, damals noch Gruppe im Bundestag, mit Stimmrecht zu beteiligen. Das muß erwähnt werden, wenn das Politikberatungsinstrument und der runde Tisch des Parlaments - so hat Frau Caspers-Merk die EnqueteKommission in den beiden genannten Debatten bezeichnet - als parteiübergreifendes Instrument in einer breiten gesellschaftlichen Debatte verstanden werden sollen. Nun diskutieren wir heute den Schlußbericht, dies allerdings nicht im luftleeren Raum. Immerhin haben sich seit der Bundestagswahl die Mehrheitsverhältnisse und somit auch die politischen Rahmenbedingungen verändert. Die damalige Opposition, soweit es SPD und Grüne betrifft, hat die Verantwortung erhalten, politisch zu gestalten. Sie wollen - so ihre eigene Aussage - nicht alles anders, aber vieles besser machen. Im Bereich Umweltpolitik - so kann ich Ihnen sagen - muß fast alles anders gemacht werden, damit einiges besser wird. Wir diskutieren im Umweltausschuß gerade den Umweltbericht der Bundesregierung sowie verschiedene Berichte und Gutachten der Umweltsachverständigen. Das gibt Gelegenheit, die umweltpolitische Bilanz der alten Bundesregierung zu ziehen. Diese Bilanz fällt nicht gut aus. So stellt der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem 98er Gutachten fest: Umweltpolitik ist zunehmend nur dann genehm, wenn sie nur geringe Kosten verursacht. Weiter heißt es: Der Wechsel von einer überwiegend emissionsund technikbezogenen Umweltpolitik hin zu einer stärker qualitätsorientierten Umweltpolitik ist in Deutschland nicht vollzogen. Dem kann ich mich nur anschließen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir eine weitere Vorbemerkung. Unser heutiges Thema wurde mit dem Brundtland-Bericht unter dem Begriff „sustainable development“ in die Politik eingeführt, und wir führen diese Diskussion unter der Überschrift der Nachhaltigkeit. Mit dieser verkürzten Übersetzung laufen wir Gefahr, zwei entscheidende Aspekte auszublenden: erstens den Aspekt der Entwicklung, das heißt, mit Nachhaltigkeit ist nichts Statisches oder ein erreichter Zielzustand gemeint; zweitens den Aspekt der Zukunftsfähigkeit, das heißt, bei jeder unserer Handlungen müssen ihre Auswirkungen auf die zukünftigen Generationen berücksichtigt werden. Nun zum Thema selbst: Von der ersten zur zweiten Bundestagsdebatte fand eine interessante Akzentverschiebung statt. Beim Zwischenbericht war noch weitgehend Einigkeit bei den Akteurinnen und Akteuren zu vermelden; es ging ja auch noch relativ abstrakt um die Formulierung von Nachhaltigkeitskriterien und Zieldefinitionen, kurzum um Absichtserklärungen. Demgegenüber wurde in der Debatte um die Große Anfrage eigentlich schon die Diskussion über den gerade fertig gewordenen Endbericht geführt. Es war also eine Debatte um Konsequenzen. Dabei mußten die materiellen Forderungen an eine nachhaltige Politik auf den Tisch. Es war Wahlkampf, und es war mit der Einigkeit vorbei. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterschiedlichen Herangehensweisen an Politik lassen sich vielleicht am besten in den folgenden Gegensatzpaaren beschreiben: dynamisierte Verwertung - heute verstärkt durch die Globalisierung - gegen Ressourcenschonung; Standortvorteile gegen soziale und ökologische Standards; Wettbewerb und Deregulierung gegen demokratische Kontrolle und gesellschaftliche Teilhabe. Vereinfacht: Anarchie des Marktes gegen öffentliche Daseinsvorsorge. So werden aus gemeinsam formulierten Zielen unterschiedliche Politiken. Wenn es darum geht, die ökologischen, die ökonomischen und die sozialen Implikationen in einer nationalen, ich füge hinzu, auch internationalen Nachhaltigkeitsstrategie angemessen ins Verhältnis zu setzen, gewinnt Nachhaltigkeit je nach Standpunkt völlig unterschiedliche Bedeutung: Entweder verkümmert sie zu einer regulativen Idee als Basis eines Such- und Lernprozesses, der im Wettbewerb der Marktwirtschaft seine ökonomische Ausprägung erfährt, oder Nachhaltigkeit wird zum Gradmesser einer grundlegenden Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Ich jedenfalls kann mich der Einschätzung des Umweltbundesamtes anschließen: Wenn Politik Nachhaltigkeit gezielt gestalten will, dann muß sie die Tragekapazität der Umwelt als letzte unüberwindliche Schranke für alle menschlichen Aktivitäten zur Kenntnis nehmen. Verbindet man dies mit der grundlegenden sozialen Forderung nach gleichen Nutzungschancen und gleichen Möglichkeiten des Zugangs zu den natürlichen Ressourcen, wird klar, daß nicht weniger auf der Tagesordnung steht als die Abkehr von einer Ökonomie der Geldvermehrung hin zu der Etablierung einer Ökonomie der Bedürfnisbefriedigung, also einer Ökonomie zur Dekkung des tatsächlichen Bedarfs für die gegenwärtige und die zukünftigen Generationen. ({0}) Hier kommt der dem Leitbild der nachhaltig zukunftsfähigen Entwicklung innewohnende Vorsorgegedanke zum Tragen; denn alles, was zukünftige Generationen gefährdet, und sei es nur potentiell, ist eben nicht nachhaltig. Somit verböte sich eigentlich die Entwicklung und der Gebrauch von Risikotechniken wie der Atomtechnik oder der Gentechnik. ({1}) Wer bisher noch geglaubt hat, die oben genannten Gegensätze seien abstrakt, dem konnte die Auseinandersetzung um den politisch gewollten, aber nun von der Regierung als nicht durchführbar eingeschätzten und de facto aufgegebenen Atomausstieg deutlich machen, wer in diesem Land tatsächlich über die Definitionsmacht in der Politik verfügt. Niemals war die Richtigkeit des Wortes von Kurt Tucholsky offensichtlicher: Sie glaubten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung. Oskar Lafontaine hat dies erkannt. ({2}) Welche Politik für die Umwelt muß also nun gemacht werden? Die Enquete-Kommission hat für ausgewählte Bereiche Umweltziele, Umweltqualitätsziele und Umwelthandlungsziele, formuliert. Nehmen wir den Komplex Natur und Bodenschutz und damit verbunden das Problem des Flächenverbrauchs. Die Probleme wurden richtig erkannt: Versauerung der Böden, Naturverbrauch und Zersiedelung; entsprechende Probleme gibt es beim Gewässer- und Grundwasserschutz. Hier fordert die Enquete-Kommission bis zum Jahre 2010 eine 80prozentige Reduktion der bodenversauernden Einträge bezogen auf die Einträge der Jahre 1991 bis 1995. Wir vermissen das entsprechende Aktionsprogramm der Bundesregierung zum Schutz der Böden. Sie haben die Mehrheit, das Bundesnaturschutzgesetz und das Bodenschutzgesetz zu ändern. Wären Sie den Empfehlungen der Enquete-Kommission gefolgt, wie hätte dann die ökologische Steuerreform ausfallen müssen? Hätten Sie nicht zum Beispiel eine Schwefeldioxidabgabe wie in Schweden, Dänemark und Norwegen erheben müssen? Und wo sind die Vorschläge der Bundesregierung für umfassende Luftreinhaltepläne? Einzig das CO2Reduktionsziel ist in den Koalitionsvereinbarungen als verbindlich anerkannt, doch das war es auch bei der alten Bundesregierung. Wo Sie dann tatsächlich Zielvorgaben festschreiben, wie beim Ziel, 10 Prozent der Fläche im Biotopverbund als Schutzgebiete auszuweisen, bleiben Sie hinter den Empfehlungen des Berichts zurück. Ich muß jetzt zum Ende kommen. Die Umsetzung des Leitbildes einer nachhaltig zukunftsfähigen Entwicklung ist letztlich nur als gesellschaftlicher Prozeß zu bewerkstelligen. Hier muß die ganze Gesellschaft beteiligt werden. Die Stärkung der Agenda 21 wurde schon diskutiert. Ein gemeinsamer Konsens muß gefunden werden. Einen guten Anfang hat die Bundesregierung gemacht, indem sie die Aarhus-Konvention gezeichnet hat. Lassen Sie uns auf diesem Weg fortschreiten. Danke. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat das Wort die Kollegin Ulla Burchardt.

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema Nachhaltigkeit steht wieder auf der Tagesordnung und damit die Frage nach der notwendigen Richtung und Strategie gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Innovation. Zur Erinnerung: Die Proklamation des Leitbildes der Nachhaltigkeit in Rio, die Agenda 21, war und ist die Antwort auf die Krisensymptome in der globalisierten Welt: Armut, Hunger, Unterentwicklung und Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen in den Entwicklungsländern auf der einen Seite und Arbeitslosigkeit sowie Ressourcenverschwendung in den hochentwikkelten Ländern auf der anderen Seite. Insofern ist das Leitbild Auftrag und Selbstverpflichtung, gerade für ein reiches Land wie die Bundesrepublik, den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt so zu gestalten, daß die Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes als Basis für gleiche Entwicklungschancen und Wohlstand kommender Generationen erhalten bleibt. Das heißt für die praktische Politik: umsteuern, neue Wege gehen und, wenn es um neue Chancen geht, Verteilungsentscheidungen anders treffen als in der Vergangenheit. Insofern ist es mehr als ein symbolischer oder pflichtgemäßer Akt, daß wir heute im Deutschen Bundestag zu Beginn der neuen Legislaturperiode zwei Berichte aus der vergangenen Legislaturperiode debattieren, die auf unterschiedlichen Ebenen und sich ergänzend Wegmarken für die zukunftsfähige Politik zeigen. Ob und welche Konsequenzen daraus gezogen werden, wird auch ein Prüfstein für die Lernfähigkeit des politischen Systems sein. ({0}) Ich will als Sprecherin meiner Fraktion in der Enquete-Kommission zunächst drei aus unserer Sicht wichtige Essentials für eine zukunftsfähige Politik nennen. Das erste ist die Zielorientierung. Wir haben, Kollegin Reichard, sehr einvernehmlich definiert, daß der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, die Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und die gerechte Verteilung von Arbeit, Einkommen und Lebenschancen als gemeinsames Ziel zu verfolgen sind, auch mit Blick auf unsere Kinder und Enkelkinder. Das eine - da waren wir uns alle einig - wird ohne die anderen nicht zu erreichen sein. Diese Dreidimensionalität erfordert eine neue Herangehensweise an Probleme. Ich will nicht verhehlen, daß für mich vor diesem Hintergrund manche Beiträge in der öffentlichen Debatte über aktuelle Lösungen von Problemen recht alt aussehen. Was bedeutet Dreidimensionalität zum Beispiel, wenn wir uns die ökologische Seite ansehen? Es bedeutet, daß Ressourcenschonung und Umweltschutz nicht länger als Hemmnis und als Kostenfaktor angesehen werden dürfen, sondern als Motor für gesellschaftliche Modernisierung, für neue Beschäftigung und für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit betrachtet werden müssen. ({1}) Kluge Unternehmer haben das im übrigen - im Gegensatz zu Verbandsfunktionären - schon lange erkannt. Sie haben erkannt, daß die Frage Kosten- oder Qualitätskonkurrenz in puncto globaler Wettbewerbsfähigkeit schon längst zugunsten letzterer entschieden ist. Da spielt der Faktor Ökologie eine ganz große Rolle. In bemerkenswertem Konsens hat die EnqueteKommission formuliert, daß, was die ökonomische Dimension angeht, sozialer Ausgleich und Naturerhalt gesamtwirtschaftliche Ziele werden müssen und die Marktwirtschaft die Bedürfnisse der Menschen und nicht die kurzfristiger Aktiengewinne in den Mittelpunkt zu stellen hat. ({2}) Dies ist eine klare Herausforderung für neue Rahmenbedingungen in der Wirtschafts- und Steuerpolitik. Zweites Essential. Wir wissen, daß Nachhaltigkeit nicht durch ein endgültiges Stadium, sondern durch einen Suchprozeß definiert wird. Deswegen bedarf es einer Strategie. Andere Redner haben schon darauf hingewiesen: Kernelement einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie muß ein nationaler Umweltplan mit konkreten und langfristig gesetzten Umweltzielen, mit prioritären Handlungsfeldern und einem Instrumentenmix aus modernisiertem Ordnungsrecht, sanktionierbaren Selbstverpflichtungen und Preiselementen sein. Drittes Essential. Frau Kollegin Homburger, ich darf daran erinnern, daß wir in großer Übereinstimmung festgestellt haben, daß nachhaltige Entwicklung Innovationen, neues Wissen und die Anwendung neuen Wissens braucht. Deswegen haben wir der Wissenschaft und Technik eine Schlüsselrolle zugewiesen, um Nachhaltigkeit zu erreichen. Weil wir um die Komplexität der technischen und ökonomischen Entwicklung wissen, haben wir als fünfte Managementregel neu formuliert, daß „Gefahren und unvertretbare Risiken für die menschliche Gesundheit durch anthropogene Einwirkungen zu vermeiden sind“. Das ist keine Beschränkung von Forschungsfreiheit oder Erfindergeist. Es ist vielmehr die notwendige Impulsgebung und Richtungssicherheit für zukunftsfähige Investitionen. Vom Leitbild zur Umsetzung, so hatten wir den Bericht überschrieben. Deshalb liegt es auf der Hand, zu bilanzieren, was und wer sich bewegt hat. Den Sachverhalt hinsichtlich der lokalen Agenda, Herr Hermann, schätze ich etwas anders ein. Ich stelle fest, daß in immer mehr Städten und Gemeinden Politik, Verwaltung, Umweltgruppen und Unternehmen gemeinsam daran arbeiten, daß der Prozeß im Zusammenhang mit der lokalen Agenda gut läuft. Wissenschaftler in Forschungseinrichtungen und Universitäten fühlen sich verpflichtet, ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten. Von den klugen Unternehmern habe ich eben schon berichtet. All die, die engagiert sind, konkret in bezug auf die Nachhaltigkeit zu handeln, erwarten zu Recht mehr und neue Unterstützung aus Bonn durch eine entsprechende Weichenstellung in der Politik. Davor warnen - das hat das Feldgeschrei der letzten Wochen sehr deutlich gemacht; es war nicht zu überhören - die Ewiggestrigen und die Besitzstandswahrer, die nicht willens oder auch nicht fähig sind, sich selbst zu bewegen und an dem großen gesellschaftlichen Reformprojekt beim Übergang ins 21. Jahrhundert konstruktiv mitzuarbeiten. Vor diesem Hintergrund will ich eine erste Bilanz der rotgrünen Koalition ziehen. In diesem Zusammenhang lassen sich einige Punkte aufzählen: Auf die Verpflichtung auf eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie, die in der Koalitionsvereinbarung festgelegt ist, sind einige meiner Vorrednerinnen und Vorredner schon eingegangen. In den wenigen Monaten unserer Regierungsarbeit haben wir noch andere Maßnahmen auf den Weg gebracht. In der Steuerpolitik haben wir die Weichen für soziale Gerechtigkeit, ökologische Modernisierung und Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen gestellt. Der Einstieg in den Ausstieg aus der Atomenergie in Verbindung mit dem 100 000-Dächer-Programm ist ein überfälliger Schritt in Richtung einer zukunftsfähigen Energieversorgung. ({3}) Damit tragen wir den Interessen der kommenden Generation genauso Rechnung wie mit der Begrenzung bei der Neuverschuldung und den deutlichen Zuwächsen bei Bildung und Forschung. Frau Kollegin, in diesem Punkt habe ich eigentlich Ihre Zustimmung erwartet. Ich will nicht verhehlen, daß ich mir manche Schritte etwas größer und mutiger gewünscht hätte. ({4}) Aber angesichts der wenigen Wochen, in denen wir bisher die Chance hatten, die Politik neu zu gestalten, ist dies eine sehr zufriedenstellende Bilanz. Weitere Maßnahmen, um zu Fortschritten zu gelangen, sind geplant. ({5}) So hat die Bundesregierung die Umsetzung des Leitbildes für die Forschungs- und Technologiepolitik zu einem ihrer Arbeitsschwerpunkte erklärt. Ich finde es ausgesprochen begrüßenswert, daß Frau Ministerin Bulmahn dies zu ihrem eigenen Anliegen gemacht hat. Dieses Anliegen deckt sich mit der Auffassung, die der Ausschuß für Bildung und Forschung in der vergangenen Legislaturperiode einvernehmlich vertreten hat. Ich hoffe sehr, daß dies so bleiben wird. Weil dieses Anliegen für uns wichtig ist, haben wir damals das Büro für Technikfolgenabschätzung, unsere eigene wissenschaftliche Beratungseinrichtung, beauftragt, Gestaltungsvorschläge zu machen, wie man die Forschungs- und Technologiepolitik auf Nachhaltigkeit einstellen kann. Der vorgelegte Bericht des TAB ist ein deutliches Plädoyer für einen Paradigmenwechsel. Er zeigt hinreichend konkret bis unkonkret, wie man das bewerkstelligen kann. Zunächst nennt er Kriterien dafür, was eine nachhaltige Forschungs- und Technologiepolitik ausmacht. Diese sind nicht frei erfunden, sondern basieren auf Vorarbeiten der Enquete-Kommission, des Sachverständigenrates für Umweltfragen, des Umweltbundesamtes und vieler anderer seriöser wissenschaftlicher Beratungseinrichtungen. Danach muß die nachhaltige Forschungspolitik transdisziplinär und technologiefeldübergreifend angelegt sein. Grundlagenforschung und angewandte Forschung bedürfen einer stärkeren Verzahnung und Problemorientierung. Die Formulierung von Nachhaltigkeitszielen und Indikatoren muß im Verständigungsprozeß mit gesellschaftlichen Gruppen angegangen werden. Ich denke, mit diesem Kriterienkatalog hat das Büro für Technikfolgenabschätzung einen Orientierungsrahmen vorgelegt, der Maßstäbe für die gesamte Breite der laufenden und zukünftigen Forschungs- und Technologieförderung setzt. ({6}) Wie kann man nun noch einen Schritt weitergehen? Dazu haben wir das TAB beauftragt, einen Blick über die Grenzen zu werfen, einen internationalen Vergleich aufzustellen, zu prüfen, wo es interessante Modelle gibt, von denen man lernen kann. Das TAB ist in Holland fündig geworden, mit dem „Programm zur nachhaltigen Technologieförderung“. Ich denke, dies ist tatsächlich ein Programm, von dem wir lernen können, weil es explizit der Entwicklung nachhaltiger Innovationen gewidmet ist. ({7}) - Irgendwelche Klagen gibt es immer; das müssen wir uns hier nicht gegenseitig vorhalten. Sobald etwas verändert wird, sobald etwas in Bewegung gerät, gibt es Menschen, die etwas daran zu kritisieren haben. Ich fände es aber schön, wenn Sie uns darin unterstützen würden, einmal deutlich zu sagen: Die Methode „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß“ kann nicht funktionieren. Das gilt insbesondere bei der Nachhaltigkeit. ({8}) Zu dem holländischen Programm: In neuen Kooperationen haben sich Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammengetan, um in den kommenden Jahrzehnten für bestimmte Bedürfnisfelder wie Mobilität, Wohnen oder Ernährung Visionen für eine nachhaltige Gestaltung zu entwickeln. Mit Hilfe des Backcasting-Verfahrens hat man Schritte und Ideen gefunden, wie man diese Visionen verwirklichen kann. Es hat sich gezeigt, daß man so zu praktischen Problemlösungen kommt, wie Stoff- und Energieverbräuche auf langfristige Sicht drastisch zu reduzieren sind, Schritte, die zugleich ökologisch und ökonomisch effizient sind und tatsächlich Chancen für neue Arbeit bieten. Dies war möglich, nicht nur weil man eine neue Form der Zukunftsplanung eingeführt hat, sondern weil man die Akteure beteiligt hat. Darüber hinaus hat das Programm den Charakter eines Meta-Forschungsprogramms und gibt Hinweise, wie Förderpolitik innovativer gestaltet werden kann. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, daß wir aus den Empfehlungen des TAB eine Beschlußempfehlung erarbeiten werden. Ich würde mich freuen, wenn wir dies gemeinsam tun könnten. Zum Schluß, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich zwei Erwartungen formulieren, die sicherlich viele, die sich seit Jahren für die Umsetzung des Konzepts der Nachhaltigkeit engagieren, mit mir teilen. Die eine Erwartung richtet sich an die Bundesregierung. Wir erwarten, daß die Arbeiten an der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zügig in Angriff genommen werden. Frau Kollegin Homburger, ich werte die Anwesenheit des Kanzleramtsministers als eine deutliche Unterstützung unseres Anliegens. ({9}) - Wir leben in schwierigen Zeiten. Vielleicht sind Ihnen die Debatte, die wir heute morgen geführt haben, und die Ereignisse der letzten Nacht entgangen. Insofern finde ich diese Bemerkung absolut unangemessen. ({10}) Es könnte sein, daß der Kanzleramtsminister mit Fragen beschäftigt ist, die mit augenblicklicher Krisenlösung zu tun haben. ({11}) An das Parlament und damit an uns, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, richte ich die Erwartung, daß unsere Debatten hier zukünftig von dem neuen Denken und der Veränderungsbereitschaft geprägt sind, die wir von den vielzitierten „Menschen draußen“ immer einfordern. Lassen Sie uns deswegen in einen konstruktiven Wettstreit um die richtigen und die richtig großen Schritte eintreten, wie die Gesellschaft zukunftsfähig gemacht werden kann! Das ist nicht nur ein wichtiger Beitrag, um den gesellschaftlichen Diskurs voranzubringen. Lassen Sie mich an einem Tag wie heute sagen: Angesichts der Tatsache, daß in vielen Teilen der Welt bereits seit längerem kriegerische Auseinandersetzungen um knappe Ressourcen wie Wasser stattfinden, wäre ein engagierteres Vorgehen in Fragen der Nachhaltigkeit auch ein ganz entscheidender Beitrag zur Konfliktvermeidung und Friedenssicherung. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Paul Laufs.

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Arbeit der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ fügt sich neben vielen anderen Bemühungen in den Rio-Prozeß ein, der die nachhaltig umweltverträgliche Entwicklung zu einem zentralen Leitbild der Politik gemacht hat. Wir alle in diesem Hause teilen die Feststellungen, die dem Rio-Prozeß zugrunde liegen und heute weltweit von der großen Mehrheit der Wissenschaftler und Politiker als richtig anerkannt werden. Erstens. Die Menschheit nimmt am Ende des 20. Jahrhunderts Rohstoff- und Umweltressourcen in einem solchen Umfang in Anspruch, wie es nicht zukunftsfähig ist, wie es auf Dauer nicht umweltverträglich, nicht nachhaltig ist. Besonders die irreversible Anreicherung der Erdatmosphäre mit klimaschädlichen Spurengasen ist Anlaß zu großer Sorge. Zweitens. 20 Prozent der Erdbevölkerung in den Industriestaaten verursachen bis zu 80 Prozent der globalen Umweltbelastung. Die Menschen in den Entwicklungsländern verlangen einen fairen Anteil an den Umweltressourcen. Es gibt auch den Grundkonsens zwischen allen Fraktionen, daß nicht die Umweltpolitik allein die Herausforderungen meistern kann. Das Streben der Menschen nach wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit muß gleichwertig berücksichtigt werden. Wir sind uns auch einig, daß den Industriestaaten eine besondere Verantwortung zukommt. Globale Probleme müssen global gelöst werden; nationale Anstrengungen allein reichen nicht aus. Aber wir in den reichen Industriestaaten sind in der Verantwortung, nachzuweisen und vorzuleben, daß die technische Zivilisation mit ihrem hohen Lebensstandard zukunftsbeständig und nachhaltig gestaltet werden kann. Wir haben eine globale Bringschuld an der Wende zum 21. Jahrhundert einzulösen. ({0}) Meine Damen und Herren, es gibt Managementregeln. Es gibt in Fülle Vorschläge für Umweltziele und Handlungsschwerpunkte zur Lösung der Probleme. Ich erinnere nur an die Zwischenbilanz der früheren Bundesumweltministerin Merkel mit dem Titel „Schritte zu einer nachhaltigen, umweltgerechten Entwicklung“. Die Enquete-Kommission, über deren Abschlußbericht wir heute diskutieren, hat sich die Aufgabe gestellt, praktisch umsetzbare Konzepte der Nachhaltigkeit für die Beispielfelder Bodenversauerung, Bauen und Wohnen sowie zum Thema Informations- und Kommunikationstechniken zu erarbeiten. Allein die Lösung des Problems der umweltverträglichen Entwicklung in diesen Bereichen und der einsetzbaren Steuerungsinstrumente hat sich als äußerst komplex herausgestellt. Die Abschätzung der ökonomischen und sozialen Wirkungen ist noch ungleich schwieriger. Kollege Hermann hat dazu einige kritische Anmerkungen gemacht. Die zahlreichen Sondervoten in diesem Abschlußbericht zeigen, daß die Vorstellungen der damaligen Mehrheit über gangbare, realistische Konzepte von den Vertretern der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen als keineswegs ausreichend eingestuft wurden. Die rotgrünen Ansprüche und Forderungen gingen erheblich weiter. Das muß man einfach feststellen. Nun bilden Sie die Regierungsfraktionen. Sie werden schneller von der Wirklichkeit eingeholt, als Ihnen lieb sein kann. Ich denke dabei nicht an die schönen, plakativen Zielsetzungen in Ihrer Koalitionsvereinbarung wie diejenige über Flächenverbrauch und Vorrangflächen. Wir wissen doch alle, daß dafür zunächst die Bundesländer und die Kommunen zuständig und in diesem Zusammenhang gefordert sind. Wir sind wirklich sehr gespannt, wie Sie diese Zielsetzungen realisieren werden. Ich vergleiche vielmehr Ihre grundsätzlichen Positionen zu einer nachhaltigen Entwicklung mit Ihrem Verhalten bei dem - vorsichtig ausgedrückt - atemberaubenden Gesetzgebungsverfahren zur sogenannten Ökosteuerreform. Da gibt es nur einen Schluß: Sie haben Ihre guten Vorsätze aus der Enquete-Kommission nachhaltig über Bord geworfen. ({1}) Jedes Ökosteuergesetz wirft in kompliziert verflochtenen Volkswirtschaften schwierigste Fragen zur Struktur, zu Substitutionseffekten, zu Allokationsveränderungen bei Arbeit, Kapital und Energie, zu sozialen Folgen für den ländlichen Raum und für Randregionen sowie für einkommensschwache Gruppen wie Rentner, kleine Landwirte und Familien auf. Sie haben in der Verabschiedungshektik nicht einmal den geringsten Versuch unternommen, weder die ökologischen noch die ökonomischen oder gar die sozialen Dimensionen dieses Ihres umwelt- und arbeitsmarktpolitischen Patentrezepts zu untersuchen. Wir denken nicht, daß diese Ökosteuer ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung ist. ({2}) Meine Damen und Herren, ich denke, in einem sind wir uns einig, nämlich daß dem Staat, also den Parlamenten und Regierungen, eine Schlüsselrolle zukommt, den Nachhaltigkeitsprozeß anzuregen, ihn zu organisieren und die Ergebnisse umzusetzen oder doch zumindest darüber zu wachen, daß sie von den betroffenen Akteuren umgesetzt werden. Ein erfreuliches Beispiel sehe ich - wie die Damen und Herren Vorredner - im Prozeß lokale Agenda 21. Die Initiative dazu geht ja bekanntlich vom Gemeinderat oder von der Kommunalverwaltung aus; sie sind die wichtigsten unter vielen Akteuren. In fast allen großen Städten, in Baden-Württemberg ja auch, Frau Caspers-Merk, ist die lokale Agenda 21 kraftvoll angelaufen, zum Teil mit großem Aufwand an Personal und Sachmitteln. Aber auch in kleineren Gemeinden ist sie angelaufen. Hier sollten wir uns engagieren. ({3}) Viele dieser kleinen Gemeinden engagieren sich mit Einfallsreichtum und dem Idealismus vieler Akteure sehr erfolgreich und haben dabei nur bescheidene Finanzmittel zur Verfügung. So werden vielfältige, langfristig angelegte Aktionsprogramme erarbeitet, also Maßnahmen und Projekte der Akteure, die in einem offenen Dialog im Konsens erarbeitet, dokumentiert und schließlich umgesetzt werden. Hier gibt es die vielfältigsten Vorgehensweisen, und das ist gut so. Es gibt hier keinen weiteren Regulierungsbedarf. Ich bin überzeugt, daß wir die Erfahrungen aus dem Prozeß lokale Agenda 21 bei der Entwicklung einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie nutzen können. Die Union ist bereit, an vernünftigen Konzepten mitzuwirken. Wir sind dabei der Auffassung, daß es keine Patentrezepte gibt. Die erforderlichen Anstrengungen und Umdenkungsprozesse können nur schrittweise vorangebracht werden. Wir bevorzugen neben einem vorsichtig weiterentwickelten Ordnungsrecht vor allem marktwirtschaftliche Instrumente und Anreize. Alle Bemühungen werden erfolglos bleiben, wenn es nicht gelingt, die Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft für das Konzept Nachhaltigkeit zu gewinnen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Josef Fell. Eine kleine Bitte: Die Kollegen gerade in dieser Debatte nutzen ihre Redezeit immer so nachhaltig. ({0}) Achten Sie bitte ein wenig auf das Licht am Rednerpult.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachhaltigkeit in Forschungs- und Technologiepolitik ist das wichtigste Leitprojekt für die kommende Forschungslandschaft. Forschung muß sich in Zukunft mehr als in der Vergangenheit an den menschlichen Problemen und Bedürfnissen orientieren, und sie muß dabei im Einklang mit der Natur stehen. Forschung insgesamt muß Probleme lösen, statt neue zu schaffen. An zwei Beispielen will ich aufzeigen, daß Forschungsergebnisse gesellschaftliche Probleme vergrößern können. Menschen wollen Bequemlichkeit und Komfort. Ich finde daran nichts Schlechtes. Nun hat sich die Medienindustrie in der Vergangenheit dieser Bequemlichkeitswünsche angenommen und danach geforscht, wie man Fernseher bedienen kann, ohne vom Sofa aufstehen zu müssen. Dies war ein isoliertes Forschungsthema; man hat dabei keine Technikfolgenabschätzung vorgenommen und auch nicht die Nachhaltigkeit beachtet. Heraus kam die allen bekannte Fernbedienung, die allerdings eine andauernde Betriebsbereitstellung benötigt. Der Energiebedarf dieser Stand-by-Schaltungen wurde nie einer Nachhaltigkeitsprüfung unterzogen. Das Ergebnis war, daß heute zwei umweltschädliche Kernkraftwerke benötigt werden, nur um diesen Bequemlichkeitswunsch der Bundesbürger zu erfüllen. Hätte man dieses Problem in Nachhaltigkeitsüberlegungen gleich in den Forschungsaufträgen beachtet, wäre man heute sicherlich bei technologischen Lösungen, die sowohl den Wunsch nach Bequemlichkeit als auch den Energieverbrauch berücksichtigt hätten. ({0}) Ein zweites Beispiel will ich nur andeuten. Manche Raumsonden, zum Beispiel Cassini, werden mit hochgiftigem Plutonium betrieben, welches beim Start und vor allem bei sogenannten Swing-by-Manövern eine erhebliche Gefahr für die Erde bedeuten kann. Auch hier wird die Nachhaltigkeit im Sinne von Risikoabwendung und Vorsorge nicht beachtet. In den letzten Jahrzehnten standen sinnlich wahrnehmbare Umweltbelastungen im Vordergrund. Der Staat griff - wenn auch häufig recht spät und zu zaghaft - punktuell beim Schadstoff des Jahres ein. Die Politik reagierte, agierte aber nicht. Und wenn eine Reaktion stattfand, dann orientierte sie sich am Stand der Technik, und zwar am Stand der Technik der Unternehmen mit dem besten Zugang zur Politik und nicht der Unternehmen mit den besten Technologien. Grenzwerte wurden erst dann verschärft, wenn auch die großen Unternehmen dazu fähig waren, diese einzuhalten. Eingehalten wurden die Grenzwerte dann zumeist durch teure Endof-pipe-Technologien. Heute hingegen befinden wir uns in einer Zeit des Umbruchs, des Aufräumens und des Umdenkens. Integrierter Umweltschutz gilt unter stimmigen Rahmenbedingungen als Wettbewerbsvorteil: Neue Technologien mit geringerem Material-, Energie- und Flächenverbrauch haben geringere Kosten als Konkurrenzprodukte. Durch die Besteuerung des Energieverbrauchs, auch mit Hilfe unserer Ökosteuerreform, wird sich diese Tendenz verstärken. Gemäß der Definition der Brundtland-Kommission ist nachhaltige Entwicklung eine „Entwicklung, die die gegenwärtigen Bedürfnisse deckt, ohne gleichzeitig späteren Generationen die Möglichkeit zur Deckung ihrer Bedürfnisse zu verbauen“. Für die Forschungs- und Technologiepolitik bedeutet dies einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Denn Forschung und Entwicklung orientieren sich dabei nicht mehr primär an Technologien, Stoffen, Produkten oder Produktlinien. Statt dessen orientieren sie sich an der zukunftsfähigen, umweltschonenden, wirtschaftlich und sozial gerechten Organisation und Weiterentwicklung übergreifender gesellschaftlicher Bedürfnisfelder. Die entscheidenden Innovationen bestehen dann nicht mehr in isolierten Verbesserungen der Umweltverträglichkeit oder der Wirtschaftlichkeit einzelner Produkt- und Techniklinien. Sie liegen vielmehr in Handlungsansätzen, die auf größere Nachhaltigkeit der Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse in den jeweiligen Bereichen zielen. Die Nachhaltigkeit zwingt dazu, umfassend zu denken, konkurrierende Interessen zu moderieren und zu integrieren. Einzelne Institutionen, wie zum Beispiel das Büro für Technikfolgenabschätzung mit seiner sehr guten Vorarbeit im vorliegenden Bericht, sind hier überfordert. Den Unternehmen das Feld der Nachhaltigkeit alleine zu überlassen reicht nicht aus, da diese zunächst andere Interessen wahrnehmen. Statt das Geld in eine nachhaltige Energiewirtschaft zu investieren, fließt das Geld oft in Bereiche, die zwar Gewinne versprechen, aber nur einem kleinen Teil der Gesellschaft nützen. Ob ein Handy ein, zwei Zusatzfunktionen mehr hat oder 10 Gramm weniger wiegt, scheint heute bedeutsamer als der globale Ressourcen- und Umweltschutz. Damit Investitionen auch in saubere Luft, sauberes Wasser, gesunde Nahrung und Komfort, in intakte Sozialstrukturen und in Bildung und Wissen gelenkt werden, muß der Staat Rahmenbedingungen vorgeben. ({1}) Damit die zukünftigen Forschungsergebnisse in nachhaltige Produkte münden, muß die Forschung insgesamt dem Leitbild der Nachhaltigkeit unterworfen werden. Dazu hat der vorliegende Bericht der Forschungs- und Technologiepolitik für eine nachhaltige Entwicklung erste Ansätze aufgezeigt. Die weitere Beratung in den Ausschüssen, aber auch begleitend in den Forschungsgemeinschaften und gesellschaftlichen Gruppen wird diese Ansätze verbessern, ergänzen und uns dem Ziel näherbringen, insgesamt eine nachhaltige Lebensweise der Gesellschaft zu ermöglichen. Alle Ministerien, die sich mit Forschungsaufgaben beschäftigen, müssen sich dieser Querschnittsaufgabe widmen. Um dem umfassenden Anspruch der Nachhaltigkeit gerecht werden zu können, muß die Forschung auch mit entsprechenden Mitteln ausgestattet werden. Ich bin zuversichtlich, daß bei ernsthaftem Bemühen aller Beteiligten ein weitgehender Konsens über die Fraktionen hinweg möglich sein wird. Das langfristige Ziel einer nachhaltigen Entwicklung unserer Gesellschaft ist viel zu wichtig, als daß es dem kurzsichtigen tagespolitischen Streit der Fraktionen geopfert werden darf. ({2}) In diesem Sinne wünsche ich mir eine parteiübergreifende, gemeinsame Arbeit an der Entwicklung der Nachhaltigkeit. Der vorliegende Bericht des TAB bietet dazu eine gute Gelegenheit. Ich danke. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat das Wort der Kollege Kurt-Dieter Grill.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist sicherlich notwendig, daß wir den Versuch der Bildung eines Konsenses über zentrale Fragen, die mit der Nachhaltigkeitsstrategie, mit der Nachhaltigkeitspolitik verbunden sind, der in der Enquete-Kommission gemacht wurde, unterstützen. Das darf aber nicht dazu führen, daß der Konsens das Ziel ist, dem sich alles unterzuordnen hat. ({0}) Ich will ein paar Widersprüche in der Debatte aufzeigen, die mir aufgefallen sind. Die Kollegin Burchardt hat hier vorgetragen, daß die Ressourcenverschwendung gerade in reichen Ländern, also auch bei uns, festzustellen sei. Das steht in krassem Widerspruch zu der Feststellung von Indira Gandhi, der heute nichts hinzuzufügen ist, daß die Armut der größte Feind der Umwelt ist, daß wir dort am gnadenlosesten mit Ressourcen umgehen, wo die Menschen arm sind. Danach ist Ressourcenverschwendung nicht allein in der Industriegesellschaft anzutreffen. Die Nachhaltigkeit - die wir bisher anders genannt haben - hat im Energiebereich die größte Chance, sich zu behaupten. Das schließt die Nutzung der Technik ein, die mit Strom arbeitet. Frau Kollegin Burchardt, Sie haben über das Feldgeschrei der Ewiggestrigen und der Besitzstandswahrer gesprochen. Es wäre hochinteressant, einmal zu untersuchen, was Sie darunter verstehen. Die Besitzstandswahrer sitzen nämlich nicht nur - wie Sie es wohl gemeint haben - auf einer Seite dieses Hauses oder in einer der vielen Gruppen dieser Gesellschaft, sondern in allen Gruppen dieser Gesellschaft. Um die Herausforderung zu beschreiben, über die wir hier diskutieren, will ich eine Information weitergeben, die ich vor wenigen Tagen erhalten habe. Am Geographischen Institut der Universität Bonn gibt es offensichtlich jemanden, der die „Tragfähigkeit“ der Bundesrepublik Deutschland unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit und der Nutzung der Ressourcen nur unseres Landes ausgerechnet hat. Dabei ist er auf eine Zahl von 400 000 Menschen gekommen. Die Bundesrepublik Deutschland hat aber 80 Millionen Einwohner. Deswegen beschäftigt mich im Augenblick vor allem die Frage, was Nachhaltigkeit angesichts der großen Zahl der Menschen auf dieser Welt bedeutet, die schlicht und einfach ihre Existenz sichern müssen, die sich sicher manches nicht leisten können, worüber wir uns hier unterhalten. Sie haben die Nachhaltigkeit in der Koalitionsvereinbarung fest verankert. In den letzten Wochen habe ich aber von denjenigen, die heute aus verständlichen Gründen nicht hier sein können, gehört, daß die Koalitionsvereinbarung nicht die Bibel ist. Ich hätte gerne Auskunft darüber, was aus der Koalitionsvereinbarung eigentlich gilt. Manches gilt offensichtlich nicht mehr. Herr Trittin hat bei der 100-Jahr-Feier des BUND in München freundlicherweise selber zugegeben, daß der Kernenergieausstieg ein Plus von 150 Millionen Tonnen CO2 bedeutet. In Ergänzung dessen, was der Kollege Paul Laufs hier zur Ökosteuer gesagt hat - das ist mein ständiger Vorwurf; ich weiß, daß hier auch in meiner eigenen Fraktion schwierig zu argumentieren ist -, möchte ich anmerken: Der zentrale Vorwurf, den ich Ihnen in der Frage der Öko- und Energiesteuer mache, ist, daß Sie die CO2-Frage ausklammern. Ihre Ökosteuer ist nicht schadstofforientiert. Die Frage der Nachhaltigkeit hängt mit der Absenkung des Schadstoffeintrages zusammen. Deswegen ist die Nachhaltigkeitsdebatte längst nicht nur am Ausstieg aus der Kernenergie festzumachen, ganz im Gegenteil. ({1}) - Das habe ich nicht gesagt. Sie ziehen doch die falschen Schlüsse, Frau Burchardt. Mit mir brauchen Sie nicht darüber zu diskutieren, daß wir etwas tun müssen. Wir sind uns zum Beispiel hinsichtlich des Stand-byProblems - Sie wissen, dazu haben wir gemeinsam etwas verabschiedet - ja durchaus einig. Außer dem Stand-by gibt es in unserer Gesellschaft aber noch eine Fülle von Beispielen dafür, daß wir Technik und Energie zu unserer eigenen Bequemlichkeit gedankenlos nutzen. Es geht nicht nur um das Stand-by, nur weil es im Zusammenhang mit der Kernenergie wieder genannt wurde. Die größte Herausforderung ist, das langfristige Denken mit der Tagespolitik in Einklang zu bringen. In der Koalitionsvereinbarung haben Sie die Nachhaltigkeit zum zentralen Punkt gemacht. Im „Bündnis für Arbeit“ steht die Nachhaltigkeit nicht im Mittelpunkt der Überlegungen. Das ist das eine. Das zweite, was mir im Zusammenhang mit Ihrer Koalitionsvereinbarung einfällt, ist: Ich habe vor kurzem - es mag schon zwei oder drei Wochen her sein - im „Handelsblatt“ gelesen, daß Herr Müntefering gesagt hat, das mit dem Umsteigen auf die Bahn sei Quatsch, wir bräuchten wieder mehr Straßen, weil das Auto unser Thema sei. Das ist Ihre Nachhaltigkeit. ({2}) - Ich zeige Ihnen gern den Artikel aus dem „Handelsblatt“. Er ist überschrieben mit „Die Wende in der Verkehrspolitik“, darin werden Herr Müntefering und Herr Steinbrück zitiert. Ich warne Sie davor, sich hier hinzustellen und zu sagen, Sie würden etwas vollkommen Neues und Nachhaltiges machen, und nun würde alles viel besser. Sie müssen sich entscheiden; denn in den internationalen Konferenzen knüpfen Sie exakt an dem an, was die Union Ihnen als Leistung hinterlassen hat. Niemand anderes als Herr Loske hat gesagt, wir müßten beim Kernenergieausstieg aufpassen, daß Deutschland nicht die Vorbildrolle beim Klimaschutz verliere. International sagen Sie also: Wir können auf dem aufbauen, was die alte Bundesregierung - Frau Merkel, Herr Kohl, Herr Töpfer - hinterlassen hat. National sagen Sie: Wir müssen bei Null anfangen, weil eigentlich nichts vorhanden ist. ({3}) Das ist eine Debatte, in der Sie der Herausforderung, langfristiges Denken und Tagespolitik in Einklang zu bringen, noch längst nicht gerecht geworden sind. Der Dialog muß fortgesetzt werden; denn ich habe den Verdacht, daß sich bei Ihnen sowohl mit dem Ansatz Strategie, vor allem aber auch mit dem Ansatz Plan eine Menge von Dingen verbinden, die eher etwas mit Dirigieren von oben, mit Umverteilung und Planung zu tun haben - als ob sich alles planen ließe ({4}) als mit einem offenen Diskurs, in dem die Schwierigkeiten der Umsetzung von Nachhaltigkeit in die Tagespolitik zum täglichen Geschäft werden. Dem werden Sie sich zu stellen haben. Am Ende könnten Sie vielleicht einen Plan haben; es hat sich in diesem Lande durch Sie aber nichts getan. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt die Abgeordnete Angelica Schwall-Düren.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In Zeiten, in denen wir mit einer umfassenden Steuerreform Familien und Mittelstand entlasten, in einem „Bündnis für Arbeit“ gegen die Arbeitslosigkeit kämpfen und auf europäischer Ebene die Agenda 2000 verhandeln, stellen sich Mitglieder des Bundestages hier hin und diskutieren die Empfehlungen der Enquete-Kommission zum Schutz des Menschen und der Umwelt. Sind das alles weltfremde Ökoträumer? Das Gegenteil ist der Fall. Wer Nachhaltigkeit immer noch nur als Synonym für Umweltschutz sieht, ist von gestern. Eben hatte ich bei Herrn Grill manchmal den Verdacht, daß er das so interpretiert. ({0}) Nachhaltigkeit in den drei Dimensionen Ökonomie, Soziales und Ökologie steht bereits jetzt hinter dem politischen Handeln unserer rotgrünen Regierung. Die Stärkung des Mittelstandes, das Jobprogramm für arbeitslose Jugendliche, das Bekenntnis zum Ausstieg aus der Kernenergie, das 100 000-Dächer-Programm, die ökologische Steuerreform: Dabei handelt es sich de facto durchgehend um Instrumente, mit denen die nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung sichergestellt werden soll, auch wenn dies nicht auf den ersten Blick sichtbar ist. ({1}) Zum Beispiel die Ökosteuer: Die ökologische Dimension findet ihre Umsetzung in dem Anreiz zum Energiesparen und, Herr Grill, in dem dadurch erreichten Beitrag zur Verwirklichung des CO2-Reduktionszieles wenn sie vorerst auch noch bescheiden ist, aber weitere Schritte werden folgen. Die Senkung der Lohnnebenkosten erfüllt die soziale Komponente. Die Nachhaltigkeit auf ökonomischer Ebene wird durch die neuen Chancen von Wirtschaft und Forschung umgesetzt, innovative und energieeffiziente Techniken zu entwikkeln und zu vertreiben. Auch unser Einsatz für den Ausstieg aus der Atomenergie ist eine logische, gar die einzig richtige Konsequenz aus einem nachhaltigen Bewußtsein. Denn die Enquete-Kommission des 13. Bundestages nahm - wie Frau Kollegin Burchardt eben schon erläutert hat - auf Anregung des Sachverständigenrates für Umweltfragen neben den vier Managementregeln, die bereits die Enquete-Kommission der 12. Legislaturperiode formuliert hatte, eine fünfte grundlegende Regel auf: Gefahren und unvertretbare Risiken für die menschliche Gesundheit durch anthropogene Wirkungen sind zu vermeiden. Niemand wird diese Regel in Frage stellen; aber sicherlich ergeben sich Konflikte innerhalb des Regelwerks. Die Regel Nr. 3 lautet nämlich: Stoffeinträge in die Umwelt sollen sich an der Belastbarkeit der Umweltmedien orientieren. Wie gehen wir also mit dem auch von Herrn Grill angesprochenen Konflikt Ausstieg aus der Kernenergie bei gleichzeitiger Vermeidung einer Klimaerwärmung durch steigende Kohlendioxidgehalte in der Atmosphäre um? Die Antwort liegt nahe: Wir nutzen das Energiesparpotential, das unserer derzeitigen Lebens- und Wirtschaftsweise zugrunde liegt, fördern Kraft-WärmeKopplung und den Ausbau der regenerativen Energien und schaffen gleichzeitig Arbeitsplätze. ({2}) Der Abschlußbericht der Enquete-Kommission versteht sich sowohl als weiterer Baustein für eine fruchtKurt-Dieter Grill bare Nachhaltigkeitsdiskussion als auch schon als Umsetzungsfahrplan mit konkreten Etappen. So haben wir mit den Beispielen Bodenversauerung sowie Bauen und Wohnen vom ökologischen Zugang her Ziele vorgegeben, die einer dringenden Umsetzung bedürfen. Bei der Versauerung der Böden ist die Lage eindeutig: Luftschadstoffe wie Schwefeloxide, Stickoxide und Ammoniak geraten mit dem Niederschlag als Säurebildner in die Böden. Können die Böden diesen anthropogenen Säureeintrag nicht mehr abpuffern, kommt es zur Bodenversauerung. Das führt zu Nährstoffauswaschung, Verdrängung von säureempfindlichen Tier- und Pflanzenarten, Waldschäden und Verschlechterung der Grundwasserqualität. Besonders problematisch ist dabei die Tatsache, daß es sich bei dem Schadstoffeintrag um schlecht eingrenzbare Flächenbelastungen handelt. Aufbauend auf diesem Ursache-Wirkung-Komplex hat sich die Enquete-Kommission dem Handlungsziel der EU-Kommission für eine Gemeinschaftsstrategie angeschlossen. Die Fläche der überkritisch belasteten Böden soll bis zum Jahr 2010 halbiert werden. Um dieses Ziel erreichen zu können, müssen wir bei der Reduktion der eingangs genannten Schadstoffe ansetzen. Maßnahmen und Instrumente, die dafür in Frage kommen, erstrecken sich auf eine Verbesserung der Abgasreinigung in Kraftwerken und Industriefeuerungen sowie der Entstickung in der Zementindustrie. Die verbesserte Ausstattung der Kraftfahrzeuge mit Katalysatoren, die bereits eingegangene Einführung der Ökosteuer, die bessere Einarbeitung der Gülle in der Landwirtschaft sowie die verstärkte Förderung des ökologischen Landbaus kommen hinzu. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das derzeit noch unzulängliche Bodenschutzgesetz, das unter der vorherigen Regierung nach langem Ringen verabschiedet wurde, sowie die dazugehörigen Verordnungen, die noch nicht ausreichend für einen vorsorgenden Bodenschutz sind, werden wir überarbeiten. Dabei müssen wir dem Vorsorgeprinzip den eindeutigen Vorzug geben; denn Nachsorge, also die Konzentration auf die Altlastenentsorgung, ist auf Dauer unsinnig und unbezahlbar. ({3}) Dies wäre weder sozial noch ökonomisch eine nachhaltige Politik. ({4}) Vor dem Hintergrund des wichtigen Bodenschutzes befaßt sich die Enquete-Kommission im dritten Handlungsfeld ihres Abschlußberichts konsequenterweise auch mit der Problematik des Flächenverbrauchs und seiner dringend nötigen Reduzierung im Rahmen des großen Komplexes Bauen und Wohnen. Gerade im Wohnungsbaubereich lassen sich vielfältigste Möglichkeiten finden, um die Interaktion der drei Dimensionen der Nachhaltigkeit deutlich zu machen und vernetzt umzusetzen. Die Enquete-Kommission formulierte denn auch drei Strategien, um die zukünftige Bau- und Wohnungspolitik ökonomisch, ökologisch und sozial verträglich zu gestalten: erstens die Stadt der kurzen Wege, also die Stärkung städtischer Strukturen gegen zunehmendes Wachstum in die Fläche; zweitens ressourcensparendes Wohnen und Bauen und drittens die Konzentration auf den Wohnungsbestand. Gerade der dritte Punkt, mit dem implizit die Förderung der Altbausanierung gemeint ist, trägt ein immenses Potential in sich. Der Druck auf die Fläche wird sich verringern, wenn man dieses Potential nutzt. Die grüne Wiese bleibt grün, wenn entsprechende ökonomische und fiskalische Instrumente verändert werden. Der Anteil der Lohnkosten im Neubau wird auf zirka 50 Prozent, bei der Altbausanierung auf zirka 70 Prozent geschätzt. Das heißt, Investitionen in den Bestand binden mehr Arbeitsplätze als Investitionen in den Neubau. Neue Dienstleistungssparten wie etwa das Umzugsmanagement werden gefördert. Die große Bedeutung der Altbaumodernisierung für eine wirkliche Senkung der Kohlendioxidemissionen wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß fast ein Drittel der gegenwärtig in Deutschland durch die Verwendung fossiler Brennstoffe entstehenden CO2Emissionen durch Heizungs- und Klimaanlagen sowie durch die Warmwasserbereitung verursacht wird. In der Bundesrepublik gibt es etwa 24 Millionen Altbauwohnungen, die noch nicht einmal dem Standard der Wärmeschutzverordnung von 1982/84 entsprechen. ({5}) Die Einführung eines Gebäudepasses unter Einbeziehung von Energiekennzahlen könnte hier einen Anstoß zur Veränderung bieten. Der Abschlußbericht der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ enthält eine deutliche Aufforderung, die Diskussion um die nachhaltige Gestaltung unserer Lebensweise und der Rahmenbedingungen, die unser soziales und wirtschaftliches Handeln bestimmen, weiterzuführen. Ich ziehe das Fazit: Wir brauchen eine ressortübergreifende Bereitschaft zum nachhaltigen Handeln. Wir brauchen eine Nachhaltigkeitsstrategie. Finanz-, Wirtschafts-, Verkehrs- und Landwirtschaftspolitik sowie Umweltpolitik müssen als Teil einer klugen, weitsichtigen Politik den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, die Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und die gerechte Verteilung von Arbeit, Einkommen und Lebenschancen sicherstellen und gleichzeitig die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger stärken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine solche Politik wird die Arbeit der Koalitionsfraktionen und der Regierung in der 14. Legislaturperiode bestimmen. Mit einer solchen Politik sind wir fit für das 21. Jahrhundert. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich gebe jetzt dem Abgeordneten Axel Fischer das Wort, und zwar zu seiner ersten Rede.

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorredner sind bereits ausführlich auf das Leitbild der Nachhaltigkeit eingegangen und haben sich auch zur Rio-Konferenz geäußert. Frau Burchardt zum Beispiel hat gesagt, daß die neue Bundesregierung in diesem Bereich viel getan hat. Das ist für mich natürlich Anlaß, etwas genauer hinzusehen und nicht mehr das Leitbild genau zu erörtern, sondern auszuführen, was das für uns bedeutet. Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ hat in der letzten Legislaturperiode den gelungenen Versuch unternommen, das Leitbild Nachhaltigkeit mit Leben zu füllen und Ziele einer nachhaltigen Politik positiv zu formulieren. Dabei stellt sie Fragen der langfristigen Entwicklungsfähigkeit unserer gesellschaftlichen Teilsysteme in den Vordergrund. Sie gibt damit der Bundesregierung und der Politik das Signal, notwendige Reformen im Umgang mit der Umwelt, in unserem Wirtschafts- und Sozialsystem anzugehen. ({0}) Dabei besinnt sie sich - im Sinne Ludwig Erhards verstärkt auf die grundlegenden Ordnungsprinzipien der ökologischen und sozialen Marktwirtschaft. ({1}) Innovation durch Wettbewerb, Eigenverantwortung, Freiheit und Subsidiarität sind die fundamentalen Gestaltungsprinzipien, die maßgeblich zur Zukunftsfähigkeit Deutschlands beitragen werden. ({2}) Zielrichtung und Gestaltungsoptionen für den Übergang in eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung sind damit vorgegeben. Folgt man nur den Worten der Bundesregierung, dann hat sie diese Empfehlungen aufgegriffen. Betrachtet man allerdings die Taten, dann zeigt sich ein völlig anderes Bild. ({3}) Dann klaffen Abgründe zwischen dem, was die Bundesregierung verspricht, und dem, was sie dann tatsächlich beschließt. ({4}) Das fängt mit dem Versprechen von Ministerin Bulmahn an, Mittel im Bildungs- und Forschungshaushalt verdoppeln zu wollen. ({5}) War der Haushaltsentwurf schon eine Enttäuschung, sind die Mittel im Forschungshaushalt nach dem Wirken der rotgrünen Haushälter bereits jetzt geringer als im letzten Haushaltsentwurf von Herrn Dr. Rüttgers. ({6}) Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit setzt sich leider auch in anderen Bereichen fort. Sie zeigt die Konzeptionslosigkeit dieser Bundesregierung, die mit dem Motto „Aufbruch und Erneuerung“ angetreten ist und die das Leitbild der Nachhaltigkeit zum Programm machen wollte. ({7}) Da erklärt die Bundesregierung, die Förderung von Unternehmensgründungen aus den Hochschulen sei besonders wichtig. Voll akzeptiert! Es verwundert daher auch nicht, daß die Ministerin die Verstärkung eines entsprechenden Förderprogramms angekündigt hat. Mit Hilfe dieses staatlichen Förderprogramms sollen Jungunternehmern die Hürden beim Unternehmensstart leichter nehmen. Aber ist ein solches Handeln nachhaltig? Nein, genau hier versagt die Regierung Schröder. Sie bekämpft nämlich nicht die Ursachen der Probleme, statt dessen ist ihre Politik auf die Verwaltung der unerwünschten Wirkungen gerichtet. ({8}) Anstatt die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nachhaltig zu gestalten, doktern Sie an den Symptomen herum und stopfen mehr Steuergelder in dieses Förderprogramm. Aber es kommt noch schlimmer: Mit Ihrer Neudefinition von Scheinselbständigkeit - wir haben darüber in der Aktuellen Stunde gesprochen - legen Sie den jungen Menschen weitere Steine in den Weg. Sie ersticken die in der jungen Generation verbreitete Bereitschaft zu Eigeninitiative und persönlichem Risiko. Statt ihre Unternehmensgründung tatkräftig zu unterstützen und die bürokratischen Hürden einzureißen, hängen Sie noch zusätzlich das Damoklesschwert mit dem Namen Scheinselbständigkeit über sie. Hier fehlen mir von Ihnen die klaren Worte und der aktive Einsatz für eine nachhaltige Entwicklung. ({9}) Mit Ihrem Existenzgründerprogramm werden Sie nicht einmal ansatzweise das ausgleichen können, was Sie am Kabinettstisch versäumt haben. ({10}) Jetzt geben Sie noch mehr Steuermittel aus und blähen die Bürokratie weiter auf, um die fatalen Auswirkungen dieser unsinnigen Gesetzesneuregelungen auszugleichen. Aber so viel Geld, wie Sie bräuchten, um die gesamten negativen Auswirkungen Ihrer mißratenen Gesetzgebung der letzten Monate auszugleichen, können Sie den Menschen in Deutschland gar nicht abnehmen. ({11}) Genausowenig nachhaltig ist Ihr Ansatz, mit dem Sie die Autonomie der Hochschulen stärken und Bürokratien abbauen wollen. „Autonomie stärken“ heißt die Überschrift, und unter der Überschrift kommt die Forderung, die Hochschulen müßten sich - als Voraussetzung für Selbstverwaltung - einer regelmäßigen Evaluierung in Forschung und Lehre unterziehen. Ihr Motto heißt also - ganz einfach auf den Punkt gebracht -: Eigenverantwortung ja, aber nur, wenn wir den Daumen darauf haben. Staatliche Bewertungsprozeduren, die oftmals schon nach kurzer Zeit zu ebenso kostspieligen wie nutzlosen Ritualen verkommen, sind kein Schritt nach vorn. Wie wollen Sie denn wissenschaftliche Leistungen vergleichbar machen? Wer soll sie denn beurteilen? Ich will Ihnen einmal sagen, was dabei herauskommt: Das wird etwa so wie die Tabellen in einer großen deutschen Illustrierten zum Ende der letzten Legislaturperiode. Dort sollten Leistung und Einfluß der Abgeordneten transparent gemacht werden. Es gab Punkte für Kleine Anfragen, für Initiativen, für die Funktionen des Abgeordneten und vieles mehr. Am Schluß kam dann heraus, daß der Gruppenvorsitzende Gysi einflußreicher als der Vorsitzende der großen Regierungsfraktion, Dr. Wolfgang Schäuble, sei. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Außer neuer Bürokratie kommt also bei Ihrer Evaluierung nichts heraus. Dabei gibt es doch zuverlässige Bewertungsverfahren. Lassen Sie doch den Markt, also die Studenten, entscheiden, welche Hochschule ihnen angesichts ihrer späteren Berufsaussichten den größeren Nutzen verspricht. Überlassen Sie doch die Bewertung über die Qualität von Forschung und Ausbildung der freien gesellschaftlichen Meinungsbildung. Den Erfolg der Forschungspolitik messen Sie doch auch nicht an irgendwelchen Gutachten. Sie nehmen doch die Höhe dieser Investitionen als einfachen Gradmesser für die Attraktivität des Forschungsstandortes Deutschland und damit für die Nachhaltigkeit der Forschungspolitik. Wie ist es aber derzeit um die Nachhaltigkeit der Rahmenbedingungen für die Forschungspolitik in Deutschland bestellt? ({12}) Die Regierung Schröder erklärt ständig, Deutschland müsse wieder zu einem attraktiven Standort für internationale Forschungsinvestitionen werden. Voll einverstanden! Aber dazu paßt die derzeitige Diskussion um den Tierschutz im Grundgesetz überhaupt nicht. Diese heuchlerische Scheinübung, den Tierschutz im Grundgesetz verankern zu wollen, wird den Tierschutz um keinen Deut verbessern. Die zu erwartende Klageflut wird jedoch ein Heer von Rechtsanwälten beschäftigen. In diesem Bereich lenken Sie damit auch noch die letzten Forschungsinvestitionen an Deutschland vorbei. Hier hätte ich von der zuständigen Bundesministerin ein deutliches Wort für den Forschungsstandort Deutschland erwartet. Sie müßte den Forschern den Rücken stärken. Doch statt Aufklärung über die Notwendigkeit von Tierversuchen kommt von ihrer Seite nur das große Schweigen. So gehen Sie mit der Zukunft des Forschungsstandortes Deutschland um: weder Worte noch Taten. Im Zeichen des globalen Wissenswettbewerbs muß die gesellschaftliche Wissensbasis in Deutschland verbreitert werden. Als ressourcenarmes Land ist Deutschland auf die Ausbildung und Pflege seines Humankapitals angewiesen. Hier müssen Bundesregierung und Länder die entsprechenden Ansätze aufgreifen und umsetzen. Eine besondere Aufgabe liegt dabei im Bereich der Förderung besonders Begabter. Aber gerade diesen Bereich vernachlässigt die Bundesregierung sträflich. Bei der Erhöhung der Haushaltsmittel haben Sie die Begabtenförderung in Deutschland ausgespart. Dabei brauchen wir doch Eliten. Das erwiesenermaßen erfolgreiche Meister-BAföG haben Sie im Haushaltsansatz um 40 Prozent gekürzt. Glauben Sie ernsthaft, daß solche Strukturen dauerhaft tragfähig sind? Die Einrichtung eines „Forums Bildung“ zeigt, wie begrenzt der Horizont Ihrer Reformüberlegungen im Bildungsbereich ist. Schon heute haben - das wissen Sie ganz genau - Kultusministerkonferenz, Bund-LänderKommission und der zuständige Ausschuß des Bundesrates weitgehend verwandte, zu einem großen Teil dekkungsgleiche Aufgaben. Wollen Sie uns wirklich weismachen, daß mit einem neuen Gremium der Durchbruch im Bereich der Forschungs- und Bildungspolitik zu erzielen wäre? Innovation im Sinne der Nachhaltigkeit bedeutet gerade nicht, neue Arbeitskreise zu gründen. Verantwortlichkeiten sollen nicht in einem Dschungel aus Ausschüssen, Beiräten, Arbeitskreisen, Foren, Gruppen und Zirkeln - und was es da sonst noch alles gibt - weiter verschleiert und verschoben werden. Das Gegenteil ist notwendig. Wir brauchen mehr Transparenz, klare Verantwortlichkeiten und Wettbewerb. So sichern wir eine bestmögliche Versorgung des Bürgers mit der Bildung, die er für die Zukunft so dringend braucht. Die Enquete-Kommission hat mit ihrem Plädoyer für Subsidiarität und Föderalismus den Weg gewiesen. Wir brauchen den Wettbewerb zwischen den Bundesländern, zwischen den verschiedenen Bildungssystemen, wir brauchen den Wettbewerb um besseren Unterricht, um bessere Lehre und um bessere Forschung. Eine nachhaltige Entwicklung in Deutschland bekommen wir nicht dadurch, daß hier ein neues Gremium eingesetzt oder da ein wenig mehr Geld ausgegeben wird. Es wird vor allem darum gehen, mit Hilfe institutioneller Reformen Handlungsspielräume zu eröffnen, die noch vorher blokkiert waren. Die Welt um uns herum verändert sich. Sie wartet nicht auf Deutschland und schon gar nicht auf die Kultusministerkonferenz. Lange werden Sie es nicht mehr als Tugend verkaufen können, wenn engagierte, fleißige und begabte Studenten, die sich schnell qualifizieren wollen, in Scharen ins Ausland abwandern. Diese Abstimmung mit den Füßen muß für alle Beteiligten, für die Bundesländer und besonders für die neue Bundesregierung, Ansporn sein, den ideologischen Ballast über Bord zu werfen und endlich die notwendigen Veränderungen in Angriff zu nehmen. ({13}) Axel E. Fischer ({14}) Mehr Wettbewerb und Eigenverantwortung ist nicht nur für ökologische und soziale Marktwirtschaft das Mittel für mehr Wohlstand. Für die deutsche Hochschulund Forschungslandschaft ist es ein notwendiger Kraftstoff, international den Anschluß zu halten. Wagen Sie endlich mehr Freiheit und weniger Bürokratie für die Bildung, die Forschung und die Bürger! Doktern Sie nicht länger an den Wirkungen herum, sondern beseitigen Sie endlich die Ursachen der Probleme! Formulieren Sie keine blumigen Absichtserklärungen, sondern pakken Sie endlich die Lösung der Probleme an! ({15}) Mit Zigarrenrauchen allein hat auch Ludwig Erhard nicht die Fundamente für die ökologische und soziale Marktwirtschaft gelegt. Danke schön. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Fischer, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede vor dem Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/11200 und 14/571 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes - Drucksache 14/445 ({1}) - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes - Drucksache 14/43 ({2}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 14/658 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({4}) Volker Beck ({5}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Professor Dr. Jürgen Meyer von der SPDFraktion das Wort.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der genetische Fingerabdruck sowie seine Verwendung zur kriminalistischen Verbrechensaufklärung hat den Deutschen Bundestag in den vergangenen Jahren mehrfach beschäftigt. Im Juni 1998 haben wir uns darauf verständigt, das Verfahren auch auf sogenannte Altfälle anzuwenden. Danach darf die DNA-Analyse für die Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren auch bei Personen durchgeführt werden, die wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung rechtskräftig verurteilt sind. Voraussetzung ist, daß die entsprechenden Eintragungen im Bundeszentralregister noch nicht getilgt sind. Daraus resultiert das berechtigte Interesse der Strafverfolgungsbehörden, den Datenbestand des Bundeszentralregisters auszuwerten und so die Altfälle systematisch herauszufinden. Die dafür nötige Ermächtigungsgrundlage und eine gesetzliche Mitwirkungspflicht des Bundeszentralregisters sind wesentliche Inhalte des heute zu verabschiedenden Gesetzentwurfs, der einen überzeugenden Ausgleich zwischen den Erfordernissen einer effektiven Verbrechensverfolgung einerseits und des verfassungsrechtlich gebotenen Datenschutzes andererseits enthält. Dabei verdient besondere Erwähnung, daß der Gesetzentwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen am 2. März 1999 in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurde und schon heute, nach 23 Tagen, in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden kann. ({0}) Das ist das Ergebnis zügiger Beratungen im Rechtsausschuß und der vorbereitenden intensiven Berichterstattergespräche, für die ich mich bei meinen Mitberichterstattern ausdrücklich bedanken möchte. ({1}) Mein Dank gilt ebenso den zuständigen Mitarbeitern der beteiligten Fraktionen sowie des Bundesjustiz- und des Bundesinnenministeriums, die mit großem Engagement zum erfolgreichen Abschluß der Beratungen beigetragen haben. Last, but not least danke ich der - ich sehe sie gerade nicht - für die Bundesregierung federführenden Justizministerin. ({2}) Ich hätte diesen Dank sehr gern auch an die CDU/CSU-Fraktion gerichtet, die immerhin bereits am 17. November 1998 einen eigenen Entwurf eingebracht hatte. Leider hat sie sich trotz der - heute nicht zu wiederholenden - detaillierten Kritik an diesem Entwurf in Axel E. Fischer ({3}) der Bundestagssitzung am 21. Januar 1999 nicht von ihrem Entwurf lösen können. ({4}) Wir freuen uns um so mehr, daß im Gegensatz dazu die F.D.P. unseren Entwurf mitträgt. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz hat in seiner Stellungnahme zum Entwurf der CDU/CSUFraktion lapidar und zutreffend festgestellt - ich zitiere -: Dieser Gesetzentwurf bleibt unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten hinter dem Entwurf der Koalitionsfraktionen zurück und sollte nicht weiterverfolgt werden. ({5}) In der Debatte vom Januar habe ich den engen Zusammenhang mit dem überfälligen und im vergangenen August leider am Widerspruch aus Bayern gescheiterten Strafverfahrensänderungsgesetz, dem sogenannten StVÄG, betont. Der Datenschutz im Strafverfahren bedarf endlich einer grundlegenden Regelung. Der Übergangsbonus des Volkszählungsurteils von 1983 ist längst verbraucht. Deshalb teile ich gerne mit, daß der vorliegende Gesetzentwurf aus einem eigenen Artikel des als Arbeitsentwurf im Bundesjustizministerium erstellten StVÄG hervorgegangen ist. Wir erwarten, daß dieses nach der Zuleitung an den Bundesrat, der in der letzten Woche seine Stellungnahme beschlossen hat, demnächst dem Bundestag zugeleitet werden wird. Lassen Sie mich aus den Beratungen des heute zu verabschiedenden DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes kurz auf vier Probleme eingehen, die uns besonders beschäftigt haben und die nach unserer Auffassung nunmehr überzeugend geregelt sind. Erstens. Bekanntlich enthält das geltende Identitätsfeststellungsgesetz einen strengen Richtervorbehalt. Bei der Behandlung der sogenannten Altfälle taten sich einzelne Gerichte schwer damit, festzustellen, welcher Richter in diesen Fällen für die Anordnung der DNAAnalyse zuständig sei. Wir stellen deshalb durch unser Gesetz klar, daß auch in diesen Fällen der Ermittlungsrichter zuständig ist. Wir wollen dadurch Rechtssicherheit schaffen und Verzögerungen beim Aufbau der DNA-Analysedatei vermeiden helfen. Zweitens. In meiner Kritik am Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion im Januar hatte ich auf den datenschutzrechtlichen Grundsatz der Begrenzung der Datenübermittlung auf das erforderliche Maß hingewiesen. Ich hatte kritisiert, daß der Entwurf eine Vielzahl auskunftsberechtigter Stellen - bis hin zu sämtlichen obersten Bundes- und Landesbehörden - vorsah. In Übereinstimmung mit einer Empfehlung des Bundesbeauftragten für den Datenschutz regeln wir nunmehr, daß die Daten neben dem Bundeskriminalamt lediglich der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt werden, die für die Durchführung des Verfahrens zur Erhebung der DNA-Identifikationsmuster verantwortlich ist. Auskünfte etwa, verehrte Kollegen von der CDU/ CSU-Fraktion, an die Kultusminister oder die Landwirtschaftsminister der Länder, wie sie nach dem heute von Ihnen wieder vorgelegten Entwurf möglich sein würden, wird es also nicht geben. Drittens. Seitens einzelner Bundesländer ist die Bitte an uns herangetragen worden, daß sich das Gesetz hinsichtlich der Zulässigkeit der Speicherung von DNAIdentifizierungsmustern eindeutig auf die Bundesebene beschränken sollte. Dem entspricht das Gesetz mit seiner Beschränkung auf die Praxis des Bundeskriminalamts. In der Begründung stellen wir ausdrücklich klar, daß die auf landesrechtlicher Rechtsgrundlage erfolgte Speicherung hinsichtlich ihrer Zulässigkeit nicht betroffen ist. Insoweit gibt es bekanntlich keine Kompetenz des Bundes. Deshalb sind Dateien, wie sie zum Beispiel in Rheinland-Pfalz oder Bayern bereits eingerichtet sind, von unserem Gesetz nicht betroffen. Wir hoffen aber, daß die Rechtsstaatlichkeit der Regelungen unseres Gesetzes durchaus stilbildend wirkt. Viertens. Schließlich haben wir uns eingehend mit dem Deliktskatalog für die Gruppenabfrage beim Bundeszentralregister befaßt. Ich hatte schon in der Januar-Debatte darauf hingewiesen, daß allein schon aus Datenschutzgründen präzise Vorgaben dazu notwendig sind, welche Daten bereitzustellen und den anfragenden Stellen zu übermitteln sind. Auch programmiertechnisch kann die Frage, wann es sich um eine Straftat von erheblicher Bedeutung handelt, nicht dem jeweiligen Sachbearbeiter beim Bundeskriminalamt überlassen werden. Der nun vorgelegte Deliktskatalog ist zwischen Bund und Ländern unter Einbeziehung des Justiz- und des Innenbereichs abgestimmt worden. Ansatzpunkt waren die in § 395 der Strafprozeßordnung aufgeführten Nebenklagedelikte. Diese wurden ergänzt um Delikte wie Raub, Erpressung und Bandendiebstahl, bei denen deliktstypisch DNA-Identifizierungsmaterial etwa am Tatort oder im Fluchtfahrzeug aufgefunden wird. Diese Berücksichtigung kriminalistischer Erfahrungen soll die zügige Erfassung und Aufbereitung der Altfälle ermöglichen. Bekanntlich spielt etwa bei schwerer Steuerhinterziehung oder Verbrechen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, um nur zwei Beispiele aus dem Nebenstrafrecht zu nennen, der genetische Fingerabdruck praktisch keine Rolle. ({6}) Warum sollten derartige Delikte also in die aufwendige Gruppenanfrage übernommen werden? Selbstverständlich können aber durch Einzelabfrage beim Bundeszentralregister auch solche für die DNA-Identitätsfeststellung geeignete Straftaten von erheblicher Bedeutung abgefragt werden, die nicht im Katalog enthalten sind. § 2c des Gesetzes regelt nur die Gruppenabfrage. Der von der Opposition behauptete Wertungswiderspruch im Deliktskatalog, der natürlich auf Grund neuer Erfahrungen ergänzt werden kann, besteht also nicht. ({7}) Dr. Jürgen Meyer ({8}) Der Errichtung und Nutzung der DNA-Analysedatei beim Bundeskriminalamt steht nun nichts mehr im Wege. Dasselbe gilt für den Abgleich der Daten durch das Bundeskriminalamt mit der Haftdatei und die Übermittlung der Ergebnisse an die Landeskriminalämter. Unser Entwurf zeigt, daß Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens und Effektivität der Strafrechtspflege keine Gegensätze sind. Sie sind vielmehr gemeinsam unerläßliche Voraussetzung für die innere Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat. Unser Gesetzentwurf macht deutlich: Verbrechensbekämpfung und Rechtsstaatlichkeit sind zwei Seiten derselben Medaille. ({9}) Wir hoffen deshalb auf eine breite Zustimmung. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Ronald Pofalla von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der zweiten und dritten Beratung der Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung bzw. Ergänzung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes wird eine endgültige Regelung darüber verabschiedet, unter welchen Voraussetzungen eine Anfrage, also ein Ermittlungsdatenabgleich, durch die Staatsanwaltschaften, das Bundeskriminalamt und den Generalbundesanwalt erfolgen soll. Die endgültige Regelung unter anderem dieser Frage - das mache ich hier sehr deutlich, Herr Kollege Meyer - wird von uns ausdrücklich begrüßt. Bereits im Rahmen der ersten Beratung am 21. Januar 1999 hat vor allen Dingen die CDU/CSU-Bundestagsfraktion darauf gedrängt, hier zu einer möglichst zügigen Beratung und Verabschiedung zu kommen. Unserem ständigen Drängen, auch im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages, ist es daher zu verdanken, daß es schon heute, am 25. März 1999, zu einer Abschlußberatung kommen kann. ({0}) Sowohl die Bundesregierung wie auch die Regierungskoalitionsfraktionen hatten die Absicht, Herr Kollege Meyer, die Ergänzung bzw. Änderung des DNAIdentitätsfeststellungsgesetzes auf die lange Bank zu schieben. ({1}) Noch in der ersten Beratung am 21. Januar 1999 war von seiten der Bundesregierung und der Regierungskoalitionsfraktionen ein anderes Verfahren beabsichtigt. Ich verweise Sie auf das amtliche Protokoll der Bundestagssitzung vom 21. Januar 1999. Damals haben Sie vorgetragen - sehr lautstark übrigens, Herr Kollege Meyer -, ({2}) daß entsprechend dem Willen der Bundesregierung der Bereich DNA-Identitätsfeststellungsgesetz in ein umfangreiches Strafverfahrensänderungsgesetz eingestellt werden solle. Sie haben im Verlauf der Beratungen gemerkt, daß wir, wenn Sie bei diesem Verfahren, nämlich der Einstellung in das Strafverfahrensänderungsgesetz, geblieben wären, im Plenum des Deutschen Bundestages nicht einmal einen Regierungsentwurf hätten beraten können, weil der Bundesrat seinerseits mit seinen Mitwirkungsrechten erst am vergangenen Freitag seine Erstbefassung mit diesem Thema abschließen konnte. Jetzt wird im Verfahren die Frage sein, ob die Bundesregierung ihrerseits im Rahmen einer eigenen Stellungnahme, was sie tun kann, Bezug darauf nimmt. Um es gleich deutlich zu sagen: Wäre hier so verfahren worden, wie von der Bundesregierung und von Ihnen beabsichtigt, würde der Gesetzentwurf der Bundesregierung oder ein Gesetzentwurf, der auch nur im entferntesten daranginge, dieses Problem zu lösen, heute noch nicht einmal in erster Lesung beraten. ({3}) Herr Kollege Meyer und auch Herr Kollege Hartenbach, ich könnte Ihnen, wenn Sie das wünschen, aus dem Protokoll vom 21. Januar 1999 vorlesen ({4}) - ich erspare es uns aber -, was Herr Meyer in seiner Rede zum Verfahren gesagt hat. Unserem Drängen ist es zu verdanken, daß Sie zwei Verfahrenswege gegenüber der ursprünglichen Absicht verändert haben: Erstens. Die Bundesregierung ist davon abgegangen, darauf zu bestehen, daß das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz in den Gesetzgebungsvorgang eingebettet wird, der ursprünglich im Zusammenhang mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz beabsichtigt war. ({5}) Die Bundesregierung war damit einverstanden, daß Sie von seiten der Regierungskoalitionsfraktionen einen eigenen Gesetzentwurf, der in diesem Teil in etwa identisch ist, einbringen. Das haben Sie dann, nach wochenlangen Debatten, erst am 2. März 1999 mit einem Gesetzentwurf geschafft; das ist die zweite Verfahrensänderung. Sie wissen: Wenn wir als Opposition nicht zugelassen hätten, daß die Beratungen heute hier stattfinden, weil wir zu einem zügigen Abschluß nicht nur bereit sind, sondern Dr. Jürgen Meyer ({6}) ihn auch für sinnvoll halten, dann könnten wir heute die zweite und dritte Lesung im Plenum nicht vornehmen. ({7}) Deshalb sage ich zusammenfassend: Ohne die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hätte es diese Änderungen im Verfahren nicht gegeben, und ohne die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hätten Sie sich nicht dazu entschieden, das Verfahren zu beschleunigen. Dies - das will ich hier ausdrücklich sagen - begrüßen wir. Aber das ist auch das einzige, was wir in diesem Zusammenhang positiv festhalten können. Ansonsten lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. Ich will versuchen, Ihnen die entscheidenden Gründe vorzutragen. ({8}) Erstens. Die von den Regierungskoalitionsfraktionen vorgesehene Auskunftsbeschränkung auf die Staatsanwaltschaft ist aus unserer Sicht auf keinen Fall akzeptabel. ({9}) Zunächst ist aus unserer Sicht in Übereinstimmung mit dem Strafverfahrensrecht der Auffassung zu folgen, daß das Einverständnis des Betroffenen mit Speichelentnahmen und der anschließenden Untersuchung beachtlich ist, mithin es in diesen Fällen keiner zusätzlichen staatsanwaltschaftlichen oder gerichtlichen Befassung bedarf. Wenn dies so ist, würde allein der Suchlauf dazu zwingen, daß die Staatsanwaltschaft mit dieser Angelegenheit befaßt ist. Hinzu kommt, daß die Auskunft des Bundeszentralregisters der Bearbeitung bedarf. Es muß etwa geklärt werden, wo sich ein Eingetragener befindet. Mancher Eingetragene wird sich gar nicht mehr in Deutschland aufhalten. Diese Arbeit kann nach unserer Auffassung am besten die Polizei leisten. Zweckmäßig dürfte zunächst ein Abgleich der Bundeszentralregisterdaten mit den BKAund LKA-Daten sein. Wenn dies so ist, macht es keinen Sinn, zunächst die Staatsanwaltschaft mit der Angelegenheit zu befassen. Dies wäre eine unnötige Belastung, die mit zahlreichen Fehlerquellen verbunden ist. In jedem Fall muß nach unserer Auffassung auch der Polizei die Möglichkeit der Auskunftseinholung eröffnet werden. Das Gesetz sollte so gestaltet sein, daß es alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten rechtlich absichert. Zweitens. Daß das Gesetz einen Katalog zugrunde legt, ist nicht unbedenklich im Blick darauf, daß damit die Möglichkeiten des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes nicht ausgeschöpft werden. Aus gutem Grund ist schon im Gesetzgebungsverfahren zum DNAIdentitätsfeststellungsgesetz ein Katalog verworfen worden. Zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Straftaten kann es sinnvoll sein, zunächst einen engen Suchlauf zu starten und nach einiger Zeit und bei vorhandener Kapazität einen weiteren. Dies muß nicht präjudiziert werden. Insofern ist auch in diesem Zusammenhang das Konzept im Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion eindeutig vorzugswürdig. Drittens. Darüber hinaus ist der Straftatenkatalog, der nunmehr im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen enthalten ist, nach unserer Überzeugung auch noch lükkenhaft, Herr Kollege Meyer. Im Straftatenkatalog fehlen nämlich etwa Verstöße gegen das Betäubungsmittelrecht, gegen das Waffen- und des Kriegswaffenkontrollgesetz sowie Verstöße gegen das Ausländergesetz, insbesondere hier das gewerbs- und bandenmäßige Einschleusen. Dies alles sind Straftatbestände, die eine Untersuchung gemäß dem DNA-Identitätsfeststellungsgesetz erfordern. In der Beschlußfassung des Rechtsausschusses sind diese Straftatbestände aber nicht enthalten, weil die Regierungskoalition viel zu unbeweglich war, auf ergänzende und sinnvolle Vorschläge im Rahmen der Berichterstattergespräche einzugehen. Wenn man Listen ins Gesetz schreibt, sollten sie einigermaßen vollständig sein. ({10}) Die Frage, warum man Drogendealer ausnimmt, Herr Kollege, kann ich nun wirklich nicht beantworten. Sie müssen versuchen, diese Tatsache der deutschen Öffentlichkeit zu erklären. ({11}) Viertens. Nicht hinnehmbar ist die Beschränkung der Auskunft auf zwei Jahre. Es ist überhaupt nicht einsichtig, warum bei der Wissenschaft, die nach dem Bundeszentralregistergesetz jederzeit Suchläufe beantragen kann, ein anderer Maßstab angelegt wird als bei den Strafverfolgungsbehörden. Klar ist, daß die Zweckbindung eingehalten werden muß. Wird die Zweckbindung eingehalten, ist nicht ersichtlich, warum das Gesetz einen sofortigen umfassenden Suchlauf mit riesiger Vorratsspeicherung erzwingt und nicht die Möglichkeit gibt, je nach Vorgang Daten einzuholen - selbstverständlich in dem Rahmen, den das Gesetz zu Recht vorgibt. Insgesamt halten wir die Ergänzung bzw. Änderung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes auf der Basis der Vorstellungen der Regierungskoalition für praxisuntauglich. Auf die Detailgenauigkeit der vorgesehenen Regelungen kann in den meisten Fällen verzichtet werden, da sich die getroffenen Spezialregelungen in der Regel aus allgemeinen Regeln des Bundeszentralregistergesetzes und des Bundesdatenschutzgesetzes ergeben. Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen beweisen damit erneut, daß sie nicht in der Lage sind, praxistaugliche Gesetze zu entwerfen. ({12}) Ich will jetzt aber ausnahmsweise auf Ihre Gedankenwelt eingehen. Angesichts der Tatsache, daß Sie bei der Ausgestaltung solcher Gesetze detailverliebt sind - das haben Sie bewiesen -, stellen wir fest, daß die Ergänzung bzw. Änderung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes Wertungswidersprüche enthält. Ich will in diesem Zusammenhang auf zwei Beispiele eingehen. Erstens. Wenn man Ihren Gedanken bezüglich der Detailregelungen folgt, muß man folgendes sagen: Die von Ihnen vorgeschlagenen Ergänzungen bzw. Änderungen des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes enthalRonald Pofalla ten einen bedeutsamen Mangel, Herr Kollege Meyer, da eine ausdrückliche Verweisung auf den Richtervorbehalt fehlt. Demnach entscheidet im Rahmen einer Anordnung nach § 81e und nach § 81f der Strafprozeßordnung der Richter nur über eine rein verfahrensbezogene Erforderlichkeit einer DNA-Analyse zum Zweck der Zuordnung des Spermienmaterials bzw. der Feststellung der Abstammung. Damit entscheidet der Richter aber nicht über das Vorliegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung und einer besonderen Wiederholungsgefahr. Da Sie den Bundesdatenschutzbeauftragten, Herrn Dr. Jakob, zitiert haben, tue ich dies ebenfalls. Er hat in seiner Stellungnahme vom 10. März auf den Wertungswiderspruch zu der Intention des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes hingewiesen. Der Verzicht auf die durch einen Richter zu treffende Gefahrenprognose ist vom Bundesdatenschutzbeauftragten deutlich kritisiert worden. Zweitens. Der Straftatenkatalog - wir halten ihn für falsch -, der nach der Vorstellung der Koalitionsfraktionen über 40 Straftatbestände enthält und nach dem ein entsprechender Suchlauf beim Bundeszentralregister veranlaßt werden kann, ist unvollständig und damit lükkenhaft. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, daß nach diesem Straftatenkatalog zum Beispiel Drogendealer und bestimmte bandenmäßig Kriminelle durch einen allgemeinen Suchlauf nicht überprüft werden können. Warum also Drogendealer in den Genuß kommen sollen, nicht in einem Suchlaufverfahren enthalten zu sein, müssen Sie schon selbst der Öffentlichkeit erklären. ({13}) Schließlich ist dieses Gesetz im Rahmen der Beratungen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages durch die Anträge der Koalitionsfraktionen noch praxisuntauglicher geworden. Der Entwurf war bereits praxisuntauglich; Sie haben ihm unserer Auffassung nach in dieser Hinsicht aber noch verschlimmert. Nach der nunmehr im Rechtsausschuß vorgeschlagenen Regelung darf die Registerbehörde die genannten Eintragungen an die Staatsanwaltschaft übermitteln - und jetzt kommt der von Ihnen neu vorgesehene Zusatz -, in deren Zuständigkeitsbereich die letzte Eintragung wegen einer Katalogtat erfolgte. Ausweislich der Begründung soll immer auf die letzte Katalogtat, egal an welcher Stelle sie im Bundeszentralregister steht, abgestellt werden. Damit stellt sich das Problem, ob bei einer beschränkten Übermittlungsbefugnis der letzten eingetragenen Katalogtat an die Staatsanwaltschaft, in deren Zuständigkeitsbereich die Tat eingetragen wurde, die bei ihr eingehenden Daten über eine Person, die zwar von ihr eingetragen wurde, die aber schon lange nicht mehr in ihrem Bezirk wohnt, an die „nähere“ Staatsanwaltschaft weiter gegeben werden dürfen. Wie soll das Verfahren laufen, wenn zum Beispiel der wegen mehrfacher Vergewaltigung verurteilte Straftäter aus München nunmehr nach Hannover oder Erfurt verzogen ist? Dies ist ein Beispiel für etwas, was, glaube ich, in der Praxis häufiger vorkommt. Darüber hinaus ergibt sich die Problematik, daß jede Staatsanwaltschaft selbst für ihren eigenen Bezirk alle einzelnen Katalogtaten, sei es durch eine Gesamtabfrage über alle bisher vorgesehenen 41 Katalogtaten, sei es durch 41 Abfragen über die einzelnen Katalogtaten, wird erfragen müssen, um hinterher dem Vorwurf, gefährliche Täter nicht erfaßt zu haben, begegnen zu können. ({14}) Eine für alle Staatsanwaltschaften zentral vorgenommene Abfrage durch eine Staatsanwaltschaft eines Landes ist nach Ihrem Entwurf schon deshalb ausgeschlossen, weil sich die Übermittlungsbefugnis des Bundeszentralregisters allein darauf beschränkt, den einzelnen Staatsanwaltschaften der letzten eingetragenen Katalogtat die einzelnen Personen mitzuteilen. Aus all diesen Gründen - ich habe mich nur auf einige wenige beschränkt - können wir als CDU/CSUBundestagsfraktion diesem Gesetz in zweiter und dritter Lesung nicht zustimmen. Weil Sie der Überzeugung sind, jedes Detail regeln zu müssen, und so ein Gesetz geschaffen haben, das in der Praxis dazu führen wird, daß wir mit Blick auf die Alttäter keine vernünftige Gendatei werden aufbauen können, ({15}) lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/ Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Pofalla, zunächst zu loben, daß wir es Ihnen zu verdanken haben, daß wir dieses Gesetz am Donnerstag und nicht erst am Freitag verabschieden können, ({0}) dann aber so an der Sache vorbei den Gesetzentwurf zu kritisieren, das verwundert mich schon. Was mich weniger verwundert, ist, daß Sie gegen dieses Gesetz sind, weil wir bei der DNA-Identitätsfeststellungsgesetzgebung anders gearbeitet haben als in der vergangenen Wahlperiode. Das ist richtig. Wir haben sehr präzise Regelungen vorgeschlagen. Wir haben Schluß gemacht damit, daß man den Aspekt der Rechtsstaatlichkeit und die Effizienz der Verbrechensbekämpfung gegeneinander ausspielt. Wir als Koalition sind der Überzeugung, daß sich diese Aspekte nicht widersprechen, sondern vorzüglich ergänzen. Das beweist der vorliegende Gesetzentwurf. ({1}) Die Koalition wird sich von Ihrer Kritik nicht abhalten lassen, eine rationale Kriminalpolitik zu betreiben. Allein die Tatsache, daß wir uns heute zusammenfinden, um diese Materie zu regeln, zeigt, wie schlampig Sie in der letzten Wahlperiode vorgegangen sind. Denn wir schließen hiermit Regelungslücken, die aus der Gesetzgebung der letzten Wahlperiode übriggeblieben sind. ({2}) Wir beheben Mängel und Versäumnisse, die der alten Regierungskoalition im vergangenen Jahr bei der hastigen Verabschiedung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes unterlaufen sind. Es geht bei diesem Entwurf nicht um eine Erweiterung der Gen-Datei. Das muß man der PDS sagen, die den Gesetzentwurf aus ganz anderen Motiven ablehnt. Ziel im Hinblick auf die Datei ist vielmehr eine Erleichterung der Vorbereitung, der Erfassung und der Aufbereitung sogenannter Altfälle, also in der Vergangenheit wegen schwerer Straftaten bereits verurteilter Täter. Darüber hinaus wird endlich für die Datenspeicherung in der zentralen Gen-Datei eine umfassende gesetzliche Grundlage geschaffen, wie es Datenschützer und Bündnisgrüne seit langem anmahnen. ({3}) Ich bin froh, daß uns dies gelungen ist. Noch bei der ersten Lesung Ihres Gesetzentwurfes meinten Sie, Herr Pofalla, wir würden einer Novellierung nicht zustimmen können. Jetzt haben wir erreicht, was wir vier Jahre lang angemahnt haben. Dies betrifft auch die F.D.P.; denn auch der ehemalige Bundesjustizminister wollte dieses Ergebnis erzielen. Das war aber angesichts der Politik der CDU/CSU, Rechtsstaatlichkeit und Verbrechensbekämpfung gegeneinander auszuspielen, nicht möglich und nicht durchsetzbar. Wir haben es jetzt durchgesetzt. Der Entwurf sieht eine Regelung vor, die es dem Generalbundesanwalt erlaubt, Gruppenauskünfte aus dem Bundeszentralregister an Staatsanwaltschaften und an das Bundeskriminalamt zu erteilen, um die Daten von in der Vergangenheit bereits verurteilten Straftätern zu erlangen, bei denen typischerweise eine Genomanalyse in Betracht kommt. Für eine solche systematische Anfrage an das Bundeszentralregister fehlt bislang die Rechtsgrundlage. Eine solche Regelung zu schaffen hatten Sie versäumt. Die Staatsanwaltschaften sind bislang auf die zeitaufwendige Durchsicht ihrer eigenen Akten und Dateien angewiesen. Dies halten wir für zu umständlich und für nicht sachgerecht. Durch dieses Gesetz schaffen wir hier Abhilfe. Die Antwort auf die Frage, ob im Anschluß an eine solche Abfrage eine Aufnahme der Altfälle in die Gen-Datei erfolgt, ist damit noch nicht vorweggenommen. Eine solche Abfrage bedarf in jedem Einzelfall einer weitergehenden staatsanwaltschaftlichen Überprüfung und richterlichen Anordnung. Durch einen Straftatenkatalog wird abgesichert, daß das Bundeszentralregister nicht seinen gesammelten Datenbestand, sondern nur schwere Straftaten an die anfordernden Staatsanwaltschaften übermittelt. Der Fall, den Sie, Herr Pofalla, vorhin geschildert haben, ist natürlich - es tut mir wirklich leid - durch die weiterbestehende Möglichkeit der Einzelabfrage völlig gedeckt. ({4}) Hier besteht keine Regelungslücke und kein Problem. Also bauen Sie hier keine künstlichen Probleme auf! Der Katalog wurde zwischen Bund und Ländern unter Einbeziehung sowohl der Justiz- als auch der Innenministerien abgestimmt. Anknüpfungspunkte sind die Nebenklagedelikte, ergänzt um solche Delikte, bei denen deliktstypisch DNA-Identifizierungsmuster am Tatort gefunden werden - etwa bei Raub, Erpressung oder Sexualdelikten. Zur effektiveren Verfolgung von Gewalt- und Sexualverbrechen hat der Gesetzgeber das Instrumentarium der DNA-Identitätsfeststellung gesetzlich geregelt. Daran sollten wir uns erinnern und uns jetzt nicht uferlos von dem früheren Gesetzgebungsvorhaben und dessen Motiven entfernen. Der Katalog beansprucht jedoch bewußt nicht, die gesamte Bandbreite von Straftaten von erheblicher Bedeutung auszuschöpfen. Die hier anfallenden Datenmengen könnten in absehbarer Zeit überhaupt nicht abgearbeitet werden. Dies wäre also gar keine Hilfe für die Strafverfolgungsbehörden. Es bleibt den Staatsanwaltschaften im übrigen unbenommen, per Einzelanfrage auch andere schwere Straftaten - etwa aus dem Nebenstrafrecht - abzufragen. Wir haben die Regelung auf zwei Jahre befristet; das ist auch sachgerecht. Hiermit stellen wir sicher, daß die Vorschriften tatsächlich nur für die Ermittlung der Altfälle herangezogen ({5}) und nicht von den Staatsanwaltschaften zum dauernden, regelmäßigen Abgleich des Registerbestandes herangezogen werden, wie das in Ihrer Regelung möglich wäre. Wir grenzen den Kreis der auskunftsberechtigten Stellen auf diejenigen ein, die ein objektives Interesse an einer Auskunft haben. Neben dem Bundeskriminalamt sind auskunftsberechtigt nur die Staatsanwaltschaften, in deren Zuständigkeit die letzte Eintragung erfolgte, da diese zugleich für die Durchführung des Verfahrens zur eventuellen Erhebung der DNA-Muster verantwortlich sind. Es ist nicht notwendig, noch weitere Stellen einzuschalten, wie dies der Unionsentwurf vorsieht. Der Kollege Meyer hat es angesprochen. Sämtliche obersten Bundes- und Landesbehörden wären nach Ihren Vorstellungen hier abfrageberechtigt, bis hin zum Landwirtschaftsministerium und zur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. ({6}) - Ich möchte wissen, was ein Gesetz soll, das Möglichkeiten schafft, von denen vernünftigerweise niemand Gebrauch machen kann und Gebrauch machen will. SolVolker Beck ({7}) che Gesetze machen wir nicht. Vielmehr arbeiten wir präzise, und das ist gut so. ({8}) Darüber hinaus beheben wir einen grundlegenden Mangel des geltenden Gesetzes: Wir schaffen endlich eine sämtliche Fälle der Datenerhebung umfassende Regelung für die Erstellung und Nutzung der DNAAnalysedatei durch das Bundeskriminalamt. Denn angesichts der besonderen Sensibilität der Daten halten wir es unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten für nicht länger hinnehmbar, daß in einem laufenden Ermittlungsverfahren erhobene Gen-Daten weiter ohne gesetzliche Grundlage in der zentralen DNA-Analysedatei beim Bundeskriminalamt gespeichert werden. Die Voraussetzungen für Einspeisung der Daten, ihre Verarbeitung und Nutzung und die Auskunftserteilung werden deshalb nun unabhängig von der jeweiligen Rechtsgrundlage der Datengewinnung einer einheitlichen gesetzlichen Regelung zugeführt. Ich möchte Ihnen auch ins Stammbuch schreiben: Das ist für die Strafverfolgung wichtig. Sie haben das Risiko in Kauf genommen, daß zu Unrecht gespeicherte Daten als zentrales Beweismittel bei der Verurteilung eines Sexualstraftäters zugrunde gelegt werden und dieser freigesprochen werden muß, weil die Speicherung nicht gesetzlich geregelt war. Dieses Risiko schaffen wir ab. Insofern ist das Gesetz, wie schon zu Anfang gesagt, ein gutes Gesetz für die Verbrechensbekämpfung und für den Rechtsstaat. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege van Essen von der F.D.P.Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin ohne Manuskript hierhergekommen, weil nicht auch ich noch eine Rede vorlesen will. Ich glaube, daß die Problematik von den Vorrednern deutlich dargestellt worden ist. Es gibt einen Gesichtspunkt, auf den noch einmal eingegangen werden muß. Damit möchte ich beginnen. Wir haben im letzten Jahr die Weichenstellungen vorgenommen, um die DNA-Analyse im Strafprozeß besser verwenden zu können. Es hat damals eine breite Zustimmung gegeben - sowohl bei der CDU/CSU, als auch bei der SPD und bei der F.D.P. -, das so zu regeln, wie es damals vorgelegt worden ist. Wir als F.D.P. haben uns damals damit schwergetan, weil wir eine andere, eine breitere gesetzliche Grundlage haben wollten. Der damalige Bundesinnenminister hat dies leider verhindert, weil er immer wieder behauptet hat, daß alles geregelt sei. ({0}) - Er wollte gar kein Gesetz; Herr Kollege Meyer, Sie haben vollkommen recht. ({1}) Ich kann mich an mehrere Koalitionsrunden erinnern, in denen sogar der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU die Auffassung vertreten hat, daß es einer breiten gesetzlichen Grundlage bedürfe. Aber auch er hat sich nicht durchgesetzt. Ich bedauere es deshalb sehr, daß sich der Bundestag mit bestimmten Materien mehrfach befassen muß, anstatt von vornherein ein wirkliches Meisterstück vorzulegen. ({2}) - Wir haben selber mitgestimmt - ich habe das überhaupt nicht bestritten -, und zwar deshalb, weil uns sehr daran gelegen war, zunächst einmal zu einer Regelung zu kommen. Ich weiß, daß das auch das Motiv für die SPD war.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege van Essen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Geis?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, möchte ich nicht. Denn das Ganze ist überhaupt nicht, auch nicht durch Zwischenfragen, vom Tisch zu wischen. Deshalb möchte ich das auch so im Raume stehenlassen, wie es nun einmal gewesen ist. ({0}) - Es war exakt so; ich erinnere mich noch sehr genau an die Gespräche insbesondere in der Koalitionsrunde. ({1}) Von daher sind wir gut beraten, diesmal mit Augenmaß an die Dinge heranzugehen. Es ist durchaus ungewöhnlich, daß eine Oppositionsfraktion einem Koalitionsentwurf zustimmt. Wir tun das, weil wir der Auffassung sind, daß das, was von den Koalitionsfraktionen nach den Berichterstattergesprächen vorgelegt worden ist, ein vernünftiger Mittelweg ist, der die verschiedenen Interessen in angemessener Weise berücksichtigt. ({2}) Ich darf an eines erinnern, weil das Thema Datenschutz angesprochen worden ist. Es wird sehr schnell gesagt: Datenschutz ist Täterschutz. - Ich halte das für falsch. Datenschutz darf natürlich nie Täterschutz sein. Aber Datenschutz dient auch dem Schutz der Justiz. Wenn wir klare Regelungen der Datenverwendung schaffen, schließt das Mißbrauch aus und führt dazu, Volker Beck ({3}) daß auch die Justiz verantwortungsvoll mit den Daten umgeht. ({4}) Ich denke, daß hier ein Weg gefunden worden ist, genau das sicherzustellen. Auch ein zweiter Aspekt ist mir wichtig - Herr Pofalla hat das kritisiert -, nämlich die Position der Staatsanwaltschaft. Ich persönlich finde es richtig, daß wir eine herausgehobene Verantwortung der Staatsanwaltschaft, und zwar der Staatsanwaltschaft, die sich als letzte mit den Katalogtaten zu befassen hatte, in das Gesetz aufnehmen. ({5}) - Das ist nicht kompliziert, sondern schlicht und einfach vernünftig. Sie wissen, ich selbst komme aus der Staatsanwaltschaft. ({6}) Von daher weiß ich, daß es eine vernünftige Regelung ist, daß das genau dort angesiedelt wird. Die verschiedenen Beispiele machen deutlich, daß wir hier einen vernünftigen Mittelweg gefunden haben. Ich weiß, daß auch Länder, in denen die F.D.P. mitregiert, nicht mit allen Regelungen einverstanden sind. Aber das Fazit war für uns klar und eindeutig: Wir können diesem Gesetzentwurf zustimmen. Damit wird ein Ziel erreicht - das ist für uns das wichtigste -, daß nämlich Straftaten, insbesondere Sexualstraftaten an Kindern, schnellstmöglich aufgeklärt und - was noch besser wäre - nach Möglichkeit verhindert werden. Wenn wir dazu einen Beitrag leisten können, dann ist das das Beste, was wir als Parlament machen können. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die PDS hat bereits in der 13. Wahlperiode sowohl aus grundsätzlichen und insbesondere grundrechtlichen Erwägungen heraus, aber auch wegen rechtstaatlicher Bedenken gegen das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz gestimmt. Auch wenn der von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Gesetzentwurf auf zum Teil mehr Rechtssicherheit bei der Umsetzung des DNA-Gesetzes abzielt, zum Beispiel durch Einführung eines konkreten Straftatenkataloges, wiegen die Gründe für die Ablehnung beider Entwürfe aus unserer Sicht nach wie vor schwerer als mögliche Zustimmungserwägungen. Ich möchte das im einzelnen kurz begründen. Zum einen ändern auch die Erstellung eines Straftatenkatalogs und die gesetzliche Einführung von Anfrage-, Übermittlungs- und Datenabgleichungsbefugnissen nichts an den weiterhin bestehenden Grundrechtsproblemen. Bei der Genanalyse geht es nicht nur um ein neues, modernes Identifizierungsmuster als bloße technische Weiterentwicklung des traditionellen Fingerabdrucks. Es ist nach wie vor nicht auszuschließen, daß der sogenannte genetische Fingerabdruck die Möglichkeit der Erstellung eines umfassenden Persönlichkeitsprofils bietet ({0}) und damit weit über unverwechselbare äußere Merkmale hinausgeht. Nicht von ungefähr warnen eine Reihe von Bürger- und Menschenrechtsorganisationen davor, daß gentechnischer Fortschritt zugleich menschenrechtlichen Rückschritt bedeuten kann. Neben der potentiellen Gefahr einer genetischen Erfassung vieler Bürgerinnen und Bürger wird zu Recht immer wieder davor gewarnt, daß diese Identifizierungsmöglichkeit als Einstieg in eine systematische Verletzung der Integrität von straffällig gewordenen Menschen benutzt werden kann. Art. 1 und 2 des Grundgesetzes schützen die Würde des Menschen und die Freiheit der Person. Nicht der Entwurf von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und schon gar nicht der CDU/CSU-Entwurf sind dazu geeignet, diese potentiellen vom DNA-Gesetz ausgehenden Grundrechtsgefahren zu beseitigen. Dies ist aber gerade die Verantwortung des Gesetzgebers. Wir erkennen dabei aber auch, daß diese Gefährdungsmomente nicht allein durch gesetzgeberische Maßnahmen auszuschließen sind. Im übrigen bedarf es in diesem Zusammenhang expliziter Strafvorschriften gegen den Mißbrauch von genetischem Material. Zum anderen haben wir erhebliche rechtsstaatliche Bedenken zu Einzelfragen. Auch der Gesetzentwurf meiner Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen korrigiert nicht die Erfassung der sogenannten Altfälle, das heißt von Tätern, die ihre Strafe bereits verbüßt haben. Vielmehr ermöglicht er eine Entnahme von Körperzellen, solange die entsprechende Eintragung im Bundeszentralregister noch nicht getilgt ist. Die Schaffung einer solchen Genverbrecherdatei setzt die Betroffenen im nachhinein einem pauschalen Generalverdacht aus, steht dem Resozialisierungsgedanken entgegen und ist potentiell dazu geeignet, dauerhaft Verbrecherpersönlichkeiten zu konstruieren. Sie läuft damit der Achtung der Menschenwürde zuwider, zumal die inhaltlichen Kriterien der Erfassung in Anbetracht der Schwere des Eingriffs zu unbestimmt sind. ({1}) Der jetzt erstellte Straftatenkatalog zeigt zwar das Bemühen um mehr Rechtssicherheit; er ist im Vergleich zur bisherigen Generalklausel ein deutlicher Fortschritt. Kritik wird jedoch zu Recht an der Aufnahme von Delikten wie Vollrausch oder Körperverletzung im Amt geübt. Auch § 129 Strafgesetzbuch hat wegen unserer grundsätzlichen Kritik an dieser Strafbestimmung nichts in dem Katalog zu suchen, da er den Geruch von Gesinnungsstrafrecht hat. Aus diesen Gründen werden wir diesen beiden Entwürfen nicht zustimmen. Danke. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Abschließend hat das Wort die Bundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Pofalla, als ich Ihre Rede gehört habe, habe ich befürchtet, es würde wieder ein Diskussion werden, wegen der uns die Menschen, die Juristen so lieben; denn eine solche Mischung aus Selbstlob, Verriß und Verwirrspiel führt dazu, daß kein Mensch mehr weiß, worum es geht. ({0}) Ich war froh, daß einige der anderen Redner dann noch klargemacht haben, was wir heute hier eigentlich tun. Lassen Sie es mich mit einem Satz sagen: Wir reparieren ein Versäumnis, einen Fehler, der im letzten Jahr - ({1}) - Natürlich. Ich komme gleich noch darauf zu sprechen. Ich will aber erst einmal einen Satz zu Ende sprechen dürfen: Wir reparieren einen Fehler, den Sie in Ihrer Allwissenheit im letzten Jahr hinterlassen haben. Das tun wir innerhalb der ersten zehn Sitzungswochen der Legislaturperiode. ({2}) Ich finde, das sollte sehr deutlich gemacht werden. ({3}) Ich komme jetzt zu dem, was Sie gesagt haben. Lieber Herr Pofalla, ich habe im Gegensatz zu Ihnen überhaupt kein Problem damit, auch einmal anderen, in diesem Fall Ihnen, Lob oder Zustimmung vor die Tür zu legen, wenn es verdient ist. ({4}) Am 24. Juni des letzten Jahres hat der Deutsche Bundestag beschlossen, daß die Nutzung des genetischen Fingerabdrucks in der Strafprozeßordnung verankert werden soll. Auch wenn Sie sich jetzt aufregen: Daß das möglich wurde, lag weniger an Ihnen, als vielmehr auch an Professor Jürgen Meyer, der bereits vorher über viele Jahre die Vorarbeit geleistet hatte. ({5}) Wenn Sie jetzt schon loben, dann seien Sie doch großzügig, und sagen Sie: Ehre, wem Ehre gebührt. Was wollten wir im letzten Jahr? Was haben wir - da haben Sie völlig Recht, Herr Pofalla - auch mit meiner Stimme, mit unseren SPD-Stimmen gemacht? Wir wollten erreichen, daß alles getan wird, was getan werden kann, um sicherzustellen, daß die schrecklichen Verbrechen, wie sie in den letzten Jahren insbesondere an Kindern verübt worden sind, möglichst schnell aufgeklärt werden können. Dazu dienen diese neuen Möglichkeiten mit dem genetischen Fingerabdruck. Wir haben damals gewarnt - ich brauche darauf nicht mehr besonders einzugehen -, daß im damaligen HuschHusch-Verfahren und mit den ideologischen Verkrampfungen damals - Herr van Essen hat darauf hingewiesen - eine vernünftige Rechtsgrundlage nicht geschaffen werden konnte. Darüber ist die Regierung damals hinweggegangen. Der Vorwurf der Arroganz wäre da richtig und angemessen gewesen. ({6}) Warum, meine Damen und Herren? Nicht - Herr Pofalla, ich glaube, das ist ein Punkt, der hier klarwerden muß -, weil es nach Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht möglich gewesen wäre, bei Tätern Genproben zu entnehmen, die wegen einer erheblichen Straftat bereits rechtskräftig verurteilt worden sind, falls die entsprechende Eintragung dieser Straftat im Bundeszentralregister noch nicht getilgt ist, sondern einfach deswegen, weil die dafür nötige Auswertung von erheblichen Aktenbeständen bei den zuständigen Länderbehörden in der Praxis zu aufwendig wäre. Nachdem man das in den Ländern festgestellt hat, sind sie gekommen und haben gesagt: Wir brauchen eine Reparatur. Diese Reparatur, meine Damen und Herren, habe ich ihnen im letzten November bei der Justizministerkonferenz zugesagt. Wir haben diese Reparatur in einen Gesetzentwurf der Bundesregierung eingebracht, da haben Sie völlig recht. ({7}) - Natürlich liegt er vor. ({8}) Wenn Sie nicht ganz so schnell wären, dafür gelegentlich aber noch ein bißchen rechnen würden, dann würden Sie feststellen, daß es grundgesetzliche und geschäftsordnungsmäßige Fristen gibt. Wenn die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorschlägt und einbringt, hat der Bundesrat ein Recht, darüber zu beraten. Erst dann kommt der Entwurf in den Bundestag. Aber das wissen Sie ja aus den letzten 16 Jahren. Das hat sich auch nicht verändert. Damit ich Sie wieder versöhne: Sie haben in einem Punkt recht. Es war völlig richtig, auch von Ihnen als Opposition - lassen Sie mich sagen, diese Rolle spielen Sie vorzüglich -, ({9}) auf ein schnelleres Verfahren zu drängen. Deswegen bin ich den Koalitionsfraktionen sehr dankbar, daß sie den DNA-Teil des StVÄG herausgelöst und in einem Koalitionsentwurf übernommen haben und daß wir jetzt in der Lage sind, ihn heute nicht nur abschließend zu beraten und zu beschließen, sondern ihn auch möglichst schnell in Kraft treten zu lassen. Die Länder haben jetzt den Nutzen davon. Es besteht nun die Möglichkeit, den Datenbestand des Bundeszentralregisters auf einfachere Weise zur Verfügung zu stellen und damit die Strafverfolgung zu verbessern. Genau das tun wir. Genau das wollen wir. Wenn Sie dafür stimmen, finde ich das prima. Dann können wir - diesen Vorschlag darf ich an die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen richten - diesen Teil der Unterstützung von seiten der Opposition durchaus honorieren. Ich finde aber, Herr Pofalla, Sie sollten dann sozusagen im Gegenzug auch zugeben, daß Sie in den Punkten, in denen sich Ihr Gesetzentwurf von dem der Koalitionsfraktionen unterscheidet, sachlich nicht recht haben, ({10}) und zwar aus folgenden Gründen. Der erste Punkt - darauf ist schon hingewiesen worden -: Die Erhöhung der Sicherheitsstandards muß keineswegs mit der Aufgabe oder Verwässerung des rechtsstaatlich Gebotenen erkauft werden. Datenschutz und Sicherheit sind keine sich ausschließenden Gegensätze. Wenn Sie das aber nicht verstehen - ich habe die ganze Zeit gehört, daß Sie an dieser Grundfrage immer noch herumdiskutieren -, dann lassen Sie sich sagen: Die Sozialdemokraten, die Freien Demokraten - ich bin dankbar, daß sie das auch so sehen - und die Grünen sowieso, wir alle werden darauf drängen, daß eine Erhöhung der Sicherheitsstandards mit Rechtsstaatlichkeit und auch Persönlichkeitsschutz - in diesem Rahmen auch Datenschutz - vereinbar gemacht werden. Das ist genauso notwendig wie die Vereinbarung von Gerechtigkeit und Modernisierung in unserem Land. ({11}) Der zweite Punkt: Ein Blick auf die Bedeutung dieser Reparatur hätte Sie schnell zu der Antwort auf die Frage geführt, welche Stellen die betreffenden Daten überhaupt benötigen. Dann wären Sie sehr schnell darauf gekommen, daß der Einwurf des Kollegen van Essen richtig und nicht mit dem Satz zu beantworten war, er sei ja bei der Staatsanwaltschaft gewesen; das erschwere die Angelegenheit nur. Die Staatsanwaltschaften sind zur Strafverfolgung berufen. Sie sind ebenfalls zur Anordnung von DNAProben berufen. Also war es sinnvoll, praktisch und richtig, die Staatsanwaltschaften jetzt nicht nur zu ermächtigen, sondern sie schließlich dafür zu bestimmen. Daß das Bundeskriminalamt ebenfalls zu den abfrageberechtigten Stellen gehört, ist nicht ideologisch begründet, sondern richtig, weil dort die Haftdatei angesiedelt ist. Das macht also wirklich Sinn. Der dritte Punkt ist der Straftatenkatalog. Ich glaube, daß man auch darüber nicht so ideologisch eifern muß. Jeder weiß, daß mit diesem Straftatenkatalog keine abschließende Definition etwa der „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ geliefert worden ist. Das steht übrigens auch ausdrücklich in der Begründung des Gesetzentwurfes. Sollte der Straftatenkatalog in einem der Punkte - es müßte dann im einzelnen nachgewiesen werden, daß das eine Rolle spielt - erweitert werden müssen, dann besteht dazu die Möglichkeit. Außerdem gibt es die Einzelsuche auf dem traditionellen Weg. Das heißt, es gibt hier kein Problem. Wir gehen nicht unter dem Aspekt vor: Was sagt meine Ideologie, was muß ich deshalb hineinschreiben? Vielmehr fragen wir: Was ist erforderlich, was brauchen wir zur Erhöhung der Sicherheitsstandards und gleichzeitig zur Beachtung des rechtsstaatlich und grundgesetzlich gebotenen Datenschutzes? Deswegen ist die Form, die wir gewählt haben, sachgemäß. Der vierte Punkt: Ich habe nicht verstanden, warum Sie die Befristung kritisiert haben. Es handelt sich um einen Suchlauf im Bundeszentralregister. Selbst wenn ich verstanden hätte, was Sie daran zu kritisieren haben, Herr Pofalla, müßte ich Ihnen sagen: Man muß doch schon deswegen für eine Befristung sein, weil sie vor allem der Beschleunigung der Abfragen durch die Staatsanwaltschaften und das Bundeskriminalamt dient. Eben wegen dieser Befristung kann den Abfragen Nachdruck verliehen und können die Daten schnell zur Verfügung gestellt werden. Dadurch kann die Strafverfolgung auch entsprechend schneller funktionieren. Deswegen ist die Befristung sachgerecht. Ich denke, das müßte doch auch Ihnen einleuchten. Lassen Sie mich zusammenfassen: Es handelt sich um ein Reparaturgesetz; und es wäre gut gewesen, wenn man gar nicht erst hätte reparieren müssen. Ich wiederhole das in ganz mildem Ton und nicht etwa als Vorwurf, obwohl Sie lange genug Zeit gehabt hätten, alles gleich vernünftig zu machen. Wir reparieren in ganz kurzer Zeit, und zwar nach den Grundsätzen, die die Praxis braucht, gleichzeitig aber so, daß die Sicherheitsstandards unter Achtung des Persönlichkeits- und des Datenschutzes und damit eines tragenden Elements des Rechtsstaatsprinzips erhöht werden. Ihre Zustimmung ist also nicht nur geboten, sondern auch sinnvoll. Ich fände es prima, wenn sich dem auch die bisher kritischen Kolleginnen und Kollegen der Union anschließen könnten. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des DNAIdentitätsfeststellungsgesetzes, Drucksachen 14/445 und 14/658 Buchstabe a. Ich bitte diejenigen, die dem GeBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin setzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und der PDS-Fraktion und bei Zustimmung von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der F.D.P. ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei den gleichen Mehrheitsverhältnissen in dritter Lesung angenommen. ({0}) Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Ergänzung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes, Drucksachen 14/43 und 14/658 Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. angenommen. Interfraktionell ist vereinbart, den Tagesordnungspunkt 7 sowie die Zusatzpunkte 5a und 5b - Beratung der Anträge zu feierlichen Gelöbnissen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit - von der Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Rauschtaten-Strafschärfungsgesetz - Drucksache 14/545 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({1}) Innenausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Immer wieder kann man in den Zeitungen lesen, in den Medien hören und sehen, daß ein Rauschtäter eine schwere Tat begeht, aber nicht nach der Schwere seiner Tat, sondern nach seinem Rauschzustand bestraft wird. Es gibt ein Mißverhältnis zwischen der Schwere der Tat und der darauf folgenden Strafe. Zum Beispiel begeht in Berlin bei einer Sportveranstaltung ein volltrunkener Zuschauer einen Mord an zwei Mitzuschauern und wird dafür am Schluß zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, weil im § 323a StGB nur ein Höchststrafrahmen von fünf Jahren vorgesehen ist. Ein weiteres Beispiel: In Berlin schießt ein volltrunkener Autofahrer mit 3,4 Promille im Blut auf einen Polizeibeamten, trifft ihn tödlich und verletzt zwei weitere Polizeibeamte schwer. Der 34jährige Polizeibeamte hinterläßt Frau und drei Kinder. Am Ende kann - ich sage ganz bewußt: kann - der Täter nur mit fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft werden, weil das der maximale Strafrahmen ist. Dieses krasse Mißverhältnis von Tat und Strafe erregt Aufsehen und verunsichert auch die Bevölkerung. Es treten auch Zweifel auf, ob die Strafgerichtsbarkeit in diesen Fällen noch wirklich als Ordnungsmacht angesehen werden kann. Deshalb sind wir der Meinung, daß wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie dieses Mißverhältnis beseitigt werden kann. Über die zwei Beispiele, die ich gerade genannt habe, mag man sagen, daß sie an den Haaren herbeigezogen, daß sie von den Zeitungen besonders hochgepuscht worden und nur Einzelfälle seien. Dem ist aber nicht so. Jährlich werden in der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit einer Rauschtat ungefähr 5 000 bis 6 000 Urteile gefällt. Das ist nicht wenig. Deswegen machen sich Richter, Staatsanwälte und Politiker Gedanken darüber - auch in der Literatur lassen sich solche Überlegungen finden -, wie diese Verhältnisse geändert werden können. Die SPD selbst hat 1993 hier im Bundestag in einer Anfrage zur Strafrahmenharmonisierung vorgeschlagen, den Strafrahmen für Rauschtaten zu verändern. Das Land Berlin hat bereits einen entsprechenden Gesetzentwurf im Bundesrat eingebracht, der aber dort steckengeblieben ist. Wir gehen bei unserem Entwurf, wie ich meine, von einem neuen Ansatz aus. Bislang wird darüber diskutiert, den Strafrahmen des § 323a StGB, also den Rahmen für die Bestrafung einer im Vollrausch begangenen Tat, von fünf auf zehn Jahre zu erweitern. Dabei soll auch nach unseren Überlegungen nach wie vor daran festgehalten werden, daß nicht die im Rausch begangene Tat, sondern der Rausch selbst bestraft wird, wie das auch jetzt schon im Gesetz vorgesehen ist. § 323a StGB bezieht sich ja auf den Rausch und nicht auf die Tat. Die Tat kann nicht der Grund für den Schuldvorwurf sein, weil sie ja im besinnungslosen Zustand begangen wird. Wohl aber ist die Tat der Anlaß für die Strafbarkeit. Sie ist die Bedingung für die Strafbarkeit. Wir kennen ja auch andere solche Fälle im Strafgesetzbuch. Weil dies so ist, meinen wir, daß man auch an den Strafrahmen für die im Rausch begangene Tat anknüpfen sollte und den Strafrahmen des § 323a StGB aufgeben sollte. Man sollte sich also an den Strafrahmen für die jeweils im Rausch begangene Tat halten, natürlich unter Einbeziehung einer zwingend vorgeschriebenen Milderung gemäß § 49 des Strafgesetzbuches. Vizepräsident Dr. Hermann-Otto Solms Auf diese Weise würde man erreichen, daß ein Mord, der im Rausch begangen wird, nach dem für diese Tat vorgesehenen Strafrahmen bestraft wird und nicht mehr nach dem Strafrahmen des § 323a StGB, der maximal fünf Jahre beträgt. Eine schwere Körperverletzung würde dann nach dem Strafrahmen für schwere Körperverletzungen und Einbruchsdiebstahl nach dem jeweils dafür vorgesehenen Strafrahmen beurteilt werden. Damit folgen wir, so glauben wir jedenfalls, der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, die schon immer bei der Bestrafung des Rauschtäters von der Tat ausgegangen ist, die im Rausch begangen worden ist, und insofern schon immer zwischen Tat und Rausch differenziert hat. Wir meinen auch, daß es den Erwartungen und dem Rechtsgefühl der Bevölkerung entspricht, wenn man nicht von dem Strafrahmen eines starren Gefährdungsdeliktes, sondern vom Strafrahmen für die jeweils begangene Tat ausgeht. Wir glauben, daß dies nicht im Widerspruch zu der Vorstellung steht, man müsse an der Rauschtat selbst an § 323a StGB festhalten. Daran wollen wir nach wie vor festhalten. Nur, wir bilden die Strafe für eine solche Tat nicht mehr auf Grund des Rausches selbst, sondern auf Grund der im Rausch begangenen Tat. Das ist, wie ich meine, der neue Ansatz. ({0}) - Die Schuld liegt nach wie vor im Rausch, sie kann nicht in der jeweiligen Tat liegen. Herr Ströbele, sie kann deshalb nicht in der Tat liegen, weil die Tat, wie ich bereits gesagt habe, in besinnungslosem Zustand begangen wird. Der Schuldvorwurf ergibt sich aus dem Rausch, und der Rausch ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt, um einmal in der Fachsprache zu reden. Bei der Strafzumessung aber gehen die Gerichte jetzt schon von der Schwere der Tat aus. Wenn sie zum Beispiel Strafen bis zu fünf Jahren Haft verhängen, gehen sie von der Schwere der Tat aus. Wir wollen diese Fünfjahresgrenze sprengen und, generell festgelegt, vom Strafrahmen der jeweils im Rausch begangenen Tat ausgehen. Das ist unser neuer Ansatz. Wir meinen, daß wir dadurch das krasse Mißverhältnis, das in der Rechtsprechung immer wieder auftritt, beseitigen können. Wir meinen, mit unserem Gesetzentwurf einen Diskussionsbeitrag geliefert zu haben. Dies ist schließlich ein Thema, dem wir uns zu widmen haben und dem sich der Bundesrat ebenfalls widmet. Es gibt inzwischen einen Gesetzentwurf, der von Bayern und Berlin erstellt worden ist. Berlin ist von seinem ursprünglichen Gesetzentwurf abgegangen und wendet sich den Gedanken zu, die ich gerade vorzutragen versucht habe. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun der Kollege Dirk Manzewski, SPD.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! § 323 a StGB bedroht den schuldhaft herbeigeführten Rausch als abstraktes Gefährdungsdelikt mit Strafe. Grund für die Strafbarkeit ist die Gefährlichkeit des Rausches. Der hier diskutierte Gesetzentwurf der CDU/CSU will die eigenständige Strafandrohung des Vollrausches entfallen lassen und den Täter mit der Strafe bestrafen, die für die im Rausch begangene Tat angedroht ist. Zur Begründung wird ausgeführt, daß mit dem Tatbestand des Vollrausches die Fälle nicht angemessen geahndet werden könnten, in denen besonders schwere Straftaten begangen würden. Es sei einfach nicht länger hinnehmbar, daß etwa dem Amokläufer, der im Vollrausch andere Menschen lebensgefährlich verletze oder gar töte, allenfalls eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren drohe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Vollrauschtatbestand gehört zu den dogmatisch schwierigsten Vorschriften des Strafgesetzbuches. Die hieraus resultierenden Probleme sind altbekannt und haben gerade - Kollege Geis hat zu Recht darauf hingewiesen - in den letzten Jahren durch spektakuläre Fälle zusätzlich Nahrung erhalten. Ich nehme den Fall aus Berlin auf - Kollege Geis hat ihn bereits genannt -, bei dem ein völlig betrunkener Autofahrer mit fast 4 Promille Alkoholkonzentration im Blut von der Polizei angehalten wurde und sofort das Feuer auf die Polizisten eröffnete. Einer von ihnen starb, zwei andere wurden erheblich verletzt. Die Bekämpfung der Gewaltkriminalität stellt - darin sind wir uns sicherlich alle einig - ein zentrales gesellschaftliches Anliegen dar. Alkohol- und Drogenmißbrauch stehen oft in engem Zusammenhang mit Gewaltkriminalität und sind häufig ursächlich für diese. Ich kann daher durchaus verstehen, daß in der Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang die Forderung nach einer höheren Bestrafung solcher Täter erhoben wird; denn es handelt sich gerade hierbei um einen besonders sensiblen Bereich, der die Sicherheitsbelange der Bevölkerung in besonderem Maße betrifft. Ich habe jedoch erhebliche Bedenken, ob der Gesetzentwurf der CDU/CSU der richtige Ansatzpunkt zur Lösung dieser Probleme ist. ({0}) Ich habe sie vor allem deshalb, weil die begehrte Regelung eine Ausnahme von den grundsätzlichen Folgen einer Schuldunfähigkeit im Sinne von § 20 StGB darstellen würde. Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 20 StGB kann - so ist es nun einmal im Gesetz verankert - ein Täter mangels Schuld nicht bestraft werden. § 323a StGB erfaßt nun gerade die Fälle, in denen der Täter für eine Straftat nicht zur Verantwortung gezogen werden kann, weil er eben im Zustand der Schuldunfähigkeit gehandelt hat bzw. dies nicht ausgeschlossen werden kann. § 323a StGB steht dabei selbst nicht im Widerspruch zu § 20 StGB, weil § 323a StGB die schuldhafte Herbeiführung des Rauschzustandes und nicht die im Rausch sodann begangene Tat bestraft. Herr Kollege Geis, da aber die schuldhafte Herbeiführung des Rauschzustandes und nicht die im Rausch sodann begangene Tat für § 323 a StGB maßgeblich ist, wäre es nach meiner Auffassung systemwidrig und dogmatisch bedenklich, den Strafrahmen gleichwohl der Vorschrift zu entnehmen, welche die im Rausch begangene Tat selbst regelt. ({1}) Gerade dies ist doch nicht gewollt gewesen. Der Grundgedanke des § 323a StGB wäre quasi ausgehöhlt, und § 20 StGB wäre ad absurdum geführt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies würde nach meiner Auffassung einen Bruch mit dem unserem Strafrechtssystem immanenten Schuldprinzip bedeuten. ({2}) Hieran ändert auch nichts, daß den Besonderheiten des Vollrausches durch eine obligatorische Strafmilderung nach § 49 StGB Rechnung getragen werden soll: zum einen, weil der Gesetzgeber auch in den Fällen, in denen eine Strafmilderungsmöglichkeit sanktioniert ist, grundsätzlich zumindest von verminderter Schuldfähigkeit, nicht aber von Schuldunfähigkeit ausgeht, zum anderen, weil die Unterschiede zwischen § 20 StGB und § 21 StGB, welcher bei verminderter Schuldfähigkeit demgegenüber ja gerade ausdrücklich eine Strafmilderung gemäß § 49 StGB vorsieht, völlig aufgelöst werden würden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies zeigt, daß der strittige Gesetzentwurf nach meiner Auffassung nicht heilbare Schwächen aufweist. Dies muß um so mehr verwundern, als dieser Entwurf - Kollege Geis, Sie haben selbst darauf hingewiesen, allerdings in einem anderen Zusammenhang - auf einen Vorschlag Bayerns hin bereits im Jahre 1997 über den Unterausschuß des Rechtsausschusses des Bundesrates nicht hinausgekommen ist. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die CDU/CSU in ihrem Gesetzentwurf auf die damals geäußerten Gegenargumente eingegangen wäre. Leider hat sie dies nicht getan. ({3}) Ich selbst würde es zur Lösung der Probleme für sachgerechter halten, den Wesensgehalt der Vorschrift nicht anzugreifen, sondern § 323a StGB in seiner Ausformung weiterzuentwickeln. Dies könnte durchaus dadurch realisiert werden, daß der Schwere der Rauschtat bereits im Gesetz stärkeres Gewicht verliehen wird, allerdings nicht auf dem von Ihnen beschrittenen Wege, sondern im Kontext. In diesem Zusammenhang würde ich mir deshalb auch nicht allein § 323a StGB herausgreifen, sondern nach einer umfassenden Lösung suchen. Dies sollte dann im Zusammenhang mit der Überprüfung des gesamten Besonderen Teils des Strafgesetzbuches auf Reformbedarf erfolgen. ({4}) - Herr Kollege Geis, wir werden diesen Weg beschreiten. Ich hoffe, daß Sie uns auf diesem Weg konstruktiv begleiten werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Manzewski, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Rede vor dem Deutschen Bundestag. ({0}) Als nächster Redner hat der Kollege van Essen von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann es mir erneut relativ einfach machen, weil der Kollege Manzewski Bedenken vorgetragen hat, die von uns geteilt werden. ({0}) Wir sehen den Lösungsansatz in gleicher Weise. Erlauben Sie mir trotzdem, noch ein paar zusätzliche Gedanken zu äußern. Nachdem Deutschland wiedervereinigt worden ist, ist mir aufgefallen, daß kaum ein Thema von den Bürgern in den neuen Ländern so intensiv angesprochen worden ist wie der Umgang mit Rauschtaten im Westen. Das Verständnis dafür hat dort ganz außerordentlich gefehlt; denn die DDR hatte eine völlig andere Tradition. Der Strafrahmen ist jeweils dem Gesetz, das verletzt worden ist, entnommen worden. ({1}) - Ja, genau. - Ich habe gemerkt, daß das von Bürgern, die rechtsstaatlich durchaus empfindsam waren, als gerecht empfunden worden ist. Es hat immer ganz erheblicher Überzeugungsarbeit bedurft, klarzumachen, warum wir die Dinge so regeln, wie wir sie geregelt haben. Ich glaube, dieser Verpflichtung unterliegen wir weiterhin; aber es gibt durchaus Einzelfälle - insofern muß ich dem Kollegen Geis recht geben -, bei denen man das Gefühl hat, daß das, was als Ergebnis herauskommt, nicht unbedingt der Gerechtigkeit entspricht. Wir merken auch, daß verschiedene Urteile des Bundesgerichtshofes, sowohl was „actio libera in causa“ als auch die Voraussetzungen einer verminderten Schuldfähigkeit anbelangt, deutlich machen, daß sich die Dinge in diesem Bereich im Fluß befinden. Deshalb finde ich es richtig, daß wir uns damit befassen. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß wir uns mit diesem Bereich - herausgehoben - etwas früher als mit einer Bestandsaufnahme, wie der Kollege Manzewski vorgeschlagen hat, im Bereich des Besonderen Teils befassen, weil wir hierauf durchaus Antworten geben müssen. ({2}) Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist dazu jedenfalls bereit. Wir wollen aber die Grundprinzipien des Strafrechts nicht aufgeben, die sich nach unserer Auffassung bewährt haben. Wir müssen in diesem Rahmen eine vernünftige Lösung suchen. Dazu bieten wir unsere Mitarbeit an. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Hans-Christian Ströbele von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich den letzten Worten in dem Sinne anschließen, daß wir wichtige, nach langen Kämpfen erworbene und in das Strafgesetzbuch aufgenommene Prinzipien nicht einfach so über Bord werfen dürfen. Es ist richtig, daß das Problem „Strafe trotz Rausch“ uralt ist; es hat schon Thomas von Aquin beschäftigt. In unserem Gesetz gibt es die Regelung, daß bei einem Rausch, der zur Schuldunfähigkeit führt, nach § 20 StGB eigentlich gar keine Bestrafung möglich ist. Mit § 323a StGB ist dann ein Auffangtatbestand geschaffen worden. ({0}) - Genau. Wenn man Ihren Überlegungen folgt und den § 323a StGB streicht - ({1}) - Mit § 323a StGB als Auffangtatbestand, als Gefährdungstatbestand wird nach dem Schuldstrafrecht bestraft, wer sich so betrinkt oder andere Rauschmittel nimmt, daß er in diesem Zustand eine Straftat begeht. Darin besteht die Schuld, die eine Person auf sich lädt. Es handelt sich letztlich um die Vorverlagerung des Strafgrundes. Wenn man Ihren Gedanken zu Ende denkt - Sie verlangen, daß wir die Strafe aus den §§ 211, 212 und 250 StGB, also aus den schweren Straftaten, ableiten -, dann könnte man dazu kommen, § 323a einfach zu streichen und zu sagen: Auch die hiervon Betroffenen sollen wegen Mordes nach § 211 StGB oder wegen Totschlags nach § 210 StGB bestraft werden. Wenn das gelingt, dann könnte man versuchen, in § 20 StGB hinsichtlich der Frage der Schuldfähigkeit ein Korrektiv einzufügen. ({2}) Das, was Sie uns hier vorschlagen, ist in der Tat systemwidrig, weil Sie nicht auf die Schuld abstellen. Die Schuld besteht eben nicht darin - um es ganz drastisch zu sagen -, daß ein Mann mordet, totschlägt, raubt, randaliert oder etwas ähnliches tut; vielmehr besteht die Schuld darin, daß sich jemand betrinkt und dann eine Straftat dieser Qualität begeht. Mit anderen Worten: Wer sich in dem Maße betrinkt, daß er so etwas macht, der muß bestraft werden. In diesem Fall ist eine Strafe in Höhe von drei bis fünf Jahren Haft, gemessen an der eigentlichen Schuld - jemand hat sich, verkürzt gesagt, nur betrunken - , schon relativ hoch. Auch in der heutigen Rechtsprechung richtet sich die Strafe in der Tat nach dem „Erfolg“, das heißt nach dem Tatbestand, den eine Person verwirklicht hat. Das ist auch richtig und entspricht dem sonstigen Strafrecht, wonach der „Erfolg“, also das, was das Ergebnis einer Straftat ist, bei der Strafzumessung eine Rolle spielt. Das ist auch in anderen Bereichen so. ({3}) Rechtssystematisch sollte es dabei bleiben, daß wir sagen: Die Leute, die schuldunfähig einen Tatbestand verwirklicht, ein Delikt begangen haben, werden für die Begehung eben dieses Delikts nicht bestraft. Sie sehen darin eine Ungerechtigkeit, von der auch immer wieder in der Zeitung zu lesen ist. Es gibt viele Fälle - wenn Sie einmal nicht den Rauschtäter nehmen; der Auffangtatbestand des § 323a StGB ist ja nur für die Rauschtäter -, in denen jemand einen anderen totschlägt, ermordet oder beraubt, dafür aber, weil er aus anderen Gründen schuldunfähig ist, nicht bestraft wird, mit einem Freispruch nach Hause geht oder, wenn er weiterhin gefährlich ist, eingewiesen wird, um - das ist solchen Fällen der Grund dafür - die Gesellschaft vor ihm zu schützen. Wenn man in die Begründung Ihres Gesetzentwurfs hineinguckt, dann stellt man fest, daß es eigentlich noch schlimmer wird. Da geben Sie nicht nur das Schuldstrafrecht auf, sondern Sie stellen sogar andere wichtige Grundsätze unseres Strafrechts in Frage, ({4}) zum Beispiel den Grundsatz „in dubio pro reo“, weil Sie letztlich den Vorwurf erheben, es werde gar nicht richtig festgestellt, ob jemand wirklich schuldunfähig sei oder nicht, sondern es werde einfach nur hochgerechnet und gesagt: Bei dem Promillegehalt ist jemand in der Regel schuldunfähig, und deshalb wird die Vorschrift angewendet. ({5}) Das ist, Herr Kollege Geis, ein weiterer Bruch mit unserem Rechtssystem. Ich möchte auch diesen Grundsatz nicht aufgeben. Deshalb schlage ich vor, sich an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu orientieren, der sich bei der Frage „actio libera in causa“ in der Entscheidung vom August 1996 durchaus Gedanken darüber gemacht hat, daß das da nicht weitergeht. Für die Laien sage ich einJörg van Essen mal: Wenn sich jemand in einen Rausch versetzt, um eine Straftat zu begehen, weil er sich sagt: „Das geht dann einfacher; dann mache ich das lockerer“, dann wird er, wenn es sich um einen Mord oder Totschlag handelt, nach den dafür geltenden Paragraphen bestraft. Der Bundesgerichtshof aber sagt, daß das zum Beispiel bei Rowdytum im Straßenverkehr nicht gilt; denn er sagt, daß diese Vorverlegung der Schuld grundgesetzwidrig ist. Er hat den Gesetzgeber aufgefordert, in § 20 StGB eine entsprechende Regelung vorzusehen. Deshalb schlage ich vor, daß wir uns im Rahmen von Koalitionsgesprächen und dann auch im Ausschuß darüber verständigen, wie wir zu einer Regelung kommen, mit der wir dem Petitum des Bundesgerichtshofs, zu einer besseren Regelung hinsichtlich der „actio libera in causa“ zu kommen, Rechnung tragen. In diesem Zusammenhang regeln wir dann auch die Fälle grober Ungerechtigkeit, die es natürlich gibt. Ich kenne noch einen anderen bekannten Fall, den Fall Bubi Scholz. Dieser hat in Berlin im trunkenen Zustand durch die Tür in die Toilette geschossen, in der seine Frau war, die anschließend tot war. Auch da gab es einen öffentlichen Aufschrei, daß es ungerecht sei, wenn er nicht nach Totschlags- oder ähnlichen Vorschriften bestraft werde. Lassen Sie uns das also in diesem Zusammenhang regeln, aber bitte nicht so, wie Sie es vorschlagen, nämlich daß wir einfach sagen: Wir wischen das alles weg, ({6}) was normalerweise für die Beurteilung der Schuld entscheidend ist und bestrafen - nur mit ein bißchen Milderung - nach § 49 StGB. Lassen Sie uns vielmehr eine wirklich vernünftige, gut durchdachte, an der Rechtsprechung des BGH und des Bundesverfassungsgerichts orientierte Neuregelung finden, die gerecht ist und durch die von den wichtigen Grundsätzen des Strafrechts nichts aufgegeben wird. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bekanntlich geht unsere Fraktion nicht nach der Maxime vor, sämtliche parlamentarischen Initiativen nur deshalb von vornherein abzulehnen, weil sie von der - von uns aus gesehen - rechten Opposition kommen, und dann dafür auf Teufel komm raus eine Begründung zu basteln. Wir bewerten auch diesen Gesetzentwurf zur Änderung des § 323a StGB vielmehr ausschließlich nach politischen und inhaltlichen Kriterien. Das führt dann in aller Regel auf Grund der politisch zumeist weit auseinandergehenden Auffassungen zur Ablehnung, insbesondere auch im Strafrecht. Denn der von der PDS verfolgte Grundansatz einer Demokratisierung beißt sich natürlich mit dem immer wieder von der CDU/CSU zu hörenden schnellen und einseitigen Ruf nach schärferen und höheren Strafen als politischem Allheilmittel und Wunderwaffe gegen die steigende Kriminalität. Von dieser Regel gibt es jedoch, wie immer im Leben, auch Ausnahmen. Dazu könnte auch der vorliegende Entwurf zählen, wobei ich die meines Erachtens zu populistische und zu einseitige Begründung ausdrücklich ausklammern möchte. Wir werden diesen Entwurf einer genauen Prüfung unterziehen. Meines Erachtens verdient er jedoch nicht unbedingt die von Ihnen gewählte Bezeichnung Rauschtaten-Strafschärfungsgesetz. Das impliziert eine Heraufsetzung von Strafen, um die es in diesem konkreten Fall jedoch gar nicht so sehr geht. Das Problem ist vielmehr die Tatsache, daß nach der jetzigen Rechtslage jemand, der sich schuldhaft in einen Vollrausch versetzt und in diesem Zustand der Schuldunfähigkeit eine schwere Straftat begeht, zum Beispiel schweren Raub, schwere Delikte gegen Leib und Leben, eine auf maximal fünf Jahre bemessene Strafe bekommt, also eine wesentlich geringere Strafe als beispielsweise ein nüchterner Täter. Diese Regelung wird deshalb von der Öffentlichkeit als Gerechtigkeitslücke empfunden und sowohl von der Rechtspraxis als auch von Teilen der Rechtswissenschaft erheblich kritisiert. Die vorgeschlagene Lösung, schuldunfähige Täter im Vollrausch nach demselben Strafrahmen wie andere Täter zu bestrafen, ist daher keine Strafverschärfung im eigentlichen Sinne, sondern schließt tatsächlich eine bis dato bestehende Gerechtigkeitslücke. Sie geht zumindest in diese Richtung und könnte unter Umständen eine ungerechtfertigte Besserstellung der betroffenen Täter beseitigen. Durch die Aufnahme einer obligatorischen Strafrahmenverschiebung nach § 49 Abs. 1 StGB wird zugleich den Besonderheiten der Tatbegehung in gewissem Umfang Rechnung getragen. Hinzu kommt - das hat auch der Kollege van Essen bereits erwähnt -, daß in der DDR ausgebildeten Juristen die vorgeschlagene Regelung nicht ganz neu ist. Gemäß § 15 Abs. 3 Strafgesetzbuch der DDR wurde, wer sich schuldhaft in einen Zustand der Zurechnungsunfähigkeit, also einen die Zurechnung ausschließenden Rauschzustand, versetzte und in diesem Zustand eine mit Strafe bedrohte Handlung beging, nach dem verletzten Gesetz bestraft. ({0}) Auch wenn ich nicht wenige Strafbestimmungen und insbesondere die Strafpraxis der DDR heute kritisch bewerte, ist es für mich doch interessant, lieber Kollege Geis, daß in Ihren strengen Augen zumindest eine Regelung des DDR-Strafgesetzbuches in ihrem Kerngehalt den rechtsstaatlichen Elchtest bestanden hat und zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, wenn auch sicher ungewollt und mit einiger Verzögerung, zum gesamtdeutschen Leben erweckt werden soll. ({1}) Damit geht die Opposition in meinen Augen wirklich konstruktiv und unvoreingenommen an die Arbeit heran. ({2}) Allerdings möchte ich meinen Beitrag nicht schließen, ohne ausdrücklich auf das zunehmende Drogenproblem insbesondere bei den sogenannten legalen Rauschmitteln hinzuweisen. Für dieses gesellschaftliche Massenphänomen, mit dem zunehmend schwere Gewaltkriminalität einhergeht, wird auch die vorliegende Gesetzesänderung keine Lösung bringen. Hierzu sind grundlegende sozialpolitische Kurskorrekturen und eine andere Einstellung der Bevölkerung insbesondere beim Umgang mit Alkohol dringend notwendig. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Eckart von Klaeden von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Regelung in § 323a StGB, über die wir heute sprechen, ist ja in der Literatur umstritten. Darauf haben der Kollege Manzewski und die anderen Redner auch schon hingewiesen. Ich setze aber in meinem Beitrag einmal voraus, daß diese Regelung - Herr Kollege Ströbele hatte sie ja richtig als Auffangtatbestand bezeichnet - als systemkonform und auch notwendig anerkannt wird, also eine Strafrechtsordnung, die auf § 323a StGB verzichten würde, einen wesentlichen Fehler hätte. Darüber besteht hier, wie ich glaube, Konsens. Die nächste Frage lautet dann: Genügen die Urteile in den Fällen, die zur Zeit nach § 323a Strafgesetzbuch entschieden werden, der rechtsstaatlichen Anforderung des gerechten Strafens? Da sind nicht nur die Einzelfälle, Herr Kollege van Essen, sondern auch die vielen Fälle, die man in der Literatur finden kann, ein deutlicher Hinweis darauf, daß § 323a StGB einer Reform bedarf. Unser Vorschlag - da liegt das grundlegende Mißverständnis der Mehrheit des Hauses - bedeutet nicht eine systemwidrige Fortentwicklung, sondern wir wollen eine systemkonforme Fortentwicklung. Wir wollen nämlich lediglich die Frage der Strafzumessung im Rahmen des § 323a StGB besser regeln. ({0}) Wir knüpfen dabei - wie es heute schon bei der Strafzumessung gängige Praxis ist - an die objektive Voraussetzung der Strafbarkeit, nämlich an die Tat, an. Es ist geradezu ein rechtsstaatliches Prinzip, daß ein im Rausch begangener Diebstahl weniger scharf bestraft wird als zum Beispiel eine im Rausch begangene schwere Körperverletzung. ({1}) - Genau, Herr Kollege Hartenbach. Wenn wir die Vorhersehbarkeit der Strafe ins Auge fassen, bedeutet es doch eine Verbesserung, ein Mehr an Rechtsstaatlichkeit, wenn wir sagen, das im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches sehr differenziert erarbeitete Straffolgensystem wird, weil es vernünftig ist, da es sich an den Rechtsgütern orientiert, auch für die Strafbarkeit nach § 323a StGB als Anhalt genommen. Dann findet aber, weil der Rausch bestraft wird und nicht die im Rausch begangene Straftat, da - dem Prinzip des Schuldstrafrechts entsprechend - der Rausch die Strafbarkeitsanknüpfung ist, die zwingende Milderung nach § 49 Abs. 1 des Strafgesetzbuches statt. Das heißt, die Vorhersehbarkeit der Strafe für eine Rauschtat wird verbessert und nicht verschlechtert. Das bedeutet doch ein Mehr an Rechtssicherheit und eine Verbesserung im Vergleich zur derzeitigen Situation. Es gibt im Rahmen dieser Diskussion eine Reihe von anderen Beispielen. Es ist daran gedacht worden, daß man im Rahmen des § 323a StGB einen besonders schweren Fall regelt oder andere Regelungen findet. Das alles führt aber, wie man feststellt, wenn man sich näher damit beschäftigt, im Ergebnis nicht zu den erwünschten Folgen. Deswegen meine ich: Wenn wir uns darauf einigen, daß § 323a StGB systemkonform und vernünftig ist, und wir gleichzeitig zu der Auffassung gelangen, daß er in der Frage der Strafhöhe nicht die notwendigen Voraussetzungen erfüllt, dann ist es sinnvoll, sich in dieser Hinsicht am System des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches zu orientieren. Das heißt nicht, daß man hinsichtlich des Schuldvorwurfs an die Tat anknüpft, sondern es bleibt bei der Anknüpfung an den Rauschzustand. In diesem Zusammenhang ist es aber auch wichtig, darauf hinzuweisen, daß wir, aus meiner Sicht jedenfalls - da mag das Rechtsempfinden der Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR für uns ein Beispiel sein; wir haben zum Beispiel auch in der Frage der Promillegrenze, wenn auch mit unterschiedlichen Vorzeichen, das gebe ich zu, ähnlich diskutiert -, feststellen, daß die Gefahren, die in unserer Gesellschaft von Rauschzuständen ausgehen, in unserer Rechtsordnung zuwenig berücksichtigt werden, zu gering geachtet werden. ({2}) In diesem Zusammenhang ist eine systemkonforme Weiterentwicklung des § 323a StGB, wie wir sie hier vorschlagen, aus unserer Sicht eine sinnvolle Angelegenheit, die aus den von mir beschriebenen Gründen nicht weniger, sondern mehr Rechtssicherheit bietet. Wenn eine Regelung aus der ehemaligen DDR den allgemeinen Denkgesetzen genügt, dann sollten wir ihr auch nicht widersprechen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf reagiert die Fraktion der CDU/CSU auf ein Vorhaben, das der Bundesrat bereits in der letzten Legislaturperiode initiiert und jetzt, wie Sie wissen - allerdings teilweise mit anderem Inhalt -, wieder aufgegriffen hat. In der Zielsetzung dürfte hier im Hause weitgehend Einigkeit bestehen. Es darf in der Tat nicht länger hingenommen werden, daß ein Straftäter, der in volltrunkenem und schuldunfähigem Zustand einen Menschen, selbst auf bestialische Art und Weise, schwer verletzt oder umbringt, mit einer Freiheitsstrafe von höchstens fünf Jahren davonkommt. Es gibt deshalb nicht wenige Strafverfahren, in denen die geltende Höchststrafe des § 323a StGB als zu niedrig und unzureichend kritisiert worden ist. So klar das Ziel auch ist, so schwierig erscheint mir aber der dorthin führende Weg. Auch die wenigen Seiten des uns vorliegenden Gesetzentwurfs können nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir uns hier mit einer der schwierigsten und umstrittensten Materien des Strafrechts befassen. ({0}) So kann es kaum verwundern, daß selbst zu der noch relativ einfachen Frage des Strafmaßes bei Vollrausch mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates und mit dem jetzt eingebrachten Entwurf der Fraktion der CDU/CSU zwei Vorlagen auf dem Tisch liegen, die konträrer nicht sein könnten. Der Ihnen sicher bekannte Entwurf des Bundesrates knüpft an den bisherigen Strafrahmen des § 323a StGB an und beschränkt sich darauf, für die Fälle schwerwiegender Rauschtaten einen Qualifikationstatbestand mit höherer Strafdrohung einzuführen. Der Entwurf der Fraktion der CDU/CSU - dieser Punkt ist von den meisten Vorrednern schon genannt worden - verläßt dagegen die gewohnten Bahnen und will auf eine eigenständige Strafdrohung bei Vollrausch ganz verzichten. Das heißt, die Strafe soll dem Strafrahmen für das im Rausch begangene Delikt entnommen werden. Den - ich zitiere - „Besonderheiten des Vollrausches“ soll nach dem Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU mit einer obligatorischen Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB Rechnung getragen werden. Ich beurteile diese Formulierung als etwas nebulös und bin der Meinung, daß Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSUFraktion, sich im Grunde vor dem Kernproblem drücken, nämlich vor der Frage, ob eine solche Lösung mit dem Schuldgrundsatz letztlich vereinbar ist. ({1}) Wer sich mit der Materie eingehend befaßt hat, kennt die Vorgeschichte des von Ihnen eingebrachten Entwurfs. Er ist nicht ganz neu und geht auf eine bayerische Initiative zurück, die damals im Bundesrat abgelehnt worden ist. Damals sind übrigens - auch das wissen Sie - erhebliche dogmatische und rechtsstaatliche Bedenken gegen diesen Entwurf geltend gemacht worden. ({2}) Sie hätten sich mit den damals aufgestellten Gegenargumenten auseinandersetzen müssen. ({3}) Wir müssen noch eine intensive Diskussion im Rechtsausschuß führen. Es liegt nahe, daß wir in diesen Diskussionsprozeß auch den schon angesprochenen Entwurf des Bundesrates einbeziehen sollten, auch wenn man aus Sicht der Bundesregierung die Frage stellen kann, ob es wirklich notwendig ist, den Kreis der Rauschtaten so weit zu fassen, wie es im Gesetzentwurf des Bundesrates geschehen ist. Ich möchte noch kurz andeuten, wie man sich aus Sicht der Bundesregierung eine Lösung vorstellen könnte: Man könnte die verschärfte Strafdrohung allein an ganz besonders schwere Fälle knüpfen, zum Beispiel an die Fälle, in denen ein Mensch getötet oder körperlich schwer verletzt worden ist. Damit könnten wir die praktisch wichtigsten und nach dem Gesetzgeber geradezu schreienden Fälle erfassen. Ich glaube auch, daß wir uns mit einer solchen Lösung auf das wirklich Notwendige beschränken würden. Auf diese Weise bekämen wir die Probleme am ehesten in den Griff. ({4}) Noch ein Punkt zum Schluß - auch dieser ist schon angesprochen worden -: Es ist notwendig, daß wir auch darüber nachdenken, diesen Straftatbestand in die Überlegungen einzubeziehen, die wir im Rahmen einer generellen Überprüfung der Straftatbestände vornehmen wollen. Es besteht insbesondere Reformbedarf in der Hinsicht, ob die Einführung der Straftatbestände in der letzten Legislaturperiode wirklich das geleistet hat, was damals von der Mehrheit beabsichtigt worden ist. Wir jedenfalls wollen auch den § 323a StGB in diese Reformüberlegungen einbeziehen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/545 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über parlamentarische Gremien - Drucksache 14/539 ({0}) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 14/653 Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Wiefelspütz Cem Özdemir Ulla Jelpke Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dieter Wiefelspütz von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch mit Rücksicht auf die fortgeschrittene Zeit will ich meine Rede zu Protokoll geben. Ich weise darauf hin, daß Herr Marschewski als amtierender Vorsitzender des PKK für die Koalition, für die CDU/CSU und auch die F.D.P. die Position vortragen wird, die wir gemeinsam erarbeitet haben. Ich will aber die Gelegenheit nutzen, auf etwas hinzuweisen, was im Bericht des Innenausschusses etwas mißverständlich ist. Im letzten Absatz gibt es einen Satz, der da lautet: Dem Parlamentarischen Kontrollgremium werden in der 14. Legislaturperiode 9 Mitglieder angehören ... Darüber hat der Ausschuß nicht befunden. Es gab dazu eine streitige Abstimmung, auch unterschiedliches Abstimmungsverhalten innerhalb der Koalition. Wir werden dies noch durch eine Korrektur klarstellen. Ich will nur zu Protokoll geben, daß diese Passage nicht exakt den Verlauf der Debatte im Innenausschuß wiedergibt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wiefelspütz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Claus von der PDS?

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege, ich wollte Sie in bezug auf die Ungenauigkeit im Bericht des Innenausschusses fragen, ob Sie von den Obleuten der anderen Fraktionen ermächtigt sind, diese Passage gewissermaßen zurückzuziehen, und ob damit die vom Innenausschuß nicht getroffene Festlegung, das Parlamentarische Kontrollgremium auf neun Mitglieder zu begrenzen, vom Tisch ist?

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Claus, ich bin von niemandem ermächtigt. Ich spreche für mich selber. ({0}) Der Ausschußbericht trägt meine Unterschrift. Ich hätte ihn vorher genauer lesen müssen; das war nicht ganz korrekt. Diese Ungenauigkeit ist erst sehr spät aufgefallen. Wir werden das einvernehmlich korrigieren. Auch die Berichterstatterin der PDS wird das Ergebnis, nach dieser Korrektur, unterschreiben. Ich sage es noch einmal: Wir haben erörtert, ob das PKG neun Mitglieder haben sollte oder mehr. Dazu hat es auch eine Abstimmung gegeben. Dies werden wir im Bericht präzisieren. - Im übrigen ist es Sache des Plenums, darüber zu entscheiden, wie viele Mitglieder das Gremium haben sollte. Das wird demnächst geschehen. Die SPD-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf ihre Zustimmung geben. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Erwin Marschewski von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So viel Gemeinsamkeit ist selten. Das zeigt aber, daß das Parlamentarische Kontrollgremium, bisher PKK genannt, zusammenarbeitet, um die wichtigen Probleme in diesem Land zu lösen, insbesondere um die freiheitlichdemokratische Grundordnung zu gewährleisten. Ich habe bereits in meiner Einbringungsrede als amtierender Vorsitzender der bisherigen PKK den Diensten, dem Militärischen Abschirmdienst, dem Bundesnachrichtendienst und dem Bundesamt für Verfassungsschutz, Dank gesagt. Ich will diesen Dank wiederholen. Nun komme ich zum Inhalt selbst. Wir wollen heute die von der bisherigen Bundesregierung freiwillig eingeräumten Kontrollrechte im Gesetz festschreiben. Wir tun dies nicht, weil wir den Diensten nur mit Mißtrauen gegenüberstünden. Unsere Kontrollarbeit ist von kritischem Verhalten, aber auch von einem gewissen Vertrauen geprägt, weil wir die Aufgaben und die Aufgabenerfüllung der Dienste kennen. Aber diese Arbeit ist, so meine ich, das Gegenteil von blinder Kritik, wie wir sie auf diesem Feld doch allzuoft und oberflächlich in Presseorganen erleben müssen. Wir wollen die Kontroll- und Überwachungsrechte verstärken. Es haben sich in der Vergangenheit Probleme ergeben. Unser gemeinsamer Gesetzentwurf trägt zur Lösung dieser Probleme bei. Wir sorgen erstens dafür, daß die von der bisherigen Bundesregierung freiwillig eingeräumten Kontrollrechte Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms gesetzlich festgeschrieben und ergänzt werden. Zweitens sorgen wir dafür, daß der Zersplitterung der parlamentarischen Kontrollarbeit organisatorisch entgegengetreten wird. Durch die große Einmütigkeit, mit der wir heute beschließen, sorgen wir drittens dafür, daß die Bundesregierung vom Deutschen Bundestag das Signal bekommt, daß wir unsere Kontrollaufgabe ernst nehmen und daß wir, soweit es an uns liegt, die vertrauensvolle Arbeit fortsetzen wollen. Ich will nicht auf alle Einzelheiten der gesetzlichen Normierungen eingehen. Wir haben bereits in der letzten Woche im Innenausschuß darüber diskutiert, Herr Kollege Wiefelspütz. Wir haben den Gesetzentwurf unter den Fraktionen abgestimmt. Wenn wir aber das Gewicht des Bundestages gegenüber der Bundesregierung und die Kontrollarbeit nicht beschädigen wollen, dann dürfen keine parlamentsinternen Eifersüchteleien Platz greifen. Diese gab es bisher nicht, und ich denke, daß dies auch in Zukunft so sein wird. Wir müssen aber die Zusammenarbeit so eng wie möglich gestalten. Ich halte es deswegen für gut, daß wir die bisherige PKK mit dem G-10-Gremium zusammenlegen. Ich halte es auch für gut, daß wir die Zusammenarbeit mit dem Vertrauensgremium des Haushaltsausschusses verbessern. Hier kam es über die Fraktionsgrenzen hinweg zu Irritationen. Ich denke, daß wir diese meistern werden. Außerdem ist es gut, die Zahl der Mitglieder der PKK nicht zu erweitern. Schon neun Mitglieder in einer PKK, die ursprünglich nur aus den Fraktionsvorsitzenden bestand, sind relativ viel. Irgendwo müssen wir eine Grenze ziehen. Deswegen bin ich dem Kollegen Dieter Wiefelspütz sehr dankbar dafür, daß er im Innenausschuß gesagt hat, daß wir die Zahl von neun Mitgliedern während dieser Legislaturperiode selbstverständlich beibehalten werden. Es kann nicht sein, daß wir nur zu einem Debattierklub werden. Es muß so sein, daß wir Kontrolle ausüben. Sie, Herr Fraktionsvorsitzender Dr. Peter Struck, haben dies während Ihrer langjährigen Mitgliedschaft in der PKK miterlebt und mitgestaltet. Dennoch wäre es gut gewesen, wir hätten bei der Besetzung der Ämter des Präsidenten und der Vizepräsidenten der Dienste ein Vorschlagsrecht erhalten. Ich fordere dies hiermit. Einige Kollegen haben bei einem Besuch des polnischen Parlaments von dieser Möglichkeit gehört. Die Polen haben übrigens interessanterweise die Struktur unserer PKK übernommen. Unsere PKK ist sehr oft für den internationalen Bereich Vorbild. Viele Länder wollen die Kontrolle der Dienste durch eine parlamentarische Kontrollkommission bzw. ein parlamentarisches Kontrollgremium, wie wir neuerdings bezeichnet werden, gewährleisten. Ich denke, was den Polen recht ist, wäre uns billig gewesen. Aber Regierungen sind eben so, wie Regierungen sind. Herr Staatssekretär, vielleicht besteht die Möglichkeit, vor der Wahl zu den oben genannten Ämtern den Sachverstand der Kolleginnen und Kollegen - Sie vertreten ja die Bundesregierung; Sie sehen, daß dort Sachverstand vorhanden ist - zumindest zur Beratung einzubeziehen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Marschewski, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich. Wir müssen uns heute abend ein bißchen unterhalten. Tun Sie es ruhig.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich glaube, Sie sind die richtige Adresse. Deswegen frage ich Sie - auch nachdem wir eine Diskussion im Haushaltsausschuß darüber hatten -: Ist unser Eindruck, der Eindruck der Haushälter aller Fraktionen, richtig, daß diejenigen, die dieses Gremium jetzt schaffen, auch die Haushaltskontrolle übernehmen wollen und sie uns damit ein Stück unserer von der Haushaltsordnung zugewiesenen Verantwortung wegnehmen wollen?

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein; wir wollen ja keine Gesetze brechen. Was wir wollen, ist natürlich, die Dienste vehement und eindringlich kontrollieren und beobachten. Ich meine einfach, daß dies erheblich besser gelingt, wenn wir uns an den Beratungen Ihres vertrauensvollen Haushaltsgremiums beteiligen. Wir wollen nicht nur Erfahrung sammeln; wir wollen natürlich Kenntnis über das haben, was die Dienste angeht. Sie können uns dabei helfen, dies entsprechend zu forcieren. Ich will Schluß machen; wir können auch gleich darüber reden, unten bei „Ossi“ oder wo auch immer. Ich bin gern dazu bereit. Ich will zum Schluß kommen. ({0}) Es wird Zeit, daß wir die PKK oder die PKG - wie sie dann heißt - neu wählen. Wir sind das einzige Gremium, das seit der letzten Bundestagswahl in der gleichen Zusammensetzung im Amt ist, wie es ursprünglich, vor viereinhalb Jahren, gewählt worden ist. Deswegen hoffe ich, daß wir bald neu wählen können. Ich wünsche der PKG - so heißt sie neuerdings - kritische Kontrolle, aber ich sage ausdrücklich: nicht nur und nicht ausschließlich Mißtrauen. Ich wünsche ihr soviel Gemeinsamkeit wie möglich und das Selbstbewußtsein, das Parlamentarier haben sollten, die mit absoluter Mehrheit, also mit einer größeren als der Kanzlermehrheit, durch den Deutschen Bundestag gewählt worden sind und denen diese vertrauensvolle Aufgabe übertragen worden ist. Auch daran, so meine ich, Herr Kollege, sollten wir ein wenig öfter denken. Wir sollten Selbstbewußtsein haben und die Bundesregierung entsprechend kontrollieren. Ganz herzlichen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich will diese Diskussion ja nicht verlängern. Aber ich meine, es ist ein sehr ernErwin Marschewski ster Punkt. Die Meinung aller Haushälter ist - sie will ich hier einmal vortragen -: Es ist ein Bruch der Haushaltsordnung, wenn sich ein Gremium anmaßen - „anmaßen“ meine ich nicht bösartig - oder sich aneignen möchte, zukünftig über einen bestimmten Bereich des Haushalts selber die Entscheidung zu treffen. Wenn gemeint sein soll, daß Sie uns im Haushaltsausschuß beraten und uns Vorschläge machen, dann ist die Sache in Ordnung. Aber der Haushaltsausschuß muß das entscheidende Gremium bleiben, das darüber befindet. Wir haben im Haushaltsausschuß nie eine große Diskussion über die entsprechenden Dienste geführt. Aber es muß möglich sein, daß der Haushaltsausschuß darüber entscheidet, und es darf nicht sein, daß ein Bereich des Haushaltes ausgeklammert und einem anderen Gremium übertragen wird.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer weiteren Kurzintervention zur Rede des Kollegen Marschewski, bitte, Herr Kollege Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Damit das hier klargestellt wird: Wir wollen Kooperation, und wir wollen nicht Zuständigkeiten anderer übernehmen. Im übrigen, Herr Koppelin: Die Haushaltsordnung hat der Gesetzgeber geschaffen; das Gesetz über die parlamentarischen Gremien hat ebenfalls der Gesetzgeber geschaffen. Wie können wir auf dieser Ebene ein Gesetz brechen? Beide Gesetze sind von diesem Hause geschaffen. Es geht darum, daß man sich wechselseitig einander zuarbeitet. Sie vom Haushaltsgremium sind herzlich aufgerufen, bei uns in der PKG mitzuwirken, um auf diese Weise die Verschränkung herzustellen. Also keine Konfrontation, sondern Zusammenarbeit, Vernetzung. Davon sollten andere lernen; das dient der Sache, und deswegen haben wir es vorgeschlagen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Herr Kollege Marschewski, bitte.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich darf dies auch noch einmal bekräftigen. Wir wollen ja nur, Herr Kollege Koppelin, mitberatend tätig sein. Wir räumen Ihnen natürlich auch die entsprechenden Rechte ein. Der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende Ihres Gremiums haben ebenfalls das Recht - das ist bisher völlig einmalig; soviel Vertrauen bringen wir Ihnen entgegen -, an den ganz geheimen Sitzungen des PKG teilzunehmen. Unser Ziel ist, daß wir Haushälter und wir Innenpolitiker, Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums, die Dienste nun wirklich kontrollieren. Unser System ist Vorbild für viele Länder in dieser Welt. Ich sage Ihnen: Das ist eine gute Sache. Wir wollen diese gute Sache noch verbessern. Haben Sie kein Mißtrauen! Herr Wiefelspütz und ich, wir sind anständige Menschen; davon können Sie ausgehen. Wir wollen, so sagt es das Gesetz auch, mitberatend tätig sein. Da sollten Sie kein Mißtrauen hegen. Ich weiß, daß die Haushälter unisono diesen Beschluß gefaßt haben, aber ich weiß auch, daß wir versuchen sollten, gemeinsam die Kontrollfunktion zu verbessern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte noch ausharrende Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich kann dem Kollegen Marschewski versichern, daß Bündnis 90/Die Grünen und insbesondere auch ich die Aufgabe, die Regierung kritisch zu begleiten und zu kontrollieren, wahrnehmen werden. Heute morgen habe ich gezeigt, daß ich davor nicht zurückschrecke. ({0}) Ich habe zur Kenntnis genommen, daß die Reisen des Gremiums - bisher der Kommission - offenbar dazu beigetragen haben, daß das, was hier im Deutschen Bundestag ausprobiert worden ist, ein durchaus vorzeigbares Exportartikelchen geworden ist, das inzwischen bis zu den Malediven bekannt ist. Das weiß ich natürlich alles nur vom Hörensagen. Ich habe in der letzten Woche schon darauf hingewiesen, daß wir uns mehr Befugnisse gewünscht hätten. Wir haben uns gerade kurz darüber verständigt, daß offenbar alle Regierungen es an sich haben, daß sie es nicht gerne möchten, daß noch mehr Kontrollkompetenz gegeben ist. Ich darf aber daran erinnern - vielleicht müssen wir da weitermachen; vielleicht können wir es schon mit den Mitteln, die wir heute hier beschließen, erreichen -, daß der Kollege Struck, der vorhin noch hier war - jetzt ist er schon wieder weg -, selber einmal erklärt hat, daß wirkliche Aufklärung nur mit den Befugnissen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses möglich sind. So ein bißchen haben wir uns daran gehalten, leider noch nicht vollständig. Aber wir haben einige zusätzliche Rechte vereinbart. Auch hätten wir uns gewünscht, daß die einzelnen Abgeordneten mehr Rechte haben, daß sie selber Kontrollbesuche machen können - ({1}) - Genau, dann hätten Sie mit mir noch mehr Ärger, weil ich dann die Akten eingesehen hätte und wir sicher vieles, was Sie sonst dem „Spiegel“, „Focus“ oder irgendwelchen anderen Zeitschriften und Zeitungen entnehmen müssen, vielleicht in der PKK oder jetzt in dem PKG hätten erörtern können oder müssen. Aber wir wollen es versuchen. Wir haben gute Gründe für unsere langen Beratungen. Ich habe vorhin einmal gezählt. Ich glaube, wir haben zehn unterschiedliche Entwürfe für dieses Gesetz erarbeitet und uns daran abgearbeitet. Wir müssen jetzt zu einem Ende kommen, weil es tatsächlich nicht geht, daß dieses wichtige Gremium noch mit Leuten besetzt ist, die tatsächlich nicht mehr dem Deutschen Bundestag angehören. Ich habe volles Vertrauen zu dem Kollegen Such, aber auf Dauer ist das wahrscheinlich ein Problem, wenn Personen, die nicht mehr Abgeordnete sind, noch Abgeordnete in einem parlamentarischen Gremium sind. Deshalb müssen wir jetzt zu Potte kommen, damit wir möglichst im nächsten Monat das PKG, wie dieses Gremium dann heißt, mit den neuen Befugnissen ausstatten können. Es ist richtig: Mit Zahlen macht man Politik. Das ist hier ganz deutlich. Die PDS wollte uns darauf festlegen, daß wir sagen: Alle Fraktionen müssen in diesem Gremium vertreten sein. Die Grünen stimmen dem zu und wollen es auch. Aber wir unterscheiden uns in einem Punkt: Wir wollen das nicht in einem Gesetz regeln, sondern wir wollen es regeln, wenn es angesagt ist, das heißt, wenn die Personen gewählt werden. Natürlich hat dieses vehemente Fechten für 9 und nicht 8 oder 16 Personen etwas mit politischen Interessen zu tun, daß man eine Fraktion nicht dabeihaben möchte. Wir wollen es trotzdem so regeln können, daß es wenige sind, also 9 oder höchstens 10 und daß trotzdem alle Fraktionen vertreten sind. Das ist unser Ziel. Darüber werden wir uns auch innerhalb der Koalitionsfraktionen noch unterhalten müssen. Ich darf noch etwas zu dem sagen, was der Kollege Wiefelspütz schon erklärt hat. Der letzte Absatz in der Beschlußempfehlung des Innenausschusses ist so nicht korrekt. Es hat in diesem Ausschuß keine Meinungsbildung über die Anzahl stattgefunden. Sie soll auch hier nicht stattfinden, sondern dies wollen wir einem Extragespräch, das nächsten oder übernächsten Monat geführt wird, vorbehalten. Deshalb schlage ich der PDS vor, daß sie ihren Antrag, in dem sie eine Festlegung treffen will, zurücknimmt; sonst müßten wir dagegenstimmen, weil wir das in diesem Gesetz nicht regeln wollen. Ich schließe mich dem an, was meine Vorredner gesagt haben. Wir haben ein neues Gesetz. Wir haben neue Befugnisse. Wir hoffen, damit wirksame Kontrolle ausüben zu können. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Schmidt-Jortzig.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Leider ist dem guten Vorbild, von dem Sie gesprochen hatten, nicht ganz gefolgt worden; sonst hätte auch ich meine Rede zu Protokoll gegeben. Aber nun rede ich doch; das werden wir auch mit Grandezza schaffen. Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, das Ziel der Reform, nämlich die parlamentarische Kontrolle über die Nachrichtendienste zu verbessern, ist jeder Unterstützung wert. Der Gesetzentwurf fördert dieses Ziel substantiell. Er ist konsistent und er ist konsequent. Ich kann es deshalb nach allem, was die Vorredner gesagt haben und was schon in der ersten Lesung ausgeführt wurde, kurz machen: Die F.D.P. stimmt der Vorlage zu. Daß nicht auch die G-10-Kommission und die haushälterische Kontrolle miteinbezogen werden konnten, läßt sich verschmerzen, mein lieber Landesvorsitzender, weil die Zusammenarbeit mit dem Vertrauensgremium des Haushaltsausschusses wesentlich ausgebaut wurde. Das neue Parlamentarische Kontrollgremium wird die Tätigkeit der Nachrichtendienste künftig also intensiver überwachen und begleiten. Dadurch werden sich meines Erachtens die Gewichte vermehrt von der rein nachträglichen Beurteilung auf eine laufende Kontrolle verlagern. Das Gesetz sieht nämlich insoweit Berichtspflichten der Dienste und konkrete Auskunftsverlangen des Gremiums vor. Es kann Akten- und Dateneinsicht genommen werden. Sachverständige können eingeschaltet werden. Damit wird vielleicht auch auf eine Veränderung der nachrichtendienstlichen Arbeit Einfluß genommen werden können. Ich will das zu später Stunde ganz unschuldig andeuten. Eine solche Veränderung zeichnet sich nach dem Wandel der sicherheitspolitischen Situation in diesem Jahrzehnt meiner Vorstellung nach nämlich deutlicher als nötig ab. Deutschland hat heute quasi keine institutionellen Feinde mehr, am allerwenigsten in der unmittelbaren Nachbarschaft, sprich: in Europa. Statt dessen können sich überall in der Welt einzelne konkrete Sachverhalte entwickeln, die deutsche Interessen bedrohen oder über das Bündnissystem sogar Überlegungen hinsichtlich kollektiver Reaktionen denkbar werden lassen. Die Nachrichtendienste müssen insofern, statt sicherheitspolitische Reaktionsvorschläge auszuarbeiten, vermehrt Risikoanalyse liefern, möglichst frühzeitig, möglichst urteils- und treffsicher. Es wird für die internationale Friedenspolitik künftig also mehr auf wirksame Prävention als auf Reaktion und Verteidigung ankommen. Hier eröffnet sich meines Erachtens eine politische Entwicklung, die das neue Parlamentarische Kontrollgremium fördern, auf die es Einfluß nehmen kann. Wir stimmen der vorliegenden Reforminitiative gerne zu. Danke sehr. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Roland Claus, PDS-Fraktion.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zumindest was die Verweilzeit hier im Plenum anbetrifft, ist es ein Gesetz, das wir im Eilverfahren beschließen. Wir haben dafür auch ein gewisses Verständnis. Das wirkliche Problem, das mit dem Gesetz verbunden ist und hier ausgesprochen oder nicht ausgesprochen oder nur verschämt ausgesprochen wird, steht im Bericht des Innenausschusses just in den letzten Textzeilen, für die der Kollege Wiefelspütz gerade erklärt hat: Sie sind entweder falsch oder zurückgezogen oder nicht ganz richtig. Wir dürfen sie zumindest in Frage stellen. Wir haben es immer deutlich erklärt: Die PDS will in dieses Parlamentarische Kontrollgremium. Das wird ihr aber verwehrt. Deshalb liegt unser Änderungsantrag auf dem Tisch. Ich kann ihn deshalb nicht zurückziehen, Herr Kollege Ströbele, weil mir die mathematische Lösung in der Zeit zwischen Ihrer und meiner Rede noch nicht eingefallen ist. Wie sollen wir mit unseren Stimmen - selbst bei Ihrer Zuneigung - bis zur Wahl zu der satten Mehrheit kommen, die Sie uns hier versprechen? ({0}) Es wird von uns deshalb auch moniert, daß hierbei verfassungsrechtliche Bedenken bestehen. Sie haben in dem inzwischen gestrichenen Bericht auch auf Karlsruhe Bezug genommen. Sie sagen in dem Bericht, das sei eigentlich unbedenklich, und man könne sich bereits auf ein Bundesverfassungsgerichtsurteil berufen. Dieses Urteil war damals aber auf Antrag der Grünen entstanden. Wenn ich mich recht erinnere, war der Hauptgrund, das Ansinnen der Grünen abzuweisen, daß die Kolleginnen und Kollegen damals im Vorfeld gesagt haben: Wir werden gezielte Indiskretion betreiben und uns nicht an die Geheimhaltung halten. Nun werden Sie an der PDS sicherlich Dutzende oder auch Hunderte von Untugenden finden. Ich könnte Ihnen 150 aufzählen; denn ich kenne die PDS vielleicht noch genauer als Sie. Indiskretion wird bei uns aber nicht so leicht nachzuweisen sein. Nun muß man sich noch einmal die Geschichte vor Augen halten. Wie wurden CDU/CSU und F.D.P. zu Einbringern des Gesetzes? Offenbar wurde ihnen versprochen, daß die PDS draußen bleibt - deshalb wurde die Zahl neun bestimmt -, wenn sie die Beschlußfassung auf den Tisch brachten. Die erste Schwierigkeit schien überwunden. Schon kam für die SPD die zweite Schwierigkeit, nämlich die mit dem Koalitionspartner - das ist nachzulesen -: Die Grünen wollten die PDS beteiligen. Die Formel hieß also: keine Zahlen. Nun war die dritte Schwierigkeit, indem CDU/CSU und F.D.P. die SPD daran erinnerten, daß es seinerzeit eigentlich ein Junktim war, zu sagen: Wir werden das Gesetz mit einbringen und mit zustimmen, aber nur, wenn klargestellt ist, daß es bei der Zahl neun bleibt. Ihre vierte Schwierigkeit, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, lag in dem nun doch mißglückten Lösungsversuch des Konfliktes mit dem Bericht des Innenausschusses. Ich frage Sie einfach nur: Und das alles wegen der PDS? Nehmen Sie uns vielleicht nicht doch ein Stück zu wichtig? ({1}) Wir werden dem Gesetzentwurf nicht zustimmen, es sei denn, Sie entschließen sich doch noch mehrheitlich zur Zustimmung zu unserem Änderungsantrag. Vielen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache und möchte noch einmal darauf verweisen, daß der Kollege Wiefelspütz seine Rede zu Protokoll gege- ben hat.*) Ich setze das Einverständnis des Hauses vor- aus. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grü- nen und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über parlamentarische Gremien auf der Drucksache 14/539. Der Innenausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/653, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf Drucksache 14/663? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ände- rungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist da- mit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS- Fraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf gegen die Stimmen der PDS angenom- men. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 10a und b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Graffiti-Bekämpfungsgesetz - Drucksache 14/546 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({0}) Innenausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß für Kultur und Medien b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Dr. Edzard SchmidtJortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten Schutz des Eigentums - Drucksache 14/569 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({1}) Innenausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuß. für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Bachmaier, Leonhard, Göt- --------- *) Anlage 2 zer, Kansy, Beck, Funke und Jünger geben ihre Reden zu Protokoll.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/546 und 14/569 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes - Drucksache 14/472 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({2}) Rechtsausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kol- leginnen und Kollegen Scheel, Frick2) und Michelbach3) haben angekündigt, ihre Reden zu Protokoll zu geben. Ich eröffne jetzt die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Christa Luft, PDS.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mitte Februar dieses Jahres verlautete, daß sich Bundeskanzler Schröder und Unternehmensvertreter auf eine Stiftung mit dem Namen „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ verständigt haben. Aus dem danach zu gründenden Fonds sollen ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie andere Opfer der nationalsozialistischen Zeit eine Entschädigung erhalten können. Eine solche Initiative war überfällig; das ist keine Frage. Daß sie erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach Beendigung des mörderischen zweiten Weltkrieges zustande kommt und dann auch nur auf Grund von internationalem Druck und auf Grund von Sammelklagen, ist für Politik und Wirtschaft dieses Landes beschämend. ({0}) Von 200 000 bis 300 000 Menschen, die entschädi- gungsberechtigt sein sollen, ist die Rede. Das sind weni- ger Menschen, als allein bei der IG Farben in der NS- Zeit zwangsverpflichtet waren; das ist nur ein Bruchteil der über 7 Millionen Menschen, die in deutschen Unter- nehmen Zwangsarbeit verrichten mußten. Aus deren un- säglichen Leiden, aus deren Schweiß, aus deren Blut ha- ben deutsche Konzerne und Großbanken Milliardenge- winne gepreßt, große Vermögen aufgehäuft und daraus ökonomische und politische Macht geschöpft. Das wirkt bis heute nach. ----------------- 1) Anlage 3 2) Anlage 4 3) Der Redetext lag bei Redaktionsschluß noch nicht vor. Überhaupt in Erwägung zu ziehen, Entschädigungsleistungen dieser Profiteure von damals als gewinnmindernde Betriebsausgaben anzuerkennen, also für steuerlich abzugsfähig halten zu wollen, ist wahrlich ungeheuerlich. ({1}) Schockierend ist auch, daß Frau Matthäus-Maier, finanzpolitische Sprecherin der SPD, hier im Plenum vor kurzem auf eine entsprechende Zwischenfrage von mir meinte: Hätten die betreffenden Unternehmen damals den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern regulären Lohn gezahlt, dann wären das auch Betriebsausgaben gewesen. Ich finde das wirklich empörend. Meine Fraktion findet es unerträglich, wenn im Zusammenhang mit Entschädigungszahlungen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit steuersystematisch argumentiert wird. Wir haben daher den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von § 4 des Einkommensteuergesetzes vorgelegt. ({2}) § 4 Abs. 5 dieses Gesetzes, der Betriebsausgaben umfaßt, die den Gewinn nicht mindern, soll um Nr. 11 ergänzt werden: Entschädigungen an Zwangsarbeiter für ihre Zwangsarbeit während der Zeit des Nationalsozialismus sowie an dafür bereitgestellte Institutionen unabhängig von der Deklarierung. ({3}) Es ist für uns nicht hinnehmbar, wenn die Profiteure der Zwangsarbeit von damals nun nach Jahrzehnten die Allgemeinheit mit den zu leistenden Entschädigungen belasten dürfen. Das wäre wahrlich Diebstahl am öffentlichen Vermögen; denn zum öffentlichen Vermögen gehört das Steueraufkommen. Die Konzerne und Großbanken müssen die entsprechenden Zahlungen aus ihren Gewinnen begleichen, die in den letzten Jahren explodiert sind. Ich nenne dazu nur zwei Zahlen: Die Deutsche Bank hat 1998 in ihrem Jahresabschluß nach Steuern das Dreifache des Vorjahres ausweisen können, nämlich einen Jahresüberschuß von 3,4 Milliarden DM. Sie kann ihren Aktionären eine um 22 Prozent erhöhte Dividende zahlen. Bei der Bayer AG wuchs der Gewinn nach Steuern 1998 um 7 Prozent auf 3,2 Milliarden DM. Das sind Größenordnungen, bei denen immer noch nachwirkt, was sich vor über 50 Jahren getan hat. Ergänzend zur genannten Änderung des Einkommensteuergesetzes haben wir einen Gesetzentwurf eingebracht, nach dem die Verjährungsfrist für Ansprüche von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der Zeit des NS-Regimes verlängert werden soll. Solche Ansprüche verjähren nach geltendem Recht am 13. Mai 1999. Wir fordern, diese Frist um 5 Jahre bis zum 8. Mai 2005 zu verlängern, um den wenigen noch lebenden OpVizepräsidentin Petra Bläss fern den Rechtsweg für ihre Entschädigungsansprüche offenzuhalten. ({4}) Kolleginnen und Kollegen, wir sind in der politischen Bewertung der Umstände möglicherweise nicht ganz auf einer Linie. Trotzdem hoffe ich auf Einvernehmen in der Sache, wenn wir das in den Ausschüssen debattieren. Danke schön. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache und möchte nachtragen, daß auch die Kollegin Simone Violka von der SPD-Fraktion ihre Rede zu Protokoll gegeben hat.*) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/472 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Leistungen - Drucksache 14/64 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({0}) Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Folgende Kollegen und Kolleginnen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Grasedieck, Seiffert, Müller ({1}) und Frick.**) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor nahezu einem Jahr, im April 1998, hat der Bundestag die Senkung der Mehrwertsteu- ersätze für arbeitsintensive Dienstleistungen, damals ebenfalls auf Antrag der PDS, hier in diesem Hause dis- kutiert. Sowohl die damalige Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen als auch die Fraktion der SPD lehnten unseren Vorschlag zum damaligen Zeitpunkt ab. Sie begründeten dies unter anderem damit, daß ... Steuerreduzierungen durch die Unternehmen nicht ohne weiteres weitergegeben werden. Folge ist, daß lediglich die Gewinne der Unternehmen steigen. Dies rufe ich Ihnen mit Blick auf die zukünftige Diskus- sion über die Unternehmensteuerreform in Erinnerung. Interessanterweise hat der jetzige Bundeskanzler, Ger- ------------ **) Anlage 4 **) Anlage 5 hard Schröder, zum gleichen Zeitpunkt in seinem Mittelstandsprogramm für die Senkung der Mehrwertsteuersätze für arbeitsintensive Dienstleistungen geworben, damals im Widerspruch zur Mehrheit der SPD-Fraktion. Die Vorzeichen scheinen dafür günstig zu stehen - darauf berufe ich mich -, daß sich die neue Regierung mit ihrem Kanzler Schröder jetzt im Ecofin-Rat für unser Anliegen einsetzt. Wir hoffen, daß die Chancen auch auf internationaler Ebene gestiegen sind, ein dreijähriges Pilotprojekt in den europäischen Ländern zu starten; denn auch die Europäische Kommission will im EcofinRat einen entsprechenden Richtlinienvorschlag einbringen. ({0}) Es kommt nun darauf an, daß sich der Bundeskanzler und die Bundesregierung der Senkung der Mehrwertsteuersätze für arbeitsintensive Dienstleistungen, insbesondere für Reparaturleistungen, auf europäischer Ebene nicht mehr verweigern und der Änderung der Anlage H der 6. Umsatzsteuerrichtlinie zustimmen. Ich möchte ausführlich begründen, warum sich eine entsprechende Regelung in den verschiedenen Bereichen positiv auswirken kann. Wir sind der Meinung, daß es möglich sein muß, nicht alle Dienstleistungen mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu belegen, sondern ihn auf Reparaturarbeiten an beweglichen Gegenständen, Renovierungs- und Reparaturarbeiten im Wohnungsbau und auf Pflegeleistungen in Wohnungen, zum Beispiel bei der Pflege von Kindern, älteren Bürgern oder Behinderten, zu beschränken. Wir denken, daß damit zum ersten niedrigere Verbraucherpreise erreicht werden. Dies würde die Nachfrage nach arbeitsintensiven Dienstleistungen anregen. Dadurch kann das Arbeitsplatzpotential in den entsprechenden Branchen erschlossen und - das ist besonders wichtig, weil die entsprechenden Unternehmen meistens lokal tätig sind - die Schaffung von Arbeitsplätzen regional gezielt gefördert werden. Selbst wenn die Aussage der damaligen Regierung stimmt, nämlich daß eine Senkung der Mehrwertsteuer nicht in jedem Fall an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben wird, so kann man doch feststellen, daß ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf alle Fälle die Kapitaldecke der kleinen Unternehmen, die lokal tätig sind, stärken würde. Diese Maßnahme hätte eine wesentlich zielgerichtetere Stärkung der Liquidität und der Kapitaldecke als die von Ihnen avisierte Unternehmensteuerreform zur Folge, weil die von mir angesprochenen Unternehmen oftmals keine Steuern zahlen, so daß sie auch von einer Steuersenkung nichts haben werden. Aber von einer Senkung der Mehrwertsteuer hätten sie etwas. ({1}) Zweitens meinen wir, daß auch eine ökologische Lenkungswirkung erzielt werden kann; denn durch Reparaturen würde die Langlebigkeit von Produkten gestärkt, und es wäre ein kleiner Versuch des Gegensteuerns in der Wegwerfgesellschaft gegeben. Drittens. Ich denke, daß eine solche Maßnahme sehr positiv auf die Eindämmung von Schwarzarbeit in der Handwerksbranche wirken und damit ebenfalls zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen könnte. ({2}) Es ist doch ein offenes Geheimnis, daß insbesondere durch den Hinweis auf den hohen Mehrwertsteuersatz Kunden oftmals keine Rechnung oder nur eine über einen Teil der erbrachten Leistungen ausgestellt wird. Wenn man wirklich alles in Rechnung stellen würde, wären einerseits Garantieansprüche der Konsumentinnen und Konsumenten gewährleistet, und andererseits würde diese Maßnahme dazu beitragen, daß die Einnahmen aus der Einkommensteuer steigen würden, weil die Leistungen nicht mehr am Fiskus vorbei erbracht werden. Wir meinen, wenn man diese drei Aspekte betrachtet, daß es tatsächlich überlegenswert und notwendig ist, diese Möglichkeit aufzugreifen. Wir wissen sehr wohl, daß wir damit nicht Millionen von Arbeitsplätzen schaffen werden, aber wir sollten in unserer derzeitigen Situation der Massenarbeitslosigkeit jede Chance ergreifen. Wie der Finanzausschuß vor zwei Wochen in Paris erfahren hat, ist das Bemühen auf internationaler Ebene da. Ihre Kolleginnen und Kollegen der sozialistischen Fraktion haben sehr eindringlich darum gebeten, daß wir diesen Gedanken aufgreifen und positiv unterstützen. In diesem Sinne möchte ich noch einmal dafür werben, daß wir tatsächlich eine positive Diskussion in den Ausschüssen führen und uns einem Modellprojekt nicht weiter verschließen. Danke schön. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/64 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die allgemeine und die repräsentative Wahlstatistik bei der Wahl zum Deutschen Bundestag und bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 14/401 ({0}) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 14/635 - Berichterstattung: Abgeordnete Barbara Wittig Wolfgang Bosbach Cem Özdemir Dr. Max Stadler Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Proto- koll gegeben: Wittig, Bosbach, Stadler und Claus*) und Özdemir**). Deshalb kommen wir sogleich zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD, CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur allgemeinen und repräsentativen Wahlstatistik bei der Wahl zum Deutschen Bundestag und bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland auf den Drucksachen 14/401 und 14/635 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der F.D.P. und bei Enthaltung der PDS angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der F.D.P. und einige Stimmen aus der PDS bei Enthaltung der Mehrheit der PDS-Fraktion angenommen. Der Innenausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 14/635 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der PDS und bei Nichtbeteiligung von CDU/CSU-Fraktion und F.D.P.Fraktion angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestag auf morgen, Freitag, den 26. März 1999, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.