Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/10/1998

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. ({0}) Eine beispiellose, in ihren Ausmaßen und Wirkungen unvorstellbare Naturkatastrophe hat in der vergangenen Woche die vier mittelamerikanischen Staaten El Salvador, Honduras, Guatemala und Nicaragua getroffen. Die von einem Tropensturm ausgelösten Überschwemmungen, Erdrutsche und Schlammlawinen haben in diesen Ländern einen großen Teil der Ernten, Nahrungsmittelvorräte und darüber hinaus fast die gesamte Infrastruktur vernichtet. In letzten Meldungen ist von rund 12 000 Toten und 13 000 vermißten Personen die Rede. 3 Millionen Menschen sind obdachlos und leben unter freiem Himmel. Hunger und Seuchen bedrohen unmittelbar nach der Katastrophe die Überlebenden. Die Zerstörung der Verkehrswege hat zur Folge, daß Hilfslieferungen, die die internationale Staatengemeinschaft und die Hilfsorganisationen leisten, nur mühsam und verspätet zu den bedrohten Menschen geschafft werden können. Die am stärksten betroffenen Länder sind von der Katastrophe um mehrere Jahrzehnte in ihrer Entwicklung zurückgeworfen worden. Ich möchte an dieser Stelle an die Hilfs- und Spendenbereitschaft der deutschen Bevölkerung appellieren, die notleidenden, von Hunger und Seuchen bedrohten Menschen in den mittelamerikanischen Staaten weiterhin zu unterstützen. Vergegenwärtigen wir uns die dort herrschende Not, so werden manche unserer Sorgen und Probleme - sosehr sie uns auch im Einzelfall drücken ziemlich klein. Eine zusammenwachsende Welt macht uns bewußt, daß Not und Elend, auch wenn sie weit von unserer Haustür entfernt sind, uns nicht gleichgültig lassen dürfen. Ich möchte die in Mittelamerika leidenden Menschen unserer Hilfsbereitschaft versichern. Den Parlamenten der betroffenen Staaten, den Verletzten, Erkrankten und Hinterbliebenen drücke ich im Namen des Deutschen Bundestages unser tiefempfundenes Mitgefühl aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der vorletzten Woche ist unser ehemaliger Kollege und Vizepräsident Heinz Westphal verstorben. Wir werden seiner in einem Staatsakt am 19. November 1998 gedenken. Die Einladung geht Ihnen gesondert zu. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 1 und 2 auf: Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit anschließender Aussprache Beratung des Antrags der Bundesregierung Deutsche Beteiligung an der NATO-Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo - Drucksache 14/16 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({1}) Rechtsausschuß Verteidigungsausschuß Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Generaldebatte im Anschluß an die Regierungserklärung mit den Themenbereichen Europa, Außenund Sicherheitspolitik sowie Entwicklungspolitik und Menschenrechte bis 16 Uhr dauern. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben die Wählerinnen und Wähler durch ihr unmittelbares Votum einen Regierungswechsel herbeigeführt. ({0}) Sie haben Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen beauftragt, Deutschland in das nächste Jahrtausend zu führen. Dieser Wechsel ist Ausdruck demokratischer Normalität und Ausdruck eines gewachsenen demokratischen Selbstbewußtseins. Ich denke, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können alle stolz darauf sein, daß die Menschen in Deutschland rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Tendenzen eine deutliche Abfuhr erteilt haben. ({1}) An dieser Stelle möchte ich noch einmal meinem Vorgänger im Amt, Herrn Dr. Helmut Kohl, für seine Arbeit und für seine noble Haltung bei der Amtsübergabe danken. ({2}) Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Die Menschen erwarten, daß eine bessere Politik für Deutschland gemacht wird. Wir wissen: Ökonomische Leistungsfähigkeit ist der Anfang von allem. Wir müssen Staat und Wirtschaft modernisieren, soziale Gerechtigkeit wiederherstellen und sie sichern, das europäische Haus wirtschaftlich, sozial und politisch so ausbauen, daß die gemeinsame Währung ein Erfolg werden kann. Wir müssen die innere Einheit Deutschlands vorantreiben; und vor allem und bei allem: Wir müssen dafür sorgen, daß die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt wird, daß bestehende Arbeitsplätze erhalten bleiben und neue Beschäftigung entsteht. ({3}) Dafür brauchen wir neue Unternehmen, neue Produkte, neue Märkte und vor allen Dingen schnellere Innovation. Wir brauchen eine bessere Ausbildung und eine Steuer- und Abgabenpolitik, die vor allem die Kosten der Arbeit entlastet. Diese Bundesregierung wird die Probleme schultern, und sie wird die schöpferischen Kräfte, die es in unserem Land überreich gibt, mobilisieren. Die Bedingungen, unter denen wir an den Start gehen, sind alles andere als günstig. ({4}) Entgegen dem, was gelegentlich von der Opposition im Haus verbreitet wird, hat uns die alte Bundesregierung keineswegs ein bestelltes Haus hinterlassen. ({5}) Das Ergebnis unseres vorläufigen Kassensturzes zeigt den Ernst der finanzpolitischen Lage. ({6}) Die Verschuldung des Bundes ist auf weit über 1 Billion DM getrieben worden. Der laufende Bundeshaushalt ist mit Zinsverpflichtungen von mehr als 80 Milliarden DM belastet. Das heißt, jede vierte Mark, die der Bund an Steuern und Abgaben einnimmt, muß für diese gewaltigen Zinslasten ausgegeben werden. Hinzu kommt - ich muß das sagen, auch wenn es Ihnen nicht paßt -: Milliardenschwere Haushaltsrisiken wurden ignoriert; ({7}) Einnahmen wurden zu hoch veranschlagt; Ausgaben wurden zu niedrig veranschlagt: Jahrelang hat man den Haushalt nur durch Einmaleffekte ausgeglichen. Deren Wirkung ist gleich wieder verpufft. Die großen Haushaltslasten aber, die schwerwiegenden strukturellen Probleme des Bundeshaushaltes, hat man einfach in die Zukunft verlagert. ({8}) Nach den jetzt ermittelten Zahlen müßte die jährliche Neuverschuldung mittelfristig um bis zu 20 Milliarden DM höher ausgewiesen werden, als Sie, Herr Waigel, das im Finanzplan gemacht haben. Das ist Ihr Problem, und das belastet jeden, der damit fertig werden muß. ({9}) Meine Damen und Herren, das kann und will ich nicht akzeptieren. Deshalb sage ich gleich am Anfang dieser Regierungserklärung: Diese finanzielle Erblast, die uns hinterlassen worden ist, zwingt uns zu einem entschlossenen Konsolidierungskurs. ({10}) Wir werden angesichts dessen, was wir vorgefunden haben, um strukturelle Eingriffe nicht herumkommen. Alle Ausgaben des Bundes müssen auf den Prüfstand. ({11}) Der Staat muß zielgenauer und vor allen Dingen wirtschaftlicher handeln. Der Mißbrauch staatlicher Leistungen muß eingedämmt werden. Subventionen und soziale Leistungen werden wir stärker als bisher auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren. ({12}) Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns nicht, daß wir alles in kurzer Zeit schaffen. Aber sie haben einen Anspruch darauf, daß wir nicht nur reden - wie das bisher getan worden ist -, sondern auch handeln. ({13}) Wir haben gesagt: Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen. Daran werden wir uns halten. Das sagen wir denen, die heute die Schlachten des Wahlkampfes noch einmal schlagen wollen. Das scheint auch auf der rechten Seite des Hauses so zu sein. Nur, besonders erfolgreich sind Sie nicht gewesen. Das werden Sie zugeben müssen. ({14}) Da gibt es diejenigen, die schon wieder Schwarzmalerei betreiben und diesen lähmenden Pessimismus verbreiten, der unser Land lange genug gehindert hat, die nötigen Schritte zur Anpassung an die Wirklichkeit zu tun. Aber das rufen wir auch denjenigen zu, die meinen, das jetzt Beschlossene gehe nicht weit genug. Wir wollen die Gesellschaft zusammenführen, die tiefe soziale, geographische, aber auch gedanklichkulturelle Spaltung überwinden, in die unser Land geraten ist. ({15}) Wir werden Deutschland entschlossen modernisieren und die innere Einheit vorantreiben. Voraussetzung dafür ist eine schonungslose Beurteilung der Lage, aber auch und vor allem das Besinnen auf die Stärken der Menschen in unserem Land und das Zutrauen darauf, daß wir es schaffen können. Dieser Regierungswechsel ist auch ein Generationswechsel im Leben unserer Nation. Mehr und mehr wird unser Land heute gestaltet von einer Generation, die den zweiten Weltkrieg nicht mehr unmittelbar erlebt hat. Es wäre nun gefährlich, dies als einen Ausstieg aus unserer historischen Verantwortung mißzuverstehen. Jede Generation hinterläßt der ihr nachkommenden Hypotheken, und niemand kann sich mit der „Gnade“ einer „späten Geburt“ herausreden. ({16}) Für manche ist dieser Generationswechsel eine große Herausforderung. Schon ein Blick auf die Regierungsbank oder auch in dieses Parlament zeigt, was die große Mehrheit unter uns politisch geprägt hat. Es sind die Biographien gelebter Demokratie. Wir haben den kulturellen Aufbruch aus der Zeit der Restauration miterlebt und mitgemacht. Viele von uns waren in den Bürgerbewegungen der 70er und 80er Jahre engagiert. Die ehemaligen Bürgerrechtsgruppen aus der DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen Sozialdemokraten die friedliche Revolution mitgestaltet haben, ({17}) sind an dieser Regierung beteiligt. ({18}) Diese Generation steht in der Tradition von Bürgersinn und Zivilcourage. Sie ist aufgewachsen im Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen und im Ausprobieren neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle. Jetzt ist sie - und mit ihr die Nation - aufgerufen, einen neuen Pakt zu schließen, gründlich aufzuräumen mit Stagnation und Sprachlosigkeit, in die die vorherige Regierung unser Land geführt hat. ({19}) An ihre Stelle setzen wir eine Politik, die die Eigenverantwortlichkeit der Menschen fördert und sie stärkt. Das verstehen wir unter der Politik der Neuen Mitte. Diesen Weg werden wir partnerschaftlich beschreiten. Jeder im In- und Ausland kann sich darauf verlassen, daß diese Regierung zu ihrer politischen, aber eben auch zu ihrer sozialen Verantwortung steht. Die Hoffnungen, die auf uns ruhen, sind fast übermächtig. ({20}) Aber eine Regierung allein kann das Land nicht verbessern. Daran müssen alle mittun. Je mehr Menschen sich mit ihrer Initiative und ihrer Leistungsbereitschaft an der Reform unserer Gesellschaft beteiligen, desto größer werden die Erfolge sein. Den Menschen in Deutschland mangelt es nicht an schöpferischen Kräften. Wir werden helfen, sie zur Entfaltung zu bringen. ({21}) Meine Damen und Herren, es ist kein Zweifel: Unser drängendstes und auch schmerzhaftestes Problem bleibt die Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischen Zerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstrukturen. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen macht sie angst. Sie belastet unser Gemeinwesen derzeit mit Kosten von jährlich 170 Milliarden DM. Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren darüber, daß sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu können. Genau dieser Herausforderung werden wir uns stellen. ({22}) Jede Maßnahme, jedes Instrument kommt auf den Prüfstand, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeit sichert oder neue Arbeit schafft. Wir wollen uns jederzeit - nicht erst in vier Jahren - daran messen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen. Die Steuerreform, mit der wir in diesen Tagen beginnen, ist dazu ein erster Schritt. Wir werden nicht weitere 16 Jahre über die Notwendigkeit einer Steuerreform reden und das Für und Wider der Interessengruppen abwägen. Nein, meine Damen und Herren, wir machen diese Steuerreform. ({23}) Die Reform basiert auf der Einsicht in die ökonomischen Notwendigkeiten. Sie verbindet modernen Pragmatismus mit einem starken Sinn für soziale Fairneß. Im Mittelpunkt steht die Entlastung der aktiv Beschäftigten und ihrer Familien sowie der kleinen und mittleren Unternehmer. ({24}) Deren Innovationskraft wollen und werden wir stärken. ({25}) Beides zusammen wird helfen, Arbeitslosigkeit abzubauen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und bestehende zu sichern. Unsere Steuerreform erschließt Entlastungen von insgesamt 57 Milliarden DM. ({26}) Nach der Gegenfinanzierung bleiben Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen 15 Milliarden DM als Nettoentlastung. Die Einkommensteuersätze werden nachhaltig gesenkt, das Kindergeld wird erhöht. Über die Legislaturperiode betrachtet, wird das einer durchschnittlich verdienenden Familie mit zwei Kindern eine Nettoentlastung von 2 700 DM im Jahr bringen. ({27}) Steuerschlupflöcher werden wir stopfen, ungerechtfertigte Vergünstigungen werden wir abbauen. Das macht deutlich, daß wir die Lasten in unserer Gesellschaft gerechter verteilen. ({28}) Wir werden auch die Unternehmensbesteuerung grundlegend reformieren. Unternehmenseinkünfte sollen mit höchstens 35 Prozent besteuert werden. ({29}) Dafür schaffen wir jetzt die gesetzlichen Voraussetzungen. Wir entlasten damit den Mittelstand, dem - ich sage es noch einmal - eine Schlüsselrolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen zukommt. ({30}) Meine Damen und Herren, auch sonst haben wir entgegen dem, was gelegentlich verbreitet wird, die Anliegen des Mittelstandes berücksichtigt. ({31}) Der Verlustvortrag bleibt erhalten. Ein einjähriger Verlustrücktrag bleibt ebenfalls noch für Verluste, die 1999 und 2000 entstehen und nicht mehr als 2 Millionen DM betragen. Die Wiederanlage von Gewinnen aus der Veräußerung von Grund und Boden und Gebäuden wird wie bisher nach § 6 b Einkommensteuergesetz begünstigt. Die Sonder- und Ansparabschreibungen für die Existenzgründer können unverändert in Anspruch genommen werden. Für kleine und mittlere Betriebe bleiben sie bis zum Jahr 2000 erhalten. Die Tarifermäßigung für Veräußerungsgewinne wird durch rechnerische Verteilung des Gewinns nur umgestaltet; sie wird nicht gestrichen. Damit werden zwar - das gilt es einzuräumen - Verlustzuweisungsmodelle eingedämmt, aber für die Betriebsnachfolge wird das keine Verschlechterung bedeuten. Wir werden - das ist schon an unseren ersten Schritten sichtbar - das Steuerrecht transparenter ({32}) und damit effizienter machen. ({33}) Überflüssige Steuersubventionen sollen abgeschafft und wertvolle Steuergelder nicht länger in unsinnigen Steuersparmodellen verschwendet werden. ({34}) Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einen Satz zu der im Koalitionsvertrag angekündigten umfassenden Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sagen. Interessierte Kreise haben ja so getan, als wollten wir mit unserer Steuerreform den Unternehmern buchstäblich die Butter vom Brot nehmen. Dazu ist zu sagen, daß in den vergangenen Jahren nur einige wenige von Steuerentlastungen profitiert haben. Die große Mehrheit hat unter Steuerbelastungen leiden müssen. Jede vernünftige Steuerreform hat diesen von Ihnen verursachten Trend erst einmal zu stoppen. ({35}) Inzwischen melden sich - und das ist gut so - immer mehr Ökonomen und weitsichtige Unternehmer zu Wort, die sehen, daß diese Steuerreform für sie eine große Chance ist. Sie sehen die Perspektive, die wir mit unseren schrittweisen Entlastungen aufzeigen. Ich habe überhaupt keine Scheu, den Begriff „schrittweise“ dick zu unterstreichen. Für die Betroffenen im Land ist es nämlich besser, sie bekommen schrittweise etwas in die Hand, als daß sie über Jahrzehnte lediglich mit Redereien vertröstet werden. In der Tat unterscheiden wir uns, was das Machen von Politik angeht. ({36}) Die Menschen im Land sehen die Trendwende, die wir eingeleitet haben: Entlastung und Vereinfachung statt wie bisher immer höhere Sätze und immer weniger Transparenz. Ich denke, alle diejenigen, die sich wirklich mit inhaltlichen Fragen beschäftigen, nehmen bereitwillig unsere Einladung an, in einer gemeinsamen Kommission über die Strukturreform des Steuerrechtes begleitend zu beraten. Eines will ich allerdings denen, die uns in den letzten Wochen mit schrillsten Vorwürfen überzogen haben, sagen: Niedrige und einfache Steuersätze wie zum Beispiel in den USA zu wollen, gleichzeitig aber an einer hohen Zahl von Ausnahmetatbeständen wie bisher in Deutschland festzuhalten, das geht nicht. ({37}) Wir werden - das ist Teil des Konzeptes zur Entlastung der aktiv wirtschaftlich Tätigen - die Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen endlich marktwirtschaftlicher Vernunft unterwerfen. Deshalb steigen wir sofort in eine ökologische Steuer- und Abgabenreform ein. Wir vollziehen damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine längst überfällige Kehrtwende. Natur und Energie als endliche und mithin knappe Güter werden über den Preis verteuert mit dem einzigen Ziel, Arbeit, die reichlich vorhanden ist, billiger zu machen, damit mehr Menschen Arbeit haben. ({38}) Ich unterstreiche es auch hier noch einmal: Es geht uns nicht um die Erschließung einer weiteren Einnahmequelle für den Staat. ({39}) Mit der Energiebesteuerung folgen wir dem Beispiel unserer Nachbarn in Dänemark, den Niederlanden und Österreich. Wir lösen damit die Probleme einer modernen Gesellschaft mit den Mitteln einer modernen Gesellschaft. ({40}) Die Einnahmen - das ist der Kernpunkt - aus der Energiesteuer verwenden wir nur zur Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten. Mit den Anreizeffekten der Energiesteuer fördern wir die Schaffung neuer Arbeitsplätze in nachhaltigen Zukunftstechnologien. Gerade bei den Lohnnebenkosten ist über die Jahre hinweg über die Notwendigkeit ihrer Senkung geredet worden. Unter der alten Regierung sind sie Jahr für Jahr gestiegen. Wir machen damit Schluß, meine Damen und Herren. ({41}) Damit führen wir im Rahmen dessen, was europäisch machbar und - auch das gilt es zu erkennen - sozial vertretbar ist, Marktwirtschaft in die Ressourcennutzung ein. Wir setzen dabei auf die Beschäftigungseffekte einer zukunftsorientierten Produktion. Das ist für uns moderne Steuer- und Wirtschaftspolitik. Wir streiten eben nicht um die Scheinalternative: Angebots- oder Nachfrageorientierung. Dieser Streit führt nämlich zu nichts. Angebots- und Nachfrageorientierung stehen nicht im Widerspruch zueinander. Wir brauchen eine Nettoentlastung der Haushalte zur Belebung der Binnenkonjunktur, damit die Menschen auch kaufen können, was die Wirtschaft herstellt. ({42}) Durch Marktöffnung und Entbürokratisierung, durch die Förderung von Innovation und Zukunftsindustrien verbessern wir die Angebotsbedingungen für Produkte, neue Märkte und neue Verfahren. Beides gehört zusammen. Das eine gegen das andere auszuspielen ist töricht. ({43}) Wir müssen alle miteinander lernen, die Dinge zu verknüpfen und in solchen Zusammenhängen zu denken: Wir stehen nicht für eine rechte oder linke Wirtschaftspolitik, sondern für eine moderne Politik der sozialen Marktwirtschaft. ({44}) Die Bundesregierung macht endlich wieder Wirtschaftspolitik. Wir eröffnen den Menschen die Perspektive der Selbständigkeit. Wer eine Existenz gründen, eine gute Idee vermarkten will, dem werden wir nach Kräften helfen. Wir wissen, daß unsere Banken bei der Bereitstellung von Geld für Unternehmensgründungen immer noch zu zögerlich sind. Sie nennen das Risikokapital. Für uns ist das Chancenkapital, das Unternehmensgründern helfen soll. Darauf legen wir Wert. ({45}) Neuesten Umfragen zufolge geben heute mehr als die Hälfte derer, die demnächst die Schule oder die Universität abschließen werden, als Ziel die berufliche Selbständigkeit an. Das wäre vor gar nicht so langer Zeit noch undenkbar gewesen. Aber die neue Gründerzeit das ist auch gut so - hat längst begonnen. Wir als Regierung haben ihre Zeichen begriffen, und wir werden dafür Zeichen setzen. Wir werden dies vor allem für den Mittelstand tun. Moderne Mittelstandspolitik ist für uns: weniger Bürokratie, schnellere Innovation, besserer Zugang zu den neuen Technologien, effizientere Vermarktung sowie Hilfe und Unterstützung auf internationalen Märkten. Dies wird Kennzeichen einer mittelstandsorientierten Politik der neuen Bundesregierung sein. ({46}) Ich habe darauf hingewiesen, daß das auch für die Entlastung von Steuern und Abgaben gilt. Im übrigen: Wenn wir in der Altersvorsorge mehr private Vorsorge wollen, dann müssen wir die Nettoeinkommen auch so entlasten, daß sich die Menschen diese private Vorsorge buchstäblich leisten können, sonst funktioniert das nämlich nicht. ({47}) Wenn wir die Leistungsbereitschaft der Menschen fördern wollen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sich Leistung auszahlt. ({48}) Meine Damen und Herren von der F.D.P., das Problem besteht darin, daß Sie Leistung immer nur als die Leistung ganz weniger ganz oben verstehen. ({49}) Wir verstehen Leistung in erster Linie als Leistung der Krankenschwestern, der Ingenieure, als Leistung der Facharbeiterinnen und Facharbeiter. ({50}) Die werden wir entlasten, meine Damen und Herren, auf sie kommt es nämlich in dieser Zeit und in diesem Land an. ({51}) Das meinen wir, wenn wir von einer neuen Politik sprechen, einer Politik, die eben nicht in Kästchen denkt, sondern die die Probleme im Zusammenhang begreift. Deshalb sage ich: Unsere Steuerreform ist ein guter Anfang. ({52}) Aber damit ist das Ziel eines überschaubaren und leistungsgerechten Steuersystems nicht erreicht. Dieses Ziel werden wir Schritt für Schritt verwirklichen, und Sie werden jeden einzelnen Schritt aufmerksam und sicher auch kritisch begleiten dürfen - aber aus der Opposition heraus, meine Damen und Herren. ({53}) In den zurückliegenden Jahren ist viel über die Vorund Nachteile des sogenannten Standorts Deutschland diskutiert worden. Der Begriff ist ein wenig verräterisch: „Standort“, das kann auch - und das war es ja auch in der letzten Zeit - „Stillstand-Ort“ sein. Wir machen dieses Land wieder zu einem Bewegungs-Ort. Meine Damen und Herren, wir werden mit der Energiewirtschaft und den Umweltverbänden neue Wege der Energieversorgung beschreiten. ({54}) Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlich nicht akzeptiert. ({55}) Sie ist mithin auch volkswirtschaftlich nicht vernünftig. Das ist der Grund, warum wir sie geregelt auslaufen lassen werden. ({56}) Für die Bundesregierung steht dabei nicht ein Ausstieg im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um den Einstieg in eine zukunftsfähige Energieversorgung. ({57}) Der Anteil der Kernenergie wird schrittweise reduziert und schließlich ganz ersetzt. ({58}) Dies, meine Damen und Herren, ist ein gewaltiges Investitionsprogramm, das auch und gerade neue Arbeitsplätze in diesen Bereichen schaffen wird. ({59}) Dabei setzen wir vor allem auf die Innovations- und Entwicklungspotentiale bei den erneuerbaren Energien. Wir setzen auf eine konsequente Nutzung der Einsparmöglichkeiten: bei der Stromerzeugung, bei elektrischen Geräten, bei den Gebäuden, aber auch im Straßenverkehr. Mit der Energiewirtschaft werden wir auskömmliche Lösungen zu einer Zukunft ohne Atomkraftwerke vereinbaren. Die Koalitionspartner sind sich darin einig, daß die Beendigung der Kernenergienutzung im Konsens erfolgen soll - ohne daß es zu Regreßansprüchen kommt. Aus den Gesprächen der vergangenen Jahre wissen wir, daß wir zu einer einvernehmlichen Lösung kommen können. Sie ist an dem Widerstand - dem unverständlichen Widerstand - auf der rechten Seite dieses Hauses gescheitert. ({60}) Das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle - das gilt es zu erkennen - bleibt uns und unseren Nachkommen allerdings noch auf Jahrtausende erhalten. Das bisherige Entsorgungskonzept ist inhaltlich gescheitert. Wir werden statt dessen einen nationalen Entsorgungsplan erarbeiten. Entsorgung wird auf direkte Endlagerung beschränkt werden. ({61}) Atommülltransporte quer durch die Republik, die nur durch massiven Polizeischutz zu sichern sind, passen nicht zu einer auf Konsens und Zukunftsfähigkeit ausgerichteten Demokratie. ({62}) Allerdings gilt es hier zu bedenken, daß die vorherigen Regierungen völkerrechtlich bindende Verträge über die Rücknahme atomarer Abfälle abgeschlossen haben. Auch das müssen wir mit unseren Partnern in England und Frankreich einvernehmlich regeln. Wir wollen solche Transporte nur noch dann zulassen, wenn am Kraftwerk selbst keine genehmigten Zwischenlagerkapazitäten existieren. In einem neuen Energiemix werden wir auch Steinkohle und Braunkohle brauchen. Dabei drängen wir auf die Verwendung modernster Technik mit hohen Wirkungsgraden und auf eine bessere Nutzung von Fernwärme und Kraft-Wärme-Kopplung. ({63}) Den Kohlekompromiß vom März 1997 werden wir umsetzen und in Brüssel absichern. Bei der sozial verträglichen Neustrukturierung des deutschen Kohlebergbaus brauchen wir rechtzeitig eine Orientierung auch für die Zeit nach dem Jahre 2005. Es geht uns auch hier darum, Planungssicherheit für die Unternehmen und materielle Sicherheit für die Beschäftigten zu schaffen. Die Klimaforscher und die vorbildlichen Unternehmen, die vor ein paar Tagen mit dem BundesumBundeskanzler Gerhard Schröder weltpreis ausgezeichnet worden sind, haben der Politik ins Stammbuch geschrieben - wir werden das beachten -: Gerade beim Klimaschutz dürfen die Verantwortlichen nicht auf Erkenntnisse über weitere Schädigungen unserer Umwelt warten; sie müssen aktive Vorsorge treffen. Wir werden das tun. ({64}) Meine Damen und Herren, der Staat und die verschiedenen Wirtschaftszweige müssen ihre Zusammenarbeit verbessern, um auf diese Weise Synergieeffekte besser nutzen zu können. Wo die Bundesregierung das Ihrige dazu tun kann, da wird sie es tun. Wir werden die Verwaltung schlanker und effizienter machen, und wir werden hemmende Bürokratie rasch beseitigen. Beispielsweise werden wir die Vielzahl verschiedener Umweltbestimmungen in einem Umweltgesetzbuch zusammenfassen. Dabei werden wir überflüssige Vorschriften streichen und auf diese Weise die Regelungsdichte vermindern. ({65}) Eine grundlegende Justizreform werden wir zügig in Angriff nehmen. Unsere Zivil- und Strafjustiz ist heute noch aufgebaut wie vor hundert Jahren. Sie muß entschlackt und sie muß modernisiert werden. Die Bürgerinnen und Bürger wollen und sollen schneller zu ihrem Recht kommen, und die Gerichte müssen entlastet werden. Auch um die Vereinfachung von Gesetzestexten werden wir uns zielstrebig kümmern. Die Rechte der Opfer von Verbrechen werden wir stärken. Dies gilt ganz besonders für die Schwächsten in unserer Gesellschaft: mißbrauchte und mißhandelte Kinder. ({66}) Wo immer das möglich ist, werden wir den TäterOpfer-Ausgleich stärken und die gemeinnützige Arbeit als moderne Sanktionsform ausbauen. Es ist im Interesse der Gesellschaft, daß vor allem Straftäter, die bislang zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, nicht zusätzliche Kosten für den Staat verursachen, sondern gemeinnützige Arbeit leisten. Soweit die Gemeinschaft nicht vor ihnen geschützt werden muß, sollen sie sich für die Gemeinschaft nützlich machen. ({67}) Große Aufmerksamkeit richten wir auf die Förderung der Verfahren zur Schlichtung. Es muß Schluß gemacht werden mit der verhängnisvollen Entwicklung, immer mehr zivile, soziale, wirtschaftliche oder sogar politische Streitfälle auf die Gerichte abzuwälzen. Die Möglichkeiten, Streitfälle außergerichtlich zu regeln, werden wir stärken und bürgernah ausgestalten. Wir verbinden damit den Appell an Bürgerinnen und Bürger, aber auch an Interessengruppen, diese Möglichkeiten auszuschöpfen, bevor die Justiz bemüht wird. Ich sage es deutlich: Diese Bundesregierung will keinen Bevormundungsstaat, nein, sie will einen Staat, der die Menschen ermutigt. Aber den Staat schlanker und effizienter zu machen, das darf nicht heißen, daß man ihn dort schwächt, wo vor allem die Schwächeren auf ihn angewiesen sind. ({68}) Wir wollen deshalb einen Staat, der die Bürgerrechte schützt und erweitert. Wir beharren auf dem Schutz der Schwächeren durch das Recht und durch den Staat. ({69}) Ich will keine Gesellschaft, in der sich einige wenige Schutz kaufen können und die Mehrheit Angst vor Verbrechen hat. ({70}) Deshalb sage ich: Härte gegen das Verbrechen und seine Erscheinungsformen, aber eben auch Härte gegen die Ursachen des Verbrechens, das ist meine, das ist unsere Vorstellung von einem Staat, der seine Schutzaufgabe erfüllt. ({71}) Wir werden deshalb die Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen entschlossen bekämpfen. Die Polizei kann sich darauf verlassen, daß wir sie bei dieser Aufgabe unterstützen. ({72}) Aber zugleich gilt: Eine gute Politik der inneren Sicherheit darf nicht auf Polizei und Strafrecht beschränkt bleiben. ({73}) Ein eigenverantwortliches Leben setzt zuallererst voraus, für sich selbst sorgen zu können. Wie sollen unsere jungen Menschen unsere Gesellschaft und unsere Zukunft gestalten, wenn wir ihnen nicht einmal die Möglichkeit geben, für sich selber zu sorgen? Hierin liegt der Grund dafür, warum die Bundesregierung ein Sofortprogramm auflegen wird, um 100 000 Jugendliche so schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäftigung zu bringen. ({74}) Ich sage es noch einmal vor diesem Hohen Hause: Gerade diejenigen, die die Jugendkriminalität zurückdrängen wollen und dies mit aller Entschiedenheit mit Hilfe des Staates durchsetzen wollen, haben auf der anderen Seite die Verantwortung, jungen Menschen eine Perspektive für Ausbildung und Arbeit zu geben. ({75}) Wir werden angesichts der Gefährdungen, die sich für die gesamte Gesellschaft aus einem Mangel an Perspektive ergeben, bei der Realisierung dieses Programmes einen besonderen Schwerpunkt in Ostdeutschland setzen. Dies ist - zugegeben - ein erster Schritt, aber ein eminent wichtiger, um dort helfen zu können. ({76}) Meine Damen und Herren, Ziel einer aktiven Arbeitsmarktpolitik muß es sein, den Menschen eine Brükke in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen. Wir alle wissen, daß eine gute Ausbildung die beste Voraussetzung für eine gesicherte berufliche Zukunft ist. Unser duales System der Ausbildung ist noch immer vorbildlich in Europa. Aber die schleichende Verstaatlichung der Ausbildung muß aufhören. ({77}) - Das ist so. Sie haben es noch immer nicht verstanden. Das ist tatsächlich so. Sie werden es nie verstehen. ({78}) Sie interessiert das nicht. ({79}) Aber mich macht das besorgt. Daß Sie an den jungen Leuten nicht interessiert sind, merkt man an Ihrem Gebrüll. Man merkt an der Art und Weise, wie Sie mit diesem Thema umgehen, ({80}) wie wenig Sie das Thema der Ausbildungsperspektiven für junge Leute interessiert. ({81}) Ich sage Ihnen eines: Die Zahl der Ausbildungsplätze, die die Wirtschaft zur Verfügung gestellt hat, ist in Ihrer Regierungszeit kontinuierlich zurückgegangen. Das ist das Problem, vor dem wir stehen. ({82}) Das sollten Sie nicht lächerlich machen. Darüber sollten Sie nicht lachen. Denn der wirkliche Skandal in unserer Gesellschaft ist, daß die jungen Leute von Ihnen allein gelassen worden sind. Das ist das Problem. Deshalb sind Sie auch abgewählt worden. ({83}) Daß Sie sich beim Thema Ausbildungschancen der jungen Leute hier hinsetzen und so tun, als wenn Sie das nichts anginge, das ist eine Schande. Sie sollten sich schämen! ({84}) Für uns jedenfalls ist klar - auch wenn das die rechte Seite dieses Hauses nicht interessiert - ({85}) - Da merkt man, welches Interesse Sie an diesen Fragen haben. ({86}) Meine Damen und Herren, für uns ist klar - in diesem Punkt lassen wir uns nicht beirren -: Wirtschaft und öffentliche Verwaltung stehen in der Pflicht, die Lehrstellenzahl zu erhöhen und nicht zu senken. ({87}) Wir wollen und wir werden erreichen, daß alle Jugendlichen einen qualifizierten Ausbildungsplatz bekommen. Das ist ihre Erwartung an Politik, und die werden wir erfüllen, sosehr Sie auch dagegen schimpfen. ({88}) Bei der Mobilisierung der Ausbildungsplätze setze ich auf die Mitarbeit der Wirtschaft. Ich weiß: Hunderttausende von Handwerksmeistern sowie kleine und mittlere Unternehmen tun jedes Jahr ihre Pflicht. Aber bei den großen Unternehmen muß zugelegt werden; das gilt es gemeinsam zu erreichen. ({89}) Ich setze bei der Mobilisierung von Ausbildungsplätzen darauf, daß wir keine Zwangsmaßnahmen benötigen. Jetzt könnt ihr auch klatschen! ({90}) Aber ich sage unseren Jugendlichen, daß ihr moralisches Recht auf Arbeit und Ausbildung - auch das muß ausgesprochen werden - die Pflicht einschließt, Angebote zur Berufsausbildung anzunehmen. Mobilität darf kein Fremdwort in diesem Sektor sein oder werden. ({91}) Auch folgendes muß deutlich werden: Nicht jeder wird seinen Traumberuf erlernen können. Wir werden kein Volk von Bankkaufleuten und Versicherungskaufleuten werden können, bei allem Respekt vor dieser Berufsgruppe. ({92}) Im europäischen Vergleich brauchen junge Menschen bei uns zu lange, bevor sie berufliche Verantwortung übernehmen können. Uns geht es nicht um eine Verkürzung der Ausbildungszeit und schon gar nicht um eine Verschlechterung der Ausbildung; es geht uns vielmehr um eine bessere Verteilung der Ausbildung auf die Lebenszeit. Das ist das, was im Vordergrund unserer Bemühungen steht. Ausbildung, Ausbildungsordnungen und Ausbildungsinhalte werden wir flexibler gestalten. Die Verbesserung und Modernisierung beruflicher Bildung und Qualifikation sollte ständiges Gesprächsthema im Bündnis für Arbeit sein. Wir wollen uns fit machen für die europäische Wissensgesellschaft. Darunter soll man sich nicht eine Gesellschaft aus lauter Superhirnen und Weißkitteln vorstellen. Wissensgesellschaft, meine Damen und Herren, das heißt für mich: Qualifikationsgesellschaft. Das betrifft die ganze Breite unserer Gesellschaft, das betrifft alle Menschen und nicht nur die wissenschaftlichtechnischen Eliten. ({93}) Das ist der Grund, warum die Bundesregierung die Aufgabe einer Bildungs- und Qualifizierungsoffensive rasch anpacken wird. Wir wollen bestmögliche Bildung für alle, mehr Chancengleichheit, die Förderung unterschiedlicher Begabungen, mehr Effizienz, aber auch mehr Wettbewerb. Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung von Eliten. Auch unsere demokratische Gesellschaft braucht Eliten. Allerdings kommt es mir darauf an, was man unter Elite und ihrer Herausbildung versteht. Geprägt von eigener Erfahrung sage ich: Zur Elite gehört man nicht durch die Herkunft der Eltern; zur Elite gehört man durch Leistung. ({94}) Eliten in einer Demokratie erwachsen aus gleichen Chancen im Zugang zu den Bildungseinrichtungen. Das ist wichtig, meine Damen und Herren. ({95}) Sie erwachsen aus dem, was bei gleichen Zugangsvoraussetzungen zu den Bildungseinrichtungen der einzelne in eigener Verantwortung daraus macht. Eines jedenfalls muß gelten: Der Geldbeutel der Eltern darf nicht über die Lebenschancen in unserer Gesellschaft bestimmen. ({96}) Das ist der Grund, warum wir bereits 1999 mit der Reform der Ausbildungsförderung beginnen werden. Wir werden dabei alle ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen zusammenfassen. Die Hochschulen werden wir stärken. Sie müssen Zentren der Ideenfindung und der Problemlösung sein. Sie sollen nach unserer Auffassung auch Zukunftswerkstätten werden. Wir müssen den Trend zur Abwanderung unserer Grundlagenforscher stoppen und gleichzeitig die anwendungsorientierte Forschung nachhaltig fördern. Wir brauchen eine bessere Bildungsplanung, und wir werden sie machen. Denn wir können es uns nicht länger leisten, daß ein bedenklich großer Teil unseres wissenschaftlichen Nachwuchses völlig vorbei an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes qualifiziert wird. Auch an Universitäten und Fachhochschulen muß es Wettstreit geben. Konkurrenz belebt auch dort das Geschäft. ({97}) Die Hochschulen müssen viel stärker als bisher auch zu Existenzgründungen ermuntern. Forschung und Lehre sollen durch Budgetierung und mehr Autonomie entbürokratisiert und so wettbewerbsfähiger gemacht werden. Das Dienstrecht des Hochschulpersonals werden wir umfassend modernisieren, um auch hier mehr Anreize für Leistung und Innovation zu schaffen. ({98}) Wir sollten uns nichts vormachen: Der Transfer von Wissenschaft zur Wirtschaft liegt in Deutschland im argen. Die Transferzeiten, also die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Produktionswirklichkeit, sind bei uns noch immer viel zu lange. Bei der Innovationsgeschwindigkeit hinken wir hinter den USA, aber auch den europäischen Ländern, die vergleichbar sind, hinterher. Die USA verdienen jedes Jahr mehr als 30 Milliarden DM mit dem Export von Verfahren, von Lizenzen und von Patenten ins Ausland. Unsere Wirtschaft hingegen muß heute mehr Ingenieurleistungen importieren, als sie exportiert. Das kann, das darf nicht so bleiben. ({99}) Forschung, Lehre und Wirtschaft haben sich viel zu weit voneinander entfernt. Die Hochschulen stehen vor Umwälzungen, die denen der 70er Jahre vergleichbar sind. Dieser Herausforderung wird sich die Bundesregierung stellen - wieder einmal, bin ich versucht zu sagen. Wir werden die Investitionen in Forschung und Bildung in den nächsten fünf Jahren verdoppeln. ({100}) Wir werden auch auf europäischer Ebene die Anstrengungen bei der Entwicklung neuer Technologien verstärken. Zusammen mit unseren Partnern wollen wir transeuropäische Netze und eine moderne wissenschaftliche Infrastruktur schaffen. Es ist schon richtig: Kreativität, künstlerische Phantasie, handwerkliches Können, die geniale Idee, der Mut zur bahnbrechenden Neuerung - all das kann vom Staat nicht herbeiorganisiert werden. Es ist das Ergebnis eines Prozesses von zahllosen kleinen Verbesserungen, an denen Tausende von kreativen, phantasievollen, kundigen und auch mutigen Menschen tagtäglich arbeiten. Deren Bemühungen zu unterstützen ist eine unserer wichtigsten Aufgaben. Auf die jungen Menschen - ich unterstreiche es noch einmal - kommt es dabei ganz besonders an. Sie haben die Chance, Erfahrungen zu machen, die die Älteren auch in diesem Hohen Haus - nie machen konnten. Wir wollen, wir müssen und wir werden dafür sorgen, daß sie nicht die Erfahrung machen, ausgeschlossen zu sein, noch bevor sie in den Prozeß einsteigen konnten, den sie eigentlich gestalten sollen. ({101}) Aber machen wir uns nichts vor: Die Bewältigung des Jahrhundertproblems Arbeitslosigkeit kann nur gelingen, wenn alle gesellschaftlich Handelnden dabei mitmachen. Die eine, einzelne Maßnahme zur Lösung des Problems gibt es nicht. Steuerpolitik, Abgabenreduzierung, Zukunftsinvestitionen und Tarifpolitik müssen einander sinnvoll ergänzen. Erst im Zusammenwirken aller volkswirtschaftlichen Akteure kann dauerhaft mehr Beschäftigung entstehen. Ich betone: im Zusammenwirken aller volkswirtschaftlichen Akteure. Das ist die Erfahrung, die man in anderen Ländern hat machen können. Das ist auch die positive Erfahrung, die in vergangenen Zeiten mit einem funktionierenden Modell Deutschland gemacht worden ist. Die deutschen Unternehmer stehen dabei ebenso in der Verantwortung wie die Sozialverbände und die Gewerkschaften. Sie alle lade ich zu einem Bündnis für Arbeit und für Ausbildung ein. Ich bin froh, bestätigen zu können: Das erste Treffen wird bereits Anfang Dezember stattfinden. ({102}) Dieses Bündnis wird als ständiges Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingerichtet. Ich weiß inzwischen, daß die Beteiligten meiner Einladung folgen und ihren Teil der Verantwortung übernehmen wollen. Ich erwarte, daß sich die Gesprächspartner vom Denken in angestammten Besitzständen und von überkommenen Vorstellungen lösen. Das, meine Damen und Herren, gilt für alle Beteiligten. Ich setze darauf, daß wir zu einer vorurteilsfreien Beurteilung der Lage kommen und daß unsere Diskussionen vom fairen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen geprägt sind. Bündnisse für Arbeit wirken bereits überall mit Erfolg, in unseren Nachbarstaaten, aber auch in ungezählten Betrieben in unserem eigenen Land. Hier in Deutschland haben sozial verantwortliche Unternehmer und tüchtige, ökonomisch denkende Betriebsräte unsere Mitbestimmung zu einem modernen, weltweit vorbildlichen Modell entwickelt. Dies werden wir verteidigen und ausbauen. ({103}) Das Bündnis für Arbeit ist der richtige Ort, um sich den drängenden Fragen zu stellen: Welche Spielräume kann die Abgabenpolitik des Staates, kann die Tarifpolitik schaffen? Was bedeutet es, die Sozialleistungen stärker auf die Bedürftigen zu konzentrieren? Welche Spielräume schaffen wir damit für Investitionen, und welche Möglichkeiten bieten Instrumente wie Investivlohn und ähnliches? Welche Chancen bieten sich für uns alle, auch für die Beschäftigten, bei der Flexibilisierung der Arbeitszeiten? Ich erwarte auch, daß wir in diesem Bündnis für Arbeit und Ausbildung die einmaligen Gelegenheiten nutzen, die uns die neuen politischen Konstellationen in Europa bieten. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit kann mit dieser Bundesregierung nun endlich auch als europäische Frage behandelt werden. ({104}) In bezug auf diese Frage haben unsere Partner in Europa - bei allem Respekt vor sonstigem - lange gewartet. Mit der Steuerreform, der Entlastung bei den Lohnnebenkosten und dem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit bringt die Bundesregierung gute Vorleistungen in das Bündnis für Arbeit ein. ({105}) Ich erwarte, daß auch die anderen wirtschaftlich Handelnden unserem Beispiel folgen. Die Menschen haben ein Recht darauf, daß wir uns der Verantwortung stellen und die Chancen entschlossen ergreifen, die uns ein Bündnis für Arbeit in Deutschland, mitten in einem sozialer gewordenen Europa, eröffnet. Niemand erwartet von diesem Bündnis Patentlösungen. Aber alle stehen in der Pflicht, das Beste zu geben: Zusammenarbeit, Zukunftswillen und Zuversicht - das sind die Koordinaten des Bündnisses für Arbeit und Ausbildung. Gelingen kann ein solches Bündnis nur, wenn wir uns vorbehaltlos der Wirklichkeit stellen. Das mindeste, was die Bürgerinnen und Bürger von uns verlangen können, ist der Wille zur Aufrichtigkeit, zur Beschreibung der Wirklichkeit. Wir dürfen auch vor unbequemen Wahrheiten nicht haltmachen. Oft genug ist die gesellschaftliche Wirklichkeit verdrängt worden, zugedeckt mit Lebenslügen und voreiligen Versprechungen. Ich unterstreiche: Diese Bundesregierung sagt den Menschen weder: „Alles ist schlecht“, noch sagt sie ihnen: „Alles wird gut.“ Aber sie sagt zum Beispiel, daß es in diesem Land Menschen gibt, die unter den Bedingungen nackter Ausbeutung arbeiten müssen. ({106}) Daß solche Beschäftigungen illegal sind, daß sich oft genug auch die Beschäftigten illegal hier aufhalten, das ändert nichts an den menschenunwürdigen Zuständen, die damit verbunden sind und die wir beseitigen müssen. ({107}) Diese Bundesregierung sagt auch, daß es in diesem Land Arbeit gibt, gutbezahlte Arbeit, die an den Sozialsystemen vorbei als „Schwarzarbeit“ angeboten - und nachgefragt - wird. Niemand sollte diese Schwarzarbeit verharmlosen oder aufhören, sie von Rechts wegen zu bekämpfen. Sie ist und bleibt Betrug an der Solidargemeinschaft. ({108}) Aber es gilt zu erkennen, daß Schwarzarbeit erst dann ganz verschwinden wird, wenn sich die reguläre, versteuerte und sozialversicherte Arbeit wieder lohnt, ({109}) wenn die Menschen für ihre Arbeit wieder mehr Geld ins Portemonnaie bekommen. Das ist der Sinn bei den Entlastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir werden diese Entlastung vornehmen; Sie haben das nicht getan. ({110}) Deshalb wird auch bei der Bekämpfung der illegalen Arbeit der Satz gelten: Hart gegen den Rechtsbruch, aber nicht minder hart gegen die Ursachen. Wie für die innere Sicherheit so gilt auch für die soziale Sicherheit: Wir wollen alles tun, damit sich alle Bürger sicher fühlen können. Aber wir haben Grund zu der Annahme, daß es die Systeme der sozialen Sicherung selbst sind, die durch ihre hohen Kosten immer mehr Menschen in die Flucht aus diesen Sozialsystemen treiben: in illegale, sozial nicht abgesicherte Arbeit oder in Scheinselbständigkeit. Wenn das so ist, heißt das, daß eine abstrakte soziale Sicherheit in immer mehr Einzelfällen konkrete soziale Unsicherheit produziert und daß die Art, wie wir soziale Sicherheit organisieren, tatsächlich Arbeitsplätze vernichten oder gefährden kann. Deshalb müssen die Systeme und die Kosten der sozialen Sicherung insgesamt auf den Prüfstand. Wir werden die Augen vor solchen Wahrheiten nicht verschließen, und wir werden auch Konsequenzen daraus ziehen. ({111}) Erstmals, meine Damen und Herren, geht eine deutsche Bundesregierung daran, mit staatlichen Mitteln die Lohnnebenkosten zu senken. Die Entlastung der Arbeitskosten durch Senkung der Rentenbeiträge um 0,8 Prozent zum 1. Januar 1999 wird pünktlich in Kraft treten. ({112}) Wir sind darüber hinaus bereit, gezielt Sozialabgaben zu bezuschussen, wenn dadurch weniger produktive Arbeit bezahlbar gemacht werden kann. Das soziale Netz muß nach unserer Auffassung zu einem Trampolin werden. Von diesem Trampolin soll jeder, der vorübergehend der Unterstützung bedarf, rasch wieder in ein eigenverantwortliches Leben zurückfedern können. ({113}) Das, meine Damen und Herren, meinen wir, wenn wir sagen, daß es uns wichtiger ist, Arbeit zu finanzieren, als Arbeitslosigkeit bezahlen zu müssen. ({114}) In diesen Zielen wissen wir uns übrigens mit der großen Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland einig; wir wissen sie hinter uns. Doch die Initiativen der Bundesregierung werden kaum ausreichen, den Kostendruck entscheidend zu lindern. Bei einem gerechten Umbau des Sozialstaates sind alle Beteiligten gefragt: die Versicherten wie auch die Verbände und die Versicherungsträger, die Unternehmer und die Gewerkschafter. Dabei werden wir uns von einem Grundsatz leiten lassen: Die Stärke des Sozialstaates bemißt sich nicht an den Milliarden, die er ausgibt. Sie muß sich beweisen an der Qualität der Leistungen, die erbracht werden. ({115}) Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Unsere Gesellschaft erwirtschaftet genug, um sich den Sozialstaat leisten zu können. Was wir uns nicht leisten können, sind Ungerechtigkeit und Untätigkeit. Wir brauchen die Menschen in Deutschland nicht auf „Blut, Schweiß und Tränen“ einzustimmen. Die Menschen haben gezeigt, daß sie bereit sind zu teilen und zu geben. Wie sonst, wenn nicht durch den Elan und die Solidarität der Menschen im Osten und im Westen hätte es die - bei allen Defiziten - doch beachtlichen Leistungen beim Aufbau der Wirtschaft in den neuen Ländern geben können? Ich sage ganz deutlich: Wir werden diese Solidarität mit den Menschen im Osten des Landes auch weiterhin brauchen. ({116}) Wer die dafür nötigen Leistungen zurückfährt, der gefährdet das Erreichte. Wir sind noch immer weit entfernt von gleichwertigen Lebensbedingungen in Ost und West. Das heißt konkret: Der Solidarpakt von 1993 wird auch weiterhin das finanzielle Rückgrat des wirtschaftlichen Aufbaus bleiben. Wir werden die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die das kennen wir ja schon - vor der Wahl kurzfristig hochgefahren wurden und jetzt, wenn nichts geschähe, wieder ausliefen, auf dem bisherigen Niveau verstetigen. ({117}) Über Bildungs- und Qualifizierungsangebote wollen wir möglichst vielen den Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt ebnen. Dennoch wird eine aktive Beschäftigungspolitik auf relativ hohem Niveau im Osten Deutschlands noch für eine ganze Weile notwendig und unverzichtbar bleiben. Auch die bislang bis Ende 1998 befristeten Regelungen zum Investitionsvorrang für Ostdeutschland werden wir fortführen. Diese Bundesregierung, meine Damen und Herren, weckt auch dort keine Illusionen. Sie sagt, daß uns noch eine lange und schwierige Wegstrecke des wirtschaftlichen Aufbaus in den neuen Bundesländern bevorsteht. Aber sie zollt Lebensleistung und Biographien der Menschen im Osten Achtung und hohen Respekt. Die Anstrengungen werden sich lohnen, denn wir haben die Chance, überall in Ostdeutschland Regionen mit ökonomischem und ökologischem Vorbildcharakter zu schaffen, wirklich neue Wege zu gehen, statt Abziehbilder der alten Bundesrepublik herzustellen. ({118}) Die Menschen in den neuen Ländern - auch das gilt es zu erkennen - haben Deutschland auch und gerade kulturell stark bereichert. Viele im Westen können und sollten von ihrer Zivilcourage, ihrer Kreativität und ihrem Erfindungsreichtum lernen. Wir wissen, meine Damen und Herren, daß wir eine Nation mit einer gemeinsamen Kultur, Sprache und Geschichte sind, allerdings auch eine Nation, die 40 Jahre Spaltung in getrennte Staaten hat erdulden müssen. Wir kennen die Mängel in den Regelungen über die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von DDR-Unrecht, und wir werden die Härten beseitigen. Gegen die Spaltung setzen wir den Willen zu mehr Normalität im Umgang miteinander. Besserwisserei und Larmoyanz, die Geringschätzung des anderen, seiner Vorlieben, seiner Gewohnheiten, all das hat in einer modernen Demokratie nichts zu suchen. Was wir allerdings verbessern wollen und müssen, ist die Zielgenauigkeit der Aufbau- und Fördermaßnahmen. Die Bundesregierung wird ein Förderkonzept entwickeln, das sich an drei Zielen ausrichtet: erstens der Sicherung der Förderpräferenz für die neuen Bundesländer, zweitens dem verstärkten Ausbau der infrastrukturellen Versorgung insbesondere in den wirtschaftlichen Problemregionen sowie drittens der Stärkung der Innovationsfähigkeit der Unternehmen und dem Ausbau von Finanzierungsformen, die den besonderen Problemen ostdeutscher Unternehmen gerecht werden. ({119}) Die Eigenkapitalbasis der Unternehmen im Osten muß gestärkt werden. Vor allem die jungen und noch nicht so finanzstarken Kleinbetriebe in den neuen Ländern leiden existentiell unter einer zunehmend laxer werdenden Zahlungsmoral. Wir werden deshalb dafür sorgen, daß zahlungsunwillige Schuldner begreifen, daß schlechte Zahlungsmoral sich auch finanziell nicht lohnt. Wir wollen die Anstrengungen zur Sanierung und Gestaltung der Städte verstärken und auch darüber wieder mehr Menschen in Beschäftigung bringen. Ich habe als Bundeskanzler erklärt, den Aufbau Ost zur Chefsache zu machen. Die Kompetenzen dafür werden gebündelt. Mir wird ein Staatsminister im Bundeskanzleramt zur Seite stehen, der vor allem für eine sehr enge Koordination mit den Landesregierungen in den ostdeutschen Ländern sorgen wird. ({120}) Das Bundeskabinett wird alle zwei Monate in einem der neuen Länder tagen, um mit den dortigen Landesregierungen die Lage zu erörtern und konkrete Projekte auf den Weg zu bringen, die der Situation dort gerecht werden. ({121}) Gerade in den neuen Bundesländern haben die Bürgerinnen und Bürger ihre ganz speziellen Erfahrungen mit Dichtung und Wahrheit in der Politik gemacht. ({122}) Sie haben deshalb einen Anspruch darauf, daß wir die Probleme vor Ort beim Namen nennen, vor Ort Lösungen entwickeln und sie dann auch zügig durchsetzen. Realitätssinn und Reformwillen sind schließlich keine Optionen, die wir nach Belieben umsetzen und ausschlagen könnten. Kurz vor der Jahrtausendwende ist die Welt in bahnbrechenden Veränderungen begriffen. Die Digitalisierung des Wissens und der Produktion, die Globalisierung der Waren- und Finanzmärkte zwingt uns zu Anpassungen und zum Umdenken, zum Abschied von liebgewordenen Traditionen und Gewohnheiten. Das macht vielen Menschen angst. Aber, meine Damen und Herren, Angst haben müssen wir nicht vor der Veränderung, Angst haben müssen wir nur davor, im Stau selbstgesetzter Blockaden stecken zu bleiben. ({123}) Die Wirklichkeit unseres Erwerbslebens hat sich drastisch verändert. Der schöne und viele Jahre Sicherheit verheißende Ausdruck, jemand habe nach der beruflichen Qualifikation „ausgelernt“, hat seine Bedeutung verloren. Das Weiter- und das Dazulernen sind heute unabdingbare Anforderungen für jeden. Diese gilt es zu realisieren. Aber sie sind auch eine Herausforderung an die Neugier und Leistungsbereitschaft eines jeden. Dieser veränderten Realität muß sich auch unser Sozialsystem anpassen. So werden wir bei der Rentenreform selbstverständlich die Zunahme der sogenannten unsteten Erwerbsverläufe angemessen berücksichtigen. Insbesondere Frauen dürfen eben nicht dafür bestraft werden, daß sie ihr Leben flexibel gestalten, daß Phasen der Kindererziehung, der Erwerbsarbeit und des Lernens einander abwechseln. ({124}) Meine Damen und Herren, wer das Lernen geringschätzt und die Möglichkeiten des Wissens nicht nutzt, läuft in eine Falle. Wenn wir die ökologische Modernisierung wollen, dann heißt das auch, daß wir die enormen Möglichkeiten, die uns die Bio-, die Medizin- und die Gentechnik bieten, in verantwortbarem Rahmen nutzen und entwickeln wollen. Wenn wir den Weg in eine Gesellschaft gehen wollen, die industriell stark, technisch innovativ, sozial gerecht und serviceorientiert ist, dann können wir es uns nicht leisten, gerade die personenbezogenen oder die im Haushalt erbrachten Dienstleistungen als minderwertig zu diskriminieren. ({125}) Wir werden uns von der Vorstellung trennen müssen, nur die in der unmittelbaren Produktion erbrachte körperliche "Maloche" oder der Dienst im Büroalltag seien wirkliche Arbeit. Unser Augenmerk gilt allen, die gesellschaftlichen Wohlstand und gesellschaftliches Wohlergehen schaffen, den produktiv Beschäftigten ebenso wie den vielen, die das Wagnis der Existenzgründung auf sich nehmen, und genauso sehr denen, die sich um die Belange der Menschen kümmern. Haushaltshilfe und Altenbetreuung, Einpack- oder Einpark-Service sind Dienstleistungen an der Allgemeinheit, deren sich niemand schämen muß. Diejenigen, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen und sie angemessen zu bezahlen in der Lage sind, werden in unserer Gesellschaft immer mehr. Auch deshalb werden wir die sogenannten 620-Mark-Jobs nicht einfach abschaffen. Aber wir werden sie angemessen in die Sozialversicherungspflicht einbeziehen. ({126}) Die Grenze werden wir auf 300 DM festlegen. Da wir gleichzeitig die Pauschalbesteuerung aufheben, werden diese Tätigkeiten nicht unzumutbar verteuert. Man sieht daran: Die Bundesregierung erkennt ausdrücklich die Notwendigkeit und Berechtigung solcher Beschäftigungsverhältnisse an: sowohl für die Arbeitgeber als auch für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Verbraucher. Aber wir wollen gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften den Mißbrauch, der mit dieser Regelung betrieben worden ist, ernsthaft bekämpfen. ({127}) Mehr Flexibilität im Arbeitsleben darf nicht auf Kosten sozialer Sicherheit gehen. Vor allem darf sie nicht zu Lasten der Frauen gehen, denen die Gesellschaft schon immer mit größter Selbstverständlichkeit höchste Flexibilität abverlangt hat. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß Frauen, die es wollen, am Erwerbsleben teilhaben können. Dabei haben wir nicht nur gegen überkommene Strukturen in der Gesellschaft zu kämpfen. Wir müssen auch ein Schul- und Betreuungssystem schaffen, das die Lebenswirklichkeit moderner Familien und von Alleinerziehenden ausreichend berücksichtigt. ({128}) Die Bundesregierung wird schon Anfang 1999 ein Aktionsprogramm „Frau und Beruf“ initiieren. Wir werden ein wirksames Gleichstellungsgesetz vorlegen, auf Chancengleichheit bei der Ausbildung insbesondere in zukunftsorientierten Berufen achten, Existenzgründerinnen besonders unterstützen und die Bedingungen für flexiblere Arbeitszeiten verbessern. ({129}) Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub werden wir zu einem Elterngeld und zu einem flexiblen Elternurlaub weiterentwickeln. Die Schaffung von größeren und besseren Angeboten zur Kinderbetreuung werden wir unterstützen. Aber ein solches Aktionsprogramm bleibt ein Tropfen auf den heißen Stein, solange wir nicht die objektive Benachteiligung von Frauen aufheben, etwa in der Rentenversicherung. Auch darüber ist viele Jahre geredet worden, aber es ist nichts geschehen. Was geschehen ist, hat die Lage der Menschen eher verschlechtert. Deshalb sind wir auch hier gefordert, zu modernisieren und soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen. Die Bundesregierung wird zunächst die von ihrer Vorgängerin getroffenen Maßnahmen zur Verschlechterung der Rentnerinnen und Rentner aussetzen. ({130}) Wir sagen ausdrücklich „Maßnahmen“ und nicht „Reform“, denn die Reform liegt noch vor uns. ({131}) Wir wollen den Begriff der Reform wieder in sein Recht setzen. Reform - das Wort war einmal klar definiert als Programm oder Projekt, das die Lebensverhältnisse der Menschen verbessert. So war das damals bei der Einführung des Frauenwahlrechts vor - fast auf den Tag genau - 80 Jahren, eine Reform, die August Bebel und die Sozialdemokraten erkämpft hatten. So war das auch in den 70er Jahren, als Sozialdemokraten und ihre Bündnispartner unter Willy Brandt und Helmut Schmidt tatsächlich „mehr Demokratie wagten“ und mehr Chancengleichheit herstellten. Heute stehen wir erneut vor der Notwendigkeit von Reformen, die das Leben der Menschen verbessern sollen. Es geht nicht zuletzt darum, die gewaltig entfalteten Produktivkräfte, den immensen Reichtum an Waren und Dienstleistungen, den wir erwirtschaften, wieder in einen sozialen, in einen sinnstiftenden Zusammenhang zu integrieren; denn das ist verlorengegangen. ({132}) Das muß das große gesellschaftliche Projekt der Neuen Mitte sein: die ökologische und solidarische Erneuerung unserer Gesellschaft und Ökonomie zu einer modernen sozialen Marktwirtschaft. Daran werden wir arbeiten; das werden wir miteinander leisten. ({133}) Das ist auch der Grund, warum wir bei der Alterssicherung eine echte Solidarität der Generationen, nicht nur eine Solidarität der Berufsgruppen erzielen wollen. Wir wollen einen mit Leben erfüllten Generationenvertrag, keinen Vertrag zu Lasten der Arbeit. In diesem Sinne werden wir dem Bundestag Vorschläge zur Reform der Alterssicherung vorlegen, die auf Solidarität, aber auch auf die gesellschaftliche Realität abzielen. Dabei geben wir eine dreifache Garantie ab: Wir werden den heute in Rente lebenden Menschen ihre Rente sichern und ihnen jedenfalls ihre ohnehin oft geringen Einkünfte nicht kürzen. Denjenigen, die heute in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, sagen wir zu, daß sie damit einen wirksamen und leistungsgerechten Rentenanspruch erwerben. Denjenigen, die jetzt ins Berufsleben eintreten, sichern wir den Umbau der Alterssicherung zu einem transparenten, zukunftsfähigen Versicherungspakt zu. Dieser Pakt wird auf vier Säulen stehen: Das sind die gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Altersvorsorge, die private Vorsorge, deren Organisation vom Staat, etwa in steuerlicher Hinsicht, ermutigt wird, und die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital und an der Wertschöpfung in den Unternehmen. Für den Nutzen der Reform, die wir im Grundsatz vereinbart haben, gibt es auf der ganzen Welt gute Beispiele; von denen können, von denen werden wir lernen. Bei der gesetzlichen Rentenversicherung müssen wir die finanzielle Grundlage verbreitern und versicherungsfremde Leistungen staatlich finanzieren. ({134}) Bei den Lebensversicherungen werden wir für mehr Wettbewerb und mehr Transparenz sorgen. Die zukunftsfähige Erneuerung der betrieblichen Altersvorsorge muß im Bündnis für Arbeit und Ausbildung fest vereinbart werden. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen werden wir unterstützen. Durch die Nettoentlastung der Lohn- und Einkommensteuerzahler schaffen wir auch auf diesem Sektor beachtliche Spielräume für die Tarifpartner. Eine derartige Reform wird ihren Namen verdienen anders als die Rentenkürzungen und die weiteren sozialen Einschnitte, die wir noch in diesem Jahr aussetzen, um Raum für wirklich zukunftsfähige Lösungen zu schaffen. ({135}) Die Verschlechterungen beim Kündigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung werden wir - wie wir es versprochen haben - zum 1. Januar 1999 aufheben. ({136}) Im Gesundheitswesen werden wir die Belastungen der Kranken, vor allem der chronisch Kranken und der älteren Patienten, zurückführen. Die Zuzahlungen der Versicherten bei Medikamenten werden ebenfalls zum 1. Januar 1999 gesenkt. Das sogenannte Krankenhausnotopfer wird ab sofort ausgesetzt. ({137}) Auch im Gesundheitswesen reichen die heute zur Verfügung stehenden Finanzmittel für eine qualitativ hochwertige Versorgung im Prinzip aus. Nicht die Rationierung in der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern die Rationalisierung in der Versorgung ist der richtige Weg - und den werden wir gehen, meine Damen und Herren. ({138}) Ich weiß, die Tradition, die soziale Sicherheit zu wahren, gilt heute manchen schon als revolutionär. Dafür die traditionellen Mittel aufzuwenden wäre aber womöglich reaktionär. Weder auf dem Renten- noch auf dem Gesundheitssektor werden wir uns in diesem Widerspruch verfangen. Wir stehen auch in diesen Bereichen für eine Reform, die sich an den Realitäten orientiert. Die Realität lehrt uns zum Beispiel, daß Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine unumkehrbare Zuwanderung erfahren hat. Wir haben die Menschen, die in den 50er Jahren zu uns kamen, eingeladen. Heute sagen wir diesen unter uns lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern, daß sie keine Fremden sind. Zu Fremden machen sich vielmehr diejenigen, die in unserem Land den Fremdenhaß propagieren. ({139}) Das wollen wir nicht. Diesen verblendeten Minderheiten setzen wir eine entschiedene Politik der Integration entgegen. ({140}) Den Zuwanderern, die bei uns arbeiten, sich legal in Deutschland aufhalten, Steuern zahlen und sich an die Gesetze halten, ist viel zu lange gesagt worden, sie seien bloß Gäste. Dabei sind sie real längst Mitbürgerinnen und Mitbürger geworden. ({141}) Diese Bundesregierung wird deshalb ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht entwickeln. Es wird die Voraussetzungen dafür schaffen, daß diejenigen, die auf Dauer bei uns leben und deren Kinder, die hier bei uns geboren sind, volles Bürgerrecht erhalten können. ({142}) Niemand, der Deutscher werden will, soll dafür seine ausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnen müssen. Deshalb werden wir eine doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen. ({143}) Integration erfordert auch und gerade die aktive Mitwirkung derer, die sich integrieren sollen. Aber wir werden denen, die dauerhaft hier leben, arbeiten, ihre Steuern zahlen und die Gesetze achten, die Hand reichen, damit sie sich in unsere Demokratie als Menschen auch wirklich einbringen können. ({144}) So nehmen wir die Wirklichkeit in Europa positiv zur Kenntnis, so wollen wir das miteinander halten, und so sollte es in Deutschland üblich werden. ({145}) Unser Nationalbewußtsein basiert eben nicht auf den Traditionen eines wilhelminischen „Abstammungsrechts“, sondern auf der Selbstgewißheit unserer Demokratie. Wir sind stolz auf dieses Land, auf seine Landschaften, auf seine Kultur, auf die Kreativität und den Leistungswillen seiner Menschen. Wir sind stolz auf die Älteren, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut und ihm seinen Platz in einem friedlichen Europa geschaffen haben. Wir sind stolz auf die Menschen im Osten unseres Landes, die das Zwangssystem der SED-Diktatur abgeschüttelt und die Mauer zum Einsturz gebracht haben. ({146}) Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muß, ({147}) die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt, aber bei aller Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen, doch nach vorne blickt. Es ist das Selbstbewußtsein einer Nation, die weiß, daß die Demokratie nie für die Ewigkeit erworben ist, sondern daß Freiheit, wie es schon in Goethes „Faust“ heißt, „täglich erobert“ werden muß. ({148}) Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie uns als Deutschen um so besser trauen können, je mehr wir Deutschen selbst unserer eigenen Kraft vertrauen. ({149}) Es waren in der Vergangenheit immer die gefährlichen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein, die zu Extremismus und Unfrieden geführt haben. In diesen Tagen ist es 80 Jahre her, daß der erste Weltkrieg zu Ende gegangen ist. In Frankreich und Deutschland ist damit das Gedenken an Leid und unsagbaren Schmerz verbunden. Beide Völker sind deswegen unumkehrbar in dem Bewußtsein geeint: „Nie wieder!“ Für uns Deutsche ist der gestrige Tag, der 9. November, geschichtsbeladen und ambivalent wie kein anderer. Kein anderes Datum symbolisiert Stolz und Schmerz, Freude und Schande in der Geschichte unserer Nation so sehr wie dieser 9. November. Es ist der Tag, da die erste deutsche Republik entstand. Es ist der Tag, an dem für Millionen von Ostdeutschen die Berliner Mauer passierbar wurde. Aber es ist auch der Tag der Reichspogromnacht, als 1938 Deutsche in verbrecherischem Rassenwahn im ganzen Land Synagogen anzündeten, die Häuser und Geschäfte jüdischer Mitbürger zerstörten und die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger töteten. Vieles, was die Väter und Mütter unserer Verfassung konzipiert haben, geschah vor allem in Erinnerung an diese nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Die gemeinsame Geschichte verpflichtet auch uns. Aber inzwischen - das ist gut so - ist unsere Demokratie kein zartes Pflänzchen mehr, sondern ein starker Baum. Die Deutschen haben mit Hilfe ihrer Freunde und Verbündeten die staatliche Einheit in Frieden und Selbstbestimmung vollenden können. Wir bekennen uns uneingeschränkt zu unserer Verankerung im westlichen Bündnis und in der Europäischen Union. Wir sind heute Demokraten und Europäer - nicht, weil wir es müßten, sondern weil wir es wirklich wollen, meine Damen und Herren. ({150}) Als Demokraten und Europäer wollen wir die Instrumente der Demokratie weiterentwickeln. Wir werden sie an den Erfordernissen einer modernen Politik ausrichten, die auf Partnerschaft und Dialog gegründet ist. Die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger werden wir stärken. Wir werden mit den Umweltverbänden über ein Verbandsklagerecht reden, das nicht noch mehr politische Entscheidungen auf die Justiz abwälzt, sondern die Beteiligung betroffener und sachkundiger Bürger schon im Vorfeld stärkt; darum geht es uns. Wir werden da, wo es geht, Gesetze mit einem Überprüfungsvorbehalt versehen und sie nach einem vernünftigen Zeitraum der Erprobung erneut dem Parlament vorlegen, um sie zu korrigieren oder auch zu bestätigen. Wir halten es mit der Maxime des großen Philosophen Ernst Bloch: Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe. Nicht nur dein Denken, sondern vor allem das zu Bedenkende hat sich unterdes geändert. Daran orientieren wir uns, wenn wir sagen: Wir wollen uns den Realitäten stellen und wieder einmal mehr Demokratie praktizieren. Meine Damen und Herren, es ist heute eine lebendige und stabile Demokratie, die wir beim Umzug der Verfassungsorgane nach Berlin mitnehmen. Die Baumaßnahmen dafür werden zügig zu Ende geführt, und die Bundesregierung wird helfen, die Voraussetzungen zu schaffen, die Berlin braucht, um seiner Aufgabe als Hauptstadt gerecht zu werden. Insbesondere die städtebauliche Neuordnung der Berliner Mitte werden wir unterstützen. Aber es geht ja um mehr als um einen Umzug, meine Damen und Herren. Es geht auch hier um einen Aufbruch. Wir gehen übrigens nicht nach Berlin, weil wir in Bonn gescheitert wären. Ganz im Gegenteil! Das 40jährige Gelingen der Bonner Demokratie, die Politik der Verständigung und guten Nachbarschaft, die Leuchtkraft eines Lebens in Freiheit haben dazu beigetragen, die deutsche Teilung zu überwinden und das zu ermöglichen, was wir heute gemeinhin „Berliner Republik“ nennen. Jürgen Habermas und viele andere erhoffen sich von dieser Berliner Republik ein, wie er formuliert hat, „ziviles Land, das sich kosmopolitisch öffnet und behutsam-kooperativ in den Kreis der anderen Nationen einfügt“. Daran wollen wir arbeiten. In der öffentlichen Diskussion hat es aber auch Einwände gegen diesen Begriff gegeben. Manchen klingt Berlin immer noch zu preußisch-autoritär, zu zentralistisch. Dem setzen wir unsere ganz und gar unaggressive Vision einer Republik der Neuen Mitte entgegen. Diese Neue Mitte grenzt niemanden aus. Sie steht für Solidarität und Innovation, für Unternehmungslust und Bürgersinn, für ökologische Verantwortung und eine politische Führung, die sich als modernes Chancenmanagement begreift. Symbolisch nimmt diese Neue Mitte Gestalt in Berlin an: mitten in Deutschland und mitten in Europa. Allerdings bleibt auch hier die Vergangenheit lebendig. In jüngster Zeit, meine Damen und Herren, werden große deutsche Unternehmen mit dieser Vergangenheit in besonderem Maße konfrontiert. Deshalb habe ich noch vor der Aufnahme meiner Amtsgeschäfte betroffene Industrieunternehmen zusammengerufen, um über einen gemeinsamen Fonds zur Entschädigung berechtigter Ansprüche von Zwangsarbeitern zu sprechen. ({151}) Gemeinsam heißt hier Gemeinsamkeit der Unternehmen. Ich habe den Eindruck, daß die Unternehmen zu einer fairen Lösung hinsichtlich der berechtigten Ansprüche bereit sind. Aber ich sage genauso deutlich: Wo es nicht um den Ausgleich erlittenen Unrechts geht, werden wir unseren Unternehmen und damit auch ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Inland, aber auch im Ausland Schutz gewähren. Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin wird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, sondern unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Debatte hier im Deutschen Bundestag. Wir sind sicher, daß wir dabei eine würdige Lösung finden werden, die in ein Gesamtkonzept für die Gedenkstätten in Deutschland eingebettet wird. Aber in diesem Geschichtsbewußtsein sagen wir auch, daß Berlin noch für ganz andere Traditionen steht als nur für die Erinnerung an totalitäre Schreckensherrschaft. Berlin steht auch für demokratische Selbstbehauptung und Freiheitswillen; beides wurde vor allem von den sozialdemokratischen Stadtoberhäuptern Ernst Reuter und Willy Brandt verkörpert. ({152}) Berlin steht für ein weltoffenes Klima, das die Stadt zum Anziehungspunkt für die Jugend und für die kulturelle Avantgarde aus ganz Europa gemacht hat. Die kulturellen Brücken nach New York, Warschau, Moskau und Paris sind längst wieder geschlagen. Für die jüngeren Deutschen und Europäer ist Berlin vor allem eine heitere und aufregende Stadt, die sie von Klassenreisen, Fußballspielen oder auch von der Love-Parade her kennen. ({153}) Herr Fraktionsvorsitzender, ich weiß nicht, warum Sie so besonders lächeln. ({154}) Auch und gerade an diesen Traditionen werden wir anknüpfen, wenn wir Berlin zur Hauptstadt einer Republik der Neuen Mitte machen wollen. Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zur kulturellen Förderung Berlins. ({155}) Diese wird mit Unterstützung kultureller Projekte und Einrichtungen in den neuen Ländern einhergehen. Zur Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen des Bundes schaffen wir das Amt eines Staatsministers für kulturelle Angelegenheiten. Er wird Impulsgeber und Ansprechpartner für die Kulturpolitik des Bundes sein und sich auf internationaler, aber vor allem auf europäischer Ebene als Interessenvertreter der deutschen Kultur verstehen. Auch dadurch wird die Bundesregierung Kulturpolitik wieder zu einer großen Aufgabe europäischer Innenpolitik machen. Meine Damen und Herren, die Republik der Neuen Mitte ist auch eine Republik des Diskurses. Er findet nicht hinter den verschlossenen Türen der Gremienvorstände statt. Die Neue Mitte sucht den Konsens über das beste Ergebnis und nicht den Kompromiß über den kleinsten gemeinsamen Nenner. Die neuen Medien sind für sie nicht in ein paar mehr oder ein paar weniger Kanälen im Privatfernsehen, sondern bedeuten für sie den technisch unbegrenzten Zugang zum Wissen und zum weltweiten Informationsaustausch. ({156}) Wir werden uns dafür einsetzen, gemeinsam mit den Ländern und den Partnern aus der Industrie an den Schulen einen kostenlosen oder zumindest kostengünstigen Internetzugang zu ermöglichen. Im Zeitalter von Internet und Online-Kommunikation muß aber auch das Wort von der demokratischen Öffentlichkeit einen neuen Klang bekommen. Die neuen Wege der Informationsvermittlung sind eine hervorragende Chance, die Gesellschaft zum Sprechen zu bringen; aber sie bergen auch Gefahren. Einer verantwortlichen Medienpolitik kommt deshalb zentrale Bedeutung zu. Jeder soll Zugang zu den neuen Medien haben, jeder soll ihren Nutzen und ihre Grenzen kennen. Deshalb meinen wir es wörtlich, wenn wir dazu auffordern, unsere Kinder den Umgang mit Computern zu lehren: nicht nur die Technik, sondern mehr noch die Kultur dieser Form der Kommunikation. Aus Bonn, meine Damen und Herren, nehmen wir eine gelebte, eine lebendige demokratische Transparenz mit nach Berlin. Diese Transparenz wird hier in diesem Haus des Deutschen Bundestags in großartiger Architektur sichtbar. Den Reichstag, der nun bald Deutscher Bundestag sein wird, überwölbt eine gläserne Kuppel, wir wir wissen. Das ist nach meiner Auffassung mehr als ein hübsches architektonisches Detail. Es sollte ein Symbol für neue Offenheit und für demokratische Renovierung dieses so sehr geschichtsbeladenen Gebäudes sein. Es kann ein Symbol für die moderne Kommunikation einer staatsbürgerlichen Öffentlichkeit werden. Diese Öffentlichkeit beschränkt sich nicht auf die Politik. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften als wichtigen Kräften des kulturellen, politischen und sozialen Lebens werden wir fördern und fortsetzen. Wir begrüßen den Dialog der Religionsgemeinschaften untereinander und ihre Bereitschaft, zu den brennenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gestaltungsfragen mit Anregungen und Kritik beizutragen. ({157}) Das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in Vereinen und Verbänden, im Sport, in Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen ist eine der Keimzellen unseres sozialen Zusammenlebens und einer eigenverantwortlichen Gestaltung unserer Existenz. Herr Kollege Schäuble, verzeihen Sie, aber weil Sie dies alles - ein wenig machtverliebt und machtversessen übersehen haben, haben Sie verloren. Das ist der Grund. ({158}) Von Koalition ist bei uns meist nur die Rede, wenn es um Parteien geht. Diese braucht man auch. Wir streben jedoch eine große gesellschaftliche Koalition an, eine Koalition aller Kräfte, die den Wandel in Deutschland gestalten wollen. Wir bieten nicht nur ein Bündnis für Arbeit an. Nein, meine Damen und Herren, wir wollen ein Zukunftsbündnis in diesem Land schaffen. ({159}) Berlin ist aber auch die Stadt, die quälende Jahrzehnte lang durch den Ost-West-Konflikt geteilt war. So glücklich wir Deutschen über dessen Überwindung sind, so bewußt sind wir uns auch, daß das Ende des kalten Krieges noch lange nicht den Weltfrieden gebracht hat. Der weltpolitische Umbruch hat in vielen Regionen neue Instabilitäten und gewaltsame Konflikte ausgelöst, auch vor unserer Haustür in Europa. Flüchtlingselend, Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung in den Ländern des Südens sind ein gefährlicher Nährboden für diese und neue Konflikte. Angesichts solcher Risiken, aber vor allem angesichts der Chancen internationaler Zusammenarbeit erwartet die Welt von uns mehr als je zuvor, daß wir unseren Verpflichtungen im Rahmen unserer Bündnisse gerecht werden. Wir bleiben in Europa und in der Welt verläßliche Partner. Der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika verdanken wir viel: nicht weniger als den Frieden und unsere Freiheit. Ich will es gar nicht verhehlen, meine Damen und Herren: Etliche, die heute in diesem Deutschen Bundestag sitzen, und auch manche, die jetzt Mitglieder der Regierung sind, waren nicht immer mit allem einverstanden, was unsere amerikanischen Partner vor allem in der Hochrüstungsphase des kalten Krieges getan und vorgeschlagen haben. ({160}) Sie standen damit übrigens nicht allein in der westlichen Welt. Es ist aber dieselbe Generation, die von kaum einem Ereignis der Nachkriegsgeschichte so geprägt worden ist wie von John F. Kennedys Berlin-Besuch und seinem Bekenntnis zur Freiheit Westberlins. ({161}) Schriftsteller haben diese Generation als - ich zitiere - „Kinder der amerikanischen Zone“ bezeichnet. Sie ist mit amerikanischer Kultur und amerikanischen Produkten aufgewachsen. Aus der kritischen Distanz der Kinder wurde die Partnerschaft von Erwachsenen. Die Freundschaft mit Amerika wurde dieser Generation nicht aufgezwungen, sie wurde ihr von amerikanischer Demokratie und Kultur angeboten. Es ist eine Freundschaft, die auf gegenseitiges Verständnis und immer bessere gegenseitige Kenntnis gebaut ist. Es ist eine Freundschaft, die sich bewährt hat und vor keiner Bewährungsprobe steht. Wir garantieren sie nicht nur aus Kontinuität und Bündnistreue heraus, nein, wir garantieren sie aus jenem Vertrauen, das nur aus partnerschaftlichem Miteinanderreden und Miteinanderfühlen entstehen konnte. Wir stehen überzeugt zu unseren Verpflichtungen im Rahmen der Atlantischen Allianz. ({162}) Die Instrumente der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik wollen wir ausbauen und nutzen, um Europa in der internationalen Politik endlich handlungsfähig zu machen. Darauf warten auch unsere Freunde in den Vereinigten Staaten mit Ungeduld. Deutsche Außenpolitik ist und bleibt Friedenspolitik. Dabei bekennen wir uns ausdrücklich zu der Bereitschaft, an friedenssichernden und friedenserhaltenden Maßnahmen und Missionen mitzuwirken. Das gilt besonders auch für die Lage in Südosteuropa. Wir wissen sehr genau, daß es nicht genügt, zur Durchsetzung der Menschenrechte etwa im Kosovo ein militärisches Drohpotential zu mobilisieren und, sollte dies unvermeidlich sein, es auch einzusetzen. Viel wichtiger als ein eventueller Militärschlag ist die Aufgabe, die Einhaltung geschlossener Abkommen zu überwachen und die Friedenssicherung vor Ort zu gewährleisten. Auch bei der Erfüllung dieser Aufgabe werden sich unsere Partner auf uns verlassen können. ({163}) In Europa kommt dabei der OSZE als der einzigen gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation überragende Bedeutung zu. Bei der Befriedung des Kosovo hat sie sich bereits eine Aufgabe neuer Qualität gesetzt. Die Bundesregierung unterstützt diese Mission mit allen Kräften. Wir liefern damit auch eine hochmoderne Definition vom Wirken der Bundeswehr als einer Armee, die dem Frieden dient. Unsere Soldaten setzen heute ihr militärisches Know-how in immer mehr Bereichen zivil ein. ({164}) - Jetzt haben Sie aber was! Es sei Ihnen gegönnt. ({165}) Eine entscheidende politische Schwäche wurde soeben ausfindig gemacht. ({166}) Das wird so weitergehen. Bei der Befriedung des Kosovo - ich hatte es schon gesagt - hat die Bundeswehr sich bereits eine Aufgabe neuer Qualität gesetzt. Die Aufgaben der Bundeswehr reichen von der Eindämmung von Naturkatastrophen bis hin zu aktiver Demokratisierungshilfe. Ausdrücklich danken wir den jungen Deutschen, die in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo militärisch und zivil den Frieden wahren helfen. ({167}) Sie wissen, welche Hypothek sie tragen, wie genau ihr Auftritt in der Welt, aber auch hier in Deutschland beobachtet wird. Und sie lösen ihre Aufgabe mit bewundernswerter Disziplin und Professionalität. Selbstverständlich wird die Bundeswehr weiterhin zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigt bleiben. Eine Wehrstrukturkommission wird bis Mitte der Legislaturperiode Vorschläge unterbreiten über Auftrag, Umfang, Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte. Dabei betonen wir allerdings in aller Deutlichkeit, daß das Vorhalten militärischer Potentiale der Krisenprävention dienen soll, wie auch ihr Einsatz die Ultima ratio der Friedenspolitik bleiben muß. ({168}) Wir werden unsere Bemühungen zur weltweiten Abrüstung und Rüstungskontrolle noch verstärken. Die Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung der Massenvernichtungswaffen fest. ({169}) Wir wissen, daß es der Welt nicht gutgehen kann, wenn es wenigen immer besser und vielen immer schlechter geht. Die Überwindung der Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen bleibt die größte internationale Herausforderung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt ist in den vergangenen 16 Jahren um beinahe die Hälfte gesunken, auf jetzt noch 0,28 Prozent. Diesen Abwärtstrend werden wir stoppen und dabei auf Effizienz und Kohärenz der Maßnahmen zur Bewältigung globaler Zukunftsaufgaben achten. ({170}) Dem Wirtschaftsgipfel 1999 in Köln werden wir eine Initiative zur weiteren Erleichterung der Schuldenlast der ärmsten Entwicklungsländer unterbreiten. Gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union werden wir die regionale Zusammenarbeit mit den Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika ausbauen. Den von verheerenden Naturgewalten heimgesuchten Staaten Zentralamerikas werden wir helfen, ({171}) nicht nur mit unmittelbarer humanitärer Hilfe, sondern auch mit Mitteln für den Wiederaufbau ihrer fast vollständig zerstörten Infrastrukturen. Deshalb werden wir uns in den zuständigen internationalen Gremien für einen möglichst umfassenden Schuldenerlaß einsetzen. ({172}) Den Vereinten Nationen werden wir eigenständige Einheiten für friedenserhaltende Maßnahmen anbieten. Dabei setzt sich die Bundesregierung aktiv dafür ein, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren und die Rolle des Generalsekretärs zu stärken. ({173}) Die Möglichkeit, Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu werden, werden wir wahrnehmen, sofern ein gemeinsamer europäischer Sitz nicht erreichbar ist. Wir maßen uns nicht an, international die Rolle einer Führungsmacht zu spielen oder in Krisensituationen ohne Abstimmung mit unseren Partnern politische Initiativen zu ergreifen. Uns ist weltweit an guter Zusammenarbeit gelegen. Auch unsere Außenwirtschaftsbeziehungen sollen dem Frieden und der Demokratisierung dienen. Als dritte Säule unserer Außenpolitik werden wir die auswärtige Kulturpolitik stärken und ausbauen. Das ist gerade unter den Bedingungen der Globalisierung unverzichtbar. ({174}) Wir wissen aus eigener Erfahrung: Frieden braucht wirtschaftliche Entwicklung, und die wirtschaftliche Entwicklung braucht Frieden. Nur dort können Krisen auf Dauer gelöst werden, wo die Menschen spüren, daß sich Frieden und Demokratie lohnen und daß friedliche Entwicklung ihre Lage spürbar verbessert. Eine solche Aufgabe stellt sich uns gemeinsam mit unseren europäischen Partnern etwa im Nahen Osten. Im Friedensprozeß zwischen Israel, den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten können und wollen wir nicht die Rolle des Paten im Friedensprozeß spielen. Dieser Part kommt den Vereinigten Staaten von Amerika und den internationalen Organisationen zu. Aber wir Europäer können und sollten durch gezielte Wirtschaftshilfe, durch Öffnung der Märkte und durch die Beteiligung an Infrastrukturmaßnahmen dazu beitragen, den Friedensprozeß unumkehrbar zu machen. Damit können wir unserer historischen Verantwortung gerecht werden - auch und gerade für Israel und für den Frieden. ({175}) Die Einbindung Deutschlands in die Europäische Union ist von zentraler Bedeutung für die deutsche Politik. Die Bundesregierung wird deshalb insbesondere die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 nutzen, um den europäischen Integrationsprozeß voranzutreiben. Nur durch die Weiterentwicklung zu einer Politischen Union sowie zu einer Sozial- und Umweltunion wird es gelingen, unser Europa bürgernah zu gestalten. ({176}) Durch den Regierungswechsel in Deutschland und durch die neuen politischen Realitäten in Europa ergibt sich endlich die Chance einer europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit kann endlich auch als europäische Frage behandelt werden. Er ist eben nicht mehr länger eine Fußnote zu den Beschlüssen des Ministerrates, sondern er steht auf der europäischen Tagesordnung ganz oben. ({177}) Unser Ziel ist ein europäischer Beschäftigungspakt. In ihm sollen ausdrücklich verbindliche Ziele zum Abbau der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie zur Überwindung der Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt aufgenommen werden. Zur Schaffung von zukunftsfähigen Arbeitsplätzen werden wir uns auch in der Europäischen Union für eine Politik der ökologischen Modernisierung einsetzen. Die Europäische Währungsunion ist eine unumkehrbare Tatsache. Der Euro wird uns die völlige Vergleichbarkeit der Preise und der Leistungen bringen. Damit ist die Zeit nationaler Alleingänge endgültig vorbei. Das gilt zum Beispiel auch für die Weiterentwicklung der ökologischen Steuerreform. Sie muß und sie kann nur in einem europäischen Rahmen auf Dauer gelingen. ({178}) Die gemeinsame Währung muß ein Erfolg werden. Das heißt: Sie muß stabil sein und stabil bleiben. Die Stabilitätsorientierung der künftigen europäischen Geldpolitik stellen wir nicht in Frage. Aber auch die vom Bundesbankpräsidenten selbst als wünschenswert bezeichnete Diskussion um die Zinspolitik - um auf einen aktuellen Punkt einzugehen - wollen und werden wir führen. ({179}) Dabei hat niemand - ich wiederhole: niemand - die Unabhängigkeit der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank in Frage gestellt. ({180}) - Sie interpretieren das immer gerne anders. Aber es ist so, wie ich es Ihnen hier sage; glauben Sie es mir. ({181}) Diese Unabhängigkeit ergibt sich aus dem Bundesbankgesetz und aus dem Maastrichter Vertrag. Dort wurde sie verankert, weil sie sachlich geboten ist und weil sie der Stabilität dient. ({182}) Aber ich füge hinzu: Dabei entspricht es entwickelter und guter europäischer Tradition demokratisch verfaßter Gesellschaften - auch deshalb steht dies darin -, daß zum Beispiel die Europäische Zentralbank ihre in voller Souveränität gefaßten geldpolitischen Entscheidungen regelmäßig dem Europäischen Parlament darlegen wird. Was spricht dagegen? ({183}) Der Bundesfinanzminister hat als einer der ersten auf die Notwendigkeit hingewiesen, zu wirksamen internationalen Vereinbarungen zu kommen, um die Turbulenzen auf den Weltfinanzmärkten zu glätten. Diese Notwendigkeit wird heute bei der Bundesbank, bei den europäischen und nordamerikanischen Partnern - bis hin zur Weltbank und zur US-Notenbank - genauso gesehen. Auch und gerade wegen der internationalen Finanzkrisen müssen wir darauf hinwirken, daß Europa mit einer Stimme spricht. Es wird deshalb ein erster Schwerpunkt der Ratspräsidentschaft sein, die Deutschland am 1. Januar 1999 übernimmt, die Verhandlungen zur Agenda 2000 bereits bei einem Sondertreffen des Europäischen Rates im Frühjahr 1999 abzuschließen. Das ist gewiß eine immens schwierige Aufgabe. Aber wir wollen den ernsthaften Versuch unternehmen, diese Aufgabe zu erfüllen. Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzen wollen wir dabei auch zu einer höheren Beitragsgerechtigkeit kommen und die deutsche Nettobelastung auf ein faires Maß verringern. Ich muß aber in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß diese Belastungen im Jahre 1992 mit der Stimme der damaligen Bundesregierung unter anderen Bedingungen - das ist gar keine Frage - beschlossen worden sind und daß es schwierig sein wird - das weiß jeder, der sich dieser Aufgabe angenommen hat -, diese Beschlüsse, auf deren Realisierung viele der Partner setzen, wenigstens in etwa zu korrigieren. Wir werden daran arbeiten. In diesem Punkt sind wir uns ja alle in diesem Hause einig. Bei der Agrarpolitik werden wir uns auf europäischer Ebene für grundlegende Veränderungen einsetzen. Wo die Angleichung der Preise an das Weltmarktniveau die deutschen Bauern benachteiligt, müssen wir in Europa ein System direkter Einkommensbeihilfen durchsetzen, ein System, das auch national ergänzt werden können muß. Auch die EU muß sparsam wirtschaften, ihre Mittel effizient und zielgerecht einsetzen und den Subventionsmißbrauch bekämpfen. Auch in Europa müssen wir uns auf die strukturschwächsten und förderungsbedürftigsten Regionen konzentrieren. Dabei dürfen die neuen deutschen Bundesländer gegenüber vergleichbaren Regionen Europas nicht in einen Nachteil geraten. Wir werden dafür sorgen, daß Deutschland in der EU nicht länger als Bremser bei der Sozialpolitik auftritt. ({184}) Wir werden aktiver Schrittmacher bei der Reform der EU sein. Wir wollen nicht, daß der Euro deutsch spricht. Wir wollen, daß D-Mark, Franc und Schilling europäisch sprechen. ({185}) Die Erwartungen unserer Nachbarn und Partner an diese Bundesregierung sind enorm. Wir werden versuchen, diese Erwartungen nicht zu enttäuschen. Die regelmäßigen Konsultationen mit Frankreich und Großbritannien sind für uns keine bloße Formsache. Die deutsch-französische Freundschaft ist das Fundament unserer Europapolitik. Diese Freundschaft wollen wir auf eine noch breitere gesellschaftliche und vor allem kulturelle Grundlage stellen. Unseren Nachbarn im Osten versichern wir, daß wir die Chance der EU-Osterweiterung entschlossen nutzen wollen. Europa wird und darf nicht am ehemaligen Eisernen Vorhang oder an der deutschen Ostgrenze enden. ({186}) Die Deutschen werden eben nicht vergessen, welch unschätzbaren Beitrag die Völker in Ungarn und in Polen zumal zur Überwindung der deutschen Teilung geleistet haben. Wir wollen sie partnerschaftlich in die EU integrieren. ({187}) Dazu gehört auch die Beachtung angemessener Übergangsfristen, zum Beispiel bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Dies bitte ich wirklich alle zu verstehen. Die Beachtung dessen dient eben nicht der Abwehr und Verzögerung, sondern dem vollständigen Gelingen und der Integration. Die Bundesregierung ist sich ihrer besonderen historischen Verantwortung gegenüber Polen bewußt. Sie wird ihr mit dem Angebot einer immer engeren Partnerschaft sowie der Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und Polen gerecht werden. Die Bundesregierung wird zügig daran arbeiten, auf Grundlage der Deutsch-Tschechischen Erklärung noch bestehende Probleme im Verhältnis zur Tschechischen Republik abzubauen. ({188}) Meine Damen und Herren, die gemeinsame Währung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur europäischen Integration. Aber sie gibt nur einen Rahmen vor, einen Rahmen, den wir mit Leben füllen müssen. Wir brauchen eine zügige und glaubwürdige Demokratisierung der europäischen Institutionen. Dabei steht für die Bundesregierung fest, daß unser Europa die nationalen Identitäten nicht ersetzen oder aufheben soll. Dennoch oder gerade deshalb scheint eine föderale Ordnung in Europa die beste Gewähr für Solidarität und Fortschritt zu sein. Bei uns in Deutschland hat sich das föderale System bewährt. Bund und Länder bleiben auf Kooperation angewiesen. Kooperation bedeutet nicht die Aufgabe der eigenen Interessen. Wer wüßte das besser als ich? Die Bundesregierung wird sich an der gemeinsamen Formulierung einer zeitgemäßen Aufgabenverteilung im Verhältnis zwischen Bund und Ländern beteiligen. Nur im sachgerechten Interessenausgleich werden beide Seiten ihrer gesamtstaatlichen und europäischen Verantwortung gerecht. Am Ende dieses Jahrtausends wird Deutschland zwei internationale Großereignisse ausrichten. Im Jahre 1999 wird Weimar europäische Kulturhauptstadt sein; im Jahr darauf findet die Weltausstellung 2000 in Hannover statt. Beide Veranstaltungen werden die Bundesrepublik Deutschland ins internationale Rampenlicht stellen. Weimar wird die erste europäische Kulturhauptstadt in den neuen Bundesländern sein und versuchen, eine Brücke zwischen dem kulturellen Erbe und dem historischen Auftrag aus unserer Geschichte zu schlagen. Die Expo 2000 wird für unseren Aufbruch in die Welt des 21. Jahrhunderts stehen. Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung dieser beiden Ereignisse bewußt, und sie wird ihnen zu internationalem Erfolg verhelfen. Sie verläßt sich dabei auch auf die Leistungsbereitschaft, die Gastfreundschaft und die Neugier der Menschen in Deutschland. Gegen die Konkurrenz der Wirtschaftsstandorte setzen wir das Konzept von Europa als Lebensort und Lebensart. Wir stehen für das Zukunftsprojekt Deutschland in Europa. Dabei stehen wir in vorderster Reihe mit den sozialen Modernisierern unserer Nachbarländer. Diese Chance, gemeinsam ein modernes Europa der sozialen Marktwirtschaft und der ökologischen Verantwortung zu bauen, werden wir ergreifen. Wir machen keine unhaltbaren Versprechungen. Aber wir können und wir wollen Mut machen, Mut zu einer neuen Zivilität und zu mehr Partnerschaft, aber auch Mut zum Optimismus, zur Neugier auf die Zukunft. ({189}) Ich erinnere an Willy Brandt, der vor diesem Parlament 1973 in der Regierungserklärung seines Reformbündnisses den „vitalen Bürgergeist“ zitiert hat, der in dem Bereich zu Hause sei, den auch Willy Brandt damals „die neue Mitte“ genannt hat. Helmut Schmidt hat vor diesem Haus in seiner Regierungserklärung 1976 in vergleichbar schwieriger Wirtschaftslage gesagt: Die Bundesregierung setzt bei ihren Bemühungen zuallererst - ich zitiere ihn - auf den Fleiß, die Intelligenz und das Verantwortungsbewußtsein der Deutschen. Daran knüpfe ich bewußt an, und ich bin sicher, meine Damen und Herren, wir werden es schaffen, weil wir Deutschlands Kraft vertrauen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({190})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist mir eine große Freude, auf der Ehrentribüne den Beauftragten der OSZE für Medienfreiheit, unseren langjährigen Kollegen Freimut Duve, begrüßen zu dürfen. ({0}) Lieber Kollege Duve, hier im Parlament werden Sie vermißt. Sie haben eine neue, verantwortungsvolle Aufgabe übernommen. Ich möchte Ihnen im Namen des Hauses für Ihre bisherige Arbeit herzlich danken und wünsche Ihnen für die Zukunft viel Erfolg. ({1}) Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich mitteilen, daß heute zum erstenmal hinter dem Präsidentenstuhl der neue Direktor beim Deutschen Bundestag, Herr Dr. Peter Eickenboom, Platz genommen hat. ({2}) Er folgt Dr. Rudolf Kabel nach. Dr. Kabel hat dieses Amt mehr als sieben Jahre mit großer Sachkunde ausgeübt und ist nunmehr in den Ruhestand getreten. Von dieser Stelle aus nochmals herzlichen Dank für die im Dienste des Parlaments geleistete Arbeit. Alles Gute auch ihm für die Zukunft. ({3}) Den neuen Direktor haben Sie schon willkommen geheißen. Ich tue das auch noch offiziell. Ich wünsche ihm für sein verantwortungsvolles Amt eine glückliche Hand und Gottes Segen. ({4}) Ich eröffne jetzt die Aussprache. Das Wort hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Wolfgang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, es ist wahr: Sie haben am 27. September mit Rotgrün die Wahl gewonnen. Wir haben Ihnen dazu gratuliert. Wir wünschen auch unter Ihrer Regierung unserem Land eine gute Zukunft. ({0}) Sie werden allerdings in der Zukunft nicht jede sachliche Einwendung gegen Ihre Absichten und Ihre Politik mit dem Hinweis auf das Wahlergebnis abtun können. Sie müssen sich in der Zukunft schon mit der Sache auseinandersetzen. ({1}) Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben - nicht mit einem Übermaß an Freude, aber in demokratischem Respekt - das Wahlergebnis nicht nur akzeptiert, sondern den Oppositionsauftrag für diese vier Jahre angenommen. Wir werden eine kämpferische, eine kritische Opposition sein. Wir werden nicht Opposition um der Opposition willen betreiben. Wo Sie Absichten verfolgen, eine Politik betreiben, der wir zustimmen, werden wir Sie nicht kritisieren, nur um andere Positionen zu vertreten. Aber wo es um der Sache willen geboten ist, werden wir das Wächteramt der Opposition kämpferisch, aufmerksam wahrnehmen. Darauf können Sie zählen. ({2}) So dienen wir gemeinsam in unterschiedlicher Verantwortung und in demokratischer Gemeinsamkeit unserem Land. Gleich zu Beginn sagen will ich auch: Ihre Regierungserklärung war eine Enttäuschung. ({3}) Es ist eine Ansammlung von Überschriften und Absichtserklärungen. Aber wo es um inhaltliche Substanz geht, bleibt sie, trotz einer nicht unbeachtlichen Dauer aber eine Regierungserklärung am Anfang einer neuen Legislaturperiode muß alle Themen behandeln; das braucht seine Zeit -, bemerkenswert blaß. ({4}) Noch spannender ist im übrigen, was Sie in Ihrer Regierungserklärung nicht erwähnt haben. Zwar haben Sie am Schluß, im Zusammenhang mit der Europäischen Währungsunion und der aktuellen Debatte, die Ihr Finanzminister nebst Frau Gemahlin ausgelöst haben, ({5}) ein paar Bemerkungen dazu gemacht; aber ausschließlich in diesem Zusammenhang ist in Ihrer Regierungserklärung das Wort „Preisstabilität“ vorgekommen. Das ist mir schon aufgefallen, und durchaus bemerkenswert. ({6}) - Ganz langsam! Wir machen es ganz in Ruhe. Wir haben in Ihrer Regierungserklärung eine Menge ertragen müssen, was so nicht akzeptabel ist. Daß man nach einem demokratischen Wechsel alles ein wenig anders darstellt, ist ja in Ordnung. Aber mit HelmutSchmidt-Zitaten zu enden und zum deutschamerikanischen Verhältnis so zu reden, wie Sie es getan haben, und gleichzeitig zu verschweigen, daß Sie gegen den NATO-Doppelbeschluß demonstriert und darüber Helmut Schmidt gestürzt haben - während Helmut Kohl und wir dafür gesorgt haben, daß er durchgesetzt werden konnte -, ist schon ein starkes Stück. ({7}) Man kann ja über Erblast und andere Dinge reden. Aber ein paar Dinge müssen am Anfang klargestellt sein: Davon zu reden, daß für die Frauen, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nichts getan worden sei in Deutschland, ist angesichts der Tatsache, daß in den 16 Jahren, in denen Helmut Kohl Bundeskanzler war, in denen wir, die CDU/CSU und die F.D.P., gemeinsam Regierungsverantwortung getragen haben, die Berücksichtigung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt worden ist, schon eine Unverschämtheit. ({8}) Wir haben den Erziehungsurlaub und das Erziehungsgeld eingeführt. In Ländern, in denen die Union regiert, gibt es ein drittes Jahr Erziehungsgeld; in Ländern, in denen die SPD regiert, gibt es das nicht. Das ist der Unterschied, und das darf man nicht verfälschen. ({9}) Was Sie zur Solidarität mit den Menschen im Osten, in den neuen Bundesländern, gesagt haben, das will ich mit der Hoffnung so stehenlassen, daß das neue Amt Ihnen auch eine neue Einsicht gibt. Wer sich noch daran erinnert, was Sie als Ministerpräsident von Niedersachsen zur Solidarität mit den Menschen in den neuen Ländern gesagt haben, kann nur hoffen, daß Sie in der neuen Verantwortung ein neues Verständnis von Solidarität aller Deutschen in Ost und West haben. ({10}) Als Sie von der Einbindung der Vertreter der Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR in Ihre Regierung und Koalition sprachen, Herr Bundeskanzler, hätten Sie auch ein Wort zu der Koalition von SPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern sagen müssen. ({11}) - Das will ich Ihnen sagen, Herr Kollege. Ich habe dazu eine Agenturmeldung der „AFP“ vom 9. November. Darin steht: Bundesinnenminister Otto Schily will die Überwachung der PDS durch den Verfassungsschutz neu überprüfen. Schily sagte am Montag vor Journalisten in Berlin, es sei eine „vertrackte Situation“, wenn die PDS wie in Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung beteiligt sei und andererseits vom Verfassungsschutz beobachtet werde. Der Mann hat recht: Das ist eine vertrackte Situation. ({12}) - Natürlich, deswegen gehört das in eine Regierungserklärung, wenn man von der Bürgerrechtsbewegung spricht. Wenn das eine vertrackte Situation ist, dann ist die richtige Schlußfolgerung, mit der PDS keine Koalition zu bilden, anstatt aufzuhören, sie durch den Verfassungsschutz überwachen zu lassen. ({13}) - Über das Thema könnten wir noch länger reden. ({14}) - Ja, natürlich! Die Regelanfrage bei der StasiÜberwachungsbehörde abschaffen. Lesen Sie doch einmal nach, was Herr Gauck und Richard Schröder, Ihr Parteifreund, dazu gesagt haben. Die PDS hat sich mit ihrer totalitären Vergangenheit nicht auseinandergesetzt. Aber Sie wollen der PDS helfen, die Vergangenheit wegzuwischen. Wir werden dabei nicht mitmachen. ({15}) Ich rate dazu, daß wir die Verfassungsschutzbehörden auch in der Zukunft ermuntern, die Frage, ob eine Organisation beobachtet werden muß oder nicht, nach ihrem Gefahrenpotential für die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beurteilen und nicht danach, ob die SPD mit der Organisation koaliert. Das ist der Punkt, weshalb ich meine, daß die vertrackte Situation falsch aufgelöst ist. ({16}) Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine andere Agenturmeldung zitieren, die ich heute morgen mit Befriedigung gelesen habe. Sie ist von „dpa“. Da steht Herr Bundeskanzler, dazu haben Sie gar nichts gesagt, obwohl Sie viel von Erblast gesprochen haben -: Niedrigste Preissteigerung seit Vereinigung: 0,7 Prozent. Die Lebenshaltungskosten sind in Deutschland im Oktober um 0,7 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gestiegen. Meine Damen und Herren, auch das gehört zur Eröffnungsbilanz dieser Regierung: ein Maß an Preisstabilität, wie wir es in Deutschland niemals zuvor gekannt haben. ({17}) Wer weiß und sich daran erinnert, daß Inflation immer die brutalste Form der Ausbeutung der sozial schwächeren Bevölkerungsschichten gewesen ist, der muß, wenn er für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit - im Ziel sind wir uns einig - stehen will, dafür sorgen, daß die Preisstabilität erhalten bleibt. Deswegen gehört das zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung. ({18}) Herr Bundeskanzler, wenn Sie Ihrem Vorgänger im Amt zu Recht bei vielen Gelegenheiten immer wieder Ihren Respekt bekunden, ist das in Ordnung. Den teilen wir, sogar mehr als Sie. Aber dann die Ergebnisse und die Politik von Helmut Kohl und seiner Regierung so zu verfälschen, wie Sie es in Ihrer Regierungserklärung getan haben, ist nicht in Ordnung. Das paßt nicht zusammen. ({19}) Deswegen muß am Anfang der Debatte über Ihre Regierungserklärung, am Beginn dieser Legislaturperiode von der Opposition um der Wahrheit und der künftigen Bewertung der Ergebnisse Ihrer Politik willen festgehalten werden, was die Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung tatsächlich ist. ({20}) - Unsere Bundesregierung hinterläßt geordnete Staatsfinanzen. ({21}) Es ist bemerkenswert. Die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute haben in ihrem Herbstgutachten im Oktober doch mitgeteilt, daß nach ihrer Meinung ein Entlastungsspielraum für eine Steuerreform im Jahre 1999 in einer Größenordnung von gesamtstaatlich etwa 20 bis 30 Milliarden DM netto zur Verfügung steht. Das ist das Ergebnis der Finanzpolitik unserer Regierung, und das ist die Eröffnungsbilanz der Ihren. ({22}) Die Steuereinnahmen sind im Jahre 1998 deutlich stärker gestiegen, als im Bundeshaushalt 1998 eingestellt, und die Ausgaben sind weniger gestiegen, als im Bundeshaushalt 1998 vorgesehen. Die Arbeitslosigkeit ist stärker zurückgegangen, als wir selber dafür finanzielle Vorsorge getroffen haben. Im Oktober war die Arbeitslosigkeit in Deutschland das ist die Eröffnungsbilanz - um knapp 400 000 niedriger als im Oktober des Vorjahres. Ein Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland um 400 000 in einem Jahr ist ein großer Erfolg der letzten Regierung. Dieser Trend gehört zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung. ({23}) Wir haben stabile Preise. Wir haben ein niedriges Zinsniveau, ein Zinsniveau auf historischem Tiefststand. Das ganze Gerede von Herrn Lafontaine ist also unhaltbar. Es ist eine geplante, langfristig angelegte Kampagne mit dem Ziel, die Unabhängigkeit von Bundesbank und Europäischer Zentralbank durch Einschüchterung und politischen Druck schrittweise einzuengen. Die ganze Kampagne entbehrt jeder sachlichen Grundlage, denn wir haben in Deutschland niedrigere Zinsen als in Amerika und in den meisten europäischen Ländern. Unser Zinsniveau ist auf einem historischen Tiefststand. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz. ({24}) - Das kann man endlos weitermachen. Wir haben eine Steuerquote von 21 Prozent, und die Staatsquote liegt in diesem Jahr unter 48 Prozent. Sie liegt deutlich niedriger als am Anfang der Regierungszeit von Helmut Kohl. Da Sie gerade Helmut Schmidt zitiert haben: Es gehörte zur Eröffnungsbilanz unserer Regierung, daß die Staatsquote damals über 50 Prozent lag, und heute liegt sie trotz der Wiedervereinigung unter 48 Prozent. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz. ({25}) Deswegen sage ich noch einmal: Stabile Preise, solides Wirtschaftswachstum, 2,7 Prozent reales Wachstum in diesem Jahr, rückläufige Arbeitslosigkeit - 400 000 weniger in einem Jahr -, niedrige Zinsen, geordnete Staatsfinanzen - das ist die Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung. An diesen Zahlen und Trends werden Sie sich in der Zukunft messen lassen müssen. ({26}) Sie versuchen jetzt, die Prognosen zu verändern, indem Sie sagen, im nächsten Jahr werde es schwieriger werden, und indem Sie nach unten rechnen. Ich sage Ihnen: Wenn sich die Prognosen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und für die Entwicklung am Arbeitsmarkt verändern sollten, dann wäre das vor allem und in erster Linie das Ergebnis der Ankündigungen einer falschen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik von RotGrün. ({27}) Sie haben angekündigt, daß Sie unsere Maßnahmen rückgängig machen wollen, so zum Beispiel die Regelung zum Schlechtwettergeld. Ich würde Ihnen raten: Überlegen Sie es sich noch einmal. Die Tarifpartner in der Bauwirtschaft haben doch alles gut geregelt. Warum wollen Sie denn mit einer gesetzlichen Neuregelung schon wieder in abgeschlossene Tarifverträge eingreifen? Ich finde, wenn wir Dezentralisierung und Tarifautonomie ernst nehmen, sollten wir das, was die Tarifpartner in der Bauwirtschaft im Zusammenwirken mit dem Gesetzgeber gut geregelt haben, nicht durch einseitige Eingriffe des Gesetzgebers wieder rückgängig machen. ({28}) Wenn Sie die Deregulierungen am Arbeitsmarkt von denen übrigens Helmut Schmidt in seinem neuen Buch gerade geschrieben hat, daß sie notwendig sind, um mehr Arbeitsplätze zu bekommen - rückgängig machen, zum Beispiel eine gewisse Eigenbeteiligung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, auf die sich die Tarifpartner zum Teil geeinigt haben, wenn Sie diese Maßnahmen, die uns in Deutschland mehr Arbeitsplätze eingebracht haben, zurücknehmen, dann - das ist völlig klar - wird das Ergebnis mehr Arbeitslosigkeit sein. Aus diesem Grund verschlechtern sich die Prognosen. ({29}) Wenn Sie die Steuerbelastung für Unternehmen und für den Mittelstand erhöhen, dann werden Sie eben weniger Investitionen, weniger Arbeitsplätze und weniger Wirtschaftswachstum haben, und dann werden natürlich auch die Steuereinnahmen wieder zurückgehen. Die neuen Haushaltslöcher, die Sie angeblich ausfindig gemacht haben, haben Sie übrigens nicht beschrieben. Sie haben von 20 Milliarden DM gesprochen. Aber Sie waren doch bei der Haushaltsdebatte Anfang September anwesend. Herr Bundeskanzler, Herr Ministerpräsident außer Diensten - damals haben Sie als Ministerpräsident gesprochen -, welche Zahl hat sich seit Anfang September verändert? Es ist die Unwahrheit, wenn Sie behaupten, bei Durchsicht der Bücher hätten Sie neue Löcher entdeckt. Alle Zahlen lagen auf dem Tisch. Wir haben Anfang September darüber diskutiert. Nichts außer den Ankündigungen von Rot-Grün für eine künftige falsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik hat sich geändert. ({30}) Nun sagen Sie, weil Sie ja die Kritik an den rotgrünen Koalitionsvereinbarungen gehört haben, der Mittelstand werde mit Ihrer Steuerpolitik doch entlastet oder nicht so belastet, wie man in den Zeitungen lese. Meine Damen und Herren, ich will an einem kleinen Punkt einmal aufzeigen, mit welchen Kniffen und Tricks schon in dieser Regierungserklärung gearbeitet wird. Sie haben mir ja das Manuskript Ihrer Rede liebenswürdigerweise durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung um 8.22 Uhr übersenden lassen. Deswegen hatte ich Zeit, mir dies genau anzuschauen. ({31}) - Nein, ich bedanke mich doch, daß ich den Wortlaut der Pressemitteilung habe. Ich weiß gar nicht, warum Sie sich aufregen. ({32}) - Noch herzlicher? ({33}) - Wenn es Ihnen Freude macht, bedanke ich mich wirklich herzlich, Herr Kollege, daß ich durch das Presseund Informationsamt der Bundesregierung um 8.22 Uhr den Inhalt Ihrer Regierungserklärung zugestellt bekommen habe. Deswegen habe ich jetzt die Gelegenheit, Ihnen an Hand des Textes - das Stenographische Protokoll habe ich ja noch nicht - die Tricks aufzuzeigen, mit denen Sie arbeiten. Die Steuerentlastungen, die Sie vorsehen oder die angekündigt werden - es wechselt ja; die Gesetzentwürfe, die uns zugesandt werden, ({34}) werden ja zurückgezogen, bevor sie überhaupt nur die Geschäftsführung der Fraktionen erreicht haben. Aber Spaß beiseite. ({35}) - Lenken Sie nicht ab. Sie wollen das, was ich Ihnen sage, offenbar nicht hören. - In Ihrer Regierungserklärung haben Sie die geplanten Steuerentlastungen für die Jahre 1999, 2000, 2001 und 2002 wunderbar dargestellt, ohne bei den Entlastungen zeitlich zu differenzieren. Dann haben Sie gesagt, der Mittelstand werde im übrigen gar nicht belastet. Und jetzt zitiere ich einmal: Die Sonder- und Ansparabschreibungen für Existenzgründer - Sie haben das auch so gesagt können unverändert in Anspruch genommen werden; - o toll, und jetzt höre man weiter zu für kleinere und mittlere Betriebe bleiben sie bis zum Jahr 2000 erhalten. Sie werden also also gestrichen, ehe die Tarifentlastungen überhaupt in Kraft treten können. Das ist die Wahrheit. Der Rest ist gelogen. ({36}) Da helfen die besten Spindoctors nicht. Die Substanz Ihrer Steuerpolitik bedeutet eine Mehrbelastung für Wirtschaft und Mittelstand und damit eine Belastung und Verhinderung von Investitionen und von Arbeitsplätzen. ({37}) Es kann nach den Grundregeln von Krafts Rechenbuch und nach Adam Riese ja auch gar nicht anders sein. Aber Adam Riese? ({38}) Dazu hat das „Handelsblatt“ geschrieben: Gerhard Schröder fordert Adam Riese heraus. Welch eine Herausforderung, Herr Bundeskanzler! Aber das ist gefährlich. Man sollte die Grundrechenarten nicht außer Kraft setzen. Ich kann nicht mehr Geld ausgeben und gleichzeitig weniger einnehmen wollen; das geht nicht zusammen. Wer nicht die Kraft zum Sparen hat, der wird die Betriebe und auch die Steuerzahler nicht entlasten. ({39}) Sie sehen jetzt keine Nettoentlastung vor. Heute haben Sie gesagt: 15 Milliarden DM ab dem Jahr 2002; Verzeihung, aber im Moment haben wir, wenn ich das richtig weiß, den 10. November 1998. Die Arbeitslosigkeit ist das dringendste Problem in unserer Gesellschaft; ihre Bekämpfung kann nicht bis zum Jahr 2002 warten. Wir brauchen jetzt Steuerentlastungen. Für 1999 haben Sie keine vorgesehen. ({40}) Wenn es keine Entlastung gibt, dann muß der eine mehr bezahlen, was der andere weniger bezahlen soll. Es geht nicht anders zusammen. ({41}) - Ja, natürlich. Aber, Herr Finanzminister, von Ihnen wissen wir, daß Sie niemals entlasten, sondern allenfalls umverteilen wollen. Am liebsten würden Sie Steuern nur erhöhen; denn je mehr Sie Steuern erheben, desto mehr glauben Sie ja, daß Sie Rädchen haben, mit denen Sie die gesamtwirtschaftliche Entwicklung beeinflussen können. Das allerdings ist altes Denken: keine Neue Mitte, sondern alte Linke. ({42}) Selbst Ihre eigenen Darlegungen, so schön sie formuliert sind, sind ja, wenn man sie ein bißchen abklopft, ziemlich fadenscheinig. Sie selber haben für das Jahr 2002 - das haben Sie zwar nicht gesagt, aber so ist es vorgesehen - eine Nettoentlastung von 15 Milliarden DM versprochen. Dann haben Sie uns auch hier gesagt das haben wir alle gehört; ob Ihre Fraktion so genau zugehört hat, weiß ich allerdings nicht sicher; aber wir haben aufmerksam zugehört -, daß die durchschnittliche Familie um 2 700 DM entlastet werde. Stimmt das, Herr Bundeskanzler? ({43}) Jetzt wollen wir einmal rechnen, Herr Bundeskanzler: Wie viele Familien kann man um 2 700 DM entlasten, damit die Grenze von 15 Milliarden DM nicht überschritten wird? ({44}) Das sind rund 5 Millionen Familien. ({45}) - Ja, das ist viel. - Aber alle anderen werden nach Ihren eigenen Vorhersagen auch im Jahre 2002 nicht entlastet, und wir haben eine Bevölkerung von 80 Millionen Menschen. Die Behauptung, die allermeisten würden entlastet, ist auf Grund Ihrer eigenen Zahlen als wahrheitswidrig widerlegt. ({46}) Und das gilt erst für das Jahr 2002! ({47}) - Es trifft Sie offenbar! Wenn Sie selber merken, was in Ihrer Regierungerklärung steht, dann ist die Erregung bei der SPD groß. Bisher waren Sie ziemlich schläfrig während der Rede Ihres Bundeskanzlers gewesen; jetzt sind Sie plötzlich wach geworden. Das ist die Wahrheit. ({48}) Sie haben diese zwei Stunden auch kaum ausgehalten. Deswegen sind Sie am Schluß der Rede auch alle gleich aus dem Saal gegangen. Jetzt bleiben Sie ganz ruhig! Jetzt lassen Sie nach diesen zwei Stunden auch der Opposition die Chance, an ein paar Punkten ein bißchen Substanz zu bieten und nicht nur im Glanz der Überschriften zu bleiben. Mit der Regierungserklärung sind die Zeiten der Inszenierungen vorbei! Jetzt ist Substanz gefordert! ({49}) Es ist wirklich wahr: Der Start ist Ihnen gründlich mißlungen. ({50}) Das sage ja nicht nur ich; wenn ich das sagen würde, dann würde jeder meinen, daß ich als Oppositionsführer das sagen muß. ({51}) Es sagen aber alle Zeitungen, auch Ihre treuesten Helfershelfer. Sie werden - ich sage es Ihnen voraus - eine neue Gemeinsamkeit mit Ihrem Amtsvorgänger entwikkeln, Herr Bundeskanzler Schröder. Von Helmut Kohl wissen wir, daß er den „Spiegel“ ums Verrecken nicht gern gelesen hat. Wenn Sie diese Woche die Überschrift „Wo ist Schröder?“ lesen und sich im Nebel von Lafontaine verschwinden sehen, dann sage ich Ihnen: Der „Spiegel“ wird Ihnen bald so widerwärtig sein, wie er Helmut Kohl es in den 16 Jahren gewesen ist. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Wenn es dann auch 16 Jahre dauert, soll's mir recht sein!) - Schauen Sie, das ist wieder typisch, Herr Bundeskanzler: In öffentlichen Äußerungen haben Sie gesagt, eine Amtszeit von mehr als acht Jahren wäre falsch; jetzt wollen Sie 16 Jahre. Das ist wie mit der Koalitionsvereinbarung: Die haben Sie morgens unterschrieben, und abends haben Sie gesagt, sie müsse nachgebessert werden. Die Tinte war noch nicht trocken gewesen! ({0}) Wenn ich in diesen Tagen erlebe, was in dieser Woche in erster Lesung auf die Tagesordnung des Hohen Hauses kommen soll und was nicht, so muß ich feststellen: Die Vorlagen werden zugesandt, dann werden sie wieder zurückgezogen. Dann heißt es, Herr Trittin und Herr Lafontaine hätten sich über die Ökosteuer geeinigt. Wenn man aber nachliest, heißt es, sie hätten sich darauf geeinigt, daß sie eine Kommission einsetzen. Das hat ja das Niveau Ihrer Regierungserklärung. Selbst zum Thema Rente haben Sie gesagt, Sie wollten eine Kommission einsetzen, die alles prüfe - obwohl alle Zahlen auf dem Tisch liegen. Auch für die Reform des Finanzausgleichs im Bundesstaat wollen Sie bis zum Jahre 2005 eine Kommission einsetzen. Herr Bundeskanzler, die Probleme unsres Landes sind angesichts der rasanten Veränderungen in der Welt um uns herum wie auch in der Arbeitswelt ({1}) dringlicher. Wir können nicht alles auf die lange Bank schieben. Sie müssen handeln und entscheiden! Sie sind schlecht vorbereitet. ({2}) - Nein, nein. ({3}) - Nein, nein. ({4}) - Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die meisten Menschen, die die Plenardebatte an den Fernsehapparaten verfolgen - wenn es welche tun -, bekommen nicht mit, was im Plenarsaal so alles dazwischengerufen wird. Entweder muß ich deswegen sagen „Verehrte Zuschauer an den Fernsehgeräten, im Augenblick kann ich nicht weiterreden, weil die SPD einen solchen Lärm macht“, oder Sie müssen leise genug sein, damit ich trotz meiner Erklärung die Chance habe weiterzureden. Wir haben Ihrem Bundeskanzler doch auch gut zugehört. ({5}) - Nein, es geht so nicht. Sie können nicht ein solches Sperrfeuer von Zwischenrufen machen. Das akzeptiere ich nicht; und das sage ich dann immer, damit das jedermann weiß und damit jedermann versteht, warum ich im Moment nicht weiterreden kann. Der Einwand, die Tatsache, daß die Probleme so dringlich seien, würde sich gegen uns richten, ist in der Sache durch Ihre eigene Regierungserklärung widerlegt. Ihre konkreten Ankündigungen bestehen doch nur darin, das, was wir auf den Weg gebracht haben, damit es mit der Arbeitslosigkeit in unserem Lande besser wird, rückgängig zu machen. Lassen Sie die Entwicklung, die wir auf den Weg gebracht haben, doch weitergehen! 400 000 Arbeitslose weniger - das ist eine gute Entwicklung. Die sollten Sie nicht zurückschrauben. Das ist der Punkt. ({6}) Wir haben die Schlachten doch oft geführt. Sie können uns doch nicht vorwerfen, daß die Steuerreform nicht zustande gekommen ist. Sie haben Sie doch mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat blockiert. Jetzt - mit eigener Mehrheit - zeigen Sie sich unfähig, eine dem Arbeitsmarkt gerecht werdende Steuerreform zustande zu bringen. Das ist das Elend für unser Land. ({7}) Erst das Richtige blockieren und dann selber nicht in der Lage sein, das Richtige zu tun, das ist gefährlich für die Chancen unseres Landes. Das ist im Zusammenhang mit der Steuerreform das eigentliche Drama. Wenn Sie von den Lohnzusatzkosten reden, dann werden Sie doch nicht im Ernst glauben, daß Sie die Lohnzusatzkosten, die Staatsquote, die Abgabenquote in Deutschland dadurch senken können, daß Sie nur umverteilen. Ich erinnere an das Gerede von der Ökosteuer. Nach neuestem Stand ist die Vorlage dazu gerade wieder zurückgezogen worden. Über die Einzelheiten werden wir noch streiten, aber zunächst einmal geht es um das Prinzip. Wer die Umfinanzierung von Sozialabgaben in Steuern - so ist der Sachverhalt - an Stelle von Einsparungen bei den Sozialausgaben durchführt, der wird die Staats- und Abgabenquote nicht senken und auch nicht mehr Arbeitsplätze bekommen, sondern das Gegenteil. Einsparungen sind durch nichts zu ersetzen. Wer klagt, die Staatsquote sei zu hoch - das haben Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung getan -, der muß auf der Ausgabenseite von öffentlichen Haushalten und Sozialversicherungen zu Einsparungen kommen. Sie aber wollen all diejenigen Einsparungen, die wir - zum Teil schmerzlich, aber richtig - zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durchgesetzt haben, wieder rückgängig machen. Das ist der falsche Weg, wenn es darum geht, mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu bekommen, und Sie sind auf diesem falschen Weg. ({8}) Daher ist der entsprechende Vorwurf an uns unzutreffend. Es gehört zur Eröffnungsbilanz, daß wir das Land in eine solide wirtschaftliche Entwicklung - Preisstabilität, niedrige Zinsen, rückläufige Arbeitslosigkeit - gebracht haben. Und Sie drehen jetzt mit Ihren falschen rotgrünen Maßnahmen diese Entwicklung wieder zurück. Es handelt sich also nicht um einen neuen Aufbruch, sondern um eine Rolle rückwärts in eine falsche Vergangenheit. Das ist das Problem. ({9}) So wird das nichts mit der „Neuen Mitte“. Und dann auch noch Ihr Gerede von der Berliner Republik! Herr Bundeskanzler, von Neuer Mitte habe ich weder in Ihrer Regierungserklärung noch in Ihrer Koalitionsvereinbarung irgend etwas gefunden, aber von der alten Linken sehr viel und von Durcheinander bei Ihren rotgrünen Koalitionsvereinbarungen noch mehr! ({10}) Man fragt sich ja, wer in Deutschland eigentlich regiert. ({11}) - Ja, das ist wahr, Herr Ministerpräsident Lafontaine. Entschuldigung, es steckt noch so ein bißchen drin; Herr Bundesfinanzminister! Wenn es Ihnen gar nicht mehr passiert, sich zu versprechen, dann ist es ja gut. Herr Bundesfinanzminister, Ihre Politik ist eine Politik des „leichten Geldes“. ({12}) „Leichtes Geld“ klingt ja schön, bedeutet aber für die Menschen Inflation. Die haben verstanden, daß man nicht mehr Geld ausgeben und weniger einnehmen kann, ohne mehr Schulden zu machen. Man kann sich nicht gegen Adam Riese stellen; deswegen wird Ihre Politik dazu führen, daß die Staatsverschuldung steigt, die Preisstabilität abnimmt und die Inflation zunimmt. Das ist keine sozial gerechte Politik, sondern das Gegenteil! ({13}) Weil dies so ist, wollen Sie Druck auf die unabhängigen Notenbanken machen. Genau so ist der Zusammenhang. Ich meine die Bundesbank und die künftige Europäische Zentralbank. Sie wollen, daß die Bundesbank und künftig die Europäische Zentralbank an einer Politik des leichten Geldes, an einer Politik von mehr Inflation mitwirken. ({14}) Nicht anders sind Ihr Gerede und Ihre konzentrischen Angriffe, von Ihren Beratern bis zu Ihnen selbst Tag für Tag systematisch angelegt, zu erklären. Die Zinsen sollen nach unten gehen, obwohl wir schon das niedrigste Zinsniveau haben und obwohl wir die reale Zinsdifferenz in Europa in einer Weise auseinandertreiben würden, daß es unter dem Gesichtspunkt der beginnenden Währungsunion gar nicht zu verantworten wäre. Sie wollen die Zinsen nach unten manipulieren, eine höhere Neuverschuldung vornehmen und mehr Inflation hervorbringen. Das ist der falsche Weg, um die Reformen unseres Landes weiter voranzubringen. ({15}) Das wird nicht mehr Arbeitsplätze, sondern mehr Inflation in Deutschland verursachen. Sichere Arbeitsplätze entstehen nur bei Stabilität. ({16}) Die Sache ist übrigens noch viel bedenklicher; deswegen muß das am Anfang dieser Legislaturperiode ausgetragen werden. Dies sollte nicht freundlich geschehen, denn daran ist nichts freundlich. Die Bundesrepublik Deutschland mußte große Anstrengungen unternehmen, um unsere Partnerländer in Europa von der Umsetzung der deutschen Stabilitätskultur auch im Maastricht-Vertrag und im Stabilitätspakt zu überzeugen. Andere - ich sage das mit vollem Respekt vor der Tradition und dem Verfassungs- und Staatsverständnis unserer Freunde und Partner in Europa - haben ein ganz anderes Verhältnis zu der Vorstellung von einer autonomen Notenbank. In Frankreich ist nach dem dortigen Staatsverständnis seit Jahrhunderten - bis zum Vertrag von Maastricht - die Politik die oberste Instanz gewesen, die letzten Endes über alle Entscheidungsbereiche verfügen kann. Herr Lafontaine, so hätten Sie es gern; aber so ist es in Deutschland nicht. Es ist auch besser, daß es in Deutschland nicht so ist, und es darf nicht so werden. Natürlich hat Geld eine politische Funktion, natürlich hat die Bundesbank eine politische Verantwortung. Aber diese Verantwortung unterliegt nicht der Verfügung der jeweiligen parteipolitischen Mehrheit. Das ist der Grund, warum wir in Deutschland in diesen 50 Jahren mehr Stabilität hatten. ({17}) Nur dann, wenn wir uns diese Autonomie, diese Selbständigkeit, diese Eigenverantwortung, diese Nichtverfügbarkeit der Geldpolitik der Zentralbank für Preisstabilität, für Geldwertstabilität erhalten, können wir darauf vertrauen, daß die europäische Währung so stabil wird, wie es die D-Mark Gott sei Dank - auch dank unserer Politik - geworden ist. Das war das eigentlich Schwierige, und das war der weite Weg, den andere auf dem Weg zur Europäischen Union zurücklegen mußten. Das fordert von uns Respekt, wie es übrigens auch Respekt vor der politischen Führungsleistung und Staatskunst der bisherigen Bundesregierung, des Bundeskanzlers, des Finanzministers, des Außenministers, fordert, ({18}) daß es gelungen ist, die Unabhängigkeit der Notenbank, die Unverfügbarkeit der Geldwertstabilität für die jeweilige parteipolitische Mehrheit zum Prinzip auch der Europäischen Währungsunion zu machen. ({19}) Wenn das jetzt gleich zu Beginn, noch ehe die Währungsunion wirklich begonnen hat, ausgerechnet von Deutschland untergraben wird, dann fängt es in Deutschland schlecht an und wird in Europa noch schlechter enden, meine Damen und Herren. Deswegen werden wir dagegen jeden Widerstand leisten. ({20}) Die Geldwertstabilität darf auch in der Europäischen Währungsunion nicht aufs Spiel gesetzt werden. ({21}) Zu einer fairen Behandlung Ihres Vorgängers und der Vorgängerregierung hätte - bei allen politischen Unterschieden - übrigens auch gehört, nicht nur über die Notwendigkeit zu reden, Herr Bundeskanzler, die Finanzierung der Europäischen Union entsprechend der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein Stück fairer zu ordnen, als sie im Laufe der Jahre seit 1992 geworden ist. Das ist 1992 so vereinbart worden - hier haben Sie recht; das stimmt so -, weil seinerzeit eine besondere Situation bestand. Aber im nächsten Jahr muß eine Neuregelung der Finanzierung der Europäischen Union erreicht werden. Das wird schwierig zu erreichen sein. Sie werden dabei auf unsere Unterstützung rechnen können. Aber Sie hätten auch vermerken sollen, daß Sie nicht nur auf unsere Unterstützung bei diesem schwierigen Unterfangen rechnen können, sondern daß Sie vor allen Dingen auf die Vorarbeit des bisherigen Bundesfinanzministers Theo Waigel zählen können, der ja in Europa die Bereitschaft zu einer finanziellen Neuregelung in der Europäischen Union in den letzten Monaten in mühevoller Arbeit erreicht hat. Das hätten Sie hier mit etwas Respekt vermerken sollen. ({22}) Das wird übrigens nicht heißen, daß Deutschland als ein wirtschaftlich stärkeres Land, als es andere heute sind, nicht auch in Zukunft mehr an der Finanzierung der Europäischen Union tragen muß als andere. Das ist in Ordnung. Aber es muß ein faires Verhältnis zur Leistungsfähigkeit vorhanden sein. Dieses Verhältnis ist ein Stück weit unfair geworden. Daß inzwischen alle Finanzminister anerkannt haben, daß die heutige Regelung jedenfalls nicht mehr den objektiven Gegebenheiten unter den Mitgliedsländern der Europäischen Union entspricht, ist ein großer Erfolg von Theo Waigel. Darauf läßt sich aufbauen, verehrte Damen und Herren der neuen Bundesregierung und der neuen Mehrheit. ({23}) Aber wenn Sie als neue Bundesregierung in Deutschland die Grundlagen von Stabilität und Solidität in der Europäischen Union untergraben, dann werden Sie Europa auch nicht in die Lage versetzen, das dringende Projekt der Osterweiterung zustande zu bringen. Herr Bundeskanzler, wir haben ja - ich hoffe, es hält mit einer gewissen Befriedigung vermerkt, daß Sie schnell Äußerungen wieder in Ordnung gebracht haben, die am Anfang nicht in Ordnung waren. Unseren Nachbarn in Osteuropa zu sagen, mit der neuen Regierung werde es jetzt ein wenig länger dauern, beschwor eine gefährliche Entwicklung herauf. Herr Fischer mußte dann gleich nach Warschau fliegen. Auch Sie waren dort und haben es in Ordnung gebracht. Ich hoffe, es bleibt dabei. Wir sollten uns als wiedervereintes Deutschland in der Mitte Europas unabhängig von der Frage, wer gerade die Regierung und wer die Opposition stellt, darum bemühen, ganz Europa zu einem Kontinent zu machen, auf dem Frieden, Stabilität, wirtschaftliche, soziale und ökologische Prosperität herrschen. Das ist das wichtigste Projekt der Deutschen am Ende dieses und am Beginn des kommenden Jahrhunderts. Dafür müssen wir arbeiten; dazu werden wir auch in Zukunft stehen. ({24}) Das setzt aber voraus, daß jeder seinen Beitrag leistet. Stabilität beginnt immer zu Hause. Das gilt auch für die Zukunft. Wenn Sie glauben, die Arbeitslosigkeit könne durch den Europäischen Rat bekämpft werden, dann fürchte ich, daß Europa eine gefährliche Entwicklung nimmt. Wir werden Europa besser voranbringen, wenn wir das Subsidiaritätsprinzip in Europa stärker durchsetzen, das heißt, wenn wir uns darüber verständigen, welche Ebene in Europa - europäische Ebene, Mitgliedstaaten oder Regionen - für die Lösung welcher Probleme zuständig ist. Wer glaubt, europäische Beschäftigungspolitik würde in Europa mehr Arbeitsplätze schaffen, ist auf dem Holzweg. Am Ende werden in Europa nur mehr Steuern, mehr Abgaben, mehr Bürokratie und weniger Arbeitsplätze herauskommen. Wir werden Sie auf diesem Weg nicht unterstützen. ({25}) Wir brauchen eine Steuerreform, die die Wachstumskräfte stärkt. Sie werden uns ja bei den steuerpolitischen Diskussionen der kommenden Tage und Wochen immer sagen - das ahne ich schon voraus -, diese und jene Maßnahme zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage habe auch die CDU/CSU-F.D.P.-Koalition einmal vorgesehen. ({26}) - Sie sagen „Aha“, Frau Matthäus-Maier. Wären Sie doch einmal Fraktionsvorsitzende geworden, dann könnten Sie gleich im Anschluß reden. ({27}) - Sie fangen ja wirklich gut an, indem Sie hier dauernd dazwischenrufen. ({28}) - Wenn Sie vorhaben, wie Sie es mit solchen Zwischenrufen schon bestätigen, die Unterschiede zweier völlig verschiedener steuerpolitischer Konzepte, nämlich Ihr falsches und unser richtiges, in der Öffentlichkeit zu verwischen ({29}) dann muß ich es Ihnen entsprechend zurückgeben. Das können Sie doch nicht anders erwarten. ({30}) Nach unserem Konzept sollen die Steuersätze und zwar jetzt, nicht irgendwann - deutlich gesenkt werden. Alle Steuersätze ({31}) Spitzensteuersatz, Eingangssteuersatz und alle Sätze dazwischen, Thesaurierungssatz und Ausschüttungssatz bei der Körperschaftsteuer - sollen etwa um ein Drittel gesenkt werden. Dazu ist eine Nettoentlastung erforderlich, nicht irgendwann im nächsten Jahrhundert, sondern jetzt. Danach können Sie auch die Bemessungsgrundlage verbreitern und Ausnahmeregelungen bei der Besteuerung beseitigen. ({32}) Wenn Sie aber die Steuersätze nicht senken und keine Nettoentlastung ermöglichen, sondern nur die Bemessungsgrundlage verbreitern, dann nehmen Sie Steuererhöhungen vor. Diese sind Gift für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt in Deutschland. Das ist der Unterschied. ({33}) Jedesmal, wenn Sie in Zukunft versuchen, unter Verdrehung der Wahrheit die Menschen darüber zu täuschen, werden wir uns in aller Entschiedenheit dagegen wehren und der Öffentlichkeit die Wahrheit sagen. Es handelt sich um zwei völlig unterschiedliche Konzepte. Letztendlich wollen Sie doch die Staatsquote gar nicht senken, sondern erhöhen. An keiner Stelle sehen Sie Einsparungen vor. In Ihrem Programm ist bisher lediglich vorgesehen, beschlossene Einsparungen rückgängig zu machen und mehr Geld auszugeben. Ich sage es Ihnen vorher: Der Sozialversicherungsbeitrag wird nicht sinken, wie sehr Sie den Benzinpreis auch erhöhen. Dabei berücksichtigen Sie übrigens nicht, was das sozial bedeutet. ({34}) - Frau Matthäus-Maier, Sie wollen immer, daß ich nett zu Ihnen bin. Das würde ich auch sein, wenn Sie nicht immer so irreführende Zwischenrufe machten. ({35}) - Wir haben jetzt vier Jahre Zeit, uns zu streiten, aber dabei wollen wir doch freundlich bleiben. Lassen Sie uns also die Argumente austauschen: Unser Konzept war und bleibt, die Steuersätze zu senken, die Steuerbelastung insgesamt netto zu reduzieren und im Zuge dessen auch Ausnahmen zu beseitigen. Ihr Konzept bringt keine Nettoentlastung, keine Senkung der Steuersätze. Sie wollen nur Ausnahmen von der Besteuerung abschaffen. Das sind Steuererhöhungen. Das ist das Gegenteil unserer Politik. Das Ergebnis wird mehr Arbeitslosigkeit und weniger Wachstum sein. ({36}) Ihr Konzept ist, die beschlossenen und in Kraft gesetzten Maßnahmen zur Reduzierung des Anstiegs der Ausgaben in der Renten- und der Krankenversicherung rückgängig zu machen. Sie werden nicht Beitragssatzstabilität bei der gesetzlichen Krankenversicherung ernten, sondern Sie haben mit dem, was Sie ankündigen, drastische Beitragssteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu erwarten. Wenn Sie jetzt die Ausgaben erhöhen, dann können Sie noch so viel Ökosteuer machen, wie Sie wollen, sie dient allenfalls dazu, die Beitragssatzsteigerungen zu vermeiden, die durch erhöhte Ausgaben entstehen; sie wird aber nicht zu dauerhaften Beitragssenkungen führen. Deswegen ist Ihre Politik falsch. Sie können Umschichtungen nicht an Stelle von Einsparungen machen; denn wir brauchen zuerst die Einsparungen. Über zusätzliche Umschichtungen können wir dann reden, sie sind aber nicht ohne Einsparungen möglich. Das ist der grundsätzliche Unterschied. ({37}) Ich möchte zur Ökosteuer noch folgendes sagen: Ich glaube nicht - ich habe die Berechnungen gesehen -, daß sie letzten Endes zu der Entlastung führen wird, von der Sie sprechen. Erstens werden wir keine Beitragssenkung bekommen, und zweitens habe ich die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ von heute gelesen, wo es heißt: Nach Berechnungen des Finanzministeriums hat die ökologische Steuer- und Abgabenreform für einen Vier-Personen-Haushalt mit einem Jahreseinkommen von 70 000 Mark brutto folgende Auswirkungen: Bei der Rentenversicherung ergibt sich - durch die Beitragssatzsenkung eine Ersparnis von 280 Mark. Die Energiebesteuerung führt dagegen zu einer Belastung von 301 Mark: Sie müssen den Menschen erklären, wie Sie die Familien entlasten, wenn sie für 280 DM Entlastung 301 DM mehr bezahlen müssen. Das sind nach Berechnungen Ihres Hauses 21 DM mehr. Das Wort Entlastung sollte Ihnen wirklich nicht mehr über die Lippen kommen. ({38}) Sie machen Steuererhöhungen, um Ihre Unfähigkeit zu Einsparungen finanzieren zu können. Im übrigen wollen Sie mehr Schulden machen und die Inflation beschleunigen. Das ist der falsche Weg, und auf diesem Weg werden Sie mit unserer scharfen Kritik rechnen müssen. Die Steuerreform ist falsch, die Abgabenpolitik ist falsch, die Stabilität in Europa wird untergraben, und Sie machen nationale Alleingänge in der Energie- und Umweltschutzpolitik. ({39}) - Ach, die Grünen. Wie war das mit den Grünen, Herr Kollege Schlauch? Mit was für großen hehren Vorsätzen sind Sie einmal angetreten? ({40}) In dem Maße, in dem aus Turnschuhen Nadelstreifen wurden, ist aus Grundsätzen hemmungsloser Opportunismus geworden. Posten statt Ideen! ({41}) „Global denken, lokal handeln“ hat der Wahlspruch geheißen. Jetzt machen Sie in der Energie- und Umweltschutzpolitik nationale Alleingänge. Als ob irgendein Kernkraftwerk in Osteuropa durch einen nationalen Alleingang Deutschlands sicherer würde! Das schafft doch nicht mehr Sicherheit. ({42}) - Der Zwischenruf des Kollegen Schlauch veranlaßt mich, auf einen weiteren der kleinen Kniffe in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers noch einmal zu sprechen zu kommen, den wahrscheinlich, weil die Rede relativ glatt dahinplätscherte, nicht alle bemerkt haben. Die ganze rotgrüne Inszenierung vor und nach der Wahl hat doch suggeriert, Sie fangen jetzt richtig kräftig an mit dem, was Sie Ökosteuer nennen. Ich habe den Begriff immer für falsch gehalten, weil er nämlich verschleiert, daß Sie in Wahrheit nicht sparen wollen. Aber ohne Sparen kommen Sie nicht hin. Daß man darüber, wie man sparsamen Energieverbrauch sicherstellt, trefflich streiten und miteinander ringen kann, ist völlig in Ordnung. Aber Sie dürfen das nicht zur Grundlage der Finanzierung von Mehrausgaben in der Sozialversicherung machen. Das ist der falsche Weg, der verschüttet die Milch. Rotgrün kündigt also an - auch in Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler; Sie sehen, ich habe zugehört -, das wird jetzt kräftig gemacht. Dann kommt das mit den sechs Pfennig - energieintensive Betriebe ausgenommen oder nicht; lassen wir den Koalitionsstreit mal auf sich beruhen -, es wird aber gesagt: Das ist nur der erste Schritt, und in den nächsten Jahren geht es kräftig weiter. Denn sonst wäre es ja herzlich bescheiden. Da waren wir schon mal weiter in unseren Überlegungen; allerdings haben Sie dann die notwendigen Einsparungen blockiert. Das war der Punkt, warum es nicht zustande gekommen ist. ({43}) Jetzt sagen Sie, Herr Bundeskanzler, die nächsten Schritte können nur in Europa kommen. Das heißt, Sie haben - wer von Ihren rotgrünen Genossen zugehört hat, weiß das - schon gesagt: Genossinnen und Genossen, laßt alle Hoffnung fahren; es gibt keine weiteren Schritte! Ich sage Ihnen: Die sechs Pfennige werden vorne und hinten nicht ausreichen, um die Ausgabensteigerungen in der Krankenversicherung und der Rentenversicherung aufzufangen. Deswegen ist Ihr Programm ein Programm zur Erhöhung des Sozialversicherungsbeitrags in Deutschland. Das ist die Wirklichkeit! ({44}) Man kann in der Erwiderung auf die Regierungserklärung, die alle Themen abdecken muß - wir werden noch die ganze Woche debattieren -, in dem ersten Beitrag nicht bereits zu allen Themen Stellung beziehen. Das ist auch in Ordnung, und das ist parlamentarischer Brauch. Ich will aber noch wenige Bemerkungen zum Thema der inneren Sicherheit machen. ({45}) - Ja, daran müssen Sie sich gewöhnen. Machen Sie nicht solche Zwischenrufe wie „Gott sei Dank“! Sie müssen auch in Ihrer Machtbesoffenheit schon ertragen, daß es andere Meinungen in Deutschland gibt und daß diese vorgetragen werden. ({46}) Sie haben die Wahl gewonnen. Sie haben jetzt eine Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das gibt Ihnen eine besondere Verantwortung. Aber ich rate Ihnen dringend: Gehen Sie damit - im Respekt vor der Meinung anderer - mit ein bißchen mehr Bescheidenheit um! ({47}) Es fängt schon damit an, wie Sie den ersten Oppositionsbeitrag in dieser Debatte nicht ertragen wollen. Und jetzt sage ich Ihnen: Die Art, wie Sie in Ihre Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben haben: Stimmt ihr für den Bundespräsidenten, kriegt ihr den Kommissar für Europa, das ist ein nicht angemessener Umgang mit den höchsten Ämtern in unserem Staat und in Europa. ({48}) Das paßt ganz prima zu den Lafontaineschen Bemühungen in bezug auf Bundesbank und europäische Notenbank. ({49}) Ich sage Ihnen: Hochmut kommt vor dem Fall. ({50}) Die Arroganz der Macht ist die größte Versuchung. Dann sage ich Ihnen noch einmal das mit Herrn Schily, weil Sie es immer noch nicht verstanden haben: Es geht nicht an, daß ein Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, wenn er ein Problem darin sieht, daß eine Partei, die Gegenstand der Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist, nun in einer Landesregierung beteiligt ist, sagt: Dann dürfen wir sie nicht mehr beobachten. Er müßte dafür eintreten, daß sie nicht Mitglied einer Landesregierung wird. Das wäre die einzig richtige Antwort! ({51}) Herr Kollege Schlauch, jetzt komme ich auf den Bericht des Bonner „Generalanzeigers“ vom 26. Oktober zu sprechen. Er hat mich so empört, daß ich ihn heute erwähnen muß. Der Bericht handelt über gewalttätige Krawalle in Bonn, bei denen die Polizei eine Reihe von Gewalttätern festgenommen hat. ({52}) - Entschuldigung, die Landesregierung von NordrheinWestfalen, die für den Polizeieinsatz in Bonn zuständig ist, wird doch von SPD und Grünen getragen. - Was ist passiert? Ich könnte jetzt den gesamten Bericht vorlesen. ({53}) In der Menge sollten nach Angaben eines Polizeisprechers 20 Gewalttäter sein, die die Beamten mit Flaschen, Steinen und anderen Gegenständen beworfen hatten. ... Als Politiker von Bündnis 90/Die Grünen auf ihrem Parteitag in der Beethovenhalle davon erfuhren, bahnte sich Ärger an. NRWBauminister Michael Vesper, mehrere Bundestagsabgeordnete und der Bonner Landtagsabgeordnete Roland Appel schalteten sich ein. Während Vesper vor Ort mit dem Einsatzleiter über eine Freilassung der Festgehaltenen verhandelte, fuhr Appel ins Präsidium. So wollen wir in Deutschland nicht anfangen. ({54}) Die Polizei verrichtet in allen Ländern einen schweren Dienst. Wir schulden den Polizeibeamten der Länder Dank und Unterstützung. Was wir unter gar keinen Umständen als Politiker - ob wir Regierungsverantwortung tragen oder als Abgeordnete tätig sind - machen dürfen: Wenn die Polizei bei gewalttätigen Krawallen - das ist für die Polizei eine schwierige Situation - Gewalttäter festnimmt, dürfen Abgeordnete von Bundestag und Landtag - oder sogar Minister der Regierung, die der Dienstherr dieser Polizeibeamten ist - nicht mit der Polizeieinsatzleitung darüber verhandeln, ob man die Gewalttäter wieder freiläßt, so geht der Rechtsstaat vor die Hunde. Das sollte man nicht anfangen. ({55}) Ich glaube nicht, daß Sie so die innere Sicherheit verbessern werden. Übrigens: Zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung gehört auch, daß die Kriminalität in Deutschland in den letzten Jahren deutlich abgenommen hat und die Aufklärungsquote gestiegen ist. ({56}) - Nein, überhaupt nicht. Aber die Verbesserung reicht noch nicht aus. Deshalb müssen Sie Ihren Parteifreund Vesper an die Leine nehmen, Herr Kollege Schlauch. Es geht nun wirklich nicht, als Minister einer Landesregierung die Gewalttäter zu Verhandlungsführern zu machen. - Die Kriminalität hat durch die Anstrengungen von Bund und Ländern abgenommen. Das ist in erster Linie das Verdienst der Polizeibeamten. Wir müssen sie bei ihrer Arbeit unterstützen und dürfen ihnen nicht in den Rücken fallen. Dafür appelliere ich, darum werbe ich. ({57}) Aber ich sage auch: Neben vielen wichtigen und schwierigen Aufgaben ist die Bewahrung von innerer Sicherheit in der modernen Welt eine der großen Herausforderungen, für deren Bewältigung es kein Patentrezept gibt. ({58}) - Herr Kollege Schlauch, wenn Sie in diesem Zusammenhang noch einen Zwischenruf machen, muß ich über einen Vorgang berichten, bei dem Sie sich entschuldigen mußten. Meine Kenntnisse über Ihren Umgang mit baden-württembergischen Polizeibeamten sind noch gut genug, um Sie zu warnen: Seien Sie an dieser Stelle ganz ruhig! ({59}) Die Bewahrung der inneren Sicherheit wird nicht gelingen, wenn wir nicht eine vernünftige Mischung von verschiedenen Maßnahmen finden. Herr Bundeskanzler, wir stimmen mit dem überein, was Ihr Innenminister im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Prävention - Jugendarbeit, Musikschulen und dergleichen - gesagt hat. Diese Art von Prävention muß sich aber vor Ort, in der Kommunal- und Landespolitik abspielen. Je mehr es gelingt, mit Hilfe von Ehrenamtlichen - Herr Bundeskanzler, da haben Sie mich völlig falsch verstanden, ich hatte etwas anderes gesagt; ich wollte Sie gar nicht ärgern, sondern mich nur mit Ihnen politisch auseinandersetzen - präventive Arbeit zu leisten, um so besser ist es. Aber alle Prävention und alle Sozialtherapie wird den Staat am Ende nicht der Verantwortung entheben, das Gewaltmonopol durchsetzen zu müssen. Dafür brauchen wir klare Gesetze, eine einsatzfähige Polizei und Gerichte, die den Rechtsstaat durchsetzen. Das eine kann nicht durch das andere ersetzt werden. ({60}) Ich glaube übrigens, daß uns die Prävention und die Gewaltfreiheit um so besser gelingen werden, je mehr wir uns daran erinnern, daß grundlegende Werte und das Bekenntnis dazu Grundlage jeder Freiheitsordnung sein müssen und daß wir Institutionen brauchen, die Werte vermitteln. Anders wird es nicht gehen. Rotgrün ist auf dem falschen Weg, wenn es die vorrangige Schutzfunktion von Ehe und Familie dadurch untergräbt, daß es Ehe und Familie jeder anderen Form menschlichen Zusammenlebens gleichsetzen will. Nach Artikel 6 des Grundgesetzes genießen Ehe und Familie vorrangigen Schutz. Diesen Schutz brauchen sie auch. Wir respektieren jede Lebensform der Menschen. Wir schreiben niemandem etwas vor. Aber wir brauchen Leitbilder und eine Wertorientierung, damit unsere Gesellschaft auch im 21. Jahrhundert freiheitlich, tolerant und menschenwürdig bleibt. ({61}) Wir brauchen die richtigen Entscheidungen. Wir sind uns einig, daß das Zusammenleben mit ausländischen Mitbürgern, die auf Dauer in Deutschland leben und von denen viele von uns einmal angeworben wurden - auch das gehört zur Wahrheit und muß den Menschen immer wieder gesagt werden -, also mit Menschen, die ganz unterschiedlich sind, alle modernen Demokratien vor große Herausforderungen, vor große Bewährungsproben stellt. Das ist richtig; da sind wir uns einig. Deswegen muß unser aller Ziel sein - ich hoffe, daß es hierbei in diesem Hause keine Unterschiede gibt -, die auf Dauer rechtmäßig in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürger - vor allen Dingen die Kinder, die hier geboren werden - so gut und so schnell wie möglich zu integrieren. Zur Verwirklichung dieses Ziels müssen wir auf allen Ebenen, also im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden, sehr viele Anstrengungen unternehmen. - Ich wiederhole: Kein Bundesland hat in den Schulen mehr Stellen für die Integration von Kindern ausländischer Eltern eingerichtet als der Freistaat Bayern. Auch das gehört zur Wahrheit, wenn man fair miteinander umgeht. ({62}) Wir müssen also gemeinsam auf allen Ebenen jede Anstrengung zur Förderung von Integration unternehmen. Die Union wird sich darin von niemandem übertreffen lassen. Aber die ausnahmslose Hinnahme einer doppelten Staatsangehörigkeit ist der falsche Weg. Sie wird die Integration nicht fördern, sondern behindern. Deswegen appelliere ich an Sie: Kehren Sie auf diesem falschen Weg um! Das Ergebnis wird nicht mehr Toleranz und mehr Ausländerfreundlichkeit, sondern das Gegenteil sein. Wenn Sie die ausländischen Mitbürger mit dem Privileg versehen, zwei Staatsangehörigkeiten haben zu können, während die Deutschen nur eine haben, wenn Sie die Staatsangehörigkeit nicht mehr als Abschluß eines Integrationsprozesses verstehen, dann geht das am Kern des Problems vorbei, Herr Bundeskanzler. Es ist die freie Entscheidung der Menschen, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben wollen, ob sie Deutsche sein wollen oder nicht. Wir zwingen niemanden, Deutscher zu werden. Aber wer Deutscher werden will, muß die Entscheidung dazu treffen. Deswegen ist die ausnahmslose Hinnahme einer doppelten Staatsangehörigkeit im Ergebnis nicht ein Programm zur Förderung von Integration, sondern zur Förderung von Ausländerfeindlichkeit. Deswegen werden wir sie bekämpfen. ({63}) Meine Damen und Herren, der grundsätzliche Unterschied zwischen dieser Regierung, der rotgrünen Koalition, und der Union - über alle Einzelheiten und Einzelfragen hinweg, über die wir uns Tag für Tag und Woche für Woche kämpferisch auseinandersetzen müssen und auseinandersetzen werden - besteht letzten Endes in der Frage - in den Zielen sind wir uns ja häufig einig: Integration, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Wohlstand für alle, soziale Sicherheit, Frieden nach außen und innere Sicherheit; über all das gibt es keinen Streit -: Wie erreichen wir diese Ziele? Bei der Beantwortung dieser Frage setzen Sie, wenn es ernst wird, trotz aller schönen Formulierungen in Ihrer Regierungserklärung immer auf staatliche, zentralistische Regulierung und Reglementierung und im Ergebnis auf Steuern, Abgaben und Bürokratie. Das ist nach unserer Überzeugung der falsche Weg. Wir trauen den Menschen, und wir trauen ihnen etwas zu. Deswegen wollen wir die Kräfte von Eigenverantwortung, Freiheit, freiwilliger Solidarität, von Werten und wertvermittelnden Institutionen stärken. Das ist der grundsätzliche Unterschied. Dieser Unterschied wird sichtbar in der Sozialpolitik, in der Wirtschaftspolitik, in der Finanzpolitik, in der inneren Sicherheit und bei der Integration ausländischer Mitbürger. Dies ist letzten Endes eine Frage des Menschenbildes. Nach unserer Überzeugung kann der Staat nicht alles, und er darf auch nicht alles können. Staatliche Allmacht war in der Menschheitsgeschichte immer die Vorstufe zur Hölle. Deswegen sind Machtbegrenzung, Dezentralisierung, Föderalismus, Autonomie und Wettbewerb der bessere Weg, um Freiheit und eine gute Zukunft zu sichern. Das ist der Weg der Union. ({64}) Wir wollen einen handlungsfähigen Staat, der sein Gewaltmonopol ernst nimmt und durchsetzt. Wir brauchen eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Herr Lafontaine, es hilft alles nichts: Die wirtschaftliche Entwicklung, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft richtet sich nach den Regeln von Markt und Wettbewerb im Zeitalter der Globalisierung. Wer die bestehenden Regeln des weltweiten Wettbewerbs bestreitet, kann Deutschland nicht in eine gute Zukunft führen. Für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft muß man die Regeln von Markt und Wettbewerb akzeptieren. ({65}) Aber das ist nicht alles. Wirtschaft und Wirtschaften sind nie Selbstzweck. Ziel ist vielmehr, für die Menschen mehr Erfüllung, mehr Glück, mehr Wohlstand, mehr soziale Sicherheit sowie mehr Frieden und Freiheit zu bewirken. Deswegen wollen wir eine sozial starke Gesellschaft. Wir müssen um die Frage „Wirtschaft wozu?“ ringen, um die richtigen Antworten zu geben. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, eine aktive, starke Gesellschaft, Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Wärme - das ist der Wettstreit, um den es geht. Angesichts dessen versagen Sie, indem Sie schon die Regeln von Markt und Wettbewerb nicht akzeptieren können. Herr Bundeskanzler, Sie haben in zwei Reden - am 1. September und am 3. Oktober dieses Jahres, noch als Bundesratspräsident - davon gesprochen, der Föderalismus dürfe nicht zu einem Wettbewerb zwischen den Bundesländern werden. Ich sage: In dieser Frage ist die CDU/CSU grundsätzlich gegenteiliger Auffassung. ({66}) Wenn dezentrale Systeme, die kommunale Selbstverwaltung, der Föderalismus, die Gliederung staatlicher Macht und Zuständigkeit in Bund und Ländern, einen Sinn machen sollen, muß es einen Wettbewerb um die bessere Lösung, zum Beispiel zwischen Kommunen und zwischen Bundesländern, geben. Diese bessere Lösung muß dann Vorbild für die anderen sein. Die Ausgleichssysteme dürfen nicht dazu führen, daß am Schluß diejenigen mit den schlechtesten Ergebnissen an der Spitze stehen. Deswegen muß unser System des Föderalismus reformiert werden. ({67}) Wer den Wettbewerb nicht akzeptiert, hat die Grundregeln für Innovations- und Zukunftsfähigkeit einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht verstanden. Mit dieser grundsätzlichen Alternative werden Sie sich in den kommenden Jahren auseinandersetzen müssen. Wir streiten mit Ihnen um den besseren Weg in eine gute Zukunft, und wir nehmen unsere Verantwortung ernst. Ich sage noch einmal, weil ich ja weiß, daß Sie Ihre Wahlversprechungen schnell vergessen machen wollen - deswegen muß es am Anfang und am Ende des ersten Diskussionsbeitrags zu dieser Regierungserklärung gesagt werden -: Das Haus ist wohl bestellt, das Sie nach 16 Jahren CDU/CSU-FDP-Regierung übernommen haben. ({68}) Niemand hat je bestritten, daß wir eine Menge Probleme haben. Sie haben uns doch in den letzten Jahren immer wieder daran gehindert, die Probleme noch besser zu lösen, als wir sie ohnehin schon gelöst haben. Aber es bleibt festzuhalten: Das Haus ist wohl bestellt. Wir haben eine rückläufige Arbeitslosigkeit; es gibt 400 000 Arbeitslose weniger als vor einem Jahr. Es sind über 800 000 Arbeitsplätze im Verlauf dieses Jahres hinzugekommen. Wir haben stabile Preise und die niedrigste Preissteigerungsrate seit vielen Jahren. Wir haben die niedrigsten Zinsen. Wir haben ein solides Wirtschaftswachstum. Wir haben weniger Kriminalität und eine höhere Aufklärungsquote. Wir haben in den letzten Jahren weniger Zuwanderung nach Deutschland gehabt. All dies stellt die Ausgangslage dar, in der Sie anfangen. ({69}) Wenn sich in den kommenden Jahren die Entwicklung zum Schlechteren verändert, dann sind das, Herr Bundeskanzler, Ihre Zahlen. Wenn die Arbeitslosigkeit und auch die Inflation steigen und das Wirtschaftswachstum zurückgeht, dann ist das in der Verantwortung Ihrer Politik. ({70}) Daran werden Sie sich messen lassen müssen. Sie haben gesagt, Sie wollen sich daran messen lassen; wir werden Sie daran messen. ({71})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Peter Struck.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt verschiedene Möglichkeiten, im Parlament das Verhältnis zwischen den Koalitionsfraktionen und den Oppositionsfraktionen zu regeln. Eines will ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, Herr Kollege Schäuble: Wer wie Sie uns „Machtbesoffenheit“ vorwirft, ({0}) der darf sich dann nicht darüber wundern, daß ich ihm entgegenhalte: Ihre Tiraden sind nur dadurch zu erklären, daß Sie die Regierungsmacht verloren haben und daß Sie selbst nicht Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden konnten. ({1}) Ich sage Ihnen noch eines, Herr Kollege Schäuble: Sie brauchen hier keine Reden wie vor der Wahl zu halten, nach dem Motto: Wir übergeben ein wohl bestelltes Haus. Wenn das denn so wäre, so müßte man fragen: Wieso sind Ihnen denn die Bürger, zum Beispiel die Mieter, weggelaufen? Können Sie mir das einmal erklären? Das ist ja geradezu absurd. ({2}) Ich sage Ihnen auch noch klipp und klar: Wir können vernünftig miteinander umgehen. Das sollten wir im Interesse unserer parlamentarischen Demokratie tun. Aber dann müssen Sie, verehrter Herr Kollege Schäuble, es auch ertragen, daß Zwischenrufe gemacht werden. Dabei müssen Sie nicht immer den Schutz des Präsidenten in Anspruch nehmen. Wenn Sie die SPD-Fraktion so angreifen, wie Sie das getan haben, dann werden wir uns wehren, und dabei wird es bleiben. Nehmen Sie das zur Kenntnis! ({3}) Ich war ja sehr gespannt auf die Rede, die Sie halten würden, weil ich dachte: Was kommt denn nun? Ich verstehe - weil wir das ja selbst 16 Jahre lang als Opposition ertragen mußten -, daß der Vorsitzende einer Oppositionsfraktion versuchen muß, die eigenen Leute zu mobilisieren. ({4}) Ich kann nachvollziehen, wie schwer das für Sie ist und daß man dann natürlich versuchen muß, auch kräftige Worte zu finden. Aber, Herr Kollege Schäuble, Ihre heuchlerischen Ausführungen zu der Frage des Verhältnisses zwischen PDS und SPD ({5}) gehen weit über die Grenze hinaus. ({6}) Wir wissen doch ganz genau, daß in 44 Gemeinden und Landkreisen in den neuen Ländern die CDU Koalitionen mit der PDS eingegangen ist. Uns dann hier Zusammenarbeit vorzuwerfen ist lächerlich. ({7}) Wenn Sie, Herr Kollege Schäuble, uns auch noch anlasten wollen, daß die PDS in den Bundestag eingezogen ist, dann sage ich Ihnen klipp und klar: Wir wollten nicht - Verzeihung, Herr Kollege Gysi -, daß diese Partei in den Deutschen Bundestag einzieht. Sie ist eingezogen, weil Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, in den neuen Ländern eine falsche Politik gemacht haben. Sie haben das zu verantworten, nicht wir. ({8}) Es macht mich sehr stolz, hier für die größte SPDBundestagsfraktion sprechen zu dürfen, die je in diesem Hause gearbeitet hat. ({9}) - Entschuldigen Sie; ich höre Zurufe von Herrn Waigel und Herrn Glos. Ich will nur Herrn Kollegen Waigel sagen - Herr Hintze hat sich schon verzogen -: Sie sind nun absolut ungeeignet, in irgendeiner Weise Zurufe zu machen, Sie als völlig gescheiterter Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland. ({10}) Die SPD-Kandidatinnen und -Kandidaten haben 212 Wahlkreise direkt gewonnen, 109 mehr als bei der Wahl zum vergangenen Bundestag. Das hat es noch nie gegeben: 20 181 269 Wähler haben der SPD und Gerhard Schröder ihre Zweitstimme gegeben. Meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler, wir werden dieses Vertrauen rechtfertigen. ({11}) Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist - das ist der tiefere Grund für die Verbitterung und für die teilweise unsinnigen Tiraden Ihres Fraktionsvorsitzenden - eine Regierung komplett abgewählt worden. Zum erstenmal haben Oppositionsparteien per Wahl das Kanzleramt errungen. Ihnen mag das nicht passen, aber es sollte Sie freuen; denn es ist ein Beleg dafür, wie demokratisch und lebendig unsere Bürger entscheiden können, wenn es um die Frage geht, wer politische Verantwortung in unserem Land haben soll. ({12}) Wir, die SPD-Fraktion, werden uns - trotz dieses sehr schlechten Anfangs von Ihrer Seite, Herr Kollege Schäuble ({13}) durch die gewonnene Stärke nicht zu Arroganz verleiten lassen. Allen Fraktionen bieten wir eine faire, konstruktive Zusammenarbeit an, schon deshalb, weil wir aus 16 Oppositionsjahren wissen, wie es ist, wenn alle Eigeninitiativen von der Dominanz der Regierungsfraktionen vom Tisch gefegt werden. Wo ich gerade die F.D.P. sehe ({14}) - ja, ich weiß -: Der arme Herr Gerhardt muß jetzt ganz alleine da vorne in der ersten Reihe sitzen. ({15}) Als wir - das muß ich Ihnen einmal sagen, Herr Gerhardt; vielleicht wissen Sie das nicht - in der Situation waren, in der Sie jetzt sind, ging es um die Frage, wie viele Stühle in der ersten Reihe die Fraktionen haben dürfen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen freundlicherweise einen ihrer Plätze zur Verfügung gestellt. Daran, daß Sie jetzt dort alleine sitzen müssen, sehen Sie, wie Ihr ehemaliger Koalitionspartner mit Ihnen umgeht. ({16}) So ist das, wenn man nicht mehr gebraucht wird. Ihre Fraktion ist ein bißchen kleiner geworden, und die Anreden in Ihrer Fraktion müssen sich auch ändern: Sie können nicht mehr „Herr Minister“ und „Herr Staatssekretär“ sagen. Sie regieren zum erstenmal seit 29 Jahren nicht mehr mit, aber - das muß ich Ihnen ehrlich sagen, Herr Gerhardt - ich habe überhaupt kein Mitleid mit Ihnen. Es freut mich geradezu. ({17}) Da ich nun gerade meinen Blick schweifen lasse: Herr Altbundeskanzler Kohl, es ist viel davon gesprochen worden, in welch würdiger Art und Weise der Amtswechsel vollzogen worden ist und wie Sie diese Wahlniederlage hingenommen haben. Ich will das nicht wiederholen; ich finde, das ist nun oft genug gesagt worden. Aber ich möchte sagen - Sie werden es mir persönlich nicht übelnehmen, Herr Altkanzler Kohl -: Mir wäre es lieber gewesen, wenn Sie diese würdige Art, eine Wahlniederlage hinzunehmen, schon viel früher als 1998 hätten zeigen können. ({18}) - Ja, die Wahrheit hört man nicht gerne. Herr Waigel, setzen Sie sich mal lieber ganz nach hinten; dort stören Sie am wenigsten. Ihre Zeit ist sowieso schon lange vorbei. Wer hätte erwartet, daß diese Koalition der Erneuerung in Rekordzeit einen vertragsfähigen Handlungsrahmen abstecken würde? Das sind keine Blütenträume, sondern das Konzept, wie es der Herr Bundeskanzler für die nächsten vier Jahre vorgestellt hat, ist sehr realistisch. Manchem Bürger geht das nicht weit genug; mancher hätte mehr Aufbruch erwartet. Ich glaube aber, daß Rot und Grün das rechte Augenmaß für Kontinuität und Erneuerung hatten. Für unseren Start in Jahre harter Arbeit gilt, was die Chinesen mit einem Sprichwort sagen: Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Sie können sicher sein, daß wir es ernst meinen mit der Erkenntnis, die der Vorsitzende der Unionsfraktion, Kollege Schäuble - er ist gerade nicht im Saale anwesend -, ({19}) 1994, bei der letzten Regierungserklärung Helmut Kohls zum Anfang einer Legislaturperiode, hier zum Besten gegeben hat: „Wir wissen nicht alles, und wir wissen nicht alles besser.“ Das ist eine richtige Erkenntnis. Ich werde ihn noch persönlich darauf ansprechen, wenn er Gelegenheit hat, wieder hier im Plenum zu sein. 1994 war dies eine kluge Einschätzung. Wie recht er damit hatte, hat das Wählervotum gezeigt. Das war auch die Antwort darauf, daß die Unionsfraktion entgegen ihrer vorgetragenen Einschätzung glaubte, das Land mit ihrer Besserwisserei überziehen zu können. Das glauben Sie heute übrigens - wie die Rede von Herrn Schäuble gezeigt hat - noch immer. Wie anders ist zu verstehen, daß Sie auf Ihrem Parteitag und auch eben wieder eine vermeintliche Erfolgsbilanz vorlegten? Nehmen Sie doch den Rat an, der Ihnen in den Medien erteilt wird. Sie machen sich lächerlich, wenn Sie, Herr Waigel, Herr Glos und andere, sich nach einer so heftig verlorenen Wahl auf die Schulter klopfen. Was Sie hinterlassen haben, ist kein Fundament für eine gute Zukunft, wie Sie es kürzlich und gerade eben wieder behauptet haben. ({20}) Meine Aufgabe ist es nicht, Ursachenforschung für das Desaster der Union zu betreiben. Das machen Leute wie Rüttgers, Blüm, Geißler, Biedenkopf oder angebliche „Junge Wilde“ - was daran wild sein soll, ist mir noch nie aufgegangen - mit weit intimerer Kenntnis. Die Kirchen haben Sie gewarnt; die Gewerkschaften haben Sie gewarnt. Dennoch haben Sie eine Politik betrieben, die gegen die Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung gerichtet war. Das ist jetzt sogar Norbert Blüm aufgefallen. Er sagt - ich zitiere -: „Vielleicht haben wir den Eindruck erweckt, unsere Vorschläge stammten aus dem sozialen Kühlhaus.“ - Herr Kollege Blüm, das war nicht nur irgendein Kühlhaus. Manchmal hat Ihre Regierung den Eindruck erweckt, als sei ihr soziales Gewissen tief im ewigen Eis Grönlands eingefroren. ({21}) Inzwischen aber tauen selbst die sozialen Gefühle des neuen CDU-Vorsitzenden auf. Fast anrührend gab er am 29. Oktober zu Protokoll, daß wir wieder eine Gesellschaft brauchen, in der niemand sich selbst überlassen bleibt, eine Gesellschaft - so Herr Kollege Schäuble -, in der soziale Gerechtigkeit herrscht. - Ich glaube, Herr Schäuble, Sie verwechseln da eine Kleinigkeit: Sie müssen jetzt Opposition gegen Rotgrün machen, opponieren im Augenblick aber gegen Ihre Thesen von gestern aus dem Kühlhaus. Lesen Sie doch nach, was Sie vor zwei Jahren in der Akademie in Tutzing gesagt haben: Das Desaster der Union ist nicht mein Thema. Mein Thema ist die Frage, wie eine Regierung so sehr die Notwendigkeit des Zusammenhalts dieser Gesellschaft aus den Augen verlieren konnte. ({22}) In den CDU-Sozialausschüssen bemängelt man, die Bundesregierung habe nicht leidenschaftlich genug für den Konsens gekämpft und sei - Zitat - in die Konfliktfalle geraten. - Das stimmt nur zum Teil. Die ehemalige Regierung Kohl hat sich nicht in die Konfliktfalle verirrt. Das Scheitern des „Bündnisses für Arbeit“ war die logische, wenn auch absolut falsche Konsequenz einer Politik, die immer nur die alttestamentarische Alternative im Auge hatte: Wer nicht für mich ist, ist wider mich. In diesem Land ist von Ihnen zu lange ein FreundFeind-Schema gezüchtet worden. In diesem Land gehörte nur der zu den Guten, der Ihrer Meinung war. In diesem Land wurde nicht zusammengeführt, sondern gespalten. ({23}) Da wurden einzelne Menschen wie der Schriftsteller Günter Grass an den Pranger gestellt, weil sie unbequeme Meinungen zum Beispiel in der Ausländerpolitik hatten. Da wurden Fernsehjournalisten mit sanftem Druck aus dem Kanzleramt kaltgestellt, weil sie Kohls Weg in die Einheit kritisch begleiteten. Da wurden Gruppen wie Atomkraftgegner mitunter wie Staatsfeinde behandelt. Fast ein Viertel der Wähler in den neuen Ländern haben Sie mit Ihren Polarisierungen in die Hände der PDS getrieben. Sie finden es jetzt aber absurd, daß diese Partei am politischen Prozeß beteiligt werden muß. Zur PDS hat der Kollege van Essen in der für die Union fürchterlich peinlichen Geschäftsordnungsdebatte zu Beginn der Arbeit dieses Bundestages zwei richtige Sätze gesagt, die ich nur unterstreichen kann. Ich zitiere: Die PDS lebt doch gerade davon, sich als verfolgt, als benachteiligt darzustellen. Wir sollten ihr genau diesen Gefallen nicht tun. So ist es. Wir werden die PDS ordentlich in die Parlamentsarbeit einbeziehen. ({24}) - Ich komme auf das Thema noch zu sprechen, Herr Kollege Glos. Meine Damen und Herren, Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine haben immer wieder klargemacht, worauf es auch und vor allem ankommen wird. Oskar Lafontaine hat das auf einen einfachen Satz aus dem Volksmund gebracht: „Was du nicht willst, daß man dir tu', das füg' auch keinem andern zu.“ Das ist banal. Aber auf dieser Banalität beruht alles vernünftige Miteinander von Menschen in unserem Lande. Sie haben aber nicht nur billigend in Kauf genommen, daß dieser Erkenntnis nicht mehr Rechnung getragen wurde, Sie haben aktiv dazu beigetragen, indem Sie gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausgespielt und in weiten Teilen Klientelpolitik betrieben haben. ({25}) Meine Damen und Herren, genau das wollen wir nicht. Wir wollen die Gerechtigkeitslücke schließen. Wir haben keine großen Versprechungen, wir haben vor allen Dingen keine falschen Versprechungen gemacht, Herr Kollege Kohl. Wir halten Wort und werden deshalb unverzüglich die von der Regierung Kohl vorgenommenen Verschlechterungen beim Kündigungsschutz, bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, beim Schlechtwettergeld der Bauarbeiter und bei den Renten korrigieren. ({26}) Nur ein Beispiel daraus: Das Schlechtwettergeld, das 1959 als soziale Errungenschaft am Bau gefeiert wurde, wird 1999 mit uns wieder eingeführt. Wir korrigieren den Wahnsinn einer sogenannten Reform, mit der im Winter massenhaft Bauarbeiter entlassen wurden und auch im Frühjahr auf der Straße standen. Winterrisiko darf kein Arbeitsplatzrisiko sein. ({27}) Ich warte eigentlich immer noch auf den Kollegen Schäuble, weil ich einige Worte an ihn richten will. Vielleicht könnte die Geschäftsführung mir einmal mitteilen, ob er noch zu kommen beabsichtigt. Ich möchte auf ihn eingehen. Er hat ja gerade gesagt: Wir wollen eine Debatte haben. Aber wie kann ich mit ihm eine Debatte führen, wenn er nicht da ist? ({28}) Union und F.D.P. kritisieren die Finanzpolitik der neuen Regierung und unsere Steuerreform - Herr Schäuble hat das eben auch getan -, offensichtlich ohne genau hingesehen zu haben. Ein Satz von Herrn Schäuble ist absolut rekordverdächtig: „Unsere Bundesregierung“, so hat er gesagt, „hinterläßt geordnete Staatsfinanzen.“ ({29}) Dieser Satz qualifiziert Herrn Schäuble aus meiner Sicht sofort und unwiderruflich und ohne jeden Gegner als nächsten Kandidaten für den Orden wider den tierischen Ernst. ({30}) Es ist bei den Löchern, die uns Herr Waigel hinterlassen hat, absolut lächerlich, von „geordneten Staatsfinanzen“ zu sprechen. Er hat, wie man sehen kann, inzwischen den Raum auch fluchtartig verlassen. Die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute sagen in ihrem Herbstgutachten: Die bisher vorliegenden Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen deuten auf eine leichte Lockerung der Konsolidierung hin, trotz veränderter finanzpolitischer Akzente, aber nicht auf einen generellen Kurswechsel. Und ein anderes Zitat: Die künftige Bundesregierung scheint nach den bisherigen Verlautbarungen an der mittelfristigen Rückführung des Budgetdefizits festhalten zu wollen. Dies ist zu begrüßen. Was ist denn nun? Ist die Finanzpolitik katastrophal oder eine Fortsetzung der alten? Ich sage: Weder Sie, die Unionsfraktion, noch die Institute haben recht. Die Finanzpolitik vollzieht einen längst fälligen Kurswechsel zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Investitionen. Sie entlastet die Arbeitnehmer und die Leistungsträger und stärkt die Nachfrage. ({31}) Sie bekämpfen unseren Einstieg in die ökologische Steuerreform, obwohl Herr Schäuble es besser weiß und das in Sonntagsreden auch sagt oder in Büchern schreibt. Ich will Ihnen noch einmal vorhalten, was die wirtschaftswissenschaftlichen Institute dazu sagen: Ein ökologisch orientierter Umbau des Abgabesystems mit einer höheren Belastung des Faktors Energie bei gleichzeitiger Entlastung des Faktors Arbeit kann sowohl positive Umwelteffekte als auch positive Wirkung auf die Beschäftigung haben. Genau das wollen wir. Wir wollen darüber hinaus eine Steuerreform, die sozial gerecht und solide finanziert ist. Wir werden eine Reform vorlegen, mit der Bürgerinnen und Bürger in drei Stufen in einem Gesamtvolumen von 54 Milliarden DM entlastet werden. Wir werden über die Steuerreform am Freitag noch ausführlich diskutieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden uns auch sehr intensiv mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir in den nächsten vier Jahren jeweils unsere Aufgaben erfüllen werden, Sie als Opposition, als deutlich kleiner gewordene CDU/CSU-Fraktion, was mich herzlich freut - Sie haben 47 Abgeordnete verloren -, wir als Regierungskoalition. ({32}) Sie tun so, als sei die Opposition eine Episode. ({33}) - So war die Rede von Herrn Schäuble. ({34}) Wenn Sie diesen Eindruck erwecken wollen, kann ich das verstehen. Aber wenn Sie bei sich zu Hause, parteiintern, kaum ein Wort über die Ursachen Ihrer Niederlage verlieren, irritiert das doch. ({35}) Denn schließlich sind bekanntlich fehlende und falsche Analysen von Wahldebakeln das Schlimmste an Ihnen. Das einzige, was beim neuen CDU-Vorsitzenden außer der bekannten und auch hier wieder praktizierten Polemik deutlich geworden ist: Herr Schäuble hofft, daß die Oppositionszeit schnell vorüber ist. ({36}) Das kann ich verstehen. Ich weiß aber, auch aus eigener leidvoller Erfahrung: So schnell vergehen Oppositionszeiten nicht. ({37}) Jetzt aber zu Ihrer Bewertung unseres Koalitionsvertrages. Er habe, so sagte Herr Schäuble eben, nur schöne Überschriften gelesen, sonst nichts. Wenn er nur Überschriften liest, ist das sein Problem. Ich helfe ihm bei zwei Punkten einmal nach, bei denen es die CDU/CSU-Fraktion aus unterschiedlichen Gründen besonders schmerzt. Zum Beispiel die Familienpolitik. ({38}) Da klagen Sie beredt, daß die Zukunft unserer Kinder bei Rotgrün in schlechter Hand sei. Ihr Fraktionskollege, Herr Laumann, Sprecher der Arbeitnehmergruppe Ihrer Fraktion - ich weiß nicht, ob er da ist; er macht vielleicht schon Mittagspause -, sieht das ganz anders. ({39}) - Ist ja gut! - Herr Laumann glaubt offensichtlich, daß in den letzten 16 Jahren nicht genug für Familien getan worden ist. Denn wie anders ist es zu verstehen, daß er gerade jetzt fordert, die Unterstützung der Familien müsse wieder - so das Zitat - „ins besondere Licht der Öffentlichkeit“ gerückt werden? Wir tun das, meine Damen und Herren. Das hat der Bundeskanzler eben gerade vorgetragen. ({40}) Lesen Sie auch bitte einmal das Kleingedruckte im Koalitionsvertrag. Wenn Herr Schäuble nur Zeit hat, Überschriften zu lesen, dann empfehle ich Ihnen: Lesen Sie die Seiten 41 und 42 des Koalitionsvertrages zu diesem Thema. Dort heißt es: Wir sorgen dafür, daß sich die wirtschaftliche und soziale Lage der Familien spürbar verbessert. . . Mit der Steuerreform wird mehr Steuergerechtigkeit für Familien geschaffen. Eine durchschnittlich verdienende Familie mit zwei Kindern wird um rund 2 700 DM entlastet. ({41}) Das Kindergeld für das erste und zweite Kind wird 1999 auf 250 DM und im Jahr 2002 auf 260 DM. . . angehoben. ({42}) Ist das nichts, meine Damen und Herren? Natürlich ist dies nicht alles, aber jedenfalls mehr als Sie, Herr Laumann, seinerzeit von Ihrer eigenen Regierung erwarten durften. Sie, Herr Altkanzler Kohl, sind nie in der Lage gewesen, das Kindergeld von 220 DM auf 250 DM zu erhöhen. - Wenn Sie zustimmend nicken, dann sagen Sie, daß ich recht habe. Jetzt will ich etwas zu dem Thema der doppelten Staatsbürgerschaft sagen. Ich finde es schon merkwürdig, ({43}) wie Herr Schäuble über unseren Vorstoß zur doppelten Staatsbürgerschaft gesprochen hat. Er hat nur die Floskel verwandt - so Herr Schäuble am vergangenen Samstag auf dem Parteitag -, Integration werde nicht dadurch gefördert, daß die Staatsbürgerschaft zur Beliebigkeit werde. ({44}) Auch hier empfehle ich: Lesen Sie mehr als nur Überschriften! Im übrigen, meine Damen und Herren, finde ich diese abschätzige Bemerkung gegenüber all jenen ausländischen Mitbürgern schäbig, die seit Jahren gerade auf diese Chance gehofft haben. ({45}) Für sie ist die Entscheidung zwischen deutscher und - sagen wir - türkischer Staatsbürgerschaft keine beliebige Frage. Herr Schäuble, Ihre Bemerkung ist aber auch schäbig gegenüber all den Kolleginnen und Kollegen in Ihrer eigenen Fraktion, die ähnliche Regelungen beim Staatsbürgerschaftsrecht für geboten halten. Wir kennen doch die Diskussion aus der vergangenen Legislaturperiode. Wie gehen Sie denn mit diesen Kollegen um? Einmal haben Sie den Eindruck vermittelt, daß Sie ein solches Projekt unterstützen würden. Dann sind Sie wegen der ablehnenden Haltung der CSU zurückgeschreckt. Jetzt haben Sie den Kollegen auf Ihrem Parteitag am Samstag gesagt, das sei keine Frage von Belang. Sie werden sich täuschen. Während Sie noch Ihre vermeintlichen Erfolge von gestern feiern, sind Sie gerade in dieser Frage dabei, Ihre Fehler von morgen zu machen. ({46}) - Herr Kollege Schäuble, ich hatte Sie mehrfach angesprochen; mir wurde gesagt, daß Sie zurückkommen. ({47}) - Ja, natürlich, selbstverständlich. - Aber ich möchte jetzt die Gelegenheit nutzen, Herr Kollege Schäuble, trotz der Schärfe, die wir hatten, Ihnen auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion herzlich zu Ihrer Wahl zum CDU-Parteivorsitzenden zu gratulieren. Das tue ich gerne. ({48}) Ich weiß, Herr Kollege Schäuble, das ist ein schwieriges Amt. Es würde mich reizen, ein paar Personalentscheidungen Ihres Parteitages zu kommentieren. Meinen Sie, ich sollte es nicht machen? Dann sage ich nur den einen Satz - den werden Sie mir noch gestatten, Herr Kollege Schäuble -: Wie jetzt jemand, der wie der Kollege Wulff zweimal Landtagswahlen verloren hat, plötzlich der große Hoffnungsträger sein soll, müssen Sie mir erst einmal erklären. Ich verstehe es nicht so richtig, aber Sie vielleicht schon. ({49}) Ich war bei der doppelten Staatsbürgerschaft stehengeblieben. Ich möchte Sie daran erinnern, daß diese vorschnell eingenommene Ablehnung beim Ausländerrecht Sie in das Dilemma bringt, das Sie in den 70er Jahren mit Ihrer Haltung zu den Ostverträgen hatten. Ihre heutige Haltung zum Thema doppelte Staatsbürgerschaft könnte Ihnen wie damals über etliche Jahre den Verlust der politischen Mitte und der Politikfähigkeit der Union bescheren. Damals ging es um eine Öffnung nach außen. Heute geht es um eine Öffnung, die dem inneren Frieden in unserem Lande dient. ({50}) Macht es Sie gar nicht stutzig, daß Sie in dieser Frage im ganzen Haus isoliert dastehen? Wir jedenfalls bieten Ihrem ehemaligen Koalitionspartner F.D.P. an: Machen Sie mit! Lassen Sie uns das Staatsbürgerschaftsrecht so gestalten, Herr Kollege Gerhardt, daß es den Bedingungen des neuen Jahrhunderts gerecht wird! Wir sind zur Zusammenarbeit bereit. Lassen wir die CDU da stehen, wo sie hingehört, nämlich in der Ecke der sich verweigernden Opposition. ({51}) Daß es in der Politik immer auch um Macht geht und daß eine Regierung um den Machterhalt kämpft, ist klar. Aber Machterhalt darf nicht alles sein. Erhard Eppler hat dazu in seinem Buch „Die Wiederkehr der Politik“ geschrieben: Wer Politik auf ein steriles Spiel mit der Macht und um die Macht reduziert, wer sie löst von der Frage, wie Menschen leben wollen und leben sollen, läßt in der Tat nur etwas übrig, was für die übrige Gesellschaft ohne Belang ist, einen Kampfplatz oder auch nur einen Spielplatz, bei dem es um Ränge und Medaillen geht, um die Befriedigung von Geltungsbedürfnis und Machthunger . . . Herr Schäuble, dem Machterhalt haben Sie in der vergangenen Legislaturperiode alles untergeordnet. Aus Machterhalt haben Sie noch vor wenigen Wochen Jürgen Trittin als Altkommunisten beschimpfen lassen, die Grünen als Chaostruppe abgetan. Jetzt reden Sie von Schwarzgrün in den Landesparlamenten. Für wie dumm halten Sie eigentlich die Wähler, Herr Kollege Schäuble? ({52}) Der 27. September 1998 war für Sie mehr als der Machtverlust in Bonn. Er hat bloßgelegt, was der Kollege Helmut Kohl mit seiner mächtigen Figur lange verbergen konnte. In Sachen Macht ist die CDU am Ende und in Sachen politischer Kompetenz genauso. In den Ländern und Kommunen ist sie fast überall auf das Maß zurückgestutzt, das sie jetzt auch im Bund erreicht hat. Sie haben noch so getan, als spielten Sie überall die erste Geige, als Sie in den Ländern und Kommunalparlamenten längst im zweiten oder dritten Glied gelandet waren. Jetzt ist offensichtlich, wie wenig Ihr selbstgerechtes Auftreten hier im Parlament mit den wahren Verhältnissen im Lande zu tun hat. Ich bin stolz darauf: Die SPD regiert in 13 von 16 Bundesländern mit. Wir stellen elf Ministerpräsidenten. Das ist ein klarer Beweis für die Stärke der sozialdemokratischen Idee in Deutschland. ({53}) Herr Kollege Schäuble hat ein Thema angesprochen, auf das ich gewartet habe. Was Sie gesagt haben, ist auch nichts Neues gewesen. Deshalb konnte man sich darauf vorbereiten. Es geht um die Frage des Bundespräsidenten. Herr Kollege Kohl, wir Sozialdemokraten haben nicht vergessen, welch schäbiges Spiel Sie in der Präsidentschaftsfrage mit Johannes Rau getrieben haben. ({54}) Erst haben Sie ihm das Amt angeboten. ({55}) - Nein, das ist nicht unwahr. - Dann wollten Sie nichts mehr davon wissen, zogen Steffen Heitmann aus dem Hut und haben schließlich Roman Herzog zum Präsidenten gemacht. Wir haben noch den Satz im Ohr, den Sie, Herr Kollege Kohl, in der letzten Legislaturperiode über Rau gesagt haben: „Der wird das nie!“ - Er wird es, Herr Ehrenvorsitzender der CDU, ({56}) denn wir leben nicht in einer Halbmonarchie, wie Sie zwischenzeitlich vielleicht geglaubt haben. Wir leben in einer Demokratie, in der nicht der Wille eines einzelnen den Ton angibt. Meine Damen und Herren, Johannes Rau wird nach Gustav Heinemann der zweite sozialdemokratische Bürgerpräsident der Bundesrepublik Deutschland. ({57}) Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, den ich für mitentscheidend für das Scheitern der bürgerlichen Koalition halte. Wir Sozialdemokraten - und ich denke, auch die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen - werden diesen Fehler nicht wiederholen. Ich meine das mangelnde konstruktive Zusammenspiel zwischen der Regierung und den Fraktionen von Union und F.D.P. Kollege Schäuble, bei Ihrem Amtsantritt 1994 haben Sie zwar den Eindruck erweckt, Ihre Fraktion zu einem Machtzentrum auszubauen, aber wie die Praxis aussah, wissen viele Frauen und Männer Ihrer Fraktion aus eigenem Erleiden: Gerade bei wichtigen Reformvorhaben sind Entscheidungen an den Regierungsfraktionen vorbei in sogenannten Spitzengesprächen gefällt und die Fraktionen vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Sie, Herr Schäuble, waren an diesem „Kungelrundenverfahren“ maßgeblich beteiligt und haben Ihre Abgeordnetenkollegen zu bloßen Erfüllungsgehilfen degradiert. Mit dieser einseitigen Instrumentalisierung der Fraktion haben Sie dem Parlamentarismus geschadet und Ihrer Regierung letztlich keinen Gefallen getan. ({58}) Denn nur wenn sich eine Fraktion nicht als bloßer Mehrheitsbeschaffer der Regierung versteht, kann sie ein verläßlicher Seismograph sein - ein Seismograph, der aufnimmt und wiedergibt, was möglich ist und was noch getan werden muß. Diese SPD-Fraktion, für die ich spreche, wird die Regierung Gerhard Schröders tragen. Das ist überhaupt keine Frage. Im Zweifel - und darin unterscheiden wir uns von den alten Koalitionsfraktionen - werden wir diese Regierung allerdings auch treiben, wenn wir es für nötig halten. Wir werden das loyal, konstruktiv und selbstbewußt tun. Wir werden gemeinsam mit dieser Regierung erfolgreich sein; wir werden Innovationen durchsetzen, soziale Gerechtigkeit und eine nachhaltige Entwicklung fördern. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({59})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat die Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Frau Kerstin Müller.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schäuble, ich muß sagen, daß ich von Ihrer Rede wirklich etwas enttäuscht war. ({0}) Mein Eindruck ist, daß Sie bis jetzt nicht viel aus der Wahlniederlage gelernt haben. Um einen Punkt von Ihnen aufzugreifen: Einen Vorwurf kann man der RegieDr. Peter Struck rungserklärung des Herrn Bundeskanzlers sicherlich nicht machen, nämlich den, sie habe nur aus Absichtserklärungen bestanden. Der Herr Bundeskanzler hat unter Berücksichtigung der vollen Breite der gesellschaftlichen Aufgaben sehr deutlich gemacht, was sich diese Regierung ganz konkret vorgenommen hat. Diese Regierung handelt! Und Sie handelt schon gleich in den ersten Tagen. Mein Eindruck ist: Es fällt Ihnen wirklich schwer, sich an die Tatsache dieser neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Das ist das Problem. ({1}) Die Wählerinnen und Wähler haben am 27. September entschieden, und zwar für eine Politik der Reformen und der grundlegenden Erneuerung. Diesen klaren Auftrag werden wir jetzt umsetzen. Diese Koalition, diese Bundesregierung werden Deutschland ökologisch und sozial erneuern. Es ist uns sehr bewußt, daß das kein einfacher Weg werden wird, auch kein bequemer. Aber es ist der richtige Weg, und es gibt dazu keine Alternative. Herr Schäuble, viel zu lange hat doch Ihre Regierung, die alte Bundesregierung, die Probleme ausgesessen; deshalb wollen wir jetzt die notwendigen und tiefgreifenden Reformen anpacken. ({2}) Damit beginnen wir schon in dieser Woche. Herr Kollege Schäuble, es ist richtig, daß wir dabei zunächst einmal die schlimmsten Altlasten der alten Regierung aus dem Weg schaffen müssen, nämlich ungerechte und unsinnige soziale Einschnitte, die Sie den Menschen als Reformen verkaufen wollten, wie etwa die Kürzung der Lohnfortzahlung, die Aufweichung des Kündigungsschutzes und das abstruse Krankenhausnotopfer. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der F.D.P., ich meine, mit einer Politik der organisierten Ungerechtigtkeit reformiert man keine Gesellschaft; man spaltet sie damit nur. Genau das haben Sie in den letzten Jahren gemacht. Sie haben diese Gesellschaft mit Ihrer Politik mutwillig gespalten, gespalten in Arm und Reich, in Eingeborene und Fremde, in Jung und Alt und in Gesunde und Kranke. ({3}) Die Schlüsselentscheidung dieser Politik haben Sie im Frühjahr 1996 getroffen. Da haben Sie nämlich mutwillig das „Bündnis für Arbeit“ beendet, indem Sie die Gewerkschaften vor die Tür gesetzt haben. Das war ein schwerer Fehler mit schlimmen Folgen für die ganze gesellschaftliche Entwicklung. Letztlich war Ihre Abwahl am 27. September wohl die einzig logische und richtige Konsequenz aus dieser Fehlentscheidung. ({4}) Wir wollen die ökologische und soziale Modernisierung der Gesellschaft angehen. Wir werden die Veränderungen, die nicht zuletzt die Menschen in diesem Land erwarten, anders als durch Spaltung angehen. Wir werden versuchen, in allen Bereichen, die wir angehen, einen neuen, einen reformorientierten Konsens zu finden; denn die großen und schwierigen Aufgaben, vor denen wir stehen, kann man im Grunde genommen nur miteinander und eben nicht gegeneinander bewältigen. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, eine gerechtere Verteilung der Lasten, einen neuen Generationenvertrag, die umfassende Orientierung auf ökologische Nachhaltigkeit und die weitere Demokratisierung der Gesellschaft, das alles werden wir nur schaffen, wenn wir wirklich einen neuen, reformorientierten Konsens in dieser Gesellschaft anstreben. Genau das werden wir versuchen. ({5}) Ein neues Bündnis für Arbeit und Ausbildung wird dabei für uns oberste Priorität haben. Wir wollen gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Unternehmen alle Möglichkeiten zum Abbau der Arbeitslosigkeit nutzen. Wir müssen endlich Überstunden abbauen und in neue Jobs verwandeln. Wir müssen durch vernünftige Regelungen bei der Arbeitszeit, Teilzeitarbeit erleichtern und fördern. Und wir müssen endlich die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienarbeit verbessern. Das alles ist eben nicht nur eine gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe, sondern es ist auch eine historische Aufgabe von Politik, Unternehmen und Gewerkschaften. Ich freue mich sehr über die Ankündigung des Herrn Bundeskanzlers, daß das neue Bündnis für Arbeit bereits im Dezember mit seiner Arbeit beginnen wird. Wir als Bündnisgrüne werden - das kann ich Ihnen versichern alles tun, was in unseren Kräften steht, damit dieses Bündnis erfolgreich sein wird. ({6}) Vordringlich ist in der Tat die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Viele meiner Generation sind arbeitslos oder haben keinen Ausbildungsplatz. Sie stehen vor der Perspektivlosigkeit. 10,8 Prozent der Jugendlichen unter 25 Jahren sind arbeitslos: Jeder neunte Jugendliche hat keinen Job; im Osten ist es sogar jeder sechste. Ende Oktober fehlten noch mindestens 36 000 Ausbildungsplätze. Das müssen und werden wir so schnell wie möglich angehen; denn hier liegt ein sozialer Sprengsatz in der Gesellschaft, wenn ein großer Teil der Jugendlichen von der Teilhabe am Arbeitsleben ausgegrenzt wird. Das müssen wir und werden wir als Regierung ändern. ({7}) Darum brauchen wir auch das Sofortprogramm, mit dem 100 000 Jugendliche umgehend und mit besonderem Schwerpunkt in Ostdeutschland in Ausbildung und Beschäftigung gebracht werden. Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie hofften, daß die Bereitstellung von hinreichend vielen Ausbildungsplätzen keinerlei Zwangsmaßnahmen erforderlich mache. Das hoffen auch wir. Aber falls es nicht gelingt, durch Vereinbarungen die erforderlichen AusbildungsKerstin Müller ({8}) plätze zu schaffen, dann - das sage ich hier ganz deutlich - wird diese Koalition auch gesetzgeberisch handeln müssen. Dann werden wir eine Ausbildungsplatzumlage auf den Weg bringen. ({9}) Diese Koalition wird nicht tatenlos zusehen, wenn Jugendlichen der Weg zu einer qualifizierten Ausbildung versperrt bleibt. ({10}) Meine Damen und Herren, allerhöchste Zeit ist es auch für die Steuerreform. Sie wird ebenfalls ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein. ({11}) - Sie werden das sehen. - Vor allen Dingen wird sie endlich zu einer gerechteren Lastenverteilung im Steuersystem führen. ({12}) Wir werden die Steuertarife in drei Schritten senken. Zugleich werden wir das Kindergeld deutlich anheben. Wir werden mit jedem Schritt insbesondere die unteren und mittleren Einkommen und die Familien mit Kindern entlasten. Der Herr Bundeskanzler hat schon darauf hingewiesen: In der dritten Stufe unserer Steuerreform wird eine Familie mit durchschnittlichem Einkommen und zwei Kindern um 2 700 DM entlastet. Das bedeutet endlich mehr Steuergerechtigkeit; das ist ein wirklicher Erfolg. Wir werden dies sofort, und zwar bereits zum 1. Januar 1999, angehen. ({13}) Nun ist unser Steuerreformkonzept in den letzten Wochen heftig diskutiert worden. Den einen ging es nicht schnell genug, den anderen ging es nicht weit genug. Den meisten aber gefielen zwar einigermaßen die niedrigeren Steuertarife; aber bei der Gegenfinanzierung wollten sie - das war dann besonders originell - alle Schlupflöcher möglichst so lassen, wie sie sind. Eine solche Kritik trifft uns nicht sehr überraschend; denn die alte Bundesregierung hatte ja mal ganz locker eine Nettoentlastung von 50 Milliarden DM durch die Steuerreform versprochen, davon - ich erinnere Sie daran, Herr Glos - ein Drittel durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gegenfinanziert, während die anderen zwei Drittel durch den Griff in die Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden finanziert werden sollten. Das war leicht; Sie wußten nämlich ganz genau, daß die Länder angesichts ihrer Haushaltslage das nicht realisieren könnten. Das waren alles ungedeckte Schecks, von denen Sie wußten, daß Sie sie niemals einreichen müßten. Mein Eindruck ist, daß ein ganzer Teil der Öffentlichkeit heute noch geradezu besoffen von diesen unverantwortlichen, leeren Versprechungen ist, die Sie im letzten Jahr gemacht haben. ({14}) Angesichts der Haushaltslage von Bund, Ländern und Gemeinden und angesichts dessen, daß wir bei der Nettoentlastung im Bund gerade einmal einen verfassungskonformen Spielraum von 1,3 Milliarden DM haben, 45 bis 50 Milliarden DM an Nettoentlastung zu versprechen, das war unsolide und völlig unverantwortlich. Wir dagegen werden eine solide Steuerreform machen. ({15}) Hinzu kommt, daß die Steuerausfälle der Ära Waigel ohnehin schon gewaltig waren. Im Jahr 1995 hatte der ehemalige Finanzminister Waigel das Steueraufkommen für 1998 auf 1 020 Milliarden DM geschätzt. Wohlgemerkt, das war nicht die raffgierige Phantasie rot-grüner „Staatsfetischisten“, wie Sie zur Zeit so gerne sagen, sondern die mittelfristige Finanzplanung des ehemaligen Finanzministers Waigel höchstselbst. 1 020 Milliarden DM sollten es also 1998 werden. Nach den letzten Zahlen werden es aber tatsächlich nur 824 Milliarden DM sein. Das heißt, innerhalb von drei Jahren gibt es einen Steuerausfall der fast ein Fünftel der von Herrn Waigel geschätzten Steuereinnahmen ausmacht. Das alles kommt daher, daß sich infolge der Steuerpolitik der alten Bundesregierung quasi ganze soziale Gruppen der Steuergerechtigkeit entziehen konnten. Der Einkommensmillionär, der keinen Pfennig Steuern zahlt, war doch am Ende der Ära Kohl ein beliebter Gast der Talkshows. Solche Entlastungsorgien zugunsten von bestimmten Teilen der Industrie und zugunsten der Reichsten der Reichen dieser Gesellschaft haben wir in den letzten 16 Jahren zur Genüge erlebt; sie haben zu der höchsten Arbeitslosigkeit geführt, die es in dieser Gesellschaft je gab. Das muß und wird mit dieser Regierung ein Ende haben. ({16}) Wir können und wir wollen keine gigantischen Nettoentlastungen für die Besserverdienenden mehr durchführen. Unsere Steuerreform wurde deshalb solide durchgerechnet und ist solide gegenfinanziert. ({17}) Wir haben in den letzten Tagen noch manchen Feinschliff vorgenommen. Wir werden das im Rahmen der Anhörungen auch noch fortsetzen. Insbesondere auf Initiative meiner Fraktion haben wir auch Verbesserungen für den Mittelstand vorgenommen. Ich freue mich, heute sagen zu können: Die Steuerreform ist nicht nur notwendig und nicht nur seit Jahren überfällig, sondern sie wird kommen, nicht irgendwann, sondern mit der ersten Stufe wie geplant am 1. Januar 1999. Kerstin Müller ({18}) Ich finde, das ist ein guter Einstieg für eine neue Bundesregierung. ({19}) - Wir fangen ja jetzt schon an. Einen ähnlich guten Einstieg haben wir mit der ersten Stufe der ökologischen Steuerreform gefunden. Sie wird eine weitere Entlastung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bringen. Sie ist zugleich ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Vor allem ist sie der entscheidende Schlüssel zur ökologischen Neuorientierung der Wirtschaft. Durch die ökologische Steuerreform werden deshalb die Lohnnebenkosten schon am 1. Januar 1999 um 0,8 Prozentpunkte sinken und in der gesamten Wahlperiode um mehr als 2,3 Prozentpunkte auf unter 40 Prozent. ({20}) - Wenn man umfinanziert. Das hat Herr Schäuble schon richtig gesagt. Eigentlich sollten Sie, Herr Schäuble, uns dafür loben; denn Sie selbst sind ja in der Union schon lange für eine ökologische Steuerreform eingetreten. Sie konnten sie aber nicht durchsetzen. Sie haben zum 1. April dieses Jahres - die Mitglieder des Vermittlungsausschusses sind ja alle hier anwesend - eine Umfinanzierung durchgeführt: Allein zur Stabilisierung des Rentenbeitrages haben Sie die Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt erhöht. Wir wollen ökologisch umsteuern und werden deshalb durch eine ökologische Steuerreform das billiger machen, was in der Gesellschaft zu teuer ist, nämlich die Arbeitskosten. Das wird dann wirklich zu politischen Veränderungen führen. ({21}) Wir haben zur Umsetzung dieser Politik in der Koalition mit einer Mischung aus Mineralöl- und Stromsteuer unter Einbeziehung der Wirtschaft, die von der Senkung der Lohnnebenkosten ja auch profitiert, ein gutes Modell gefunden. Dabei gehen wir behutsam mit energieintensiven Branchen um. Die ökologische Steuerreform ist auf ein stetiges Umsteuern angelegt. Das leiten wir mit dem ersten Schritt ein. Die Kritiker der Ökosteuer wollen nicht wahrhaben, daß dieses Konzept kein rotgrünes Abenteuer ist, sondern inzwischen in vielen europäischen Ländern mit durchweg sehr positiven Auswirkungen Realität geworden ist. ({22}) Wir machen da keinen deutschen Alleingang. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: In Dänemark beschloß die Regierung Rasmussen schon 1993 die Einführung von Ökosteuern auf Elektrizität, Verkehr und Abfall bei gleichzeitiger Senkung der Einkommensteuer. Zusätzlich wurden erneuerbare Energien massiv gefördert und die Lohnnebenkosten gesenkt. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Von 1993 bis heute sank die Arbeitslosenquote in Dänemark von 13 auf 6 Prozent; das heißt, sie wurde mehr als halbiert. Auch die Wachstumsrate lag in den letzten Jahren regelmäßig über der in den meisten anderen EU-Staaten. Die Niederlande haben die gleichen erfolgreichen Erfahrungen gemacht. Auf europäischer Ebene - das ist der Punkt - gab es bisher nur ein ernsthaftes Hindernis gegen eine europäische Vereinbarung über eine ökologische Steuerreform: Das war die alte Bundesregierung, die aus ideologischer Verbohrtheit jeden Fortschritt in dieser Sache in Europa blockiert hat. ({23}) Das wird jetzt auch auf europäischer Ebene anders. Die neue Regierung wird dort nicht mehr Blockierer, sondern Motor in Sachen Ökosteuer sein. Wir werden die bevorstehende deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um dabei ein großes Stück voranzukommen. Das heißt, wir wollen unser Ökosteuerkonzept in eine europaweite Regelung einbetten. Das bedeutet aber nicht, daß wir in Deutschland derweil die Hände in den Schoß legen und abwarten. Das hat die alte Bundesregierung schon viel zu lange gemacht. Deshalb beginnen wir jetzt, und zwar zum 1. Januar 1999, mit dem ersten Schritt - das ist absolut notwendig -, und dann werden wir die Gespräche mit den europäischen Partnern aufnehmen. Wir werden damit erfolgreich sein; das kann ich Ihnen versichern. ({24}) - Ja, ich glaube das. Mit der ökologischen Steuerreform geben wir richtige Anreize für eine neue Energiepolitik, für den sparsamen Umgang mit den Naturressourcen. Das heißt: Vorrang der Einsparung vor der Erzeugung, verstärkte Nutzung regenerativer Energien und einen neuen, zukunftsfähigen Energiemix, und zwar ohne Atomenergie. Auch das ist ein riesiger Schritt in Richtung Zukunftsfähigkeit dieser neuen Bundesregierung. Wir werden den Ausstieg aus der Atomenergie in dieser Wahlperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich regeln. Wir machen das so schnell wie nur irgend möglich. ({25}) Wir werden einen neuen Energiekonsens mit der Industrie, mit den Verbrauchern und auch mit den Umweltverbänden suchen, der den Ausstieg aus der Atomenergie, aber gleichzeitig auch den Einstieg in eine andere, in eine neue Energiepolitik umfaßt. An der Entschlossenheit dieser Koalition, und zwar - wie der Bundeskanzler immer wieder zu Recht betont - beider Partner, diese Gefahr für unsere Sicherheit und für alle zukünftigen Generationen schnellstmöglich zu beenden, Kerstin Müller ({26}) sollte niemand Zweifel haben. Das haben wir uns vorgenommen, und das werden wir auch umsetzen. ({27}) Die neue Bundesregierung orientiert sich ausdrücklich nicht nur an der Energiepolitik, sondern umfassend am Leitbild der Nachhaltigkeit. Dieser Anspruch richtet sich nicht nur an das Umweltministerium, sondern an alle Ressorts. Wir werden eine umfassende nationale Nachhaltigkeitsstrategie erarbeiten, damit das drittgrößte Industrieland der Welt endlich seiner globalen und ökologischen Verantwortung gerecht wird. Ich glaube, auch das ist längst überfällig. ({28}) Meine Damen und Herren, nicht nur die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern auch eine gerechtere Lastenverteilung und die ökologische Nachhaltigkeit sind die Ziele dieser neuen Regierung. Der Bundeskanzler hat es zutreffend gesagt: Die Demokratie in Deutschland ist kein zartes Pflänzchen mehr, sondern ein kräftiger Baum. Diesem Baum wollen wir Raum verschaffen, damit er weiter wachsen und blühen kann. Darum ist ein weiteres zentrales Vorhaben für uns die stärkere Demokratisierung dieser Gesellschaft. Wir wollen Bürgerrechte ausbauen, indem wir die Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger in bezug auf diese Demokratie durch die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid erweitern. Wir wollen Minderheiten besser schützen. Was für eine Zeitenwende bedeutet gerade die Koalitionsvereinbarung über die eingetragenen Lebenspartnerschaften für schwule und lesbische Paare! ({29}) - Ja. Noch vor 30 Jahren war die einfache Homosexualität unter Männern nach § 175 des Strafgesetzbuches mit Gefängnis bestraft. Homosexualität unter Frauen galt als absolutes Tabu. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, selbst Bischof Lehmann plädierte dieser Tage für eine Öffnung und Gleichstellung. Nach dem, was ich heute morgen in Ihrem Beitrag gehört habe, habe ich den Eindruck, Sie fallen selbst hinter diese Position der katholischen Kirche zurück. ({30}) Wir werden das ändern. Jetzt werden wir die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften durch das Gesetz schützen und gleichstellen. Ich sage ganz deutlich: Das ist ein wirkliches Stück Moderne. Das ist ein Stück mehr an Zivilisation, und das ist ein Stück Weltoffenheit. Diese hat diese Gesellschaft wirklich bitter nötig gehabt. ({31}) Wir werden noch in einer anderen Hinsicht mehr Demokratie und mehr Weltoffenheit wagen. Wir werden uns nämlich endlich der Tatsache stellen - der Sie sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verweigert haben -, daß ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozeß stattgefunden hat, daß die Bundesrepublik Deutschland heute ein Einwanderungsland ist. Wir werden daher den Menschen, die heute noch sogenannte Ausländer sind - das sind immerhin 7 Millionen -, die seit langem hier leben, die hier geboren sind und die dieses Land mit aufgebaut haben - wir haben sie damals als sogenannte Gastarbeiter hierher geholt -, durch eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts endlich das geben, worauf sie schon so lange gewartet und worauf sie ein Recht haben: die vollen Bürgerrechte. ({32}) Wir werden ihnen, die bisher Fremde im eigenen Land waren, mit dieser Reform signalisieren: Ihr gehört zu dieser Gesellschaft. Wir werden Schluß machen mit der Spaltung der Gesellschaft in Bürger erster, zweiter und dritter Klasse. Wer hier dauerhaft lebt und hier seinen Lebensmittelpunkt hat, wird künftig einen klaren Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, und die Kinder, die hier geboren werden und hier aufwachsen, sind künftig mit der Geburt deutsche Staatsbürger, wenn ein Elternteil seit dem 14. Lebensjahr hier lebt. Dies, meine Damen und Herren von CDU und F.D.P., machen wir unter bewußter Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft. Zum einen gibt es rechtlich überhaupt keine Alternative dazu. Vielleicht lassen Sie sich das einmal von dem ehemaligen langjährigen Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Herrn Eylmann, CDUMitglied, erklären. Als er nämlich noch Mitglied dieses Hauses war, wurde er nicht müde, dies zu betonen. Zum anderen: Es gibt keine wirklichen Argumente gegen die Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft. Das, was Sie anführen, ist aus meiner Sicht Ideologie. ({33}) Herr Schäuble, Sie haben heute morgen noch einmal behauptet, die doppelte Staatsbürgerschaft sei ein Privileg der sogenannten Ausländer gegenüber den „wirklichen“ Deutschen, weil diese ja schließlich nur eine einzige Staatsbürgerschaft hätten und nicht zwei. Da wird jetzt sogar mit Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof gedroht. Ich finde es sehr bedauerlich, daß Sie mit diesem wichtigen Thema so unbesonnen umgehen. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist kein Privileg, und sie hat nichts, aber auch gar nichts mit Rosinenpickerei zu tun. Wer das behauptet, der erzählt einfach dummes Zeug, und ich finde es gefährlich, das in der Öffentlichkeit zu erzählen. ({34}) Ich will das hier mal erklären. Die Rechte und Pflichten von Doppelstaatsbürgern richten sich ganz einfach nach dem festen Wohnsitz. Die zweite StaatsangeKerstin Müller ({35}) hörigkeit bedeutet im Kern einen einzigen Vorteil: Es gibt außer Deutschland ein weiteres Land, in dem man das Recht hat, sich niederzulassen. Dieses Recht, meine Damen und Herren, das hat jeder Deutsche, und zwar nicht nur in einem anderen Land, sondern in allen 14 Ländern der Europäischen Union. Ich finde, wenn man das weiß - und ich gehe einmal davon aus, daß Sie das eigentlich wissen, meine Damen und Herren von der CDU -, dann sollte man nicht von Privilegien reden. Damit macht man schlechte Stimmung gegen die ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen in diesem Land. ({36}) Daher werden wir als eines der zentralen Anliegen diese Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zügig und entschlossen umsetzen. Diese Reform wird das Gesicht dieser Republik verändern. Ja, das stimmt. ({37}) Wir wollen das, denn wir stellen uns damit endlich der durchaus nicht einfachen Aufgabe, diese Einwanderungsgesellschaft zu gestalten - mit all den Problemen, die es nun mal mit sich bringt, wenn verschiedene Kulturen das Miteinander organisieren müssen. Aber es gibt dazu keine Alternative, sage ich. Eine Gesellschaft, die in der Mitte Europas liegt und die sich nicht erst seit heute vorgenommen hat, die Integration Europas voranzutreiben, kann und darf sich weder nach außen noch nach innen abschotten, sondern muß sich offensiv der Herausforderung stellen, das Zusammenleben einer multikulturellen Gesellschaft zu gestalten, und zwar ohne Wenn und Aber, und das werden wir tun; das werden die Folgen aus der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts sein. ({38}) Dieser Herausforderung müssen wir uns auch in bezug auf die Menschen stellen, die als Kriegsflüchtlinge oder Asylsuchende zu uns kommen. Auch dazu haben wir im Koalitionsvertrag einige Vereinbarungen getroffen - etwa eine Altfallregelung oder die Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung. Ich sage aber auch ganz offen für meine Fraktion, daß dies für uns die schwierigste Stelle im Koalitionsvertrag ist. Es ist ja bekannt, daß wir Bündnisgrüne die Vereinbarungen in diesem Punkt nicht für hinreichend halten. Wir meinen: Dieses Land verdient eine tatkräftige Reformregierung, wie wir sie in guten und vertrauensvollen Koalitionsverhandlungen gemeinsam gebildet haben. ({39}) Ich meine aber, unser Land verdient auch eine Rückkehr zu einer humanen Flüchtlingspolitik. Ich hoffe, auch diese Politik können wir gemeinsam durchsetzen. ({40}) Eine der größten Sorgen, die viele Menschen aus der Kohl-Ära mitnehmen, ist die Sorge um die soziale Sicherheit im Alter. Das Vertrauen in das Rentenversicherungssystem ist durch Ihre Politik der letzten Jahre fundamental erschüttert worden - nicht nur bei der jetzigen Rentnergeneration, sondern vor allen Dingen auch bei den jungen Menschen. Fragen Sie einmal bei Menschen meiner Generation oder bei denen, die noch jünger sind, nach. ({41}) Wir brauchen mehr Generationengerechtigkeit. Wir müssen endlich die unsteten Erwerbsverläufe absichern und Vorkehrungen für den demographischen Wandel treffen. Wenn auf immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentenempfänger kommen, dann muß das System darauf vorbereitet sein. Wir werden diesen Wandel berücksichtigen, und zwar nachhaltig und zukunftsfähig. Wir werden innerhalb der nächsten zwei Jahre die überfällige große Rentenreform durchführen; das kann ich Ihnen versichern. Wir freuen uns, daß sich Herr Riester zum Ziel gesetzt hat, es schon in einem Jahr zu schaffen. Ich kann nur sagen: Wir sind dabei. ({42}) Diese Koalition ist durch beide Koalitionspartner geprägt. Es ist klar, daß sich auch die jeweiligen Kräfteverhältnisse in ihr widerspiegeln. Aber diese Koalition wird getragen von der Bereitschaft zum Kompromiß und dem Respekt vor den Positionen des Koalitionspartners. Herr Bundeskanzler, die Bündnisgrünen werden in den kommenden vier Jahren ein selbstbewußter, aber auch ein verläßlicher Bündnispartner sein. Jetzt gilt es, unser Land umfassend zu modernisieren und es zukunftsfähig zu machen - in Solidarität miteinander in dieser Gesellschaft und in Solidarität mit den anderen Völkern der Welt. Wir wollen diese Aufgaben anpacken - entschlossen und lernfähig. Zum Schluß möchte ich noch einen sehr wichtigen Punkt ansprechen. Wir werden diese Ziele nur erreichen, wenn wir die innovativen Kräfte dieser Gesellschaft wirklich dafür gewinnen. Wir brauchen den demokratischen Dialog mit allen sozialen Gruppen und auch die offene Debatte. Ich glaube, daß zum Aufbruch nach dem Ende der Ära Kohl auch und vor allen Dingen eine neue demokratische Offenheit gehört. Herr Schäuble, wir sagen nicht mehr: „Die demonstrieren - wir regieren.“ Wir sagen den Menschen etwas anderes: „Mischt euch ein! Wir brauchen eure Initiative; wir brauchen eure Kritik und suchen die gesellschaftliche Debatte.“ Denn nur dadurch und durch die Auseinandersetzung miteinander wächst der reformorientierte Konsens, der dieses Land zukunftsfähig machen kann. In diesem Sinne freuen wir Kerstin Müller ({43}) uns auf die ersten vier spannenden Jahre der rotgrünen Koalition. Vielen Dank. ({44})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat der Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion, Herr Dr. Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, zunächst gratulieren wir Ihnen zu Ihrer Wahl. Wir wünschen Ihnen im Interesse unseres Landes Erfolg in Ihrer Arbeit. Sie werden uns in Debatten engagiert sehen. Wir werden Ihre Politik kritisch begleiten, ihr, wo immer das möglich ist, zustimmen, sie aber auch ablehnen, wann immer das notwendig ist. Das gehört zum guten parlamentarischen Stil. Es ist völlig vernünftig und klar, daß es an einem fairen Umgang miteinander nicht mangeln wird. Man erfährt ja an einem solchen Tag sehr viel, wenn man genau zuhört. Die Koalitionsvereinbarung wurde, kaum daß die Tinte trocken war, mit Nachbesserungen versehen. ({0}) Sie ist in einzelnen Debattenbeiträgen noch einmal sachlich erläutert worden. Der Gesetzentwurf, der uns über die Ökosteuer im geheimen und im besonderen informieren soll, wurde zunächst noch zurückgehalten und jetzt wieder zurückgenommen. Herr Bundeskanzler, die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland hat nun wirklich nicht den Eindruck, daß hier ein Reformbündnis angetreten ist. ({1}) Selbst im Zeitungswald, der Sie geradezu gefördert hat, macht sich eine gewaltige Enttäuschung breit. Da braucht man nur die Überschriften zu lesen. Eine heißt: „Oskar greift zur Axt“. Das war eine Überschrift der Zeitschrift „Die Woche“. Sie schildert die besonderen Stilmittel Ihres Finanzministers, wenn es darum geht, an die Lösung von Problemen heranzugehen. Die gleiche Wochenzeitung schreibt zur Steuerreform: „völlig verheddert“. Die gesamte deutsche Öffentlichkeit weiß, was hier vor sich gegangen ist: Sie haben eine Wahl gewonnen. Mit dieser Wahl waren bei der Neuen Mitte, die Sie angesprochen und im wahrsten Sinne des Wortes hofiert haben, Hoffnungen verbunden. Sie wollten nicht alles anders machen; sie wollten ein Stück Kontinuität und einiges besser machen. Jetzt macht Oskar Lafontaine alles anders, aber überhaupt nichts besser. ({2}) Sie haben die deutsche Öffentlichkeit - diesen Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen - gewaltig getäuscht. Ich muß der deutschen Öffentlichkeit aber auch sagen: Sie hat sich leicht täuschen lassen. Sie hat die Modernisierungsbereitschaft von Gerhard Schröder überschätzt und die konservative sozialdemokratische Haltung von Oskar Lafontaine unterschätzt. Frau Kollegin Müller, die Grünen haben angekündigt, sie wollten auf Augenhöhe verhandeln. Sie müssen auf Hühneraugenhöhe verhandelt haben. Das stellt man fest, wenn man das Ergebnis der Koalitionsvereinbarungen betrachtet. ({3}) Das ist nicht nur eine Aussage von mir und von den Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. Roland Berger hat sich vor der Wahl oft lobend über Gerhard Schröder geäußert. Er wünschte ihn sich allerdings in der Konstellation einer großen Koalition. Jetzt trage ich Ihnen einmal vor, was dieser Mann heute sagt. ({4}) - Herr Fischer, jetzt wird es zum Nachteil, daß Sie Außenminister geworden sind. Denn auf der Regierungsbank müssen Sie den Mund halten. Von den Abgeordnetensitzen dürfen Sie Zurufe machen. Das hätten Sie sich vorher überlegen sollen. ({5}) Sie sind jetzt Minister. Da müssen Sie Ihr Verhalten ändern. Die Jacke haben Sie ja schon gewechselt. ({6}) Roland Berger sagt: Mit Ausnahme von Tony Blair sind alle sozialdemokratischen oder sozialistischen Regierungen in Europa erst zwei oder drei Jahre ihren Illusionen nachgejagt, bis sie von der Realität eingeholt worden sind. Dann führt er aus, was für diese Politik gilt: Ihre Länder und die Menschen mußten für diesen Lernprozeß allerdings teuer bezahlen, weil verspielte Jahre im globalen Wettbewerb für lange Zeit verloren sind. Das ist der Fehler der eingeleiteten Politik. ({7}) Er fügt hinzu - falls er die Regierungserklärung gehört hat, wird er seine Meinung nicht ändern -: Auch diese deutsche Regierung ist zur Macht gekommen und hat nichts dazugelernt. Sie ist völlig unvorbereitet auf Innovation. So war Ihre Regierungserklärung: völlig unvorbereitet auf Innovation. Das erzählen nicht nur meine Freunde und ich. Das spüren auch viele in Ihren Reihen. Soll Kerstin Müller ({8}) ich sie namentlich vorlesen? Bodo Hombach, Ihr Minister, erklärt im Hinblick auf die Koalitionsvereinbarung: Das ist doch zunächst einmal bedrucktes Papier - Das ist völlig richtig; das habe auch ich so gesehen. Nach genauerem Durchlesen stellt er fest: Viele Themen seien vertagt oder in Arbeitsgruppen verwiesen worden. Da sei noch genügend Platz für Schröders Handschrift, für den „Meister der Moderation“, wie seine Berater jetzt der deutschen Medienlandschaft mitteilen. Ich halte ihn nicht für den Meister der Moderation. Herr Bundeskanzler, wo waren Sie eigentlich bei den Koalitionsverhandlungen? Wo ist Ihre Handschrift? Wo kommt es zu Innovationen? ({9}) Die Politik, die Sie einleiten, kostet Deutschland viel Geld. Sie wirft uns im Wettbewerb dramatisch zurück. Sie gestaltet nicht die sozialen Sicherungssysteme neu und innovativ. Im übrigen ist die Steuerreform, wie auch immer Sie sie verpacken, ein reines Abkassieren der Bürgerinnen und Bürger. ({10}) Und auch dazu lese ich Ihnen jetzt einmal etwas vor. Man muß sich auf der Zunge zergehen lassen, was die FAZ heute über die gegenwärtigen Wasserstandsmeldungen bezüglich der Ökosteuer berichtet. Die Grünen äußerten sich so zu der Ökosteuer: Die schnelle Einigung - das muß die gestrige gewesen sein; ich weiß noch nicht, wie sie aussieht, das werden wir nächste Woche erfahren ({11}) führten die Grünen darauf zurück, daß mit der Stromsteuer . . . eine neue Geldquelle erschlossen wird, an der das Finanzministerium Interesse zeige. Darüber seien Bedenken in den Hintergrund getreten. - Soll ich das noch einmal vorlesen? ({12}) Man hat sich in der Koalition geeinigt, weil durch die Stromsteuer eine neue Geldquelle erschlossen worden ist. Herr Lafontaine, die Aufgabe des Finanzministers ist nicht, neue Geldquellen zu erschließen, sondern zu sparen, den Staat schlank zu machen und den Bürgern das Geld zurückzugeben, anstatt es ihnen aus der Tasche zu ziehen. ({13}) Das alles wird noch gesteigert: Die Grünen hoffen jetzt auf Nachbesserungen im Steuerkonzept. Ich erinnere mich an Äußerungen - man tauscht sich ja doch gelegentlich aus - auch aus den Reihen der Kolleginnen und Kollegen der Grünen zum Spitzensteuersatz. Der Kollege Oswald Metzger war meinen Gedankengängen nicht fremd. ({14}) - Ja, aber wer hat denn für ihn als Chefunterhändler verhandelt? Für Sie ist doch ein Flunderergebnis herausgekommen: die „gewaltige“ Absenkung des Eingangssteuersatzes von 25 Prozent auf 19,9 Prozent in drei Trippelschritten bis zum Jahre 2002. Das hilft uns doch nicht weiter! Bis zum Jahre 2002 ziehen Sie denselben Bürgerinnen und Bürgern, denen Sie diese 5 Prozent Steuersenkung in die linke Tasche geben, die Ökosteuer aus der rechten Tasche. Das ist ein Betrug an der Öffentlichkeit. Und so darf das auch genannt werden. ({15}) Sie als Grüne haben das auch erkannt. Ihr Chefunterhändler - bei den Koalitionsverhandlungen war ja fast jeder Chefunterhändler, außer dem Bundeskanzler -, der Chefunterhändler der Grünen, hat erklärt, man sehe jetzt doch noch Spielraum für einen Spitzensteuersatz bei 45 Prozent oder darunter. Meine Damen und Herren, ich formuliere es einmal so: Die Grünen sollen ruhig sagen, daß sie jetzt endlich einmal regieren wollen. Das ist völlig in Ordnung. Das will jeder; darum gibt es einen Wettbewerb. Die Grünen sollen aber nicht den Versuch machen, zu erklären, daß sie programmatisch irgend einen Anteil an der Politik hätten, die die Koalition jetzt vertritt. Dabei geht es nämlich nicht um eine Ökosteuer und auch nicht um eine Modernisierung, sondern da handelt es sich um schlichtes Abkassieren. Es gibt keine neue Abfallwirtschaft. Die Grünen haben auch keine neue Verkehrspolitik eingeleitet. Der Transrapid läuft jetzt durch die nordrhein-westfälische Landespolitik als eine Art fahrbares Garzweiler III. ({16}) Am Ende wird der Verkehrsminister erklären, er wolle doch die alte Strecke nehmen. - Das alles werden wir hier erleben. Ich lese den Grünen einmal ihre „Verhandlungserfolge“ vor: Garzweiler II wird genehmigt. Ich sage voraus: Auch der Frankfurter Flughafen wird ausgebaut. Dazu gibt es einen interessanten Vorschlag des Grünen Tom Koenigs. Die Grünen haben immer gesagt, der Flughafen dürfe nicht über den Zaun hinaus ausgebaut werden. Jetzt hat Tom Koenigs erklärt, man könne den Zaun doch ein Stückchen verschieben. - Das ist eine sehr findige Regierungsbeteiligung in Hessen! ({17}) Die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ sollen mit den Grünen weiterlaufen. Mir gefällt das; das ist ja auch völlig richtig. Dann aber sollen die Grünen nicht den Versuch machen, hier ihre Programmtreue vorzutragen. Frau Kollegin Müller, Sie waren platt wie eine Flunder. Sie stellen den Außenminister und haben sich dessen Politik und Jogging angeglichen: Fünf Kilometer am Rhein entlang, Spitzkehre, fünf Kilometer zurück - das ist Bewegung, aber kein Fortschritt für Deutschland! Das ist das Verhandlungsergebnis. ({18}) Nein, meine Damen und Herren, Deutschland hat mit dieser Art von Politik, bei der jetzt in Nachbesserungsrunden nachgesessen wird, einen Zeitverlust zu befürchten. Ich lese in der Zeitung, bei SPD und Grünen sollten sich jetzt Reformallianzen bilden. - Meine Herrschaften! Eine Reformallianz muß man haben, wenn man regieren will. Wenn man sie erst hinterher bildet, ist es zu spät. Ich will deshalb noch einmal auf Roland Berger zurückkommen. ({19}) Ihm wurde die Frage gestellt: Wie kann Schröder - so fragte dieses bekannte Magazin - sich noch befreien und die versprochene Modernisierung von Staat und Wirtschaft angehen? Der interviewte Roland Berger ({20}) antwortete darauf aus meiner Sicht verblüffend deutlich. Er sagte: Will er das überhaupt? Er ist Kanzler und hat sein Lebensziel erreicht, fügte er hinzu. ({21}) Herr Bundeskanzler, Sie müssen in diesem Haus mehr vortragen als heute bei Ihrer Regierungserklärung, ({22}) um dem in der Öffentlichkeit entstandenen Eindruck entgegenzuwirken, daß zwar Sie es waren, der zum Kanzler gewählt worden ist, die Führung der Regierungsgeschäfte aber beim Finanzminister liegt. ({23}) - Das ist gar kein kalter Kaffee; es ist in der deutschen Öffentlichkeit umgehend deutlich geworden, wer hier das Sagen hat. Ich finde, wir Parlamentarier haben ein Recht, zu erfahren, wer wirklich das Sagen hat. Wenn Sie modernisieren wollen, finden Sie uns an Ihrer Seite. Wenn Sie den sich abzeichnenden strategischen Kurs fortsetzen, fahren Sie Deutschland in die Sackgasse - finanziell, dadurch, daß Sie Zeit verspielen, und mit einer falschen politischen Konzeption. Der treten wir entgegen. ({24}) Herr Bundeskanzler, es sind ja nicht wir allein, die Ihnen entgegentreten. Es gibt eine Heerschar solcher Personen, auch aus Ihren eigenen Reihen. Ich greife einmal diejenigen heraus, deren Seriosität überhaupt nicht bestritten werden kann. Sie kennen genausogut wie ich - deshalb zieht die Erblastlegende überhaupt nicht die Stellungnahme der führenden wirtschaftswissenschaftlichen Institute. Sie ist ganz eindeutig. Darin sagen die Institute Ihnen, daß die von Ihnen beabsichtigte Steuerreform kaum zu höherem Wachstum und schon gar nicht zu mehr Beschäftigung führt. Diese Stimmen werden ergänzt von Herrn Schmoldt, dem Vorsitzenden der IG Bergbau, Chemie, Energie, der dasselbe erklärt. Die wirtschaftswissenschaftlichen Institute fordern Sie geradezu auf, couragierter heranzugehen. Die öffentlichen Haushalte, so sagen die Institute wenn Sie es Herrn Schäuble und mir nicht glauben, dann zitieren wir die Institute; sie sagen es Ihnen und der deutschen Öffentlichkeit -, leiden nicht unter einer solchen Not, wie die Chefunterhändler der Koalition bekannt geben. Es ist erkennbar, daß Sie zu mehr Steuersenkungen in der Lage wären, wenn Sie das nur wollten. Sie wollen es aber nicht, weil Sie nicht Steuersenkung im Sinn haben, sondern Umverteilung. Bei diesem System zahlen dann die Jüngeren für die Rentner, die Kleinen für die Großen, der Mittelstand für die Großindustrie und die nächste Generation für den Verbrauch, den Sie jetzt bewirken. Das ist das Falsche an Ihrer Politik. ({25}) Wir werden den Gesetzentwurf zur Ökosteuer in der nächsten Woche vorgelegt bekommen. Die Institute sagen Ihnen aber schon jetzt, daß eine deutliche Entlastung der Umwelt bei gleichzeitigem Abbau der Arbeitslosigkeit von einer ökologischen Steuerreform nicht geleistet werden kann. Ob die Erhöhung eine Mark oder zwei Pfennig ausmachen soll, ist völlig egal. Das, was Sie vorhaben, kann nicht geleistet werden. Der Staatssekretär Tacke aus dem Wirtschaftsministerium wird mit den Worten zitiert - der Mann drückt sich vorsichtig aus; völlig zu Recht -, die doppelte Dividende sei geringer, als man dachte. - Recht hat der Mann; das hätte man auch vorher wissen können. Ich will erläutern, was das bedeutet. Die doppelte Dividende ist nicht nur geringer, sehr verehrter Herr Tacke; bei einer doppelten Dividende dieser Art ist klar, daß in dem Maße, wie das eine Ziel erreicht wird, das andere verfehlt werden muß. Wird die Umwelt geschont, dann bekommt Herr Lafontaine keine Einnahmen, mit denen er die Lohnnebenkosten senken kann. Diese Erfahrung kann Ihnen auch jemand mitteilen, der nicht Volkswirtschaft studiert hat. Das sagt uns schon der gesunde Menschenverstand. Trotzdem machen Sie es. Wenn Sie es machen, müssen Sie hier gewaltige Argumente anführen, warum. Sie müssen die deutsche Öffentlichkeit darüber aufklären, warum Sie das tun. Ich sage Ihnen: Sie hängen dem uralten, anscheinend nicht ausrottbaren sozialdemokratischen Glauben an, daß der Staat die bessere Institution zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit ist, so daß er den Bürgern etwas mehr abnehmen soll, um es dann auf anderen Wegen zuteilen zu können. Wir Freien Demokraten repräsentieren den entgegengesetzten Denkansatz: Wir glauben, daß eine Gesellschaft vitaler ist, wenn man den Bürgern mehr Geld beläßt und es ihnen nicht aus der Tasche zieht. Deshalb sind wir gegen Ihre Politik. ({26}) Mit der Ökosteuer wird kein Impuls für die Schaffung von Arbeitsplätzen ausgelöst. Im übrigen bin ich gespannt, ob der Gesetzentwurf Ungereimtheiten beseitigt. Kohle soll bei der Verstromung stärker steuerlich belastet werden. Wer Brikett oder Eierkohle in den Ofen schiebt, gilt als Umweltsünder. Erdgas und Öl, deren Einsatz umweltfreundlicher ist als etwa die Brikettverfeuerung, wollen Sie genauso hoch besteuern. Das müssen Sie einmal vernünftigen Menschen erklären. Das ist nicht erklärbar. Das ist nur dann zu erklären, wenn Sie sagen: Das ist für uns eine Glaubensfrage. Da uns die Kollegin Müller auf Dänemark verwiesen hat, möchte ich Sie auffordern: Erzählen Sie einmal dem staunenden Haus, wie die Umweltentlastung in Dänemark zurückgegangen ist, nachdem dort Ökosteuern eingeführt worden sind! Die Selbstverpflichtung der deutschen Wirtschaft hat zehnmal soviel an Umweltentlastung gebracht wie die Ökosteuererhöhung in Dänemark. ({27}) Deshalb wollen wir bei dem eingeschlagenen Weg bleiben. ({28}) Im übrigen: Herr Bundeskanzler, Sie haben in der Regierungserklärung gesagt, am Ende der Legislaturperiode, also 2002, wollen Sie die Menschen um 15 Milliarden DM entlastet haben. ({29}) Darf ich Sie daran erinnern, wie Sie die Entlastung in Höhe von 7 Milliarden DM, die wir in der letzten Legislaturperiode im Zuge der Soli-Senkung vorgenommen haben, kommentiert haben? - Das sei nur soviel „wie für eine Pizza“. Und jetzt verkaufen Sie die 15 Milliarden DM als eine große Steuerreform! ({30}) Ich halte das für unvertretbar: sich in der letzten Legislaturperiode über die Rückgabe von 7 Milliarden DM so zu erregen und jetzt 15 Milliarden DM als Konzept für vier Jahre deutscher innovativer Politik vorzutragen und das vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die letzte Steuerschätzung für das Jahr 2002 etwa 150 Milliarden DM mehr Steuereinnahmen voraussieht. Angesichts dessen muß ich Ihnen vorwerfen: Ihr Finanzminister hat durch sein strammes Verteilungsdenken das Geld, das die Bürger in Deutschland bis zum Jahre 2002 noch erarbeiten müssen, schon längst verpulvert! Gegen diese Politik werden wir angehen. ({31}) Es geht auch nicht nur um die Frage: Ist das die falsche Grundrichtung? Reichen die Reformanstrengungen - die ich gar nicht erkennen kann - aus? Nein, es geht auch darum, ob Ihre Regierung wirklich willens und in der Lage ist, auf der Höhe der Zeit die Themen so zu bearbeiten, wie es bei nahezu jeder modernen Wettbewerbsgesellschaft auf dieser Welt der Fall ist. Alle anderen modernen Wettbewerbsgesellschaften, mit denen wir stärkste Konkurrenz aushalten müssen, haben eine solche Politik spätestens zwei Jahre nach dem Einstieg korrigieren müssen. Wir werden mit Interesse beobachten, wie es im weiteren Verlauf um die Modernisierungsbereitschaft Ihrer Regierungskommissionen und Arbeitsgruppen bestellt ist. Aber es geht um mehr: Sie mögen bei den sozialen Sicherungssystemen durch nicht geeignete Reformanstrengungen Fehler machen. Sie können falsche wirtschaftspolitische Akzente setzen. - Das können wir immer mit dem Florett ausfechten. Aber der schwere Säbel der Opposition wird erst bei dem verantwortungslosen Gequatsche von Oskar Lafontaine über das Thema Geldwertstabilität, Bundesbank und Europäische Zentralbank gezogen. Meine Damen und Herren, das ist kein beliebiger Spielplatz. Die Einrichtung einer unabhängigen Notenbank mit dem Auftrag, die Geldwertstabilität zu wahren, gehört - dies ist über alle Parteigrenzen hinweg anerkannt - zu den institutionell erfolgreichsten Nachkriegsergebnissen deutscher Politik. Wer hier in Interviews leichtfertig redet, wer in der europäischen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt „Hauptsache, wir haben einmal darüber gesprochen“ -, man könne mittels dauerhafter öffentlicher Auseinandersetzungen die Entscheidungen der Bundesbank konterkarieren und die Europäische Zentralbank schon einmal vorsorglich darauf vorbereiten, welcher Wind im nächsten Jahr weht, der macht all das an Ergebnissen zunichte, was die Bundesregierung von CDU/CSU und F.D.P. im europäischen Kontext in Stabilitätsverhandlungen erreicht hat. Ein grober Fehler! ({32}) Sie mögen das ganze Kapitel noch so sehr abfeiern: Ich habe gelesen, neulich haben Sie erklärt - vor einem besonders kundigen Gewerkschaftspublikum, das an Geldwertstabilität natürlich, wie immer, interessiert ist -, man könne das einmal diskutieren. Herr Bundeskanzler, „Hauptsache, wir haben einmal darüber gesprochen“ reicht als Auskunft nicht. Im Verhältnis zu den erreichten Zielen gehört für deutsche Politik zum Start am 1. Januar des nächsten Jahres mit EZB und Euro, daß sich dieses Land stabilitätskonform verhält und in der alten Kultur der Geldpolitik der Bundesrepublik Deutschland, die Tradition hat, ja Staatsräson ist, verbleibt. Es gibt, wie ich sehe, nur ganz wenige, die sich in der jetzigen Situation an diesem verantwortungslosen Geschwätz beteiligen. Und es genügt nicht der Hinweis, auch der Herr Bundesbankpräsident habe nun zugestanden, man könne ja einmal darüber sprechen. - Nein, darum geht es dem Herrn Lafontaine nicht. Der will durch dauerndes Gerede die alte Stabililtätspolitik so unterminieren, ({33}) daß ihm die Rechenschaftspflichtigkeit der EZB irgendwann wie eine reife Frucht in den Schoß fällt! Das nutzt vielleicht Herrn Lafontaine; das schädigt aber die Bezieher kleiner Einkommen, die Rentner, die auf die Geldwertstabilität angewiesen sind, weil sie keine Sachwertbesitzer sind. Für die werfen wir uns in dieser Diskussion in die Bresche. ({34}) Wo immer Sie einen Zipfel erwischen können, da packen Sie auch zu. Deshalb muß man den Anfängen wehren. Ihren Beutezug ins Wirtschaftsministerium mögen Sie noch soviel mit dem Hinweis auf das britische Treasury garnieren. Dieses hat eine andere Tradition. Selbst wenn ich dieses Argument und den Hinweis auf Herrn Strauss-Kahn akzeptiere: In Deutschland widerspricht dieser Beutezug von Oskar Lafontaine den berühmten „checks and balances“, die in unserer deutschen wirtschaftlichen Tradition immer beachtet wurden. Das ist doch keine Verschlankungsmaßnahme. Darf ich Ihnen einmal vorlesen, Herr Schröder, was Sie als Ministerpräsident am 24. November 1994 zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers Kohl gesagt haben? - Ich zitiere: Es fällt auf, daß in dieser Regierung das Wirtschaftsministerium offenbar als eine Art Steinbruch für andere Häuser benutzt wird. ({35}) Es kann einem schon leid tun, wie mit dem amtierenden Wirtschaftsminister umgegangen wird. - Haben Sie Herrn Müller oder Herrn Stollmann gemeint? Meine Damen und Herren, dieser Beutezug ins Wirtschaftsministerium ist nicht nur das Herausklamüsern von einigen Aufgaben oder ein Stück Zentralisierung wegen der besseren europäischen Verhandlungslinie. Nein, das ist eine Tendenz, die sich in Ihrer Regierung andeutet. Sie gehen mit Unabhängigkeit und Souveränität von Ressortministern nicht gut um. ({36}) Ich füge noch ein Beispiel hinzu, weil es notwendig ist. Sie haben jemanden als Verteidigungsminister auf Ihre Regierungsbank geholt, der gar nicht dahin wollte und der in seiner früheren Funktion einem anderen im Wege war. Das ist der innere Zustand der Mechanismen, mit denen hier Politik gemacht wird. Das spreche ich hier an. Sie sind als Kanzlerkandidat angetreten und haben in der deutschen Öffentlichkeit von einem Modernisierungseffekt gesprochen. Sie haben Ihren Wahlkampf durch Events bestimmt. Sie haben Menschen für sich gewonnen, die daran geglaubt haben, daß Sie als reformerischer Kanzler antreten. - Die alle haben Sie enttäuscht. Ich treffe heute kaum noch jemanden, der sich optimistisch, zuversichtlich dazu bekennen will, Sie gewählt zu haben. ({37}) Sowohl bei dem Steuerthema wie bei vielem anderen: Sie haben Ihren Start innerhalb weniger Tage granatenhaft vergurkt. Sie haben alles in den Orkus geredet, was an guten Hoffnungen da war. Sie haben die Neue Mitte zertrampelt. Sie haben in Ihrem Programm geschrieben: Sie setzen auf die Leistungsbereiten. - Ich wußte, das war ein Tippfehler: Sie setzen sich auf die Leistungsbereiten! Das wollen wir nicht zulassen. ({38}) Meine Damen und Herren, in der letzten Legislaturperiode war für die Grünen vieles an liberaler Außenpolitik falsch. Ich habe mir die Reden von Herrn Fischer immer angehört. Heute reist Herr Fischer - ich begrüße das - in alle Länder der Welt und verkündet - bisher jedenfalls erkennbar - die Kontinuität deutscher Außenpolitik. Der Außenminister ist nicht hier; man mag es ihm übermitteln: Herr Fischer ist auf Grund seiner derzeitigen Amtsführung der beste Beleg dafür, daß liberale Außenpolitik in gemeinsamer Verantwortung von Außenminister Klaus Kinkel und Bundeskanzler Helmut Kohl so schlecht nicht gewesen sein kann, wenn er sich jetzt voll in deren Kontinuität bewegt. ({39}) Ich finde das in Ordnung. Wir werden aber genauestens beobachten müssen, ob das in seiner Fraktion auch so bleibt; denn der Koalitionsvertrag, meine verehrten grünen Kolleginnen und Kollegen, ist das glatte Gegenteil von dem, was Sie beschlossen haben. Ich glaube nicht, daß mich meine Partei weiter an der Spitze getragen hätte, wenn ich unter Vernachlässigung und Mißachtung der eigenen Beschlußlage so schnell versucht hätte, ins Außenministerium zu kommen, wie Joschka Fischer das gemacht hat. ({40}) Aber bei Ihnen ist das an der Tagesordnung. Ich halte das im Interesse Deutschlands nicht für schlecht. Aber erzählen Sie als Grüne bitte niemandem mehr, daß Ihr Programm fünf Minuten nach seinem Druck in der Bundesrepublik Deutschland noch irgend etwas gilt. Die Zeiten des Respekts sind vorbei. ({41}) Der Außenminister hat unsere Unterstützung, wo er in Kontinuität arbeitet. Wir werden aber genau beobachten, ob das auch für seine Fraktion gilt. Herr Kollege Schäuble, über eines sind wir uns, glaube ich, klar: Wenn diese rotgrüne Regierung vor schwierigen Entscheidungen steht, muß sie zunächst einmal ihre eigenen Mehrheiten bringen. Wir sind nicht Ersatzreserve III, 2. Klasse, Abteil 2 a, um Mehrheiten zu beschaffen, die sie selbst in der Koalition nicht haben. Wer dieses Land regieren will, muß auch unangenehme Fragen entscheiden. ({42}) Wir werden diese Bereiche ganz genau beobachten. Frau Präsidentin, ich habe hier keinen Zeithinweis mehr.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Wir haben eine offene Runde, Herr Kollege. Sie haben nach unserer Rechnung noch fünf Minuten. ({0}) Sie müssen sie nicht ausnutzen.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mir hat es gerade so gut gefallen. Deshalb nutze ich sie auch noch voll aus. ({0}) Ich will jetzt noch auf einige Punkte der Regierungserklärung eingehen und die Sachverhalte bewerten. Die Opposition muß hart in der Sache darstellen, wo es nötig ist. Wo es parteiübergreifende Entscheidungen gibt, sollte man das sagen. Im Bereich der Innenpolitik ist für uns durchgängig ein pragmatischer Lösungsansatz zu erkennen. Das hat uns wiederum gefreut. Die Grünen haben mit diesem Ansatz ihre Schwierigkeiten. Wir werden sehen, wie sich das in der praktischen Politik niederschlägt. Es zeigt jedenfalls, daß die entscheidenden Gesetze - beim Asylrecht, bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität - für die wir so beschimpft worden sind, nicht verändert werden. Die sind unter Dach und Fach. Wahrscheinlich freuen Sie sich sogar darüber, daß wir die noch unter Dach und Fach gebracht haben, weil Sie Schwierigkeiten hätten, sie unter Dach und Fach zu bringen. Sie respektieren damit aber, daß unsere Entscheidungen richtig waren. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese nachträgliche Anerkennung. Auch wir wissen, daß es in der Drogenpolitik keinen Königsweg gibt. Wir sind bereit, neu nachzudenken. Aber auch bei neuen Wegen gelten Wertentscheidungen. Eine Freigabe von Drogen kommt für uns nicht in Frage. Aber der Weg, einem Arzt zu ermöglichen, an Schwerstabhängige Drogen auf dem Weg zur Therapie abzugeben, um sie nicht in die Kriminalität rutschen zu lassen und um den Menschen, die schwer krank sind, wirklich zu helfen, ist mit uns ausdrücklich zu gehen. ({1}) Lassen Sie sich auf einen solchen Weg ein! Suchen Sie dafür parlamentarische Mehrheiten, dann gehen wir diesen Weg mit! Ich schließe einen zweiten Punkt an. Das Staatsangehörigkeitsrecht ist für die F.D.P. nicht nur ein Stück Papier. Es geht um die Notwendigkeit, den bei uns schon lange lebenden Ausländern ein faires Angebot der Integration zu machen. Es darf aber keine Beliebigkeit geben. Man muß von ihnen auch den Willen zur Integration erwarten dürfen. Wir werden bereit sein, ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht zu beschließen. Ich sage Ihnen aber auch: nicht jedes. Wenn Sie Wert auf parteiübergreifende Abstimmung legen, dann sollten Sie in der Koalition beraten, ob Sie die jetzige Breite der doppelten Staatsbürgerschaft nicht zurückführen. Denn die doppelte Staatsbürgerschaft als Regel ist nicht unsere Vorstellung. Ich glaube, daß dieser Ansatz keine Akzeptanz in der deutschen Öffentlichkeit finden wird. ({2}) Auch der alte Ansatz, das nicht zu reformieren, war falsch. Man muß sich hier um gesellschaftliche Akzeptanz bemühen. ({3}) Deshalb sage ich Ihnen, Herr Bundeskanzler: Wir wollen, daß beim Staatsangehörigkeitsrecht Mitte und Maß ausschlaggebend sind, die gesellschaftliche Akzeptanz mitbewertet wird. Wenn Sie der Auffassung sind, es wäre für das Parlament und für Deutschland gut, daß ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht eine breitere parlamentarische Zustimmung findet, dann biete ich sie Ihnen ausdrücklich mit dem Hinweis an, daß dann aber auch Ihre Seite, die Mehrheitsseite dieses Hauses, eine Korrektur anbringen muß. Gehen Sie bei dem Modell „doppelte Staatsbürgerschaft nahezu als Regel“ ein Stück zurück, verständigen Sie sich mit uns auf das Angebot an die Kinder, die hier geboren werden, und wir werden nicht zögern, einem solchen Gesetzentwurf zuzustimmen! ({4}) Ich sage dies deshalb, weil Oppositionsarbeit sowohl Kritik als auch variantenreiches Arbeiten beinhalten muß. Herr Bundeskanzler, Sie werden - das ist meine tiefe Überzeugung - die von Ihnen eingeleitete Politik, die in dieser ersten Phase maßgeblich von Finanzminister Lafontaine bestimmt worden ist, in den finanziellen, steuerpolitischen und wirtschaftlichen Grunddaten im Laufe dieser Legislaturperiode korrigieren müssen. Das ist nur eine Frage der Zeit. Sie werden dem Themendruck und Adam Riese nicht entkommen. Wir wollen jetzt einmal sehen, wie lange das dauert. Wir werden Sie dabei kritisch begleiten. Sie werden Ihre Politik verändern müssen. Dann werden wir uns in einer solchen Debatte wieder treffen. Das wird dann eine wichtige Debatte für Deutschland sein. Nur, bedauerlicherweise wird das Land bis dahin Zeit verloren haben. Es wäre besser, Sie kehrten jetzt um. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat der Vorsitzende der PDS-Fraktion, Dr. Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Schäuble, Sie haben den Kanzler dafür kritisiert, daß er sich zu sehr auf dem Wahlergebnis vom 27. September 1998 ausgeruht habe. Ich finde, in den ersten Monaten ist das noch legitim; aber ich denke auch, es wird die Zeit kommen, da man sich an eigenen Taten messen lassen muß. Herr Bundeskanzler, Sie werden es hier allerdings mit sehr unterschiedlichen Formen von Opposition zu tun haben: einmal mit der CDU/CSU-Opposition, dann mit der F.D.P.-Opposition und auch mit der PDSOpposition. Diese haben natürlich unterschiedliche Herangehensweisen. Die CDU/CSU-Opposition will Sie in der Regierung wieder austauschen, das heißt, ihre Politik wird sich daran ausrichten, die SPD durch die CDU/CSU zu ersetzen. Also wird sie die Leistungen der früheren Regierung sehr würdigen und Ihre entsprechend herabwürdigen und versuchen, auf diesem Wege zum Ziel zu kommen. Dennoch sage ich Ihnen, Herr Schäuble: Ich finde das, was Sie hier gemacht haben, sehr problematisch. Dies gilt auch für Herrn Gerhardt von der F.D.P. Wenn man die Ergebnisse der eigenen Politik nur würdigt, hat man überhaupt keine Chance, zu erklären, weshalb man eigentlich am 27. September 1998 abgewählt worden ist. ({0}) Ein ganz kleiner Hang zur Selbstkritik wäre also auch bei diesen beiden Fraktionen angebracht gewesen. Es kommt noch etwas hinzu. Wenn Sie nämlich erklären, daß Sie in der Sache nichts falsch gemacht hätten, daß Sie ein gut bestelltes Haus hinterlassen hätten, dann nähren Sie geradezu das Gerücht, das jetzt auch häufig durch die Zeitungen geht, daß es nämlich alleine an der falschen Person des Kanzlerkandidaten gelegen habe. Und dann sind Sie es, die Ihren Altbundeskanzler Dr. Helmut Kohl die ganze Zeit demontieren, und nicht andere. Ich glaube, daß es nicht alleine an ihm gelegen hat. Deshalb wäre mehr Selbstkritik in Ihren Fraktionen angesagt. ({1}) Herr Schäuble hat insbesondere die Koalition von SPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern kritisiert. Dazu hat sich auch der Kollege Struck geäußert. Lassen Sie mich dazu folgendes sagen. Auch heute haben Sie zwei Dinge nicht benannt: Sie haben nicht hinzugefügt, daß die CDU am 27. September 1998 bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern eine ganz schwere Schlappe erlitten hat. Sie haben auch nicht erklärt, weshalb das so war und daß die SPD mithin vor der Frage stand, ob sie mit dem eindeutigen Verlierer der Wahl und damit gegen den Willen der Menschen in Mecklenburg-Vorpommern eine Koalition mit Ihrer Partei oder ob sie mit einem anderen Gewinner der Wahl, nämlich mit der PDS, eine Koalition eingeht. Im übrigen sage ich Ihnen, Herr Schäuble, ganz deutlich: Ich finde, daß Sie in dieser Frage äußerst unaufrichtig argumentieren. PDS und CDU haben nämlich in dieser Hinsicht eine Gemeinsamkeit. Sie haben erklärt, Sie wollten gerne ehemalige Mitglieder der SED in Ihren Reihen aufnehmen. Ich gehe davon aus, daß es, wenn Sie das wollen, gleichberechtigte CDU-Mitglieder sein sollen. Wenn sie gleichberechtigt sein sollen, dann müssen sie, wenn Sie irgendwo die Regierung bilden, die Chance haben, in eine solche Regierung einzutreten. Das heißt, PDS und CDU wollen in geeigneten Fällen, daß ehemalige SED-Mitglieder in die Regierung eintreten: wir nur über die Mitgliedschaft in der PDS, Sie über die Mitgliedschaft in der CDU, also über sehr viel mehr Opportunismus als wir. Das ist der eigentliche Unterschied, und zu dem stehen wir auch. ({2}) Wenn nun allerdings Herr Struck hier erklärt, das Wahlergebnis der PDS sei nur dadurch zu erklären, daß die Bundesregierung in den neuen Bundesländern so sehr versagt habe, so möchte ich doch ergänzen, Herr Kollege Struck: Die SPD hat in den neuen Bundesländern auch ihren Anteil daran. Das muß man schon der Vollständigkeit halber hinzufügen. ({3}) Sie, Herr Schäuble, haben, wie ich finde, zu Recht von der Regierung und auch von der stärksten Fraktion des Hauses gefordert, mehr Respekt vor anderen Meinungen aufzubringen. Ich darf Sie daran erinnern, wie in den letzten Jahren Ihr Respekt vor anderen Meinungen aussah, insbesondere auch vor anderen Meinungen aus den PDS-Reihen. Wenn das zugleich eine Art Selbstkritik gewesen sein soll, dann ist das zu akzeptieren. ({4}) Bei der F.D.P.-Opposition habe ich sehr genau beobachtet, wie Sie die Rede des Bundeskanzlers verfolgt haben und an welchen Stellen Sie geklatscht haben. Wenn ich das richtig beobachtet habe, befindet sich die F.D.P. auf dem Wege sozusagen von der ehemaligen Regierungspartei hin zu einer Oppositionspartei, die sich später anbieten will, die Grünen irgendwann in dieser Regierung zu ersetzen. ({5}) Das wird noch eine spannende Entwicklung in den nächsten vier Jahren sein. Länger als vier Jahre halten Sie das auf den Oppositionsbänken nicht aus. Das ist einfach zu ungewohnt. Im übrigen halten Sie, Herr Gerhardt, Ihre Partei für viel zu intolerant. Auch wenn Sie alle Programmpunkte in einer Regierungsverhandlung aufgegeben hätten, hätten die Sie nicht abgewählt. Das schlucken die, glauben Sie es mir. Ich sage das nur, weil Sie das bezweifelt haben. Doch, das halten die durch. Das hat zumindest die Vergangenheit bewiesen. ({6}) Im Namen der PDS-Fraktion und der PDSOpposition möchte ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, folgendes sagen: Wir werden Ihre Regierung immer dann unterstützen, wenn sie Verhältnisse demokratischer gestaltet, immer dann, wenn sie Bürgerrechte erweitert, immer dann, wenn es mehr soziale Gerechtigkeit geben soll, immer dann, wenn Friedenspolitik gemacht wird und wenn Außenpolitik als - das sage ich jetzt einmal so - nichtmilitärische Politik verstanden wird, das heißt, die Außenpolitik nicht als Fortsetzung der Militärpolitik mit anderen Mitteln verstanden wird, und immer dann, wenn es um reale Abrüstung in diesem Land und in anderen Ländern geht. Wir werden aber - auch das will ich klar sagen immer dann deutlich Opposition machen, wenn Sie dem neoliberalen Zeitgeist nachgeben, wenn Sie letztlich fortsetzen, was die alte Bundesregierung nach unserer Auffassung an verfehlter Außen- und Innenpolitik betrieben hat. Insofern werden wir tatsächlich eine konstruktive Opposition sein. Ich habe dennoch mit Interesse festgestellt, daß Sie immerzu von der Neuen Mitte gesprochen haben. Das war eine Art Überschrift für Ihre Rede. Darf ich Sie daran erinnern, daß im Berliner Parteiprogramm der SPD als Ziel noch immer der demokratische Sozialismus formuliert ist? Ich stelle mit Interesse die Ersetzung dieses Begriffs durch den der Neuen Mitte fest. Ich empfinde das in gewisser Hinsicht als einen Rückschritt. Das darf ich doch wenigstens noch sagen. Aber es macht nichts, weil wir dadurch alleine die Rolle übernehmen, für den demokratischen Sozialismus streiten zu dürfen. Wir werden das auch tun und uns dieser Aufgabe stellen. ({7}) Aber ich bedaure, daß in Ihrer Regierungserklärung zur Erweiterung der Demokratie kein einziger Vorschlag unterbreitet wird. Sie wissen, daß SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS hier zum Beispiel im Rahmen der Verabschiedung des Maastricht-Vertrages ganz ernsthaft kritisiert haben, daß es keine Volksabstimmung zu dieser Frage gab. Warum traut sich Ihre Regierung nicht, in der Regierungserklärung zu sagen, daß sie endlich den Weg für die Zulässigkeit von Volksentscheiden und von Volksabstimmungen in der Bundesrepublik Deutschland freimachen will? Das wäre ein wichtiger Schritt für mehr Demokratie gewesen. ({8}) Natürlich haben wir zur Kenntnis genommen, daß in Ihrem Koalitionsvertrag eine ganze Reihe von Vorschlägen enthalten sind - auf einige davon sind Sie auch in Ihrer Regierungserklärung eingegangen -, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen sollen. Wir begrüßen die Aussetzung der Senkung des Rentenniveaus, wobei ich hinzufüge, daß wir uns mehr gefreut hätten, wenn Sie statt „Aussetzung“ „endgültige Aufhebung“ gesagt hätten. Dann würde über den Rentnerinnen und Rentnern nicht das Damoklesschwert hängen; vielmehr wäre klar: Eine Absenkung des Rentenniveaus wird es nicht geben. Aber immerhin: Wir werden auch eine Aussetzung unterstützen. Natürlich unterstützen wir, daß Sie die Zuzahlung für Medikamente für Kranke reduzieren und zurückfahren wollen. Wir hätten uns gewünscht, daß wir uns von diesem Instrument ganz und gar verabschiedet hätten. Natürlich unterstützen wir auch, daß Sie das Krankenhausnotopfer aussetzen wollen, obwohl ich mich auch hier mehr freuen würde, wenn Sie gesagt hätten: Es kommt gar nicht mehr in Frage; es wird es nicht mehr geben. Auch hier ist das Wort „aussetzen“ nach unserer Vorstellung etwas unglücklich gewählt. Es ist natürlich besser, als es beizubehalten. Das ist völlig klar. Deshalb werden wir auch bei der Aussetzung zustimmen. Das ist doch logisch. ({9}) Ich sage aber auch: Sie haben vieles, was in der Koalitionsvereinbarung steht, hier nicht erwähnt - das macht doch zumindest nachdenklich -, zum Beispiel die Frage des Kündigungsschutzes, also die Rücknahme der Verschlechterungen beim Kündigungsschutz in bestimmten Bereichen. Morgen sollte ein Gesetzentwurf dazu vorliegen. Der ist noch nicht da. Darf ich fragen, ob auch er nur ausgesetzt ist und ob er noch nächste Woche kommt? Da Sie es nicht erwähnt haben, werden wir sehr genau kontrollieren, ob er kommt. ({10}) Das gilt ebenso für das Schlechtwettergeld. Das gilt in besonderem Maße auch für die von der alten Regierung zu verantwortende Erhöhung des Renteneintrittsalters für Frauen und Schwerbehinderte. Abgesehen von den Vorstellungen, eventuell schon für 60jährige die Rente zu ermöglichen, wäre das aber der erste erforderliche Schritt gewesen, um wieder rückgängig zu machen, daß Frauen und Schwerbehinderte erst später in Rente gehen können. ({11}) Sie haben die 620-DM-Jobs angesprochen. - Sie haben übrigens die 520-DM-Jobs nicht erwähnt; ich muß das einmal sagen; das sind im Osten nur 520 Mark. Ich will Ihnen dazu nur eines sagen, Herr Bundeskanzler: Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie diesen Hunderter an Demütigung endlich beseitigten. ({12}) Wissen Sie: Bei fast nichts an Verdienst zu einer Verkäuferin im Osten zu sagen, sie sei 100 DM weniger wert als eine Verkäuferin im Westen, ist einfach nicht mehr hinnehmbar. Das ist nicht einmal mehr eine materielle Frage, das ist eine kulturelle Frage geworden. Deshalb hoffe ich, daß das so schnell wie möglich korrigiert wird. ({13}) Sie haben gesagt, Sie wollen solche Beschäftigungsverhältnisse versicherungspflichtig machen. Das findet unsere Zustimmung. Über die Grenze von 300 DM will ich jetzt nicht streiten, obwohl man auch dazu einiges sagen kann, weil diese Grenze nämlich dazu verleiten könnte, diese Jobs noch kleiner zu machen; dann würden es noch mehr. Das wäre natürlich der falsche Ansatz. Sie wollen die Steuerpauschale aufheben. Einverstanden, damit könnten wir uns anfreunden - unter der Bedingung, daß dann der Arbeitgeber diesen kleinen SoDr. Gregor Gysi zialversicherungsbeitrag alleine bezahlt und daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht auch bei einer so geringen Entlohnung noch zur Kasse gebeten werden. ({14}) Kritisieren muß ich allerdings eines ganz deutlich: Ich habe in dieser Regierungserklärung gar nichts mehr vom Schlechtwettergeld gehört. Ich hoffe, daß wir das Schlechtwettergeld wieder einführen. Und ich hoffe, Sie gehen noch einen Schritt weiter; denn was auf den Baustellen in Deutschland passiert, ist die Organisierung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wir müssen endlich nicht nur einen Mindestlohn gewährleisten, sondern gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort ganz egal, aus welchem Land die Firma kommt, und ganz egal, aus welchem Land die Beschäftigten kommen. ({15}) Das müssen wir einfach durchsetzen. Alles andere hätte erhebliche negative Folgen. In der Regierungserklärung und in der Koalitionsvereinbarung haben Sie eine Gruppe vergessen. Sie können Sie aber nicht ernsthaft vergessen haben; das heißt, Sie haben für sie nichts geregelt. Ich meine die Arbeitslosen und die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger. Ich sage ganz deutlich: Die sind in den letzten Jahren durch die Gesetzgebung drangsaliert worden. Ich hatte gehofft, daß Sie das zurücknehmen. Davon steht aber kein Wort in der Regierungserklärung. Es ist nicht an eine Besserstellung dieser Menschen gedacht, und das muß diese Regierung unbedingt korrigieren, wenn sie denn sozialdemokratisch und grün sein will. ({16}) Ich füge hinzu, daß mich sehr gewundert hat, was Ihr Bundesfinanzminister in der letzten Zeit zur Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung gesagt hat. Das steht zwar nicht in der Koalitionsvereinbarung, und Sie haben es auch nicht in der Regierungserklärung erwähnt. Aber er ist - da werden Sie mir zustimmen - kein ganz unwichtiger Mann in Ihrer Regierung. Man kann die Pflegeversicherung abschaffen und das steuerfinanziert machen. Das haben wir damals übrigens auch vorgeschlagen. Dann muß man sich aber an dem Bedarf ausrichten. Wenn man sich an der Bedürftigkeit ausrichtet, ist das ein ziemlicher sozialer Skandal. ({17}) Stellen Sie sich doch einmal vor: Ein Arbeitnehmer erleidet einen schweren Unfall und ist danach wirklich pflegebedürftig. Jetzt hat er noch ein paar Ersparnisse, ein Auto und ein paar andere Gegenstände. Bei einer Bedürftigkeitsprüfung heißt das, daß er das erst alles verkaufen muß, bis er bettelarm ist, und erst dann hilft ihm der Staat, denn er hätte ja keinen Versicherungsschutz mehr. Dazu kann ich nur sagen: Das ist wirklich extrem unsozial und ginge zumindest mit der PDS auf gar keinen Fall. ({18}) Herr Lafontaine geht noch einen Schritt weiter und sagt, man könnte eigentlich auch die Arbeitslosenversicherung abschaffen, weil ja nicht alle arbeitslos werden. Er will an dieser Stelle das Solidaritätsprinzip aufheben. Er sagt, diejenigen, die Geld haben, könnten ihre Arbeitslosigkeit selber finanzieren, und erst, wenn sie richtig arm seien und die Bedürftigkeit einsetzte, greife der Staat unterstützend zu. Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn Herr Schäuble oder der Altkanzler Kohl vor einem Jahr den Vorschlag gemacht hätte, die Arbeitslosenversicherung abzuschaffen und nur noch ganz Bedürftigen im Falle von Arbeitslosigkeit zu helfen, dann wäre wirklich die ganze Sozialdemokratie in Deutschland aufgestanden und hätte ihn der restlosen Demontage des Sozialstaates bezichtigt. ({19}) Aber Ihr Herr Lafontaine darf das! Das finde ich wirklich nicht in Ordnung; das würde hinter die Zeiten Bismarcks zurückfallen. Und das wird dieser Bundestag - so hoffe ich - nicht genehmigen. Ich hoffe auf genügend Widerstand aus Ihrer eigenen Fraktion und auch aus der grünen Fraktion. Den längsten Teil Ihrer Rede haben Sie der Arbeitsmarktpolitik gewidmet. Das ist auch richtig. Sie haben immer gesagt, Sie wollen sich daran messen lassen, wie es Ihnen gelingt, Arbeitslosigkeit abzubauen. Sie haben ein Bündnis für Arbeit vorgeschlagen. Das ist in Ordnung - wenn es denn zustande kommt. Die Ergebnisse werden das Entscheidende sein. Ich finde aber, Sie haben die Elemente, die dieses Bündnis ausmachen sollen, in ungenügender Weise genannt, aber das macht nichts. Ich muß jedoch auf eines hinweisen, Herr Bundeskanzler: Ihre Referenz ist diesbezüglich nicht absolut die günstigste. Denn in Niedersachsen haben Sie kein Bündnis für Arbeit zustande gebracht. Das muß man an dieser Stelle ehrlicherweise einmal hervorheben. Ich hoffe, dieses Mal gelingt es Ihnen. Sie haben sehr viel von Bildung gesprochen. Ich muß aber sagen, daß in Niedersachen am meisten Lehrerstellen abgebaut worden sind, daß am meisten Stundenzahlen abgebaut worden sind und daß Sie mit die höchsten Klassenfrequenzen in der Bundesrepublik Deutschland haben. Auch das ist keine Referenz für eine künftige gute Bildungspolitik. Sie haben jetzt an Hochschulen in Niedersachsen 100 DM Semestergebühren eingeführt, was hinsichtlich des Zugangs zu Bildung nicht gerade für Chancengleichheit spricht. Auch das will ich deutlich kritisieren. Sie haben gesagt, daß Sie Ausbildungsplätze für junge Leute schaffen wollen. Sie haben das sehr engagiert vorgetragen. Ich glaube Ihnen, daß das ein wirklich tiefer Wunsch von Ihnen ist. Darin unterstützen wir Sie selbstverständlich. Aber Sie haben zugleich die Umlagefinanzierung abgelehnt und als Zwang denunziert. Die Umlagefinanzierung ist kein Zwang; sie stellt vielmehr Gerechtigkeit her. Die Situation heute ist doch so, daß die großen Konzerne immer weniger ausbilden und der private Bäckermeister schon drei, vier oder fünf Lehrlinge hat und dabei so gut wie überhaupt nicht unterstützt wird. Die Idee der Umlagefinanzierung besagt doch nur, daß ein Unternehmen, das ausbilden könnte, aber nicht ausbildet, nachher aber die am besten ausgebildeten Leute einstellt, an den Kosten der Ausbildung, die andere vornehmen, beteiligt werden soll. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und nicht des Zwangs. Das ist das Entscheidende an der Idee der Umlagefinanzierung. ({20}) Mit Appellen hat es auch der Altbundeskanzler versucht. Es war nicht so, daß sich Herr Dr. Kohl über jeden Jugendlichen gefreut hat, der keine Lehrstelle bekam. Auch er hätte sich mehr gefreut, wenn alle eine bekommen hätten. Aber genau deswegen, weil er in Kapitalverwertungsinteressen nicht eingreifen wollte, wollte er keine Umlagefinanzierung. Ich finde, eine Regierung aus SPD und Grünen müßte den Mut haben, diese Umlagefinanzierung nun endlich in die Realität umzusetzen. ({21}) - Das hat doch mit Sozialismus nichts zu tun. Wenn für Sie Sozialismus darin besteht, daß alle Jugendlichen ausgebildet werden, dann bin ich einverstanden. In diesem Sinne wollen wir Sozialismus. ({22}) Auch hier setzen Sie nur auf Rahmenbedingungen. Wenn wir denn die Arbeitslosigkeit wirklich abbauen wollen, dann brauchen wir einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, weil über 4 Millionen Arbeitslose weder in der Privatwirtschaft noch im öffentlichen Dienst unterkommen werden. Um hier wirklich voranzukommen und millionenfach Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft abbauen zu können, brauchen wir etwas, was die US-Amerikaner Non-profit-Sektor nennen. Lassen Sie mich auch noch etwas zur ökologischen Steuerreform sagen, mit der sich Herr Gerhardt aus seiner Sicht sehr kritisch auseinandergesetzt hat. Ich möchte mich mit diesem Thema aus meiner Sicht kritisch auseinandersetzen. Sie haben gesagt: Diese Steuerreform hat ein Ziel, nämlich die Lohnnebenkosten zu senken. Das sei das Entscheidende. Es gehe nicht um Einnahmen; vielmehr gehe es darum, Lohnnebenkosten zu senken. Herr Bundeskanzler, ich dachte natürlich immer: Eine ökologische Steuerreform hat zunächst einmal ein ökologisches Ziel. Deshalb nennt sie sich ja so. Nun muß ich Sie auf ein Problem hinweisen. Ich hätte mir das so vorgestellt: Wenn man eine ökologische Steuerreform durchführt, dann nimmt man die Einnahmen, um den ökologischen Umbau dadurch zu finanzieren. Auf diesem Weg kommt man dann weiter. Wenn dann wirklich der Energieverbrauch zurückgeht, so daß die Einnahmen aus dieser Steuer geringer werden, dann ist man aber beim ökologischen Umbau, zum Beispiel beim Angebot im öffentlichen Nah- und Fernverkehr - preisgünstig, sicher, bequem etc. -, schon deutlich weiter und kann deshalb verkraften, daß die Einnahmen zurückgehen. Erster Fehler: Wenn Sie aber so vorgehen, daß Sie die Einnahmen durch Ökosteuern mit einer Senkung der Lohnnebenkosten koppeln, dann begeben Sie sich in eine Falle. Sie wollen mit den Einnahmen aus der ökologischen Steuerreform den Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung um, wenn ich das richtig verstehe, 0,8 Prozent senken. Was machen Sie denn nun, wenn Ihre ökologische Steuerreform wirkt, das heißt, wenn die Menschen plötzlich wesentlich weniger Auto fahren und wesentlich weniger Energie verbrauchen? Wenn das geschieht, dann fehlen Ihnen die Einnahmen, um im Jahr danach die Senkung von 0,8 Prozent halten zu können. Das heißt, entweder müssen Sie dann Ihre Steuern erhöhen oder Sie müssen mit den Lohnnebenkosten wieder heraufgehen. Das bedeutet, Sie begeben sich in eine ewige Spirale. Deshalb ist der Zusammenhang zwischen ökologischer Steuerreform und Lohnnebenkosten zweifellos ein falscher. Man hätte die Einnahmen für den ökologischen Umbau verwenden müssen, um dort schrittweise voranzukommen. ({23}) Zweiter Fehler: Wenn es um die soziale Abfederung geht, dann bietet sich nunmehr folgendes Bild: Die Großindustrie wird von dieser Steuer vollständig befreit, das Handwerk muß einen Teil dieser Steuer bezahlen. Aber die Sozialhilfeempfängerinnen und die Sozialhilfeempfänger - die fahren zwar kein Auto, aber auch die müssen heizen, auch die brauchen eine warme Stube; diese Steuer trifft auch sie, denn auch sie brauchen Strom -, die Arbeitslosen und auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, bekommen keine Entlastung. Das ist aus unserer Sicht unsozial. ({24}) Das Handwerk in den neuen Bundesländern verträgt nicht einmal eine Teilsteuer. Die Handwerker werden daran zugrunde gehen. Sie hätten die kleinen und mittelständischen Unternehmen ausnehmen müssen und nicht die Großindustrie. Das wäre der richtige Ansatz gewesen, um eine solche Steuer umzusetzen. ({25}) Lassen Sie mich folgendes noch sagen: Steuern, mittels derer wir das Verhalten der Leute ändern wollen, also erzieherische, pädagogische Steuern, haben ihre Probleme. Wir haben eine Alkoholsteuer und eine Tabaksteuer, und jetzt bekommen wir eine Energiesteuer. Ihre Ziele sind, daß die Leute weniger saufen, weniger rauchen und weniger Energie verbrauchen. Das Problem dabei ist aber, daß der Staat pleite ist, wenn alle so verfahren. Das heißt, damit die Einnahmen stimmen, muß die Regierung heimlich immer hoffen, daß mehr gesoffen, mehr geraucht und mehr Energie verbraucht wird. Auf dieses Problem möchte ich einfach einmal hinweisen. Deshalb wäre es günstiger, man würde hier andere Wege gehen. Wir sagen ja zu einer ökologischen Steuerreform, wenn die Einnahmen für den ökologischen Umbau, aber nicht für Lohnnebenkosten verwendet werden und wenn sie sozial abgefedert ist. Beides stimmt gegenwärtig nicht, und deshalb können wir dem nicht zustimmen. Sie haben nur sehr allgemein über Ostdeutschland gesprochen. Sie haben Ostdeutschland zur Chefsache erklärt. Das ist übrigens nicht neu; das hat Helmut Kohl auch immer schon gemacht. Sie sehen ja, was dabei herausgekommen ist. Daher hätte ich mir etwas Konkretes gewünscht. Aber ich habe nichts von einer Investitionspauschale für Kommunen gehört, die ganz entscheidend wäre, um regionale Wirtschaftskreisläufe auch ökologisch in Gang zu setzen. ({26}) Ich habe nichts davon gehört, Herr Bundeskanzler, daß Sie wenigstens für vier Jahre das Ziel formuliert hätten, gleicher Lohn und gleiches Gehalt für gleiche Arbeit in Ost und West. Darauf warten aber die Menschen in den neuen Bundesländern; ({27}) denn wir haben dort ja auch Preise von 100 Prozent. Angesichts dessen kann man nicht auf Dauer mit 70 bis 80 Prozent der Einnahmen leben. Das gilt für Sozialleistungen ebenso wie für Löhne und Gehälter. Sie haben auch nicht gesagt, ob Sie das „Rentenstrafrecht“ nun endgültig beseitigen wollen, die Lücken in der Rentenüberleitung nun endlich schließen wollen und auch das Versorgungsunrecht bei der Rente überwinden wollen. Ich habe leider auch keinen Satz dazu gehört, ob wir nun endlich damit Schluß machen, daß die Leute um ihr Eigentum an Grundstücken, Datschen etc. Angst haben müssen und immer noch zu Tausenden klagen müssen, damit ihre Berufsabschlüsse anerkannt werden. Das wären Gesten gewesen, auf die in den neuen Bundesländern dringend gewartet wird. ({28}) Die Außenpolitik - dazu kann ich mich auf Grund der fortgeschrittenen Zeit nur noch ganz kurz äußern - soll ja, wie ich gelesen habe, von Ihrem Außenminister in Kontinuität fortgesetzt werden. Hier frage ich mich natürlich schon, warum sich der Spitzenpolitiker der Grünen gerade das Amt aussucht, bei dem er sagen muß, er wolle alles so wie die vorherige Regierung machen. Wie kann man denn so irgendeinen Wechsel dokumentieren - wenn ich das einmal fragen darf? Ein Wechsel wird nicht sichtbar. Ich habe das ja in der letzten Sondersitzung des 13. Bundestages mitbekommen: Auch die SPD, auch die Grünen haben einem völkerrechtswidrigen Militärakt zugestimmt, und das ist nach dem Völkerrecht selbst eine Aggression. Ich hoffe, daß diese Politik sich nicht fortsetzen wird, sondern daß wir die Außenpolitik wieder entmilitarisieren. Bei der Verteidigungspolitik hat Ihr neuer Verteidigungsminister vor Übernahme des Amtes die Bedingung gestellt, daß der Wehretat nicht gekürzt wird. Geht meine Phantasie völlig mit mir durch, wenn ich mir vorstelle, ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister sagte vor Amtsantritt, er mache das nur unter der Bedingung, daß er wirklich abrüsten dürfe, nicht aber unter der Bedingung, daß am Wehretat nichts gekürzt werde? Das wäre zumindest meine naive Vorstellung von der Amtsübernahme in einem solchen Falle gewesen. ({29}) Wir begrüßen natürlich die Vorschläge zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Sie gehen uns nicht weit genug; aber wir werden sie unterstützen. Alle Angriffe, die diesbezüglich von der bisherigen Regierungskoalition gekommen sind, sind untauglich; denn sie hat zu verantworten, daß wir heute in ungeahntem Maße Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft haben. Deshalb ist es das legitime Recht der neuen Regierung, nach anderen Ansätzen zu suchen, um das endlich substantiell zu überwinden und bei der Integration der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger weiterzukommen. ({30}) Aber mir fehlt ein Satz zu den Flüchtlingen. Soll sich denn hier nichts ändern? Wollen Sie wirklich zum Beispiel das demütigende Verfahren auf den Flughäfen beibehalten? Wir haben das hier doch zigmal kritisiert. Hätte so etwas nicht in diese Regierungserklärung hineingehört? Das hätte ich eigentlich erwartet. Es kostete nicht einmal Geld, dieses, wie ich meine, unwürdige und rechtsstaatswidrige Verfahren abzuschaffen. ({31}) Zum Asylbewerberleistungsgesetz will ich erst gar nichts sagen; denn auch da muß man logischerweise sehr vieles ändern. Vier Gruppen sind vernachlässigt worden: die Erwerbslosen, die Flüchtlinge, die kleinen und mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmer und die Ostdeutschen. Um diese vier Gruppen - aber nicht nur um diese - werden wir uns als Opposition kümmern. Sie haben gesagt, Sie wollen eine Republik der Neuen Mitte. Herr Bundeskanzler, eine Gesellschaft, in der es eine Mitte gibt, noch dazu eine neue, von der ich nicht genau weiß, wie sie sich von der alten unterscheidet - aber nehmen wir das einmal an; ich unterstelle es als wahr -, hat gleichwohl ein Oben und ein Unten. Es gibt in keiner Gesellschaft nur eine Mitte. Es gibt immer auch ein Oben und ein Unten. Wer nicht den Mut hat, oben etwas zu verändern, hat auch nicht die Kraft, unten etwas zu verändern. Das wird bei Ihren Vorschlägen zur Einkommensteuer ganz deutlich: Natürlich muß das Existenzminimum erhöht werden, natürlich soll der Eingangssteuersatz gesenkt werden, aber wenn Sie den Spitzensteuersatz senken, dann belohnen Sie die Besserverdienenden zwei- und dreimal; denn auch wir als Besserverdienende profitieren von der Erhöhung des Existenzminimums und von der Senkung des Eingangssteuersatzes genauso wie die Leute, die schlechter verdienen, aber uns noch einmal mit der Senkung des Spitzensteuersatzes zu begünstigen, dafür gibt es eigentlich keinen Grund. Der Hauptmangel ist, daß Sie nicht den Mut haben, wirklich an die Reichen in dieser Gesellschaft heranzugehen. ({32}) Deshalb ist es so schwer, mehr soziale Gerechtigkeit für schlecht Verdienende und für Arme in dieser Gesellschaft zu gestalten. Wo ist der Antrag zur WiedereinDr. Gregor Gysi führung der Vermögensteuer? Diese Frage haben Sie an eine Kommission delegiert, als ob wir nicht genau wüßten, worum es ginge. Wir haben deshalb einen diesbezüglichen Antrag schon in dieser Woche eingebracht, ebenso auch den Antrag zur Einführung einer Luxussteuer, weil wir das für dringend erforderlich halten. Soziale Gerechtigkeit erfordert nämlich Gerechtigkeit bei den Einnahmen ebenso wie bei den Ausgaben. Deshalb sage ich Ihnen: Mitte ist ja ganz schön und gut, aber - wie gesagt - es gibt auch ein Oben und ein Unten. Wir haben zwei Oppositionsfraktionen, die sich für das Oben zuständig fühlen, und eine, die sich für das Unten zuständig fühlt. Insofern könnte man sich ganz gut ergänzen. Machen Sie deshalb nicht nur Politik für die Mitte, denken Sie auch an die anderen in der Gesellschaft, die Ihrer Hilfe vielleicht viel dringender bedürfen. In uns werden Sie einen streitbaren Partner finden, der, wenn es angebracht ist, zur Unterstützung, aber auch zu deutlicher Opposition und Kritik bereit ist. Wir sind zwar die kleinste Oppositionsfraktion, und ich gebe zu, daß ich nach mehreren Kriterien auch der kleinste Oppositionsführer bin, aber halten Sie uns nicht für die schwächste Opposition. Sie werden uns diesbezüglich noch erleben. Danke schön. ({33})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten bisher in bezug auf die Redezeit eine offene Debatte. Wir kehren jetzt zurück zu einer Debatte mit Zeitvorgaben; auch die Redneruhr wird wieder laufen. Ich bitte die Redner, sich ein wenig an diese Vorgaben zu halten. Das Wort hat Herr Michael Glos.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rainer Barzel hat 1969 in der Aussprache zur Regierungserklärung von SPD-

Not found (Kanzler:in)

Herr Bundeskanzler, Sie treten Ihr Amt an bei Vollbeschäftigung, stabilem Geld und wohlgeordneten Finanzen. 1982, nach 13 Jahren SPD-Kanzlerschaft, lag die deutsche Wirtschaft am Boden, die öffentlichen Finanzen waren ruiniert, hohe Arbeitslosigkeit, hohe Inflation, ({0}) hohe Zinsen und ein defizitärer Außenhandel waren eine schwere Hypothek für die neue unionsgeführte Bundesregierung. ({1}) Deswegen mußte Alfred Dregger bei der Aussprache zur Regierungserklärung 1982 zu Recht feststellen: Noch nie hat eine Bundesregierung ihre Aufgabe unter so schwierigen Bedingungen übernommen wie die Regierung Kohl . . . Ich kann heute sagen, Herr Bundeskanzler: Noch nie hat sich eine Bundesregierung in ein so gut gemachtes Bett legen können ({2}) wie die rotgrüne Bundesregierung unter Lafontaine und Trittin und mit Ihnen als Darsteller. ({3}) Der Tatsache, daß weder Lafontaine noch Trittin hier sind, entnehme ich, daß offensichtlich weitere wichtige Koalitionsgespräche geführt werden. CSU, CDU und F.D.P. haben nach Helmut Schmidt in schwieriger Zeit Wirtschaft und Finanzen wieder auf Kurs gebracht. Wir haben die Herausforderungen der deutschen Einheit gemeistert, wir haben die europäische Einigung kraftvoll vorangebracht, und wir haben Deutschland für das nächste Jahrhundert fit gemacht. Heute, Ende 1998, übergeben wir unser Land wohlbestellt: ({4}) Die deutsche Wirtschaft ist im ersten Halbjahr dieses Jahres um 3 Prozent gewachsen. Dies ist das stärkste Wirtschaftswachstum seit dem Vereinigungsboom.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Wieczorek?

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Wieczorek.

Helmut Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002501, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Glos, würden Sie dem Haus mitteilen, wie hoch die Arbeitslosigkeit war, die Sie 1983 geerbt haben, und wie hoch diejenige ist, die Sie heute hinterlassen?

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Wieczorek, ich weiß natürlich, daß wir damals eine niedrigere Arbeitslosigkeit hatten. Es gab damals aber auch keine deutsche Wiedervereinigung. Vor allen Dingen - ich komme noch zu den Zahlen, ich bin dankbar für die Frage - hatten wir einen rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit. Herr Wieczorek, Sie waren in der Zeit von Helmut Schmidt dabei und wissen, daß die Arbeitslosigkeit ständig angestiegen ist. Wir haben jetzt Gott sei Dank den umgekehrten Trend: ({0}) Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, und wir sind auf dem richtigen Weg. Dieser Weg wird anerkannt. Die jüngsten Zahlen beweisen das: Es gibt 400 000 Arbeitslose weniger als im letzten Jahr. Im letzten Regierungsjahr von Helmut Schmidt ist die Zahl der Arbeitslosen um 600 000 angestiegen. Das sind die richtigen Zahlen. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Repnik?

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber bitte.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Repnik.

Hans Peter Repnik (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Glos, können Sie mir bestätigen, daß in der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition die Arbeitslosigkeit von ungefähr 160 000 auf 1,6 Millionen angestiegen ist, sich also verzehnfacht hat, und daß in der Regierungszeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl 3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen wurden? ({0})

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Repnik, ich bin sehr dankbar, daß Sie diese Tatsache in Erinnerung gerufen haben. Wir haben auch auf anderen Gebieten einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Ende der Regierungszeiten von Helmut Schmidt und Helmut Kohl festzustellen: Wir haben heute Preisstabilität. In den Zeiten der Regierungen Brandt und Schmidt hatten wir Inflationsraten zwischen 5 und 7 Prozent. Ich bedanke mich bei Theo Waigel, ({0}) der mit seiner Finanzpolitik die gewaltigen Herausforderungen der deutschen Wiedervereinigung erfolgreich bewältigt hat. ({1}) Zuletzt sind die Bundesausgaben drei Jahre in Folge gesunken. ({2}) Heute sind die Zinsen - Herr Kollege Schlauch, trotz Ihres Geschreis können Sie das nicht leugnen - in Deutschland auf einem historisch niedrigen Niveau. Für eine zehnjährige Hypothek sind nur zirka 5 Prozent zu zahlen. Unter den SPD-geführten Bundesregierungen hatten wir Rekordzinsen. Baugeld hat 1982 11 Prozent gekostet. Herr Kollege Wieczorek, auch daran sollten Sie erinnern. Unsere sozialen Sicherungssysteme sind heute zukunftsfähig und um die soziale Pflegeversicherung ergänzt. Die Politik von CDU/CSU und F.D.P. hat Deutschland zu einem verläßlichen Partner in einer dauerhaften Friedensordnung in Europa gemacht, und das alles gegen den erbitterten Widerstand von Herrn Lafontaine, Herrn Fischer und Herrn Trittin. Ich habe unlängst, Herr Fischer, in einer oft verkauften und damit oft gekauften deutschen Tageszeitung gelesen, daß Sie in Washington eine Art Wettlauf mit den Journalisten gemacht haben und daß Sie denen dank Ihrer Fitneß meilenweit davongelaufen sind. Es kann durchaus sein, daß Sie den Journalisten heute davonlaufen, aber Ihrer Vergangenheit auf diesem Gebiet können Sie nicht davonlaufen. ({3}) Es ist doch legitim, daran zu erinnern, warum wir heute diese Friedensordnung in Europa und warum wir die deutsche Wiedervereinigung haben. Wir haben sie, weil wir allezeit fest zu unseren westlichen Bündnispartnern gestanden sind, weil wir zur NATO gestanden sind, weil wir die Bündnisverpflichtungen erfüllt haben und weil wir letztendlich dieser Verläßlichkeit die Zustimmung unserer Freunde und Partner zur Wiedervereinigung verdanken. Der Frieden ist sicherer geworden. Das Streitkräfteund Waffenpotential in Europa ist gottlob drastisch reduziert. Heute stehen keine sowjetischen Soldaten mehr auf deutschem Boden. Auch deswegen waren 16 Jahre Kanzlerschaft Helmut Kohl ein Geschenk für Deutschland. ({4}) Ich bedanke mich bei ihm für die CSU ehrlichen Herzens. Das ist nicht der scheinheilige Dank, den wir hier aus taktischen Gründen oft hören mußten. ({5}) Ich habe das alles nur deswegen noch einmal in Erinnerung gerufen, weil sich die neue Regierung in spätestens vier Jahren an der Bilanz messen lassen muß, die sie als Anfangsbilanz vorgefunden hat. Deswegen lassen Sie doch das törichte Gerede - Wolfgang Schäuble hat es schon einmal gesagt - von vermeintlichen Milliardenlöchern! Damit gestehen Sie nur ein, daß Rotgrün jetzt nicht bezahlen kann, was man den Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkampf versprochen hat. Die Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen in ihrem Herbstgutachten mit Mehreinnahmen gegenüber der Steuerschätzung vom Frühjahr, mit einer günstigeren Entwicklung am Arbeitsmarkt und vor allen Dingen mit deutlichen Fortschritten bei der Reduzierung der öffentlichen Defizitquote. Die in der letzten Woche veröffentlichten Arbeitslosenzahlen - wir hatten dank Herrn Wieczorek vorhin schon einmal eine Diskussion darüber - bestätigen dies in eindrucksvoller Weise. Es ist die einmalige historische Leistung von Theo Waigel, daß das finanzpolitische Schiff in den 90er JahMichael Glos ren unseres Jahrhunderts trotz weltweiter Umbrüche stets Kurs gehalten hat. Theo Waigel hat dafür gesorgt, daß Deutschland und Europa von den Turbulenzen an den internationalen Finanzmärkten und den wirtschaftlichen Krisen in Rußland und in Asien weitgehend verschont geblieben sind. Heute zahlt sich aus, daß wir mit unseren Reformen die Rahmenbedingungen für Arbeit in Deutschland verbessert haben, daß wir unnachgiebig für eine stabile europäische Währung gekämpft haben, daß die Europäische Zentralbank unabhängig und vorrangig auf das Ziel der Preisniveaustabilität verpflichtet ist. Herr Bundeskanzler, heute müssen Sie zugeben, wie sehr Sie als Kanzlerkandidat mit Ihrem opportunistischem Geunke vom Euro als sogenannter kränkelnder Frühgeburt danebengelegen haben. ({6}) Ich hoffe für unser Land, Herr Bundeskanzler, daß Sie künftig weniger Populismus und dafür mehr Sachverstand an den Tag legen werden, wenn es um diese wichtigen Fragen geht. ({7}) Ich bin auch der Meinung, Herr Bundeskanzler, daß Ihre Regierung insbesondere auf dem währungspolitischen Gebiet noch sehr großen Lernbedarf hat, wie das jüngste Trommelfeuer des Lafontaineschen Küchenkabinetts gegen die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank zeigt. Oskar Lafontaine übt öffentlich Druck auf die Deutsche Bundesbank aus, die Zinsen zu senken. Staatssekretär Noé will die Zentralbank einer Kontrolle durch die Politik unterwerfen, wie er sich ausgedrückt hat. ({8}) Die rotgrüne Bundesregierung hat damit den verheerenden Eindruck erweckt, sie wolle die Deutsche Bundesbank bzw. die Europäische Zentralbank zum Spielball politischer Interessen machen. Damit hat sie nach nur wenigen Tagen im Amt leichtfertig währungspolitisches Porzellan zerschlagen und Vertrauen verspielt. Ich zitiere den Fraktionsvorsitzenden der zweitgrößten niederländischen Regierungspartei, Herrn Dijkstal. Er sieht in Lafontaines Kurs eine Gefahr für die Stabilität des Euro. ({9}) Ich möchte noch einmal sagen: Die Verhältnisse scheinen sich umgedreht zu haben. Früher hat man in Europa die stringente Stabilitätspolitik der Deutschen als großes Vorbild gesehen. Heute muß man Europa und den Euro offensichtlich vor den Deutschen schützen. So schnell kann sich manches verändern. Die Zinsen in Deutschland sind auch ohne den öffentlichen Druck der Bundesregierung - oder gerade weil es keinen öffentlichen Druck der Bundesregierung gegeben hat, weil es keine Bevormundung gegeben hat auf einem historischen Tief. Zu Recht hat deshalb der Zentralbankrat in der letzten Woche Herrn Lafontaine ohne Zinssenkung wieder nach Hause geschickt. Die letzten Wochen haben überdeutlich gemacht, wer in der neuen Bundesregierung der Koch und wer der Kellner ist. Kellner ist Herr Schröder, Koch ist Herr Lafontaine, und Küchenchefin ist offensichtlich Christel Müller. ({10}) - Das mag vielleicht sein, wenn es sich um Mittagessen, Dessert, Frühstück und was weiß ich alles handelt. Aber wenn es um die Währungspolitik unseres Landes geht, muß man schon vorsichtiger sein. Frau Kollegin, ich bedanke mich hiermit für den Zwischenruf. ({11}) Wirtschaftsforschungsinstitute, Wirtschaftsverbände, der Mittelstand und sogar Vertreter aus dem Gewerkschaftslager werten die Koalitionsvereinbarungen von SPD und Grünen, soweit sie bekannt sind, als eine Katastrophe für den deutschen Arbeitsmarkt. Auch Herr Jost Stollmann, den ich heute vermisse, hat sich in gleicher Weise geäußert. Als ich das letzte Mal im Bundestag reden konnte - das war vor 4 Wochen im Wasserwerk -, saß er zumindest noch auf der Zuschauertribüne. Heute ist er nicht einmal mehr als Zuschauer gekommen. Auch er spürt natürlich, daß die Neue Mitte ganz schön betrogen worden ist und daß er dabei unfreiwillig geholfen hat. Ich zitiere das „Handelsblatt“ vom 13. Oktober: Was Rot-Grün verabredet hat . . . das atmet den alten Geist der Steuerklempner: kleinere Veränderungen bei den Steuersätzen, einige Korrekturen bei den Steuervergünstigungen; Entlastungen mal hier, Belastungen mal dort. Allein schon die Streckung des Vorhabens über vier Jahre nimmt der Reform jede Dynamik. Aber was am schlimmsten ist, Herr Bundeskanzler: Noch im Wahlkampf haben Sie die Neue Mitte heftig umworben. Diese Neue Mitte, die wir auch für Investitionen in unserem Land brauchen, wird jetzt abkassiert und fühlt sich getäuscht. Die Gegenfinanzierung dieser Flickschusterei konzentriert sich überwiegend auf den Unternehmensbereich. Hieran werden möglicherweise auch die Nachbesserungen, die wir noch nicht kennen, nichts ändern. Ich befürchte: Investitionen unterbleiben, Standorte der Unternehmen werden ins Ausland verlagert. Ich nenne ein paar Beispiele: Opel hat bereits angedroht, auf geplante Investitionen in Deutschland zu verzichten. Die New Yorker Investment-Bank Goldman Sachs warnt eindringlich vor Anlagen in Deutschland. Die „Wirtschaftswoche“ berichtet von konkreten Fluchtgedanken der mittelständischen Wirtschaft. Nun ein Wort zur geplanten Ökosteuer. Bereits heute liegen die Energiekosten der deutschen Wirtschaft um 30 Prozent höher als in den USA. Trotzdem wollen Sie Bürger und Unternehmen unter dem Deckmantel der Ökologie mit einer dreistufigen Steuererhöhung bei Benzin, Heizöl, Erdgas und Strom belasten. Ich zitiere den Chef der IG Chemie, der unverdächtig ist, ein Mitglied der CSU zu sein. Herr Schmoldt sagt über die neue Bundesregierung, „sie würde durch zusätzliche Steuern und Steuererhöhungen die Qualität des Standortes Deutschland nicht verbessern, sondern Arbeitsplätze gefährden . . . und Kaufkraft mindern.“ Deutlich negative Folgen für Arbeitsplätze hat auch der von Rotgrün forcierte Ausstieg aus der Kernenergie. ({12}) Weil er die Fakten kennt, bitte ich den neuen Wirtschaftsminister Müller, der gegenwärtig im Plenum durch seinen Staatssekretär vertreten wird, die Tatsache zu bedenken, daß wir heute in Europa 216 Kernkraftwerke haben. Ausgerechnet die 19 sichersten sollen abgeschaltet werden. Der Strom, der in Deutschland verbraucht wird, käme nach wie vor aus Kernkraftwerken nur nicht mehr aus sicheren Kernkraftwerken. Er käme aus der Tschechischen Republik, der Ukraine, der Slowakei oder Rußland. All diese Länder stehen für Stromlieferungen nach Deutschland bereit. ({13}) Was besonders schlimm ist: Deutschland würde auch seinen weltweiten Spitzenplatz in der Sicherheitstechnologie aufgeben. Damit würden allein in der Kernkraftindustrie 40 000 Arbeitsplätze in Deutschland verlorengehen. Sehr qualifizierte und gutbezahlte Arbeitnehmer würden davon betroffen sein. Es ist illusorisch zu glauben, daß sich ein Drittel der Stromerzeugung in Deutschland allein durch Energiesparen oder durch regenerative Energien ersetzen ließe. Wenn wir als Ersatz zusätzliche Kohlekraftwerke bauen, auch moderne Kohlekraftwerke mit hohem Wirkungsgrad, dann bedeutet dies trotzdem eine erhebliche Erhöhung der CO2-Belastung. Das halte ich umweltpolitisch für fatal. ({14}) Herr Bundeskanzler, wo bleibt hier eigentlich Ihr Vorbehalt für Arbeitsplätze? Ich habe in Ihrer Regierungserklärung nachgelesen - Sie haben das auch schon einmal anderweitig gesagt; ich zitiere Sie -: Ich weiß, daß es schwer ist, eine Technologie durchzusetzen, die wenig Akzeptanz findet bzw. deren Akzeptanz so gefährdet ist wie die der Kernkraftindustrie. Aber man muß sich natürlich fragen: Warum ist diese Akzeptanz so gefährdet, und wer hat letztlich dazu beigetragen, die Menschen auf diesem Gebiet zu verunsichern? Hier muß man ein Stück weit Ursache und Wirkung mitbedenken. Ich habe den Eindruck: Wer marktwirtschaftlich denkt, dem bietet die Regierung Schröder wenig Platz. Das zeigen die massenhaften Frühpensionierungen, die jetzt in den Ministerien anstehen. ({15}) Gesichert sind dagegen Arbeitsplätze für Ideologen. Wenn das die versprochene soziale Gerechtigkeit in Deutschland ist, dann ist es hierum schlecht bestellt. ({16}) - Herr Kollege Stiegler, Sie brauchen keine Angst zu haben, daß ich zu weinen anfange, obwohl mir an diesem Tag natürlich nicht sehr wohl zumute ist. Ich will das gerne zugestehen. Vorhin hat Herr Struck gesagt, wir hätten unsere Niederlage nicht verkraftet. Angesichts der Reden aber, die ich heute gehört habe - das betrifft auch die Rede von Herrn Struck -, kann ich nur sagen: Die SPD hat ihren Sieg nicht verkraftet. ({17}) Was sagen Sie eigentlich zum Beispiel den Polizeibeamten oder den Studenten, ({18}) die von Ihrer Ökosteuererhöhung betroffen sind, von geringeren Sozialabgaben aber überhaupt nichts haben? Was sagen Sie den Rentnern, denen Sie mehr Rente versprochen haben, die Sie jetzt aber mit höheren Stromund Heizungskosten zur Kasse bitten? Was sagen Sie vor allen Dingen den vielen Pendlern im ländlichen Raum, die tagtäglich auf das Auto angewiesen sind? ({19}) Was sagen Sie den Müttern auf dem Land, die in die Stadt zum Einkaufen, zum Kindergarten oder zum Arzt fahren? ({20}) - Da Sie einen Oberpfälzer Wahlkreis vertreten, sollten Sie ganz besonders gut zuhören. Sie sind ja angeblich der Interessenvertreter Bayerns mit einem Wächteramt innerhalb der Koalition. Ich kann dazu nur sagen: Gute Nacht, Bayern! Bayern hat in der Bundesregierung von CDU/CSU und F.D.P. vier Minister und fünf Parlamentarische Staatssekretäre gestellt. Wir haben wichtigste Funktionen wahrgenommen. Sie setzen sich hier als sogenannter Landesgruppenvertreter der SPD aus Bayern hin und krakeelen dazwischen, um von Ihrer Niederlage, die Sie im Rahmen der Regierungsbildung in bezug auf Bayern erlitten haben, abzulenken. ({21}) Herr Bundeskanzler, was sagen Sie den kinderreichen Familien? Diese haben Sie - wie bei Hänsel und Gretel - massiv mit dem Zuckerbrot Kindergeld gelockt, und jetzt - gefangen - kommt die Ökopeitsche. Der Familienbund hat vorgerechnet: Bereits bei einem Dreipersonenhaushalt mit einem Nettoeinkommen von 70 000 DM im Jahr sind die Belastungen höher als die Entlastungen. Was sagen Sie der bäuerlichen Landwirtschaft? Das ist ein Kapitel, das ganz besonders auch den süddeutschen Raum und Bayern angeht. Haben die Familien auf den Höfen bei Rotgrün noch eine Zukunft? ({22}) Sie haben einen raschen Abschluß der Agenda 2000 angekündigt. Damit wird der Eindruck erweckt, die rotgrün geführte Bundesregierung unterstütze die Vorschläge der EU-Kommission. Ich würde das für fatal halten. Ich kann dem neuen Landwirtschaftsminister Funk unsere Unterstützung versprechen, falls er gegen diese ungerechten Vorschläge ankämpft. ({23}) - Vielen Dank. Ich werde mich daran gewöhnen müssen. Wenn er hiergewesen wäre, wäre es mir vielleicht eingefallen. Herr Bundeskanzler, was haben Sie mit den Sparern, den Häuslebauern und den Inhabern von Lebensversicherungen vor? Die Politik Ihres Finanzministers und seiner Frau läuft offen auf mehr Inflation hinaus. Ein Prozent mehr Inflation - dabei wird es nicht bleiben bedeutet einen Vermögensverlust der Sparer und derjenigen, die Lebensversicherungen haben, in Höhe von 50 Milliarden DM im Jahr. Diese Politik gegen die Sparer ist unsozial. Sie geht zu Lasten der Schwächeren, und sie benachteiligt die kleinen Leute. ({24}) Wir wollen keine südamerikanischen Verhältnisse in Deutschland und Europa. Die Inflationswellen dort haben immer nur den Besitzern von großen Sachwerten und Grundstücksbesitzern geholfen und Arbeitnehmer und Mittelstand verelenden lassen. Auch bezüglich des Themas Föderalismus ist in der rotgrünen Koalitionsvereinbarung von Gerechtigkeit keine Spur. Das Koordinatensystem zwischen Bund und Ländern soll mehr in Richtung Zentralismus und weniger in Richtung Föderalismus, in Richtung mehr Staat und weniger Wettbewerb ausgerichtet werden. ({25}) - Stellen Sie Ihre Frage bitte laut! Dann kann ich sie beantworten. ({26}) - Wir kämpfen nicht das letzte Gefecht. Wir stehen am Anfang eines Kampfes, an dessen Ende die Leute erkennen werden, daß Ihr Weg falsch ist. ({27}) Wir wollen größere, nicht kleinere Gestaltungsspielräume für die Bundesländer. Die Früchte größerer Anstrengungen einer Landesregierung müssen den Menschen in dem jeweiligen Bundesland zugute kommen. Dadurch wird der Druck auf Nachahmung erzeugt. ({28}) Welche gewaltige Erblast der Herr Ministerpräsident Lafontaine dem Herrn Finanzminister Lafontaine hinterläßt, weiß er selbst am besten. ({29}) Leider muß er als Finanzminister nicht persönlich die Zeche zahlen. Das werden die deutschen Steuerzahler tun müssen. Wir fordern, daß es in diesem Bereich schneller geht. Sie wollen eine Enquete-Kommission zur Neuordnung des Finanzausgleiches einsetzen. Daß dies im Ergebnis, wie angekündigt, auf das Jahr 2005 verschoben wird, zeigt deutlich: Sie rechnen damit, daß dann die Union schon lange wieder regiert und dieses Problem löst. ({30}) Statt die Länderverantwortung zu stärken, will die Regierung Schröder offensichtlich entgegengesetzte Wege gehen. Ein konkretes Beispiel: Wo bisher vorbildliche Krankenhäuser stehen, sollen die Beitragszahler vernachlässigte Krankenhäuser in den SPD-Ländern mitfinanzieren. Das fördert nicht Effizienz und Sparsamkeit, sondern bestraft Länder mit eigenen Anstrengungen. Wir brauchen nicht mehr Gleichmacherei. Wir brauchen mehr Wettbewerb. Ich sage es noch einmal: Wettbewerb schafft Höchstleistungen. Das gilt auch für den Wettbewerb zwischen Bundesländern. ({31}) Lassen Sie mich noch ein anderes Kapitel ansprechen. Vorhin hat sich die Kollegin Müller damit gebrüstet, daß die Grünen in den Koalitionsverhandlungen eine Privilegierung des Zusammenlebens vertreten haben, die der Privilegierung der Familie gleichkommt. Wer das will, stellt die Wertentscheidung des Grundgesetzes für den Vorrang der Familie offen in Frage. ({32}) Die vorgesehene drastische Einschränkung des Ehegattensplittings ist nicht nur eine Frage des Geldes. Hier geht es letztendlich an die Wurzeln von Ehe und Familie. Die Einführung eines Rechtsinstituts der eingetragenen Partnerschaft mit Rechten und Pflichten läuft auf eine offene Entwertung der Familie hinaus. Die rotgrüne Gesellschaftspolitik ist deswegen eine Politik gegen die Familie, gegen Kinder. Deswegen wird die CSU eine solche Politik kategorisch ablehnen. ({33}) Die deutsche Staatsbürgerschaft, Herr Fischer, ist bislang ein Zeichen der Identifikation mit unserem Staat und damit auch mit unserer Werteordnung. Davon will man sich offensichtlich verabschieden. Staatsangehörigkeit soll künftig nur noch eine Frage von Wartezeit oder Geburtsort sein. Das führt nicht zu einer besseren Integration. Ich befürchte, daß wird eher zu einer Spaltung unserer Gesellschaft führen. Wir sind der Meinung: Staatsangehörigkeit darf man nicht verschenken. Staatsangehörigkeit muß man sich auch ein Stück weit innerlich erwerben. Es ist nicht damit getan, jedem Ausländer einen deutschen Paß in die Tasche zu schieben. Wer Deutscher werden will, muß sich zuvor integrieren. ({34}) Das bedeutet die Beherrschung der deutschen Sprache sowie den Willen, sich in die Gemeinschaft unseres deutschen Volkes einzufügen und auch ein Stück weit unsere Lebensformen zu übernehmen. Die Staatsbürgerschaft kann immer erst am Ende eines erfolgreichen Integrationsprozesses stehen und nicht an dessen Anfang. ({35}) Wir wollen, daß Deutschland ein ausländerfreundliches Land bleibt. Das erreicht man nicht durch die generelle Gewährung eines Privilegs wie der doppelten Staatsbürgerschaft. Damit droht man das tolerante Zusammenleben in Gefahr zu bringen. Es entsteht eine gefährliche Sogwirkung auch für verstärkte Zuwanderungen aus anderen Kulturkreisen, und damit sind neue Probleme nicht nur für den Arbeitsmarkt verbunden. Geteilte Loyalitäten - das ist ja die Crux bei der doppelten Staatsbürgerschaft - führen nicht zu besserer Integration. Deshalb warnen wir vor diesem Weg, und deswegen werden wir alles tun, um diesen falschen Weg zu verhindern - genau wie wir dagegen ankämpfen, daß man in Deutschland lebenden nichtdeutschen Staatsangehörigen uneingeschränkt das kommunale Wahlrecht verleihen will. Staatsangehörigkeit und Wahlrecht müssen nach unserer Auffassung eine Einheit bleiben - genauso wie Rechte und Pflichten auch künftig zusammengehören. ({36}) Über die Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung ist heute schon gesprochen worden. Wir sind der Meinung, daß wir hier bei den bewährten Wegen bleiben sollten. Es darf nicht zu einer sogenannten bürokratiearmen Bestrafung von Alltagskriminalität kommen, wie das Ganze verharmlosend genannt wird. Wer Ladendiebstahl mit Falschparken gleichsetzt, der macht Kriminalität kalkulierbar, und dagegen kämpfen wir an. ({37}) Wir kämpfen auch gegen die in der Koalitionsvereinbarung enthaltene Absicht, die Abgabe von Heroin an Süchtige in Zukunft zu ermöglichen. Man will damit Rechtssicherheit für Drogenhilfestellen erreichen. Eine solche Politik verharmlost mehr und löst keine Probleme. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die „Süddeutsche Zeitung“ belegt das rotgrüne Regierungsprogramm mit dem Ausdruck „Ausflug nach Utopia“. Diese Regierung will gesellschaftliche Veränderungen in Deutschland - von der Drogenpolitik bis zur Familienpolitik, von der Sicherheitspolitik bis zur Steuerpolitik, von der Ausländerpolitik bis zu einer Schwächung des Föderalismus. Das, was Sie angekündigt haben, ist keine neue Politik. Das ist höchstens der Marsch in eine andere Republik. Diesem Marsch werden CDU und CSU ihren entschiedenen Widerstand entgegensetzen. Vielen Dank. ({38})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat der Bundesaußenminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, mit einer allgemeinpolitischen Bemerkung zu beginnen. Mich erinnert vieles, was ich von Ihrer Seite gehört habe, namentlich dieser hervorragende Beitrag vom Kollegen Glos, ({0}) aber auch das, was ich heute vom Kollegen Schäuble gehört habe, sehr stark an das Jahr 1983. Da kann ich Ihnen nur sagen: Das wird lange dauern, wenn Sie Oppositionspolitik so weitermachen, wenn Sie meinen, der Wahlkampf sei noch nicht zu Ende. ({1}) Wenn Sie das meinen, erwidere ich: Das können Sie ruhig machen. Uns soll es recht sein. Ich kann Ihnen nur sagen: Das wird lange dauern. Der Wahlkampf ist zu Ende, und Sie müssen sich Klarheit darüber verschaffen, warum Sie nach nur 14 Tagen, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder gewählt wurde und in denen diese Regierung im Amt ist, meinen, diese Welt müßte schon verändert sein, was Sie aber gleichzeitig beklagen. Sie sollten vor allen Dingen eines nicht tun: die Augen vor den Ursachen des großen Vertrauensverlustes, den Sie erlitten haben und der die Ursache Ihrer Niederlage ist, verschließen. ({2}) Ich kann nur sagen: Machen Sie weiter so! Ich möchte zur deutschen Außenpolitik, zur Außenpolitik der Bundesregierung sprechen. Dabei ist es ganz besonders wichtig, festzustellen, daß angesichts der Daten, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben - gestern haben wir den Jahrestag der Reichspogromnacht begangen; es ist zugleich auch der Jahrestag des Falls der Mauer; das Ende des ersten Weltkriegs jährt sich jetzt zum 80. Mal; mit diesem Datum verbinden sich das Furchtbare, das Schreckliche, auch das Schöne, das Großartige in unserer Geschichte -, weiterhin gilt: Auch wenn es jetzt durch den Ablauf Zeit und den Regierungswechsel einen Wechsel hin zu einer jüngeren Generation gegeben hat, die nicht mehr unmittelbar mit der Nazi-Barbarei und dem zweiten Weltkrieg zu tun hatte, wird unser Land, Deutschland, auch in Zukunft immer mit anderen Augen gesehen als andere Länder. Das liegt an unserer Geschichte. Es liegt an der Lage, an der Geschichte, an dem Potential unseres Landes, weshalb es so wichtig ist, daß man zu Beginn - und dann auch in der praktischen Politik - einer neuen Regierung die Kontinuität der Grundlagen und die Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik betont. ({3}) Ich möchte dies ganz besonders tun, weil uns die Macht der kollektiven Erinnerung in Europa in dem Moment, in dem wir das Flackern eines Zweifels aufkommen ließen, sofort einholen würde. Wir konnten im Zusammenhang mit dem Raubgold gemeinsam erleben, wie diese Erinnerungen auch in Ländern zurückgekommen sind, in denen man geglaubt hatte, daß dies nicht möglich sei. Kontinuität in den Grundlagen schließt ja nicht aus, daß die konkreten Akzentuierungen anders als bisher sind. Die Berechenbarkeit der Grundlagen deutscher Außenpolitik aber ist ein sehr, sehr hohes Gut, das wir von der Bonner Republik in die Berliner Republik nicht nur mitnehmen sollten, sondern mitnehmen müssen. Es ist insofern sehr wichtig, nochmals daran zu erinnern, daß wir an einer Politik der Selbstbeschränkung festhalten müssen. Europa ist für uns die entscheidende Frage. Auf diesem Feld geht es nicht darum, was wir anders machen; hier wird es darum gehen, weitere Bauabschnitte dieses Hauses Europa zu vollenden. Ich behaupte, das ist die wichtigste Herausforderung, der wir uns im Widerstreit der Parteien gemeinsam zu stellen haben. Dabei hat es, Kollege Glos, überhaupt nichts mit einem „vergifteten Lob“ zu tun, wenn wir, bei allen parteipolitischen Unterschieden, bei aller Kritik, die es geben mußte, sagen damit vergeben wir uns überhaupt nichts -: Dort, wo Helmut Kohl in der Europapolitik aufgehört hat, beim europäischen Integrationsprozeß, wird die neue Bundesregierung weitermachen müssen. Sie wird die Aufgaben lösen müssen, die offengeblieben sind. ({4}) - Es sind große Schuhe; deswegen passen sie Ihnen garantiert nicht, Herr Haussmann. ({5}) Dort, wo die alte Regierung in wesentlichen Punkten des Integrationswerkes nicht zu Ende gekommen ist, werden wir, weil es in zentralem Interesse unseres Landes liegt, bei allen Unterschieden in den Akzenten, bei aller Kritik fortfahren müssen. Ich vergebe mir überhaupt nichts, wenn ich Ihnen, Herr Altbundeskanzler, und Ihnen, als ehemaliger Bundesaußenminister, Herr Kinkel, für das Geleistete im Interesse unseres Landes danke. Mit einem vergifteten Lob hat das überhaupt nichts zu tun. ({6}) Vertrauenskapital zu erwerben ist die Voraussetzung dafür, daß wir die notwendigen Spielräume für die Neugestaltung bekommen. Für uns ist Selbstbeschränkung geboten; Europa, das transatlantische Bündnis, die feste Integration in den Westen und das auf Grund unserer Geschichte besondere Verhältnis zu Israel sind die Felder, in denen wir Kontinuität beweisen wollen. ({7}) Die praktischen Probleme, vor denen wir heute stehen, ergeben sich aus dem europäischen Einigungsprozeß. In der Vergangenheit, als die Rollen noch anders verteilt waren, gab es in der Frage der Europapolitik ein hohes Maß an Übereinstimmung. Ich würde mich freuen, wenn es dieses hohe Maß an Übereinstimmung auch in Zukunft, in neuer Konstellation, geben könnte. Wir waren uns einig, daß Vertiefung und Erweiterung gleichermaßen wichtig sind. Vertiefung bedeutete die Entscheidung für die Wirtschafts- und Währungsunion, für den Euro, der zum 1. Januar des nächsten Jahres praktisch wird. Der nächste Schritt, den wir gehen müssen, wird die Erweiterung sein. So sehr ich für Realismus plädiere, weil wir jetzt in eine Phase eintreten, in der Visionen konkretisiert werden müssen, will ich klarstellen: Realismus bedeutet für mich nicht eine Abkehr von der Vision, sondern eine bauliche Umsetzung dieser Vision. Wir haben gestern auf dem Außenministertreffen in Brüssel mit der konkreten Erweiterung begonnen. Es geht jetzt nicht mehr um abstrakte Zahlen, es geht jetzt nicht mehr um eine Vision; es geht jetzt um hartes Brot, das geschnitten und gekaut werden muß. Es geht um die wirtschaftliche Integration und die Frage der Übernahme geltenden Rechtes. Es geht um die Frage der Anpassung von Strukturen. All diese Dinge müssen jetzt realistisch gesehen werden. ({8}) Meine Damen und Herren, genauso bestimmt sage ich aber - da sind wir uns völlig einig -: Die Vision, die dahintersteckt, gilt, nämlich daß die Grenze - der Bundeskanzler hat es heute morgen in seiner Regierungserklärung betont -, daß der Eiserne Vorhang, daß die Ostgrenze Deutschlands nicht die Grenze der EU bleiben darf. ({9}) Das vereinigte Europa ist ein gesamteuropäisches und nicht nur ein westeuropäisches Projekt. Deswegen bleiben wir diesem Einigungswerk verpflichtet. ({10}) Die deutsch-französische Freundschaft hat in letzter Zeit, ich will nicht sagen, Schaden genommen; aber angesichts bestimmter Töne und auch angesichts einer bestimmten Politik im Zusammenhang mit dem Euro Stabilitätspakt I, Stabilitätspakt II, „Der Euro spricht deutsch“ - wurden selbst die Dinge, die hier gemeinsam getragen wurden, mit einer gewissen nationalen Arroganz rübergebracht, und zwar so, daß sie in Paris nur negativ aufgenommen werden konnten. ({11}) Das deutsch-französische Verhältnis ist aus meiner Sicht für die Fortentwicklung Europas ohne Alternative. Das Verhältnis von Deutschland und Frankreich hat gerade in seiner Widersprüchlichkeit Großes für Europa gebracht. Wenn wir an der Vollendung des europäischen Integrationsprozesses festhalten wollen, müssen wir auf die Erneuerung des deutsch-französischen Verhältnisses setzen. Ich sage nochmals: Es ist ohne Alternative. ({12}) Aber genauso freue ich mich natürlich, wenn ich heute mitbekomme, daß die Regierung Blair in Großbritannien entscheidende Schritte hin zur europäischen Integration macht. Ich kann dies nur nachdrücklich begrüßen, warne aber davor, in Kategorien des 19. Jahrhunderts zurückzufallen: mit Achsen, mit Dreiecken und ähnlichem mehr. ({13}) Die deutsch-französische Freundschaft, dieser zentrale Motor des europäischen Integrationsprozesses, schließt niemanden aus und richtet sich gegen niemanden. Wenn Großbritannien eine verstärkte europäische Rolle sucht, dann sollten wir es erfreut aufnehmen und daraus nicht eine Abgrenzung gegen irgend jemanden machen. ({14}) Je mehr sich am europäischen Einigungswerk aktiv beteiligen, je stärker dieser Motor der europäischen Einigung wird, desto besser. In diesem Sinne freue ich mich, freuen wir uns sehr, daß es zu verbesserten deutschbritischen Beziehungen, zu einer verstärkten Beteiligung Großbritanniens am europäischen Einigungsprozeß kommt. ({15}) - Wissen Sie, Herr Kollege Schäuble, ich verstehe ja die Not eines Oppositionspolitikers, dem Bundeskanzler vorzuwerfen, jedesmal, wenn es um den Inhalt gehe, würde er kneifen, während Sie selbst hier im Grunde genommen in Ihren Zetteln nur versucht haben, kleine oppositionelle Münze daraus zu schlagen, und dann zu fragen, wo der Unterschied sei, als wir zu Beginn dieser Debatte versucht haben, die Kontinuitäten festzulegen, weil das im Ausland sehr aufmerksam verfolgt wird. - In der Europapolitik müssen und wollen wir das vollenden, was begonnen wurde. Ich würde mich freuen, wenn auch bei der Umsetzung der Agenda 2000 - ich habe sehr sorgfältig zugehört, was Herr Glos hier im Gegensatz zu Ihnen angeblich im Interesse der bayerischen Bauern verkündet hat - diese oppositionelle Leidenschaft in der gemeinsamen inhaltlichen Kontinuität bei Ihnen erkennbar würde. ({16}) Das werden Sie schon in den nächsten Monaten zeigen müssen. Für uns wird es ganz entscheidend sein, daß die Frage der Finanzstruktur des kommenden größeren Europas jetzt gelöst wird. Es wird unendlich schwierig. Die ersten Gespräche in Brüssel haben gezeigt, daß alle Länder ihre jeweiligen nationalen Interessen vertreten. ({17}) - Das Neue ist, daß Sie in der Opposition sind. Das ist für mich sehr wichtig. ({18}) Der entscheidende Punkt ist, daß wir unter deutscher Präsidentschaft den Agenda-2000-Prozeß werden abschließen müssen. Das werden wir nur hinbekommen, wenn wir auf der Grundlage dessen, was vorliegt, einen entsprechenden Einigungsprozeß schaffen, der bedeuten wird, daß alle Länder bereit sind, sich zu bewegen, und nicht nur ihre nationalen Egoismen vertreten. ({19}) Ohne einen erfolgreichen Abschluß des Agendaprozesses werden wir, so fürchte ich, bei der Erweiterung sehr große Probleme bekommen. Es geht nicht um abstrakte Beitrittsdaten. Es geht auch nicht darum, daß Herr Haussmann, der hier verzweifelt versucht, einen oppositionellen Unterschied hinzubekommen, in „dpa“ meldet: Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer fehlten in der Europapolitik Visionen. Zögerer und Zauderer gebe es in den EU-Partnerstaaten schon genug. - Wie arrogant, Herr Haussmann, bei den anderen von Zögerern und Zauderern zu sprechen! Weiter sagt er, es wäre ein Fehler, daß wir - im Gegensatz zu dem Jahre 2000, das Bundeskanzler Helmut Kohl genannt hatte - kein konkretes Datum bei der EUOsterweiterung nennen würden. Nun, Herr Haussmann, das ist ein schöner Eiertanz; ({20}) denn er sagte hier folgendes: Die Äußerung des früheren Kanzlers Helmut Kohl, der Beitritt Polens sei im Jahre 2000 möglich, sei vielleicht überstürzt gewesen. Jetzt kommt Herr Haussmann mit der Zahl 2002. Das ist genauso unseriös wie die Zahl 2000. Jetzt beginnt der Verhandlungsprozeß. Wir wollen, daß er so schnell wie möglich erfolgreich ist. Aber ich halte es für eine fahrlässige Politik, Zahlen, die nicht zu halten sind und vor allen Dingen nicht begründet sind, jetzt in den Raum zu stellen. Lassen Sie uns bei den Verhandlungen erfolgreich zu einem Abschluß kommen. Dabei geht es nicht um das Jahr 2000 oder 2002. Wenn wir das Jahr 2002 erreichen, dann bin ich mehr als froh. ({21}) Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang ansprechen möchte, ist das Verhältnis zur Türkei. Ich sehe einen großen Fehler darin, den Türken die Tür vor der Nase so zugeschlagen zu haben, wie es die Vorgänger-Bundesregierung getan hat. ({22}) Ich habe es nie verstanden, warum Bundeskanzler Kohl das getan hat. Ich konnte diesen Fehler nur von der innenpolitischen Situation des Vorwahlkampfes her begreifen. Es war ein großer Fehler. Die Europäische Union ist unserer Meinung nach keine Religionsgemeinschaft. Sie gründet sich auf Werte und Interessen. ({23}) Die Türkei muß, wenn sie zu Europa gehören will, die Möglichkeit haben, zu Europa zu gehören, und muß den Weg des Beitritts haben. Aber genauso klar muß natürlich sein: Wir sind eine Werte- und Interessengemeinschaft. Das heißt, es bedarf dann auch für alle Beitrittskandidaten der Umsetzung dieser Werte, bevor beigetreten werden kann. Daher wird es im wesentlichen von der Türkei, von der inneren Entwicklung, von der Lösung der inneren Menschenrechts-, Demokratie- und Minderheitenfragen, der ökonomischen, aber auch der äußeren Grenzfragen abhängen, daß es zu diesem Beitritt kommt. Aber wir werden diese Tür nicht verschließen. Im Gegenteil: Wir halten diese Tür offen. Hier gibt es einen klaren Unterschied. ({24}) Wir stehen vor einer schwierigen Situation. Wir werden bei Gelegenheit in eine detaillierte Debatte über die Agenda 2000 einsteigen, auch im Ausschuß. Ich möchte das in der Kürze der Zeit nicht vertiefen. ({25}) - Das ist Opposition vom Feinsten, aber bitte, ihr habt viele, viele Jahre Zeit, das zu lernen. ({26}) Lassen Sie mich in aller gebotenen Kürze - das werden wir ebenfalls noch zu diskutieren haben - auf die aktuelle Situation im Kosovo eingehen. Herr Kollege Gysi, ich bin nun weiß Gott nicht derjenige gewesen, der eine Bindung an das UN-Sicherheitsratsmandat aufgeben will. ({27}) Aber wir können anderrseits die Fakten nicht ignorieren. Ich weiß von Ihnen, daß Sie nicht nur Jurist sind, sondern die Dinge durchaus auch politisch sehen können. Ich spreche von der Vereinbarung von Holbrooke und Milosevic. Man kann das eine nicht gut finden und das andere kritisieren. Das wird in der Politik so nicht funktionieren. ({28}) Die zivile Implementierung wird der entscheidende Punkt. Die nichtmilitärische Luftraumüberwachung ist dafür die Voraussetzung. Wir - der Kollege Scharping und ich ganz persönlich, die Bundesregierung und auch der Kollege Schily - schicken jeweils 80 zivile Monitoren dort hinunter. Das sind Menschen, die das auf der OSZE-Grundlage überwachen. Kollege Schily schickt 40 mit polizeilichen Aufgaben Betraute. Dies sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unbewaffnet in einer Krisenregion eingesetzt werden. Für den Fall, daß es für zivile, unbewaffnete Mitarbeiter zu einer lebensbedrohlichen Situation kommt, muß man dann aber auch die Möglichkeit schaffen, und wir müssen ihnen die Letztversicherung geben, alles Menschenmögliche zu tun, um sie herauszuholen und sie nicht zu Geiseln machen zu lassen. Hierbei geht es nicht um die militärische Durchsetzung, nicht um die militärische Begleitung des Implementierungsprozesses. Dies wäre ein völliger Irrtum. Vielmehr geht es um lebensbedrohliche Situationen für die zivilen, unbewaffneten Mitarbeiter und um die Sorge für diese Menschen. ({29}) Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit, sozusagen eine polizeiliche Letztversicherung. Wenn man sich einmal die Aufgabenstruktur anschaut, so hat das nur sehr bedingt etwas mit Militär zu tun. Ich kann sagen: Ich bin heilfroh, daß der HolbrookeMilosevic-Vertrag - die Berichte zeigen es - funktioniert hat. Herr Gysi, ich bitte auch Sie, die richtigen Argumente, die ich ja gar nicht so abwegig finde, was die Rechtsstandpunkte betrifft, in die Realität einzupassen und einmal darüber nachzudenken. Eine Alternative zum Holbrooke-Milosevic-Vertrag gab es nicht, außer Krieg und Leid und Tod. Er hat Gott sei Dank funktioniert. Ich weiß nicht, wie wir diskutieren würden, wenn er nicht funktioniert hätte, und es wäre dort zum Einsatz gekommen. Aber entscheidend ist doch, daß wir uns jetzt in einer klassischen Peace-keeping-Situation befinden, mit der OSZE, die dort erstmals in einer historisch neuen Dimension zum Einsatz kommt. Das finde ich gut und richtig. Voraussetzung dafür war allerdings dieser Vertrag, und Voraussetzung ist der begrenzte Einsatz militärischer Mittel, unter anderem nichtbewaffneter militärischer Luftraumüberwachung. Aber das alles wird nur funktionieren können, wenn die zivile Implementierung eines Autonomie-Statuts gelingt, wenn es freie Wahlen gibt, wenn es gelingt, eine entsprechend demokratisch legitimierte Autorität auf kosovo-albanischer Seite zu schaffen. Das sind meines Erachtens die Dinge, über die Sie noch einmal ernsthaft nachdenken sollten. So wichtig Rechtsstandpunkte sind - Kriegsverhütung und Kriegsverhinderung in Europa können nicht alleine unter dem Gesichtspunkt von Rechtsstandpunkten gesehen werden. Darüber, finde ich, sollten wir noch einmal ernsthaft nachdenken. ({30}) Meine Damen und Herren, das Verhältnis zu Rußland bleibt von ganz entscheidender Bedeutung. Allerdings werden wir es auf eine breitere Grundlage stellen müssen. Das ist völlig klar. Die Frage, die man sich auch stellen muß - ich meine das gar nicht kritisch gegenüber der alten Regierung -, die Frage, die sich der Westen insgesamt stellen muß, lautet, ob man nicht einen Fehler dergestalt gemacht hat, daß man meinte, man könne dort Marktwirtschaft einführen, wo die kulturellen Voraussetzungen dafür nur rudimentär oder gar nicht vorhanden sind. Die Frage lautet also, ob man nicht zu schnell zu viel wollte. - Ich meine gar nicht die VorgängerBundesregierung. Ich beziehe das sozusagen eher auf einen bedeutenden Bündnispartner. Dort meinte man auch, marktwirtschaftliche Theorien sehr schnell implementieren zu können, obwohl es kaum einen kulturellen Background gegeben hat, obwohl die gesellschaftliche Grundlage nicht vorhanden war. Ich sehe zur Stabilisierung der Verhältnisse in Rußland, auch zur ökonomischen Stabilisierung gemeinsam mit unseren Partnern, keine Alternative; denn wir können uns eine Versorgungskrise in Rußland nicht erlauben, und wir können uns auch eine entscheidende politische Destabilisierung Rußlands nicht erlauben. Deshalb wissen wir uns einem internationalen Stabilisierungsprozeß verpflichtet, der auf Wirtschaftsreform und vor allen Dingen auf Demokratie setzt. Auch das ist ein wichtiger Punkt, dem wir uns in der Zukunft verpflichtet wissen, meine Damen und Herren. ({31}) Die Fortsetzung der transatlantischen Partnerschaft werden wir bei Gelegenheit diskutieren können. Meine Zeit ist sehr begrenzt. Lassen Sie mich deswegen noch zwei andere wichtige Punkte ansprechen. ({32}) - Es ist ein wichtiger Punkt, Herr Haussmann. Wir reden bei Gelegenheit darüber. Der entscheidende Punkt sind die Menschenrechte. Da, finde ich, müssen wir einen neuen Schwerpunkt setzen. Die Asien-Krise hat gezeigt, daß Menschenrechte unter den Bedingungen der Globalisierung neu zu deklinieren sind. Das hat auch Bosnien gezeigt. Die Einrichtung des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag sehe ich als einen historischen Schritt nach vorne an, dem wir uns als Parlament und Regierung verpflichtet zeigen sollten. ({33}) Gestatten Sie mir ein offenes Wort. Daß Diktatoren nicht über dem Recht stehen, sondern daß sie sich, selbst wenn viele Jahre vergangen sind, in einem Rechtsstaat vor dem Recht verantworten müssen, finde ich gut und wichtig. ({34}) Zu der Tatsache, daß eine unabhängige Justiz in Spanien einen internationalen Haftbefehl ausgestellt hat und daß eine unabhängige Justiz in unserem Partnerland Großbritannien den Arrest für Pinochet verfügt hat, möchte ich Ihnen sagen: Das erfüllt mich mit Genugtuung, und das ist mehr als ein Symbol. Es zeigt nämlich, wohin die Entwicklung in dieser Welt im 21. Jahrhundert zu gehen hat. ({35}) Deswegen wollen wir hier einen neuen Schwerpunkt setzen. Wir wissen uns den Menschenrechten verpflichtet. Die Asienkrise hat es gezeigt: Nur dort, wo demokratische Verfassung Realität ist, wo es Gewaltenteilung gibt, wo es Regierungswechsel gibt, wo es eine unabhängige, kritische Opposition gibt, wo es eine unabhängige, kritische Presse gibt, wo Menschenrechts- und wo Umweltgruppen arbeiten können, ohne von Gefängnis und Geheimpolizei bedroht zu werden, gibt es auch sichere Investitionen. So sehr ich von der Notwendigkeit privater Investitionen überzeugt bin, um diese Schwellenländer und die dritte Welt zu entwickeln, so sehr müssen wir dann aber auch in Zukunft auf den Gleichklang von nachhaltiger Entwicklung, von Demokratie, von Menschenrechten, von Umwelterhaltung und von Investitionssicherheit setzen. Hier werden wir einen neuen Schwerpunkt auch während unserer G-8Präsidentschaft setzen. ({36})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Minister, bitte beachten Sie die Zeit.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Ich komme zum Schluß. - Ein letzter Punkt, der die Krise in Mittelamerika betrifft: Wir alle sind entschlossen, den von der Naturkatastrophe betroffenen Ländern zu helfen, nicht nur bei der unmittelbaren Krisenbewältigung, sondern auch beim Wiederaufbau und darüber hinaus. Diese Länder sind durch die totale Vernichtung der Ernten, von denen sie ökonomisch abhängen, faktisch auf die ökonomische Nullinie zurückgeworfen worden. Das heißt: Faktisch gehören sie mit zu den ärmsten Ländern der Erde. Daß wir uns hier nicht nur beim Wiederaufbau großzügig erweisen, sondern auch bei der Schuldenstreichung, hat die Bundesregierung klargemacht. ({0}) Ich möchte diesbezüglich aber noch auf einen anderen Zusammenhang zu sprechen kommen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Fischer, Sie sind fünf Minuten über die Zeit.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Wenn wir - ich komme zum letzten Satz - den Klimaschutz und die nachhaltige Entwicklung nicht ernster nehmen als bisher - der Kollege Trittin ist bei der internationalen Klimakonferenz in Buenos Aires, falls Sie ihn vermissen sollten, ({0}) nicht bei irgendwelchen Konspirationen, Herr Glos -, ({1}) dann werden wir allerdings mit einer größeren Häufigkeit solcher katastrophalen Entwicklungen zu tun haben. Deswegen sehen wir hier, in der Umweltaußenpolitik, gemeinsam mit den anderen Ressorts - mit Frau Wieczorek-Zeul und mit Herrn Trittin - in der Bundesregierung einen zusätzlichen Schwerpunkt, den wir auch in der klassischen Außenpolitik umsetzen müssen. Das ist Außenpolitik, die sich an den Zielen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in einer globalisierten, in der einen Welt orientiert. Daran wollen wir mit Ihrer Hilfe arbeiten. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Bundesminister Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Bundesregierung dient der Verwirklichung und der Überwachung eines Abkommens, von dem der Kollege Fischer schon gesprochen hat. Aber ich will zunächst sagen, daß die Entscheidung des Deutschen Bundestages in einer schwierigen Übergangssituation dazu beigetragen hat - ich bitte das nicht geringzuschätzen -, daß 50 000 Menschen aus den Wäldern in ihre Dörfer zurückkehren konnten, daß 50 000 Menschen der unmittelbaren Bedrohung durch Hunger, Seuchen, Krankheiten und Schlimmeres entkommen konnten, und daß das entschlossene Handeln der internationalen Staatengemeinschaft dazu geführt hat, daß zunächst einmal ein Zustand - mit einigen Ausnahmen und Unsicherheiten, die nach wie vor da sind - erreicht wurde, in dem die direkte Bedrohung durch Mord, Vertreibung und Tod für viele tausend Menschen verhindert worden ist. Wer das geringschätzt, hat keine Ahnung von dem, was wir international an Verantwortung zu tragen haben. ({0}) Auf der Grundlage des Abkommens geschehen mehrere Dinge. Das eine ist Gegenstand des Antrages der Bundesregierung, nämlich die Luftüberwachung entsprechend dem Abkommen und der Resolution 1203 der Vereinten Nationen sicherzustellen. Das dient nicht nur dazu, das Abkommen zu sichern und seine Überwachung zu gewährleisten, sondern dient auch dem Schutz derjenigen, die im Auftrag der OSZE und im Interesse der Stärkung der OSZE eine zivile, nichtmilitärische Überwachung dieses Abkommens am Boden gewährleisten sollen. Vermutlich kommt in der nächsten Woche - das hängt aber von den weiteren Diskussionen innerhalb der NATO ab - noch eine weitere Entscheidung auf die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag zu, nämlich eine entsprechende Vorsorge für den nicht gewünschten, aber auch nicht ausschließbaren Notfall zu treffen. Wer das alles im Zusammenhang mit militärischer Intervention betrachtet, der argumentiert in meinen Augen unverantwortlich und närrisch. ({1}) Wir wollen eine Stärkung der OSZE erreichen. Das bedeutet aber, 2 000 Menschen in ein immer noch mit Scharmützeln, mit Schwierigkeiten und mit Schußwechseln belastetes Gebiet zu schicken, also in eine Situation, die nicht gesichert ist. Es wäre ganz und gar unverantwortlich für die Glaubwürdigkeit der OSZE und - was viel schlimmer ist - ganz und gar unverantwortlich für die Sicherheit dieser 2 000 Menschen, wenn wir sie in eine Lage bringen würden wie UNPROFOR 1995 in Bosnien-Herzegowina. Das darf man nicht tun. ({2}) Deshalb dienen alle diese Entscheidungen dazu, eine friedliche Entwicklung in diesem Teil des Balkans zu ermöglichen. Der Antrag der Bundesregierung ist Ausdruck von Verläßlichkeit, von Berechenbarkeit und von Kontinuität in den Grundlagen deutscher Außenpolitik. Er ist Ausdruck dafür, daß wir uns im Rahmen der internationalen Staatengemeinschaft in Europa und im Bündnis der NATO bewegen, unsere Verantwortung wahrnehmen und unseren Teil zur friedlichen Entwicklung beitragen. Dieses Bündnis hat uns in Deutschland - zunächst im Westen und dann bei der deutschen Einheit - ungeheuer viel geholfen. Es hat uns Freiheit, es hat uns Frieden, und es hat uns am Ende die Einbindung in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien ermöglicht. ({3}) Das macht das Verdienst dieser Integration überdeutlich. Angesichts veränderter und neuer Herausforderungen für unsere Sicherheit und für die unseres Kontinents, für die Sicherheit Deutschlands und für die Sicherheit Europas müssen wir uns allerdings auch auf neue Entwicklungen einstellen. Die Entscheidungen, die wir im Zusammenhang mit Bosnien-Herzegowina getroffen haben und jetzt - hoffentlich einmütig - im Zusammenhang mit dem Kosovo treffen werden, sind ein Hinweis darauf, welche veränderten Herausforderungen auf uns zukommen. Die Sicherheit unseres Landes und die Sicherheit unseres Kontinents sind nicht voneinander zu trennen - im Gegenteil: Sie bedingen sich gegenseitig. Mit wachsender Verflechtung, mit wachsender Integration wächst auch unsere Verantwortung. Deshalb ist Deutschland engagiert und wird es bleiben. Ich will Ihnen das mit einigen wenigen Hinweisen noch erläutern. In Bosnien-Herzegowina sind zur Zeit Angehörige der Bundeswehr regelmäßig in der Stärke von etwa 2 000 Mann und vorübergehend sogar - im Zuge des Übergangs in eine neue Aufteilung und Stationierung der entsprechenden Gruppenteile - in der Stärke von etwa 2 600 Mann im Einsatz. Mit den 200 nichtmilitärischen, zivilen Beobachtern, die wir als Teil dieser 2 000 Mann starken Beobachtermission stellen, wächst unsere Verantwortung und unser Anteil im Handeln der internationalen Staatengemeinschaft. Wenn der Deutsche Bundestag - wie ich hoffe - am Freitag die Entscheidung getroffen haben wird, daß wir uns auch an der Luftüberwachung eines verbindlichen Abkommens und der darauf fußenden, darauf Bezug nehmenden Resolution des Weltsicherheitsrates beteiligen, wird unsere Beteiligung noch einmal um 350 Personen zunehmen. Ich will Ihnen heute schon sagen, daß zur Vorsorge vor einem nicht gewünschten, aber nicht ausschließbaren Notfall wahrscheinlich noch einmal eine deutsche Beteiligung - etwa in Kompaniestärke - erforderlich wird. Das ist alles andere als eine militärische Intervention. Was die Soldaten - unsere wie die der anderen Länder - dort tun, ist: Sie sichern Gewaltfreiheit, sie unterstützen den zivilen Aufbau - zum Beispiel dadurch, daß sie mit einer Beratertätigkeit helfen, das Ergebnis der Wahlen zu implementieren und die Konstituierung von Parlamenten und lokalen Autoritäten voranzubringen -, sie helfen bei der Rückkehr von Flüchtlingen, zum Beispiel in einer sehr ausgeprägten zivil-militärischen Kooperation, indem sie Häuser wiederherrichten, Infrastruktur wiederherrichten und den Flüchtlingen die Rückkehr überhaupt erst ermöglichen, und sie ergänzen nicht zuletzt die Arbeit der zivilen Hilfsorganisationen, von denen ich hier nur stellvertretend für alle anderen die Organisation „Schüler helfen leben“ nenne. ({4}) An diesem SFOR-Einsatz, der zugleich auch gewisse Belastungen hier in Deutschland bedeutet, haben jetzt schon über 20 000 Soldaten der Bundeswehr teilgenommen. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß diese Soldaten im Interesse unseres Landes, im Interesse gemeinsamer Sicherheit, im Interesse der Stabilität unseres Kontinents, nicht zuletzt vielleicht auch im Interesse der Verhinderung immer stärkerer Flüchtlingsbewegungen ein hohes Risiko eingehen und daß sie deshalb auch mit Blick auf ihre Familien die Unterstützung des Deutschen Bundestages und übrigens der ganzen Bevölkerung verdient haben. ({5}) Freilich, diese Unterstützung muß auch noch auf andere Weise gewährleistet werden, nämlich indem wir in Deutschland als Bundesregierung und als Parlament auch dazu beitragen, daß ein klares politisches Ziel verfolgt und erreicht werden kann. Wir haben dafür nur wenig Zeit. Es gibt leider auch Anzeichen dafür, daß in dieser Periode der Gewaltfreiheit Vorbereitungen für neue Ausbrüche von Gewalt getroffen werden könnten. Der Winter wird das wahrscheinlich eine Zeitlang verhindern. Ich will damit deutlich machen, daß wir für die politischen Bemühungen um die Lösung dieses Konfliktes mit dem Ziel einer Autonomie des Kosovo im jugoslawischen Staatsverband nur ein sehr enges Zeitfenster haben werden und daß es ganz und gar nicht vertretbar ist, wenn man sowohl zivile Beobachter im Auftrage der OSZE wie auch ihren militärischen Schutz in eine Gefahr bringen würde, die man durch entsprechend klaren Druck sowohl auf Milosevic als auch auf die kosovoalbanische Seite, insbesondere auf die UCK, vermeiden kann. Die Abwesenheit von Krieg und Gewalt bedeutet noch lange nicht Frieden. Wir sehen das in Bosnien und Herzegowina. Ich fürchte, wir werden es eine längere Zeit auch im Kosovo sehen. Also will ich darauf aufmerksam machen, daß die Beteiligung Deutschlands an ziviler Überwachung und ihrem Schutz, an all den Maßnahmen, die ich genannt habe, auf Dauer genauso wie die Sicherheit, die von der internationalen Staatengemeinschaft ausgeht, nur dann sinnvoll geleistet werden kann, wenn die internationale Staatengemeinschaft den Konfliktparteien die Notwendigkeit klarmacht und am Ende dabei hilft, zivile Entwicklungen auf eine stabile Grundlage zu stellen. ({6}) Das entspricht der Politik der Bundesregierung, die das Ziel umfassender Sicherheit verfolgt. Ich will das an drei Elementen verdeutlichen. Erstens kommt es darauf an, Ursachen für Krisen in Zukunft früher zu erkennen und entschlossener zu handeln als in der Vergangenheit. ({7}) Gerade das Thema, mit dem sich der Antrag der Bundesregierung beschäftigt, ist ein sehr nachdrücklicher Hinweis darauf, wohin es führen kann, wenn man über Jahre hinweg deutliche Hinweise auf eine sich immer stärker verschärfende krisenhafte Entwicklung ignoriert. ({8}) Es hat diese Hinweise gegeben. Allerdings ist es auch eindeutig so, daß die Europäische Union, die Westeuropäische Union und andere Organisationen der internationalen Staatengemeinschaft Krisenursachen häufig zwar früh erkennen können - es mag auch vorkommen, daß sie sie nicht erkennen -, daß uns aber oft genug die entsprechenden Mittel und Institutionen fehlen, die Konsequenzen aus der frühzeitigen Erkenntnis von Krisenursachen zu ziehen. Also wird es nicht nur darauf ankommen, den Mangel in der frühzeitigen Erkennung von Krisenursachen und ihrer gemeinsamen Bewertung zu beklagen, sondern auch darauf, die notwendigen Institutionen zu schaffen, die wir im Rahmen der europäischen Integration dringend brauchen. ({9}) Es kommt darauf an, aus dieser Vorstellung umfassender Sicherheit, die auch Krisenursachen wie Hunger, Unterentwicklung, Terror und Haß zwischen Bevölkerungsgruppen mit einschließen muß, die notwendigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Es liegt auf der Hand, daß diese Schlußfolgerungen nicht allein in den Kategorien eines militärischen Bündnisses geleistet werden können. Ich erinnere mich sehr gut, daß Willy Brandt davon sprach, er habe zweimal erlebt, wie aus Krieg Hunger geworden sei, und er hoffe, nie erleben zu müssen, daß aus Hunger Krieg werde. Das aber ist eine Gefahr, mit der wir uns heute auch auseinandersetzen müssen. Das zweite Element beinhaltet, daß wir, die internationale Staatengemeinschaft, im Bereich der Krisenprävention wesentlich besser werden müssen, als wir es derzeit sind. ({10}) Ich mache darauf aufmerksam, daß hier für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ein wesentliches Thema liegt. In der Sondersitzung des Bundestages der 13. Wahlperiode hat eine Rolle gespielt, daß wir angesichts veränderter Krisenursachen, Bedrohungsursachen und Risiken für die internationale Sicherheit und Stabilität in die Lage kommen müssen, die Instrumente neu zu justieren; denn die Instrumente stammen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, aus der Zeit des kalten Krieges und der Blockkonfrontation und sind oft genug nicht tauglich genug, mit dem fertig zu werden, was sich heute an veränderter weltpolitischer Lage und auch an veränderten Ursachen für internationale Krisen auf unserem Kontinent und weit darüber hinaus - in anderen Regionen der Welt ist es noch viel schlimmer - darstellt. Als drittes Element nenne ich, daß diese Politik nur erfolgreich sein kann, wenn deutsche Außen- und Sicherheitspolitik konsequent demokratische und zivile Entwicklungsprozesse fördert und gleichzeitig zur Achtung der Menschenrechte beiträgt. ({11}) Meine Damen und Herren, wie schwierig dies ist, sieht man wieder am Beispiel des Kosovo. So hatten wir zum Beispiel große Schwierigkeiten, im Rahmen des Auftrags an die OSZE sicherzustellen - bisher konnte es wegen einer Weigerung Rußlands nicht sichergestellt werden - , daß der Zugang von Journalisten in das Gebiet des Kosovo ermöglicht und wieder unabhängige Berichterstattung erlaubt wird. Wenn wir aber demokratische, auf Menschenrechte orientierte Entwicklung fördern und zivile Entwicklungen voranbringen wollen, dann wird das ohne entsprechende Institutionen einschließlich einer unabhängigen und freien Presse, einschließlich freier und unabhängiger Gewerkschaften, sozialer Organisationen, lokaler Selbstverwaltung und dergleichen nicht gehen. ({12}) Die eigentliche Bedeutung des Beitrages der Bundeswehr auf dem Balkan liegt darin, daß diese beiden Seiten der gleichen Medaille zur Zeit in einer guten Weise gewährleistet sind, wobei ich beklage, daß die zweite Seite oft genug in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen wird, wie ich es mir wünsche: neben der Sicherung einer gewaltfreien Entwicklung durch entsprechende militärische Präsenz die sehr vielen zivilen Elemente in diesem Engagement, die ich Ihnen zu nennen versucht habe. Meine Damen und Herren, all diese Fragen haben Bedeutung für die Entwicklung auch der internationalen Organisationen. Die NATO wird sich erweitern, und das ist gut so. Sie wird nach dieser Erweiterung eine Zeit der Konsolidierung brauchen und zugleich für weitere neue Mitglieder die Tür offenhalten. Die NATO wird sich eine neue Strategie geben. Es wird für die Europäer darauf ankommen, ihre eigenen Schwächen zu überwinden und nicht immer ein gewisses Gefälle im Bündnis zu beklagen, sondern selbst etwas dagegen zu tun, daß es dieses Gefälle hier und da gibt. Das Stichwort dafür heißt: europäische Identität für Verteidigung und Sicherheit. ({13}) Dazu gehört übrigens auch die Integration der WEUAufgaben in die Europäische Union, wie es ja im Vertrag von Amsterdam vorgesehen ist. ({14}) Ich sage Ihnen das, um etwas anderes noch verständlicher zu machen: Es ist unser gutes Recht - andernfalls würden uns alle anderen mit guten Gründen, wie ich denke, skeptisch betrachten -, unsere Interessen klar zu definieren und zu vertreten. Uns in Deutschland muß allerdings klar sein, daß Deutschland seine außen- und sicherheitspolitischen Interessen nur noch in Europa und in internationalen Organisationen wirksam verfolgen kann. ({15}) Deutschland kann mit Blick auf seine Streitkräfte in Zukunft nur das sinnvoll vorbereiten und entscheiden, was mit den europäischen Interessen im Einklang steht und mit den Interessen des Bündnisses kompatibel ist. ({16}) Auch in Zukunft ist die wesentliche Aufgabe der Bundeswehr die Landesverteidigung. So wie wir Landesverteidigung derzeit wahrnehmen, ist sie der beste Ausdruck dafür, daß wir uns der gemeinsamen Verantwortung und Verpflichtung stellen. Über die Landesverteidigung hinaus sind wir im Bündnis für die Sicherheit seiner Mitglieder mitverantwortlich. Man kann es an den Entscheidungen der letzten Jahre ablesen, daß Deutschland stärkere Beiträge zur internationalen Friedenssicherung leistet. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf diese neuen Aufgaben muß die interne Bestandsaufnahme der Bundeswehr so vorangetrieben werden, daß sie im März des nächsten Jahres abgeschlossen sein wird. Dann wird unter Beteiligung des außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Sachverstands, den wir dafür dringend brauchen, ({17}) und auf der Grundlage von Erfahrungen vieler Menschen in Deutschland darüber zu reden sein, welche Fähigkeiten unser Land in die internationalen Organisationen einbringen und wie es mit Hilfe dieser Fähigkeiten zu internationaler Sicherheit und zu friedlicher, ziviler und, wo immer es geht, demokratischer Entwicklung beitragen kann. Meine Damen und Herren, ich sprach davon, daß wir, insbesondere aber die Soldaten und ihre Familien, darauf angewiesen sind, im Deutschen Bundestag und im deutschen Volke eine breite Unterstützung zu erhalten. Verstehen Sie das bitte als eine Einladung an alle Seiten des Hauses - bei allem Streit auf anderen Feldern -, den Konsens in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zu bewahren und diesen auf der Basis dessen, was wir erreicht haben, weiterzuentwickeln. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Helmut Haussmann.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zwischenbilanz der bisherigen Diskussion ist klar: Deutschland hat die Abwahl eines international anerkannten Staatsmannes und eines hervorragenden Bundeskanzlers, eines exzellenten Außenministers und eines anerkannten Finanzministers nicht verdient. Was haben wir heute erlebt? Einen Bundeskanzler, für den Außen- und Europapolitik eben keine Herzensangelegenheit ist. Ich will nur einmal zwei Belege nennen, wie Herr Schröder denkt: Vor seiner Wahl war er gegen den Euro und vertrat in bezug auf die Osterweiterung die Auffassung, daß sie nicht mehr im nächsten Jahrzehnt stattfinden werde. Das sind Tatsachen. ({0}) Wir haben einen Außenminister, der sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich schnell umgestellt hat, hochflexibel ohne politische Tradition in der grünen Partei, ohne Basis in Krisenzeiten. Wir haben einen Finanzminister, der eigentlich der heimliche Vizekanzler und Außenminister ist und beginnt, den Euro schwach zu machen. Und wir haben einen Verteidigungsminister wider Willen, weil er das gar nicht werden wollte; aber die Rede von Herrn Struck weckte nicht nur bei uns, sondern auch in der Opposition die Sehnsucht nach einem Fraktionsvorsitzenden Scharping. ({1}) Herr Außenminister Fischer, Sie sollten sich - Sie werden noch darauf zurückkommen müssen - am Anfang einer solchen Debatte nicht nur förmlich bei Herrn Kohl oder bei Herrn Kinkel bedanken, sondern Sie sollten sich auch darüber im klaren sein, daß Sie nur deshalb einen guten Start hatten, über den ich mich im Interesse Deutschlands freue, weil Sie auf eine exzellente Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik aufbauen konnten, ({2}) zu der Ihre eigenen Leute bisher überhaupt nichts beigetragen haben. Sie haben es wohl vergessen: Sie waren gegen die Nachrüstung, gegen den Euro und gegen den Vertrag von Maastricht. Es gab Stimmenthaltungen zum Vertrag von Amsterdam und vor kurzem noch gegen friedenserhaltende Einsätze. Das ist die Ausgangsbasis, und insofern, Herrr Fischer, sollten Sie sich über eines im klaren sein: Ein guter Start bedeutet noch nicht belastbare Außenpolitik. Deshalb sollten Sie sich mit der Opposition sehr gut stellen, Sie werden uns noch brauchen. Das sage ich Ihnen voraus. ({3}) Aus unserer Sicht gibt es drei große konzeptionelle Fragen, an denen wir Sie und Herrn Schröder messen wollen. Die erste betrifft die globale Verantwortung. Sie sind dem Thema, das Herr Kinkel für uns exzellent vorbereitet hat - Beteiligung an friedensschaffenden Maßnahmen und Sitz im UN-Sicherheitsrat -, ausgewichen. Sie haben hier nichts dazu gesagt. Vor Journalisten haben Sie gesagt, das sei jetzt nicht so wichtig, derzeit kein Thema, um dem Konflikt mit Ihrer Fraktion auszuweichen. Wenn jetzt nach einer so guten Vorarbeit vom deutschen Außenminister das Signal gegeben wird, das ist nicht vorrangig, nicht wichtig, verliert damit ein wichtiges Symbol der gestiegenen globalen Mitverantwortung bei der Lösung von Krisen an Bedeutung. ({4}) Die zweite Frage - wir werden noch darüber diskutieren - betrifft das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist interessant, daß Sie dieses Thema in Ihrer Rede am kürzesten abgehandelt haben. Das ist zuwenig. Das, was Herr Schröder heute morgen vorgetragen hat, ist natürlich ein latenter Protektionismus. Ich kann nur sagen: Die wichtigste Frage im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten wird sein: Wie wird Deutschland als führendes Land in Europa so wettbewerbsfähig, daß es den Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten von Amerika durchhält? Herr Außenminister Fischer, alle Konflikte in der Vergangenheit waren nicht so sehr außenpolitische Konflikte, sondern es waren Konflikte, die in der Handelspolitik begannen. Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. Erstens. Sie haben in die Koalitionsvereinbarung locker hineingeschrieben, die WTO müsse dringend mit Umwelt- und Sozialstandards angereichert werden. Sie stehen damit einsam in der Landschaft. ({5}) Das gehört nicht in die WTO. Das gehört in die ILO, meine Damen und Herren. Sie werden isoliert sein. ({6}) - Ich sage Ihnen die Diskussion mit den Vereinigten Staaten von Amerika voraus. Sie werden sich isolieren. Zweitens. Mit diesem Reformrückschritt - keine echte Steuerreform, keine Arbeitsmarktreform, Schwächung des Euro - werden Sie Deutschland und damit Gesamteuropa im Wettbewerb schwächen. ({7}) Sie werden erleben, daß am Ende Ihrer Politik - im Verein mit Herrn Jospin - ein latenter Protektionismus, ein Festungsdenken in Europa herrschen wird. Das wird zu einem der ganz großen Konflikte, wenn Sie nicht zumindest die Politik von Herrn Blair verfolgen, wozu Sie nicht bereit sind. Herr Blair hat vor kurzem auf einer Konferenz der Sozialisten gesagt: Meine sehr verehrten Parteigenossen, Amerikanismus und Globalisierung dürfen keine Fremdworte bei uns werden. Wie wird darüber bei uns diskutiert? Wie wird über die Unabhängigkeit der Zentralbank diskutiert? Wie wird über die Zielzonen debattiert? Reden Sie einmal mit einem Amerikaner über Wechselkurszielzonen. Sie laufen völlig ins Leere und begeben sich in die Gefahr, daß Sie das entscheidend wichtige Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika von der falschen Seite her - durch Protektionismus, falsche Währungszusammenarbeit und ein fehlendes klares Bekenntnis zur Unabhängigkeit von Notenbanken - schwächen. ({8}) Die dritte Frage betrifft die Europapolitik, Herr Fischer. Sie ist nicht nur Baustein einer Vision, sondern in der Europapolitik braucht man Visionen, man muß Emotionen haben. Ich sehe weder bei Herrn Schröder noch bei Ihnen jemanden, der in der Lage wäre, hier nicht nur gute Reden zu halten, sondern die eigene Partei, die Bevölkerung in große Projekte mitzunehmen. Meine Damen und Herren, wer hat denn die Debatte über die Währungsunion geführt? Wo war denn Rotgrün? ({9}) Jetzt lehnt man sich zurück und profitiert von unserer Arbeit. Aber in der Europapolitik bedarf es der Visionen und eines langen Atems sowie der Unterstützung durch die eigene Partei, die eigene Fraktion. Meine Damen und Herren, die haben Sie nicht. Insofern ist es zwar schön, wenn Sie gute Reden halten, wenn Sie gut angezogen sind, wenn Sie im Ausland gut ankommen. Nur, die Bewährungsprobe - mehr Emotion, mehr Vision, mehr Überzeugung in der Bevölkerung - müssen Sie erst noch bestehen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Volker Rühe.

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beide Minister dieser Bundesregierung, der Außenminister und der Verteidigungsminister - auch ich muß mich erst daran gewöhnen -, ({0}) haben von Kontinuität und Berechenbarkeit gesprochen. Das ist gut so, und das ist ja auch ein Kompliment für die Politik, die vorher gemacht worden ist. Aber, Herr Fischer und Herr Scharping, die Politik, in deren Kontinuität Sie sich stellen, mußte irgendwann im Kampf durchgesetzt werden - hier und auch international. Das ist doch der entscheidende Punkt. Deswegen: Die eigentliche Bewährung wird erst dann kommen, wenn neue Fragestellungen auf Sie zukommen, ob auch Sie dann etwas im Kampf durchsetzen können, was den deutschen Interessen dient und was eine vernünftige internationale Politik ist. Das ist die eigentliche Bewährungsprobe. Nehmen Sie das Beispiel - Herr Fischer, Sie haben gesagt, das sei ganz wichtig -, daß Europa jetzt zusammenwächst. Aber die Öffnung Westeuropas von der Sicherheit her auch für die Polen, die Tschechen, die Ungarn, die Öffnung der NATO, das ist im Kampf durchgesetzt worden, hier in Deutschland gegen Sie und auch international. Wo sind die Politiker in der neuen Regierung, die in der Lage sind, wichtige Weichenstellungen auch in der Zukunft durchzusetzen und sich nicht nur in eine Kontinuität hineinzustellen? ({1}) Oder nehmen Sie das Beispiel Jugoslawien: Herr Scharping, ich will nicht die Kontroverse mit Ihnen. Aber es ist schon ein starkes Stück, wenn Sie sagen, man müsse die Krisen früher erkennen. Wer hat denn darauf gedrängt, dort hinzugehen und zu intervenieren, Massaker und Krieg zu stoppen? Ich glaube, dieses Drängen ist nicht von der früheren Opposition gekommen, sondern von der Regierung. Das haben wir durchgesetzt. Sonst wären wir auch noch nicht so weit, wie wir heute sind. ({2}) Herr Fischer, Sie werden eine Bewährungsprobe bekommen. Das ist der Irak. Da können Sie nicht sagen, das sei allein Sache der Amerikaner. Es geht auch uns an, ob es dort zur Produktion von Massenvernichtungswaffen kommt. Dann ist auch die Frage an die deutsche Solidarität gestellt. Man kann nicht in Feiertagslaune wie der Kanzler Schröder - hier über deutschamerikanische Freundschaft sprechen, aber in einer konkreten Situation sich verweigern und abtauchen. Damit werden Sie nicht durchkommen. ({3}) Aber ich habe bei aller Kontinuität den Eindruck, daß man schon versucht, ein bißchen umzuinterpretieren. Herr Fischer, wenn Sie sagen, im Kosovo gehe es nur um den Einsatz von Zivilisten, die OSZE spiele dort die Hauptrolle, so - das muß ich Ihnen sagen - unterschlagen Sie, daß die politischen Verhandlungen der Amerikaner nur deswegen Erfolg hatten, daß es den Einsatz der Zivilisten dort nur deswegen gibt, weil wir bereit waren, notfalls auch militärisch zu handeln - nur deswegen! Das darf nicht unterschlagen werden. ({4}) Herr Minister Scharping, an einem Punkt sollten Sie noch einmal nachdenken. Sie haben gesagt, wenn deutsche Soldaten nach Mazedonien geschickt würden - ich meine jetzt nicht die Luftüberwachungsoperation; dafür haben Sie unsere Zustimmung, das ist klar; wir bleiben in der Kontinuität unserer Politik, Sie brauchen Ihre eigenen Mehrheiten -, um notfalls im Kosovo einzugreifen, um diese Beobachter zu retten, dann sei das kein militärischer Einsatz. Ich muß Ihnen sagen: Es ist hochgefährlich, wenn man versucht, die kleinste gemeinsame Sprachregelung innerhalb der Koalition zu finden, um im Deutschen Bundestag eine Mehrheit für einen Einsatz zu erzielen, der natürlich ein militärischer Einsatz ist. Was bedeutet dieser Einsatz? Sie schicken deutsche Soldaten nach Mazedonien. Im Ernstfall müssen sie gegen den Willen der Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien im Kosovo militärisch eingreifen, um Zivilisten aus dieser Region zu holen. Auch den Soldaten schulden wir es, daß die Gefahren einer solchen Mission nicht heruntergespielt werden, nur damit man in der Koalition verbal eine Einigung erzielt. ({5}) Wenn es sich nicht um eine militärische Aktion handeln würde - das gilt für die Luftüberwachung und natürlich auch für die Mission einer Extraction Force -, müßte sich der Deutsche Bundestag nicht mit dieser Angelegenheit beschäftigen. Ich habe in der Koalitionsvereinbarung viel über die Zivilisierung der internationalen Beziehungen und ihre Verrechtlichung gelesen. Das sind alles schöne Worte. Es ist richtig: Das Militärische ist die Ultima ratio. Aber: Wenn politisches Verhandeln scheitert - es kann scheitern - und wenn nicht die Bereitschaft besteht, notfalls auch mit militärischen Mitteln denen in den Arm zu fallen, die nicht friedenswillig sind, dann würden Sie sich auf einen falschen Kurs begeben und sich von der Solidarität der westlichen Gemeinschaft verabschieden. Herr Minister Fischer, Sie haben die Menschenrechte in den Mittelpunkt gestellt. Das ist richtig. Wir haben übrigens schon in der Zeit des kalten Krieges immer gesagt: Der Friede ist nichts Absolutes, sondern es gibt ihn nur in Verbindung mit Freiheit, Gerechtigkeit und Beachtung der Menschenrechte. Sie haben gesagt: Es ist gut, daß die Kriegsverbrecher in Bosnien nach Den Haag kommen. Einer der übelsten Kriegsverbrecher ist nur durch das „Kommando Spezialkräfte“ der deutschen Bundeswehr nach Den Haag gekommen. Dagegen haben die Grünen massiv protestiert. Meine konkrete Frage ist: Sind Sie damit einverstanden, wenn auch in Zukunft Spezialkräfte der Bundeswehr dafür sorgen, daß Kriegsverbrecher vor internationale Gerichte gebracht werden? ({6}) Sie haben ferner gesagt, es erfülle Sie mit Genugtuung, wenn ein Diktator wie Pinochet zur Rechenschaft gezogen wird. ({7}) - „Vielleicht“, aber ich hoffe es trotzdem. - Ihre Haltung kann ich nachvollziehen. Ich - und vor mir Heiner Geißler und Norbert Blüm - war in Chile in den Gefängnissen, als unsere Freunde, die christlichen Demokraten, dort verfolgt, eingesperrt und gefoltert wurden. Deswegen kann ich Ihre Haltung nachvollziehen. Aber haben Sie bitte keine selektive Haltung. Es gibt immer noch politische Gefangene in Kuba und in anderen Gegenden der Welt. Was machen Sie mit Fidel Castro? Lassen Sie uns also sehr sorgfältig darüber diskutieren, was es bedeutet, Menschenrechte durchzusetzen und zu verdeutlichen: Wer immer dagegen verstößt, muß damit rechnen, daß er auf internationalem Wege zur Verantwortung gezogen wird. Es geht aber nicht an, daß es einen selektiven Einsatz für die Beachtung der Menschenrechte gibt. ({8}) Herr Minister Scharping, Sie haben als Verteidigungsminister das Richtige in bezug auf Ihre Amtszeit gesagt. Sie haben sich für die Wehrpflicht eingesetzt. In diesem Punkt haben Sie die volle Unterstützung unserer Fraktion. ({9}) Sie haben noch einen weiteren sehr richtigen Satz gesagt: Diejenigen, die Sicherheit produzieren, nämlich unsere Soldaten, haben selbst die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes verdient. Deswegen haben Sie sich klar geVolker Rühe gen alle Vorstellungen der Grünen gewandt, im Rahmen der Koalition in die Strukturen der Bundeswehr einzugreifen. ({10}) Sie müssen wissen, daß Sie in diesen entscheidenden Punkten unsere Unterstützung haben, daß wir Sie aber auch an diesen Punkten messen werden. Es ist deswegen ganz wichtig, daß die Wehrstrukturkommission - Sie haben ja auch eine Rentenkommission; überall, wo Sie mit den Grünen uneins sind, werden Kommissionen eingesetzt - nicht sozusagen jahrelang ein Fragezeichen für die Bundeswehr bedeutet. Unsere Soldaten haben es nicht verdient, daß sie bezüglich ihrer Zukunft im ungewissen gehalten werden, ({11}) zumal wir gleichzeitig von ihnen schwierige Einsätze verlangen müssen. Sie sollen wissen, daß eine Chance für einen Konsens in diesem Hause besteht. Was Wehrpflicht und Umfang der Bundeswehr angeht, habe ich es einmal so gesagt: Sicherheit für die Produzenten der Sicherheit, Sicherheit für unsere Soldaten. Wenn Sie sie zu internationalen Einsätzen schicken, dann können Sie nicht zu Hause die Kasernen anstecken, so wie die Grünen das immer wieder versucht haben. ({12}) - Entschuldigung, „Kasernen anstecken“ heißt natürlich, die Stationierungsorte der Bundeswehr in Frage zu stellen. Das ist doch genau das, was Sie, Frau Kollegin Beer, tun. Sie wollen doch den Umfang der Bundeswehr halbieren. Das ist in einer solchen Situation unverantwortlich. ({13}) Gestatten Sie mir noch eine kurze Bemerkung zur Europapolitik. Es gab ja nach den Besuchen des Kanzlers und des Außenministers in Polen die Diskussion, ob wir für die EU-Osterweiterung eine zeitliche Perspektive brauchen. Ich glaube, daß man noch einmal einen Moment darüber nachdenken sollte, was die richtige Politik ist. Herr Schröder, der Bundeskanzler, hat gesagt, er habe nicht soviel Phantasie, ein Datum zu nennen. Ich muß Ihnen sagen: Wenn Sie ein Datum setzen 2002 wäre realistisch -, ist es viel einfacher, die schwierigen Entscheidungen im jeweiligen Lande durchzusetzen. Ich weiß, daß die EU-Erweiterung nicht vergleichbar ist mit der NATO-Erweiterung. Die EU-Erweiterung ist viel schwieriger umzusetzen. Mitglied der NATO können Sie auch mit alten Flugzeugen und alten Panzern werden. Mitglied der Europäischen Union aber können Sie mit einer veralteten Landwirtschaft und einer veralteten Wirtschaft nicht werden. In dem Moment, in dem ein Zieldatum im Hinblick auf den Beitritt zur NATO genannt wurde, hat es unglaubliche Anstrengungen der Ungarn, der Polen und der Tschechen gegeben, weil sie gewußt haben: Die Anstrengungen lohnen sich; es gibt ein konkretes Zieldatum. Deswegen würde ich der Bundesregierung raten, zu versuchen, gemeinsam mit Polen und den anderen Staaten ein Zieldatum zu entwickeln und zu sagen: Wir jedenfalls werden, was die Reformen innerhalb der Europäischen Union angeht, alles tun, daß ihr 2002 Mitglieder werden könnt. Wenn ihr dann noch auf eurer Seite die notwendigen Reformen durchsetzt, dann ist der Beitritt zu einem solchen Datum machbar. Es muß möglich sein, hier eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, damit Deutschland auch weiterhin Motor im Hinblick auf das Zusammenwachsen in Europa ist. Die letzte Bemerkung möchte ich auf die baltischen Staaten beziehen. Ich glaube, jeder spürt, daß sie mehr als manch andere zur Familie der europäischen Staaten gehören - sie haben in diesem Jahrhundert ein besonders schlimmes Schicksal gehabt -, daß aber der Weg in die Sicherheitsgemeinschaft der NATO sicherlich noch ein langer Weg ist. Um so offener sollten wir dafür sein das war auch bei Klaus Kinkel, dem früheren Außenminister, der Fall -, sie so schnell wie möglich in die Europäische Union aufzunehmen. ({14}) - Natürlich, alle drei als Gruppe. Denn sie alle haben nicht das Gewicht, daß sie auf Grund irgendwelcher statistischer Abweichungen und auf Grund der Probleme, die es in diesen Staaten noch gibt, die Europäische Union ruinieren könnten. Nachdem sich Estland qualifiziert hat und Lettland anerkanntermaßen Fortschritte gemacht hat - Außenminister Kinkel hat immer deutlich gemacht, daß die Möglichkeit bestehen muß, auch zwischenzeitlich aufgenommen zu werden -, liegt es in der Verantwortung der Bundesregierung, Lettland und Litauen in den europäischen Integrationsprozeß mit aufzunehmen. ({15}) Herr Kollege Fischer, wenn Sie das in Angriff nehmen würden, dann würden Sie wirklich einen weiteren Schritt für den Aufbau eines gemeinsamen Europas leisten und im übrigen selbst eine Politik durchsetzen, angesichts der Sie mit einem Konsens in Deutschland rechnen können. Zeigen Sie also einmal, daß Sie nicht nur wie ein Außenminister gekleidet sind, sondern daß Sie sich auch in einer wichtigen Frage durchsetzen können. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Bundesminister Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Kollege Rühe, ich möchte nicht, daß sich etwas Mißverständliches oder Falsches festsetzt: Ich habe mich mit dem Abgeordneten Gysi und seiner Behauptung auseinandergesetzt, die Stationierung einer Schutztruppe in Mazedonien sei eine militärische Intervention. Es ist völlig unbestritten: Wenn eine solche Schutztruppe stationiert wird, ist das ein militärischer Einsatz, und zwar einer mit Risiko.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Meine Damen und Herren! Wir alle sind in den letzten Tagen mit den Bildern der Verwüstung konfrontiert worden, die der Hurrikan Mitch in Zentralamerika angerichtet hat. Und auch wenn die Schreckenszahlen noch immer nicht zweifelsfrei sind: Es muß mit weit mehr als 10 000 Toten gerechnet werden. Es ist ein Rückfall der Entwicklung um mindestens zwei Generationen festzustellen. Vor allem aber: Ein Großteil der Bevölkerung ist obdachlos, in Honduras etwa die Hälfte der Bevölkerung. Nicaragua und Honduras sind zusammen mit Tahiti ärmste Länder der Region. Gleichzeitig sind sie die Länder, die im Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit die größte Last an Auslandsschulden tragen. El Salvador und Guatemala haben zwar weniger Opfer unter den Menschen zu beklagen. Aber auch hier ist ein Großteil der Ernte zerstört, ist die Aufbauarbeit von mindestens einem Jahrzehnt, sind die landwirtschaftliche Produktion und die landwirtschaftlichen Potentiale in wenigen Tagen vernichtet worden. Ich habe am letzten Freitag in Gesprächen mit den Botschaftern der sechs mittelamerikanischen Länder, die von dem Hurrikan betroffen sind, gesprochen und - ich denke auch in Ihrem Namen - unser aller Anteilnahme und Solidarität ausgedrückt. ({0}) Meine Damen und Herren, diese Situation ist auch deshalb besonders tragisch, weil diese Region, wie Sie alle wissen, über Jahre, um nicht zu sagen: über Jahrzehnte hinweg in schreckliche Konflikte und Bürgerkriege verstrickt war, jetzt auf dem Wege der Konfliktbeilegung und des friedlichen Zusammenlebens ist und in dieser Situation so schrecklich getroffen worden ist. Wir als Bundesregierung, als Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben im Umfang von insgesamt 5,7 Millionen DM unmittelbar Soforthilfe geleistet und Nothilfe bereitgestellt. Diese Mittel sind also schon vor Ort zum Einsatz gekommen: Medikamente, Nahrungsmittel, Materialien und vor allem Geräte für die Trinkwasseraufbereitung sowie Baumaterialien für dringende Baumaßnahmen, um überhaupt wieder Obdach zu schaffen. Die Durchführung erfolgt in erster Linie über die laufenden Projekte der technischen Zusammenarbeit und wird vom Deutschen Entwicklungsdienst und den Partnern deutscher Nichtregierungsorganisationen unterstützt. Nur so ist sichergestellt - und es ist sichergestellt -, daß die Mittel wirklich den betroffenen Menschen zukommen. Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, die diese schwere Hilfe vor Ort leisten. ({1}) Ich möchte vor allen Dingen den Menschen in Deutschland danken, die bereit waren, so schnell und in großem Umfang zu spenden und damit Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. ({2}) Es ist auch jetzt noch notwendig zu spenden. Ich möchte auch ein herzliches Dankeschön an die Adresse all der Partnerstädte in Deutschland richten, die zum Beispiel in Nicaragua Partnerstädte haben, meine Heimatstadt Wiesbaden eingeschlossen, die eine Finanzhilfe von 100 000 DM unkonventionell und schnell zur Verfügung gestellt hat. ({3}) Das ist aktive Solidarität und Hilfe und zeigt, daß Menschen bereit sind, sich zu engagieren. Ich möchte gleichzeitig darauf hinweisen, daß wir ein Programm erarbeiten, in dem wir als nächste Stufe, also nach der unmittelbaren Nothilfe, die Finanzierung von Reparatur- und Wiederaufbaumaßnahmen vor allen Dingen der zerstörten Infrastruktur, der Brücken und der Wege, vorsehen. Das alles muß ja gemacht werden. Wir haben dafür einen Teil der Finanzmittel umgewidmet, so daß wir auch weiterhin finanzielle und technische Hilfe zur Verfügung stellen können. Und vor zwei Tagen hat der Bundesfinanzminister eine Tranche von 10 Millionen DM für die finanzielle Zusammenarbeit freigegeben, die zusätzlich für solche Wiederaufbaumaßnahmen eingesetzt werden kann. Wir prüfen zudem, ob Mittel im Umfang von 18 Millionen DM, die bisher für andere Bereiche und Regionen vorgesehen waren und nicht abgeflossen sind, entsprechend umgewidmet werden können, und erwarten auch hier die Zustimmung des Bundesfinanzministers. Vor allem aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind die finanziellen Konsequenzen überhaupt nicht zu ermessen. Ich bin froh, daß der Bundeskanzler heute morgen hier das Notwendige dazu gesagt hat. Wir müssen uns mit unseren Partnerländern dafür stark machen, daß es einen Schuldenerlaß für die betroffenen Länder gibt. ({4}) Sonst kommen sie nie mehr auf die Füße; sonst kommen sie nie mehr voran; sonst ist der Wiederaufbau nicht zu finanzieren. Ich freue mich, daß der Vorschlag, der vor allen Dingen aus kirchlichen Gruppen gekommen ist, aufgegriffen worden ist. Das ist das Allerwichtigste, was wir tun können. Als Zeichen der Unterstützung und Solidarität werden Staatsminister Ludger Volmer und ich morgen einen Hilfslieferungsflug, der Medikamente und die entsprechenden Geräte zur Wasseraufbereitung transportiert, nach Honduras und Nicaragua begleiten. Ich denke, wir tun dies mit Unterstützung des gesamten Bundestages, weil wir damit unsere Solidarität gegenüber der so schwer betroffenen Region zum Ausdruck bringen wollen. ({5}) Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir standen schon früher an der Seite Mittelamerikas. Ich weiß, wovon ich rede; ich selbst war mit christdemokratischen Kollegen aus dem Europäischen Parlament vor Jahren bei Vermittlungsgesprächen in El Salvador. Das heißt, wir waren verantwortlich dafür, daß dort Frieden möglich wurde. Wir tragen auch jetzt Verantwortung dafür, daß der Wiederaufbau vorankommt. Das ist unsere Verpflichtung. Ich freue mich, daß wir im ganzen Hause mit breiter Mehrheit zu dieser Aufgabe stehen. ({6}) Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu den Leitlinien unserer Entwicklungspolitik machen. Ich finde es interessant, daß das an vielen Punkten in unterschiedlichen Facetten immer wieder deutlich wird: Aus unserer Sicht ist der Leitgedanke der Entwicklungspolitik Friedenssicherung. Zusammenarbeit - das war meine Überzeugung, als ich für die europapolitische Arbeit zuständig war - sichert Frieden, und Zusammenarbeit sichert natürlich auch in den internationalen Beziehungen Frieden. Regionale Integration bewirkt Frieden. Das gilt für die Region Mittelamerika und andere Regionen. Es kommt darauf an, die internationalen Beziehungen zu gestalten. Herr Haussmann, Sie haben mit Ihren Bemerkungen unrecht. Wenn wir dazu beitragen, daß in die Welthandelsabkommen entsprechende soziale und ökologische Kriterien einbezogen werden, dann leisten wir einen Beitrag zur besseren internationalen Gestaltung der Beziehungen. ({7}) Ich will darauf hinweisen, wer isoliert war, als es um das Mandat zum letzten Welthandelsabkommen ging: ({8}) Das war die Bundesrepublik Deutschland. Ich kann mich nämlich erinnern, daß der zuständige EUKommissar - Frau Matthäus-Maier, Oskar Lafontaine und ich waren gemeinsam dort - sich beklagt hat - es war ein Kommissar einer konservativen Partei -, daß die Bundesregierung die einzige Regierung gewesen sei, die verhindert habe, daß in das Mandat soziale und ökologische Kriterien aufgenommen wurden. ({9}) Wir werden das tun. Das ist ein Stück friedlicher Gestaltung internationaler Beziehungen. Es geht darum, Entwicklungspolitik am Leitbild globaler nachhaltiger Entwicklung zu orientieren. Heute ist Willy Brandt mehrfach erwähnt worden. Sein Kredo, „das Überleben sichern“, beruht doch auf der Erkenntnis, daß es gemeinsame Interessen von Industrie- und Entwicklungsländern gibt. Daraus müssen wir aber auch Konsequenzen ziehen; wir müssen gemeinsam Klimaschutzprogramme in Gang setzen und dürfen den entwicklungspolitischen Haushalt nicht als Steinbruch benutzen. ({10}) Entwicklungspolitische Finanzmittel, richtig eingesetzt, sind eben friedenssichernd und stellen eine Prävention dar. In diesem Sinne, denke ich, müssen wir handeln. Denn Krisenprävention muß großgeschrieben werden. 90 Prozent der 186 Kriege, die zwischen 1945 und 1996 stattfanden, sind in der sogenannten dritten Welt ausgetragen worden. Kriege und Bürgerkriege machen jahrzehntelange Entwicklungsbemühungen zunichte. Deshalb ist es doch wahrhaft menschlicher und zivilisierter und auch ökonomisch sinnvoll und vernünftig, wenn Entwicklungszusammenarbeit zusammen mit Außenpolitik und Sicherheitspolitik dazu beiträgt, daß Kriege und Krisen gar nicht erst entstehen. ({11}) Diese Idee einer vorbeugenden Strukturpolitik verbindet uns alle, die wir in der Bundesregierung sind, und sie ist auch das Neue im Bereich der Außen-, Entwicklungsund Sicherheitspolitik. Ich habe mir einmal angesehen, wer alles im Bundessicherheitsrat sitzt: sogar - ich will jetzt keinem Kollegen zu nahe treten - das Justizministerium. Ich bin stolz darauf, daß das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung jetzt endlich einen Sitz in diesem Gremium hat. ({12}) Auch das macht das neue Denken in der Sicherheitspolitik deutlich und praktisch. Willy Brandt hat gesagt: „Entwicklungspolitik ist die Friedenspolitik des 21. Jahrhunderts.“ Ich bin stolz darauf und ich glaube, es ist unsere große gemeinsame Aufgabe, diese Entwicklungspolitik voranzubringen. Wir müssen die globalen Rahmenbedingungen aktiv geBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul stalten, dürfen sie nicht nur ertragen. Wir müssen dazu beitragen, mit all unseren Möglichkeiten, wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten abzubauen, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten. Da geht es auch um die Finanzmittel, zum Beispiel darum, ob man ein Klimaschutzprogramm in Gang setzt. - Ja, das ist notwendig und richtig eingesetzt. Da geht es um Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Ja, das ist notwendig und richtig eingesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen aber auch, daß die Strukturanpassungspolitik des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank nach Kriterien der Entwicklungsverträglichkeit und der ökologischen Nachhaltigkeit gestaltet wird. ({13}) Ich lerne - man und frau lernt ja jeden Tag dazu -, daß sich die bisherige Bundesregierung darauf beschränkte, sich zurückzuziehen und anderen Einfluß zu überlassen. ({14}) Nein, wir müssen die Möglichkeiten, die wir haben auch unsere finanziellen -, einsetzen, um mit anderen Partnern die Rolle von IWF und Weltbank aktiver zu gestalten. ({15}) Wir wollen auch die Gewährung von Exportbürgschaften stärker von sozialen, ökologischen und entwicklungsverträglichen Gesichtspunkten abhängig machen. Es ist heute hier nicht der Ort, die einzelnen Punkte und Regionen durchzudiskutieren. Und ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn das alles Sinn machen soll - und damit wende ich mich auch an Sie aus den Reihen der CDU/CSU und der F.D.P. -, was wir von „vorbeugender Politik“ reden, dann müssen wir dazu beitragen, daß dieses Feld der Entwicklungspolitik, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in das Zentrum unserer Politik und nicht an deren Rand kommt. ({16}) Dann ist Entwicklungspolitik nicht nur Aufgabe des Staates, dann geht sie einher mit dem Engagement der Gesellschaft und der Wirtschaft insgesamt. ({17}) Deshalb sollten wir, so finde ich, überlegen, wie wir öffentlich-private Partnerschaften entwickeln. Denn es ist nicht immer nur Aufgabe des Staates, Entwicklungszusammenarbeit zu leisten. Um das Bewußtsein für internationalen Zusammenhang und Verflechtung zu stärken, ist es ganz wichtig, daß wir die Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit zu diesen Fragen in unserem Land verankern und dazu die entsprechenden Finanzmittel bereitstellen. Ich freue mich zum Beispiel, Kollegin Ingrid Matthäus-Maier, daß hier in Bonn die entwicklungspolitischen Institutionen gemeinsam ihren Platz finden und zusammen mit dem zuständigen Ministerium ein Zentrum für Nord-Süd-Zusammenarbeit bilden werden. Das ist eine tolle Rolle, die die Stadt Bonn und die ganze Region erhalten. ({18}) Mein Appell geht vor allem an die NichtRegierungsorganisationen. Mit ihnen gemeinsam wollen wir unsere Arbeit leisten. Denn die Aufgaben, die vor uns liegen, müssen rechtzeitig angegangen werden. Wir dürfen nicht erst warten, bis die Situation angeblich nur noch militärisches Eingreifen zuläßt. Wir müssen frühzeitig tätig werden. Dafür sind wir gemeinsam angetreten. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der nächste Redner ist Wolfgang Gehrcke von der PDS.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsche Außenpolitik sollte Friedenspolitik sein; sie sollte zivile, nichtmilitärische Konfliktlösungen befördern und darauf verzichten, militärische und ökonomische Stärke zur eigenen internationalen Dominanz einzusetzen. Ich glaube, darin könnte sich eine Mehrheit des Hauses einig sein. Aber deutsche Außenpolitik sollte auch dazu beitragen, soziale Ungerechtigkeiten weltweit zu mindern, nachhaltige Entwicklung zu fördern, Grenzen durchlässiger zu machen, anstatt weiter an einer Festung Europa zu bauen und die Menschenrechte wirklich unteilbar zu machen. ({0}) Eine solche Außenpolitik läßt sich aber nicht nur mit „Kontinuität der letzten 16 Jahre“ beschreiben, sondern bedarf auch des Zusatzes „Veränderung“. Der Bundesaußenminister hat - wenn ich es richtig verfolgt habe - seine Politik mit den Worten „Kontinuität als Voraussetzung für Spielräume“ beschrieben. Von Kontinuität ist heute sehr viel die Rede gewesen - nach meinem Geschmack viel zuviel Kontinuität. Deswegen möchte ich etwas über Spielräume nachdenken und über Spielräume diskutieren. Im übrigen, glaube ich, darf man sich kein falsches Bild von Rotgrün machen. Wenn Rotgrün so wäre, wie Herr Glos es hier dargestellt hat, wäre mir diese Koalition sehr viel sympathischer. Aber dem ist leider nicht so. ({1}) Wenn wir über Spielräume, über Gestaltungsräume nachdenken, können wir als Beispiel Chile nehmen. Im Unterschied zu seinen Vorgängern sagte der Bundesaußenminister, daß er den chilenischen Diktator Pinochet gern vor Gericht sähe. Für diese Haltung bedanke ich mich bei Ihnen ausdrücklich, Herr Bundesaußenminister. ({2}) Sie könnte einen Bruch mit der konjunkturellen Menschenrechtspolitik der alten Regierung einleiten. Ich möchte gern davon ausgehen, daß die neue Regierung auch bereit ist, die Menschenrechte - zum Beispiel das Recht des kurdischen Volkes auf Selbstbestimmung gegen den NATO-Verbündeten Türkei - zu verteidigen und einzuklagen. ({3}) Die Regierungskoalition hat verbal Abrüstung angekündigt. Doch wer Abrüstung will, kann den Wehretat nicht zum Naturreservat erklären. Sagen Sie doch einfach und deutlich, daß die Rüstungsindustrie unsicheren Zeiten entgegengeht. Setzen Sie Signale: Stoppen Sie die Tiefflüge der Bundeswehr, zum Beispiel die Übungsflüge für Bombenabwürfe in der Wittstocker Freien Heide. Die Menschen wehren sich gegen den Mißbrauch ihrer Landschaft, wie sie sich schon zu DDR-Zeiten dagegen gewehrt haben. Lassen Sie Ihrer Ankündigung, Bemühungen zur Schaffung atomwaffenfreier Zonen zu unterstützen, konkrete Schritte folgen in Richtung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa. Ich finde auch, daß der Verzicht auf ABC-Waffen ins Grundgesetz gehört. ({4}) Neue Gestaltungsräume in der Außenpolitik würden auch die Kontrolle internationaler Währungs- und Finanzspekulationen eröffnen. Nachdenken sollten wir zum Beispiel auch über die Tobin-Steuer als marktgerechtes Instrument zur Umsteuerung: weg von kurzfristigen Spekulationen hin zu investiven Kapitalanlagen, zur Produktion, zur Nachhaltigkeit und zur Entschuldung der armen Länder. Ich fand es enttäuschend, daß der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung davon gesprochen hat, den Abwärtstrend der Entwicklungshilfe zu stoppen. Das ist zuwenig. Diesen Abwärtstrend muß man nicht nur stoppen, sondern man muß ihn umdrehen, damit man endlich Ergebnisse erhält, die insgesamt akzeptabel sind. ({5}) In der Kosovo-Frage - unabhängig davon, daß wir prinzipiell gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr sind und bleiben - erwarten wir im Moment nicht mehr und nicht weniger von der Regierungskoalition, als daß sie ihre eigene Koalitionsvereinbarung so ernst nimmt, wie wir sie ernst nehmen wollen. Ich darf aus der Koalitionsvereinbarung zitieren, wenn das auch zu Lasten meiner Redezeit geht: Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völkerrechts und des deutschen Verfassungsrechts gebunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren und die Rolle des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu stärken. Der Beschluß des 13. Deutschen Bundestages zum NATO-Kosovo-Einsatz, Ihre Zustimmung zur Selbstmandatierung der NATO, verstößt aus unserer Sicht eindeutig gegen das Völkerrecht, verletzt eindeutig das Verfassungsrecht unseres Landes und hat das Gewaltmonopol der UNO ausgehebelt. Es ist zumindest umstritten, ob die UN-Resolution zur Stationierung von Aufklärungskontingenten das völkerrechtlich abdeckt. Auf alle Fälle sind es Einsätze im Rahmen der NATO. In der nächsten Woche werden Sie von uns verlangen, Kampfeinheiten in Mazedonien zu stationieren.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Danke sehr. Die Entsendung nichtmilitärischer OSZE-Kontingente haben wir begrüßt. Dieser Einsatz wird aber entwertet, wenn die NATO als militärisch dominante Kraft die Fäden zieht. ({0}) Diesem falschen Weg verweigern wir unsere Zustimmung. Ihn werden wir nicht mitgehen, auch wenn die Einladung vom Kollegen Scharping, mitzumachen, einfach und freundlich gewesen ist. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verteidigungsminister Scharping hat vorhin in einer sehr umfassenden Rede vergessen, den letzten Satz zu sagen. Man könnte ihn bezeichnend zusammenfassen: Deutsche Politik ist Friedenspolitik. Genau dieser Satz steht auch in den Koalitionsvereinbarungen von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD. Mit Verlaub, Herr Rühe: Daß Sie das nicht nachvollziehen können, Sie, der mit Rambo-Methoden die Bundeswehr über Jahre für sich selbst instrumentalisiert hat, oder diesem Ansatz intellektuell vielleicht nicht folgen können, erstaunt mich nicht. Die neue Bundesregierung wird in der Außen- und Sicherheitspolitik neue Wege beschreiten. Wir haben festgelegt, daß dies im Rahmen der internationalen Verträge und der transatlantischen und europäischen InteWolfgang Gehrcke gration geschehen wird, daß wir Kontinuität auch in der Außenpolitik als die Grundlage für Wandel betrachten. Kontinuität - ich weiß, dieses Wort ist heute oft gefallen, aber ich werde es noch einmal erwähnen. Was heißt Kontinuität für diese neue Regierung? Kontinuität heißt für uns: Wir werden keine nationalen Alleingänge vornehmen, sondern weiter auf Integration und Kooperation setzen. Kontinuität heißt auch: Wir sind für feste Verankerung des internationalen Gewaltmonopols bei den Vereinten Nationen. Wir werden uns unter Anerkennung der gültigen NATO-Verträge sehr strittig in die Diskussion um die Veränderung der NATO-Strategie einmischen und einer generellen Klausel zur Selbstmandatierung der NATO nicht das Wort reden wie Sie, Herr Rühe, sondern versuchen, diese Umorientierung der NATO anders zu bewegen. Wir werden in der Kontinuität eine konsequente Sicherheits- und Friedenspolitik für Europa unter der Maxime „OSZE first“ praktizieren, nicht mehr nur als Lippenbekenntnis, sondern in der Praxis. Ich will aber auch sagen, was Kontinuität der Außenund Sicherheitspolitik für uns nicht bedeutet. Sie bedeutet nicht die Fortsetzung des Denk- und Diskussionsverbotes, das der ehemalige Bundesminister der Verteidigung erlassen hat. Sie bedeutet nicht, jahrelange Menschenrechtsverletzung von diktatorischen Regimen mit zugekniffenen Augen geschehen zu lassen, sondern bedeutet, eine präventive Krisenbewältigungspolitik zu entwickeln und dort zu implementieren, wo die Würde der Menschen verletzt wird. Kontinuität heißt auch nicht, weiterhin Rüstungsexporte in Länder zuzulassen, die krisengeplagt sind, die Menschenrechte mit Füßen treten. Wir werden zukünftig vielmehr auf der Grundlage des Menschenrechtsstandards unsere Rüstungsexporte bewerten bzw. einschränken und einstellen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Beer, da Sie von Kontinuität sprechen, darf ich fragen - vielleicht kommt es noch in Ihrer Rede -, ob Sie in Ihrer eigenen Politik ebenfalls Kontinuität haben werden, zum Beispiel in Ihrer Kritik an den öffentlichen Gelöbnisfeiern wie in Kiel. Ich darf mit meiner Frage das verbinden, was in den „Kieler Nachrichten“ stand. Ich wäre Ihnen für eine Auskunft dankbar, ob es erstens stimmt, was die „Kieler Nachrichten“ zur öffentlichen Gelöbnisfeier in Kiel und Ihren Aussagen dazu geschrieben haben, und ob Sie zweitens als Mitglieder einer der die Regierungskoalition tragenden Fraktionen dabei bleiben werden. Die „Kieler Nachrichten“ schreiben: . . . Angelika Beer sprach von einer „aggressiven militärischen Demonstration“, für die „öffentlicher Raum beschlagnahmt wird.“ Gemeinsam mit dem Bündnis der Gelöbnisgegner sprach sie sich für Störungen der Feier aus . . . Werden Sie das auch zukünftig machen? ({0})

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jetzt haben Sie mich echt erwischt. ({0}) Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Das gehört zu dem Bereich, zu dem ich sage: Kontinuität werden wir in dieser Form nicht weiterführen. Die Instrumentalisierung der Bundeswehr, auf dem Rücken der Rekruten Wahlkampf zu machen, mit Zwang und politischem Druck in diversen Städten in den Wahlmonaten öffentliche Gelöbnisse abzuhalten ich rede auch zu Ihnen, Herr Kollege Rühe -, diese Zeit der Kontinuität ist beendet. Wir werden keinen Wahlkampf mit der Bundeswehr machen, sondern wir werden die Bundeswehr in einen Dialog einbeziehen. Wir werden kritische Stimmen aus der Bundeswehr unterstützen, daß man sich mißbraucht fühle, nicht nur durch jene Art der öffentlichen Gelöbnisse, wie zum Beispiel in Kiel oder in Berlin, sondern auch durch die Plakatierung von Soldaten im Wahlkampf, mit der alle anderen demokratischen Parteien aus der Friedenspolitik ausgegrenzt werden. Dieser Art werden wir auch zukünftig Proteste entgegenstellen, wie immer friedlich und phantasievoll. Ich kann Sie beruhigen: Unter diesem Verteidigungsminister wird das Szenario Ihres Kollegen Rühe mit Sicherheit nicht Wirklichkeit werden. Hierzu wird es nur kommen, wenn es sicherheitspolitisch und als Signal in der Außenpolitik einen Sinn macht, aber nicht, um die eigene politische Karriere zu formulieren. Das hat der Kollege Scharping nicht nötig. ({1}) Ich möchte noch einmal auf die Frage der Rüstungsexporte zurückkommen. Herr Gehrcke, Sie haben die Türkei genannt und gefragt: Wann wird die Koalition gegen die Türkei die Menschenrechte der Kurden durchsetzen? Ich glaube, es ist falsch, zu sagen: „gegen die Türkei“. Wir müssen mit der türkischen Bevölkerung die Anerkennung der Menschenrechte der kurdischen Bevölkerung durchsetzen. Dazu gehört es natürlich, dem türkischen Militär nicht weiter militärische Güter und Waffen zur Verfügung zu stellen, dazu gehört auch eine kritische Positionierung nicht nur zur Einhaltung der Menschenrechte und zur engeren Kooperation mit der Europäischen Union, sondern dazu gehört es auch, die zivile Kontrolle über das türkische Militär durchzusetzen. Denn nur dann werden die Rechte des kurdischen Volkes Anerkennung finden. Ich möchte noch zwei Bereiche ansprechen, die wir für unabdingbar halten und die ein Zeichen setzen für die zukünftige Sicherheits- und Außenpolitik. Erstens möchte ich sagen: Wir stehen vor einer globalen Herausforderung hinsichtlich der Abrüstung. Wie kann zum Beispiel das KSE-Regime weiterentwickelt werden? Welche Anstöße braucht der stagnierende atomare Abrüstungsprozeß gerade angesichts der Verhandlungen vor den Vereinten Nationen? Wie kann erreicht werden, daß wir endlich international zu einem Verbot aller Landminen kommen? Wie können wir diesen Prozeß weiterentwickeln und international tragfähig machen? Wie reagieren wir auf die Herausforderungen der neuen technologischen Entwicklungen in bezug auf die Dual-use-Problematik und die Früherkennung von möglichen Rüstungswettläufen? Wie also können wir präventive Rüstungskontrolle zum Bestandteil aktiver Politik machen? Dies sind die zentralen Bereiche und Herausforderungen. Wir werden die Praxis und unsere Verantwortung daran messen. Wir werden - das haben wir uns gemeinsam vorgenommen - dieser Herausforderung mit offenem Gesicht entgegengehen. Der zweite Bereich sind die zivile Konfliktbearbeitung - Kollege Scharping hat dies bereits genannt - und die Frage des Aufbaues der Krisenprävention. Es ist das erste Mal, daß sich Deutschland an Peace-keeping und an Peace-building beteiligen wird. Wir werden „Schüler helfen leben“, zivile Friedensdienste fördern, um eben, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist, zu zeigen, daß wir aufmerksam sind, daß wir reagieren, daß wir agieren, daß wir international intervenieren, unterhalb der militärischen Schwelle. Das ist doch das Defizit der Politik gewesen, die Sie, Herr Rühe, in den letzten Jahren mitzuverantworten hatten. Zum Schluß möchte ich auf den Kosovo eingehen. Der Kosovo hat uns hier schon mehrmals beschäftigt, allerdings viel zu spät. Die Opposition - SPD wie Grüne - hat vor zehn Jahren die ersten Anträge eingebracht, um auf die massivsten Menschenrechtsverletzungen im Kosovo hinzuweisen. Während der Dayton-Verhandlungen hat die damalige Opposition darauf hingewiesen, daß im Kosovo ein gefährlicher Konfliktherd entsteht. Es gab nichts als Arroganz und einen Aktenzerreißer auf der Hardthöhe, der gesagt hat: Interessiert uns nicht. Der letzte Beschluß zum Kosovo war ein Bruch in der Kontinuität der bisherigen Außenpolitik, weil er nicht auf eindeutiger Grundlage der Vereinten Nationen gefaßt worden ist. Aber ich sage auch - das sage ich auch als Vertreterin der Grünen-Fraktion -: Wir werden wohlwissend um die Defizite der Vergangenheit heute die Verantwortung übernehmen. Es werden weder die dort lebenden Menschen noch jene, die im Rahmen der OSZE dort eingesetzt werden, für eine unverantwortliche Politik zu büßen haben, die die bisherige Regierung zu verantworten hat. ({2}) Wir werden dem Abkommen, das heißt der OSZEDelegation und der Luftüberwachung, zustimmen, mehr noch: Wir werden uns dafür einsetzen, daß Mittel freigestellt werden, damit wir im Rahmen des Open-SkiesVertrages wieder eine Tupolew oder ein anderes Flugzeug einsetzen können, um im präventiven Bereich eine aktive OSZE-Politik zu betreiben. Sie, Herr Rühe, haben das Geld dafür verweigert. Wir werden auch einem Mandat für einen militärischen Einsatz zustimmen, den wir hoffentlich verhindern können; denn wenn wir mutige Zivilisten haben, die sagen, daß sie ohne Waffen in diese Region hineingehen, wo auch heute noch jeden Tag Auseinandersetzungen stattfinden, dann haben Sie das Recht und wir die Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Menschen, wenn Milosevic oder andere wieder ihr Wort brechen, gerettet werden. Das ist die Verantwortung, vor der wir stehen. Deswegen werden wir dem Einsatz auch zustimmen. ({3}) Zum Ende noch eine Bemerkung, Herr Kollege Rühe. Ich will nicht zuviel Zeit auf Ihre Beiträge, die heute relativ substanzlos waren, verwenden. Sie werden es nicht schaffen, die neue Koalition in der Frage der Kommission, die die Zukunft der Bundeswehr, die politischen Aufgaben, die Struktur und die Ausrüstung für das 21. Jahrhundert bestimmen wird, zu spalten. Wir werden ein Ergebnis haben, auch wenn das Ergebnis heute offen ist. Das Ergebnis wird das sein, was Sie immer verhindert haben: Es wird darin bestehen, daß der Bundeswehr eine Struktur und ein Auftrag gegeben werden, die nicht nur vom Verteidigungsminister, sondern auch von der Bundeswehr selber, von dem Parlament, also von der Politik, und von der Gesellschaft getragen werden; denn nur so können wir auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts eine verläßliche Antwort geben. Darum werden wir uns gemeinsam bemühen. Da können Sie querschlagen, wie Sie wollen. Diese Zeiten sind vorbei. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Gernot Erler von der SPD.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Debatte war mehrfach von dem Grundkonsens in der Außen- und Sicherheitspolitik die Rede. Ich möchte eines hier klarstellen: Man kann sich mit der Interpretation von verschiedenen Teilen des Hauses nicht einverstanden erklären, daß ein solcher Grundkonsens etwa signalisiere, daß es einer neuen Regierung an Innovation und an Ideen mangele oder daß sie pauschal alles, was bisher gewesen ist, gutheiße. Aus meiner Sicht ist ein möglichst breiter Grundkonses in der Außen- und Sicherheitspolitik ein Signum eines zivilisierten, demokratischen Staatswesens. ({0}) Es lohnt sich, auf jeden Fall große Anstrengungen zu unternehmen, um daran festzuhalten. Ich will eines gleich anfügen: Das Bemühen um diesen Grundkonsens ist wesentlich auch Aufgabe der Opposition. Darum haben wir uns in den letzten Jahren in der Opposition bemüht. Es gibt jetzt auch eine Bringschuld von Ihnen, sich um diesen Grundkonsens zu bemühen. ({1}) Kontinuität besteht nicht nur in der Arbeit um Vertrauen im Ausland; vielmehr gibt es auch Spielräume - auch das steht in der Koalitionsvereinbarung - in der Kontinuität für neue Initiativen und für neue Impulse. Ich möchte hier drei Felder nennen, die mir sehr wichtig erscheinen: Das erste ist das, was ich den gesamteuropäischen Integrationsprozeß nennen möchte, bestehend aus dem Erweiterungsprozeß der Europäischen Union und dem der westlichen Allianz, der NATO. Was noch nicht alle genügend gespürt haben, so glaube ich, ist, daß 1998 in dem gesamteuropäischen Integrationsprozeß eine neue Phase begonnen hat. Definitiv geht eine Phase zu Ende, in der es möglich und auch üblich war, in die Hauptstädte der Transformationsstaaten zu fahren und dort wohlwollende Bekenntnisse abzugeben. Dadurch konnte man sehr preiswert Zustimmung und populäre Erfolge erringen, aber ohne eine dahinterstehende Substanz. Diese Phase geht definitiv zu Ende, denn seit mehreren Monaten läuft die Vorverhandlungsphase. Jetzt - buchstäblich heute - beginnt offiziell die Verhandlungsphase gleich zu solch wichtigen Themen wie Telekommunikation, Bildung, Wissenschaft, Forschung, Industriepolitik und anderem, insgesamt zu sieben verschiedenen Kapiteln. Ende letzter Woche sind uns die ersten der sogenannten Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission vorgelegt worden. Das heißt, jetzt wird die Frage der Anpassungsleistung der Transformationsstaaten objektiviert. Das ist eine neue Phase, denn jetzt wird das konkret gemessen, was man Strukturreife nennt. Das ist eine immense Arbeit dieser Transformationsstaaten, die, was ihre marktwirtschaftliche Reife angeht, ordnungspolitische Kriterien vorweisen müssen, die zeigen müssen, ob sie es schon geschafft haben, die 200 000 Seiten Text der Rechtsangleichung mit mehr als 14 000 Rechtsakten übernommen und an ihre Gesellschaft angepaßt zu haben, und die zeigen müssen, ob sie gesamtwirtschaftliche und monetäre Stabilität haben - sogar in Richtung der Maastricht-Kriterien. Diese Fortschrittsberichte zeigen erhebliche Fortschritte der betroffenen Länder, aber eben auch erhebliche Entwicklungsrückstände, die sehr ernst zu nehmen sind. Dazu nur eine Zahl: Die fünf in der ersten Reihe stehenden mittel- und osteuropäischen Staaten, mit denen jetzt konkret verhandelt wird, bringen bisher mit 180 Milliarden Ecu 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union auf. Sie stellen aber gleichzeitig 62,6 Millionen Menschen und damit 16,8 Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union. In diesen Zahlen liegt eine enorme Spannung, denn darin spiegelt sich der riesige Abstand des Lebensniveaus, das sich aus Pro-Kopf-Einkommen und Kaufkraft definiert. Noch immer liegen alle Beitrittsaspiranten aus Mittel- und Osteuropa weit hinter den schwächsten Mitgliedern der Europäischen Union. Estland zum Beispiel, ein vielgelobtes Reformland, erreicht nicht mehr als 22 Prozent des Durchschnittsniveaus der EU, Slowenien nicht mehr als 59 Prozent. Das heißt, daß ein Aufholen dieser Einkommensrückstände notwendig und wichtig ist, weil in der EU bis heute das Prinzip der Struktur- und Kohäsionsfonds gilt, das greifen muß, wenn die Abstände bei Regionen weniger als 75 Prozent, bei Ländern sogar weniger als 90 Prozent betragen. In den letzten beiden Jahren wurden für diese Fonds durchschnittlich 35 Milliarden Ecu aufgewandt. Man hat ausgerechnet, daß, wenn heute die erste, die fortgeschrittene Gruppe, mit der im Moment verhandelt wird, der EU beitreten würde, Ausgleichszahlungen von 20 bis 45 Milliarden Ecu notwendig wären. Das ist eine Verdoppelung dieses Etats - völlig unrealistisch und politisch auch gar nicht durchsetzbar. Das heißt, wir haben eine neue Phase. Denn jetzt geht es darum, zu fragen: Wie greifen die konkreten Anpassungshilfen, zum Beispiel die aus dem Heranführungstopf von 22 Milliarden Ecu? Was tun wir denn konkret, um in der sogenannten Beitrittspartnerschaft auch in der zweiten Fünfergruppe die Anpassung mit der sogenannten Aufholfazilität zu unterstützen, die schon viel bescheidener ist, nämlich 100 Millionen Ecu für zwei Jahre? Man hört leider, daß sich diese Programme trotz dieser Bemühungen verzögern. Da habe ich eine andere Auffassung als Sie, Herr Rühe. Ich glaube nicht, daß man Herrn Fischer raten sollte, mit neuen, erfundenen Beitrittszahlen zu operieren. Diese Zeit geht zu Ende. Statt gebetsmühlenhaft abstrakte Unterstützung zu versichern und dafür kostenlos Beifall einzuheimsen, müssen wir jetzt zeigen, daß wir bereit sind, die Ärmel in der Europäischen Union aufzukrempeln, um die Länder auf diesem schwierigen Weg zu Gleichrangigkeit und vor allen Dingen Wettbewerbsfähigkeit konkret zu unterstützen. Das - nicht die abstrakte Nennung von Beitrittsdaten - ist die Herausforderung des Tages. ({2}) Dazu gehört übrigens auch, daß endlich - dazu muß die Bundesrepublik einen konkreten Beitrag leisten - die Hausaufgaben der Europäischen Union gemacht werden. Es ist noch gar nicht erreicht, daß wir selber, die 15, tatsächlich integrationsfähig sind. Hier muß noch vieles in den Entscheidungsgremien geändert werden. Zum Beispiel muß der ganze Bereich des Agrarmarkts geändert und reformiert werden; sonst besteht dort keinerlei Integrationsfähigkeit. Das Ziel muß dabei sein, daß neue Grenzziehungen durch Europa verhindert werden. Der Abstand im Geleitzug bei der europäischen Integration darf nicht zu groß werden. Die Warnsignale aus Südosteuropa teilen uns mit, wie wichtig das ist. Ein zweiter Punkt, wo neue Impulse notwendig sind: Ich glaube, wir müssen unsere Politik gegenüber der Russischen Föderation kritisch überprüfen. Die Beziehungen müssen eine breitere Grundlage bekommen. Das sagen uns auch viele Fachleute. Ich will hier nicht die alte Frage aufwerfen, wie wichtig ganz persönliche BeGernot Erler ziehungen zwischen zwei ganz wichtigen Personen waren und sind. Sie hatten sehr positive Seiten. Aber jetzt ist es an der Zeit, die Beziehungen zu diesem wichtigen Nachbarn auf eine andere, auf eine breitere Grundlage zu stellen. ({3}) Wir müssen die Stimmen derjenigen, die aus der Staatsduma und aus dem Föderationsrat kommen, aufgreifen, die sagen, daß sie gerne engere Beziehungen mit dem Deutschen Bundestag, vor allen Dingen auf der fachlichen Ebene, haben wollen. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß es heute ganz andere wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräfte mit großem Einfluß in einem sich ändernden politischen System in Rußland gibt, die uns herausfordern. Wir müssen aber auch die Politik der internationalen Finanzorganisationen, von IWF und Weltbank, auf ihren Sinn und ihre Wirksamkeit überprüfen. Da erscheinen gerade in diesem Jahr große Fragezeichen. Es gibt - auch das ist etwas, was wir als Regierung in der neuen Legislaturperiode übernommen haben - eine Baustelle, was die Erfüllung der sehr wichtigen NATORußland-Grundakte angeht. Es gibt einen positiven Aspekt: Die Zusammenarbeit in dem Ständigen Gemeinsamen Rat funktioniert gut. Aber in der Akte stand auch etwas über KSE und über eine neue Rolle der OSZE. Gerade das ist noch nicht erfüllt. Es handelt sich um ein dickes Paket von innovativen Aufgaben in der Außen- und Sicherheitspolitik für die nächsten Jahre. Ich komme zu einem dritten Punkt, den man unter dem Stichwort „präventive Friedenspolitik“ zusammenfassen kann. Ich sage noch einmal: Das, was in Südosteuropa, was in Albanien, was jetzt im Kosovo passiert, zeigt eben leider, daß die Instrumente, die wir hier geschaffen haben, noch nicht ausreichen. Abrüstung ist auch heute noch kein Thema von gestern. Die Atomwaffentests in Indien und Pakistan waren für uns eine Warnung, daß Nichtverbreitungsziele und die Eigenverpflichtung zu Abrüstung der offiziellen Atommächte siamesische Zwillinge sind und daß man dies gar nicht unabhängig voneinander behandeln kann. Es ist auch klar - das ist wichtig -, daß die Rüstungskontrolle und die Rüstungsexportpolitik einer strengen Kontrolle dieses Parlaments bedürfen. Ich kann die Aussage in der Koalitionsvereinbarung nur begrüßen, daß ein Instrument, mit dem wir bei der Abrüstung gute Erfahrung gemacht haben, nämlich der Jahresabrüstungsbericht, jetzt auch durch einen jährlichen Rüstungsexportbericht ergänzt werden soll. Ich persönlich bin ein bißchen besorgt. Es ist gut, daß die NATO jetzt in der Kosovo-Krise innerhalb von wenigen Wochen die Fähigkeit demonstriert hat, eine glaubwürdige Bedrohung gegenüber Herrn Milosevic aufzubauen, bis hin zur Einsatzfähigkeit von 450 Kampfflugzeugen. Das hat nur wenige Wochen gedauert. Es ist gut, daß es diese Möglichkeit gibt. Aber der zweite Teil, den auch Sie, Herr Rühe, und andere hier angeführt haben und den auch Rudolf Scharping, der Verteidigungsminister, sehr ausführlich beschrieben hat, ist genauso wichtig. Es geht zum Beispiel um die Fähigkeit, die Einhaltung dieser Verträge zu beobachten und zu kontrollieren. Da stellen wir eben fest, daß die OSZE offensichtlich nicht die Möglichkeit hat, in kürzester Frist eine bescheidenere Aufgabe wahrzunehmen, nämlich 2 000 Beobachter in Gang zu setzen. Hier wird also deutlich, daß wir die Fähigkeit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, solche Aufgaben tatsächlich wahrzunehmen, bis hin zu den Instrumenten ausbauen müssen. Nur die Kombination dieser beiden Elemente führt schließlich zum Erfolg. ({4}) Hinsichtlich der Entwicklungszusammenarbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann ich mich kurz fassen, weil Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul schon einiges dazu gesagt hat. Bei der Entwicklungszusammenarbeit handelt es sich, sehen wir einmal von der Soforthilfe ab, die in diesen Tagen wieder erforderlich wird, letztlich auch um die wirksamste globale präventive Friedenspolitik. ({5}) Die Koalitionsvereinbarung bekennt sich - das betone ich noch einmal ausdrücklich auch in Richtung von Herrn Gehrcke, der hier Zweifel geäußert hat - zu dem Ziel, den Aufwand für die Entwicklungszusammenarbeit auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts anzuheben, und verspricht, die Verpflichtungsermächtigung kontinuierlich zu erhöhen. Wir werden als Bundestag darauf achten, daß das auch so durchgesetzt wird. Entscheidend ist, daß die Entwicklungszusammenarbeit nicht eine Art Wettbewerbsinstrument für bessere Außenwirtschaftsdaten der Bundesrepublik ist, sondern wirklich in den Kontext der Bildung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung gesetzt wird. Die Lehre der Globalisierung heute heißt, daß es keine Inseln von Prosperität und Sicherheit mehr geben kann, sondern daß wir bei globalisierten Märkten davon abhängig sind, ob Gerechtigkeit überall herrscht oder nicht. Anderenfalls fällt die Ungerechtigkeit auf uns zurück: Wenn ganze Weltregionen marginalisiert werden, dann ist auch bei uns Marginalisierung nicht mehr aufzuhalten. Es stellt eine sehr große Herausforderung dar, diesen Zusammenhang zu begreifen und in konkrete Politik umzusetzen. Das sind nur drei Beispiele von gestalteter Kontinuität in der Außenpolitik. Auf dieser Seite des Hauses sitzen viele erfahrene Leute. Vorhin saß hier noch Herr Kinkel. Jetzt sitzt hier noch Herr Rühe. Ich sehe auch noch andere kompetente Leute, zum Beispiel den Kollegen Dr. Pflüger, mit dem wir und ich persönlich sehr gut in Abrüstungsfragen zusammengearbeitet haben. Ich greife die Bemerkungen über den Sinn eines Grundkonsenses in der Außen- und Sicherheitspolitik auf: Wir bieten Ihnen an, diese schwierigen Aufgaben gemeinsam anzunehmen, und wollen dabei auch sehr gerne von Ihren Erfahrungen und Kenntnissen profitieren und in diesem Sinne zusammenarbeiten. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner hat der Kollege Rudolf Bindig von der SPD das Wort.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Koalitionsvereinbarung heißt es zum Thema Menschenrechtspolitik: Achtung und Verwirklichung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamierten und in den Menschenrechtsverträgen festgeschriebenen Menschenrechte sind Leitlinien für die gesamte internationale Politik der Bundesregierung. Ich freue mich, daß aus den Reden mehrerer Regierungsmitglieder heute bereits hervorgegangen ist, daß sie ihre Politik wirklich unter diese Leitlinie stellen wollen. Das gilt für den Außenminister, für den Verteidigungsminister und auch für die Entwicklungsministerin. Menschenrechtsarbeit erfordert sicherlich zunächst einmal Betroffenheit. Man muß sich darüber empören können, daß es Verfolgung und Unterdrückung gibt, aber auch darüber, daß es Armut und Not auf der Welt gibt. Der Satz, der heute hier schon mehrfach zitiert worden ist, gilt in besonderem Maße für die Menschenrechte: Was du nicht willst, daß man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu. Bei den Menschenrechten müßte es vielleicht besser heißen: Laß‘ nicht zu, daß andere gequält und unterdrückt werden, daß andere in Not und Elend leben müssen, denn so willst auch du nicht behandelt werden. Aber Menschenrechtsarbeit darf nicht bei der Betroffenheit und der Kritik stehenbleiben. Menschenrechtsarbeit muß sich insbesondere darauf ausrichten, zu überlegen, wo wir denn, wenn die Situation so schlecht ist, wie sie ist, Ansatzpunkte finden können, um etwas zu verändern und zu verbessern. Da müssen immer wieder neue Initiativen ergriffen werden. Zwei wichtige Neuerungen hat es im Zusammenhang mit der Bildung dieser Koalition gegeben, für die wir lange Jahre gearbeitet haben. Es wurde beschlossen, im Deutschen Bundestag einen ordentlichen Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe einzusetzen. Damit wird deutlich, daß wir dem Menschenrechtsbereich wachsende Bedeutung zumessen. Bis 1987 sind diese Fragen zusammen mit der Außenpolitik, mit der Innen- und bei Rechtspolitik diskutiert worden. Von 1987 bis 1998 hat es einen Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Auswärtigen Ausschusses gegeben. Jetzt richten wir diesen ordentlichen Ausschuß ein. Wir haben damit diesen Bereich im Deutschen Bundestag als einen eigenständigen Politikbereich etabliert; dennoch müssen hier Querschnittsaufgaben wahrgenommen werden. Das ist wichtig. Das genaue Aufgabenfeld für diesen Ausschuß wird sich aus der praktischen Arbeit ergeben. Ich kann mir gut vorstellen, daß er sich mit Fragen der Weiterentwicklung der internationalen und nationalen Instrumente des Menschenrechtsschutzes und der deutschen Menschenrechtspolitik im multilateralen und bilateralen Rahmen, mit den menschenrechtsrelevanten Aspekten der Außen- und Sicherheitspolitik, der Wirtschafts- und Außenwirtschaftspolitik sowie der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aber auch mit den menschenrechtsrelevanten Aspekten der Asyl- und Flüchtlingspolitik und schließlich mit Fragen der humanitären Hilfe beschäftigt. Eine zweite Maßnahme wurde beschlossen: Die Bundesregierung soll die Einrichtung eines politisch unabhängigen und organisatorisch eigenständigen Menschenrechtsinstituts in Deutschland unterstützen. Die alte Mehrheit konnte sich dazu noch nicht durchringen. Sie wollte einen Koordinierungsrat gründen. Wir haben dagegen gesagt, daß schon im Vorfeld, um eine bessere Zuarbeit zu erhalten, ein Instrument geschaffen werden muß, welches mit den Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten und Politikberatung vornehmen kann. Dieses wird jetzt geschaffen werden. ({0}) Eine operativ angelegte Menschenrechtspolitik ist unserer Auffassung nach Ausdruck der Bereitschaft zur globalen zivilen Verantwortung. Wir müssen die Menschenrechtsfrage mit der Globalisierungsdebatte verbinden. Menschenrechte sind das globale Ethos, nach dem immer gefragt wird. Was in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in den internationalen Menschenrechtspakten festgelegt ist, kann der Maßstab für eine wertorientierte Zielsetzung der gesamten internationalen Friedenspolitik werden. Wichtig ist neben der Entwicklung der politischen Instrumente aber auch die Förderung der Verrechtlichung der Menschenrechte. Im System des Europarates ist hier ein wichtiger Fortschritt erreicht worden. Ab November arbeitet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als ständiger Gerichtshof mit hauptamtlichen Richtern. Die bisherige Mischung eines politisch administrativen Verfahrens mit einem rechtlichen Verfahren weicht einem hauptsächlich rechtlichen Verfahren. Dies ist ein Durchbruch im Völkerrecht. ({1}) Es ist wirklich ein historisches Ereignis gewesen, daß sich 40 Länder direkt und unmittelbar der Rechtsprechung eines übernationalen Gerichtes unterwerfen. Bis es beim Internationalen Strafgerichtshof soweit ist, wird es noch einige Zeit dauern. Hier geht es jetzt darum, die Ratifizierung voranzubringen. Wir werden uns darum intensiv bemühen müssen. Wir wollen auch UN-Institutionen weiter stärken: den UN-Hochkommissar für Menschenrechte und das Menschenrechtszentrum in Genf. Hier geht es vor allen Dingen darum, Feldoperationen wie die Einrichtung von Menschenrechtsbüros zu unterstützen. Im Rahmen des Europarates geht es darum, das Mandat des Kommissars für Menschenrechte zu definieren und festzuschreiben und diese Institution dann auch mit den ausreichenden Mitteln zu versehen. Es hat keinen Zweck, Einrichtungen im internationalen Bereich zu schaffen, die dann dahinkümmern müssen, weil sie nicht in der Lage sind, entsprechend zu arbeiten. Natürlich ist es wichtig, zuerst das Instrument zu schaffen; wenn es dann aber da ist, bedarf es der Unterstützung. Wir hoffen, daß es gelingt, auch von Deutschland aus diese Unterstützung voranzubringen. Wir hoffen, in den UN aus Anlaß des 50. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine Resolution zum Schutz der Menschenrechtsverteidiger und der Menschenrechtsaktivisten zuwege zu bringen. Es ist leicht, sich in einer Demokratie, in der man sicher lebt, für die Menschenrechte einzusetzen, aber ich respektiere immer ganz besonders diejenigen, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens bereit sind, für Menschenrechte und Demokratie zu kämpfen. Sie zu unterstützen und einen Schutzschirm aufzubauen ist ein wichtiges Ziel. ({2}) Im operativen Bereich können wir sicherlich noch einiges tun, um dafür zu sorgen, daß wir dann, wenn die internationalen Organisationen - sei es die OSZE, der Europarat oder die UN - Experten brauchen, die in die Länder gehen, um Wahlbeobachtungen zu machen oder Verifizierungsaufgaben wahrzunehmen, auch Fachleute zur Verfügung stellen können. In Kanada gibt es eine bemerkenswerte Einrichtung, die Personal zur Verfügung stellt: Canadem. Das ist ein Kunstwort aus „Canada“ und „democracy“. Vielleicht können wir etwas Ähnliches bei uns schaffen. Auch nach innen gerichtet wollen wir uns um die Menschenrechte kümmern. Da gibt es noch einige Grenzbereiche im Asyl- und Flüchtlingsbereich. Ich möchte das Flughafenverfahren nennen. Ebenso sollten wir uns die Bereiche noch einmal genau ansehen, in denen Menschen, insbesondere Ausländer, in Gewahrsam sind. ({3}) Wir sollten auch überlegen und prüfen, ob es nicht Möglichkeiten gibt, im Zivildienst für Menschenrechte tätig zu werden. Eine weitere Aufgabe ist die Förderung der Menschenrechtserziehung in Deutschland. Es gibt also eine Menge zu tun. Einiges haben wir bereits eingeleitet, anderes haben wir uns vorgenommen. Es ist ein anstrengendes und anspruchsvolles Programm. Wir werden uns gemeinsam bemühen, es umzusetzen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Bundesregierung zur deutschen Beteiligung an der NATO-Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo auf Drucksache 14/16 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 11. November 1998, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.