Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und
Herren, die Sitzung ist eröffnet.
({0})
Eine beispiellose, in ihren Ausmaßen und Wirkungen
unvorstellbare Naturkatastrophe hat in der vergangenen Woche die vier mittelamerikanischen Staaten El
Salvador, Honduras, Guatemala und Nicaragua getroffen. Die von einem Tropensturm ausgelösten Überschwemmungen, Erdrutsche und Schlammlawinen haben in diesen Ländern einen großen Teil der Ernten,
Nahrungsmittelvorräte und darüber hinaus fast die gesamte Infrastruktur vernichtet. In letzten Meldungen ist
von rund 12 000 Toten und 13 000 vermißten Personen
die Rede. 3 Millionen Menschen sind obdachlos und leben unter freiem Himmel. Hunger und Seuchen bedrohen unmittelbar nach der Katastrophe die Überlebenden.
Die Zerstörung der Verkehrswege hat zur Folge, daß
Hilfslieferungen, die die internationale Staatengemeinschaft und die Hilfsorganisationen leisten, nur mühsam
und verspätet zu den bedrohten Menschen geschafft
werden können. Die am stärksten betroffenen Länder
sind von der Katastrophe um mehrere Jahrzehnte in ihrer
Entwicklung zurückgeworfen worden.
Ich möchte an dieser Stelle an die Hilfs- und Spendenbereitschaft der deutschen Bevölkerung appellieren,
die notleidenden, von Hunger und Seuchen bedrohten
Menschen in den mittelamerikanischen Staaten weiterhin zu unterstützen. Vergegenwärtigen wir uns die dort
herrschende Not, so werden manche unserer Sorgen und
Probleme - sosehr sie uns auch im Einzelfall drücken ziemlich klein. Eine zusammenwachsende Welt macht
uns bewußt, daß Not und Elend, auch wenn sie weit von
unserer Haustür entfernt sind, uns nicht gleichgültig lassen dürfen.
Ich möchte die in Mittelamerika leidenden Menschen
unserer Hilfsbereitschaft versichern. Den Parlamenten
der betroffenen Staaten, den Verletzten, Erkrankten und
Hinterbliebenen drücke ich im Namen des Deutschen
Bundestages unser tiefempfundenes Mitgefühl aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der vorletzten
Woche ist unser ehemaliger Kollege und Vizepräsident
Heinz Westphal verstorben. Wir werden seiner in einem Staatsakt am 19. November 1998 gedenken. Die
Einladung geht Ihnen gesondert zu.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 1 und 2 auf:
Regierungserklärung des Bundeskanzlers mit
anschließender Aussprache
Beratung des Antrags der Bundesregierung Deutsche Beteiligung an der NATO-Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo
- Drucksache 14/16 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({1})
Rechtsausschuß
Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
heutige Generaldebatte im Anschluß an die Regierungserklärung mit den Themenbereichen Europa, Außenund Sicherheitspolitik sowie Entwicklungspolitik und
Menschenrechte bis 16 Uhr dauern. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
Herr Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstmals in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben
die Wählerinnen und Wähler durch ihr unmittelbares
Votum einen Regierungswechsel herbeigeführt.
({0})
Sie haben Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen beauftragt, Deutschland in das nächste Jahrtausend
zu führen. Dieser Wechsel ist Ausdruck demokratischer
Normalität und Ausdruck eines gewachsenen demokratischen Selbstbewußtseins. Ich denke, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können alle stolz darauf
sein, daß die Menschen in Deutschland rechtsradikalen
und fremdenfeindlichen Tendenzen eine deutliche Abfuhr erteilt haben.
({1})
An dieser Stelle möchte ich noch einmal meinem
Vorgänger im Amt, Herrn Dr. Helmut Kohl, für seine
Arbeit und für seine noble Haltung bei der Amtsübergabe danken.
({2})
Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Die Menschen
erwarten, daß eine bessere Politik für Deutschland gemacht wird. Wir wissen: Ökonomische Leistungsfähigkeit ist der Anfang von allem. Wir müssen Staat und
Wirtschaft modernisieren, soziale Gerechtigkeit wiederherstellen und sie sichern, das europäische Haus wirtschaftlich, sozial und politisch so ausbauen, daß die gemeinsame Währung ein Erfolg werden kann. Wir müssen die innere Einheit Deutschlands vorantreiben; und
vor allem und bei allem: Wir müssen dafür sorgen, daß
die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt wird, daß bestehende Arbeitsplätze erhalten bleiben und neue Beschäftigung entsteht.
({3})
Dafür brauchen wir neue Unternehmen, neue Produkte, neue Märkte und vor allen Dingen schnellere Innovation. Wir brauchen eine bessere Ausbildung und eine Steuer- und Abgabenpolitik, die vor allem die Kosten
der Arbeit entlastet.
Diese Bundesregierung wird die Probleme schultern,
und sie wird die schöpferischen Kräfte, die es in unserem Land überreich gibt, mobilisieren.
Die Bedingungen, unter denen wir an den Start gehen, sind alles andere als günstig.
({4})
Entgegen dem, was gelegentlich von der Opposition im
Haus verbreitet wird, hat uns die alte Bundesregierung
keineswegs ein bestelltes Haus hinterlassen.
({5})
Das Ergebnis unseres vorläufigen Kassensturzes zeigt
den Ernst der finanzpolitischen Lage.
({6})
Die Verschuldung des Bundes ist auf weit über 1 Billion
DM getrieben worden. Der laufende Bundeshaushalt ist
mit Zinsverpflichtungen von mehr als 80 Milliarden DM
belastet. Das heißt, jede vierte Mark, die der Bund an
Steuern und Abgaben einnimmt, muß für diese gewaltigen Zinslasten ausgegeben werden. Hinzu kommt - ich
muß das sagen, auch wenn es Ihnen nicht paßt -: Milliardenschwere Haushaltsrisiken wurden ignoriert;
({7})
Einnahmen wurden zu hoch veranschlagt; Ausgaben
wurden zu niedrig veranschlagt: Jahrelang hat man den
Haushalt nur durch Einmaleffekte ausgeglichen. Deren
Wirkung ist gleich wieder verpufft. Die großen Haushaltslasten aber, die schwerwiegenden strukturellen Probleme des Bundeshaushaltes, hat man einfach in die Zukunft verlagert.
({8})
Nach den jetzt ermittelten Zahlen müßte die jährliche
Neuverschuldung mittelfristig um bis zu 20 Milliarden DM höher ausgewiesen werden, als Sie, Herr
Waigel, das im Finanzplan gemacht haben. Das ist Ihr
Problem, und das belastet jeden, der damit fertig werden
muß.
({9})
Meine Damen und Herren, das kann und will ich
nicht akzeptieren. Deshalb sage ich gleich am Anfang
dieser Regierungserklärung: Diese finanzielle Erblast,
die uns hinterlassen worden ist, zwingt uns zu einem
entschlossenen Konsolidierungskurs.
({10})
Wir werden angesichts dessen, was wir vorgefunden haben, um strukturelle Eingriffe nicht herumkommen. Alle
Ausgaben des Bundes müssen auf den Prüfstand.
({11})
Der Staat muß zielgenauer und vor allen Dingen wirtschaftlicher handeln.
Der Mißbrauch staatlicher Leistungen muß eingedämmt werden. Subventionen und soziale Leistungen
werden wir stärker als bisher auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren.
({12})
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns nicht,
daß wir alles in kurzer Zeit schaffen. Aber sie haben einen Anspruch darauf, daß wir nicht nur reden - wie das
bisher getan worden ist -, sondern auch handeln.
({13})
Wir haben gesagt: Wir wollen nicht alles anders, aber
vieles besser machen. Daran werden wir uns halten. Das
sagen wir denen, die heute die Schlachten des Wahlkampfes noch einmal schlagen wollen. Das scheint auch
auf der rechten Seite des Hauses so zu sein. Nur, besonders erfolgreich sind Sie nicht gewesen. Das werden Sie
zugeben müssen.
({14})
Da gibt es diejenigen, die schon wieder Schwarzmalerei betreiben und diesen lähmenden Pessimismus verbreiten, der unser Land lange genug gehindert hat, die
nötigen Schritte zur Anpassung an die Wirklichkeit zu
tun. Aber das rufen wir auch denjenigen zu, die meinen,
das jetzt Beschlossene gehe nicht weit genug.
Wir wollen die Gesellschaft zusammenführen, die tiefe soziale, geographische, aber auch gedanklichkulturelle Spaltung überwinden, in die unser Land geraten ist.
({15})
Wir werden Deutschland entschlossen modernisieren
und die innere Einheit vorantreiben. Voraussetzung dafür ist eine schonungslose Beurteilung der Lage, aber
auch und vor allem das Besinnen auf die Stärken der
Menschen in unserem Land und das Zutrauen darauf,
daß wir es schaffen können.
Dieser Regierungswechsel ist auch ein Generationswechsel im Leben unserer Nation. Mehr und mehr wird
unser Land heute gestaltet von einer Generation, die den
zweiten Weltkrieg nicht mehr unmittelbar erlebt hat. Es
wäre nun gefährlich, dies als einen Ausstieg aus unserer
historischen Verantwortung mißzuverstehen. Jede Generation hinterläßt der ihr nachkommenden Hypotheken,
und niemand kann sich mit der „Gnade“ einer „späten
Geburt“ herausreden.
({16})
Für manche ist dieser Generationswechsel eine große
Herausforderung. Schon ein Blick auf die Regierungsbank oder auch in dieses Parlament zeigt, was die große
Mehrheit unter uns politisch geprägt hat. Es sind die
Biographien gelebter Demokratie.
Wir haben den kulturellen Aufbruch aus der Zeit der
Restauration miterlebt und mitgemacht. Viele von uns
waren in den Bürgerbewegungen der 70er und
80er Jahre engagiert. Die ehemaligen Bürgerrechtsgruppen aus der DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen
Sozialdemokraten die friedliche Revolution mitgestaltet
haben,
({17})
sind an dieser Regierung beteiligt.
({18})
Diese Generation steht in der Tradition von Bürgersinn und Zivilcourage. Sie ist aufgewachsen im Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen und im Ausprobieren
neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle. Jetzt ist
sie - und mit ihr die Nation - aufgerufen, einen neuen
Pakt zu schließen, gründlich aufzuräumen mit Stagnation und Sprachlosigkeit, in die die vorherige Regierung
unser Land geführt hat.
({19})
An ihre Stelle setzen wir eine Politik, die die Eigenverantwortlichkeit der Menschen fördert und sie stärkt. Das
verstehen wir unter der Politik der Neuen Mitte.
Diesen Weg werden wir partnerschaftlich beschreiten. Jeder im In- und Ausland kann sich darauf verlassen, daß diese Regierung zu ihrer politischen, aber eben
auch zu ihrer sozialen Verantwortung steht. Die Hoffnungen, die auf uns ruhen, sind fast übermächtig.
({20})
Aber eine Regierung allein kann das Land nicht verbessern. Daran müssen alle mittun. Je mehr Menschen sich
mit ihrer Initiative und ihrer Leistungsbereitschaft an der
Reform unserer Gesellschaft beteiligen, desto größer
werden die Erfolge sein.
Den Menschen in Deutschland mangelt es nicht an
schöpferischen Kräften. Wir werden helfen, sie zur Entfaltung zu bringen.
({21})
Meine Damen und Herren, es ist kein Zweifel: Unser
drängendstes und auch schmerzhaftestes Problem bleibt
die Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischen
Zerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstrukturen. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen
macht sie angst. Sie belastet unser Gemeinwesen derzeit
mit Kosten von jährlich 170 Milliarden DM.
Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren darüber, daß sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu
können. Genau dieser Herausforderung werden wir uns
stellen.
({22})
Jede Maßnahme, jedes Instrument kommt auf den
Prüfstand, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeit sichert oder neue Arbeit schafft. Wir wollen uns jederzeit
- nicht erst in vier Jahren - daran messen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
beitragen.
Die Steuerreform, mit der wir in diesen Tagen beginnen, ist dazu ein erster Schritt. Wir werden nicht
weitere 16 Jahre über die Notwendigkeit einer Steuerreform reden und das Für und Wider der Interessengruppen abwägen. Nein, meine Damen und Herren, wir machen diese Steuerreform.
({23})
Die Reform basiert auf der Einsicht in die ökonomischen Notwendigkeiten. Sie verbindet modernen Pragmatismus mit einem starken Sinn für soziale Fairneß. Im
Mittelpunkt steht die Entlastung der aktiv Beschäftigten
und ihrer Familien sowie der kleinen und mittleren Unternehmer.
({24})
Deren Innovationskraft wollen und werden wir stärken.
({25})
Beides zusammen wird helfen, Arbeitslosigkeit abzubauen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und bestehende
zu sichern.
Unsere Steuerreform erschließt Entlastungen von insgesamt 57 Milliarden DM.
({26})
Nach der Gegenfinanzierung bleiben Bürgerinnen und
Bürgern sowie Unternehmen 15 Milliarden DM als
Nettoentlastung. Die Einkommensteuersätze werden
nachhaltig gesenkt, das Kindergeld wird erhöht. Über
die Legislaturperiode betrachtet, wird das einer durchschnittlich verdienenden Familie mit zwei Kindern eine
Nettoentlastung von 2 700 DM im Jahr bringen.
({27})
Steuerschlupflöcher werden wir stopfen, ungerechtfertigte Vergünstigungen werden wir abbauen. Das
macht deutlich, daß wir die Lasten in unserer Gesellschaft gerechter verteilen.
({28})
Wir werden auch die Unternehmensbesteuerung
grundlegend reformieren. Unternehmenseinkünfte sollen
mit höchstens 35 Prozent besteuert werden.
({29})
Dafür schaffen wir jetzt die gesetzlichen Voraussetzungen. Wir entlasten damit den Mittelstand, dem - ich sage
es noch einmal - eine Schlüsselrolle bei der Schaffung
von Arbeitsplätzen zukommt.
({30})
Meine Damen und Herren, auch sonst haben wir entgegen dem, was gelegentlich verbreitet wird, die Anliegen des Mittelstandes berücksichtigt.
({31})
Der Verlustvortrag bleibt erhalten. Ein einjähriger Verlustrücktrag bleibt ebenfalls noch für Verluste, die 1999
und 2000 entstehen und nicht mehr als 2 Millionen DM
betragen. Die Wiederanlage von Gewinnen aus der Veräußerung von Grund und Boden und Gebäuden wird wie
bisher nach § 6 b Einkommensteuergesetz begünstigt.
Die Sonder- und Ansparabschreibungen für die Existenzgründer können unverändert in Anspruch genommen werden. Für kleine und mittlere Betriebe bleiben sie
bis zum Jahr 2000 erhalten.
Die Tarifermäßigung für Veräußerungsgewinne wird
durch rechnerische Verteilung des Gewinns nur umgestaltet; sie wird nicht gestrichen. Damit werden zwar
- das gilt es einzuräumen - Verlustzuweisungsmodelle
eingedämmt, aber für die Betriebsnachfolge wird das
keine Verschlechterung bedeuten.
Wir werden - das ist schon an unseren ersten Schritten sichtbar - das Steuerrecht transparenter
({32})
und damit effizienter machen.
({33})
Überflüssige Steuersubventionen sollen abgeschafft und
wertvolle Steuergelder nicht länger in unsinnigen Steuersparmodellen verschwendet werden.
({34})
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einen
Satz zu der im Koalitionsvertrag angekündigten umfassenden Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sagen. Interessierte Kreise haben ja so getan, als wollten
wir mit unserer Steuerreform den Unternehmern buchstäblich die Butter vom Brot nehmen. Dazu ist zu sagen,
daß in den vergangenen Jahren nur einige wenige von
Steuerentlastungen profitiert haben. Die große Mehrheit
hat unter Steuerbelastungen leiden müssen. Jede vernünftige Steuerreform hat diesen von Ihnen verursachten
Trend erst einmal zu stoppen.
({35})
Inzwischen melden sich - und das ist gut so - immer
mehr Ökonomen und weitsichtige Unternehmer zu
Wort, die sehen, daß diese Steuerreform für sie eine
große Chance ist. Sie sehen die Perspektive, die wir mit
unseren schrittweisen Entlastungen aufzeigen. Ich habe
überhaupt keine Scheu, den Begriff „schrittweise“ dick
zu unterstreichen. Für die Betroffenen im Land ist es
nämlich besser, sie bekommen schrittweise etwas in die
Hand, als daß sie über Jahrzehnte lediglich mit Redereien vertröstet werden. In der Tat unterscheiden wir uns,
was das Machen von Politik angeht.
({36})
Die Menschen im Land sehen die Trendwende, die
wir eingeleitet haben: Entlastung und Vereinfachung
statt wie bisher immer höhere Sätze und immer weniger
Transparenz. Ich denke, alle diejenigen, die sich wirklich mit inhaltlichen Fragen beschäftigen, nehmen bereitwillig unsere Einladung an, in einer gemeinsamen
Kommission über die Strukturreform des Steuerrechtes
begleitend zu beraten.
Eines will ich allerdings denen, die uns in den letzten
Wochen mit schrillsten Vorwürfen überzogen haben, sagen: Niedrige und einfache Steuersätze wie zum Beispiel in den USA zu wollen, gleichzeitig aber an einer
hohen Zahl von Ausnahmetatbeständen wie bisher in
Deutschland festzuhalten, das geht nicht.
({37})
Wir werden - das ist Teil des Konzeptes zur Entlastung der aktiv wirtschaftlich Tätigen - die Nutzung der
wirtschaftlichen Ressourcen endlich marktwirtschaftlicher Vernunft unterwerfen. Deshalb steigen wir sofort in
eine ökologische Steuer- und Abgabenreform ein. Wir
vollziehen damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine längst überfällige Kehrtwende. Natur und
Energie als endliche und mithin knappe Güter werden
über den Preis verteuert mit dem einzigen Ziel, Arbeit,
die reichlich vorhanden ist, billiger zu machen, damit
mehr Menschen Arbeit haben.
({38})
Ich unterstreiche es auch hier noch einmal: Es geht uns
nicht um die Erschließung einer weiteren Einnahmequelle für den Staat.
({39})
Mit der Energiebesteuerung folgen wir dem Beispiel unserer Nachbarn in Dänemark, den Niederlanden und
Österreich. Wir lösen damit die Probleme einer modernen Gesellschaft mit den Mitteln einer modernen Gesellschaft.
({40})
Die Einnahmen - das ist der Kernpunkt - aus der
Energiesteuer verwenden wir nur zur Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten. Mit den Anreizeffekten der
Energiesteuer fördern wir die Schaffung neuer Arbeitsplätze in nachhaltigen Zukunftstechnologien. Gerade bei
den Lohnnebenkosten ist über die Jahre hinweg über die
Notwendigkeit ihrer Senkung geredet worden. Unter der
alten Regierung sind sie Jahr für Jahr gestiegen. Wir
machen damit Schluß, meine Damen und Herren.
({41})
Damit führen wir im Rahmen dessen, was europäisch
machbar und - auch das gilt es zu erkennen - sozial
vertretbar ist, Marktwirtschaft in die Ressourcennutzung
ein. Wir setzen dabei auf die Beschäftigungseffekte einer zukunftsorientierten Produktion.
Das ist für uns moderne Steuer- und Wirtschaftspolitik. Wir streiten eben nicht um die Scheinalternative: Angebots- oder Nachfrageorientierung. Dieser
Streit führt nämlich zu nichts. Angebots- und Nachfrageorientierung stehen nicht im Widerspruch zueinander.
Wir brauchen eine Nettoentlastung der Haushalte zur
Belebung der Binnenkonjunktur, damit die Menschen
auch kaufen können, was die Wirtschaft herstellt.
({42})
Durch Marktöffnung und Entbürokratisierung, durch
die Förderung von Innovation und Zukunftsindustrien
verbessern wir die Angebotsbedingungen für Produkte,
neue Märkte und neue Verfahren. Beides gehört zusammen. Das eine gegen das andere auszuspielen ist
töricht.
({43})
Wir müssen alle miteinander lernen, die Dinge zu
verknüpfen und in solchen Zusammenhängen zu denken: Wir stehen nicht für eine rechte oder linke Wirtschaftspolitik, sondern für eine moderne Politik der sozialen Marktwirtschaft.
({44})
Die Bundesregierung macht endlich wieder Wirtschaftspolitik. Wir eröffnen den Menschen die Perspektive der
Selbständigkeit. Wer eine Existenz gründen, eine gute
Idee vermarkten will, dem werden wir nach Kräften helfen. Wir wissen, daß unsere Banken bei der Bereitstellung von Geld für Unternehmensgründungen immer
noch zu zögerlich sind. Sie nennen das Risikokapital.
Für uns ist das Chancenkapital, das Unternehmensgründern helfen soll. Darauf legen wir Wert.
({45})
Neuesten Umfragen zufolge geben heute mehr als die
Hälfte derer, die demnächst die Schule oder die Universität abschließen werden, als Ziel die berufliche Selbständigkeit an. Das wäre vor gar nicht so langer Zeit
noch undenkbar gewesen. Aber die neue Gründerzeit das ist auch gut so - hat längst begonnen. Wir als Regierung haben ihre Zeichen begriffen, und wir werden dafür
Zeichen setzen.
Wir werden dies vor allem für den Mittelstand tun.
Moderne Mittelstandspolitik ist für uns: weniger Bürokratie, schnellere Innovation, besserer Zugang zu den
neuen Technologien, effizientere Vermarktung sowie
Hilfe und Unterstützung auf internationalen Märkten.
Dies wird Kennzeichen einer mittelstandsorientierten
Politik der neuen Bundesregierung sein.
({46})
Ich habe darauf hingewiesen, daß das auch für die Entlastung von Steuern und Abgaben gilt.
Im übrigen: Wenn wir in der Altersvorsorge mehr
private Vorsorge wollen, dann müssen wir die Nettoeinkommen auch so entlasten, daß sich die Menschen diese
private Vorsorge buchstäblich leisten können, sonst
funktioniert das nämlich nicht.
({47})
Wenn wir die Leistungsbereitschaft der Menschen
fördern wollen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sich
Leistung auszahlt.
({48})
Meine Damen und Herren von der F.D.P., das Problem besteht darin, daß Sie Leistung immer nur als die
Leistung ganz weniger ganz oben verstehen.
({49})
Wir verstehen Leistung in erster Linie als Leistung der
Krankenschwestern, der Ingenieure, als Leistung der
Facharbeiterinnen und Facharbeiter.
({50})
Die werden wir entlasten, meine Damen und Herren, auf
sie kommt es nämlich in dieser Zeit und in diesem Land
an.
({51})
Das meinen wir, wenn wir von einer neuen Politik sprechen, einer Politik, die eben nicht in Kästchen denkt,
sondern die die Probleme im Zusammenhang begreift.
Deshalb sage ich: Unsere Steuerreform ist ein guter
Anfang.
({52})
Aber damit ist das Ziel eines überschaubaren und leistungsgerechten Steuersystems nicht erreicht. Dieses
Ziel werden wir Schritt für Schritt verwirklichen, und
Sie werden jeden einzelnen Schritt aufmerksam und sicher auch kritisch begleiten dürfen - aber aus der Opposition heraus, meine Damen und Herren.
({53})
In den zurückliegenden Jahren ist viel über die Vorund Nachteile des sogenannten Standorts Deutschland
diskutiert worden. Der Begriff ist ein wenig verräterisch:
„Standort“, das kann auch - und das war es ja auch in
der letzten Zeit - „Stillstand-Ort“ sein. Wir machen dieses Land wieder zu einem Bewegungs-Ort.
Meine Damen und Herren, wir werden mit der Energiewirtschaft und den Umweltverbänden neue Wege der
Energieversorgung beschreiten.
({54})
Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlich
nicht akzeptiert.
({55})
Sie ist mithin auch volkswirtschaftlich nicht vernünftig.
Das ist der Grund, warum wir sie geregelt auslaufen lassen werden.
({56})
Für die Bundesregierung steht dabei nicht ein Ausstieg
im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um den Einstieg in
eine zukunftsfähige Energieversorgung.
({57})
Der Anteil der Kernenergie wird schrittweise reduziert
und schließlich ganz ersetzt.
({58})
Dies, meine Damen und Herren, ist ein gewaltiges
Investitionsprogramm, das auch und gerade neue Arbeitsplätze in diesen Bereichen schaffen wird.
({59})
Dabei setzen wir vor allem auf die Innovations- und
Entwicklungspotentiale bei den erneuerbaren Energien. Wir setzen auf eine konsequente Nutzung der Einsparmöglichkeiten: bei der Stromerzeugung, bei elektrischen Geräten, bei den Gebäuden, aber auch im Straßenverkehr. Mit der Energiewirtschaft werden wir auskömmliche Lösungen zu einer Zukunft ohne Atomkraftwerke vereinbaren.
Die Koalitionspartner sind sich darin einig, daß die
Beendigung der Kernenergienutzung im Konsens erfolgen soll - ohne daß es zu Regreßansprüchen kommt.
Aus den Gesprächen der vergangenen Jahre wissen wir,
daß wir zu einer einvernehmlichen Lösung kommen
können. Sie ist an dem Widerstand - dem unverständlichen Widerstand - auf der rechten Seite dieses Hauses
gescheitert.
({60})
Das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle - das
gilt es zu erkennen - bleibt uns und unseren Nachkommen allerdings noch auf Jahrtausende erhalten.
Das bisherige Entsorgungskonzept ist inhaltlich gescheitert. Wir werden statt dessen einen nationalen Entsorgungsplan erarbeiten. Entsorgung wird auf direkte
Endlagerung beschränkt werden.
({61})
Atommülltransporte quer durch die Republik, die
nur durch massiven Polizeischutz zu sichern sind, passen nicht zu einer auf Konsens und Zukunftsfähigkeit
ausgerichteten Demokratie.
({62})
Allerdings gilt es hier zu bedenken, daß die vorherigen
Regierungen völkerrechtlich bindende Verträge über die
Rücknahme atomarer Abfälle abgeschlossen haben.
Auch das müssen wir mit unseren Partnern in England
und Frankreich einvernehmlich regeln. Wir wollen solche Transporte nur noch dann zulassen, wenn am Kraftwerk selbst keine genehmigten Zwischenlagerkapazitäten existieren.
In einem neuen Energiemix werden wir auch Steinkohle und Braunkohle brauchen. Dabei drängen wir auf
die Verwendung modernster Technik mit hohen Wirkungsgraden und auf eine bessere Nutzung von Fernwärme und Kraft-Wärme-Kopplung.
({63})
Den Kohlekompromiß vom März 1997 werden wir
umsetzen und in Brüssel absichern. Bei der sozial verträglichen Neustrukturierung des deutschen Kohlebergbaus brauchen wir rechtzeitig eine Orientierung auch für
die Zeit nach dem Jahre 2005. Es geht uns auch hier
darum, Planungssicherheit für die Unternehmen und
materielle Sicherheit für die Beschäftigten zu schaffen.
Die Klimaforscher und die vorbildlichen Unternehmen, die vor ein paar Tagen mit dem BundesumBundeskanzler Gerhard Schröder
weltpreis ausgezeichnet worden sind, haben der Politik
ins Stammbuch geschrieben - wir werden das beachten -:
Gerade beim Klimaschutz dürfen die Verantwortlichen
nicht auf Erkenntnisse über weitere Schädigungen unserer Umwelt warten; sie müssen aktive Vorsorge treffen.
Wir werden das tun.
({64})
Meine Damen und Herren, der Staat und die verschiedenen Wirtschaftszweige müssen ihre Zusammenarbeit verbessern, um auf diese Weise Synergieeffekte
besser nutzen zu können. Wo die Bundesregierung das
Ihrige dazu tun kann, da wird sie es tun.
Wir werden die Verwaltung schlanker und effizienter machen, und wir werden hemmende Bürokratie rasch
beseitigen. Beispielsweise werden wir die Vielzahl verschiedener Umweltbestimmungen in einem Umweltgesetzbuch zusammenfassen. Dabei werden wir überflüssige Vorschriften streichen und auf diese Weise die Regelungsdichte vermindern.
({65})
Eine grundlegende Justizreform werden wir zügig in
Angriff nehmen. Unsere Zivil- und Strafjustiz ist heute
noch aufgebaut wie vor hundert Jahren. Sie muß entschlackt und sie muß modernisiert werden. Die Bürgerinnen und Bürger wollen und sollen schneller zu ihrem
Recht kommen, und die Gerichte müssen entlastet werden. Auch um die Vereinfachung von Gesetzestexten
werden wir uns zielstrebig kümmern. Die Rechte der
Opfer von Verbrechen werden wir stärken. Dies gilt
ganz besonders für die Schwächsten in unserer Gesellschaft: mißbrauchte und mißhandelte Kinder.
({66})
Wo immer das möglich ist, werden wir den TäterOpfer-Ausgleich stärken und die gemeinnützige Arbeit
als moderne Sanktionsform ausbauen. Es ist im Interesse
der Gesellschaft, daß vor allem Straftäter, die bislang zu
kurzen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, nicht zusätzliche Kosten für den Staat verursachen, sondern gemeinnützige Arbeit leisten. Soweit die Gemeinschaft nicht
vor ihnen geschützt werden muß, sollen sie sich für die
Gemeinschaft nützlich machen.
({67})
Große Aufmerksamkeit richten wir auf die Förderung
der Verfahren zur Schlichtung. Es muß Schluß gemacht
werden mit der verhängnisvollen Entwicklung, immer
mehr zivile, soziale, wirtschaftliche oder sogar politische Streitfälle auf die Gerichte abzuwälzen. Die Möglichkeiten, Streitfälle außergerichtlich zu regeln, werden
wir stärken und bürgernah ausgestalten. Wir verbinden
damit den Appell an Bürgerinnen und Bürger, aber auch
an Interessengruppen, diese Möglichkeiten auszuschöpfen, bevor die Justiz bemüht wird.
Ich sage es deutlich: Diese Bundesregierung will keinen Bevormundungsstaat, nein, sie will einen Staat, der
die Menschen ermutigt. Aber den Staat schlanker und
effizienter zu machen, das darf nicht heißen, daß man
ihn dort schwächt, wo vor allem die Schwächeren auf
ihn angewiesen sind.
({68})
Wir wollen deshalb einen Staat, der die Bürgerrechte
schützt und erweitert. Wir beharren auf dem Schutz der
Schwächeren durch das Recht und durch den Staat.
({69})
Ich will keine Gesellschaft, in der sich einige wenige
Schutz kaufen können und die Mehrheit Angst vor Verbrechen hat.
({70})
Deshalb sage ich: Härte gegen das Verbrechen und seine
Erscheinungsformen, aber eben auch Härte gegen die
Ursachen des Verbrechens, das ist meine, das ist unsere
Vorstellung von einem Staat, der seine Schutzaufgabe
erfüllt.
({71})
Wir werden deshalb die Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen entschlossen bekämpfen. Die Polizei
kann sich darauf verlassen, daß wir sie bei dieser Aufgabe unterstützen.
({72})
Aber zugleich gilt: Eine gute Politik der inneren Sicherheit darf nicht auf Polizei und Strafrecht beschränkt
bleiben.
({73})
Ein eigenverantwortliches Leben setzt zuallererst
voraus, für sich selbst sorgen zu können. Wie sollen unsere jungen Menschen unsere Gesellschaft und unsere
Zukunft gestalten, wenn wir ihnen nicht einmal die
Möglichkeit geben, für sich selber zu sorgen? Hierin
liegt der Grund dafür, warum die Bundesregierung ein
Sofortprogramm auflegen wird, um 100 000 Jugendliche
so schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäftigung zu bringen.
({74})
Ich sage es noch einmal vor diesem Hohen Hause:
Gerade diejenigen, die die Jugendkriminalität zurückdrängen wollen und dies mit aller Entschiedenheit mit
Hilfe des Staates durchsetzen wollen, haben auf der
anderen Seite die Verantwortung, jungen Menschen eine
Perspektive für Ausbildung und Arbeit zu geben.
({75})
Wir werden angesichts der Gefährdungen, die sich für
die gesamte Gesellschaft aus einem Mangel an Perspektive ergeben, bei der Realisierung dieses Programmes
einen besonderen Schwerpunkt in Ostdeutschland setzen. Dies ist - zugegeben - ein erster Schritt, aber ein
eminent wichtiger, um dort helfen zu können.
({76})
Meine Damen und Herren, Ziel einer aktiven Arbeitsmarktpolitik muß es sein, den Menschen eine Brükke in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen. Wir alle wissen,
daß eine gute Ausbildung die beste Voraussetzung für
eine gesicherte berufliche Zukunft ist. Unser duales System der Ausbildung ist noch immer vorbildlich in Europa. Aber die schleichende Verstaatlichung der Ausbildung muß aufhören.
({77})
- Das ist so. Sie haben es noch immer nicht verstanden.
Das ist tatsächlich so. Sie werden es nie verstehen.
({78})
Sie interessiert das nicht.
({79})
Aber mich macht das besorgt. Daß Sie an den jungen
Leuten nicht interessiert sind, merkt man an Ihrem Gebrüll. Man merkt an der Art und Weise, wie Sie mit diesem Thema umgehen,
({80})
wie wenig Sie das Thema der Ausbildungsperspektiven
für junge Leute interessiert.
({81})
Ich sage Ihnen eines: Die Zahl der Ausbildungsplätze,
die die Wirtschaft zur Verfügung gestellt hat, ist in Ihrer
Regierungszeit kontinuierlich zurückgegangen. Das ist
das Problem, vor dem wir stehen.
({82})
Das sollten Sie nicht lächerlich machen. Darüber sollten
Sie nicht lachen. Denn der wirkliche Skandal in unserer
Gesellschaft ist, daß die jungen Leute von Ihnen allein
gelassen worden sind. Das ist das Problem. Deshalb sind
Sie auch abgewählt worden.
({83})
Daß Sie sich beim Thema Ausbildungschancen der jungen Leute hier hinsetzen und so tun, als wenn Sie das
nichts anginge, das ist eine Schande. Sie sollten sich
schämen!
({84})
Für uns jedenfalls ist klar - auch wenn das die rechte
Seite dieses Hauses nicht interessiert - ({85})
- Da merkt man, welches Interesse Sie an diesen Fragen
haben.
({86})
Meine Damen und Herren, für uns ist klar - in diesem
Punkt lassen wir uns nicht beirren -: Wirtschaft und öffentliche Verwaltung stehen in der Pflicht, die Lehrstellenzahl zu erhöhen und nicht zu senken.
({87})
Wir wollen und wir werden erreichen, daß alle Jugendlichen einen qualifizierten Ausbildungsplatz bekommen. Das ist ihre Erwartung an Politik, und die
werden wir erfüllen, sosehr Sie auch dagegen schimpfen.
({88})
Bei der Mobilisierung der Ausbildungsplätze setze
ich auf die Mitarbeit der Wirtschaft. Ich weiß: Hunderttausende von Handwerksmeistern sowie kleine und
mittlere Unternehmen tun jedes Jahr ihre Pflicht. Aber
bei den großen Unternehmen muß zugelegt werden; das
gilt es gemeinsam zu erreichen.
({89})
Ich setze bei der Mobilisierung von Ausbildungsplätzen
darauf, daß wir keine Zwangsmaßnahmen benötigen. Jetzt könnt ihr auch klatschen!
({90})
Aber ich sage unseren Jugendlichen, daß ihr moralisches Recht auf Arbeit und Ausbildung - auch das muß
ausgesprochen werden - die Pflicht einschließt, Angebote zur Berufsausbildung anzunehmen. Mobilität darf
kein Fremdwort in diesem Sektor sein oder werden.
({91})
Auch folgendes muß deutlich werden: Nicht jeder
wird seinen Traumberuf erlernen können. Wir werden
kein Volk von Bankkaufleuten und Versicherungskaufleuten werden können, bei allem Respekt vor dieser Berufsgruppe.
({92})
Im europäischen Vergleich brauchen junge Menschen
bei uns zu lange, bevor sie berufliche Verantwortung
übernehmen können. Uns geht es nicht um eine Verkürzung der Ausbildungszeit und schon gar nicht um eine
Verschlechterung der Ausbildung; es geht uns vielmehr
um eine bessere Verteilung der Ausbildung auf die Lebenszeit. Das ist das, was im Vordergrund unserer Bemühungen steht. Ausbildung, Ausbildungsordnungen
und Ausbildungsinhalte werden wir flexibler gestalten.
Die Verbesserung und Modernisierung beruflicher Bildung und Qualifikation sollte ständiges Gesprächsthema
im Bündnis für Arbeit sein.
Wir wollen uns fit machen für die europäische Wissensgesellschaft. Darunter soll man sich nicht eine Gesellschaft aus lauter Superhirnen und Weißkitteln vorstellen. Wissensgesellschaft, meine Damen und Herren,
das heißt für mich: Qualifikationsgesellschaft. Das betrifft die ganze Breite unserer Gesellschaft, das betrifft
alle Menschen und nicht nur die wissenschaftlichtechnischen Eliten.
({93})
Das ist der Grund, warum die Bundesregierung die
Aufgabe einer Bildungs- und Qualifizierungsoffensive
rasch anpacken wird. Wir wollen bestmögliche Bildung
für alle, mehr Chancengleichheit, die Förderung unterschiedlicher Begabungen, mehr Effizienz, aber auch
mehr Wettbewerb.
Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung
von Eliten. Auch unsere demokratische Gesellschaft
braucht Eliten. Allerdings kommt es mir darauf an, was
man unter Elite und ihrer Herausbildung versteht. Geprägt von eigener Erfahrung sage ich: Zur Elite gehört
man nicht durch die Herkunft der Eltern; zur Elite gehört
man durch Leistung.
({94})
Eliten in einer Demokratie erwachsen aus gleichen
Chancen im Zugang zu den Bildungseinrichtungen. Das
ist wichtig, meine Damen und Herren.
({95})
Sie erwachsen aus dem, was bei gleichen Zugangsvoraussetzungen zu den Bildungseinrichtungen der einzelne
in eigener Verantwortung daraus macht. Eines jedenfalls
muß gelten: Der Geldbeutel der Eltern darf nicht über
die Lebenschancen in unserer Gesellschaft bestimmen.
({96})
Das ist der Grund, warum wir bereits 1999 mit der Reform der Ausbildungsförderung beginnen werden. Wir
werden dabei alle ausbildungsbezogenen staatlichen
Leistungen zusammenfassen.
Die Hochschulen werden wir stärken. Sie müssen
Zentren der Ideenfindung und der Problemlösung sein.
Sie sollen nach unserer Auffassung auch Zukunftswerkstätten werden. Wir müssen den Trend zur Abwanderung unserer Grundlagenforscher stoppen und gleichzeitig die anwendungsorientierte Forschung nachhaltig fördern.
Wir brauchen eine bessere Bildungsplanung, und wir
werden sie machen. Denn wir können es uns nicht länger leisten, daß ein bedenklich großer Teil unseres wissenschaftlichen Nachwuchses völlig vorbei an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes qualifiziert wird.
Auch an Universitäten und Fachhochschulen muß es
Wettstreit geben. Konkurrenz belebt auch dort das Geschäft.
({97})
Die Hochschulen müssen viel stärker als bisher auch
zu Existenzgründungen ermuntern. Forschung und
Lehre sollen durch Budgetierung und mehr Autonomie
entbürokratisiert und so wettbewerbsfähiger gemacht
werden. Das Dienstrecht des Hochschulpersonals werden wir umfassend modernisieren, um auch hier mehr
Anreize für Leistung und Innovation zu schaffen.
({98})
Wir sollten uns nichts vormachen: Der Transfer von
Wissenschaft zur Wirtschaft liegt in Deutschland im argen. Die Transferzeiten, also die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Produktionswirklichkeit,
sind bei uns noch immer viel zu lange. Bei der Innovationsgeschwindigkeit hinken wir hinter den USA, aber
auch den europäischen Ländern, die vergleichbar sind,
hinterher. Die USA verdienen jedes Jahr mehr als
30 Milliarden DM mit dem Export von Verfahren, von
Lizenzen und von Patenten ins Ausland. Unsere Wirtschaft hingegen muß heute mehr Ingenieurleistungen
importieren, als sie exportiert. Das kann, das darf nicht
so bleiben.
({99})
Forschung, Lehre und Wirtschaft haben sich viel zu
weit voneinander entfernt. Die Hochschulen stehen vor
Umwälzungen, die denen der 70er Jahre vergleichbar
sind. Dieser Herausforderung wird sich die Bundesregierung stellen - wieder einmal, bin ich versucht zu sagen.
Wir werden die Investitionen in Forschung und Bildung
in den nächsten fünf Jahren verdoppeln.
({100})
Wir werden auch auf europäischer Ebene die Anstrengungen bei der Entwicklung neuer Technologien verstärken. Zusammen mit unseren Partnern wollen wir
transeuropäische Netze und eine moderne wissenschaftliche Infrastruktur schaffen.
Es ist schon richtig: Kreativität, künstlerische Phantasie, handwerkliches Können, die geniale Idee, der Mut
zur bahnbrechenden Neuerung - all das kann vom Staat
nicht herbeiorganisiert werden. Es ist das Ergebnis eines
Prozesses von zahllosen kleinen Verbesserungen, an denen Tausende von kreativen, phantasievollen, kundigen
und auch mutigen Menschen tagtäglich arbeiten. Deren
Bemühungen zu unterstützen ist eine unserer wichtigsten Aufgaben.
Auf die jungen Menschen - ich unterstreiche es noch
einmal - kommt es dabei ganz besonders an. Sie haben
die Chance, Erfahrungen zu machen, die die Älteren auch in diesem Hohen Haus - nie machen konnten. Wir
wollen, wir müssen und wir werden dafür sorgen, daß
sie nicht die Erfahrung machen, ausgeschlossen zu sein,
noch bevor sie in den Prozeß einsteigen konnten, den sie
eigentlich gestalten sollen.
({101})
Aber machen wir uns nichts vor: Die Bewältigung
des Jahrhundertproblems Arbeitslosigkeit kann nur gelingen, wenn alle gesellschaftlich Handelnden dabei
mitmachen. Die eine, einzelne Maßnahme zur Lösung
des Problems gibt es nicht. Steuerpolitik, Abgabenreduzierung, Zukunftsinvestitionen und Tarifpolitik müssen
einander sinnvoll ergänzen. Erst im Zusammenwirken
aller volkswirtschaftlichen Akteure kann dauerhaft mehr
Beschäftigung entstehen. Ich betone: im Zusammenwirken aller volkswirtschaftlichen Akteure. Das ist die Erfahrung, die man in anderen Ländern hat machen können.
Das ist auch die positive Erfahrung, die in vergangenen Zeiten mit einem funktionierenden Modell
Deutschland gemacht worden ist. Die deutschen Unternehmer stehen dabei ebenso in der Verantwortung wie
die Sozialverbände und die Gewerkschaften. Sie alle lade ich zu einem Bündnis für Arbeit und für Ausbildung ein. Ich bin froh, bestätigen zu können: Das erste
Treffen wird bereits Anfang Dezember stattfinden.
({102})
Dieses Bündnis wird als ständiges Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingerichtet. Ich weiß inzwischen, daß die Beteiligten meiner Einladung folgen
und ihren Teil der Verantwortung übernehmen wollen.
Ich erwarte, daß sich die Gesprächspartner vom Denken
in angestammten Besitzständen und von überkommenen
Vorstellungen lösen. Das, meine Damen und Herren, gilt
für alle Beteiligten.
Ich setze darauf, daß wir zu einer vorurteilsfreien Beurteilung der Lage kommen und daß unsere Diskussionen vom fairen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen
geprägt sind. Bündnisse für Arbeit wirken bereits überall
mit Erfolg, in unseren Nachbarstaaten, aber auch in ungezählten Betrieben in unserem eigenen Land. Hier in
Deutschland haben sozial verantwortliche Unternehmer
und tüchtige, ökonomisch denkende Betriebsräte unsere
Mitbestimmung zu einem modernen, weltweit vorbildlichen Modell entwickelt. Dies werden wir verteidigen
und ausbauen.
({103})
Das Bündnis für Arbeit ist der richtige Ort, um sich
den drängenden Fragen zu stellen: Welche Spielräume
kann die Abgabenpolitik des Staates, kann die Tarifpolitik schaffen? Was bedeutet es, die Sozialleistungen
stärker auf die Bedürftigen zu konzentrieren? Welche
Spielräume schaffen wir damit für Investitionen, und
welche Möglichkeiten bieten Instrumente wie Investivlohn und ähnliches? Welche Chancen bieten sich für uns
alle, auch für die Beschäftigten, bei der Flexibilisierung
der Arbeitszeiten?
Ich erwarte auch, daß wir in diesem Bündnis für Arbeit und Ausbildung die einmaligen Gelegenheiten nutzen, die uns die neuen politischen Konstellationen in Europa bieten. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit kann mit
dieser Bundesregierung nun endlich auch als europäische Frage behandelt werden.
({104})
In bezug auf diese Frage haben unsere Partner in Europa
- bei allem Respekt vor sonstigem - lange gewartet.
Mit der Steuerreform, der Entlastung bei den Lohnnebenkosten und dem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit bringt die Bundesregierung gute
Vorleistungen in das Bündnis für Arbeit ein.
({105})
Ich erwarte, daß auch die anderen wirtschaftlich Handelnden unserem Beispiel folgen. Die Menschen haben
ein Recht darauf, daß wir uns der Verantwortung stellen
und die Chancen entschlossen ergreifen, die uns ein
Bündnis für Arbeit in Deutschland, mitten in einem sozialer gewordenen Europa, eröffnet.
Niemand erwartet von diesem Bündnis Patentlösungen. Aber alle stehen in der Pflicht, das Beste zu geben:
Zusammenarbeit, Zukunftswillen und Zuversicht - das
sind die Koordinaten des Bündnisses für Arbeit und
Ausbildung. Gelingen kann ein solches Bündnis nur,
wenn wir uns vorbehaltlos der Wirklichkeit stellen. Das
mindeste, was die Bürgerinnen und Bürger von uns verlangen können, ist der Wille zur Aufrichtigkeit, zur Beschreibung der Wirklichkeit. Wir dürfen auch vor unbequemen Wahrheiten nicht haltmachen. Oft genug ist die
gesellschaftliche Wirklichkeit verdrängt worden, zugedeckt mit Lebenslügen und voreiligen Versprechungen.
Ich unterstreiche: Diese Bundesregierung sagt den
Menschen weder: „Alles ist schlecht“, noch sagt sie ihnen: „Alles wird gut.“ Aber sie sagt zum Beispiel, daß
es in diesem Land Menschen gibt, die unter den Bedingungen nackter Ausbeutung arbeiten müssen.
({106})
Daß solche Beschäftigungen illegal sind, daß sich oft
genug auch die Beschäftigten illegal hier aufhalten, das
ändert nichts an den menschenunwürdigen Zuständen,
die damit verbunden sind und die wir beseitigen müssen.
({107})
Diese Bundesregierung sagt auch, daß es in diesem
Land Arbeit gibt, gutbezahlte Arbeit, die an den Sozialsystemen vorbei als „Schwarzarbeit“ angeboten - und
nachgefragt - wird. Niemand sollte diese Schwarzarbeit verharmlosen oder aufhören, sie von Rechts wegen
zu bekämpfen. Sie ist und bleibt Betrug an der Solidargemeinschaft.
({108})
Aber es gilt zu erkennen, daß Schwarzarbeit erst dann
ganz verschwinden wird, wenn sich die reguläre, versteuerte und sozialversicherte Arbeit wieder lohnt,
({109})
wenn die Menschen für ihre Arbeit wieder mehr Geld
ins Portemonnaie bekommen. Das ist der Sinn bei den
Entlastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir werden diese Entlastung vornehmen; Sie haben das
nicht getan.
({110})
Deshalb wird auch bei der Bekämpfung der illegalen
Arbeit der Satz gelten: Hart gegen den Rechtsbruch,
aber nicht minder hart gegen die Ursachen.
Wie für die innere Sicherheit so gilt auch für die soziale Sicherheit: Wir wollen alles tun, damit sich alle
Bürger sicher fühlen können. Aber wir haben Grund zu
der Annahme, daß es die Systeme der sozialen Sicherung selbst sind, die durch ihre hohen Kosten immer
mehr Menschen in die Flucht aus diesen Sozialsystemen
treiben: in illegale, sozial nicht abgesicherte Arbeit oder
in Scheinselbständigkeit. Wenn das so ist, heißt das, daß
eine abstrakte soziale Sicherheit in immer mehr Einzelfällen konkrete soziale Unsicherheit produziert und daß
die Art, wie wir soziale Sicherheit organisieren, tatsächlich Arbeitsplätze vernichten oder gefährden kann. Deshalb müssen die Systeme und die Kosten der sozialen
Sicherung insgesamt auf den Prüfstand.
Wir werden die Augen vor solchen Wahrheiten nicht
verschließen, und wir werden auch Konsequenzen daraus ziehen.
({111})
Erstmals, meine Damen und Herren, geht eine deutsche
Bundesregierung daran, mit staatlichen Mitteln die
Lohnnebenkosten zu senken. Die Entlastung der Arbeitskosten durch Senkung der Rentenbeiträge um
0,8 Prozent zum 1. Januar 1999 wird pünktlich in Kraft
treten.
({112})
Wir sind darüber hinaus bereit, gezielt Sozialabgaben
zu bezuschussen, wenn dadurch weniger produktive Arbeit bezahlbar gemacht werden kann.
Das soziale Netz muß nach unserer Auffassung zu einem Trampolin werden. Von diesem Trampolin soll jeder, der vorübergehend der Unterstützung bedarf, rasch
wieder in ein eigenverantwortliches Leben zurückfedern
können.
({113})
Das, meine Damen und Herren, meinen wir, wenn wir
sagen, daß es uns wichtiger ist, Arbeit zu finanzieren, als
Arbeitslosigkeit bezahlen zu müssen.
({114})
In diesen Zielen wissen wir uns übrigens mit der großen Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland einig; wir
wissen sie hinter uns. Doch die Initiativen der Bundesregierung werden kaum ausreichen, den Kostendruck
entscheidend zu lindern. Bei einem gerechten Umbau
des Sozialstaates sind alle Beteiligten gefragt: die Versicherten wie auch die Verbände und die Versicherungsträger, die Unternehmer und die Gewerkschafter.
Dabei werden wir uns von einem Grundsatz leiten
lassen: Die Stärke des Sozialstaates bemißt sich nicht an
den Milliarden, die er ausgibt. Sie muß sich beweisen an
der Qualität der Leistungen, die erbracht werden.
({115})
Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Unsere Gesellschaft erwirtschaftet genug, um sich den Sozialstaat leisten zu können. Was wir uns nicht leisten
können, sind Ungerechtigkeit und Untätigkeit. Wir
brauchen die Menschen in Deutschland nicht auf „Blut,
Schweiß und Tränen“ einzustimmen. Die Menschen haben gezeigt, daß sie bereit sind zu teilen und zu geben.
Wie sonst, wenn nicht durch den Elan und die Solidarität der Menschen im Osten und im Westen hätte es die
- bei allen Defiziten - doch beachtlichen Leistungen
beim Aufbau der Wirtschaft in den neuen Ländern
geben können? Ich sage ganz deutlich: Wir werden diese
Solidarität mit den Menschen im Osten des Landes auch
weiterhin brauchen.
({116})
Wer die dafür nötigen Leistungen zurückfährt, der gefährdet das Erreichte. Wir sind noch immer weit entfernt
von gleichwertigen Lebensbedingungen in Ost und
West.
Das heißt konkret: Der Solidarpakt von 1993 wird
auch weiterhin das finanzielle Rückgrat des wirtschaftlichen Aufbaus bleiben. Wir werden die Maßnahmen der
aktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die das kennen wir ja schon - vor der Wahl kurzfristig
hochgefahren wurden und jetzt, wenn nichts geschähe,
wieder ausliefen, auf dem bisherigen Niveau verstetigen.
({117})
Über Bildungs- und Qualifizierungsangebote wollen
wir möglichst vielen den Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt ebnen. Dennoch wird eine aktive Beschäftigungspolitik auf relativ hohem Niveau im Osten
Deutschlands noch für eine ganze Weile notwendig und
unverzichtbar bleiben. Auch die bislang bis Ende 1998
befristeten Regelungen zum Investitionsvorrang für
Ostdeutschland werden wir fortführen. Diese Bundesregierung, meine Damen und Herren, weckt auch dort
keine Illusionen. Sie sagt, daß uns noch eine lange und
schwierige Wegstrecke des wirtschaftlichen Aufbaus in
den neuen Bundesländern bevorsteht. Aber sie zollt Lebensleistung und Biographien der Menschen im Osten
Achtung und hohen Respekt.
Die Anstrengungen werden sich lohnen, denn wir haben die Chance, überall in Ostdeutschland Regionen mit
ökonomischem und ökologischem Vorbildcharakter zu
schaffen, wirklich neue Wege zu gehen, statt Abziehbilder der alten Bundesrepublik herzustellen.
({118})
Die Menschen in den neuen Ländern - auch das gilt
es zu erkennen - haben Deutschland auch und gerade
kulturell stark bereichert. Viele im Westen können und
sollten von ihrer Zivilcourage, ihrer Kreativität und ihrem Erfindungsreichtum lernen. Wir wissen, meine Damen und Herren, daß wir eine Nation mit einer gemeinsamen Kultur, Sprache und Geschichte sind, allerdings
auch eine Nation, die 40 Jahre Spaltung in getrennte
Staaten hat erdulden müssen.
Wir kennen die Mängel in den Regelungen über die
Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von
DDR-Unrecht, und wir werden die Härten beseitigen.
Gegen die Spaltung setzen wir den Willen zu mehr
Normalität im Umgang miteinander. Besserwisserei und
Larmoyanz, die Geringschätzung des anderen, seiner
Vorlieben, seiner Gewohnheiten, all das hat in einer
modernen Demokratie nichts zu suchen.
Was wir allerdings verbessern wollen und müssen, ist
die Zielgenauigkeit der Aufbau- und Fördermaßnahmen. Die Bundesregierung wird ein Förderkonzept entwickeln, das sich an drei Zielen ausrichtet: erstens der
Sicherung der Förderpräferenz für die neuen Bundesländer, zweitens dem verstärkten Ausbau der infrastrukturellen Versorgung insbesondere in den wirtschaftlichen
Problemregionen sowie drittens der Stärkung der Innovationsfähigkeit der Unternehmen und dem Ausbau von
Finanzierungsformen, die den besonderen Problemen
ostdeutscher Unternehmen gerecht werden.
({119})
Die Eigenkapitalbasis der Unternehmen im Osten
muß gestärkt werden.
Vor allem die jungen und noch nicht so finanzstarken
Kleinbetriebe in den neuen Ländern leiden existentiell
unter einer zunehmend laxer werdenden Zahlungsmoral.
Wir werden deshalb dafür sorgen, daß zahlungsunwillige Schuldner begreifen, daß schlechte Zahlungsmoral
sich auch finanziell nicht lohnt.
Wir wollen die Anstrengungen zur Sanierung und
Gestaltung der Städte verstärken und auch darüber
wieder mehr Menschen in Beschäftigung bringen.
Ich habe als Bundeskanzler erklärt, den Aufbau Ost
zur Chefsache zu machen. Die Kompetenzen dafür werden gebündelt. Mir wird ein Staatsminister im Bundeskanzleramt zur Seite stehen, der vor allem für eine sehr
enge Koordination mit den Landesregierungen in den
ostdeutschen Ländern sorgen wird.
({120})
Das Bundeskabinett wird alle zwei Monate in einem
der neuen Länder tagen, um mit den dortigen Landesregierungen die Lage zu erörtern und konkrete Projekte
auf den Weg zu bringen, die der Situation dort gerecht
werden.
({121})
Gerade in den neuen Bundesländern haben die Bürgerinnen und Bürger ihre ganz speziellen Erfahrungen mit
Dichtung und Wahrheit in der Politik gemacht.
({122})
Sie haben deshalb einen Anspruch darauf, daß wir die
Probleme vor Ort beim Namen nennen, vor Ort Lösungen entwickeln und sie dann auch zügig durchsetzen.
Realitätssinn und Reformwillen sind schließlich keine
Optionen, die wir nach Belieben umsetzen und ausschlagen könnten.
Kurz vor der Jahrtausendwende ist die Welt in bahnbrechenden Veränderungen begriffen. Die Digitalisierung des Wissens und der Produktion, die Globalisierung der Waren- und Finanzmärkte zwingt uns zu Anpassungen und zum Umdenken, zum Abschied von liebgewordenen Traditionen und Gewohnheiten. Das macht
vielen Menschen angst. Aber, meine Damen und Herren,
Angst haben müssen wir nicht vor der Veränderung,
Angst haben müssen wir nur davor, im Stau selbstgesetzter Blockaden stecken zu bleiben.
({123})
Die Wirklichkeit unseres Erwerbslebens hat sich
drastisch verändert. Der schöne und viele Jahre Sicherheit verheißende Ausdruck, jemand habe nach der beruflichen Qualifikation „ausgelernt“, hat seine Bedeutung verloren. Das Weiter- und das Dazulernen sind
heute unabdingbare Anforderungen für jeden. Diese gilt
es zu realisieren. Aber sie sind auch eine Herausforderung an die Neugier und Leistungsbereitschaft eines jeden.
Dieser veränderten Realität muß sich auch unser Sozialsystem anpassen. So werden wir bei der Rentenreform selbstverständlich die Zunahme der sogenannten
unsteten Erwerbsverläufe angemessen berücksichtigen.
Insbesondere Frauen dürfen eben nicht dafür bestraft
werden, daß sie ihr Leben flexibel gestalten, daß Phasen
der Kindererziehung, der Erwerbsarbeit und des Lernens
einander abwechseln.
({124})
Meine Damen und Herren, wer das Lernen geringschätzt und die Möglichkeiten des Wissens nicht nutzt,
läuft in eine Falle. Wenn wir die ökologische Modernisierung wollen, dann heißt das auch, daß wir die enormen Möglichkeiten, die uns die Bio-, die Medizin- und
die Gentechnik bieten, in verantwortbarem Rahmen nutzen und entwickeln wollen. Wenn wir den Weg in eine
Gesellschaft gehen wollen, die industriell stark, technisch innovativ, sozial gerecht und serviceorientiert ist,
dann können wir es uns nicht leisten, gerade die personenbezogenen oder die im Haushalt erbrachten Dienstleistungen als minderwertig zu diskriminieren.
({125})
Wir werden uns von der Vorstellung trennen müssen,
nur die in der unmittelbaren Produktion erbrachte körperliche "Maloche" oder der Dienst im Büroalltag seien
wirkliche Arbeit. Unser Augenmerk gilt allen, die gesellschaftlichen Wohlstand und gesellschaftliches Wohlergehen schaffen, den produktiv Beschäftigten ebenso
wie den vielen, die das Wagnis der Existenzgründung
auf sich nehmen, und genauso sehr denen, die sich um
die Belange der Menschen kümmern.
Haushaltshilfe und Altenbetreuung, Einpack- oder
Einpark-Service sind Dienstleistungen an der Allgemeinheit, deren sich niemand schämen muß. Diejenigen,
die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen
und sie angemessen zu bezahlen in der Lage sind, werden in unserer Gesellschaft immer mehr. Auch deshalb
werden wir die sogenannten 620-Mark-Jobs nicht einfach abschaffen. Aber wir werden sie angemessen in die
Sozialversicherungspflicht einbeziehen.
({126})
Die Grenze werden wir auf 300 DM festlegen. Da wir
gleichzeitig die Pauschalbesteuerung aufheben, werden
diese Tätigkeiten nicht unzumutbar verteuert.
Man sieht daran: Die Bundesregierung erkennt ausdrücklich die Notwendigkeit und Berechtigung solcher
Beschäftigungsverhältnisse an: sowohl für die Arbeitgeber als auch für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und für die Verbraucher. Aber wir wollen
gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften den
Mißbrauch, der mit dieser Regelung betrieben worden
ist, ernsthaft bekämpfen.
({127})
Mehr Flexibilität im Arbeitsleben darf nicht auf Kosten sozialer Sicherheit gehen. Vor allem darf sie nicht
zu Lasten der Frauen gehen, denen die Gesellschaft
schon immer mit größter Selbstverständlichkeit höchste
Flexibilität abverlangt hat. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß Frauen, die es wollen, am
Erwerbsleben teilhaben können. Dabei haben wir nicht
nur gegen überkommene Strukturen in der Gesellschaft
zu kämpfen. Wir müssen auch ein Schul- und Betreuungssystem schaffen, das die Lebenswirklichkeit moderner Familien und von Alleinerziehenden ausreichend
berücksichtigt.
({128})
Die Bundesregierung wird schon Anfang 1999 ein
Aktionsprogramm „Frau und Beruf“ initiieren. Wir werden ein wirksames Gleichstellungsgesetz vorlegen, auf
Chancengleichheit bei der Ausbildung insbesondere in
zukunftsorientierten Berufen achten, Existenzgründerinnen besonders unterstützen und die Bedingungen für
flexiblere Arbeitszeiten verbessern.
({129})
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub werden wir zu
einem Elterngeld und zu einem flexiblen Elternurlaub
weiterentwickeln. Die Schaffung von größeren und besseren Angeboten zur Kinderbetreuung werden wir unterstützen.
Aber ein solches Aktionsprogramm bleibt ein Tropfen auf den heißen Stein, solange wir nicht die objektive
Benachteiligung von Frauen aufheben, etwa in der Rentenversicherung. Auch darüber ist viele Jahre geredet
worden, aber es ist nichts geschehen. Was geschehen ist,
hat die Lage der Menschen eher verschlechtert. Deshalb
sind wir auch hier gefordert, zu modernisieren und soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen.
Die Bundesregierung wird zunächst die von ihrer
Vorgängerin getroffenen Maßnahmen zur Verschlechterung der Rentnerinnen und Rentner aussetzen.
({130})
Wir sagen ausdrücklich „Maßnahmen“ und nicht „Reform“, denn die Reform liegt noch vor uns.
({131})
Wir wollen den Begriff der Reform wieder in sein
Recht setzen. Reform - das Wort war einmal klar definiert als Programm oder Projekt, das die Lebensverhältnisse der Menschen verbessert. So war das damals bei
der Einführung des Frauenwahlrechts vor - fast auf den
Tag genau - 80 Jahren, eine Reform, die August Bebel
und die Sozialdemokraten erkämpft hatten. So war das
auch in den 70er Jahren, als Sozialdemokraten und ihre
Bündnispartner unter Willy Brandt und Helmut Schmidt
tatsächlich „mehr Demokratie wagten“ und mehr Chancengleichheit herstellten.
Heute stehen wir erneut vor der Notwendigkeit von
Reformen, die das Leben der Menschen verbessern sollen. Es geht nicht zuletzt darum, die gewaltig entfalteten
Produktivkräfte, den immensen Reichtum an Waren und
Dienstleistungen, den wir erwirtschaften, wieder in
einen sozialen, in einen sinnstiftenden Zusammenhang
zu integrieren; denn das ist verlorengegangen.
({132})
Das muß das große gesellschaftliche Projekt der Neuen Mitte sein: die ökologische und solidarische Erneuerung unserer Gesellschaft und Ökonomie zu einer modernen sozialen Marktwirtschaft. Daran werden wir arbeiten; das werden wir miteinander leisten.
({133})
Das ist auch der Grund, warum wir bei der Alterssicherung eine echte Solidarität der Generationen, nicht
nur eine Solidarität der Berufsgruppen erzielen wollen.
Wir wollen einen mit Leben erfüllten Generationenvertrag, keinen Vertrag zu Lasten der Arbeit. In diesem
Sinne werden wir dem Bundestag Vorschläge zur Reform der Alterssicherung vorlegen, die auf Solidarität,
aber auch auf die gesellschaftliche Realität abzielen.
Dabei geben wir eine dreifache Garantie ab: Wir
werden den heute in Rente lebenden Menschen ihre
Rente sichern und ihnen jedenfalls ihre ohnehin oft geringen Einkünfte nicht kürzen. Denjenigen, die heute in
die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, sagen wir
zu, daß sie damit einen wirksamen und leistungsgerechten Rentenanspruch erwerben. Denjenigen, die jetzt ins
Berufsleben eintreten, sichern wir den Umbau der Alterssicherung zu einem transparenten, zukunftsfähigen
Versicherungspakt zu.
Dieser Pakt wird auf vier Säulen stehen: Das sind die
gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Altersvorsorge, die private Vorsorge, deren Organisation vom
Staat, etwa in steuerlicher Hinsicht, ermutigt wird, und
die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital und an der Wertschöpfung in
den Unternehmen. Für den Nutzen der Reform, die wir
im Grundsatz vereinbart haben, gibt es auf der ganzen
Welt gute Beispiele; von denen können, von denen werden wir lernen.
Bei der gesetzlichen Rentenversicherung müssen wir
die finanzielle Grundlage verbreitern und versicherungsfremde Leistungen staatlich finanzieren.
({134})
Bei den Lebensversicherungen werden wir für mehr
Wettbewerb und mehr Transparenz sorgen. Die zukunftsfähige Erneuerung der betrieblichen Altersvorsorge muß im Bündnis für Arbeit und Ausbildung fest vereinbart werden. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer am Produktivvermögen werden wir
unterstützen. Durch die Nettoentlastung der Lohn- und
Einkommensteuerzahler schaffen wir auch auf diesem
Sektor beachtliche Spielräume für die Tarifpartner.
Eine derartige Reform wird ihren Namen verdienen anders als die Rentenkürzungen und die weiteren sozialen Einschnitte, die wir noch in diesem Jahr aussetzen,
um Raum für wirklich zukunftsfähige Lösungen zu
schaffen.
({135})
Die Verschlechterungen beim Kündigungsschutz
und bei der Lohnfortzahlung werden wir - wie wir es
versprochen haben - zum 1. Januar 1999 aufheben.
({136})
Im Gesundheitswesen werden wir die Belastungen
der Kranken, vor allem der chronisch Kranken und der
älteren Patienten, zurückführen. Die Zuzahlungen der
Versicherten bei Medikamenten werden ebenfalls zum
1. Januar 1999 gesenkt. Das sogenannte Krankenhausnotopfer wird ab sofort ausgesetzt.
({137})
Auch im Gesundheitswesen reichen die heute zur
Verfügung stehenden Finanzmittel für eine qualitativ
hochwertige Versorgung im Prinzip aus. Nicht die Rationierung in der gesetzlichen Krankenversicherung,
sondern die Rationalisierung in der Versorgung ist der
richtige Weg - und den werden wir gehen, meine Damen und Herren.
({138})
Ich weiß, die Tradition, die soziale Sicherheit zu wahren, gilt heute manchen schon als revolutionär. Dafür die
traditionellen Mittel aufzuwenden wäre aber womöglich
reaktionär. Weder auf dem Renten- noch auf dem Gesundheitssektor werden wir uns in diesem Widerspruch
verfangen. Wir stehen auch in diesen Bereichen für eine
Reform, die sich an den Realitäten orientiert.
Die Realität lehrt uns zum Beispiel, daß Deutschland
in den vergangenen Jahrzehnten eine unumkehrbare
Zuwanderung erfahren hat. Wir haben die Menschen,
die in den 50er Jahren zu uns kamen, eingeladen. Heute
sagen wir diesen unter uns lebenden Mitbürgerinnen und
Mitbürgern, daß sie keine Fremden sind. Zu Fremden
machen sich vielmehr diejenigen, die in unserem Land
den Fremdenhaß propagieren.
({139})
Das wollen wir nicht. Diesen verblendeten Minderheiten
setzen wir eine entschiedene Politik der Integration entgegen.
({140})
Den Zuwanderern, die bei uns arbeiten, sich legal in
Deutschland aufhalten, Steuern zahlen und sich an die
Gesetze halten, ist viel zu lange gesagt worden, sie seien
bloß Gäste. Dabei sind sie real längst Mitbürgerinnen
und Mitbürger geworden.
({141})
Diese Bundesregierung wird deshalb ein modernes
Staatsangehörigkeitsrecht entwickeln. Es wird die
Voraussetzungen dafür schaffen, daß diejenigen, die auf
Dauer bei uns leben und deren Kinder, die hier bei uns
geboren sind, volles Bürgerrecht erhalten können.
({142})
Niemand, der Deutscher werden will, soll dafür seine
ausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnen müssen. Deshalb werden wir eine doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen.
({143})
Integration erfordert auch und gerade die aktive Mitwirkung derer, die sich integrieren sollen. Aber wir werden
denen, die dauerhaft hier leben, arbeiten, ihre Steuern
zahlen und die Gesetze achten, die Hand reichen, damit
sie sich in unsere Demokratie als Menschen auch wirklich einbringen können.
({144})
So nehmen wir die Wirklichkeit in Europa positiv zur
Kenntnis, so wollen wir das miteinander halten, und so
sollte es in Deutschland üblich werden.
({145})
Unser Nationalbewußtsein basiert eben nicht auf den
Traditionen eines wilhelminischen „Abstammungsrechts“, sondern auf der Selbstgewißheit unserer Demokratie. Wir sind stolz auf dieses Land, auf seine Landschaften, auf seine Kultur, auf die Kreativität und den
Leistungswillen seiner Menschen. Wir sind stolz auf die
Älteren, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut und
ihm seinen Platz in einem friedlichen Europa geschaffen
haben. Wir sind stolz auf die Menschen im Osten unseres Landes, die das Zwangssystem der SED-Diktatur abgeschüttelt und die Mauer zum Einsturz gebracht haben.
({146})
Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewußtsein
einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-,
aber auch niemandem unterlegen fühlen muß,
({147})
die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt,
aber bei aller Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen, doch nach vorne blickt. Es ist das Selbstbewußtsein
einer Nation, die weiß, daß die Demokratie nie für die
Ewigkeit erworben ist, sondern daß Freiheit, wie es schon
in Goethes „Faust“ heißt, „täglich erobert“ werden muß.
({148})
Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie uns als
Deutschen um so besser trauen können, je mehr wir
Deutschen selbst unserer eigenen Kraft vertrauen.
({149})
Es waren in der Vergangenheit immer die gefährlichen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein, die zu
Extremismus und Unfrieden geführt haben. In diesen
Tagen ist es 80 Jahre her, daß der erste Weltkrieg zu
Ende gegangen ist. In Frankreich und Deutschland ist
damit das Gedenken an Leid und unsagbaren Schmerz
verbunden. Beide Völker sind deswegen unumkehrbar in
dem Bewußtsein geeint: „Nie wieder!“
Für uns Deutsche ist der gestrige Tag, der
9. November, geschichtsbeladen und ambivalent wie
kein anderer. Kein anderes Datum symbolisiert Stolz
und Schmerz, Freude und Schande in der Geschichte unserer Nation so sehr wie dieser 9. November. Es ist der
Tag, da die erste deutsche Republik entstand. Es ist der
Tag, an dem für Millionen von Ostdeutschen die Berliner Mauer passierbar wurde. Aber es ist auch der Tag
der Reichspogromnacht, als 1938 Deutsche in verbrecherischem Rassenwahn im ganzen Land Synagogen
anzündeten, die Häuser und Geschäfte jüdischer Mitbürger zerstörten und die jüdischen Mitbürgerinnen und
Mitbürger töteten.
Vieles, was die Väter und Mütter unserer Verfassung
konzipiert haben, geschah vor allem in Erinnerung an
diese nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Die
gemeinsame Geschichte verpflichtet auch uns. Aber inzwischen - das ist gut so - ist unsere Demokratie kein
zartes Pflänzchen mehr, sondern ein starker Baum. Die
Deutschen haben mit Hilfe ihrer Freunde und Verbündeten die staatliche Einheit in Frieden und Selbstbestimmung vollenden können. Wir bekennen uns uneingeschränkt zu unserer Verankerung im westlichen
Bündnis und in der Europäischen Union. Wir sind heute
Demokraten und Europäer - nicht, weil wir es müßten,
sondern weil wir es wirklich wollen, meine Damen und
Herren.
({150})
Als Demokraten und Europäer wollen wir die Instrumente der Demokratie weiterentwickeln. Wir werden sie
an den Erfordernissen einer modernen Politik ausrichten,
die auf Partnerschaft und Dialog gegründet ist. Die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und
Bürger werden wir stärken. Wir werden mit den Umweltverbänden über ein Verbandsklagerecht reden, das
nicht noch mehr politische Entscheidungen auf die Justiz
abwälzt, sondern die Beteiligung betroffener und sachkundiger Bürger schon im Vorfeld stärkt; darum geht es
uns.
Wir werden da, wo es geht, Gesetze mit einem Überprüfungsvorbehalt versehen und sie nach einem vernünftigen Zeitraum der Erprobung erneut dem Parlament vorlegen, um sie zu korrigieren oder auch zu bestätigen.
Wir halten es mit der Maxime des großen Philosophen Ernst Bloch:
Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in
anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe.
Nicht nur dein Denken, sondern vor allem das zu
Bedenkende hat sich unterdes geändert.
Daran orientieren wir uns, wenn wir sagen: Wir wollen
uns den Realitäten stellen und wieder einmal mehr Demokratie praktizieren.
Meine Damen und Herren, es ist heute eine lebendige
und stabile Demokratie, die wir beim Umzug der Verfassungsorgane nach Berlin mitnehmen. Die Baumaßnahmen dafür werden zügig zu Ende geführt, und die
Bundesregierung wird helfen, die Voraussetzungen zu
schaffen, die Berlin braucht, um seiner Aufgabe als
Hauptstadt gerecht zu werden. Insbesondere die städtebauliche Neuordnung der Berliner Mitte werden wir
unterstützen.
Aber es geht ja um mehr als um einen Umzug, meine
Damen und Herren. Es geht auch hier um einen Aufbruch. Wir gehen übrigens nicht nach Berlin, weil wir in
Bonn gescheitert wären. Ganz im Gegenteil! Das
40jährige Gelingen der Bonner Demokratie, die Politik
der Verständigung und guten Nachbarschaft, die
Leuchtkraft eines Lebens in Freiheit haben dazu beigetragen, die deutsche Teilung zu überwinden und das zu
ermöglichen, was wir heute gemeinhin „Berliner Republik“ nennen. Jürgen Habermas und viele andere erhoffen sich von dieser Berliner Republik ein, wie er
formuliert hat, „ziviles Land, das sich kosmopolitisch
öffnet und behutsam-kooperativ in den Kreis der anderen Nationen einfügt“. Daran wollen wir arbeiten.
In der öffentlichen Diskussion hat es aber auch Einwände gegen diesen Begriff gegeben. Manchen klingt
Berlin immer noch zu preußisch-autoritär, zu zentralistisch. Dem setzen wir unsere ganz und gar unaggressive
Vision einer Republik der Neuen Mitte entgegen. Diese Neue Mitte grenzt niemanden aus. Sie steht für Solidarität und Innovation, für Unternehmungslust und Bürgersinn, für ökologische Verantwortung und eine politische Führung, die sich als modernes Chancenmanagement begreift. Symbolisch nimmt diese Neue Mitte Gestalt in Berlin an: mitten in Deutschland und mitten in
Europa.
Allerdings bleibt auch hier die Vergangenheit lebendig. In jüngster Zeit, meine Damen und Herren, werden
große deutsche Unternehmen mit dieser Vergangenheit
in besonderem Maße konfrontiert. Deshalb habe ich
noch vor der Aufnahme meiner Amtsgeschäfte betroffene Industrieunternehmen zusammengerufen, um über
einen gemeinsamen Fonds zur Entschädigung berechtigter Ansprüche von Zwangsarbeitern zu sprechen.
({151})
Gemeinsam heißt hier Gemeinsamkeit der Unternehmen. Ich habe den Eindruck, daß die Unternehmen zu
einer fairen Lösung hinsichtlich der berechtigten Ansprüche bereit sind.
Aber ich sage genauso deutlich: Wo es nicht um den
Ausgleich erlittenen Unrechts geht, werden wir unseren
Unternehmen und damit auch ihren Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern im Inland, aber auch im Ausland
Schutz gewähren.
Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin
wird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, sondern
unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Debatte
hier im Deutschen Bundestag. Wir sind sicher, daß wir
dabei eine würdige Lösung finden werden, die in ein
Gesamtkonzept für die Gedenkstätten in Deutschland
eingebettet wird.
Aber in diesem Geschichtsbewußtsein sagen wir
auch, daß Berlin noch für ganz andere Traditionen steht
als nur für die Erinnerung an totalitäre Schreckensherrschaft. Berlin steht auch für demokratische Selbstbehauptung und Freiheitswillen; beides wurde vor allem
von den sozialdemokratischen Stadtoberhäuptern Ernst
Reuter und Willy Brandt verkörpert.
({152})
Berlin steht für ein weltoffenes Klima, das die Stadt
zum Anziehungspunkt für die Jugend und für die kulturelle Avantgarde aus ganz Europa gemacht hat. Die
kulturellen Brücken nach New York, Warschau, Moskau
und Paris sind längst wieder geschlagen. Für die jüngeren Deutschen und Europäer ist Berlin vor allem eine
heitere und aufregende Stadt, die sie von Klassenreisen,
Fußballspielen oder auch von der Love-Parade her kennen.
({153})
Herr Fraktionsvorsitzender, ich weiß nicht, warum
Sie so besonders lächeln.
({154})
Auch und gerade an diesen Traditionen werden wir anknüpfen, wenn wir Berlin zur Hauptstadt einer Republik
der Neuen Mitte machen wollen.
Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zur
kulturellen Förderung Berlins.
({155})
Diese wird mit Unterstützung kultureller Projekte und
Einrichtungen in den neuen Ländern einhergehen. Zur
Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen des Bundes schaffen wir das Amt eines Staatsministers für
kulturelle Angelegenheiten. Er wird Impulsgeber und
Ansprechpartner für die Kulturpolitik des Bundes sein
und sich auf internationaler, aber vor allem auf europäischer Ebene als Interessenvertreter der deutschen Kultur
verstehen. Auch dadurch wird die Bundesregierung
Kulturpolitik wieder zu einer großen Aufgabe europäischer Innenpolitik machen.
Meine Damen und Herren, die Republik der Neuen
Mitte ist auch eine Republik des Diskurses. Er findet
nicht hinter den verschlossenen Türen der Gremienvorstände statt. Die Neue Mitte sucht den Konsens über das
beste Ergebnis und nicht den Kompromiß über den
kleinsten gemeinsamen Nenner.
Die neuen Medien sind für sie nicht in ein paar mehr
oder ein paar weniger Kanälen im Privatfernsehen, sondern bedeuten für sie den technisch unbegrenzten
Zugang zum Wissen und zum weltweiten Informationsaustausch.
({156})
Wir werden uns dafür einsetzen, gemeinsam mit den
Ländern und den Partnern aus der Industrie an den
Schulen einen kostenlosen oder zumindest kostengünstigen Internetzugang zu ermöglichen.
Im Zeitalter von Internet und Online-Kommunikation
muß aber auch das Wort von der demokratischen Öffentlichkeit einen neuen Klang bekommen. Die neuen
Wege der Informationsvermittlung sind eine hervorragende Chance, die Gesellschaft zum Sprechen zu bringen; aber sie bergen auch Gefahren. Einer verantwortlichen Medienpolitik kommt deshalb zentrale Bedeutung
zu. Jeder soll Zugang zu den neuen Medien haben, jeder
soll ihren Nutzen und ihre Grenzen kennen. Deshalb
meinen wir es wörtlich, wenn wir dazu auffordern, unsere Kinder den Umgang mit Computern zu lehren: nicht
nur die Technik, sondern mehr noch die Kultur dieser
Form der Kommunikation.
Aus Bonn, meine Damen und Herren, nehmen wir
eine gelebte, eine lebendige demokratische Transparenz
mit nach Berlin. Diese Transparenz wird hier in diesem
Haus des Deutschen Bundestags in großartiger Architektur sichtbar.
Den Reichstag, der nun bald Deutscher Bundestag
sein wird, überwölbt eine gläserne Kuppel, wir wir wissen. Das ist nach meiner Auffassung mehr als ein hübsches architektonisches Detail. Es sollte ein Symbol für
neue Offenheit und für demokratische Renovierung dieses so sehr geschichtsbeladenen Gebäudes sein. Es kann
ein Symbol für die moderne Kommunikation einer
staatsbürgerlichen Öffentlichkeit werden.
Diese Öffentlichkeit beschränkt sich nicht auf die
Politik. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften als wichtigen Kräften des kulturellen, politischen und sozialen Lebens werden wir fördern und fortsetzen. Wir begrüßen den Dialog der Religionsgemeinschaften untereinander und ihre Bereitschaft, zu den brennenden sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Gestaltungsfragen mit Anregungen und Kritik beizutragen.
({157})
Das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in
Vereinen und Verbänden, im Sport, in Bürgerinitiativen
und Selbsthilfegruppen ist eine der Keimzellen unseres
sozialen Zusammenlebens und einer eigenverantwortlichen Gestaltung unserer Existenz.
Herr Kollege Schäuble, verzeihen Sie, aber weil Sie
dies alles - ein wenig machtverliebt und machtversessen übersehen haben, haben Sie verloren. Das ist der Grund.
({158})
Von Koalition ist bei uns meist nur die Rede, wenn es
um Parteien geht. Diese braucht man auch. Wir streben
jedoch eine große gesellschaftliche Koalition an, eine
Koalition aller Kräfte, die den Wandel in Deutschland
gestalten wollen. Wir bieten nicht nur ein Bündnis für
Arbeit an. Nein, meine Damen und Herren, wir wollen
ein Zukunftsbündnis in diesem Land schaffen.
({159})
Berlin ist aber auch die Stadt, die quälende Jahrzehnte lang durch den Ost-West-Konflikt geteilt war. So
glücklich wir Deutschen über dessen Überwindung sind,
so bewußt sind wir uns auch, daß das Ende des kalten
Krieges noch lange nicht den Weltfrieden gebracht hat.
Der weltpolitische Umbruch hat in vielen Regionen
neue Instabilitäten und gewaltsame Konflikte ausgelöst,
auch vor unserer Haustür in Europa. Flüchtlingselend,
Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung in den
Ländern des Südens sind ein gefährlicher Nährboden für
diese und neue Konflikte.
Angesichts solcher Risiken, aber vor allem angesichts
der Chancen internationaler Zusammenarbeit erwartet
die Welt von uns mehr als je zuvor, daß wir unseren
Verpflichtungen im Rahmen unserer Bündnisse gerecht
werden. Wir bleiben in Europa und in der Welt verläßliche Partner.
Der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von
Amerika verdanken wir viel: nicht weniger als den
Frieden und unsere Freiheit. Ich will es gar nicht verhehlen, meine Damen und Herren: Etliche, die heute in
diesem Deutschen Bundestag sitzen, und auch manche,
die jetzt Mitglieder der Regierung sind, waren nicht immer mit allem einverstanden, was unsere amerikanischen Partner vor allem in der Hochrüstungsphase des
kalten Krieges getan und vorgeschlagen haben.
({160})
Sie standen damit übrigens nicht allein in der westlichen
Welt.
Es ist aber dieselbe Generation, die von kaum einem
Ereignis der Nachkriegsgeschichte so geprägt worden ist
wie von John F. Kennedys Berlin-Besuch und seinem
Bekenntnis zur Freiheit Westberlins.
({161})
Schriftsteller haben diese Generation als - ich zitiere - „Kinder der amerikanischen Zone“ bezeichnet.
Sie ist mit amerikanischer Kultur und amerikanischen
Produkten aufgewachsen. Aus der kritischen Distanz der
Kinder wurde die Partnerschaft von Erwachsenen. Die
Freundschaft mit Amerika wurde dieser Generation
nicht aufgezwungen, sie wurde ihr von amerikanischer
Demokratie und Kultur angeboten. Es ist eine Freundschaft, die auf gegenseitiges Verständnis und immer
bessere gegenseitige Kenntnis gebaut ist.
Es ist eine Freundschaft, die sich bewährt hat und vor
keiner Bewährungsprobe steht. Wir garantieren sie nicht
nur aus Kontinuität und Bündnistreue heraus, nein, wir
garantieren sie aus jenem Vertrauen, das nur aus partnerschaftlichem Miteinanderreden und Miteinanderfühlen entstehen konnte. Wir stehen überzeugt zu unseren Verpflichtungen im Rahmen der Atlantischen
Allianz.
({162})
Die Instrumente der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik wollen wir ausbauen und
nutzen, um Europa in der internationalen Politik endlich
handlungsfähig zu machen. Darauf warten auch unsere
Freunde in den Vereinigten Staaten mit Ungeduld.
Deutsche Außenpolitik ist und bleibt Friedenspolitik.
Dabei bekennen wir uns ausdrücklich zu der Bereitschaft, an friedenssichernden und friedenserhaltenden
Maßnahmen und Missionen mitzuwirken. Das gilt besonders auch für die Lage in Südosteuropa.
Wir wissen sehr genau, daß es nicht genügt, zur
Durchsetzung der Menschenrechte etwa im Kosovo ein
militärisches Drohpotential zu mobilisieren und, sollte
dies unvermeidlich sein, es auch einzusetzen. Viel
wichtiger als ein eventueller Militärschlag ist die Aufgabe, die Einhaltung geschlossener Abkommen zu überwachen und die Friedenssicherung vor Ort zu gewährleisten. Auch bei der Erfüllung dieser Aufgabe werden sich
unsere Partner auf uns verlassen können.
({163})
In Europa kommt dabei der OSZE als der einzigen
gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation überragende Bedeutung zu. Bei der Befriedung des Kosovo hat sie
sich bereits eine Aufgabe neuer Qualität gesetzt. Die
Bundesregierung unterstützt diese Mission mit allen
Kräften.
Wir liefern damit auch eine hochmoderne Definition
vom Wirken der Bundeswehr als einer Armee, die dem
Frieden dient. Unsere Soldaten setzen heute ihr militärisches Know-how in immer mehr Bereichen zivil
ein.
({164})
- Jetzt haben Sie aber was! Es sei Ihnen gegönnt.
({165})
Eine entscheidende politische Schwäche wurde soeben
ausfindig gemacht.
({166})
Das wird so weitergehen.
Bei der Befriedung des Kosovo - ich hatte es schon
gesagt - hat die Bundeswehr sich bereits eine Aufgabe
neuer Qualität gesetzt. Die Aufgaben der Bundeswehr
reichen von der Eindämmung von Naturkatastrophen bis
hin zu aktiver Demokratisierungshilfe.
Ausdrücklich danken wir den jungen Deutschen, die
in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo militärisch und
zivil den Frieden wahren helfen.
({167})
Sie wissen, welche Hypothek sie tragen, wie genau ihr
Auftritt in der Welt, aber auch hier in Deutschland beobachtet wird. Und sie lösen ihre Aufgabe mit bewundernswerter Disziplin und Professionalität.
Selbstverständlich wird die Bundeswehr weiterhin
zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigt bleiben.
Eine Wehrstrukturkommission wird bis Mitte der Legislaturperiode Vorschläge unterbreiten über Auftrag,
Umfang, Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte.
Dabei betonen wir allerdings in aller Deutlichkeit,
daß das Vorhalten militärischer Potentiale der Krisenprävention dienen soll, wie auch ihr Einsatz die Ultima
ratio der Friedenspolitik bleiben muß.
({168})
Wir werden unsere Bemühungen zur weltweiten Abrüstung und Rüstungskontrolle noch verstärken. Die Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung der Massenvernichtungswaffen fest.
({169})
Wir wissen, daß es der Welt nicht gutgehen kann,
wenn es wenigen immer besser und vielen immer
schlechter geht. Die Überwindung der Kluft zwischen
armen und reichen Weltregionen bleibt die größte internationale Herausforderung an der Schwelle zum 21.
Jahrhundert.
Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt ist in den vergangenen 16 Jahren um beinahe
die Hälfte gesunken, auf jetzt noch 0,28 Prozent. Diesen
Abwärtstrend werden wir stoppen und dabei auf Effizienz und Kohärenz der Maßnahmen zur Bewältigung
globaler Zukunftsaufgaben achten.
({170})
Dem Wirtschaftsgipfel 1999 in Köln werden wir
eine Initiative zur weiteren Erleichterung der Schuldenlast der ärmsten Entwicklungsländer unterbreiten. Gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union werden wir die regionale Zusammenarbeit mit den
Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika ausbauen.
Den von verheerenden Naturgewalten heimgesuchten
Staaten Zentralamerikas werden wir helfen,
({171})
nicht nur mit unmittelbarer humanitärer Hilfe, sondern
auch mit Mitteln für den Wiederaufbau ihrer fast vollständig zerstörten Infrastrukturen. Deshalb werden wir
uns in den zuständigen internationalen Gremien für
einen möglichst umfassenden Schuldenerlaß einsetzen.
({172})
Den Vereinten Nationen werden wir eigenständige
Einheiten für friedenserhaltende Maßnahmen anbieten.
Dabei setzt sich die Bundesregierung aktiv dafür ein, das
Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren
und die Rolle des Generalsekretärs zu stärken.
({173})
Die Möglichkeit, Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen zu werden, werden wir wahrnehmen, sofern ein gemeinsamer europäischer Sitz nicht
erreichbar ist.
Wir maßen uns nicht an, international die Rolle einer
Führungsmacht zu spielen oder in Krisensituationen ohne Abstimmung mit unseren Partnern politische Initiativen zu ergreifen. Uns ist weltweit an guter Zusammenarbeit gelegen. Auch unsere Außenwirtschaftsbeziehungen sollen dem Frieden und der Demokratisierung dienen.
Als dritte Säule unserer Außenpolitik werden wir die
auswärtige Kulturpolitik stärken und ausbauen. Das ist
gerade unter den Bedingungen der Globalisierung unverzichtbar.
({174})
Wir wissen aus eigener Erfahrung: Frieden braucht wirtschaftliche Entwicklung, und die wirtschaftliche Entwicklung braucht Frieden. Nur dort können Krisen auf
Dauer gelöst werden, wo die Menschen spüren, daß sich
Frieden und Demokratie lohnen und daß friedliche Entwicklung ihre Lage spürbar verbessert.
Eine solche Aufgabe stellt sich uns gemeinsam mit
unseren europäischen Partnern etwa im Nahen Osten.
Im Friedensprozeß zwischen Israel, den Palästinensern
und den arabischen Nachbarstaaten können und wollen
wir nicht die Rolle des Paten im Friedensprozeß spielen.
Dieser Part kommt den Vereinigten Staaten von Amerika und den internationalen Organisationen zu. Aber wir
Europäer können und sollten durch gezielte Wirtschaftshilfe, durch Öffnung der Märkte und durch die Beteiligung an Infrastrukturmaßnahmen dazu beitragen, den
Friedensprozeß unumkehrbar zu machen. Damit können
wir unserer historischen Verantwortung gerecht werden
- auch und gerade für Israel und für den Frieden.
({175})
Die Einbindung Deutschlands in die Europäische
Union ist von zentraler Bedeutung für die deutsche
Politik. Die Bundesregierung wird deshalb insbesondere
die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr
1999 nutzen, um den europäischen Integrationsprozeß
voranzutreiben. Nur durch die Weiterentwicklung zu
einer Politischen Union sowie zu einer Sozial- und Umweltunion wird es gelingen, unser Europa bürgernah zu
gestalten.
({176})
Durch den Regierungswechsel in Deutschland und
durch die neuen politischen Realitäten in Europa ergibt
sich endlich die Chance einer europäischen Sozial- und
Beschäftigungspolitik. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit kann endlich auch als europäische Frage behandelt werden. Er ist eben nicht mehr länger eine Fußnote
zu den Beschlüssen des Ministerrates, sondern er steht
auf der europäischen Tagesordnung ganz oben.
({177})
Unser Ziel ist ein europäischer Beschäftigungspakt.
In ihm sollen ausdrücklich verbindliche Ziele zum Abbau der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie zur
Überwindung der Diskriminierung von Frauen auf dem
Arbeitsmarkt aufgenommen werden. Zur Schaffung von
zukunftsfähigen Arbeitsplätzen werden wir uns auch in
der Europäischen Union für eine Politik der ökologischen Modernisierung einsetzen.
Die Europäische Währungsunion ist eine unumkehrbare Tatsache. Der Euro wird uns die völlige Vergleichbarkeit der Preise und der Leistungen bringen.
Damit ist die Zeit nationaler Alleingänge endgültig vorbei. Das gilt zum Beispiel auch für die Weiterentwicklung der ökologischen Steuerreform. Sie muß und sie
kann nur in einem europäischen Rahmen auf Dauer gelingen.
({178})
Die gemeinsame Währung muß ein Erfolg werden.
Das heißt: Sie muß stabil sein und stabil bleiben.
Die Stabilitätsorientierung der künftigen europäischen Geldpolitik stellen wir nicht in Frage. Aber auch
die vom Bundesbankpräsidenten selbst als wünschenswert bezeichnete Diskussion um die Zinspolitik - um
auf einen aktuellen Punkt einzugehen - wollen und werden wir führen.
({179})
Dabei hat niemand - ich wiederhole: niemand - die Unabhängigkeit der Bundesbank und der Europäischen
Zentralbank in Frage gestellt.
({180})
- Sie interpretieren das immer gerne anders. Aber es ist
so, wie ich es Ihnen hier sage; glauben Sie es mir.
({181})
Diese Unabhängigkeit ergibt sich aus dem Bundesbankgesetz und aus dem Maastrichter Vertrag. Dort
wurde sie verankert, weil sie sachlich geboten ist und
weil sie der Stabilität dient.
({182})
Aber ich füge hinzu: Dabei entspricht es entwickelter
und guter europäischer Tradition demokratisch verfaßter
Gesellschaften - auch deshalb steht dies darin -, daß
zum Beispiel die Europäische Zentralbank ihre in voller
Souveränität gefaßten geldpolitischen Entscheidungen
regelmäßig dem Europäischen Parlament darlegen wird.
Was spricht dagegen?
({183})
Der Bundesfinanzminister hat als einer der ersten auf
die Notwendigkeit hingewiesen, zu wirksamen internationalen Vereinbarungen zu kommen, um die Turbulenzen auf den Weltfinanzmärkten zu glätten. Diese Notwendigkeit wird heute bei der Bundesbank, bei den
europäischen und nordamerikanischen Partnern - bis hin
zur Weltbank und zur US-Notenbank - genauso gesehen. Auch und gerade wegen der internationalen
Finanzkrisen müssen wir darauf hinwirken, daß Europa
mit einer Stimme spricht.
Es wird deshalb ein erster Schwerpunkt der Ratspräsidentschaft sein, die Deutschland am 1. Januar 1999
übernimmt, die Verhandlungen zur Agenda 2000 bereits
bei einem Sondertreffen des Europäischen Rates im
Frühjahr 1999 abzuschließen. Das ist gewiß eine immens schwierige Aufgabe. Aber wir wollen den ernsthaften Versuch unternehmen, diese Aufgabe zu erfüllen.
Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzen wollen wir dabei auch zu einer höheren Beitragsgerechtigkeit kommen und die deutsche Nettobelastung auf ein
faires Maß verringern. Ich muß aber in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß diese Belastungen im
Jahre 1992 mit der Stimme der damaligen Bundesregierung unter anderen Bedingungen - das ist gar keine Frage - beschlossen worden sind und daß es schwierig sein
wird - das weiß jeder, der sich dieser Aufgabe angenommen hat -, diese Beschlüsse, auf deren Realisierung
viele der Partner setzen, wenigstens in etwa zu korrigieren. Wir werden daran arbeiten. In diesem Punkt sind
wir uns ja alle in diesem Hause einig.
Bei der Agrarpolitik werden wir uns auf europäischer Ebene für grundlegende Veränderungen einsetzen.
Wo die Angleichung der Preise an das Weltmarktniveau
die deutschen Bauern benachteiligt, müssen wir in Europa ein System direkter Einkommensbeihilfen durchsetzen, ein System, das auch national ergänzt werden
können muß.
Auch die EU muß sparsam wirtschaften, ihre Mittel
effizient und zielgerecht einsetzen und den Subventionsmißbrauch bekämpfen. Auch in Europa müssen wir
uns auf die strukturschwächsten und förderungsbedürftigsten Regionen konzentrieren. Dabei dürfen die neuen
deutschen Bundesländer gegenüber vergleichbaren Regionen Europas nicht in einen Nachteil geraten.
Wir werden dafür sorgen, daß Deutschland in der EU
nicht länger als Bremser bei der Sozialpolitik auftritt.
({184})
Wir werden aktiver Schrittmacher bei der Reform der
EU sein. Wir wollen nicht, daß der Euro deutsch spricht.
Wir wollen, daß D-Mark, Franc und Schilling europäisch sprechen.
({185})
Die Erwartungen unserer Nachbarn und Partner an
diese Bundesregierung sind enorm. Wir werden versuchen, diese Erwartungen nicht zu enttäuschen. Die regelmäßigen Konsultationen mit Frankreich und Großbritannien sind für uns keine bloße Formsache. Die
deutsch-französische Freundschaft ist das Fundament
unserer Europapolitik. Diese Freundschaft wollen wir
auf eine noch breitere gesellschaftliche und vor allem
kulturelle Grundlage stellen.
Unseren Nachbarn im Osten versichern wir, daß wir
die Chance der EU-Osterweiterung entschlossen nutzen wollen. Europa wird und darf nicht am ehemaligen
Eisernen Vorhang oder an der deutschen Ostgrenze enden.
({186})
Die Deutschen werden eben nicht vergessen, welch unschätzbaren Beitrag die Völker in Ungarn und in Polen
zumal zur Überwindung der deutschen Teilung geleistet
haben. Wir wollen sie partnerschaftlich in die EU integrieren.
({187})
Dazu gehört auch die Beachtung angemessener Übergangsfristen, zum Beispiel bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Dies bitte ich wirklich alle zu verstehen. Die
Beachtung dessen dient eben nicht der Abwehr und Verzögerung, sondern dem vollständigen Gelingen und der
Integration.
Die Bundesregierung ist sich ihrer besonderen historischen Verantwortung gegenüber Polen bewußt. Sie
wird ihr mit dem Angebot einer immer engeren Partnerschaft sowie der Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und Polen gerecht werden.
Die Bundesregierung wird zügig daran arbeiten, auf
Grundlage der Deutsch-Tschechischen Erklärung noch
bestehende Probleme im Verhältnis zur Tschechischen
Republik abzubauen.
({188})
Meine Damen und Herren, die gemeinsame Währung
ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur europäischen
Integration. Aber sie gibt nur einen Rahmen vor, einen
Rahmen, den wir mit Leben füllen müssen.
Wir brauchen eine zügige und glaubwürdige Demokratisierung der europäischen Institutionen. Dabei steht
für die Bundesregierung fest, daß unser Europa die nationalen Identitäten nicht ersetzen oder aufheben soll.
Dennoch oder gerade deshalb scheint eine föderale Ordnung in Europa die beste Gewähr für Solidarität und
Fortschritt zu sein.
Bei uns in Deutschland hat sich das föderale System
bewährt. Bund und Länder bleiben auf Kooperation angewiesen. Kooperation bedeutet nicht die Aufgabe der
eigenen Interessen. Wer wüßte das besser als ich? Die
Bundesregierung wird sich an der gemeinsamen Formulierung einer zeitgemäßen Aufgabenverteilung im Verhältnis zwischen Bund und Ländern beteiligen. Nur im
sachgerechten Interessenausgleich werden beide Seiten
ihrer gesamtstaatlichen und europäischen Verantwortung gerecht.
Am Ende dieses Jahrtausends wird Deutschland zwei
internationale Großereignisse ausrichten. Im Jahre 1999
wird Weimar europäische Kulturhauptstadt sein; im
Jahr darauf findet die Weltausstellung 2000 in Hannover statt. Beide Veranstaltungen werden die Bundesrepublik Deutschland ins internationale Rampenlicht stellen. Weimar wird die erste europäische Kulturhauptstadt
in den neuen Bundesländern sein und versuchen, eine
Brücke zwischen dem kulturellen Erbe und dem historischen Auftrag aus unserer Geschichte zu schlagen. Die
Expo 2000 wird für unseren Aufbruch in die Welt des
21. Jahrhunderts stehen.
Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung dieser
beiden Ereignisse bewußt, und sie wird ihnen zu internationalem Erfolg verhelfen. Sie verläßt sich dabei auch
auf die Leistungsbereitschaft, die Gastfreundschaft und
die Neugier der Menschen in Deutschland.
Gegen die Konkurrenz der Wirtschaftsstandorte setzen wir das Konzept von Europa als Lebensort und Lebensart. Wir stehen für das Zukunftsprojekt Deutschland
in Europa. Dabei stehen wir in vorderster Reihe mit den
sozialen Modernisierern unserer Nachbarländer. Diese
Chance, gemeinsam ein modernes Europa der sozialen
Marktwirtschaft und der ökologischen Verantwortung zu
bauen, werden wir ergreifen.
Wir machen keine unhaltbaren Versprechungen. Aber
wir können und wir wollen Mut machen, Mut zu einer
neuen Zivilität und zu mehr Partnerschaft, aber auch
Mut zum Optimismus, zur Neugier auf die Zukunft.
({189})
Ich erinnere an Willy Brandt, der vor diesem Parlament 1973 in der Regierungserklärung seines Reformbündnisses den „vitalen Bürgergeist“ zitiert hat, der in
dem Bereich zu Hause sei, den auch Willy Brandt damals „die neue Mitte“ genannt hat.
Helmut Schmidt hat vor diesem Haus in seiner Regierungserklärung 1976 in vergleichbar schwieriger Wirtschaftslage gesagt: Die Bundesregierung setzt bei ihren
Bemühungen zuallererst - ich zitiere ihn - auf den Fleiß,
die Intelligenz und das Verantwortungsbewußtsein der
Deutschen. Daran knüpfe ich bewußt an, und ich bin sicher, meine Damen und Herren, wir werden es schaffen,
weil wir Deutschlands Kraft vertrauen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({190})
Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen, es ist mir eine große Freude, auf der Ehrentribüne den Beauftragten der OSZE für Medienfreiheit, unseren langjährigen Kollegen Freimut Duve,
begrüßen zu dürfen.
({0})
Lieber Kollege Duve, hier im Parlament werden Sie
vermißt. Sie haben eine neue, verantwortungsvolle Aufgabe übernommen. Ich möchte Ihnen im Namen des
Hauses für Ihre bisherige Arbeit herzlich danken und
wünsche Ihnen für die Zukunft viel Erfolg.
({1})
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich mitteilen, daß heute zum erstenmal hinter dem Präsidentenstuhl der neue Direktor beim Deutschen Bundestag, Herr
Dr. Peter Eickenboom, Platz genommen hat.
({2})
Er folgt Dr. Rudolf Kabel nach. Dr. Kabel hat dieses
Amt mehr als sieben Jahre mit großer Sachkunde ausgeübt und ist nunmehr in den Ruhestand getreten. Von dieser Stelle aus nochmals herzlichen Dank für die im
Dienste des Parlaments geleistete Arbeit. Alles Gute
auch ihm für die Zukunft.
({3})
Den neuen Direktor haben Sie schon willkommen
geheißen. Ich tue das auch noch offiziell. Ich wünsche
ihm für sein verantwortungsvolles Amt eine glückliche
Hand und Gottes Segen.
({4})
Ich eröffne jetzt die Aussprache. Das Wort hat der
Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Wolfgang
Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr
Bundeskanzler, es ist wahr: Sie haben am 27. September
mit Rotgrün die Wahl gewonnen. Wir haben Ihnen dazu
gratuliert. Wir wünschen auch unter Ihrer Regierung unserem Land eine gute Zukunft.
({0})
Sie werden allerdings in der Zukunft nicht jede sachliche Einwendung gegen Ihre Absichten und Ihre Politik
mit dem Hinweis auf das Wahlergebnis abtun können.
Sie müssen sich in der Zukunft schon mit der Sache auseinandersetzen.
({1})
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben - nicht mit
einem Übermaß an Freude, aber in demokratischem Respekt - das Wahlergebnis nicht nur akzeptiert, sondern
den Oppositionsauftrag für diese vier Jahre angenommen. Wir werden eine kämpferische, eine kritische Opposition sein. Wir werden nicht Opposition um der Opposition willen betreiben. Wo Sie Absichten verfolgen,
eine Politik betreiben, der wir zustimmen, werden wir
Sie nicht kritisieren, nur um andere Positionen zu vertreten. Aber wo es um der Sache willen geboten ist,
werden wir das Wächteramt der Opposition kämpferisch, aufmerksam wahrnehmen. Darauf können Sie
zählen.
({2})
So dienen wir gemeinsam in unterschiedlicher Verantwortung und in demokratischer Gemeinsamkeit unserem
Land.
Gleich zu Beginn sagen will ich auch: Ihre Regierungserklärung war eine Enttäuschung.
({3})
Es ist eine Ansammlung von Überschriften und Absichtserklärungen. Aber wo es um inhaltliche Substanz
geht, bleibt sie, trotz einer nicht unbeachtlichen Dauer aber eine Regierungserklärung am Anfang einer neuen
Legislaturperiode muß alle Themen behandeln; das
braucht seine Zeit -, bemerkenswert blaß.
({4})
Noch spannender ist im übrigen, was Sie in Ihrer Regierungserklärung nicht erwähnt haben. Zwar haben Sie
am Schluß, im Zusammenhang mit der Europäischen
Währungsunion und der aktuellen Debatte, die Ihr Finanzminister nebst Frau Gemahlin ausgelöst haben,
({5})
ein paar Bemerkungen dazu gemacht; aber ausschließlich in diesem Zusammenhang ist in Ihrer Regierungserklärung das Wort „Preisstabilität“ vorgekommen. Das ist
mir schon aufgefallen, und durchaus bemerkenswert.
({6})
- Ganz langsam! Wir machen es ganz in Ruhe.
Wir haben in Ihrer Regierungserklärung eine Menge
ertragen müssen, was so nicht akzeptabel ist. Daß man
nach einem demokratischen Wechsel alles ein wenig anders darstellt, ist ja in Ordnung. Aber mit HelmutSchmidt-Zitaten zu enden und zum deutschamerikanischen Verhältnis so zu reden, wie Sie es getan
haben, und gleichzeitig zu verschweigen, daß Sie gegen
den NATO-Doppelbeschluß demonstriert und darüber
Helmut Schmidt gestürzt haben - während Helmut Kohl
und wir dafür gesorgt haben, daß er durchgesetzt werden
konnte -, ist schon ein starkes Stück.
({7})
Man kann ja über Erblast und andere Dinge reden.
Aber ein paar Dinge müssen am Anfang klargestellt
sein: Davon zu reden, daß für die Frauen, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nichts getan worden
sei in Deutschland, ist angesichts der Tatsache, daß in
den 16 Jahren, in denen Helmut Kohl Bundeskanzler
war, in denen wir, die CDU/CSU und die F.D.P., gemeinsam Regierungsverantwortung getragen haben, die
Berücksichtigung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt worden ist, schon eine Unverschämtheit.
({8})
Wir haben den Erziehungsurlaub und das Erziehungsgeld eingeführt. In Ländern, in denen die Union regiert,
gibt es ein drittes Jahr Erziehungsgeld; in Ländern, in
denen die SPD regiert, gibt es das nicht. Das ist der Unterschied, und das darf man nicht verfälschen.
({9})
Was Sie zur Solidarität mit den Menschen im Osten,
in den neuen Bundesländern, gesagt haben, das will ich
mit der Hoffnung so stehenlassen, daß das neue Amt Ihnen auch eine neue Einsicht gibt. Wer sich noch daran
erinnert, was Sie als Ministerpräsident von Niedersachsen zur Solidarität mit den Menschen in den neuen Ländern gesagt haben, kann nur hoffen, daß Sie in der neuen
Verantwortung ein neues Verständnis von Solidarität
aller Deutschen in Ost und West haben.
({10})
Als Sie von der Einbindung der Vertreter der Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR in Ihre Regierung und Koalition sprachen, Herr Bundeskanzler, hätten Sie auch ein Wort zu der Koalition von SPD und
PDS in Mecklenburg-Vorpommern sagen müssen.
({11})
- Das will ich Ihnen sagen, Herr Kollege. Ich habe dazu
eine Agenturmeldung der „AFP“ vom 9. November.
Darin steht:
Bundesinnenminister Otto Schily will die Überwachung der PDS durch den Verfassungsschutz neu
überprüfen.
Schily sagte am Montag vor Journalisten in Berlin,
es sei eine „vertrackte Situation“, wenn die PDS
wie in Mecklenburg-Vorpommern an der Regierung beteiligt sei und andererseits vom Verfassungsschutz beobachtet werde.
Der Mann hat recht: Das ist eine vertrackte Situation.
({12})
- Natürlich, deswegen gehört das in eine Regierungserklärung, wenn man von der Bürgerrechtsbewegung
spricht. Wenn das eine vertrackte Situation ist, dann ist
die richtige Schlußfolgerung, mit der PDS keine Koalition zu bilden, anstatt aufzuhören, sie durch den Verfassungsschutz überwachen zu lassen.
({13})
- Über das Thema könnten wir noch länger reden.
({14})
- Ja, natürlich! Die Regelanfrage bei der StasiÜberwachungsbehörde abschaffen. Lesen Sie doch einmal nach, was Herr Gauck und Richard Schröder, Ihr
Parteifreund, dazu gesagt haben. Die PDS hat sich mit
ihrer totalitären Vergangenheit nicht auseinandergesetzt.
Aber Sie wollen der PDS helfen, die Vergangenheit
wegzuwischen. Wir werden dabei nicht mitmachen.
({15})
Ich rate dazu, daß wir die Verfassungsschutzbehörden
auch in der Zukunft ermuntern, die Frage, ob eine Organisation beobachtet werden muß oder nicht, nach ihrem
Gefahrenpotential für die freiheitlich-demokratische
Grundordnung zu beurteilen und nicht danach, ob die
SPD mit der Organisation koaliert. Das ist der Punkt,
weshalb ich meine, daß die vertrackte Situation falsch
aufgelöst ist.
({16})
Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine andere Agenturmeldung zitieren, die ich heute morgen mit
Befriedigung gelesen habe. Sie ist von „dpa“. Da steht Herr Bundeskanzler, dazu haben Sie gar nichts gesagt,
obwohl Sie viel von Erblast gesprochen haben -:
Niedrigste Preissteigerung seit Vereinigung:
0,7 Prozent. Die Lebenshaltungskosten sind in
Deutschland im Oktober um 0,7 Prozent gegenüber
dem Vorjahresmonat gestiegen.
Meine Damen und Herren, auch das gehört zur Eröffnungsbilanz dieser Regierung: ein Maß an Preisstabilität, wie wir es in Deutschland niemals zuvor gekannt
haben.
({17})
Wer weiß und sich daran erinnert, daß Inflation immer die brutalste Form der Ausbeutung der sozial
schwächeren Bevölkerungsschichten gewesen ist, der
muß, wenn er für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit
- im Ziel sind wir uns einig - stehen will, dafür sorgen,
daß die Preisstabilität erhalten bleibt. Deswegen gehört
das zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung.
({18})
Herr Bundeskanzler, wenn Sie Ihrem Vorgänger im
Amt zu Recht bei vielen Gelegenheiten immer wieder
Ihren Respekt bekunden, ist das in Ordnung. Den teilen
wir, sogar mehr als Sie. Aber dann die Ergebnisse und
die Politik von Helmut Kohl und seiner Regierung so zu
verfälschen, wie Sie es in Ihrer Regierungserklärung
getan haben, ist nicht in Ordnung. Das paßt nicht zusammen.
({19})
Deswegen muß am Anfang der Debatte über Ihre Regierungserklärung, am Beginn dieser Legislaturperiode von
der Opposition um der Wahrheit und der künftigen Bewertung der Ergebnisse Ihrer Politik willen festgehalten
werden, was die Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung tatsächlich ist.
({20})
- Unsere Bundesregierung hinterläßt geordnete Staatsfinanzen.
({21})
Es ist bemerkenswert. Die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute haben in ihrem Herbstgutachten im Oktober doch mitgeteilt, daß nach ihrer Meinung
ein Entlastungsspielraum für eine Steuerreform im Jahre
1999 in einer Größenordnung von gesamtstaatlich etwa
20 bis 30 Milliarden DM netto zur Verfügung steht. Das
ist das Ergebnis der Finanzpolitik unserer Regierung,
und das ist die Eröffnungsbilanz der Ihren.
({22})
Die Steuereinnahmen sind im Jahre 1998 deutlich
stärker gestiegen, als im Bundeshaushalt 1998 eingestellt, und die Ausgaben sind weniger gestiegen, als im
Bundeshaushalt 1998 vorgesehen.
Die Arbeitslosigkeit ist stärker zurückgegangen, als
wir selber dafür finanzielle Vorsorge getroffen haben.
Im Oktober war die Arbeitslosigkeit in Deutschland das ist die Eröffnungsbilanz - um knapp 400 000 niedriger als im Oktober des Vorjahres. Ein Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland um 400 000 in einem Jahr
ist ein großer Erfolg der letzten Regierung. Dieser Trend
gehört zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung.
({23})
Wir haben stabile Preise. Wir haben ein niedriges
Zinsniveau, ein Zinsniveau auf historischem Tiefststand. Das ganze Gerede von Herrn Lafontaine ist also
unhaltbar. Es ist eine geplante, langfristig angelegte
Kampagne mit dem Ziel, die Unabhängigkeit von Bundesbank und Europäischer Zentralbank durch Einschüchterung und politischen Druck schrittweise einzuengen. Die ganze Kampagne entbehrt jeder sachlichen
Grundlage, denn wir haben in Deutschland niedrigere
Zinsen als in Amerika und in den meisten europäischen
Ländern. Unser Zinsniveau ist auf einem historischen
Tiefststand. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz.
({24})
- Das kann man endlos weitermachen.
Wir haben eine Steuerquote von 21 Prozent, und die
Staatsquote liegt in diesem Jahr unter 48 Prozent. Sie
liegt deutlich niedriger als am Anfang der Regierungszeit von Helmut Kohl. Da Sie gerade Helmut Schmidt
zitiert haben: Es gehörte zur Eröffnungsbilanz unserer
Regierung, daß die Staatsquote damals über 50 Prozent
lag, und heute liegt sie trotz der Wiedervereinigung unter 48 Prozent. Auch das gehört zur Eröffnungsbilanz.
({25})
Deswegen sage ich noch einmal: Stabile Preise, solides Wirtschaftswachstum, 2,7 Prozent reales Wachstum
in diesem Jahr, rückläufige Arbeitslosigkeit - 400 000
weniger in einem Jahr -, niedrige Zinsen, geordnete
Staatsfinanzen - das ist die Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung. An diesen Zahlen und Trends werden Sie sich
in der Zukunft messen lassen müssen.
({26})
Sie versuchen jetzt, die Prognosen zu verändern, indem Sie sagen, im nächsten Jahr werde es schwieriger
werden, und indem Sie nach unten rechnen. Ich sage Ihnen: Wenn sich die Prognosen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und für die Entwicklung am Arbeitsmarkt verändern sollten, dann wäre das vor allem und in
erster Linie das Ergebnis der Ankündigungen einer falschen Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik von RotGrün.
({27})
Sie haben angekündigt, daß Sie unsere Maßnahmen
rückgängig machen wollen, so zum Beispiel die Regelung zum Schlechtwettergeld. Ich würde Ihnen raten:
Überlegen Sie es sich noch einmal. Die Tarifpartner in
der Bauwirtschaft haben doch alles gut geregelt. Warum
wollen Sie denn mit einer gesetzlichen Neuregelung
schon wieder in abgeschlossene Tarifverträge eingreifen? Ich finde, wenn wir Dezentralisierung und Tarifautonomie ernst nehmen, sollten wir das, was die Tarifpartner in der Bauwirtschaft im Zusammenwirken mit
dem Gesetzgeber gut geregelt haben, nicht durch einseitige Eingriffe des Gesetzgebers wieder rückgängig machen.
({28})
Wenn Sie die Deregulierungen am Arbeitsmarkt von denen übrigens Helmut Schmidt in seinem neuen
Buch gerade geschrieben hat, daß sie notwendig sind,
um mehr Arbeitsplätze zu bekommen - rückgängig machen, zum Beispiel eine gewisse Eigenbeteiligung bei
der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, auf die sich die
Tarifpartner zum Teil geeinigt haben, wenn Sie diese
Maßnahmen, die uns in Deutschland mehr Arbeitsplätze
eingebracht haben, zurücknehmen, dann - das ist völlig
klar - wird das Ergebnis mehr Arbeitslosigkeit sein. Aus
diesem Grund verschlechtern sich die Prognosen.
({29})
Wenn Sie die Steuerbelastung für Unternehmen und
für den Mittelstand erhöhen, dann werden Sie eben weniger Investitionen, weniger Arbeitsplätze und weniger
Wirtschaftswachstum haben, und dann werden natürlich
auch die Steuereinnahmen wieder zurückgehen.
Die neuen Haushaltslöcher, die Sie angeblich ausfindig gemacht haben, haben Sie übrigens nicht beschrieben. Sie haben von 20 Milliarden DM gesprochen.
Aber Sie waren doch bei der Haushaltsdebatte Anfang
September anwesend. Herr Bundeskanzler, Herr Ministerpräsident außer Diensten - damals haben Sie als
Ministerpräsident gesprochen -, welche Zahl hat sich
seit Anfang September verändert? Es ist die Unwahrheit,
wenn Sie behaupten, bei Durchsicht der Bücher hätten
Sie neue Löcher entdeckt. Alle Zahlen lagen auf dem
Tisch. Wir haben Anfang September darüber diskutiert.
Nichts außer den Ankündigungen von Rot-Grün für eine
künftige falsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik
hat sich geändert.
({30})
Nun sagen Sie, weil Sie ja die Kritik an den rotgrünen
Koalitionsvereinbarungen gehört haben, der Mittelstand
werde mit Ihrer Steuerpolitik doch entlastet oder nicht
so belastet, wie man in den Zeitungen lese. Meine Damen und Herren, ich will an einem kleinen Punkt einmal
aufzeigen, mit welchen Kniffen und Tricks schon in dieser Regierungserklärung gearbeitet wird.
Sie haben mir ja das Manuskript Ihrer Rede liebenswürdigerweise durch das Presse- und Informationsamt
der Bundesregierung um 8.22 Uhr übersenden lassen.
Deswegen hatte ich Zeit, mir dies genau anzuschauen.
({31})
- Nein, ich bedanke mich doch, daß ich den Wortlaut
der Pressemitteilung habe. Ich weiß gar nicht, warum
Sie sich aufregen.
({32})
- Noch herzlicher?
({33})
- Wenn es Ihnen Freude macht, bedanke ich mich wirklich herzlich, Herr Kollege, daß ich durch das Presseund Informationsamt der Bundesregierung um 8.22 Uhr
den Inhalt Ihrer Regierungserklärung zugestellt bekommen habe. Deswegen habe ich jetzt die Gelegenheit, Ihnen an Hand des Textes - das Stenographische Protokoll
habe ich ja noch nicht - die Tricks aufzuzeigen, mit denen Sie arbeiten.
Die Steuerentlastungen, die Sie vorsehen oder die
angekündigt werden - es wechselt ja; die Gesetzentwürfe, die uns zugesandt werden,
({34})
werden ja zurückgezogen, bevor sie überhaupt nur die
Geschäftsführung der Fraktionen erreicht haben. Aber
Spaß beiseite.
({35})
- Lenken Sie nicht ab. Sie wollen das, was ich Ihnen sage, offenbar nicht hören. - In Ihrer Regierungserklärung
haben Sie die geplanten Steuerentlastungen für die Jahre
1999, 2000, 2001 und 2002 wunderbar dargestellt, ohne
bei den Entlastungen zeitlich zu differenzieren. Dann
haben Sie gesagt, der Mittelstand werde im übrigen gar
nicht belastet.
Und jetzt zitiere ich einmal:
Die Sonder- und Ansparabschreibungen für Existenzgründer
- Sie haben das auch so gesagt können unverändert in Anspruch genommen werden;
- o toll, und jetzt höre man weiter zu für kleinere und mittlere Betriebe bleiben sie bis
zum Jahr 2000 erhalten.
Sie werden also also gestrichen, ehe die Tarifentlastungen überhaupt in Kraft treten können. Das ist die Wahrheit. Der Rest ist gelogen.
({36})
Da helfen die besten Spindoctors nicht. Die Substanz
Ihrer Steuerpolitik bedeutet eine Mehrbelastung für
Wirtschaft und Mittelstand und damit eine Belastung
und Verhinderung von Investitionen und von Arbeitsplätzen.
({37})
Es kann nach den Grundregeln von Krafts Rechenbuch und nach Adam Riese ja auch gar nicht anders
sein. Aber Adam Riese?
({38})
Dazu hat das „Handelsblatt“ geschrieben: Gerhard
Schröder fordert Adam Riese heraus. Welch eine Herausforderung, Herr Bundeskanzler! Aber das ist gefährlich. Man sollte die Grundrechenarten nicht außer Kraft
setzen. Ich kann nicht mehr Geld ausgeben und gleichzeitig weniger einnehmen wollen; das geht nicht zusammen. Wer nicht die Kraft zum Sparen hat, der wird
die Betriebe und auch die Steuerzahler nicht entlasten.
({39})
Sie sehen jetzt keine Nettoentlastung vor. Heute haben Sie gesagt: 15 Milliarden DM ab dem Jahr 2002;
Verzeihung, aber im Moment haben wir, wenn ich das
richtig weiß, den 10. November 1998. Die Arbeitslosigkeit ist das dringendste Problem in unserer Gesellschaft;
ihre Bekämpfung kann nicht bis zum Jahr 2002 warten.
Wir brauchen jetzt Steuerentlastungen. Für 1999 haben
Sie keine vorgesehen.
({40})
Wenn es keine Entlastung gibt, dann muß der eine
mehr bezahlen, was der andere weniger bezahlen soll.
Es geht nicht anders zusammen.
({41})
- Ja, natürlich. Aber, Herr Finanzminister, von Ihnen
wissen wir, daß Sie niemals entlasten, sondern allenfalls
umverteilen wollen. Am liebsten würden Sie Steuern nur
erhöhen; denn je mehr Sie Steuern erheben, desto mehr
glauben Sie ja, daß Sie Rädchen haben, mit denen Sie
die gesamtwirtschaftliche Entwicklung beeinflussen
können. Das allerdings ist altes Denken: keine Neue
Mitte, sondern alte Linke.
({42})
Selbst Ihre eigenen Darlegungen, so schön sie formuliert sind, sind ja, wenn man sie ein bißchen abklopft,
ziemlich fadenscheinig. Sie selber haben für das Jahr
2002 - das haben Sie zwar nicht gesagt, aber so ist es
vorgesehen - eine Nettoentlastung von 15 Milliarden
DM versprochen. Dann haben Sie uns auch hier gesagt das haben wir alle gehört; ob Ihre Fraktion so genau zugehört hat, weiß ich allerdings nicht sicher; aber wir haben aufmerksam zugehört -, daß die durchschnittliche
Familie um 2 700 DM entlastet werde. Stimmt das, Herr
Bundeskanzler?
({43})
Jetzt wollen wir einmal rechnen, Herr Bundeskanzler:
Wie viele Familien kann man um 2 700 DM entlasten,
damit die Grenze von 15 Milliarden DM nicht überschritten wird?
({44})
Das sind rund 5 Millionen Familien.
({45})
- Ja, das ist viel. - Aber alle anderen werden nach Ihren
eigenen Vorhersagen auch im Jahre 2002 nicht entlastet,
und wir haben eine Bevölkerung von 80 Millionen Menschen. Die Behauptung, die allermeisten würden entlastet, ist auf Grund Ihrer eigenen Zahlen als wahrheitswidrig widerlegt.
({46})
Und das gilt erst für das Jahr 2002!
({47})
- Es trifft Sie offenbar! Wenn Sie selber merken, was in
Ihrer Regierungerklärung steht, dann ist die Erregung
bei der SPD groß. Bisher waren Sie ziemlich schläfrig
während der Rede Ihres Bundeskanzlers gewesen; jetzt
sind Sie plötzlich wach geworden. Das ist die Wahrheit.
({48})
Sie haben diese zwei Stunden auch kaum ausgehalten.
Deswegen sind Sie am Schluß der Rede auch alle gleich
aus dem Saal gegangen.
Jetzt bleiben Sie ganz ruhig! Jetzt lassen Sie nach
diesen zwei Stunden auch der Opposition die Chance, an
ein paar Punkten ein bißchen Substanz zu bieten und
nicht nur im Glanz der Überschriften zu bleiben. Mit der
Regierungserklärung sind die Zeiten der Inszenierungen
vorbei! Jetzt ist Substanz gefordert!
({49})
Es ist wirklich wahr: Der Start ist Ihnen gründlich
mißlungen.
({50})
Das sage ja nicht nur ich; wenn ich das sagen würde,
dann würde jeder meinen, daß ich als Oppositionsführer
das sagen muß.
({51})
Es sagen aber alle Zeitungen, auch Ihre treuesten Helfershelfer. Sie werden - ich sage es Ihnen voraus - eine
neue Gemeinsamkeit mit Ihrem Amtsvorgänger entwikkeln, Herr Bundeskanzler Schröder. Von Helmut Kohl
wissen wir, daß er den „Spiegel“ ums Verrecken nicht
gern gelesen hat. Wenn Sie diese Woche die Überschrift
„Wo ist Schröder?“ lesen und sich im Nebel von Lafontaine verschwinden sehen, dann sage ich Ihnen: Der
„Spiegel“ wird Ihnen bald so widerwärtig sein, wie er
Helmut Kohl es in den 16 Jahren gewesen ist.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Wenn es dann auch 16 Jahre dauert, soll's mir recht sein!)
- Schauen Sie, das ist wieder typisch, Herr Bundeskanzler: In öffentlichen Äußerungen haben Sie gesagt,
eine Amtszeit von mehr als acht Jahren wäre falsch; jetzt
wollen Sie 16 Jahre. Das ist wie mit der Koalitionsvereinbarung: Die haben Sie morgens unterschrieben, und
abends haben Sie gesagt, sie müsse nachgebessert werden. Die Tinte war noch nicht trocken gewesen!
({0})
Wenn ich in diesen Tagen erlebe, was in dieser Woche in erster Lesung auf die Tagesordnung des Hohen
Hauses kommen soll und was nicht, so muß ich feststellen: Die Vorlagen werden zugesandt, dann werden
sie wieder zurückgezogen. Dann heißt es, Herr Trittin
und Herr Lafontaine hätten sich über die Ökosteuer geeinigt. Wenn man aber nachliest, heißt es, sie hätten sich
darauf geeinigt, daß sie eine Kommission einsetzen. Das
hat ja das Niveau Ihrer Regierungserklärung. Selbst zum
Thema Rente haben Sie gesagt, Sie wollten eine Kommission einsetzen, die alles prüfe - obwohl alle Zahlen
auf dem Tisch liegen. Auch für die Reform des Finanzausgleichs im Bundesstaat wollen Sie bis zum Jahre
2005 eine Kommission einsetzen. Herr Bundeskanzler,
die Probleme unsres Landes sind angesichts der rasanten
Veränderungen in der Welt um uns herum wie auch in
der Arbeitswelt
({1})
dringlicher. Wir können nicht alles auf die lange Bank
schieben. Sie müssen handeln und entscheiden! Sie sind
schlecht vorbereitet.
({2})
- Nein, nein.
({3})
- Nein, nein.
({4})
- Herr Präsident, meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen, die meisten Menschen, die die Plenardebatte
an den Fernsehapparaten verfolgen - wenn es welche
tun -, bekommen nicht mit, was im Plenarsaal so alles
dazwischengerufen wird. Entweder muß ich deswegen
sagen „Verehrte Zuschauer an den Fernsehgeräten, im
Augenblick kann ich nicht weiterreden, weil die SPD einen solchen Lärm macht“, oder Sie müssen leise genug
sein, damit ich trotz meiner Erklärung die Chance habe
weiterzureden. Wir haben Ihrem Bundeskanzler doch
auch gut zugehört.
({5})
- Nein, es geht so nicht. Sie können nicht ein solches
Sperrfeuer von Zwischenrufen machen. Das akzeptiere
ich nicht; und das sage ich dann immer, damit das jedermann weiß und damit jedermann versteht, warum ich
im Moment nicht weiterreden kann.
Der Einwand, die Tatsache, daß die Probleme so
dringlich seien, würde sich gegen uns richten, ist in der
Sache durch Ihre eigene Regierungserklärung widerlegt.
Ihre konkreten Ankündigungen bestehen doch nur darin,
das, was wir auf den Weg gebracht haben, damit es mit
der Arbeitslosigkeit in unserem Lande besser wird,
rückgängig zu machen. Lassen Sie die Entwicklung, die
wir auf den Weg gebracht haben, doch weitergehen!
400 000 Arbeitslose weniger - das ist eine gute Entwicklung. Die sollten Sie nicht zurückschrauben. Das ist
der Punkt.
({6})
Wir haben die Schlachten doch oft geführt. Sie können uns doch nicht vorwerfen, daß die Steuerreform
nicht zustande gekommen ist. Sie haben Sie doch mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat blockiert. Jetzt - mit eigener
Mehrheit - zeigen Sie sich unfähig, eine dem Arbeitsmarkt gerecht werdende Steuerreform zustande zu bringen. Das ist das Elend für unser Land.
({7})
Erst das Richtige blockieren und dann selber nicht in der
Lage sein, das Richtige zu tun, das ist gefährlich für die
Chancen unseres Landes. Das ist im Zusammenhang mit
der Steuerreform das eigentliche Drama.
Wenn Sie von den Lohnzusatzkosten reden, dann
werden Sie doch nicht im Ernst glauben, daß Sie die
Lohnzusatzkosten, die Staatsquote, die Abgabenquote in
Deutschland dadurch senken können, daß Sie nur umverteilen. Ich erinnere an das Gerede von der Ökosteuer. Nach neuestem Stand ist die Vorlage dazu gerade
wieder zurückgezogen worden. Über die Einzelheiten
werden wir noch streiten, aber zunächst einmal geht es
um das Prinzip. Wer die Umfinanzierung von Sozialabgaben in Steuern - so ist der Sachverhalt - an Stelle von
Einsparungen bei den Sozialausgaben durchführt, der
wird die Staats- und Abgabenquote nicht senken und
auch nicht mehr Arbeitsplätze bekommen, sondern das
Gegenteil. Einsparungen sind durch nichts zu ersetzen.
Wer klagt, die Staatsquote sei zu hoch - das haben Sie,
Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungserklärung getan
-, der muß auf der Ausgabenseite von öffentlichen
Haushalten und Sozialversicherungen zu Einsparungen
kommen. Sie aber wollen all diejenigen Einsparungen,
die wir - zum Teil schmerzlich, aber richtig - zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durchgesetzt haben, wieder rückgängig machen. Das ist der falsche Weg, wenn
es darum geht, mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu
bekommen, und Sie sind auf diesem falschen Weg.
({8})
Daher ist der entsprechende Vorwurf an uns unzutreffend. Es gehört zur Eröffnungsbilanz, daß wir das Land
in eine solide wirtschaftliche Entwicklung - Preisstabilität, niedrige Zinsen, rückläufige Arbeitslosigkeit - gebracht haben. Und Sie drehen jetzt mit Ihren falschen
rotgrünen Maßnahmen diese Entwicklung wieder zurück. Es handelt sich also nicht um einen neuen Aufbruch, sondern um eine Rolle rückwärts in eine falsche
Vergangenheit. Das ist das Problem.
({9})
So wird das nichts mit der „Neuen Mitte“. Und dann
auch noch Ihr Gerede von der Berliner Republik! Herr
Bundeskanzler, von Neuer Mitte habe ich weder in Ihrer
Regierungserklärung noch in Ihrer Koalitionsvereinbarung irgend etwas gefunden, aber von der alten Linken
sehr viel und von Durcheinander bei Ihren rotgrünen
Koalitionsvereinbarungen noch mehr!
({10})
Man fragt sich ja, wer in Deutschland eigentlich regiert.
({11})
- Ja, das ist wahr, Herr Ministerpräsident Lafontaine. Entschuldigung, es steckt noch so ein bißchen drin; Herr
Bundesfinanzminister! Wenn es Ihnen gar nicht mehr
passiert, sich zu versprechen, dann ist es ja gut.
Herr Bundesfinanzminister, Ihre Politik ist eine Politik des „leichten Geldes“.
({12})
„Leichtes Geld“ klingt ja schön, bedeutet aber für die
Menschen Inflation. Die haben verstanden, daß man
nicht mehr Geld ausgeben und weniger einnehmen kann,
ohne mehr Schulden zu machen. Man kann sich nicht
gegen Adam Riese stellen; deswegen wird Ihre Politik
dazu führen, daß die Staatsverschuldung steigt, die
Preisstabilität abnimmt und die Inflation zunimmt. Das
ist keine sozial gerechte Politik, sondern das Gegenteil!
({13})
Weil dies so ist, wollen Sie Druck auf die unabhängigen Notenbanken machen. Genau so ist der Zusammenhang. Ich meine die Bundesbank und die künftige
Europäische Zentralbank. Sie wollen, daß die Bundesbank und künftig die Europäische Zentralbank an einer
Politik des leichten Geldes, an einer Politik von mehr Inflation mitwirken.
({14})
Nicht anders sind Ihr Gerede und Ihre konzentrischen
Angriffe, von Ihren Beratern bis zu Ihnen selbst Tag für
Tag systematisch angelegt, zu erklären. Die Zinsen sollen nach unten gehen, obwohl wir schon das niedrigste
Zinsniveau haben und obwohl wir die reale Zinsdifferenz in Europa in einer Weise auseinandertreiben würden, daß es unter dem Gesichtspunkt der beginnenden
Währungsunion gar nicht zu verantworten wäre. Sie
wollen die Zinsen nach unten manipulieren, eine höhere
Neuverschuldung vornehmen und mehr Inflation hervorbringen. Das ist der falsche Weg, um die Reformen
unseres Landes weiter voranzubringen.
({15})
Das wird nicht mehr Arbeitsplätze, sondern mehr Inflation in Deutschland verursachen. Sichere Arbeitsplätze
entstehen nur bei Stabilität.
({16})
Die Sache ist übrigens noch viel bedenklicher; deswegen muß das am Anfang dieser Legislaturperiode
ausgetragen werden. Dies sollte nicht freundlich geschehen, denn daran ist nichts freundlich. Die Bundesrepublik Deutschland mußte große Anstrengungen unternehmen, um unsere Partnerländer in Europa von der
Umsetzung der deutschen Stabilitätskultur auch im
Maastricht-Vertrag und im Stabilitätspakt zu überzeugen. Andere - ich sage das mit vollem Respekt vor der
Tradition und dem Verfassungs- und Staatsverständnis
unserer Freunde und Partner in Europa - haben ein ganz
anderes Verhältnis zu der Vorstellung von einer autonomen Notenbank. In Frankreich ist nach dem dortigen
Staatsverständnis seit Jahrhunderten - bis zum Vertrag
von Maastricht - die Politik die oberste Instanz gewesen, die letzten Endes über alle Entscheidungsbereiche
verfügen kann. Herr Lafontaine, so hätten Sie es gern;
aber so ist es in Deutschland nicht. Es ist auch besser,
daß es in Deutschland nicht so ist, und es darf nicht so
werden.
Natürlich hat Geld eine politische Funktion, natürlich
hat die Bundesbank eine politische Verantwortung. Aber
diese Verantwortung unterliegt nicht der Verfügung der
jeweiligen parteipolitischen Mehrheit. Das ist der
Grund, warum wir in Deutschland in diesen 50 Jahren
mehr Stabilität hatten.
({17})
Nur dann, wenn wir uns diese Autonomie, diese Selbständigkeit, diese Eigenverantwortung, diese Nichtverfügbarkeit der Geldpolitik der Zentralbank für Preisstabilität, für Geldwertstabilität erhalten, können wir darauf
vertrauen, daß die europäische Währung so stabil wird,
wie es die D-Mark Gott sei Dank - auch dank unserer
Politik - geworden ist.
Das war das eigentlich Schwierige, und das war der
weite Weg, den andere auf dem Weg zur Europäischen
Union zurücklegen mußten. Das fordert von uns Respekt, wie es übrigens auch Respekt vor der politischen
Führungsleistung und Staatskunst der bisherigen Bundesregierung, des Bundeskanzlers, des Finanzministers,
des Außenministers, fordert,
({18})
daß es gelungen ist, die Unabhängigkeit der Notenbank,
die Unverfügbarkeit der Geldwertstabilität für die jeweilige parteipolitische Mehrheit zum Prinzip auch der
Europäischen Währungsunion zu machen.
({19})
Wenn das jetzt gleich zu Beginn, noch ehe die Währungsunion wirklich begonnen hat, ausgerechnet von
Deutschland untergraben wird, dann fängt es in
Deutschland schlecht an und wird in Europa noch
schlechter enden, meine Damen und Herren. Deswegen
werden wir dagegen jeden Widerstand leisten.
({20})
Die Geldwertstabilität darf auch in der Europäischen
Währungsunion nicht aufs Spiel gesetzt werden.
({21})
Zu einer fairen Behandlung Ihres Vorgängers und der
Vorgängerregierung hätte - bei allen politischen Unterschieden - übrigens auch gehört, nicht nur über die
Notwendigkeit zu reden, Herr Bundeskanzler, die Finanzierung der Europäischen Union entsprechend der
jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein Stück
fairer zu ordnen, als sie im Laufe der Jahre seit 1992
geworden ist. Das ist 1992 so vereinbart worden - hier
haben Sie recht; das stimmt so -, weil seinerzeit eine besondere Situation bestand. Aber im nächsten Jahr muß
eine Neuregelung der Finanzierung der Europäischen
Union erreicht werden. Das wird schwierig zu erreichen
sein. Sie werden dabei auf unsere Unterstützung rechnen
können.
Aber Sie hätten auch vermerken sollen, daß Sie nicht
nur auf unsere Unterstützung bei diesem schwierigen
Unterfangen rechnen können, sondern daß Sie vor allen
Dingen auf die Vorarbeit des bisherigen Bundesfinanzministers Theo Waigel zählen können, der ja in Europa
die Bereitschaft zu einer finanziellen Neuregelung in der
Europäischen Union in den letzten Monaten in mühevoller Arbeit erreicht hat. Das hätten Sie hier mit etwas
Respekt vermerken sollen.
({22})
Das wird übrigens nicht heißen, daß Deutschland als
ein wirtschaftlich stärkeres Land, als es andere heute
sind, nicht auch in Zukunft mehr an der Finanzierung
der Europäischen Union tragen muß als andere. Das ist
in Ordnung. Aber es muß ein faires Verhältnis zur Leistungsfähigkeit vorhanden sein. Dieses Verhältnis ist ein
Stück weit unfair geworden. Daß inzwischen alle Finanzminister anerkannt haben, daß die heutige Regelung
jedenfalls nicht mehr den objektiven Gegebenheiten
unter den Mitgliedsländern der Europäischen Union entspricht, ist ein großer Erfolg von Theo Waigel. Darauf
läßt sich aufbauen, verehrte Damen und Herren der
neuen Bundesregierung und der neuen Mehrheit.
({23})
Aber wenn Sie als neue Bundesregierung in
Deutschland die Grundlagen von Stabilität und Solidität
in der Europäischen Union untergraben, dann werden
Sie Europa auch nicht in die Lage versetzen, das dringende Projekt der Osterweiterung zustande zu bringen.
Herr Bundeskanzler, wir haben ja - ich hoffe, es hält mit einer gewissen Befriedigung vermerkt, daß Sie
schnell Äußerungen wieder in Ordnung gebracht haben,
die am Anfang nicht in Ordnung waren. Unseren Nachbarn in Osteuropa zu sagen, mit der neuen Regierung
werde es jetzt ein wenig länger dauern, beschwor eine
gefährliche Entwicklung herauf. Herr Fischer mußte
dann gleich nach Warschau fliegen. Auch Sie waren dort
und haben es in Ordnung gebracht. Ich hoffe, es bleibt
dabei.
Wir sollten uns als wiedervereintes Deutschland in
der Mitte Europas unabhängig von der Frage, wer gerade die Regierung und wer die Opposition stellt, darum
bemühen, ganz Europa zu einem Kontinent zu machen,
auf dem Frieden, Stabilität, wirtschaftliche, soziale
und ökologische Prosperität herrschen. Das ist das
wichtigste Projekt der Deutschen am Ende dieses und
am Beginn des kommenden Jahrhunderts. Dafür müssen wir arbeiten; dazu werden wir auch in Zukunft stehen.
({24})
Das setzt aber voraus, daß jeder seinen Beitrag leistet.
Stabilität beginnt immer zu Hause. Das gilt auch für die
Zukunft.
Wenn Sie glauben, die Arbeitslosigkeit könne durch
den Europäischen Rat bekämpft werden, dann fürchte
ich, daß Europa eine gefährliche Entwicklung nimmt.
Wir werden Europa besser voranbringen, wenn wir das
Subsidiaritätsprinzip in Europa stärker durchsetzen,
das heißt, wenn wir uns darüber verständigen, welche
Ebene in Europa - europäische Ebene, Mitgliedstaaten
oder Regionen - für die Lösung welcher Probleme zuständig ist. Wer glaubt, europäische Beschäftigungspolitik würde in Europa mehr Arbeitsplätze schaffen, ist
auf dem Holzweg. Am Ende werden in Europa nur mehr
Steuern, mehr Abgaben, mehr Bürokratie und weniger
Arbeitsplätze herauskommen. Wir werden Sie auf diesem Weg nicht unterstützen.
({25})
Wir brauchen eine Steuerreform, die die Wachstumskräfte stärkt. Sie werden uns ja bei den steuerpolitischen Diskussionen der kommenden Tage und Wochen
immer sagen - das ahne ich schon voraus -, diese und
jene Maßnahme zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage habe auch die CDU/CSU-F.D.P.-Koalition
einmal vorgesehen.
({26})
- Sie sagen „Aha“, Frau Matthäus-Maier. Wären Sie
doch einmal Fraktionsvorsitzende geworden, dann
könnten Sie gleich im Anschluß reden.
({27})
- Sie fangen ja wirklich gut an, indem Sie hier dauernd
dazwischenrufen.
({28})
- Wenn Sie vorhaben, wie Sie es mit solchen Zwischenrufen schon bestätigen, die Unterschiede zweier völlig
verschiedener steuerpolitischer Konzepte, nämlich Ihr
falsches und unser richtiges, in der Öffentlichkeit zu
verwischen
({29})
dann muß ich es Ihnen entsprechend zurückgeben. Das
können Sie doch nicht anders erwarten.
({30})
Nach unserem Konzept sollen die Steuersätze und
zwar jetzt, nicht irgendwann - deutlich gesenkt werden.
Alle Steuersätze ({31})
Spitzensteuersatz, Eingangssteuersatz und alle Sätze dazwischen, Thesaurierungssatz und Ausschüttungssatz
bei der Körperschaftsteuer - sollen etwa um ein Drittel
gesenkt werden. Dazu ist eine Nettoentlastung erforderlich, nicht irgendwann im nächsten Jahrhundert, sondern
jetzt. Danach können Sie auch die Bemessungsgrundlage verbreitern und Ausnahmeregelungen bei der Besteuerung beseitigen.
({32})
Wenn Sie aber die Steuersätze nicht senken und keine
Nettoentlastung ermöglichen, sondern nur die Bemessungsgrundlage verbreitern, dann nehmen Sie Steuererhöhungen vor. Diese sind Gift für die Wirtschaft und
den Arbeitsmarkt in Deutschland. Das ist der Unterschied.
({33})
Jedesmal, wenn Sie in Zukunft versuchen, unter Verdrehung der Wahrheit die Menschen darüber zu täuschen, werden wir uns in aller Entschiedenheit dagegen
wehren und der Öffentlichkeit die Wahrheit sagen. Es
handelt sich um zwei völlig unterschiedliche Konzepte.
Letztendlich wollen Sie doch die Staatsquote gar
nicht senken, sondern erhöhen. An keiner Stelle sehen
Sie Einsparungen vor. In Ihrem Programm ist bisher lediglich vorgesehen, beschlossene Einsparungen rückgängig zu machen und mehr Geld auszugeben. Ich sage
es Ihnen vorher: Der Sozialversicherungsbeitrag wird
nicht sinken, wie sehr Sie den Benzinpreis auch erhöhen. Dabei berücksichtigen Sie übrigens nicht, was das
sozial bedeutet.
({34})
- Frau Matthäus-Maier, Sie wollen immer, daß ich nett
zu Ihnen bin. Das würde ich auch sein, wenn Sie nicht
immer so irreführende Zwischenrufe machten.
({35})
- Wir haben jetzt vier Jahre Zeit, uns zu streiten, aber
dabei wollen wir doch freundlich bleiben.
Lassen Sie uns also die Argumente austauschen: Unser Konzept war und bleibt, die Steuersätze zu senken,
die Steuerbelastung insgesamt netto zu reduzieren und
im Zuge dessen auch Ausnahmen zu beseitigen. Ihr
Konzept bringt keine Nettoentlastung, keine Senkung
der Steuersätze. Sie wollen nur Ausnahmen von der Besteuerung abschaffen. Das sind Steuererhöhungen. Das
ist das Gegenteil unserer Politik. Das Ergebnis wird
mehr Arbeitslosigkeit und weniger Wachstum sein.
({36})
Ihr Konzept ist, die beschlossenen und in Kraft gesetzten Maßnahmen zur Reduzierung des Anstiegs der
Ausgaben in der Renten- und der Krankenversicherung rückgängig zu machen. Sie werden nicht Beitragssatzstabilität bei der gesetzlichen Krankenversicherung
ernten, sondern Sie haben mit dem, was Sie ankündigen,
drastische Beitragssteigerungen in der gesetzlichen
Krankenversicherung zu erwarten.
Wenn Sie jetzt die Ausgaben erhöhen, dann können
Sie noch so viel Ökosteuer machen, wie Sie wollen, sie
dient allenfalls dazu, die Beitragssatzsteigerungen zu
vermeiden, die durch erhöhte Ausgaben entstehen; sie
wird aber nicht zu dauerhaften Beitragssenkungen führen. Deswegen ist Ihre Politik falsch.
Sie können Umschichtungen nicht an Stelle von
Einsparungen machen; denn wir brauchen zuerst
die Einsparungen. Über zusätzliche Umschichtungen
können wir dann reden, sie sind aber nicht ohne Einsparungen möglich. Das ist der grundsätzliche Unterschied.
({37})
Ich möchte zur Ökosteuer noch folgendes sagen: Ich
glaube nicht - ich habe die Berechnungen gesehen -,
daß sie letzten Endes zu der Entlastung führen wird, von
der Sie sprechen. Erstens werden wir keine Beitragssenkung bekommen, und zweitens habe ich die „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ von heute gelesen, wo es heißt:
Nach Berechnungen des Finanzministeriums hat
die ökologische Steuer- und Abgabenreform für einen Vier-Personen-Haushalt mit einem Jahreseinkommen von 70 000 Mark brutto folgende Auswirkungen: Bei der Rentenversicherung ergibt sich
- durch die Beitragssatzsenkung eine Ersparnis von 280 Mark. Die Energiebesteuerung führt dagegen zu einer Belastung von 301
Mark:
Sie müssen den Menschen erklären, wie Sie die Familien entlasten, wenn sie für 280 DM Entlastung 301
DM mehr bezahlen müssen. Das sind nach Berechnungen Ihres Hauses 21 DM mehr. Das Wort Entlastung
sollte Ihnen wirklich nicht mehr über die Lippen kommen.
({38})
Sie machen Steuererhöhungen, um Ihre Unfähigkeit
zu Einsparungen finanzieren zu können. Im übrigen
wollen Sie mehr Schulden machen und die Inflation beschleunigen. Das ist der falsche Weg, und auf diesem
Weg werden Sie mit unserer scharfen Kritik rechnen
müssen.
Die Steuerreform ist falsch, die Abgabenpolitik ist
falsch, die Stabilität in Europa wird untergraben, und Sie
machen nationale Alleingänge in der Energie- und Umweltschutzpolitik.
({39})
- Ach, die Grünen. Wie war das mit den Grünen, Herr
Kollege Schlauch? Mit was für großen hehren Vorsätzen
sind Sie einmal angetreten?
({40})
In dem Maße, in dem aus Turnschuhen Nadelstreifen
wurden, ist aus Grundsätzen hemmungsloser Opportunismus geworden. Posten statt Ideen!
({41})
„Global denken, lokal handeln“ hat der Wahlspruch
geheißen. Jetzt machen Sie in der Energie- und Umweltschutzpolitik nationale Alleingänge. Als ob irgendein
Kernkraftwerk in Osteuropa durch einen nationalen Alleingang Deutschlands sicherer würde! Das schafft doch
nicht mehr Sicherheit.
({42})
- Der Zwischenruf des Kollegen Schlauch veranlaßt
mich, auf einen weiteren der kleinen Kniffe in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers noch einmal zu sprechen zu kommen, den wahrscheinlich, weil
die Rede relativ glatt dahinplätscherte, nicht alle bemerkt haben. Die ganze rotgrüne Inszenierung vor und
nach der Wahl hat doch suggeriert, Sie fangen jetzt
richtig kräftig an mit dem, was Sie Ökosteuer nennen.
Ich habe den Begriff immer für falsch gehalten, weil er
nämlich verschleiert, daß Sie in Wahrheit nicht sparen
wollen. Aber ohne Sparen kommen Sie nicht hin. Daß
man darüber, wie man sparsamen Energieverbrauch
sicherstellt, trefflich streiten und miteinander ringen
kann, ist völlig in Ordnung. Aber Sie dürfen das nicht
zur Grundlage der Finanzierung von Mehrausgaben in
der Sozialversicherung machen. Das ist der falsche Weg,
der verschüttet die Milch.
Rotgrün kündigt also an - auch in Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler; Sie sehen, ich habe zugehört -, das wird jetzt kräftig gemacht. Dann kommt
das mit den sechs Pfennig - energieintensive Betriebe
ausgenommen oder nicht; lassen wir den Koalitionsstreit
mal auf sich beruhen -, es wird aber gesagt: Das ist nur
der erste Schritt, und in den nächsten Jahren geht es
kräftig weiter. Denn sonst wäre es ja herzlich bescheiden. Da waren wir schon mal weiter in unseren Überlegungen; allerdings haben Sie dann die notwendigen Einsparungen blockiert. Das war der Punkt, warum es nicht
zustande gekommen ist.
({43})
Jetzt sagen Sie, Herr Bundeskanzler, die nächsten
Schritte können nur in Europa kommen. Das heißt, Sie
haben - wer von Ihren rotgrünen Genossen zugehört hat,
weiß das - schon gesagt: Genossinnen und Genossen,
laßt alle Hoffnung fahren; es gibt keine weiteren Schritte! Ich sage Ihnen: Die sechs Pfennige werden vorne und
hinten nicht ausreichen, um die Ausgabensteigerungen
in der Krankenversicherung und der Rentenversicherung
aufzufangen. Deswegen ist Ihr Programm ein Programm
zur Erhöhung des Sozialversicherungsbeitrags in
Deutschland. Das ist die Wirklichkeit!
({44})
Man kann in der Erwiderung auf die Regierungserklärung, die alle Themen abdecken muß - wir werden
noch die ganze Woche debattieren -, in dem ersten Beitrag nicht bereits zu allen Themen Stellung beziehen.
Das ist auch in Ordnung, und das ist parlamentarischer
Brauch.
Ich will aber noch wenige Bemerkungen zum Thema
der inneren Sicherheit machen.
({45})
- Ja, daran müssen Sie sich gewöhnen. Machen Sie nicht
solche Zwischenrufe wie „Gott sei Dank“! Sie müssen
auch in Ihrer Machtbesoffenheit schon ertragen, daß es
andere Meinungen in Deutschland gibt und daß diese
vorgetragen werden.
({46})
Sie haben die Wahl gewonnen. Sie haben jetzt eine
Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das gibt Ihnen
eine besondere Verantwortung. Aber ich rate Ihnen
dringend: Gehen Sie damit - im Respekt vor der Meinung anderer - mit ein bißchen mehr Bescheidenheit
um!
({47})
Es fängt schon damit an, wie Sie den ersten Oppositionsbeitrag in dieser Debatte nicht ertragen wollen.
Und jetzt sage ich Ihnen: Die Art, wie Sie in Ihre Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben haben: Stimmt
ihr für den Bundespräsidenten, kriegt ihr den Kommissar für Europa, das ist ein nicht angemessener Umgang
mit den höchsten Ämtern in unserem Staat und in Europa.
({48})
Das paßt ganz prima zu den Lafontaineschen Bemühungen in bezug auf Bundesbank und europäische Notenbank.
({49})
Ich sage Ihnen: Hochmut kommt vor dem Fall.
({50})
Die Arroganz der Macht ist die größte Versuchung.
Dann sage ich Ihnen noch einmal das mit Herrn
Schily, weil Sie es immer noch nicht verstanden haben:
Es geht nicht an, daß ein Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, wenn er ein Problem darin sieht, daß
eine Partei, die Gegenstand der Beobachtung durch den
Verfassungsschutz ist, nun in einer Landesregierung
beteiligt ist, sagt: Dann dürfen wir sie nicht mehr beobachten. Er müßte dafür eintreten, daß sie nicht Mitglied
einer Landesregierung wird. Das wäre die einzig richtige
Antwort!
({51})
Herr Kollege Schlauch, jetzt komme ich auf den Bericht des Bonner „Generalanzeigers“ vom 26. Oktober
zu sprechen. Er hat mich so empört, daß ich ihn heute
erwähnen muß. Der Bericht handelt über gewalttätige
Krawalle in Bonn, bei denen die Polizei eine Reihe von
Gewalttätern festgenommen hat.
({52})
- Entschuldigung, die Landesregierung von NordrheinWestfalen, die für den Polizeieinsatz in Bonn zuständig
ist, wird doch von SPD und Grünen getragen. - Was ist
passiert? Ich könnte jetzt den gesamten Bericht vorlesen.
({53})
In der Menge sollten nach Angaben eines Polizeisprechers 20 Gewalttäter sein, die die Beamten mit
Flaschen, Steinen und anderen Gegenständen beworfen hatten. ... Als Politiker von Bündnis 90/Die
Grünen auf ihrem Parteitag in der Beethovenhalle
davon erfuhren, bahnte sich Ärger an. NRWBauminister Michael Vesper, mehrere Bundestagsabgeordnete und der Bonner Landtagsabgeordnete
Roland Appel schalteten sich ein. Während Vesper
vor Ort mit dem Einsatzleiter über eine Freilassung
der Festgehaltenen verhandelte, fuhr Appel ins Präsidium.
So wollen wir in Deutschland nicht anfangen.
({54})
Die Polizei verrichtet in allen Ländern einen schweren Dienst. Wir schulden den Polizeibeamten der Länder
Dank und Unterstützung. Was wir unter gar keinen Umständen als Politiker - ob wir Regierungsverantwortung
tragen oder als Abgeordnete tätig sind - machen dürfen:
Wenn die Polizei bei gewalttätigen Krawallen - das ist
für die Polizei eine schwierige Situation - Gewalttäter
festnimmt, dürfen Abgeordnete von Bundestag und
Landtag - oder sogar Minister der Regierung, die der
Dienstherr dieser Polizeibeamten ist - nicht mit der
Polizeieinsatzleitung darüber verhandeln, ob man die
Gewalttäter wieder freiläßt, so geht der Rechtsstaat vor
die Hunde. Das sollte man nicht anfangen.
({55})
Ich glaube nicht, daß Sie so die innere Sicherheit verbessern werden.
Übrigens: Zur Eröffnungsbilanz Ihrer Regierung gehört auch, daß die Kriminalität in Deutschland in den
letzten Jahren deutlich abgenommen hat und die Aufklärungsquote gestiegen ist.
({56})
- Nein, überhaupt nicht. Aber die Verbesserung reicht
noch nicht aus. Deshalb müssen Sie Ihren Parteifreund
Vesper an die Leine nehmen, Herr Kollege Schlauch. Es
geht nun wirklich nicht, als Minister einer Landesregierung die Gewalttäter zu Verhandlungsführern zu machen. - Die Kriminalität hat durch die Anstrengungen
von Bund und Ländern abgenommen. Das ist in erster
Linie das Verdienst der Polizeibeamten. Wir müssen sie
bei ihrer Arbeit unterstützen und dürfen ihnen nicht in
den Rücken fallen. Dafür appelliere ich, darum werbe
ich.
({57})
Aber ich sage auch: Neben vielen wichtigen und
schwierigen Aufgaben ist die Bewahrung von innerer
Sicherheit in der modernen Welt eine der großen Herausforderungen, für deren Bewältigung es kein Patentrezept gibt.
({58})
- Herr Kollege Schlauch, wenn Sie in diesem Zusammenhang noch einen Zwischenruf machen, muß ich über
einen Vorgang berichten, bei dem Sie sich entschuldigen
mußten. Meine Kenntnisse über Ihren Umgang mit baden-württembergischen Polizeibeamten sind noch gut
genug, um Sie zu warnen: Seien Sie an dieser Stelle
ganz ruhig!
({59})
Die Bewahrung der inneren Sicherheit wird nicht gelingen, wenn wir nicht eine vernünftige Mischung von
verschiedenen Maßnahmen finden. Herr Bundeskanzler,
wir stimmen mit dem überein, was Ihr Innenminister im
Zusammenhang mit Maßnahmen zur Prävention - Jugendarbeit, Musikschulen und dergleichen - gesagt hat.
Diese Art von Prävention muß sich aber vor Ort, in der
Kommunal- und Landespolitik abspielen. Je mehr es
gelingt, mit Hilfe von Ehrenamtlichen - Herr Bundeskanzler, da haben Sie mich völlig falsch verstanden, ich
hatte etwas anderes gesagt; ich wollte Sie gar nicht ärgern, sondern mich nur mit Ihnen politisch auseinandersetzen - präventive Arbeit zu leisten, um so besser ist es.
Aber alle Prävention und alle Sozialtherapie wird den
Staat am Ende nicht der Verantwortung entheben, das
Gewaltmonopol durchsetzen zu müssen. Dafür brauchen
wir klare Gesetze, eine einsatzfähige Polizei und Gerichte, die den Rechtsstaat durchsetzen. Das eine kann
nicht durch das andere ersetzt werden.
({60})
Ich glaube übrigens, daß uns die Prävention und die
Gewaltfreiheit um so besser gelingen werden, je mehr
wir uns daran erinnern, daß grundlegende Werte und das
Bekenntnis dazu Grundlage jeder Freiheitsordnung sein
müssen und daß wir Institutionen brauchen, die Werte
vermitteln. Anders wird es nicht gehen.
Rotgrün ist auf dem falschen Weg, wenn es die vorrangige Schutzfunktion von Ehe und Familie dadurch
untergräbt, daß es Ehe und Familie jeder anderen Form
menschlichen Zusammenlebens gleichsetzen will. Nach
Artikel 6 des Grundgesetzes genießen Ehe und Familie
vorrangigen Schutz. Diesen Schutz brauchen sie auch.
Wir respektieren jede Lebensform der Menschen. Wir
schreiben niemandem etwas vor. Aber wir brauchen
Leitbilder und eine Wertorientierung, damit unsere Gesellschaft auch im 21. Jahrhundert freiheitlich, tolerant
und menschenwürdig bleibt.
({61})
Wir brauchen die richtigen Entscheidungen. Wir sind
uns einig, daß das Zusammenleben mit ausländischen
Mitbürgern, die auf Dauer in Deutschland leben und von
denen viele von uns einmal angeworben wurden - auch
das gehört zur Wahrheit und muß den Menschen immer
wieder gesagt werden -, also mit Menschen, die ganz
unterschiedlich sind, alle modernen Demokratien vor
große Herausforderungen, vor große Bewährungsproben
stellt. Das ist richtig; da sind wir uns einig.
Deswegen muß unser aller Ziel sein - ich hoffe, daß
es hierbei in diesem Hause keine Unterschiede gibt -,
die auf Dauer rechtmäßig in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürger - vor allen Dingen die Kinder, die
hier geboren werden - so gut und so schnell wie möglich zu integrieren. Zur Verwirklichung dieses Ziels
müssen wir auf allen Ebenen, also im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden, sehr viele Anstrengungen
unternehmen. - Ich wiederhole: Kein Bundesland hat in
den Schulen mehr Stellen für die Integration von Kindern ausländischer Eltern eingerichtet als der Freistaat
Bayern. Auch das gehört zur Wahrheit, wenn man fair
miteinander umgeht. ({62})
Wir müssen also gemeinsam auf allen Ebenen jede
Anstrengung zur Förderung von Integration unternehmen. Die Union wird sich darin von niemandem übertreffen lassen.
Aber die ausnahmslose Hinnahme einer doppelten
Staatsangehörigkeit ist der falsche Weg. Sie wird die
Integration nicht fördern, sondern behindern. Deswegen
appelliere ich an Sie: Kehren Sie auf diesem falschen
Weg um! Das Ergebnis wird nicht mehr Toleranz und
mehr Ausländerfreundlichkeit, sondern das Gegenteil
sein. Wenn Sie die ausländischen Mitbürger mit dem
Privileg versehen, zwei Staatsangehörigkeiten haben zu
können, während die Deutschen nur eine haben, wenn
Sie die Staatsangehörigkeit nicht mehr als Abschluß
eines Integrationsprozesses verstehen, dann geht das am
Kern des Problems vorbei, Herr Bundeskanzler. Es ist
die freie Entscheidung der Menschen, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben wollen, ob sie Deutsche sein wollen oder nicht. Wir zwingen niemanden,
Deutscher zu werden. Aber wer Deutscher werden will,
muß die Entscheidung dazu treffen. Deswegen ist die
ausnahmslose Hinnahme einer doppelten Staatsangehörigkeit im Ergebnis nicht ein Programm zur Förderung
von Integration, sondern zur Förderung von Ausländerfeindlichkeit. Deswegen werden wir sie bekämpfen.
({63})
Meine Damen und Herren, der grundsätzliche Unterschied zwischen dieser Regierung, der rotgrünen Koalition, und der Union - über alle Einzelheiten und Einzelfragen hinweg, über die wir uns Tag für Tag und Woche
für Woche kämpferisch auseinandersetzen müssen und
auseinandersetzen werden - besteht letzten Endes in der
Frage - in den Zielen sind wir uns ja häufig einig: Integration, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Wohlstand
für alle, soziale Sicherheit, Frieden nach außen und innere Sicherheit; über all das gibt es keinen Streit -: Wie
erreichen wir diese Ziele? Bei der Beantwortung dieser
Frage setzen Sie, wenn es ernst wird, trotz aller schönen
Formulierungen in Ihrer Regierungserklärung immer auf
staatliche, zentralistische Regulierung und Reglementierung und im Ergebnis auf Steuern, Abgaben und Bürokratie.
Das ist nach unserer Überzeugung der falsche Weg.
Wir trauen den Menschen, und wir trauen ihnen etwas
zu. Deswegen wollen wir die Kräfte von Eigenverantwortung, Freiheit, freiwilliger Solidarität, von Werten
und wertvermittelnden Institutionen stärken. Das ist der
grundsätzliche Unterschied. Dieser Unterschied wird
sichtbar in der Sozialpolitik, in der Wirtschaftspolitik, in
der Finanzpolitik, in der inneren Sicherheit und bei der
Integration ausländischer Mitbürger.
Dies ist letzten Endes eine Frage des Menschenbildes. Nach unserer Überzeugung kann der Staat nicht alles, und er darf auch nicht alles können. Staatliche Allmacht war in der Menschheitsgeschichte immer die Vorstufe zur Hölle. Deswegen sind Machtbegrenzung, Dezentralisierung, Föderalismus, Autonomie und Wettbewerb der bessere Weg, um Freiheit und eine gute Zukunft zu sichern. Das ist der Weg der Union.
({64})
Wir wollen einen handlungsfähigen Staat, der sein
Gewaltmonopol ernst nimmt und durchsetzt. Wir brauchen eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Herr Lafontaine, es hilft alles nichts: Die wirtschaftliche Entwicklung,
die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft richtet sich
nach den Regeln von Markt und Wettbewerb im Zeitalter der Globalisierung. Wer die bestehenden Regeln des
weltweiten Wettbewerbs bestreitet, kann Deutschland
nicht in eine gute Zukunft führen. Für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft muß man die Regeln von Markt
und Wettbewerb akzeptieren.
({65})
Aber das ist nicht alles. Wirtschaft und Wirtschaften
sind nie Selbstzweck. Ziel ist vielmehr, für die Menschen mehr Erfüllung, mehr Glück, mehr Wohlstand,
mehr soziale Sicherheit sowie mehr Frieden und Freiheit
zu bewirken. Deswegen wollen wir eine sozial starke
Gesellschaft. Wir müssen um die Frage „Wirtschaft wozu?“ ringen, um die richtigen Antworten zu geben. Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, eine aktive, starke Gesellschaft, Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Wärme
- das ist der Wettstreit, um den es geht. Angesichts dessen versagen Sie, indem Sie schon die Regeln von Markt
und Wettbewerb nicht akzeptieren können.
Herr Bundeskanzler, Sie haben in zwei Reden - am
1. September und am 3. Oktober dieses Jahres, noch als
Bundesratspräsident - davon gesprochen, der Föderalismus dürfe nicht zu einem Wettbewerb zwischen den
Bundesländern werden.
Ich sage: In dieser Frage ist die CDU/CSU grundsätzlich gegenteiliger Auffassung.
({66})
Wenn dezentrale Systeme, die kommunale Selbstverwaltung, der Föderalismus, die Gliederung staatlicher
Macht und Zuständigkeit in Bund und Ländern, einen
Sinn machen sollen, muß es einen Wettbewerb um die
bessere Lösung, zum Beispiel zwischen Kommunen und
zwischen Bundesländern, geben. Diese bessere Lösung
muß dann Vorbild für die anderen sein. Die Ausgleichssysteme dürfen nicht dazu führen, daß am Schluß diejenigen mit den schlechtesten Ergebnissen an der Spitze
stehen. Deswegen muß unser System des Föderalismus
reformiert werden.
({67})
Wer den Wettbewerb nicht akzeptiert, hat die Grundregeln für Innovations- und Zukunftsfähigkeit einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht verstanden. Mit
dieser grundsätzlichen Alternative werden Sie sich in
den kommenden Jahren auseinandersetzen müssen. Wir
streiten mit Ihnen um den besseren Weg in eine gute
Zukunft, und wir nehmen unsere Verantwortung ernst.
Ich sage noch einmal, weil ich ja weiß, daß Sie Ihre
Wahlversprechungen schnell vergessen machen wollen - deswegen muß es am Anfang und am Ende des ersten Diskussionsbeitrags zu dieser Regierungserklärung
gesagt werden -: Das Haus ist wohl bestellt, das Sie
nach 16 Jahren CDU/CSU-FDP-Regierung übernommen
haben.
({68})
Niemand hat je bestritten, daß wir eine Menge Probleme
haben. Sie haben uns doch in den letzten Jahren immer
wieder daran gehindert, die Probleme noch besser zu lösen, als wir sie ohnehin schon gelöst haben. Aber es
bleibt festzuhalten: Das Haus ist wohl bestellt. Wir haben eine rückläufige Arbeitslosigkeit; es gibt 400 000
Arbeitslose weniger als vor einem Jahr. Es sind über
800 000 Arbeitsplätze im Verlauf dieses Jahres hinzugekommen. Wir haben stabile Preise und die niedrigste
Preissteigerungsrate seit vielen Jahren. Wir haben die
niedrigsten Zinsen. Wir haben ein solides Wirtschaftswachstum. Wir haben weniger Kriminalität und eine höhere Aufklärungsquote. Wir haben in den letzten Jahren
weniger Zuwanderung nach Deutschland gehabt. All
dies stellt die Ausgangslage dar, in der Sie anfangen.
({69})
Wenn sich in den kommenden Jahren die Entwicklung zum Schlechteren verändert, dann sind das, Herr
Bundeskanzler, Ihre Zahlen. Wenn die Arbeitslosigkeit
und auch die Inflation steigen und das Wirtschaftswachstum zurückgeht, dann ist das in der Verantwortung Ihrer Politik.
({70})
Daran werden Sie sich messen lassen müssen. Sie haben
gesagt, Sie wollen sich daran messen lassen; wir werden
Sie daran messen.
({71})
Das Wort hat der
Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Peter Struck.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt verschiedene Möglichkeiten,
im Parlament das Verhältnis zwischen den Koalitionsfraktionen und den Oppositionsfraktionen zu regeln.
Eines will ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen, Herr
Kollege Schäuble: Wer wie Sie uns „Machtbesoffenheit“ vorwirft,
({0})
der darf sich dann nicht darüber wundern, daß ich ihm
entgegenhalte: Ihre Tiraden sind nur dadurch zu erklären, daß Sie die Regierungsmacht verloren haben und
daß Sie selbst nicht Bundeskanzler der Bundesrepublik
Deutschland werden konnten.
({1})
Ich sage Ihnen noch eines, Herr Kollege Schäuble:
Sie brauchen hier keine Reden wie vor der Wahl zu
halten, nach dem Motto: Wir übergeben ein wohl bestelltes Haus. Wenn das denn so wäre, so müßte man
fragen: Wieso sind Ihnen denn die Bürger, zum Beispiel
die Mieter, weggelaufen? Können Sie mir das einmal
erklären? Das ist ja geradezu absurd.
({2})
Ich sage Ihnen auch noch klipp und klar: Wir können
vernünftig miteinander umgehen. Das sollten wir im Interesse unserer parlamentarischen Demokratie tun. Aber
dann müssen Sie, verehrter Herr Kollege Schäuble, es
auch ertragen, daß Zwischenrufe gemacht werden. Dabei müssen Sie nicht immer den Schutz des Präsidenten
in Anspruch nehmen. Wenn Sie die SPD-Fraktion so
angreifen, wie Sie das getan haben, dann werden wir uns
wehren, und dabei wird es bleiben. Nehmen Sie das zur
Kenntnis!
({3})
Ich war ja sehr gespannt auf die Rede, die Sie halten
würden, weil ich dachte: Was kommt denn nun? Ich verstehe - weil wir das ja selbst 16 Jahre lang als Opposition ertragen mußten -, daß der Vorsitzende einer Oppositionsfraktion versuchen muß, die eigenen Leute zu
mobilisieren.
({4})
Ich kann nachvollziehen, wie schwer das für Sie ist und
daß man dann natürlich versuchen muß, auch kräftige
Worte zu finden. Aber, Herr Kollege Schäuble, Ihre
heuchlerischen Ausführungen zu der Frage des Verhältnisses zwischen PDS und SPD
({5})
gehen weit über die Grenze hinaus.
({6})
Wir wissen doch ganz genau, daß in 44 Gemeinden und
Landkreisen in den neuen Ländern die CDU Koalitionen
mit der PDS eingegangen ist. Uns dann hier Zusammenarbeit vorzuwerfen ist lächerlich.
({7})
Wenn Sie, Herr Kollege Schäuble, uns auch noch anlasten wollen, daß die PDS in den Bundestag eingezogen
ist, dann sage ich Ihnen klipp und klar: Wir wollten
nicht - Verzeihung, Herr Kollege Gysi -, daß diese
Partei in den Deutschen Bundestag einzieht. Sie ist eingezogen, weil Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, in den neuen Ländern eine falsche Politik
gemacht haben. Sie haben das zu verantworten, nicht
wir.
({8})
Es macht mich sehr stolz, hier für die größte SPDBundestagsfraktion sprechen zu dürfen, die je in diesem
Hause gearbeitet hat.
({9})
- Entschuldigen Sie; ich höre Zurufe von Herrn Waigel
und Herrn Glos. Ich will nur Herrn Kollegen Waigel sagen - Herr Hintze hat sich schon verzogen -: Sie sind
nun absolut ungeeignet, in irgendeiner Weise Zurufe zu
machen, Sie als völlig gescheiterter Finanzminister der
Bundesrepublik Deutschland.
({10})
Die SPD-Kandidatinnen und -Kandidaten haben 212
Wahlkreise direkt gewonnen, 109 mehr als bei der Wahl
zum vergangenen Bundestag. Das hat es noch nie gegeben: 20 181 269 Wähler haben der SPD und Gerhard
Schröder ihre Zweitstimme gegeben. Meine Damen und
Herren, Herr Bundeskanzler, wir werden dieses Vertrauen rechtfertigen.
({11})
Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland ist - das ist der tiefere Grund für die Verbitterung und für die teilweise unsinnigen Tiraden Ihres
Fraktionsvorsitzenden - eine Regierung komplett abgewählt worden. Zum erstenmal haben Oppositionsparteien per Wahl das Kanzleramt errungen. Ihnen mag das
nicht passen, aber es sollte Sie freuen; denn es ist ein
Beleg dafür, wie demokratisch und lebendig unsere
Bürger entscheiden können, wenn es um die Frage geht,
wer politische Verantwortung in unserem Land haben
soll.
({12})
Wir, die SPD-Fraktion, werden uns - trotz dieses sehr
schlechten Anfangs von Ihrer Seite, Herr Kollege
Schäuble ({13})
durch die gewonnene Stärke nicht zu Arroganz verleiten
lassen. Allen Fraktionen bieten wir eine faire, konstruktive Zusammenarbeit an, schon deshalb, weil wir aus
16 Oppositionsjahren wissen, wie es ist, wenn alle Eigeninitiativen von der Dominanz der Regierungsfraktionen vom Tisch gefegt werden.
Wo ich gerade die F.D.P. sehe
({14})
- ja, ich weiß -: Der arme Herr Gerhardt muß jetzt ganz
alleine da vorne in der ersten Reihe sitzen.
({15})
Als wir - das muß ich Ihnen einmal sagen, Herr Gerhardt; vielleicht wissen Sie das nicht - in der Situation
waren, in der Sie jetzt sind, ging es um die Frage, wie
viele Stühle in der ersten Reihe die Fraktionen haben
dürfen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen freundlicherweise einen ihrer Plätze zur Verfügung gestellt. Daran, daß Sie
jetzt dort alleine sitzen müssen, sehen Sie, wie Ihr ehemaliger Koalitionspartner mit Ihnen umgeht.
({16})
So ist das, wenn man nicht mehr gebraucht wird.
Ihre Fraktion ist ein bißchen kleiner geworden, und
die Anreden in Ihrer Fraktion müssen sich auch ändern:
Sie können nicht mehr „Herr Minister“ und „Herr
Staatssekretär“ sagen. Sie regieren zum erstenmal seit
29 Jahren nicht mehr mit, aber - das muß ich Ihnen ehrlich sagen, Herr Gerhardt - ich habe überhaupt kein
Mitleid mit Ihnen. Es freut mich geradezu.
({17})
Da ich nun gerade meinen Blick schweifen lasse:
Herr Altbundeskanzler Kohl, es ist viel davon gesprochen worden, in welch würdiger Art und Weise der
Amtswechsel vollzogen worden ist und wie Sie diese
Wahlniederlage hingenommen haben. Ich will das nicht
wiederholen; ich finde, das ist nun oft genug gesagt
worden. Aber ich möchte sagen - Sie werden es mir persönlich nicht übelnehmen, Herr Altkanzler Kohl -: Mir
wäre es lieber gewesen, wenn Sie diese würdige Art, eine Wahlniederlage hinzunehmen, schon viel früher als
1998 hätten zeigen können.
({18})
- Ja, die Wahrheit hört man nicht gerne. Herr Waigel,
setzen Sie sich mal lieber ganz nach hinten; dort stören
Sie am wenigsten. Ihre Zeit ist sowieso schon lange vorbei.
Wer hätte erwartet, daß diese Koalition der Erneuerung in Rekordzeit einen vertragsfähigen Handlungsrahmen abstecken würde? Das sind keine Blütenträume,
sondern das Konzept, wie es der Herr Bundeskanzler für
die nächsten vier Jahre vorgestellt hat, ist sehr realistisch. Manchem Bürger geht das nicht weit genug;
mancher hätte mehr Aufbruch erwartet. Ich glaube aber,
daß Rot und Grün das rechte Augenmaß für Kontinuität
und Erneuerung hatten. Für unseren Start in Jahre harter Arbeit gilt, was die Chinesen mit einem Sprichwort
sagen: Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten
Schritt.
Sie können sicher sein, daß wir es ernst meinen mit
der Erkenntnis, die der Vorsitzende der Unionsfraktion,
Kollege Schäuble - er ist gerade nicht im Saale anwesend -,
({19})
1994, bei der letzten Regierungserklärung Helmut Kohls
zum Anfang einer Legislaturperiode, hier zum Besten
gegeben hat: „Wir wissen nicht alles, und wir wissen
nicht alles besser.“ Das ist eine richtige Erkenntnis. Ich
werde ihn noch persönlich darauf ansprechen, wenn er
Gelegenheit hat, wieder hier im Plenum zu sein.
1994 war dies eine kluge Einschätzung. Wie recht er
damit hatte, hat das Wählervotum gezeigt. Das war auch
die Antwort darauf, daß die Unionsfraktion entgegen ihrer vorgetragenen Einschätzung glaubte, das Land mit
ihrer Besserwisserei überziehen zu können. Das glauben
Sie heute übrigens - wie die Rede von Herrn Schäuble
gezeigt hat - noch immer. Wie anders ist zu verstehen,
daß Sie auf Ihrem Parteitag und auch eben wieder eine
vermeintliche Erfolgsbilanz vorlegten? Nehmen Sie
doch den Rat an, der Ihnen in den Medien erteilt wird.
Sie machen sich lächerlich, wenn Sie, Herr Waigel, Herr
Glos und andere, sich nach einer so heftig verlorenen
Wahl auf die Schulter klopfen. Was Sie hinterlassen haben, ist kein Fundament für eine gute Zukunft, wie Sie
es kürzlich und gerade eben wieder behauptet haben.
({20})
Meine Aufgabe ist es nicht, Ursachenforschung für
das Desaster der Union zu betreiben. Das machen Leute
wie Rüttgers, Blüm, Geißler, Biedenkopf oder angebliche „Junge Wilde“ - was daran wild sein soll, ist mir
noch nie aufgegangen - mit weit intimerer Kenntnis.
Die Kirchen haben Sie gewarnt; die Gewerkschaften
haben Sie gewarnt. Dennoch haben Sie eine Politik betrieben, die gegen die Interessen der großen Mehrheit
der Bevölkerung gerichtet war. Das ist jetzt sogar Norbert Blüm aufgefallen. Er sagt - ich zitiere -: „Vielleicht
haben wir den Eindruck erweckt, unsere Vorschläge
stammten aus dem sozialen Kühlhaus.“ - Herr Kollege
Blüm, das war nicht nur irgendein Kühlhaus. Manchmal
hat Ihre Regierung den Eindruck erweckt, als sei ihr soziales Gewissen tief im ewigen Eis Grönlands eingefroren.
({21})
Inzwischen aber tauen selbst die sozialen Gefühle des
neuen CDU-Vorsitzenden auf. Fast anrührend gab er
am 29. Oktober zu Protokoll, daß wir wieder eine Gesellschaft brauchen, in der niemand sich selbst überlassen
bleibt, eine Gesellschaft - so Herr Kollege Schäuble -,
in der soziale Gerechtigkeit herrscht. - Ich glaube,
Herr Schäuble, Sie verwechseln da eine Kleinigkeit: Sie
müssen jetzt Opposition gegen Rotgrün machen, opponieren im Augenblick aber gegen Ihre Thesen von gestern aus dem Kühlhaus. Lesen Sie doch nach, was Sie
vor zwei Jahren in der Akademie in Tutzing gesagt haben:
Das Desaster der Union ist nicht mein Thema.
Mein Thema ist die Frage, wie eine Regierung so
sehr die Notwendigkeit des Zusammenhalts dieser
Gesellschaft aus den Augen verlieren konnte.
({22})
In den CDU-Sozialausschüssen bemängelt man, die
Bundesregierung habe nicht leidenschaftlich genug für
den Konsens gekämpft und sei - Zitat - in die Konfliktfalle geraten. - Das stimmt nur zum Teil. Die ehemalige Regierung Kohl hat sich nicht in die Konfliktfalle verirrt. Das Scheitern des „Bündnisses für Arbeit“ war die logische, wenn auch absolut falsche Konsequenz einer Politik, die immer nur die alttestamentarische Alternative im Auge hatte: Wer nicht für mich ist,
ist wider mich.
In diesem Land ist von Ihnen zu lange ein FreundFeind-Schema gezüchtet worden. In diesem Land gehörte nur der zu den Guten, der Ihrer Meinung war. In
diesem Land wurde nicht zusammengeführt, sondern gespalten.
({23})
Da wurden einzelne Menschen wie der Schriftsteller
Günter Grass an den Pranger gestellt, weil sie unbequeme Meinungen zum Beispiel in der Ausländerpolitik
hatten. Da wurden Fernsehjournalisten mit sanftem
Druck aus dem Kanzleramt kaltgestellt, weil sie Kohls
Weg in die Einheit kritisch begleiteten. Da wurden
Gruppen wie Atomkraftgegner mitunter wie Staatsfeinde
behandelt.
Fast ein Viertel der Wähler in den neuen Ländern haben Sie mit Ihren Polarisierungen in die Hände der PDS
getrieben. Sie finden es jetzt aber absurd, daß diese Partei am politischen Prozeß beteiligt werden muß.
Zur PDS hat der Kollege van Essen in der für die
Union fürchterlich peinlichen Geschäftsordnungsdebatte
zu Beginn der Arbeit dieses Bundestages zwei richtige
Sätze gesagt, die ich nur unterstreichen kann. Ich zitiere:
Die PDS lebt doch gerade davon, sich als verfolgt,
als benachteiligt darzustellen. Wir sollten ihr genau
diesen Gefallen nicht tun.
So ist es. Wir werden die PDS ordentlich in die Parlamentsarbeit einbeziehen.
({24})
- Ich komme auf das Thema noch zu sprechen, Herr
Kollege Glos.
Meine Damen und Herren, Gerhard Schröder und
Oskar Lafontaine haben immer wieder klargemacht,
worauf es auch und vor allem ankommen wird. Oskar
Lafontaine hat das auf einen einfachen Satz aus dem
Volksmund gebracht: „Was du nicht willst, daß man dir
tu', das füg' auch keinem andern zu.“ Das ist banal. Aber
auf dieser Banalität beruht alles vernünftige Miteinander
von Menschen in unserem Lande. Sie haben aber nicht
nur billigend in Kauf genommen, daß dieser Erkenntnis
nicht mehr Rechnung getragen wurde, Sie haben aktiv
dazu beigetragen, indem Sie gesellschaftliche Gruppen
gegeneinander ausgespielt und in weiten Teilen Klientelpolitik betrieben haben.
({25})
Meine Damen und Herren, genau das wollen wir
nicht. Wir wollen die Gerechtigkeitslücke schließen.
Wir haben keine großen Versprechungen, wir haben
vor allen Dingen keine falschen Versprechungen gemacht, Herr Kollege Kohl. Wir halten Wort und werden
deshalb unverzüglich die von der Regierung Kohl vorgenommenen Verschlechterungen beim Kündigungsschutz, bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall,
beim Schlechtwettergeld der Bauarbeiter und bei den
Renten korrigieren.
({26})
Nur ein Beispiel daraus: Das Schlechtwettergeld,
das 1959 als soziale Errungenschaft am Bau gefeiert
wurde, wird 1999 mit uns wieder eingeführt. Wir korrigieren den Wahnsinn einer sogenannten Reform, mit der
im Winter massenhaft Bauarbeiter entlassen wurden und
auch im Frühjahr auf der Straße standen. Winterrisiko
darf kein Arbeitsplatzrisiko sein.
({27})
Ich warte eigentlich immer noch auf den Kollegen
Schäuble, weil ich einige Worte an ihn richten will.
Vielleicht könnte die Geschäftsführung mir einmal mitteilen, ob er noch zu kommen beabsichtigt. Ich möchte
auf ihn eingehen. Er hat ja gerade gesagt: Wir wollen
eine Debatte haben. Aber wie kann ich mit ihm eine Debatte führen, wenn er nicht da ist?
({28})
Union und F.D.P. kritisieren die Finanzpolitik der
neuen Regierung und unsere Steuerreform - Herr
Schäuble hat das eben auch getan -, offensichtlich ohne
genau hingesehen zu haben. Ein Satz von Herrn
Schäuble ist absolut rekordverdächtig: „Unsere Bundesregierung“, so hat er gesagt, „hinterläßt geordnete
Staatsfinanzen.“
({29})
Dieser Satz qualifiziert Herrn Schäuble aus meiner Sicht
sofort und unwiderruflich und ohne jeden Gegner als
nächsten Kandidaten für den Orden wider den tierischen
Ernst.
({30})
Es ist bei den Löchern, die uns Herr Waigel hinterlassen
hat, absolut lächerlich, von „geordneten Staatsfinanzen“
zu sprechen. Er hat, wie man sehen kann, inzwischen
den Raum auch fluchtartig verlassen.
Die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute sagen in ihrem Herbstgutachten:
Die bisher vorliegenden Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen deuten auf eine leichte Lockerung
der Konsolidierung hin, trotz veränderter finanzpolitischer Akzente, aber nicht auf einen generellen
Kurswechsel.
Und ein anderes Zitat:
Die künftige Bundesregierung scheint nach den
bisherigen Verlautbarungen an der mittelfristigen
Rückführung des Budgetdefizits festhalten zu wollen. Dies ist zu begrüßen.
Was ist denn nun? Ist die Finanzpolitik katastrophal
oder eine Fortsetzung der alten? Ich sage: Weder Sie,
die Unionsfraktion, noch die Institute haben recht. Die
Finanzpolitik vollzieht einen längst fälligen Kurswechsel zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Investitionen. Sie
entlastet die Arbeitnehmer und die Leistungsträger und
stärkt die Nachfrage.
({31})
Sie bekämpfen unseren Einstieg in die ökologische
Steuerreform, obwohl Herr Schäuble es besser weiß
und das in Sonntagsreden auch sagt oder in Büchern
schreibt. Ich will Ihnen noch einmal vorhalten, was die
wirtschaftswissenschaftlichen Institute dazu sagen:
Ein ökologisch orientierter Umbau des Abgabesystems mit einer höheren Belastung des Faktors
Energie bei gleichzeitiger Entlastung des Faktors
Arbeit kann sowohl positive Umwelteffekte als
auch positive Wirkung auf die Beschäftigung haben.
Genau das wollen wir.
Wir wollen darüber hinaus eine Steuerreform, die
sozial gerecht und solide finanziert ist. Wir werden
eine Reform vorlegen, mit der Bürgerinnen und Bürger in drei Stufen in einem Gesamtvolumen von
54 Milliarden DM entlastet werden. Wir werden über
die Steuerreform am Freitag noch ausführlich diskutieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden
uns auch sehr intensiv mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir in den nächsten vier Jahren jeweils unsere
Aufgaben erfüllen werden, Sie als Opposition, als deutlich kleiner gewordene CDU/CSU-Fraktion, was mich
herzlich freut - Sie haben 47 Abgeordnete verloren -,
wir als Regierungskoalition.
({32})
Sie tun so, als sei die Opposition eine Episode.
({33})
- So war die Rede von Herrn Schäuble.
({34})
Wenn Sie diesen Eindruck erwecken wollen, kann ich
das verstehen. Aber wenn Sie bei sich zu Hause, parteiintern, kaum ein Wort über die Ursachen Ihrer Niederlage verlieren, irritiert das doch.
({35})
Denn schließlich sind bekanntlich fehlende und falsche
Analysen von Wahldebakeln das Schlimmste an Ihnen.
Das einzige, was beim neuen CDU-Vorsitzenden außer
der bekannten und auch hier wieder praktizierten Polemik deutlich geworden ist: Herr Schäuble hofft, daß die
Oppositionszeit schnell vorüber ist.
({36})
Das kann ich verstehen. Ich weiß aber, auch aus eigener
leidvoller Erfahrung: So schnell vergehen Oppositionszeiten nicht.
({37})
Jetzt aber zu Ihrer Bewertung unseres Koalitionsvertrages. Er habe, so sagte Herr Schäuble eben, nur schöne Überschriften gelesen, sonst nichts. Wenn er nur
Überschriften liest, ist das sein Problem. Ich helfe ihm
bei zwei Punkten einmal nach, bei denen es die
CDU/CSU-Fraktion aus unterschiedlichen Gründen besonders schmerzt.
Zum Beispiel die Familienpolitik.
({38})
Da klagen Sie beredt, daß die Zukunft unserer Kinder
bei Rotgrün in schlechter Hand sei. Ihr Fraktionskollege,
Herr Laumann, Sprecher der Arbeitnehmergruppe Ihrer
Fraktion - ich weiß nicht, ob er da ist; er macht vielleicht schon Mittagspause -, sieht das ganz anders.
({39})
- Ist ja gut! - Herr Laumann glaubt offensichtlich, daß
in den letzten 16 Jahren nicht genug für Familien getan
worden ist. Denn wie anders ist es zu verstehen, daß er
gerade jetzt fordert, die Unterstützung der Familien
müsse wieder - so das Zitat - „ins besondere Licht der
Öffentlichkeit“ gerückt werden? Wir tun das, meine
Damen und Herren. Das hat der Bundeskanzler eben gerade vorgetragen.
({40})
Lesen Sie auch bitte einmal das Kleingedruckte im
Koalitionsvertrag. Wenn Herr Schäuble nur Zeit hat,
Überschriften zu lesen, dann empfehle ich Ihnen: Lesen
Sie die Seiten 41 und 42 des Koalitionsvertrages zu diesem Thema. Dort heißt es:
Wir sorgen dafür, daß sich die wirtschaftliche und
soziale Lage der Familien spürbar verbessert. . .
Mit der Steuerreform wird mehr Steuergerechtigkeit für Familien geschaffen. Eine durchschnittlich
verdienende Familie mit zwei Kindern wird um
rund 2 700 DM entlastet.
({41})
Das Kindergeld für das erste und zweite Kind wird
1999 auf 250 DM und im Jahr 2002 auf 260 DM. . .
angehoben.
({42})
Ist das nichts, meine Damen und Herren? Natürlich ist
dies nicht alles, aber jedenfalls mehr als Sie, Herr Laumann, seinerzeit von Ihrer eigenen Regierung erwarten
durften. Sie, Herr Altkanzler Kohl, sind nie in der Lage
gewesen, das Kindergeld von 220 DM auf 250 DM zu
erhöhen. - Wenn Sie zustimmend nicken, dann sagen
Sie, daß ich recht habe.
Jetzt will ich etwas zu dem Thema der doppelten
Staatsbürgerschaft sagen. Ich finde es schon merkwürdig,
({43})
wie Herr Schäuble über unseren Vorstoß zur doppelten
Staatsbürgerschaft gesprochen hat. Er hat nur die Floskel verwandt - so Herr Schäuble am vergangenen
Samstag auf dem Parteitag -, Integration werde nicht
dadurch gefördert, daß die Staatsbürgerschaft zur Beliebigkeit werde.
({44})
Auch hier empfehle ich: Lesen Sie mehr als nur Überschriften!
Im übrigen, meine Damen und Herren, finde ich diese
abschätzige Bemerkung gegenüber all jenen ausländischen Mitbürgern schäbig, die seit Jahren gerade auf
diese Chance gehofft haben.
({45})
Für sie ist die Entscheidung zwischen deutscher und
- sagen wir - türkischer Staatsbürgerschaft keine beliebige Frage.
Herr Schäuble, Ihre Bemerkung ist aber auch schäbig
gegenüber all den Kolleginnen und Kollegen in Ihrer eigenen Fraktion, die ähnliche Regelungen beim Staatsbürgerschaftsrecht für geboten halten. Wir kennen doch
die Diskussion aus der vergangenen Legislaturperiode.
Wie gehen Sie denn mit diesen Kollegen um? Einmal
haben Sie den Eindruck vermittelt, daß Sie ein solches
Projekt unterstützen würden. Dann sind Sie wegen der
ablehnenden Haltung der CSU zurückgeschreckt. Jetzt
haben Sie den Kollegen auf Ihrem Parteitag am Samstag
gesagt, das sei keine Frage von Belang. Sie werden sich
täuschen. Während Sie noch Ihre vermeintlichen Erfolge
von gestern feiern, sind Sie gerade in dieser Frage dabei,
Ihre Fehler von morgen zu machen.
({46})
- Herr Kollege Schäuble, ich hatte Sie mehrfach angesprochen; mir wurde gesagt, daß Sie zurückkommen.
({47})
- Ja, natürlich, selbstverständlich. - Aber ich möchte
jetzt die Gelegenheit nutzen, Herr Kollege Schäuble,
trotz der Schärfe, die wir hatten, Ihnen auch im Namen
der SPD-Bundestagsfraktion herzlich zu Ihrer Wahl zum
CDU-Parteivorsitzenden zu gratulieren. Das tue ich
gerne.
({48})
Ich weiß, Herr Kollege Schäuble, das ist ein schwieriges
Amt. Es würde mich reizen, ein paar Personalentscheidungen Ihres Parteitages zu kommentieren. Meinen Sie,
ich sollte es nicht machen? Dann sage ich nur den einen
Satz - den werden Sie mir noch gestatten, Herr Kollege
Schäuble -: Wie jetzt jemand, der wie der Kollege
Wulff zweimal Landtagswahlen verloren hat, plötzlich
der große Hoffnungsträger sein soll, müssen Sie mir erst
einmal erklären. Ich verstehe es nicht so richtig, aber Sie
vielleicht schon.
({49})
Ich war bei der doppelten Staatsbürgerschaft stehengeblieben. Ich möchte Sie daran erinnern, daß diese vorschnell eingenommene Ablehnung beim Ausländerrecht
Sie in das Dilemma bringt, das Sie in den 70er Jahren
mit Ihrer Haltung zu den Ostverträgen hatten. Ihre heutige Haltung zum Thema doppelte Staatsbürgerschaft
könnte Ihnen wie damals über etliche Jahre den Verlust
der politischen Mitte und der Politikfähigkeit der Union
bescheren. Damals ging es um eine Öffnung nach außen.
Heute geht es um eine Öffnung, die dem inneren Frieden
in unserem Lande dient.
({50})
Macht es Sie gar nicht stutzig, daß Sie in dieser Frage
im ganzen Haus isoliert dastehen? Wir jedenfalls bieten
Ihrem ehemaligen Koalitionspartner F.D.P. an: Machen
Sie mit! Lassen Sie uns das Staatsbürgerschaftsrecht so
gestalten, Herr Kollege Gerhardt, daß es den Bedingungen des neuen Jahrhunderts gerecht wird! Wir sind zur
Zusammenarbeit bereit. Lassen wir die CDU da stehen,
wo sie hingehört, nämlich in der Ecke der sich verweigernden Opposition.
({51})
Daß es in der Politik immer auch um Macht geht und
daß eine Regierung um den Machterhalt kämpft, ist klar.
Aber Machterhalt darf nicht alles sein. Erhard Eppler
hat dazu in seinem Buch „Die Wiederkehr der Politik“
geschrieben:
Wer Politik auf ein steriles Spiel mit der Macht und
um die Macht reduziert, wer sie löst von der Frage,
wie Menschen leben wollen und leben sollen, läßt
in der Tat nur etwas übrig, was für die übrige Gesellschaft ohne Belang ist, einen Kampfplatz oder
auch nur einen Spielplatz, bei dem es um Ränge
und Medaillen geht, um die Befriedigung von Geltungsbedürfnis und Machthunger . . .
Herr Schäuble, dem Machterhalt haben Sie in der
vergangenen Legislaturperiode alles untergeordnet. Aus
Machterhalt haben Sie noch vor wenigen Wochen Jürgen Trittin als Altkommunisten beschimpfen lassen, die
Grünen als Chaostruppe abgetan. Jetzt reden Sie von
Schwarzgrün in den Landesparlamenten. Für wie dumm
halten Sie eigentlich die Wähler, Herr Kollege
Schäuble?
({52})
Der 27. September 1998 war für Sie mehr als der
Machtverlust in Bonn. Er hat bloßgelegt, was der Kollege Helmut Kohl mit seiner mächtigen Figur lange verbergen konnte. In Sachen Macht ist die CDU am Ende
und in Sachen politischer Kompetenz genauso. In den
Ländern und Kommunen ist sie fast überall auf das Maß
zurückgestutzt, das sie jetzt auch im Bund erreicht hat.
Sie haben noch so getan, als spielten Sie überall die erste
Geige, als Sie in den Ländern und Kommunalparlamenten längst im zweiten oder dritten Glied gelandet waren.
Jetzt ist offensichtlich, wie wenig Ihr selbstgerechtes
Auftreten hier im Parlament mit den wahren Verhältnissen im Lande zu tun hat. Ich bin stolz darauf: Die SPD
regiert in 13 von 16 Bundesländern mit. Wir stellen elf
Ministerpräsidenten. Das ist ein klarer Beweis für die
Stärke der sozialdemokratischen Idee in Deutschland.
({53})
Herr Kollege Schäuble hat ein Thema angesprochen,
auf das ich gewartet habe. Was Sie gesagt haben, ist
auch nichts Neues gewesen. Deshalb konnte man sich
darauf vorbereiten. Es geht um die Frage des Bundespräsidenten. Herr Kollege Kohl, wir Sozialdemokraten
haben nicht vergessen, welch schäbiges Spiel Sie in der
Präsidentschaftsfrage mit Johannes Rau getrieben haben.
({54})
Erst haben Sie ihm das Amt angeboten.
({55})
- Nein, das ist nicht unwahr. - Dann wollten Sie nichts
mehr davon wissen, zogen Steffen Heitmann aus dem
Hut und haben schließlich Roman Herzog zum Präsidenten gemacht. Wir haben noch den Satz im Ohr, den
Sie, Herr Kollege Kohl, in der letzten Legislaturperiode
über Rau gesagt haben: „Der wird das nie!“ - Er wird
es, Herr Ehrenvorsitzender der CDU,
({56})
denn wir leben nicht in einer Halbmonarchie, wie Sie
zwischenzeitlich vielleicht geglaubt haben. Wir leben in
einer Demokratie, in der nicht der Wille eines einzelnen
den Ton angibt. Meine Damen und Herren, Johannes
Rau wird nach Gustav Heinemann der zweite sozialdemokratische Bürgerpräsident der Bundesrepublik
Deutschland.
({57})
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, den ich
für mitentscheidend für das Scheitern der bürgerlichen
Koalition halte. Wir Sozialdemokraten - und ich denke,
auch die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen - werden
diesen Fehler nicht wiederholen. Ich meine das mangelnde konstruktive Zusammenspiel zwischen der Regierung und den Fraktionen von Union und F.D.P.
Kollege Schäuble, bei Ihrem Amtsantritt 1994 haben Sie
zwar den Eindruck erweckt, Ihre Fraktion zu einem
Machtzentrum auszubauen, aber wie die Praxis aussah,
wissen viele Frauen und Männer Ihrer Fraktion aus eigenem Erleiden: Gerade bei wichtigen Reformvorhaben
sind Entscheidungen an den Regierungsfraktionen vorbei in sogenannten Spitzengesprächen gefällt und die
Fraktionen vor vollendete Tatsachen gestellt worden.
Sie, Herr Schäuble, waren an diesem „Kungelrundenverfahren“ maßgeblich beteiligt und haben Ihre Abgeordnetenkollegen zu bloßen Erfüllungsgehilfen degradiert.
Mit dieser einseitigen Instrumentalisierung der Fraktion
haben Sie dem Parlamentarismus geschadet und Ihrer
Regierung letztlich keinen Gefallen getan.
({58})
Denn nur wenn sich eine Fraktion nicht als bloßer
Mehrheitsbeschaffer der Regierung versteht, kann sie
ein verläßlicher Seismograph sein - ein Seismograph,
der aufnimmt und wiedergibt, was möglich ist und was
noch getan werden muß.
Diese SPD-Fraktion, für die ich spreche, wird die Regierung Gerhard Schröders tragen. Das ist überhaupt
keine Frage. Im Zweifel - und darin unterscheiden wir
uns von den alten Koalitionsfraktionen - werden wir
diese Regierung allerdings auch treiben, wenn wir es für
nötig halten. Wir werden das loyal, konstruktiv und
selbstbewußt tun. Wir werden gemeinsam mit dieser
Regierung erfolgreich sein; wir werden Innovationen
durchsetzen, soziale Gerechtigkeit und eine nachhaltige
Entwicklung fördern.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({59})
Das Wort hat die
Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Frau Kerstin
Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Schäuble, ich muß sagen, daß ich von Ihrer
Rede wirklich etwas enttäuscht war.
({0})
Mein Eindruck ist, daß Sie bis jetzt nicht viel aus der
Wahlniederlage gelernt haben. Um einen Punkt von Ihnen aufzugreifen: Einen Vorwurf kann man der RegieDr. Peter Struck
rungserklärung des Herrn Bundeskanzlers sicherlich
nicht machen, nämlich den, sie habe nur aus Absichtserklärungen bestanden. Der Herr Bundeskanzler hat unter
Berücksichtigung der vollen Breite der gesellschaftlichen Aufgaben sehr deutlich gemacht, was sich diese
Regierung ganz konkret vorgenommen hat. Diese Regierung handelt! Und Sie handelt schon gleich in den ersten
Tagen. Mein Eindruck ist: Es fällt Ihnen wirklich
schwer, sich an die Tatsache dieser neuen Verhältnisse
zu gewöhnen. Das ist das Problem.
({1})
Die Wählerinnen und Wähler haben am
27. September entschieden, und zwar für eine Politik
der Reformen und der grundlegenden Erneuerung. Diesen klaren Auftrag werden wir jetzt umsetzen. Diese
Koalition, diese Bundesregierung werden Deutschland
ökologisch und sozial erneuern. Es ist uns sehr bewußt,
daß das kein einfacher Weg werden wird, auch kein bequemer. Aber es ist der richtige Weg, und es gibt dazu
keine Alternative. Herr Schäuble, viel zu lange hat doch
Ihre Regierung, die alte Bundesregierung, die Probleme
ausgesessen; deshalb wollen wir jetzt die notwendigen
und tiefgreifenden Reformen anpacken.
({2})
Damit beginnen wir schon in dieser Woche. Herr
Kollege Schäuble, es ist richtig, daß wir dabei zunächst
einmal die schlimmsten Altlasten der alten Regierung
aus dem Weg schaffen müssen, nämlich ungerechte und
unsinnige soziale Einschnitte, die Sie den Menschen als
Reformen verkaufen wollten, wie etwa die Kürzung der
Lohnfortzahlung, die Aufweichung des Kündigungsschutzes und das abstruse Krankenhausnotopfer.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der
F.D.P., ich meine, mit einer Politik der organisierten
Ungerechtigtkeit reformiert man keine Gesellschaft;
man spaltet sie damit nur. Genau das haben Sie in den
letzten Jahren gemacht. Sie haben diese Gesellschaft mit
Ihrer Politik mutwillig gespalten, gespalten in Arm und
Reich, in Eingeborene und Fremde, in Jung und Alt und
in Gesunde und Kranke.
({3})
Die Schlüsselentscheidung dieser Politik haben Sie
im Frühjahr 1996 getroffen. Da haben Sie nämlich mutwillig das „Bündnis für Arbeit“ beendet, indem Sie die
Gewerkschaften vor die Tür gesetzt haben. Das war ein
schwerer Fehler mit schlimmen Folgen für die ganze gesellschaftliche Entwicklung. Letztlich war Ihre Abwahl
am 27. September wohl die einzig logische und richtige
Konsequenz aus dieser Fehlentscheidung.
({4})
Wir wollen die ökologische und soziale Modernisierung der Gesellschaft angehen. Wir werden die Veränderungen, die nicht zuletzt die Menschen in diesem
Land erwarten, anders als durch Spaltung angehen. Wir
werden versuchen, in allen Bereichen, die wir angehen,
einen neuen, einen reformorientierten Konsens zu finden; denn die großen und schwierigen Aufgaben, vor
denen wir stehen, kann man im Grunde genommen nur
miteinander und eben nicht gegeneinander bewältigen.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, eine gerechtere
Verteilung der Lasten, einen neuen Generationenvertrag,
die umfassende Orientierung auf ökologische Nachhaltigkeit und die weitere Demokratisierung der Gesellschaft, das alles werden wir nur schaffen, wenn wir
wirklich einen neuen, reformorientierten Konsens in dieser Gesellschaft anstreben. Genau das werden wir versuchen.
({5})
Ein neues Bündnis für Arbeit und Ausbildung wird
dabei für uns oberste Priorität haben. Wir wollen gemeinsam mit den Gewerkschaften und den Unternehmen
alle Möglichkeiten zum Abbau der Arbeitslosigkeit nutzen. Wir müssen endlich Überstunden abbauen und in
neue Jobs verwandeln. Wir müssen durch vernünftige
Regelungen bei der Arbeitszeit, Teilzeitarbeit erleichtern
und fördern. Und wir müssen endlich die Vereinbarkeit
von Erwerbsarbeit und Familienarbeit verbessern. Das
alles ist eben nicht nur eine gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe, sondern es ist auch eine historische
Aufgabe von Politik, Unternehmen und Gewerkschaften.
Ich freue mich sehr über die Ankündigung des Herrn
Bundeskanzlers, daß das neue Bündnis für Arbeit bereits
im Dezember mit seiner Arbeit beginnen wird. Wir als
Bündnisgrüne werden - das kann ich Ihnen versichern alles tun, was in unseren Kräften steht, damit dieses
Bündnis erfolgreich sein wird.
({6})
Vordringlich ist in der Tat die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Viele meiner Generation sind arbeitslos oder haben keinen Ausbildungsplatz. Sie stehen
vor der Perspektivlosigkeit. 10,8 Prozent der Jugendlichen unter 25 Jahren sind arbeitslos: Jeder neunte Jugendliche hat keinen Job; im Osten ist es sogar jeder
sechste. Ende Oktober fehlten noch mindestens 36 000
Ausbildungsplätze. Das müssen und werden wir so
schnell wie möglich angehen; denn hier liegt ein sozialer
Sprengsatz in der Gesellschaft, wenn ein großer Teil der
Jugendlichen von der Teilhabe am Arbeitsleben ausgegrenzt wird. Das müssen wir und werden wir als Regierung ändern.
({7})
Darum brauchen wir auch das Sofortprogramm, mit dem
100 000 Jugendliche umgehend und mit besonderem
Schwerpunkt in Ostdeutschland in Ausbildung und Beschäftigung gebracht werden.
Herr Bundeskanzler, Sie haben gesagt, Sie hofften,
daß die Bereitstellung von hinreichend vielen Ausbildungsplätzen keinerlei Zwangsmaßnahmen erforderlich
mache. Das hoffen auch wir. Aber falls es nicht gelingt,
durch Vereinbarungen die erforderlichen AusbildungsKerstin Müller ({8})
plätze zu schaffen, dann - das sage ich hier ganz deutlich - wird diese Koalition auch gesetzgeberisch handeln
müssen. Dann werden wir eine Ausbildungsplatzumlage
auf den Weg bringen.
({9})
Diese Koalition wird nicht tatenlos zusehen, wenn Jugendlichen der Weg zu einer qualifizierten Ausbildung
versperrt bleibt.
({10})
Meine Damen und Herren, allerhöchste Zeit ist es
auch für die Steuerreform. Sie wird ebenfalls ein Beitrag
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sein.
({11})
- Sie werden das sehen. - Vor allen Dingen wird sie
endlich zu einer gerechteren Lastenverteilung im Steuersystem führen.
({12})
Wir werden die Steuertarife in drei Schritten senken.
Zugleich werden wir das Kindergeld deutlich anheben.
Wir werden mit jedem Schritt insbesondere die unteren
und mittleren Einkommen und die Familien mit Kindern
entlasten. Der Herr Bundeskanzler hat schon darauf hingewiesen: In der dritten Stufe unserer Steuerreform wird
eine Familie mit durchschnittlichem Einkommen und
zwei Kindern um 2 700 DM entlastet. Das bedeutet
endlich mehr Steuergerechtigkeit; das ist ein wirklicher
Erfolg. Wir werden dies sofort, und zwar bereits zum
1. Januar 1999, angehen.
({13})
Nun ist unser Steuerreformkonzept in den letzten
Wochen heftig diskutiert worden. Den einen ging es
nicht schnell genug, den anderen ging es nicht weit genug. Den meisten aber gefielen zwar einigermaßen die
niedrigeren Steuertarife; aber bei der Gegenfinanzierung
wollten sie - das war dann besonders originell - alle
Schlupflöcher möglichst so lassen, wie sie sind.
Eine solche Kritik trifft uns nicht sehr überraschend;
denn die alte Bundesregierung hatte ja mal ganz locker
eine Nettoentlastung von 50 Milliarden DM durch die
Steuerreform versprochen, davon - ich erinnere Sie daran, Herr Glos - ein Drittel durch eine Erhöhung der
Mehrwertsteuer gegenfinanziert, während die anderen
zwei Drittel durch den Griff in die Kassen von Bund,
Ländern und Gemeinden finanziert werden sollten. Das
war leicht; Sie wußten nämlich ganz genau, daß die
Länder angesichts ihrer Haushaltslage das nicht realisieren könnten. Das waren alles ungedeckte Schecks, von
denen Sie wußten, daß Sie sie niemals einreichen müßten.
Mein Eindruck ist, daß ein ganzer Teil der Öffentlichkeit heute noch geradezu besoffen von diesen unverantwortlichen, leeren Versprechungen ist, die Sie im
letzten Jahr gemacht haben.
({14})
Angesichts der Haushaltslage von Bund, Ländern und
Gemeinden und angesichts dessen, daß wir bei der Nettoentlastung im Bund gerade einmal einen verfassungskonformen Spielraum von 1,3 Milliarden DM haben, 45
bis 50 Milliarden DM an Nettoentlastung zu versprechen, das war unsolide und völlig unverantwortlich. Wir
dagegen werden eine solide Steuerreform machen.
({15})
Hinzu kommt, daß die Steuerausfälle der Ära Waigel
ohnehin schon gewaltig waren. Im Jahr 1995 hatte der
ehemalige Finanzminister Waigel das Steueraufkommen
für 1998 auf 1 020 Milliarden DM geschätzt. Wohlgemerkt, das war nicht die raffgierige Phantasie rot-grüner
„Staatsfetischisten“, wie Sie zur Zeit so gerne sagen,
sondern die mittelfristige Finanzplanung des ehemaligen
Finanzministers Waigel höchstselbst. 1 020 Milliarden
DM sollten es also 1998 werden.
Nach den letzten Zahlen werden es aber tatsächlich nur
824 Milliarden DM sein. Das heißt, innerhalb von drei
Jahren gibt es einen Steuerausfall der fast ein Fünftel der
von Herrn Waigel geschätzten Steuereinnahmen ausmacht. Das alles kommt daher, daß sich infolge der
Steuerpolitik der alten Bundesregierung quasi ganze soziale Gruppen der Steuergerechtigkeit entziehen konnten. Der Einkommensmillionär, der keinen Pfennig
Steuern zahlt, war doch am Ende der Ära Kohl ein beliebter Gast der Talkshows.
Solche Entlastungsorgien zugunsten von bestimmten
Teilen der Industrie und zugunsten der Reichsten der
Reichen dieser Gesellschaft haben wir in den letzten 16
Jahren zur Genüge erlebt; sie haben zu der höchsten Arbeitslosigkeit geführt, die es in dieser Gesellschaft je
gab. Das muß und wird mit dieser Regierung ein Ende
haben.
({16})
Wir können und wir wollen keine gigantischen Nettoentlastungen für die Besserverdienenden mehr durchführen. Unsere Steuerreform wurde deshalb solide durchgerechnet und ist solide gegenfinanziert.
({17})
Wir haben in den letzten Tagen noch manchen Feinschliff vorgenommen. Wir werden das im Rahmen der
Anhörungen auch noch fortsetzen. Insbesondere auf Initiative meiner Fraktion haben wir auch Verbesserungen
für den Mittelstand vorgenommen.
Ich freue mich, heute sagen zu können: Die Steuerreform ist nicht nur notwendig und nicht nur seit Jahren
überfällig, sondern sie wird kommen, nicht irgendwann,
sondern mit der ersten Stufe wie geplant am 1. Januar
1999.
Kerstin Müller ({18})
Ich finde, das ist ein guter Einstieg für eine neue
Bundesregierung.
({19})
- Wir fangen ja jetzt schon an.
Einen ähnlich guten Einstieg haben wir mit der ersten
Stufe der ökologischen Steuerreform gefunden. Sie wird
eine weitere Entlastung für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer bringen. Sie ist zugleich ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Vor allem ist sie der entscheidende Schlüssel zur ökologischen
Neuorientierung der Wirtschaft. Durch die ökologische
Steuerreform werden deshalb die Lohnnebenkosten
schon am 1. Januar 1999 um 0,8 Prozentpunkte sinken
und in der gesamten Wahlperiode um mehr als 2,3 Prozentpunkte auf unter 40 Prozent.
({20})
- Wenn man umfinanziert. Das hat Herr Schäuble schon
richtig gesagt.
Eigentlich sollten Sie, Herr Schäuble, uns dafür loben; denn Sie selbst sind ja in der Union schon lange für
eine ökologische Steuerreform eingetreten. Sie konnten
sie aber nicht durchsetzen. Sie haben zum 1. April dieses
Jahres - die Mitglieder des Vermittlungsausschusses
sind ja alle hier anwesend - eine Umfinanzierung
durchgeführt: Allein zur Stabilisierung des Rentenbeitrages haben Sie die Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt
erhöht. Wir wollen ökologisch umsteuern und werden
deshalb durch eine ökologische Steuerreform das billiger machen, was in der Gesellschaft zu teuer ist, nämlich
die Arbeitskosten. Das wird dann wirklich zu politischen
Veränderungen führen.
({21})
Wir haben zur Umsetzung dieser Politik in der Koalition mit einer Mischung aus Mineralöl- und Stromsteuer
unter Einbeziehung der Wirtschaft, die von der Senkung
der Lohnnebenkosten ja auch profitiert, ein gutes Modell
gefunden. Dabei gehen wir behutsam mit energieintensiven Branchen um. Die ökologische Steuerreform ist
auf ein stetiges Umsteuern angelegt. Das leiten wir mit
dem ersten Schritt ein. Die Kritiker der Ökosteuer wollen nicht wahrhaben, daß dieses Konzept kein rotgrünes
Abenteuer ist, sondern inzwischen in vielen europäischen Ländern mit durchweg sehr positiven Auswirkungen Realität geworden ist.
({22})
Wir machen da keinen deutschen Alleingang.
Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: In Dänemark beschloß
die Regierung Rasmussen schon 1993 die Einführung
von Ökosteuern auf Elektrizität, Verkehr und Abfall bei
gleichzeitiger Senkung der Einkommensteuer. Zusätzlich wurden erneuerbare Energien massiv gefördert und
die Lohnnebenkosten gesenkt. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Von 1993 bis heute sank die Arbeitslosenquote in Dänemark von 13 auf 6 Prozent; das heißt, sie
wurde mehr als halbiert. Auch die Wachstumsrate lag in
den letzten Jahren regelmäßig über der in den meisten
anderen EU-Staaten. Die Niederlande haben die gleichen erfolgreichen Erfahrungen gemacht.
Auf europäischer Ebene - das ist der Punkt - gab es
bisher nur ein ernsthaftes Hindernis gegen eine europäische Vereinbarung über eine ökologische Steuerreform:
Das war die alte Bundesregierung, die aus ideologischer
Verbohrtheit jeden Fortschritt in dieser Sache in Europa
blockiert hat.
({23})
Das wird jetzt auch auf europäischer Ebene anders.
Die neue Regierung wird dort nicht mehr Blockierer,
sondern Motor in Sachen Ökosteuer sein. Wir werden
die bevorstehende deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um dabei ein großes Stück voranzukommen. Das
heißt, wir wollen unser Ökosteuerkonzept in eine europaweite Regelung einbetten. Das bedeutet aber nicht,
daß wir in Deutschland derweil die Hände in den Schoß
legen und abwarten. Das hat die alte Bundesregierung
schon viel zu lange gemacht.
Deshalb beginnen wir jetzt, und zwar zum 1. Januar
1999, mit dem ersten Schritt - das ist absolut notwendig -, und dann werden wir die Gespräche mit den europäischen Partnern aufnehmen. Wir werden damit erfolgreich sein; das kann ich Ihnen versichern.
({24})
- Ja, ich glaube das.
Mit der ökologischen Steuerreform geben wir richtige
Anreize für eine neue Energiepolitik, für den sparsamen
Umgang mit den Naturressourcen. Das heißt: Vorrang
der Einsparung vor der Erzeugung, verstärkte Nutzung
regenerativer Energien und einen neuen, zukunftsfähigen Energiemix, und zwar ohne Atomenergie. Auch das
ist ein riesiger Schritt in Richtung Zukunftsfähigkeit dieser neuen Bundesregierung. Wir werden den Ausstieg
aus der Atomenergie in dieser Wahlperiode umfassend
und unumkehrbar gesetzlich regeln. Wir machen das so
schnell wie nur irgend möglich.
({25})
Wir werden einen neuen Energiekonsens mit der Industrie, mit den Verbrauchern und auch mit den Umweltverbänden suchen, der den Ausstieg aus der Atomenergie, aber gleichzeitig auch den Einstieg in eine andere, in eine neue Energiepolitik umfaßt. An der Entschlossenheit dieser Koalition, und zwar - wie der Bundeskanzler immer wieder zu Recht betont - beider Partner, diese Gefahr für unsere Sicherheit und für alle zukünftigen Generationen schnellstmöglich zu beenden,
Kerstin Müller ({26})
sollte niemand Zweifel haben. Das haben wir uns vorgenommen, und das werden wir auch umsetzen.
({27})
Die neue Bundesregierung orientiert sich ausdrücklich nicht nur an der Energiepolitik, sondern umfassend
am Leitbild der Nachhaltigkeit. Dieser Anspruch richtet
sich nicht nur an das Umweltministerium, sondern an
alle Ressorts. Wir werden eine umfassende nationale
Nachhaltigkeitsstrategie erarbeiten, damit das drittgrößte
Industrieland der Welt endlich seiner globalen und ökologischen Verantwortung gerecht wird. Ich glaube, auch
das ist längst überfällig.
({28})
Meine Damen und Herren, nicht nur die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit, sondern auch eine gerechtere Lastenverteilung und die ökologische Nachhaltigkeit sind
die Ziele dieser neuen Regierung. Der Bundeskanzler
hat es zutreffend gesagt: Die Demokratie in Deutschland
ist kein zartes Pflänzchen mehr, sondern ein kräftiger
Baum. Diesem Baum wollen wir Raum verschaffen,
damit er weiter wachsen und blühen kann. Darum ist ein
weiteres zentrales Vorhaben für uns die stärkere Demokratisierung dieser Gesellschaft. Wir wollen Bürgerrechte ausbauen, indem wir die Beteiligungsrechte der
Bürgerinnen und Bürger in bezug auf diese Demokratie
durch die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid erweitern.
Wir wollen Minderheiten besser schützen. Was für
eine Zeitenwende bedeutet gerade die Koalitionsvereinbarung über die eingetragenen Lebenspartnerschaften
für schwule und lesbische Paare!
({29})
- Ja.
Noch vor 30 Jahren war die einfache Homosexualität
unter Männern nach § 175 des Strafgesetzbuches mit
Gefängnis bestraft. Homosexualität unter Frauen galt als
absolutes Tabu. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU, selbst Bischof Lehmann plädierte dieser Tage
für eine Öffnung und Gleichstellung. Nach dem, was ich
heute morgen in Ihrem Beitrag gehört habe, habe ich
den Eindruck, Sie fallen selbst hinter diese Position der
katholischen Kirche zurück.
({30})
Wir werden das ändern. Jetzt werden wir die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften durch das Gesetz
schützen und gleichstellen. Ich sage ganz deutlich: Das
ist ein wirkliches Stück Moderne. Das ist ein Stück mehr
an Zivilisation, und das ist ein Stück Weltoffenheit. Diese hat diese Gesellschaft wirklich bitter nötig gehabt.
({31})
Wir werden noch in einer anderen Hinsicht mehr
Demokratie und mehr Weltoffenheit wagen. Wir werden
uns nämlich endlich der Tatsache stellen - der Sie sich
in den letzten Jahren und Jahrzehnten verweigert haben -, daß ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozeß
stattgefunden hat, daß die Bundesrepublik Deutschland
heute ein Einwanderungsland ist. Wir werden daher den
Menschen, die heute noch sogenannte Ausländer sind
- das sind immerhin 7 Millionen -, die seit langem hier
leben, die hier geboren sind und die dieses Land mit
aufgebaut haben - wir haben sie damals als sogenannte
Gastarbeiter hierher geholt -, durch eine Reform des
Staatsbürgerschaftsrechts endlich das geben, worauf
sie schon so lange gewartet und worauf sie ein Recht
haben: die vollen Bürgerrechte.
({32})
Wir werden ihnen, die bisher Fremde im eigenen
Land waren, mit dieser Reform signalisieren: Ihr gehört
zu dieser Gesellschaft. Wir werden Schluß machen mit
der Spaltung der Gesellschaft in Bürger erster, zweiter
und dritter Klasse. Wer hier dauerhaft lebt und hier seinen Lebensmittelpunkt hat, wird künftig einen klaren
Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, und die Kinder, die hier geboren werden und
hier aufwachsen, sind künftig mit der Geburt deutsche
Staatsbürger, wenn ein Elternteil seit dem 14. Lebensjahr hier lebt.
Dies, meine Damen und Herren von CDU und F.D.P.,
machen wir unter bewußter Hinnahme der doppelten
Staatsbürgerschaft. Zum einen gibt es rechtlich überhaupt keine Alternative dazu. Vielleicht lassen Sie sich
das einmal von dem ehemaligen langjährigen Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Herrn Eylmann, CDUMitglied, erklären. Als er nämlich noch Mitglied dieses
Hauses war, wurde er nicht müde, dies zu betonen. Zum
anderen: Es gibt keine wirklichen Argumente gegen die
Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft. Das,
was Sie anführen, ist aus meiner Sicht Ideologie.
({33})
Herr Schäuble, Sie haben heute morgen noch einmal
behauptet, die doppelte Staatsbürgerschaft sei ein Privileg der sogenannten Ausländer gegenüber den „wirklichen“ Deutschen, weil diese ja schließlich nur eine einzige Staatsbürgerschaft hätten und nicht zwei. Da wird
jetzt sogar mit Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem Europäischen Gerichtshof gedroht.
Ich finde es sehr bedauerlich, daß Sie mit diesem
wichtigen Thema so unbesonnen umgehen. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist kein Privileg, und sie hat
nichts, aber auch gar nichts mit Rosinenpickerei zu tun.
Wer das behauptet, der erzählt einfach dummes Zeug,
und ich finde es gefährlich, das in der Öffentlichkeit zu
erzählen.
({34})
Ich will das hier mal erklären. Die Rechte und
Pflichten von Doppelstaatsbürgern richten sich ganz einfach nach dem festen Wohnsitz. Die zweite StaatsangeKerstin Müller ({35})
hörigkeit bedeutet im Kern einen einzigen Vorteil: Es
gibt außer Deutschland ein weiteres Land, in dem man
das Recht hat, sich niederzulassen. Dieses Recht, meine
Damen und Herren, das hat jeder Deutsche, und zwar
nicht nur in einem anderen Land, sondern in allen
14 Ländern der Europäischen Union. Ich finde, wenn
man das weiß - und ich gehe einmal davon aus, daß Sie
das eigentlich wissen, meine Damen und Herren von der
CDU -, dann sollte man nicht von Privilegien reden.
Damit macht man schlechte Stimmung gegen die ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen in diesem
Land.
({36})
Daher werden wir als eines der zentralen Anliegen
diese Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zügig und
entschlossen umsetzen.
Diese Reform wird das Gesicht dieser Republik verändern. Ja, das stimmt.
({37})
Wir wollen das, denn wir stellen uns damit endlich
der durchaus nicht einfachen Aufgabe, diese Einwanderungsgesellschaft zu gestalten - mit all den Problemen,
die es nun mal mit sich bringt, wenn verschiedene Kulturen das Miteinander organisieren müssen. Aber es gibt
dazu keine Alternative, sage ich. Eine Gesellschaft, die
in der Mitte Europas liegt und die sich nicht erst seit
heute vorgenommen hat, die Integration Europas voranzutreiben, kann und darf sich weder nach außen noch
nach innen abschotten, sondern muß sich offensiv der
Herausforderung stellen, das Zusammenleben einer
multikulturellen Gesellschaft zu gestalten, und zwar ohne Wenn und Aber, und das werden wir tun; das werden
die Folgen aus der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts
sein.
({38})
Dieser Herausforderung müssen wir uns auch in bezug auf die Menschen stellen, die als Kriegsflüchtlinge
oder Asylsuchende zu uns kommen. Auch dazu haben
wir im Koalitionsvertrag einige Vereinbarungen getroffen - etwa eine Altfallregelung oder die Anerkennung
geschlechtsspezifischer Verfolgung. Ich sage aber auch
ganz offen für meine Fraktion, daß dies für uns die
schwierigste Stelle im Koalitionsvertrag ist. Es ist ja bekannt, daß wir Bündnisgrüne die Vereinbarungen in diesem Punkt nicht für hinreichend halten. Wir meinen:
Dieses Land verdient eine tatkräftige Reformregierung,
wie wir sie in guten und vertrauensvollen Koalitionsverhandlungen gemeinsam gebildet haben.
({39})
Ich meine aber, unser Land verdient auch eine Rückkehr zu einer humanen Flüchtlingspolitik. Ich hoffe,
auch diese Politik können wir gemeinsam durchsetzen.
({40})
Eine der größten Sorgen, die viele Menschen aus der
Kohl-Ära mitnehmen, ist die Sorge um die soziale Sicherheit im Alter. Das Vertrauen in das Rentenversicherungssystem ist durch Ihre Politik der letzten Jahre
fundamental erschüttert worden - nicht nur bei der jetzigen Rentnergeneration, sondern vor allen Dingen auch
bei den jungen Menschen. Fragen Sie einmal bei Menschen meiner Generation oder bei denen, die noch jünger sind, nach.
({41})
Wir brauchen mehr Generationengerechtigkeit. Wir
müssen endlich die unsteten Erwerbsverläufe absichern
und Vorkehrungen für den demographischen Wandel
treffen. Wenn auf immer weniger Beitragszahler immer
mehr Rentenempfänger kommen, dann muß das System
darauf vorbereitet sein. Wir werden diesen Wandel berücksichtigen, und zwar nachhaltig und zukunftsfähig.
Wir werden innerhalb der nächsten zwei Jahre die überfällige große Rentenreform durchführen; das kann ich
Ihnen versichern. Wir freuen uns, daß sich Herr Riester
zum Ziel gesetzt hat, es schon in einem Jahr zu schaffen.
Ich kann nur sagen: Wir sind dabei.
({42})
Diese Koalition ist durch beide Koalitionspartner geprägt. Es ist klar, daß sich auch die jeweiligen Kräfteverhältnisse in ihr widerspiegeln. Aber diese Koalition
wird getragen von der Bereitschaft zum Kompromiß und
dem Respekt vor den Positionen des Koalitionspartners.
Herr Bundeskanzler, die Bündnisgrünen werden in den
kommenden vier Jahren ein selbstbewußter, aber auch
ein verläßlicher Bündnispartner sein.
Jetzt gilt es, unser Land umfassend zu modernisieren
und es zukunftsfähig zu machen - in Solidarität miteinander in dieser Gesellschaft und in Solidarität mit den
anderen Völkern der Welt. Wir wollen diese Aufgaben
anpacken - entschlossen und lernfähig.
Zum Schluß möchte ich noch einen sehr wichtigen
Punkt ansprechen. Wir werden diese Ziele nur erreichen,
wenn wir die innovativen Kräfte dieser Gesellschaft
wirklich dafür gewinnen. Wir brauchen den demokratischen Dialog mit allen sozialen Gruppen und auch die
offene Debatte. Ich glaube, daß zum Aufbruch nach dem
Ende der Ära Kohl auch und vor allen Dingen eine neue
demokratische Offenheit gehört. Herr Schäuble, wir sagen nicht mehr: „Die demonstrieren - wir regieren.“ Wir
sagen den Menschen etwas anderes: „Mischt euch ein!
Wir brauchen eure Initiative; wir brauchen eure Kritik
und suchen die gesellschaftliche Debatte.“ Denn nur dadurch und durch die Auseinandersetzung miteinander
wächst der reformorientierte Konsens, der dieses Land
zukunftsfähig machen kann. In diesem Sinne freuen wir
Kerstin Müller ({43})
uns auf die ersten vier spannenden Jahre der rotgrünen
Koalition.
Vielen Dank.
({44})
Das Wort hat der
Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion, Herr Dr. Wolfgang
Gerhardt.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, zunächst gratulieren wir Ihnen zu Ihrer Wahl.
Wir wünschen Ihnen im Interesse unseres Landes Erfolg
in Ihrer Arbeit. Sie werden uns in Debatten engagiert
sehen. Wir werden Ihre Politik kritisch begleiten, ihr, wo
immer das möglich ist, zustimmen, sie aber auch ablehnen, wann immer das notwendig ist. Das gehört zum
guten parlamentarischen Stil. Es ist völlig vernünftig
und klar, daß es an einem fairen Umgang miteinander
nicht mangeln wird.
Man erfährt ja an einem solchen Tag sehr viel, wenn
man genau zuhört. Die Koalitionsvereinbarung wurde,
kaum daß die Tinte trocken war, mit Nachbesserungen
versehen.
({0})
Sie ist in einzelnen Debattenbeiträgen noch einmal
sachlich erläutert worden. Der Gesetzentwurf, der uns
über die Ökosteuer im geheimen und im besonderen informieren soll, wurde zunächst noch zurückgehalten und
jetzt wieder zurückgenommen.
Herr Bundeskanzler, die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland hat nun wirklich nicht den Eindruck, daß hier ein Reformbündnis angetreten ist.
({1})
Selbst im Zeitungswald, der Sie geradezu gefördert hat,
macht sich eine gewaltige Enttäuschung breit. Da
braucht man nur die Überschriften zu lesen. Eine heißt:
„Oskar greift zur Axt“. Das war eine Überschrift der
Zeitschrift „Die Woche“. Sie schildert die besonderen
Stilmittel Ihres Finanzministers, wenn es darum geht, an
die Lösung von Problemen heranzugehen. Die gleiche
Wochenzeitung schreibt zur Steuerreform: „völlig verheddert“.
Die gesamte deutsche Öffentlichkeit weiß, was hier
vor sich gegangen ist: Sie haben eine Wahl gewonnen.
Mit dieser Wahl waren bei der Neuen Mitte, die Sie angesprochen und im wahrsten Sinne des Wortes hofiert
haben, Hoffnungen verbunden. Sie wollten nicht alles
anders machen; sie wollten ein Stück Kontinuität und
einiges besser machen. Jetzt macht Oskar Lafontaine
alles anders, aber überhaupt nichts besser.
({2})
Sie haben die deutsche Öffentlichkeit - diesen Vorwurf
kann ich Ihnen nicht ersparen - gewaltig getäuscht. Ich
muß der deutschen Öffentlichkeit aber auch sagen: Sie
hat sich leicht täuschen lassen. Sie hat die Modernisierungsbereitschaft von Gerhard Schröder überschätzt und
die konservative sozialdemokratische Haltung von Oskar
Lafontaine unterschätzt.
Frau Kollegin Müller, die Grünen haben angekündigt,
sie wollten auf Augenhöhe verhandeln. Sie müssen auf
Hühneraugenhöhe verhandelt haben. Das stellt man fest,
wenn man das Ergebnis der Koalitionsvereinbarungen
betrachtet.
({3})
Das ist nicht nur eine Aussage von mir und von den
Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. Roland Berger hat
sich vor der Wahl oft lobend über Gerhard Schröder geäußert. Er wünschte ihn sich allerdings in der Konstellation einer großen Koalition. Jetzt trage ich Ihnen einmal
vor, was dieser Mann heute sagt.
({4})
- Herr Fischer, jetzt wird es zum Nachteil, daß Sie Außenminister geworden sind. Denn auf der Regierungsbank müssen Sie den Mund halten. Von den Abgeordnetensitzen dürfen Sie Zurufe machen. Das hätten Sie
sich vorher überlegen sollen.
({5})
Sie sind jetzt Minister. Da müssen Sie Ihr Verhalten ändern. Die Jacke haben Sie ja schon gewechselt.
({6})
Roland Berger sagt:
Mit Ausnahme von Tony Blair sind alle sozialdemokratischen oder sozialistischen Regierungen in
Europa erst zwei oder drei Jahre ihren Illusionen
nachgejagt, bis sie von der Realität eingeholt worden sind.
Dann führt er aus, was für diese Politik gilt:
Ihre Länder und die Menschen mußten für diesen
Lernprozeß allerdings teuer bezahlen, weil verspielte Jahre im globalen Wettbewerb für lange Zeit
verloren sind.
Das ist der Fehler der eingeleiteten Politik.
({7})
Er fügt hinzu - falls er die Regierungserklärung gehört hat, wird er seine Meinung nicht ändern -:
Auch diese deutsche Regierung ist zur Macht gekommen und hat nichts dazugelernt. Sie ist völlig
unvorbereitet auf Innovation.
So war Ihre Regierungserklärung: völlig unvorbereitet auf Innovation. Das erzählen nicht nur meine Freunde und ich. Das spüren auch viele in Ihren Reihen. Soll
Kerstin Müller ({8})
ich sie namentlich vorlesen? Bodo Hombach, Ihr Minister, erklärt im Hinblick auf die Koalitionsvereinbarung: Das ist doch zunächst einmal bedrucktes Papier
- Das ist völlig richtig; das habe auch ich so gesehen. Nach genauerem Durchlesen stellt er fest: Viele Themen
seien vertagt oder in Arbeitsgruppen verwiesen worden.
Da sei noch genügend Platz für Schröders Handschrift,
für den „Meister der Moderation“, wie seine Berater
jetzt der deutschen Medienlandschaft mitteilen. Ich halte
ihn nicht für den Meister der Moderation. Herr Bundeskanzler, wo waren Sie eigentlich bei den Koalitionsverhandlungen? Wo ist Ihre Handschrift? Wo kommt es zu
Innovationen?
({9})
Die Politik, die Sie einleiten, kostet Deutschland viel
Geld. Sie wirft uns im Wettbewerb dramatisch zurück.
Sie gestaltet nicht die sozialen Sicherungssysteme neu
und innovativ. Im übrigen ist die Steuerreform, wie auch
immer Sie sie verpacken, ein reines Abkassieren der
Bürgerinnen und Bürger.
({10})
Und auch dazu lese ich Ihnen jetzt einmal etwas vor.
Man muß sich auf der Zunge zergehen lassen, was die
FAZ heute über die gegenwärtigen Wasserstandsmeldungen bezüglich der Ökosteuer berichtet. Die Grünen
äußerten sich so zu der Ökosteuer:
Die schnelle Einigung
- das muß die gestrige gewesen sein; ich weiß noch
nicht, wie sie aussieht, das werden wir nächste Woche
erfahren ({11})
führten die Grünen darauf zurück, daß mit der Stromsteuer . . . eine neue Geldquelle erschlossen wird, an
der das Finanzministerium Interesse zeige. Darüber
seien Bedenken in den Hintergrund getreten.
- Soll ich das noch einmal vorlesen?
({12})
Man hat sich in der Koalition geeinigt, weil durch die
Stromsteuer eine neue Geldquelle erschlossen worden
ist. Herr Lafontaine, die Aufgabe des Finanzministers ist
nicht, neue Geldquellen zu erschließen, sondern zu sparen, den Staat schlank zu machen und den Bürgern das
Geld zurückzugeben, anstatt es ihnen aus der Tasche zu
ziehen.
({13})
Das alles wird noch gesteigert: Die Grünen hoffen
jetzt auf Nachbesserungen im Steuerkonzept. Ich erinnere mich an Äußerungen - man tauscht sich ja doch gelegentlich aus - auch aus den Reihen der Kolleginnen und
Kollegen der Grünen zum Spitzensteuersatz. Der Kollege Oswald Metzger war meinen Gedankengängen
nicht fremd.
({14})
- Ja, aber wer hat denn für ihn als Chefunterhändler verhandelt? Für Sie ist doch ein Flunderergebnis herausgekommen: die „gewaltige“ Absenkung des Eingangssteuersatzes von 25 Prozent auf 19,9 Prozent in drei Trippelschritten bis zum Jahre 2002. Das hilft uns doch nicht
weiter! Bis zum Jahre 2002 ziehen Sie denselben Bürgerinnen und Bürgern, denen Sie diese 5 Prozent Steuersenkung in die linke Tasche geben, die Ökosteuer aus
der rechten Tasche. Das ist ein Betrug an der Öffentlichkeit. Und so darf das auch genannt werden.
({15})
Sie als Grüne haben das auch erkannt. Ihr Chefunterhändler - bei den Koalitionsverhandlungen war ja fast
jeder Chefunterhändler, außer dem Bundeskanzler -, der
Chefunterhändler der Grünen, hat erklärt, man sehe jetzt
doch noch Spielraum für einen Spitzensteuersatz bei
45 Prozent oder darunter.
Meine Damen und Herren, ich formuliere es einmal
so: Die Grünen sollen ruhig sagen, daß sie jetzt endlich
einmal regieren wollen. Das ist völlig in Ordnung. Das
will jeder; darum gibt es einen Wettbewerb. Die Grünen
sollen aber nicht den Versuch machen, zu erklären, daß
sie programmatisch irgend einen Anteil an der Politik
hätten, die die Koalition jetzt vertritt. Dabei geht es
nämlich nicht um eine Ökosteuer und auch nicht um
eine Modernisierung, sondern da handelt es sich um
schlichtes Abkassieren. Es gibt keine neue Abfallwirtschaft. Die Grünen haben auch keine neue Verkehrspolitik eingeleitet. Der Transrapid läuft jetzt durch die
nordrhein-westfälische Landespolitik als eine Art fahrbares Garzweiler III.
({16})
Am Ende wird der Verkehrsminister erklären, er wolle
doch die alte Strecke nehmen. - Das alles werden wir
hier erleben.
Ich lese den Grünen einmal ihre „Verhandlungserfolge“ vor: Garzweiler II wird genehmigt. Ich sage voraus: Auch der Frankfurter Flughafen wird ausgebaut.
Dazu gibt es einen interessanten Vorschlag des Grünen
Tom Koenigs. Die Grünen haben immer gesagt, der
Flughafen dürfe nicht über den Zaun hinaus ausgebaut
werden. Jetzt hat Tom Koenigs erklärt, man könne den
Zaun doch ein Stückchen verschieben. - Das ist eine
sehr findige Regierungsbeteiligung in Hessen!
({17})
Die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ sollen mit
den Grünen weiterlaufen. Mir gefällt das; das ist ja auch
völlig richtig. Dann aber sollen die Grünen nicht den
Versuch machen, hier ihre Programmtreue vorzutragen.
Frau Kollegin Müller, Sie waren platt wie eine Flunder. Sie stellen den Außenminister und haben sich dessen Politik und Jogging angeglichen: Fünf Kilometer am
Rhein entlang, Spitzkehre, fünf Kilometer zurück - das
ist Bewegung, aber kein Fortschritt für Deutschland!
Das ist das Verhandlungsergebnis.
({18})
Nein, meine Damen und Herren, Deutschland hat mit
dieser Art von Politik, bei der jetzt in Nachbesserungsrunden nachgesessen wird, einen Zeitverlust zu befürchten. Ich lese in der Zeitung, bei SPD und Grünen
sollten sich jetzt Reformallianzen bilden. - Meine Herrschaften! Eine Reformallianz muß man haben, wenn
man regieren will. Wenn man sie erst hinterher bildet, ist
es zu spät.
Ich will deshalb noch einmal auf Roland Berger zurückkommen.
({19})
Ihm wurde die Frage gestellt: Wie kann Schröder - so
fragte dieses bekannte Magazin - sich noch befreien und
die versprochene Modernisierung von Staat und Wirtschaft angehen? Der interviewte Roland Berger
({20})
antwortete darauf aus meiner Sicht verblüffend deutlich.
Er sagte: Will er das überhaupt? Er ist Kanzler und hat
sein Lebensziel erreicht, fügte er hinzu.
({21})
Herr Bundeskanzler, Sie müssen in diesem Haus
mehr vortragen als heute bei Ihrer Regierungserklärung,
({22})
um dem in der Öffentlichkeit entstandenen Eindruck
entgegenzuwirken, daß zwar Sie es waren, der zum
Kanzler gewählt worden ist, die Führung der Regierungsgeschäfte aber beim Finanzminister liegt.
({23})
- Das ist gar kein kalter Kaffee; es ist in der deutschen
Öffentlichkeit umgehend deutlich geworden, wer hier
das Sagen hat. Ich finde, wir Parlamentarier haben ein
Recht, zu erfahren, wer wirklich das Sagen hat.
Wenn Sie modernisieren wollen, finden Sie uns an
Ihrer Seite. Wenn Sie den sich abzeichnenden strategischen Kurs fortsetzen, fahren Sie Deutschland in die
Sackgasse - finanziell, dadurch, daß Sie Zeit verspielen,
und mit einer falschen politischen Konzeption. Der treten wir entgegen.
({24})
Herr Bundeskanzler, es sind ja nicht wir allein, die
Ihnen entgegentreten. Es gibt eine Heerschar solcher
Personen, auch aus Ihren eigenen Reihen. Ich greife
einmal diejenigen heraus, deren Seriosität überhaupt
nicht bestritten werden kann. Sie kennen genausogut wie
ich - deshalb zieht die Erblastlegende überhaupt nicht die Stellungnahme der führenden wirtschaftswissenschaftlichen Institute. Sie ist ganz eindeutig. Darin sagen die Institute Ihnen, daß die von Ihnen beabsichtigte
Steuerreform kaum zu höherem Wachstum und schon
gar nicht zu mehr Beschäftigung führt.
Diese Stimmen werden ergänzt von Herrn Schmoldt,
dem Vorsitzenden der IG Bergbau, Chemie, Energie, der
dasselbe erklärt. Die wirtschaftswissenschaftlichen Institute fordern Sie geradezu auf, couragierter heranzugehen. Die öffentlichen Haushalte, so sagen die Institute wenn Sie es Herrn Schäuble und mir nicht glauben, dann
zitieren wir die Institute; sie sagen es Ihnen und der
deutschen Öffentlichkeit -, leiden nicht unter einer solchen Not, wie die Chefunterhändler der Koalition bekannt geben. Es ist erkennbar, daß Sie zu mehr Steuersenkungen in der Lage wären, wenn Sie das nur wollten. Sie wollen es aber nicht, weil Sie nicht Steuersenkung im Sinn haben, sondern Umverteilung. Bei diesem
System zahlen dann die Jüngeren für die Rentner, die
Kleinen für die Großen, der Mittelstand für die Großindustrie und die nächste Generation für den Verbrauch,
den Sie jetzt bewirken. Das ist das Falsche an Ihrer
Politik.
({25})
Wir werden den Gesetzentwurf zur Ökosteuer in der
nächsten Woche vorgelegt bekommen. Die Institute sagen Ihnen aber schon jetzt, daß eine deutliche Entlastung
der Umwelt bei gleichzeitigem Abbau der Arbeitslosigkeit von einer ökologischen Steuerreform nicht geleistet
werden kann. Ob die Erhöhung eine Mark oder zwei
Pfennig ausmachen soll, ist völlig egal. Das, was Sie
vorhaben, kann nicht geleistet werden.
Der Staatssekretär Tacke aus dem Wirtschaftsministerium wird mit den Worten zitiert - der Mann drückt
sich vorsichtig aus; völlig zu Recht -, die doppelte Dividende sei geringer, als man dachte. - Recht hat der
Mann; das hätte man auch vorher wissen können. Ich
will erläutern, was das bedeutet. Die doppelte Dividende
ist nicht nur geringer, sehr verehrter Herr Tacke; bei
einer doppelten Dividende dieser Art ist klar, daß in dem
Maße, wie das eine Ziel erreicht wird, das andere verfehlt werden muß. Wird die Umwelt geschont, dann bekommt Herr Lafontaine keine Einnahmen, mit denen er
die Lohnnebenkosten senken kann.
Diese Erfahrung kann Ihnen auch jemand mitteilen,
der nicht Volkswirtschaft studiert hat. Das sagt uns
schon der gesunde Menschenverstand. Trotzdem machen
Sie es. Wenn Sie es machen, müssen Sie hier gewaltige
Argumente anführen, warum. Sie müssen die deutsche
Öffentlichkeit darüber aufklären, warum Sie das tun.
Ich sage Ihnen: Sie hängen dem uralten, anscheinend
nicht ausrottbaren sozialdemokratischen Glauben an,
daß der Staat die bessere Institution zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit ist, so daß er den Bürgern etwas
mehr abnehmen soll, um es dann auf anderen Wegen
zuteilen zu können. Wir Freien Demokraten repräsentieren den entgegengesetzten Denkansatz: Wir glauben,
daß eine Gesellschaft vitaler ist, wenn man den Bürgern
mehr Geld beläßt und es ihnen nicht aus der Tasche
zieht. Deshalb sind wir gegen Ihre Politik.
({26})
Mit der Ökosteuer wird kein Impuls für die Schaffung
von Arbeitsplätzen ausgelöst.
Im übrigen bin ich gespannt, ob der Gesetzentwurf
Ungereimtheiten beseitigt. Kohle soll bei der Verstromung stärker steuerlich belastet werden. Wer Brikett
oder Eierkohle in den Ofen schiebt, gilt als Umweltsünder. Erdgas und Öl, deren Einsatz umweltfreundlicher ist
als etwa die Brikettverfeuerung, wollen Sie genauso
hoch besteuern. Das müssen Sie einmal vernünftigen
Menschen erklären. Das ist nicht erklärbar. Das ist nur
dann zu erklären, wenn Sie sagen: Das ist für uns eine
Glaubensfrage.
Da uns die Kollegin Müller auf Dänemark verwiesen
hat, möchte ich Sie auffordern: Erzählen Sie einmal dem
staunenden Haus, wie die Umweltentlastung in Dänemark zurückgegangen ist, nachdem dort Ökosteuern
eingeführt worden sind! Die Selbstverpflichtung der
deutschen Wirtschaft hat zehnmal soviel an Umweltentlastung gebracht wie die Ökosteuererhöhung in Dänemark.
({27})
Deshalb wollen wir bei dem eingeschlagenen Weg
bleiben.
({28})
Im übrigen: Herr Bundeskanzler, Sie haben in der
Regierungserklärung gesagt, am Ende der Legislaturperiode, also 2002, wollen Sie die Menschen um
15 Milliarden DM entlastet haben.
({29})
Darf ich Sie daran erinnern, wie Sie die Entlastung in
Höhe von 7 Milliarden DM, die wir in der letzten
Legislaturperiode im Zuge der Soli-Senkung vorgenommen haben, kommentiert haben? - Das sei nur soviel „wie für eine Pizza“. Und jetzt verkaufen Sie die
15 Milliarden DM als eine große Steuerreform!
({30})
Ich halte das für unvertretbar: sich in der letzten Legislaturperiode über die Rückgabe von 7 Milliarden DM so
zu erregen und jetzt 15 Milliarden DM als Konzept für
vier Jahre deutscher innovativer Politik vorzutragen und das vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die
letzte Steuerschätzung für das Jahr 2002 etwa
150 Milliarden DM mehr Steuereinnahmen voraussieht.
Angesichts dessen muß ich Ihnen vorwerfen: Ihr Finanzminister hat durch sein strammes Verteilungsdenken das
Geld, das die Bürger in Deutschland bis zum Jahre 2002
noch erarbeiten müssen, schon längst verpulvert! Gegen
diese Politik werden wir angehen.
({31})
Es geht auch nicht nur um die Frage: Ist das die falsche Grundrichtung? Reichen die Reformanstrengungen
- die ich gar nicht erkennen kann - aus? Nein, es geht
auch darum, ob Ihre Regierung wirklich willens und in
der Lage ist, auf der Höhe der Zeit die Themen so zu bearbeiten, wie es bei nahezu jeder modernen Wettbewerbsgesellschaft auf dieser Welt der Fall ist. Alle anderen modernen Wettbewerbsgesellschaften, mit denen wir
stärkste Konkurrenz aushalten müssen, haben eine solche Politik spätestens zwei Jahre nach dem Einstieg korrigieren müssen. Wir werden mit Interesse beobachten,
wie es im weiteren Verlauf um die Modernisierungsbereitschaft Ihrer Regierungskommissionen und Arbeitsgruppen bestellt ist.
Aber es geht um mehr: Sie mögen bei den sozialen
Sicherungssystemen durch nicht geeignete Reformanstrengungen Fehler machen. Sie können falsche wirtschaftspolitische Akzente setzen. - Das können wir immer mit dem Florett ausfechten. Aber der schwere Säbel
der Opposition wird erst bei dem verantwortungslosen
Gequatsche von Oskar Lafontaine über das Thema
Geldwertstabilität, Bundesbank und Europäische
Zentralbank gezogen. Meine Damen und Herren, das
ist kein beliebiger Spielplatz. Die Einrichtung einer unabhängigen Notenbank mit dem Auftrag, die Geldwertstabilität zu wahren, gehört - dies ist über alle Parteigrenzen hinweg anerkannt - zu den institutionell erfolgreichsten Nachkriegsergebnissen deutscher Politik.
Wer hier in Interviews leichtfertig redet, wer in der europäischen Öffentlichkeit den Eindruck erweckt „Hauptsache, wir haben einmal darüber gesprochen“ -,
man könne mittels dauerhafter öffentlicher Auseinandersetzungen die Entscheidungen der Bundesbank konterkarieren und die Europäische Zentralbank schon einmal
vorsorglich darauf vorbereiten, welcher Wind im nächsten Jahr weht, der macht all das an Ergebnissen zunichte, was die Bundesregierung von CDU/CSU und
F.D.P. im europäischen Kontext in Stabilitätsverhandlungen erreicht hat. Ein grober Fehler!
({32})
Sie mögen das ganze Kapitel noch so sehr abfeiern:
Ich habe gelesen, neulich haben Sie erklärt - vor einem
besonders kundigen Gewerkschaftspublikum, das an
Geldwertstabilität natürlich, wie immer, interessiert ist -,
man könne das einmal diskutieren. Herr Bundeskanzler,
„Hauptsache, wir haben einmal darüber gesprochen“
reicht als Auskunft nicht. Im Verhältnis zu den erreichten Zielen gehört für deutsche Politik zum Start am
1. Januar des nächsten Jahres mit EZB und Euro, daß
sich dieses Land stabilitätskonform verhält und in der
alten Kultur der Geldpolitik der Bundesrepublik
Deutschland, die Tradition hat, ja Staatsräson ist, verbleibt.
Es gibt, wie ich sehe, nur ganz wenige, die sich in der
jetzigen Situation an diesem verantwortungslosen Geschwätz beteiligen. Und es genügt nicht der Hinweis,
auch der Herr Bundesbankpräsident habe nun zugestanden, man könne ja einmal darüber sprechen. - Nein,
darum geht es dem Herrn Lafontaine nicht. Der will
durch dauerndes Gerede die alte Stabililtätspolitik so
unterminieren,
({33})
daß ihm die Rechenschaftspflichtigkeit der EZB irgendwann wie eine reife Frucht in den Schoß fällt! Das
nutzt vielleicht Herrn Lafontaine; das schädigt aber die
Bezieher kleiner Einkommen, die Rentner, die auf die
Geldwertstabilität angewiesen sind, weil sie keine
Sachwertbesitzer sind. Für die werfen wir uns in dieser
Diskussion in die Bresche.
({34})
Wo immer Sie einen Zipfel erwischen können, da
packen Sie auch zu. Deshalb muß man den Anfängen
wehren.
Ihren Beutezug ins Wirtschaftsministerium mögen
Sie noch soviel mit dem Hinweis auf das britische Treasury garnieren. Dieses hat eine andere Tradition. Selbst
wenn ich dieses Argument und den Hinweis auf Herrn
Strauss-Kahn akzeptiere: In Deutschland widerspricht
dieser Beutezug von Oskar Lafontaine den berühmten
„checks and balances“, die in unserer deutschen wirtschaftlichen Tradition immer beachtet wurden. Das ist
doch keine Verschlankungsmaßnahme.
Darf ich Ihnen einmal vorlesen, Herr Schröder, was
Sie als Ministerpräsident am 24. November 1994 zur
Regierungserklärung des Bundeskanzlers Kohl gesagt
haben? - Ich zitiere:
Es fällt auf, daß in dieser Regierung das Wirtschaftsministerium offenbar als eine Art Steinbruch
für andere Häuser benutzt wird.
({35})
Es kann einem schon leid tun, wie mit dem amtierenden Wirtschaftsminister umgegangen wird.
- Haben Sie Herrn Müller oder Herrn Stollmann gemeint?
Meine Damen und Herren, dieser Beutezug ins Wirtschaftsministerium ist nicht nur das Herausklamüsern
von einigen Aufgaben oder ein Stück Zentralisierung
wegen der besseren europäischen Verhandlungslinie.
Nein, das ist eine Tendenz, die sich in Ihrer Regierung
andeutet. Sie gehen mit Unabhängigkeit und Souveränität von Ressortministern nicht gut um.
({36})
Ich füge noch ein Beispiel hinzu, weil es notwendig
ist. Sie haben jemanden als Verteidigungsminister auf
Ihre Regierungsbank geholt, der gar nicht dahin wollte
und der in seiner früheren Funktion einem anderen im
Wege war. Das ist der innere Zustand der Mechanismen,
mit denen hier Politik gemacht wird. Das spreche ich
hier an.
Sie sind als Kanzlerkandidat angetreten und haben in
der deutschen Öffentlichkeit von einem Modernisierungseffekt gesprochen. Sie haben Ihren Wahlkampf
durch Events bestimmt. Sie haben Menschen für sich
gewonnen, die daran geglaubt haben, daß Sie als reformerischer Kanzler antreten. - Die alle haben Sie enttäuscht. Ich treffe heute kaum noch jemanden, der sich
optimistisch, zuversichtlich dazu bekennen will, Sie gewählt zu haben.
({37})
Sowohl bei dem Steuerthema wie bei vielem anderen:
Sie haben Ihren Start innerhalb weniger Tage granatenhaft vergurkt. Sie haben alles in den Orkus geredet, was
an guten Hoffnungen da war. Sie haben die Neue Mitte
zertrampelt. Sie haben in Ihrem Programm geschrieben:
Sie setzen auf die Leistungsbereiten. - Ich wußte, das
war ein Tippfehler: Sie setzen sich auf die Leistungsbereiten! Das wollen wir nicht zulassen.
({38})
Meine Damen und Herren, in der letzten Legislaturperiode war für die Grünen vieles an liberaler Außenpolitik falsch. Ich habe mir die Reden von Herrn Fischer
immer angehört. Heute reist Herr Fischer - ich begrüße
das - in alle Länder der Welt und verkündet - bisher jedenfalls erkennbar - die Kontinuität deutscher Außenpolitik. Der Außenminister ist nicht hier; man mag
es ihm übermitteln: Herr Fischer ist auf Grund seiner
derzeitigen Amtsführung der beste Beleg dafür, daß liberale Außenpolitik in gemeinsamer Verantwortung von
Außenminister Klaus Kinkel und Bundeskanzler Helmut
Kohl so schlecht nicht gewesen sein kann, wenn er sich
jetzt voll in deren Kontinuität bewegt.
({39})
Ich finde das in Ordnung. Wir werden aber genauestens beobachten müssen, ob das in seiner Fraktion auch
so bleibt; denn der Koalitionsvertrag, meine verehrten
grünen Kolleginnen und Kollegen, ist das glatte Gegenteil von dem, was Sie beschlossen haben. Ich glaube
nicht, daß mich meine Partei weiter an der Spitze getragen hätte, wenn ich unter Vernachlässigung und Mißachtung der eigenen Beschlußlage so schnell versucht
hätte, ins Außenministerium zu kommen, wie Joschka
Fischer das gemacht hat.
({40})
Aber bei Ihnen ist das an der Tagesordnung. Ich halte
das im Interesse Deutschlands nicht für schlecht. Aber
erzählen Sie als Grüne bitte niemandem mehr, daß Ihr
Programm fünf Minuten nach seinem Druck in der Bundesrepublik Deutschland noch irgend etwas gilt. Die
Zeiten des Respekts sind vorbei.
({41})
Der Außenminister hat unsere Unterstützung, wo er
in Kontinuität arbeitet. Wir werden aber genau beobachten, ob das auch für seine Fraktion gilt.
Herr Kollege Schäuble, über eines sind wir uns, glaube ich, klar: Wenn diese rotgrüne Regierung vor schwierigen Entscheidungen steht, muß sie zunächst einmal ihre eigenen Mehrheiten bringen. Wir sind nicht Ersatzreserve III, 2. Klasse, Abteil 2 a, um Mehrheiten zu beschaffen, die sie selbst in der Koalition nicht haben. Wer
dieses Land regieren will, muß auch unangenehme Fragen entscheiden.
({42})
Wir werden diese Bereiche ganz genau beobachten.
Frau Präsidentin, ich habe hier keinen Zeithinweis
mehr.
Wir haben eine offene Runde, Herr Kollege. Sie haben nach unserer
Rechnung noch fünf Minuten.
({0})
Sie müssen sie nicht ausnutzen.
Mir hat es gerade
so gut gefallen. Deshalb nutze ich sie auch noch voll
aus.
({0})
Ich will jetzt noch auf einige Punkte der Regierungserklärung eingehen und die Sachverhalte bewerten. Die
Opposition muß hart in der Sache darstellen, wo es nötig
ist. Wo es parteiübergreifende Entscheidungen gibt,
sollte man das sagen.
Im Bereich der Innenpolitik ist für uns durchgängig
ein pragmatischer Lösungsansatz zu erkennen. Das hat
uns wiederum gefreut. Die Grünen haben mit diesem
Ansatz ihre Schwierigkeiten. Wir werden sehen, wie
sich das in der praktischen Politik niederschlägt. Es zeigt
jedenfalls, daß die entscheidenden Gesetze - beim Asylrecht, bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität
- für die wir so beschimpft worden sind, nicht verändert
werden. Die sind unter Dach und Fach. Wahrscheinlich
freuen Sie sich sogar darüber, daß wir die noch unter
Dach und Fach gebracht haben, weil Sie Schwierigkeiten hätten, sie unter Dach und Fach zu bringen. Sie respektieren damit aber, daß unsere Entscheidungen richtig waren. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese
nachträgliche Anerkennung.
Auch wir wissen, daß es in der Drogenpolitik keinen
Königsweg gibt. Wir sind bereit, neu nachzudenken.
Aber auch bei neuen Wegen gelten Wertentscheidungen.
Eine Freigabe von Drogen kommt für uns nicht in Frage.
Aber der Weg, einem Arzt zu ermöglichen, an
Schwerstabhängige Drogen auf dem Weg zur Therapie
abzugeben, um sie nicht in die Kriminalität rutschen zu
lassen und um den Menschen, die schwer krank sind,
wirklich zu helfen, ist mit uns ausdrücklich zu gehen.
({1})
Lassen Sie sich auf einen solchen Weg ein! Suchen Sie
dafür parlamentarische Mehrheiten, dann gehen wir diesen Weg mit!
Ich schließe einen zweiten Punkt an. Das Staatsangehörigkeitsrecht ist für die F.D.P. nicht nur ein Stück
Papier. Es geht um die Notwendigkeit, den bei uns
schon lange lebenden Ausländern ein faires Angebot der
Integration zu machen. Es darf aber keine Beliebigkeit
geben. Man muß von ihnen auch den Willen zur Integration erwarten dürfen. Wir werden bereit sein, ein
modernes Staatsangehörigkeitsrecht zu beschließen. Ich
sage Ihnen aber auch: nicht jedes. Wenn Sie Wert auf
parteiübergreifende Abstimmung legen, dann sollten Sie
in der Koalition beraten, ob Sie die jetzige Breite der
doppelten Staatsbürgerschaft nicht zurückführen. Denn
die doppelte Staatsbürgerschaft als Regel ist nicht unsere
Vorstellung. Ich glaube, daß dieser Ansatz keine Akzeptanz in der deutschen Öffentlichkeit finden wird.
({2})
Auch der alte Ansatz, das nicht zu reformieren, war
falsch. Man muß sich hier um gesellschaftliche Akzeptanz bemühen.
({3})
Deshalb sage ich Ihnen, Herr Bundeskanzler: Wir
wollen, daß beim Staatsangehörigkeitsrecht Mitte und
Maß ausschlaggebend sind, die gesellschaftliche Akzeptanz mitbewertet wird. Wenn Sie der Auffassung
sind, es wäre für das Parlament und für Deutschland gut,
daß ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht eine breitere
parlamentarische Zustimmung findet, dann biete ich sie
Ihnen ausdrücklich mit dem Hinweis an, daß dann aber
auch Ihre Seite, die Mehrheitsseite dieses Hauses, eine
Korrektur anbringen muß. Gehen Sie bei dem Modell
„doppelte Staatsbürgerschaft nahezu als Regel“ ein
Stück zurück, verständigen Sie sich mit uns auf das Angebot an die Kinder, die hier geboren werden, und wir
werden nicht zögern, einem solchen Gesetzentwurf zuzustimmen!
({4})
Ich sage dies deshalb, weil Oppositionsarbeit sowohl
Kritik als auch variantenreiches Arbeiten beinhalten
muß.
Herr Bundeskanzler, Sie werden - das ist meine tiefe
Überzeugung - die von Ihnen eingeleitete Politik, die in
dieser ersten Phase maßgeblich von Finanzminister Lafontaine bestimmt worden ist, in den finanziellen, steuerpolitischen und wirtschaftlichen Grunddaten im Laufe
dieser Legislaturperiode korrigieren müssen. Das ist nur
eine Frage der Zeit. Sie werden dem Themendruck und
Adam Riese nicht entkommen. Wir wollen jetzt einmal
sehen, wie lange das dauert. Wir werden Sie dabei kritisch begleiten. Sie werden Ihre Politik verändern müssen. Dann werden wir uns in einer solchen Debatte wieder treffen. Das wird dann eine wichtige Debatte für
Deutschland sein. Nur, bedauerlicherweise wird das
Land bis dahin Zeit verloren haben. Es wäre besser, Sie
kehrten jetzt um.
({5})
Das Wort hat der
Vorsitzende der PDS-Fraktion, Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Schäuble, Sie haben den
Kanzler dafür kritisiert, daß er sich zu sehr auf dem
Wahlergebnis vom 27. September 1998 ausgeruht habe.
Ich finde, in den ersten Monaten ist das noch legitim;
aber ich denke auch, es wird die Zeit kommen, da man
sich an eigenen Taten messen lassen muß.
Herr Bundeskanzler, Sie werden es hier allerdings mit
sehr unterschiedlichen Formen von Opposition zu tun
haben: einmal mit der CDU/CSU-Opposition, dann mit
der F.D.P.-Opposition und auch mit der PDSOpposition. Diese haben natürlich unterschiedliche Herangehensweisen. Die CDU/CSU-Opposition will Sie in
der Regierung wieder austauschen, das heißt, ihre Politik
wird sich daran ausrichten, die SPD durch die
CDU/CSU zu ersetzen. Also wird sie die Leistungen der
früheren Regierung sehr würdigen und Ihre entsprechend herabwürdigen und versuchen, auf diesem Wege
zum Ziel zu kommen.
Dennoch sage ich Ihnen, Herr Schäuble: Ich finde
das, was Sie hier gemacht haben, sehr problematisch.
Dies gilt auch für Herrn Gerhardt von der F.D.P. Wenn
man die Ergebnisse der eigenen Politik nur würdigt, hat
man überhaupt keine Chance, zu erklären, weshalb man
eigentlich am 27. September 1998 abgewählt worden ist.
({0})
Ein ganz kleiner Hang zur Selbstkritik wäre also auch
bei diesen beiden Fraktionen angebracht gewesen.
Es kommt noch etwas hinzu. Wenn Sie nämlich erklären, daß Sie in der Sache nichts falsch gemacht hätten, daß Sie ein gut bestelltes Haus hinterlassen hätten,
dann nähren Sie geradezu das Gerücht, das jetzt auch
häufig durch die Zeitungen geht, daß es nämlich alleine
an der falschen Person des Kanzlerkandidaten gelegen
habe. Und dann sind Sie es, die Ihren Altbundeskanzler
Dr. Helmut Kohl die ganze Zeit demontieren, und nicht
andere. Ich glaube, daß es nicht alleine an ihm gelegen
hat. Deshalb wäre mehr Selbstkritik in Ihren Fraktionen
angesagt.
({1})
Herr Schäuble hat insbesondere die Koalition von
SPD und PDS in Mecklenburg-Vorpommern kritisiert.
Dazu hat sich auch der Kollege Struck geäußert. Lassen
Sie mich dazu folgendes sagen. Auch heute haben Sie
zwei Dinge nicht benannt: Sie haben nicht hinzugefügt,
daß die CDU am 27. September 1998 bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern eine ganz
schwere Schlappe erlitten hat. Sie haben auch nicht erklärt, weshalb das so war und daß die SPD mithin vor
der Frage stand, ob sie mit dem eindeutigen Verlierer
der Wahl und damit gegen den Willen der Menschen in
Mecklenburg-Vorpommern eine Koalition mit Ihrer
Partei oder ob sie mit einem anderen Gewinner der
Wahl, nämlich mit der PDS, eine Koalition eingeht.
Im übrigen sage ich Ihnen, Herr Schäuble, ganz deutlich: Ich finde, daß Sie in dieser Frage äußerst unaufrichtig argumentieren. PDS und CDU haben nämlich in
dieser Hinsicht eine Gemeinsamkeit. Sie haben erklärt,
Sie wollten gerne ehemalige Mitglieder der SED in Ihren Reihen aufnehmen. Ich gehe davon aus, daß es,
wenn Sie das wollen, gleichberechtigte CDU-Mitglieder
sein sollen. Wenn sie gleichberechtigt sein sollen, dann
müssen sie, wenn Sie irgendwo die Regierung bilden,
die Chance haben, in eine solche Regierung einzutreten.
Das heißt, PDS und CDU wollen in geeigneten Fällen,
daß ehemalige SED-Mitglieder in die Regierung eintreten: wir nur über die Mitgliedschaft in der PDS, Sie über
die Mitgliedschaft in der CDU, also über sehr viel mehr
Opportunismus als wir. Das ist der eigentliche Unterschied, und zu dem stehen wir auch.
({2})
Wenn nun allerdings Herr Struck hier erklärt, das
Wahlergebnis der PDS sei nur dadurch zu erklären, daß
die Bundesregierung in den neuen Bundesländern so
sehr versagt habe, so möchte ich doch ergänzen, Herr
Kollege Struck: Die SPD hat in den neuen Bundesländern auch ihren Anteil daran. Das muß man schon der
Vollständigkeit halber hinzufügen.
({3})
Sie, Herr Schäuble, haben, wie ich finde, zu Recht
von der Regierung und auch von der stärksten Fraktion
des Hauses gefordert, mehr Respekt vor anderen Meinungen aufzubringen. Ich darf Sie daran erinnern, wie in
den letzten Jahren Ihr Respekt vor anderen Meinungen
aussah, insbesondere auch vor anderen Meinungen aus
den PDS-Reihen. Wenn das zugleich eine Art Selbstkritik gewesen sein soll, dann ist das zu akzeptieren.
({4})
Bei der F.D.P.-Opposition habe ich sehr genau beobachtet, wie Sie die Rede des Bundeskanzlers verfolgt
haben und an welchen Stellen Sie geklatscht haben.
Wenn ich das richtig beobachtet habe, befindet sich die
F.D.P. auf dem Wege sozusagen von der ehemaligen
Regierungspartei hin zu einer Oppositionspartei, die sich
später anbieten will, die Grünen irgendwann in dieser
Regierung zu ersetzen.
({5})
Das wird noch eine spannende Entwicklung in den
nächsten vier Jahren sein. Länger als vier Jahre halten
Sie das auf den Oppositionsbänken nicht aus. Das ist
einfach zu ungewohnt.
Im übrigen halten Sie, Herr Gerhardt, Ihre Partei für
viel zu intolerant. Auch wenn Sie alle Programmpunkte
in einer Regierungsverhandlung aufgegeben hätten,
hätten die Sie nicht abgewählt. Das schlucken die, glauben Sie es mir. Ich sage das nur, weil Sie das bezweifelt
haben. Doch, das halten die durch. Das hat zumindest
die Vergangenheit bewiesen.
({6})
Im Namen der PDS-Fraktion und der PDSOpposition möchte ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, folgendes sagen: Wir werden Ihre Regierung immer dann
unterstützen, wenn sie Verhältnisse demokratischer gestaltet, immer dann, wenn sie Bürgerrechte erweitert,
immer dann, wenn es mehr soziale Gerechtigkeit geben
soll, immer dann, wenn Friedenspolitik gemacht wird
und wenn Außenpolitik als - das sage ich jetzt einmal
so - nichtmilitärische Politik verstanden wird, das heißt,
die Außenpolitik nicht als Fortsetzung der Militärpolitik
mit anderen Mitteln verstanden wird, und immer dann,
wenn es um reale Abrüstung in diesem Land und in anderen Ländern geht.
Wir werden aber - auch das will ich klar sagen immer dann deutlich Opposition machen, wenn Sie dem
neoliberalen Zeitgeist nachgeben, wenn Sie letztlich
fortsetzen, was die alte Bundesregierung nach unserer
Auffassung an verfehlter Außen- und Innenpolitik betrieben hat.
Insofern werden wir tatsächlich eine konstruktive
Opposition sein.
Ich habe dennoch mit Interesse festgestellt, daß Sie
immerzu von der Neuen Mitte gesprochen haben. Das
war eine Art Überschrift für Ihre Rede. Darf ich Sie daran erinnern, daß im Berliner Parteiprogramm der SPD
als Ziel noch immer der demokratische Sozialismus
formuliert ist? Ich stelle mit Interesse die Ersetzung dieses Begriffs durch den der Neuen Mitte fest. Ich empfinde das in gewisser Hinsicht als einen Rückschritt. Das
darf ich doch wenigstens noch sagen. Aber es macht
nichts, weil wir dadurch alleine die Rolle übernehmen,
für den demokratischen Sozialismus streiten zu dürfen.
Wir werden das auch tun und uns dieser Aufgabe stellen.
({7})
Aber ich bedaure, daß in Ihrer Regierungserklärung
zur Erweiterung der Demokratie kein einziger Vorschlag
unterbreitet wird. Sie wissen, daß SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS hier zum Beispiel im Rahmen der Verabschiedung des Maastricht-Vertrages ganz ernsthaft
kritisiert haben, daß es keine Volksabstimmung zu dieser Frage gab. Warum traut sich Ihre Regierung nicht, in
der Regierungserklärung zu sagen, daß sie endlich den
Weg für die Zulässigkeit von Volksentscheiden und von
Volksabstimmungen in der Bundesrepublik Deutschland
freimachen will? Das wäre ein wichtiger Schritt für
mehr Demokratie gewesen.
({8})
Natürlich haben wir zur Kenntnis genommen, daß in
Ihrem Koalitionsvertrag eine ganze Reihe von Vorschlägen enthalten sind - auf einige davon sind Sie auch
in Ihrer Regierungserklärung eingegangen -, die zu
mehr sozialer Gerechtigkeit führen sollen. Wir begrüßen
die Aussetzung der Senkung des Rentenniveaus, wobei
ich hinzufüge, daß wir uns mehr gefreut hätten, wenn
Sie statt „Aussetzung“ „endgültige Aufhebung“ gesagt
hätten. Dann würde über den Rentnerinnen und Rentnern nicht das Damoklesschwert hängen; vielmehr wäre
klar: Eine Absenkung des Rentenniveaus wird es nicht
geben. Aber immerhin: Wir werden auch eine Aussetzung unterstützen.
Natürlich unterstützen wir, daß Sie die Zuzahlung für
Medikamente für Kranke reduzieren und zurückfahren
wollen. Wir hätten uns gewünscht, daß wir uns von diesem Instrument ganz und gar verabschiedet hätten. Natürlich unterstützen wir auch, daß Sie das Krankenhausnotopfer aussetzen wollen, obwohl ich mich auch
hier mehr freuen würde, wenn Sie gesagt hätten: Es
kommt gar nicht mehr in Frage; es wird es nicht mehr
geben. Auch hier ist das Wort „aussetzen“ nach unserer
Vorstellung etwas unglücklich gewählt. Es ist natürlich
besser, als es beizubehalten. Das ist völlig klar. Deshalb
werden wir auch bei der Aussetzung zustimmen. Das ist
doch logisch.
({9})
Ich sage aber auch: Sie haben vieles, was in der Koalitionsvereinbarung steht, hier nicht erwähnt - das
macht doch zumindest nachdenklich -, zum Beispiel die
Frage des Kündigungsschutzes, also die Rücknahme
der Verschlechterungen beim Kündigungsschutz in bestimmten Bereichen. Morgen sollte ein Gesetzentwurf
dazu vorliegen. Der ist noch nicht da. Darf ich fragen,
ob auch er nur ausgesetzt ist und ob er noch nächste
Woche kommt? Da Sie es nicht erwähnt haben, werden
wir sehr genau kontrollieren, ob er kommt.
({10})
Das gilt ebenso für das Schlechtwettergeld. Das gilt
in besonderem Maße auch für die von der alten Regierung zu verantwortende Erhöhung des Renteneintrittsalters für Frauen und Schwerbehinderte. Abgesehen von
den Vorstellungen, eventuell schon für 60jährige die
Rente zu ermöglichen, wäre das aber der erste erforderliche Schritt gewesen, um wieder rückgängig zu machen, daß Frauen und Schwerbehinderte erst später in
Rente gehen können.
({11})
Sie haben die 620-DM-Jobs angesprochen. - Sie haben übrigens die 520-DM-Jobs nicht erwähnt; ich muß
das einmal sagen; das sind im Osten nur 520 Mark. Ich
will Ihnen dazu nur eines sagen, Herr Bundeskanzler:
Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie diesen Hunderter
an Demütigung endlich beseitigten.
({12})
Wissen Sie: Bei fast nichts an Verdienst zu einer Verkäuferin im Osten zu sagen, sie sei 100 DM weniger
wert als eine Verkäuferin im Westen, ist einfach nicht
mehr hinnehmbar. Das ist nicht einmal mehr eine materielle Frage, das ist eine kulturelle Frage geworden.
Deshalb hoffe ich, daß das so schnell wie möglich korrigiert wird.
({13})
Sie haben gesagt, Sie wollen solche Beschäftigungsverhältnisse versicherungspflichtig machen. Das findet
unsere Zustimmung. Über die Grenze von 300 DM will
ich jetzt nicht streiten, obwohl man auch dazu einiges
sagen kann, weil diese Grenze nämlich dazu verleiten
könnte, diese Jobs noch kleiner zu machen; dann würden
es noch mehr. Das wäre natürlich der falsche Ansatz.
Sie wollen die Steuerpauschale aufheben. Einverstanden, damit könnten wir uns anfreunden - unter der Bedingung, daß dann der Arbeitgeber diesen kleinen SoDr. Gregor Gysi
zialversicherungsbeitrag alleine bezahlt und daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht auch bei einer
so geringen Entlohnung noch zur Kasse gebeten werden.
({14})
Kritisieren muß ich allerdings eines ganz deutlich:
Ich habe in dieser Regierungserklärung gar nichts mehr
vom Schlechtwettergeld gehört. Ich hoffe, daß wir das
Schlechtwettergeld wieder einführen. Und ich hoffe, Sie
gehen noch einen Schritt weiter; denn was auf den Baustellen in Deutschland passiert, ist die Organisierung
von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Wir müssen
endlich nicht nur einen Mindestlohn gewährleisten, sondern gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort ganz egal, aus welchem Land die Firma kommt, und
ganz egal, aus welchem Land die Beschäftigten kommen.
({15})
Das müssen wir einfach durchsetzen. Alles andere hätte
erhebliche negative Folgen.
In der Regierungserklärung und in der Koalitionsvereinbarung haben Sie eine Gruppe vergessen. Sie können
Sie aber nicht ernsthaft vergessen haben; das heißt, Sie
haben für sie nichts geregelt. Ich meine die Arbeitslosen
und die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger. Ich sage ganz deutlich: Die sind in den letzten
Jahren durch die Gesetzgebung drangsaliert worden. Ich
hatte gehofft, daß Sie das zurücknehmen. Davon steht
aber kein Wort in der Regierungserklärung. Es ist nicht
an eine Besserstellung dieser Menschen gedacht, und
das muß diese Regierung unbedingt korrigieren, wenn
sie denn sozialdemokratisch und grün sein will.
({16})
Ich füge hinzu, daß mich sehr gewundert hat, was Ihr
Bundesfinanzminister in der letzten Zeit zur Pflegeversicherung und Arbeitslosenversicherung gesagt hat. Das
steht zwar nicht in der Koalitionsvereinbarung, und Sie
haben es auch nicht in der Regierungserklärung erwähnt.
Aber er ist - da werden Sie mir zustimmen - kein ganz
unwichtiger Mann in Ihrer Regierung. Man kann die
Pflegeversicherung abschaffen und das steuerfinanziert
machen. Das haben wir damals übrigens auch vorgeschlagen. Dann muß man sich aber an dem Bedarf ausrichten. Wenn man sich an der Bedürftigkeit ausrichtet,
ist das ein ziemlicher sozialer Skandal.
({17})
Stellen Sie sich doch einmal vor: Ein Arbeitnehmer erleidet einen schweren Unfall und ist danach wirklich
pflegebedürftig. Jetzt hat er noch ein paar Ersparnisse,
ein Auto und ein paar andere Gegenstände. Bei einer
Bedürftigkeitsprüfung heißt das, daß er das erst alles
verkaufen muß, bis er bettelarm ist, und erst dann hilft
ihm der Staat, denn er hätte ja keinen Versicherungsschutz mehr. Dazu kann ich nur sagen: Das ist wirklich
extrem unsozial und ginge zumindest mit der PDS auf
gar keinen Fall.
({18})
Herr Lafontaine geht noch einen Schritt weiter und
sagt, man könnte eigentlich auch die Arbeitslosenversicherung abschaffen, weil ja nicht alle arbeitslos werden.
Er will an dieser Stelle das Solidaritätsprinzip aufheben.
Er sagt, diejenigen, die Geld haben, könnten ihre Arbeitslosigkeit selber finanzieren, und erst, wenn sie richtig arm seien und die Bedürftigkeit einsetzte, greife der
Staat unterstützend zu. Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn
Herr Schäuble oder der Altkanzler Kohl vor einem Jahr
den Vorschlag gemacht hätte, die Arbeitslosenversicherung abzuschaffen und nur noch ganz Bedürftigen im
Falle von Arbeitslosigkeit zu helfen, dann wäre wirklich
die ganze Sozialdemokratie in Deutschland aufgestanden und hätte ihn der restlosen Demontage des Sozialstaates bezichtigt.
({19})
Aber Ihr Herr Lafontaine darf das! Das finde ich wirklich nicht in Ordnung; das würde hinter die Zeiten Bismarcks zurückfallen. Und das wird dieser Bundestag
- so hoffe ich - nicht genehmigen. Ich hoffe auf genügend Widerstand aus Ihrer eigenen Fraktion und auch
aus der grünen Fraktion.
Den längsten Teil Ihrer Rede haben Sie der Arbeitsmarktpolitik gewidmet. Das ist auch richtig. Sie haben
immer gesagt, Sie wollen sich daran messen lassen, wie
es Ihnen gelingt, Arbeitslosigkeit abzubauen. Sie haben
ein Bündnis für Arbeit vorgeschlagen. Das ist in Ordnung - wenn es denn zustande kommt. Die Ergebnisse
werden das Entscheidende sein. Ich finde aber, Sie haben die Elemente, die dieses Bündnis ausmachen sollen,
in ungenügender Weise genannt, aber das macht nichts.
Ich muß jedoch auf eines hinweisen, Herr Bundeskanzler: Ihre Referenz ist diesbezüglich nicht absolut die
günstigste. Denn in Niedersachsen haben Sie kein
Bündnis für Arbeit zustande gebracht. Das muß man an
dieser Stelle ehrlicherweise einmal hervorheben. Ich
hoffe, dieses Mal gelingt es Ihnen.
Sie haben sehr viel von Bildung gesprochen. Ich muß
aber sagen, daß in Niedersachen am meisten Lehrerstellen abgebaut worden sind, daß am meisten Stundenzahlen abgebaut worden sind und daß Sie mit die höchsten
Klassenfrequenzen in der Bundesrepublik Deutschland
haben. Auch das ist keine Referenz für eine künftige
gute Bildungspolitik. Sie haben jetzt an Hochschulen in
Niedersachsen 100 DM Semestergebühren eingeführt,
was hinsichtlich des Zugangs zu Bildung nicht gerade
für Chancengleichheit spricht. Auch das will ich deutlich kritisieren.
Sie haben gesagt, daß Sie Ausbildungsplätze für junge Leute schaffen wollen. Sie haben das sehr engagiert
vorgetragen. Ich glaube Ihnen, daß das ein wirklich tiefer Wunsch von Ihnen ist. Darin unterstützen wir Sie
selbstverständlich.
Aber Sie haben zugleich die Umlagefinanzierung
abgelehnt und als Zwang denunziert. Die Umlagefinanzierung ist kein Zwang; sie stellt vielmehr Gerechtigkeit
her. Die Situation heute ist doch so, daß die großen
Konzerne immer weniger ausbilden und der private
Bäckermeister schon drei, vier oder fünf Lehrlinge hat
und dabei so gut wie überhaupt nicht unterstützt wird.
Die Idee der Umlagefinanzierung besagt doch nur, daß
ein Unternehmen, das ausbilden könnte, aber nicht ausbildet, nachher aber die am besten ausgebildeten Leute
einstellt, an den Kosten der Ausbildung, die andere vornehmen, beteiligt werden soll. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und nicht des Zwangs. Das ist das Entscheidende an der Idee der Umlagefinanzierung.
({20})
Mit Appellen hat es auch der Altbundeskanzler versucht. Es war nicht so, daß sich Herr Dr. Kohl über jeden Jugendlichen gefreut hat, der keine Lehrstelle bekam. Auch er hätte sich mehr gefreut, wenn alle eine
bekommen hätten. Aber genau deswegen, weil er in Kapitalverwertungsinteressen nicht eingreifen wollte,
wollte er keine Umlagefinanzierung. Ich finde, eine Regierung aus SPD und Grünen müßte den Mut haben,
diese Umlagefinanzierung nun endlich in die Realität
umzusetzen.
({21})
- Das hat doch mit Sozialismus nichts zu tun. Wenn für
Sie Sozialismus darin besteht, daß alle Jugendlichen
ausgebildet werden, dann bin ich einverstanden. In diesem Sinne wollen wir Sozialismus.
({22})
Auch hier setzen Sie nur auf Rahmenbedingungen.
Wenn wir denn die Arbeitslosigkeit wirklich abbauen
wollen, dann brauchen wir einen öffentlich geförderten
Beschäftigungssektor, weil über 4 Millionen Arbeitslose
weder in der Privatwirtschaft noch im öffentlichen
Dienst unterkommen werden. Um hier wirklich voranzukommen und millionenfach Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft abbauen zu können, brauchen wir etwas,
was die US-Amerikaner Non-profit-Sektor nennen.
Lassen Sie mich auch noch etwas zur ökologischen
Steuerreform sagen, mit der sich Herr Gerhardt aus
seiner Sicht sehr kritisch auseinandergesetzt hat. Ich
möchte mich mit diesem Thema aus meiner Sicht kritisch auseinandersetzen. Sie haben gesagt: Diese Steuerreform hat ein Ziel, nämlich die Lohnnebenkosten zu
senken. Das sei das Entscheidende. Es gehe nicht um
Einnahmen; vielmehr gehe es darum, Lohnnebenkosten
zu senken. Herr Bundeskanzler, ich dachte natürlich
immer: Eine ökologische Steuerreform hat zunächst
einmal ein ökologisches Ziel. Deshalb nennt sie sich ja
so.
Nun muß ich Sie auf ein Problem hinweisen. Ich hätte
mir das so vorgestellt: Wenn man eine ökologische
Steuerreform durchführt, dann nimmt man die Einnahmen, um den ökologischen Umbau dadurch zu finanzieren. Auf diesem Weg kommt man dann weiter. Wenn
dann wirklich der Energieverbrauch zurückgeht, so daß
die Einnahmen aus dieser Steuer geringer werden, dann
ist man aber beim ökologischen Umbau, zum Beispiel
beim Angebot im öffentlichen Nah- und Fernverkehr
- preisgünstig, sicher, bequem etc. -, schon deutlich
weiter und kann deshalb verkraften, daß die Einnahmen
zurückgehen.
Erster Fehler: Wenn Sie aber so vorgehen, daß Sie die
Einnahmen durch Ökosteuern mit einer Senkung der
Lohnnebenkosten koppeln, dann begeben Sie sich in
eine Falle. Sie wollen mit den Einnahmen aus der ökologischen Steuerreform den Beitrag zur gesetzlichen
Rentenversicherung um, wenn ich das richtig verstehe,
0,8 Prozent senken. Was machen Sie denn nun, wenn Ihre ökologische Steuerreform wirkt, das heißt, wenn die
Menschen plötzlich wesentlich weniger Auto fahren und
wesentlich weniger Energie verbrauchen? Wenn das geschieht, dann fehlen Ihnen die Einnahmen, um im Jahr
danach die Senkung von 0,8 Prozent halten zu können.
Das heißt, entweder müssen Sie dann Ihre Steuern erhöhen oder Sie müssen mit den Lohnnebenkosten wieder
heraufgehen. Das bedeutet, Sie begeben sich in eine
ewige Spirale. Deshalb ist der Zusammenhang zwischen
ökologischer Steuerreform und Lohnnebenkosten zweifellos ein falscher. Man hätte die Einnahmen für den
ökologischen Umbau verwenden müssen, um dort
schrittweise voranzukommen.
({23})
Zweiter Fehler: Wenn es um die soziale Abfederung
geht, dann bietet sich nunmehr folgendes Bild: Die
Großindustrie wird von dieser Steuer vollständig befreit,
das Handwerk muß einen Teil dieser Steuer bezahlen.
Aber die Sozialhilfeempfängerinnen und die Sozialhilfeempfänger - die fahren zwar kein Auto, aber auch die
müssen heizen, auch die brauchen eine warme Stube;
diese Steuer trifft auch sie, denn auch sie brauchen
Strom -, die Arbeitslosen und auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, bekommen keine Entlastung.
Das ist aus unserer Sicht unsozial.
({24})
Das Handwerk in den neuen Bundesländern verträgt
nicht einmal eine Teilsteuer. Die Handwerker werden
daran zugrunde gehen. Sie hätten die kleinen und mittelständischen Unternehmen ausnehmen müssen und nicht
die Großindustrie. Das wäre der richtige Ansatz gewesen, um eine solche Steuer umzusetzen.
({25})
Lassen Sie mich folgendes noch sagen: Steuern, mittels derer wir das Verhalten der Leute ändern wollen, also erzieherische, pädagogische Steuern, haben ihre Probleme. Wir haben eine Alkoholsteuer und eine Tabaksteuer, und jetzt bekommen wir eine Energiesteuer. Ihre
Ziele sind, daß die Leute weniger saufen, weniger rauchen und weniger Energie verbrauchen. Das Problem
dabei ist aber, daß der Staat pleite ist, wenn alle so verfahren. Das heißt, damit die Einnahmen stimmen, muß
die Regierung heimlich immer hoffen, daß mehr gesoffen, mehr geraucht und mehr Energie verbraucht wird.
Auf dieses Problem möchte ich einfach einmal hinweisen. Deshalb wäre es günstiger, man würde hier andere
Wege gehen.
Wir sagen ja zu einer ökologischen Steuerreform,
wenn die Einnahmen für den ökologischen Umbau, aber
nicht für Lohnnebenkosten verwendet werden und wenn
sie sozial abgefedert ist. Beides stimmt gegenwärtig
nicht, und deshalb können wir dem nicht zustimmen.
Sie haben nur sehr allgemein über Ostdeutschland gesprochen. Sie haben Ostdeutschland zur Chefsache erklärt. Das ist übrigens nicht neu; das hat Helmut Kohl
auch immer schon gemacht. Sie sehen ja, was dabei herausgekommen ist. Daher hätte ich mir etwas Konkretes
gewünscht. Aber ich habe nichts von einer Investitionspauschale für Kommunen gehört, die ganz entscheidend wäre, um regionale Wirtschaftskreisläufe auch
ökologisch in Gang zu setzen.
({26})
Ich habe nichts davon gehört, Herr Bundeskanzler,
daß Sie wenigstens für vier Jahre das Ziel formuliert
hätten, gleicher Lohn und gleiches Gehalt für gleiche
Arbeit in Ost und West. Darauf warten aber die Menschen in den neuen Bundesländern;
({27})
denn wir haben dort ja auch Preise von 100 Prozent.
Angesichts dessen kann man nicht auf Dauer mit 70 bis
80 Prozent der Einnahmen leben. Das gilt für Sozialleistungen ebenso wie für Löhne und Gehälter.
Sie haben auch nicht gesagt, ob Sie das „Rentenstrafrecht“ nun endgültig beseitigen wollen, die Lücken in
der Rentenüberleitung nun endlich schließen wollen und
auch das Versorgungsunrecht bei der Rente überwinden
wollen. Ich habe leider auch keinen Satz dazu gehört, ob
wir nun endlich damit Schluß machen, daß die Leute um
ihr Eigentum an Grundstücken, Datschen etc. Angst haben müssen und immer noch zu Tausenden klagen müssen, damit ihre Berufsabschlüsse anerkannt werden. Das
wären Gesten gewesen, auf die in den neuen Bundesländern dringend gewartet wird.
({28})
Die Außenpolitik - dazu kann ich mich auf Grund der
fortgeschrittenen Zeit nur noch ganz kurz äußern - soll
ja, wie ich gelesen habe, von Ihrem Außenminister in
Kontinuität fortgesetzt werden. Hier frage ich mich
natürlich schon, warum sich der Spitzenpolitiker der
Grünen gerade das Amt aussucht, bei dem er sagen muß,
er wolle alles so wie die vorherige Regierung machen.
Wie kann man denn so irgendeinen Wechsel dokumentieren - wenn ich das einmal fragen darf? Ein Wechsel
wird nicht sichtbar. Ich habe das ja in der letzten Sondersitzung des 13. Bundestages mitbekommen: Auch die
SPD, auch die Grünen haben einem völkerrechtswidrigen Militärakt zugestimmt, und das ist nach dem Völkerrecht selbst eine Aggression. Ich hoffe, daß diese
Politik sich nicht fortsetzen wird, sondern daß wir die
Außenpolitik wieder entmilitarisieren.
Bei der Verteidigungspolitik hat Ihr neuer Verteidigungsminister vor Übernahme des Amtes die Bedingung
gestellt, daß der Wehretat nicht gekürzt wird. Geht
meine Phantasie völlig mit mir durch, wenn ich mir vorstelle, ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister
sagte vor Amtsantritt, er mache das nur unter der Bedingung, daß er wirklich abrüsten dürfe, nicht aber unter
der Bedingung, daß am Wehretat nichts gekürzt werde?
Das wäre zumindest meine naive Vorstellung von der
Amtsübernahme in einem solchen Falle gewesen.
({29})
Wir begrüßen natürlich die Vorschläge zur Reform
des Staatsbürgerschaftsrechts. Sie gehen uns nicht
weit genug; aber wir werden sie unterstützen. Alle Angriffe, die diesbezüglich von der bisherigen Regierungskoalition gekommen sind, sind untauglich; denn sie hat
zu verantworten, daß wir heute in ungeahntem Maße
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft haben. Deshalb ist es das legitime Recht der neuen Regierung, nach anderen Ansätzen zu suchen, um das
endlich substantiell zu überwinden und bei der Integration der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger
weiterzukommen.
({30})
Aber mir fehlt ein Satz zu den Flüchtlingen. Soll sich
denn hier nichts ändern? Wollen Sie wirklich zum Beispiel das demütigende Verfahren auf den Flughäfen beibehalten? Wir haben das hier doch zigmal kritisiert.
Hätte so etwas nicht in diese Regierungserklärung hineingehört? Das hätte ich eigentlich erwartet. Es kostete
nicht einmal Geld, dieses, wie ich meine, unwürdige und
rechtsstaatswidrige Verfahren abzuschaffen.
({31})
Zum Asylbewerberleistungsgesetz will ich erst gar
nichts sagen; denn auch da muß man logischerweise
sehr vieles ändern.
Vier Gruppen sind vernachlässigt worden: die Erwerbslosen, die Flüchtlinge, die kleinen und mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmer und die
Ostdeutschen. Um diese vier Gruppen - aber nicht nur
um diese - werden wir uns als Opposition kümmern.
Sie haben gesagt, Sie wollen eine Republik der Neuen Mitte. Herr Bundeskanzler, eine Gesellschaft, in der
es eine Mitte gibt, noch dazu eine neue, von der ich
nicht genau weiß, wie sie sich von der alten unterscheidet - aber nehmen wir das einmal an; ich unterstelle es
als wahr -, hat gleichwohl ein Oben und ein Unten. Es
gibt in keiner Gesellschaft nur eine Mitte. Es gibt immer
auch ein Oben und ein Unten. Wer nicht den Mut hat,
oben etwas zu verändern, hat auch nicht die Kraft, unten
etwas zu verändern.
Das wird bei Ihren Vorschlägen zur Einkommensteuer ganz deutlich: Natürlich muß das Existenzminimum
erhöht werden, natürlich soll der Eingangssteuersatz
gesenkt werden, aber wenn Sie den Spitzensteuersatz
senken, dann belohnen Sie die Besserverdienenden
zwei- und dreimal; denn auch wir als Besserverdienende
profitieren von der Erhöhung des Existenzminimums
und von der Senkung des Eingangssteuersatzes genauso
wie die Leute, die schlechter verdienen, aber uns noch
einmal mit der Senkung des Spitzensteuersatzes zu begünstigen, dafür gibt es eigentlich keinen Grund.
Der Hauptmangel ist, daß Sie nicht den Mut haben,
wirklich an die Reichen in dieser Gesellschaft heranzugehen.
({32})
Deshalb ist es so schwer, mehr soziale Gerechtigkeit für
schlecht Verdienende und für Arme in dieser Gesellschaft zu gestalten. Wo ist der Antrag zur WiedereinDr. Gregor Gysi
führung der Vermögensteuer? Diese Frage haben Sie
an eine Kommission delegiert, als ob wir nicht genau
wüßten, worum es ginge. Wir haben deshalb einen diesbezüglichen Antrag schon in dieser Woche eingebracht,
ebenso auch den Antrag zur Einführung einer Luxussteuer, weil wir das für dringend erforderlich halten.
Soziale Gerechtigkeit erfordert nämlich Gerechtigkeit
bei den Einnahmen ebenso wie bei den Ausgaben. Deshalb sage ich Ihnen: Mitte ist ja ganz schön und gut,
aber - wie gesagt - es gibt auch ein Oben und ein Unten.
Wir haben zwei Oppositionsfraktionen, die sich für das
Oben zuständig fühlen, und eine, die sich für das Unten
zuständig fühlt. Insofern könnte man sich ganz gut ergänzen. Machen Sie deshalb nicht nur Politik für die
Mitte, denken Sie auch an die anderen in der Gesellschaft, die Ihrer Hilfe vielleicht viel dringender bedürfen. In uns werden Sie einen streitbaren Partner finden,
der, wenn es angebracht ist, zur Unterstützung, aber
auch zu deutlicher Opposition und Kritik bereit ist.
Wir sind zwar die kleinste Oppositionsfraktion, und
ich gebe zu, daß ich nach mehreren Kriterien auch der
kleinste Oppositionsführer bin, aber halten Sie uns nicht
für die schwächste Opposition. Sie werden uns diesbezüglich noch erleben.
Danke schön.
({33})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir hatten bisher in bezug auf die Redezeit eine offene Debatte. Wir kehren jetzt zurück zu
einer Debatte mit Zeitvorgaben; auch die Redneruhr
wird wieder laufen. Ich bitte die Redner, sich ein wenig
an diese Vorgaben zu halten.
Das Wort hat Herr Michael Glos.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Rainer Barzel hat
1969 in der Aussprache zur Regierungserklärung von
SPD-
Herr Bundeskanzler,
Sie treten Ihr Amt an bei Vollbeschäftigung, stabilem Geld und wohlgeordneten Finanzen.
1982, nach 13 Jahren SPD-Kanzlerschaft, lag die
deutsche Wirtschaft am Boden, die öffentlichen Finanzen waren ruiniert, hohe Arbeitslosigkeit, hohe Inflation,
({0})
hohe Zinsen und ein defizitärer Außenhandel waren eine
schwere Hypothek für die neue unionsgeführte Bundesregierung.
({1})
Deswegen mußte Alfred Dregger bei der Aussprache
zur Regierungserklärung 1982 zu Recht feststellen:
Noch nie hat eine Bundesregierung ihre Aufgabe
unter so schwierigen Bedingungen übernommen
wie die Regierung Kohl . . .
Ich kann heute sagen, Herr Bundeskanzler: Noch nie
hat sich eine Bundesregierung in ein so gut gemachtes
Bett legen können
({2})
wie die rotgrüne Bundesregierung unter Lafontaine und
Trittin und mit Ihnen als Darsteller.
({3})
Der Tatsache, daß weder Lafontaine noch Trittin hier
sind, entnehme ich, daß offensichtlich weitere wichtige
Koalitionsgespräche geführt werden.
CSU, CDU und F.D.P. haben nach Helmut Schmidt
in schwieriger Zeit Wirtschaft und Finanzen wieder auf
Kurs gebracht. Wir haben die Herausforderungen der
deutschen Einheit gemeistert, wir haben die europäische
Einigung kraftvoll vorangebracht, und wir haben
Deutschland für das nächste Jahrhundert fit gemacht.
Heute, Ende 1998, übergeben wir unser Land wohlbestellt:
({4})
Die deutsche Wirtschaft ist im ersten Halbjahr dieses
Jahres um 3 Prozent gewachsen. Dies ist das stärkste
Wirtschaftswachstum seit dem Vereinigungsboom.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Wieczorek?
Ja.
Bitte sehr, Herr
Wieczorek.
Herr Kollege
Glos, würden Sie dem Haus mitteilen, wie hoch die Arbeitslosigkeit war, die Sie 1983 geerbt haben, und wie
hoch diejenige ist, die Sie heute hinterlassen?
Lieber Herr Kollege
Wieczorek, ich weiß natürlich, daß wir damals eine
niedrigere Arbeitslosigkeit hatten. Es gab damals aber
auch keine deutsche Wiedervereinigung. Vor allen Dingen - ich komme noch zu den Zahlen, ich bin dankbar
für die Frage - hatten wir einen rasanten Anstieg der
Arbeitslosigkeit. Herr Wieczorek, Sie waren in der Zeit
von Helmut Schmidt dabei und wissen, daß die Arbeitslosigkeit ständig angestiegen ist. Wir haben jetzt
Gott sei Dank den umgekehrten Trend:
({0})
Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, und wir sind auf dem
richtigen Weg. Dieser Weg wird anerkannt. Die jüngsten
Zahlen beweisen das: Es gibt 400 000 Arbeitslose weniger als im letzten Jahr. Im letzten Regierungsjahr von
Helmut Schmidt ist die Zahl der Arbeitslosen um
600 000 angestiegen. Das sind die richtigen Zahlen.
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Repnik?
Aber bitte.
Bitte sehr, Herr
Repnik.
Herr Kollege
Glos, können Sie mir bestätigen, daß in der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition die Arbeitslosigkeit
von ungefähr 160 000 auf 1,6 Millionen angestiegen ist,
sich also verzehnfacht hat, und daß in der Regierungszeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl 3 Millionen neue
Arbeitsplätze geschaffen wurden?
({0})
Lieber Kollege Repnik,
ich bin sehr dankbar, daß Sie diese Tatsache in Erinnerung gerufen haben. Wir haben auch auf anderen Gebieten einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Ende der Regierungszeiten von Helmut Schmidt und Helmut Kohl festzustellen: Wir haben heute Preisstabilität.
In den Zeiten der Regierungen Brandt und Schmidt hatten wir Inflationsraten zwischen 5 und 7 Prozent.
Ich bedanke mich bei Theo Waigel,
({0})
der mit seiner Finanzpolitik die gewaltigen Herausforderungen der deutschen Wiedervereinigung erfolgreich
bewältigt hat.
({1})
Zuletzt sind die Bundesausgaben drei Jahre in Folge gesunken.
({2})
Heute sind die Zinsen - Herr Kollege Schlauch, trotz
Ihres Geschreis können Sie das nicht leugnen - in
Deutschland auf einem historisch niedrigen Niveau. Für
eine zehnjährige Hypothek sind nur zirka 5 Prozent zu
zahlen. Unter den SPD-geführten Bundesregierungen
hatten wir Rekordzinsen. Baugeld hat 1982 11 Prozent
gekostet. Herr Kollege Wieczorek, auch daran sollten
Sie erinnern.
Unsere sozialen Sicherungssysteme sind heute zukunftsfähig und um die soziale Pflegeversicherung ergänzt. Die Politik von CDU/CSU und F.D.P. hat
Deutschland zu einem verläßlichen Partner in einer dauerhaften Friedensordnung in Europa gemacht, und das
alles gegen den erbitterten Widerstand von Herrn Lafontaine, Herrn Fischer und Herrn Trittin.
Ich habe unlängst, Herr Fischer, in einer oft verkauften und damit oft gekauften deutschen Tageszeitung gelesen, daß Sie in Washington eine Art Wettlauf mit den
Journalisten gemacht haben und daß Sie denen dank Ihrer Fitneß meilenweit davongelaufen sind. Es kann
durchaus sein, daß Sie den Journalisten heute davonlaufen, aber Ihrer Vergangenheit auf diesem Gebiet können
Sie nicht davonlaufen.
({3})
Es ist doch legitim, daran zu erinnern, warum wir
heute diese Friedensordnung in Europa und warum wir
die deutsche Wiedervereinigung haben. Wir haben sie,
weil wir allezeit fest zu unseren westlichen Bündnispartnern gestanden sind, weil wir zur NATO gestanden
sind, weil wir die Bündnisverpflichtungen erfüllt haben
und weil wir letztendlich dieser Verläßlichkeit die Zustimmung unserer Freunde und Partner zur Wiedervereinigung verdanken.
Der Frieden ist sicherer geworden. Das Streitkräfteund Waffenpotential in Europa ist gottlob drastisch reduziert. Heute stehen keine sowjetischen Soldaten mehr
auf deutschem Boden.
Auch deswegen waren 16 Jahre Kanzlerschaft Helmut Kohl ein Geschenk für Deutschland.
({4})
Ich bedanke mich bei ihm für die CSU ehrlichen Herzens. Das ist nicht der scheinheilige Dank, den wir hier
aus taktischen Gründen oft hören mußten.
({5})
Ich habe das alles nur deswegen noch einmal in Erinnerung gerufen, weil sich die neue Regierung in spätestens vier Jahren an der Bilanz messen lassen muß, die
sie als Anfangsbilanz vorgefunden hat. Deswegen lassen
Sie doch das törichte Gerede - Wolfgang Schäuble hat
es schon einmal gesagt - von vermeintlichen Milliardenlöchern! Damit gestehen Sie nur ein, daß Rotgrün
jetzt nicht bezahlen kann, was man den Bürgerinnen und
Bürgern im Wahlkampf versprochen hat.
Die Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen in ihrem
Herbstgutachten mit Mehreinnahmen gegenüber der
Steuerschätzung vom Frühjahr, mit einer günstigeren
Entwicklung am Arbeitsmarkt und vor allen Dingen mit
deutlichen Fortschritten bei der Reduzierung der öffentlichen Defizitquote. Die in der letzten Woche veröffentlichten Arbeitslosenzahlen - wir hatten dank Herrn
Wieczorek vorhin schon einmal eine Diskussion darüber
- bestätigen dies in eindrucksvoller Weise.
Es ist die einmalige historische Leistung von Theo
Waigel, daß das finanzpolitische Schiff in den 90er JahMichael Glos
ren unseres Jahrhunderts trotz weltweiter Umbrüche
stets Kurs gehalten hat. Theo Waigel hat dafür gesorgt,
daß Deutschland und Europa von den Turbulenzen an
den internationalen Finanzmärkten und den wirtschaftlichen Krisen in Rußland und in Asien weitgehend verschont geblieben sind. Heute zahlt sich aus, daß wir mit
unseren Reformen die Rahmenbedingungen für Arbeit
in Deutschland verbessert haben, daß wir unnachgiebig
für eine stabile europäische Währung gekämpft haben,
daß die Europäische Zentralbank unabhängig und vorrangig auf das Ziel der Preisniveaustabilität verpflichtet
ist.
Herr Bundeskanzler, heute müssen Sie zugeben, wie
sehr Sie als Kanzlerkandidat mit Ihrem opportunistischem Geunke vom Euro als sogenannter kränkelnder
Frühgeburt danebengelegen haben.
({6})
Ich hoffe für unser Land, Herr Bundeskanzler, daß Sie
künftig weniger Populismus und dafür mehr Sachverstand an den Tag legen werden, wenn es um diese wichtigen Fragen geht.
({7})
Ich bin auch der Meinung, Herr Bundeskanzler, daß
Ihre Regierung insbesondere auf dem währungspolitischen Gebiet noch sehr großen Lernbedarf hat, wie das
jüngste Trommelfeuer des Lafontaineschen Küchenkabinetts gegen die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank zeigt. Oskar Lafontaine übt öffentlich Druck
auf die Deutsche Bundesbank aus, die Zinsen zu senken.
Staatssekretär Noé will die Zentralbank einer Kontrolle
durch die Politik unterwerfen, wie er sich ausgedrückt
hat.
({8})
Die rotgrüne Bundesregierung hat damit den verheerenden Eindruck erweckt, sie wolle die Deutsche Bundesbank bzw. die Europäische Zentralbank zum Spielball politischer Interessen machen. Damit hat sie nach
nur wenigen Tagen im Amt leichtfertig währungspolitisches Porzellan zerschlagen und Vertrauen verspielt. Ich
zitiere den Fraktionsvorsitzenden der zweitgrößten niederländischen Regierungspartei, Herrn Dijkstal. Er sieht
in Lafontaines Kurs eine Gefahr für die Stabilität des
Euro.
({9})
Ich möchte noch einmal sagen: Die Verhältnisse
scheinen sich umgedreht zu haben. Früher hat man in
Europa die stringente Stabilitätspolitik der Deutschen als
großes Vorbild gesehen. Heute muß man Europa und
den Euro offensichtlich vor den Deutschen schützen. So
schnell kann sich manches verändern.
Die Zinsen in Deutschland sind auch ohne den öffentlichen Druck der Bundesregierung - oder gerade
weil es keinen öffentlichen Druck der Bundesregierung
gegeben hat, weil es keine Bevormundung gegeben hat auf einem historischen Tief. Zu Recht hat deshalb der
Zentralbankrat in der letzten Woche Herrn Lafontaine
ohne Zinssenkung wieder nach Hause geschickt.
Die letzten Wochen haben überdeutlich gemacht, wer
in der neuen Bundesregierung der Koch und wer der
Kellner ist. Kellner ist Herr Schröder, Koch ist Herr Lafontaine, und Küchenchefin ist offensichtlich Christel
Müller.
({10})
- Das mag vielleicht sein, wenn es sich um Mittagessen,
Dessert, Frühstück und was weiß ich alles handelt. Aber
wenn es um die Währungspolitik unseres Landes geht,
muß man schon vorsichtiger sein. Frau Kollegin, ich bedanke mich hiermit für den Zwischenruf.
({11})
Wirtschaftsforschungsinstitute, Wirtschaftsverbände,
der Mittelstand und sogar Vertreter aus dem Gewerkschaftslager werten die Koalitionsvereinbarungen von
SPD und Grünen, soweit sie bekannt sind, als eine Katastrophe für den deutschen Arbeitsmarkt. Auch Herr Jost
Stollmann, den ich heute vermisse, hat sich in gleicher
Weise geäußert. Als ich das letzte Mal im Bundestag reden konnte - das war vor 4 Wochen im Wasserwerk -,
saß er zumindest noch auf der Zuschauertribüne. Heute
ist er nicht einmal mehr als Zuschauer gekommen. Auch
er spürt natürlich, daß die Neue Mitte ganz schön betrogen worden ist und daß er dabei unfreiwillig geholfen
hat.
Ich zitiere das „Handelsblatt“ vom 13. Oktober:
Was Rot-Grün verabredet hat . . . das atmet den alten
Geist der Steuerklempner: kleinere Veränderungen
bei den Steuersätzen, einige Korrekturen bei den
Steuervergünstigungen; Entlastungen mal hier,
Belastungen mal dort. Allein schon die Streckung
des Vorhabens über vier Jahre nimmt der Reform
jede Dynamik.
Aber was am schlimmsten ist, Herr Bundeskanzler:
Noch im Wahlkampf haben Sie die Neue Mitte heftig
umworben. Diese Neue Mitte, die wir auch für Investitionen in unserem Land brauchen, wird jetzt abkassiert
und fühlt sich getäuscht.
Die Gegenfinanzierung dieser Flickschusterei konzentriert sich überwiegend auf den Unternehmensbereich. Hieran werden möglicherweise auch die Nachbesserungen, die wir noch nicht kennen, nichts ändern. Ich
befürchte: Investitionen unterbleiben, Standorte der
Unternehmen werden ins Ausland verlagert. Ich nenne
ein paar Beispiele: Opel hat bereits angedroht, auf geplante Investitionen in Deutschland zu verzichten. Die
New Yorker Investment-Bank Goldman Sachs warnt
eindringlich vor Anlagen in Deutschland. Die „Wirtschaftswoche“ berichtet von konkreten Fluchtgedanken
der mittelständischen Wirtschaft.
Nun ein Wort zur geplanten Ökosteuer. Bereits heute
liegen die Energiekosten der deutschen Wirtschaft um
30 Prozent höher als in den USA. Trotzdem wollen Sie
Bürger und Unternehmen unter dem Deckmantel der
Ökologie mit einer dreistufigen Steuererhöhung bei
Benzin, Heizöl, Erdgas und Strom belasten. Ich zitiere
den Chef der IG Chemie, der unverdächtig ist, ein Mitglied der CSU zu sein. Herr Schmoldt sagt über die neue
Bundesregierung, „sie würde durch zusätzliche Steuern
und Steuererhöhungen die Qualität des Standortes
Deutschland nicht verbessern, sondern Arbeitsplätze gefährden . . . und Kaufkraft mindern.“
Deutlich negative Folgen für Arbeitsplätze hat auch
der von Rotgrün forcierte Ausstieg aus der Kernenergie.
({12})
Weil er die Fakten kennt, bitte ich den neuen Wirtschaftsminister Müller, der gegenwärtig im Plenum
durch seinen Staatssekretär vertreten wird, die Tatsache
zu bedenken, daß wir heute in Europa 216 Kernkraftwerke haben. Ausgerechnet die 19 sichersten sollen abgeschaltet werden. Der Strom, der in Deutschland verbraucht wird, käme nach wie vor aus Kernkraftwerken nur nicht mehr aus sicheren Kernkraftwerken. Er käme
aus der Tschechischen Republik, der Ukraine, der Slowakei oder Rußland. All diese Länder stehen für Stromlieferungen nach Deutschland bereit.
({13})
Was besonders schlimm ist: Deutschland würde auch
seinen weltweiten Spitzenplatz in der Sicherheitstechnologie aufgeben. Damit würden allein in der Kernkraftindustrie 40 000 Arbeitsplätze in Deutschland verlorengehen. Sehr qualifizierte und gutbezahlte Arbeitnehmer
würden davon betroffen sein.
Es ist illusorisch zu glauben, daß sich ein Drittel der
Stromerzeugung in Deutschland allein durch Energiesparen oder durch regenerative Energien ersetzen ließe.
Wenn wir als Ersatz zusätzliche Kohlekraftwerke bauen,
auch moderne Kohlekraftwerke mit hohem Wirkungsgrad, dann bedeutet dies trotzdem eine erhebliche Erhöhung der CO2-Belastung. Das halte ich umweltpolitisch
für fatal.
({14})
Herr Bundeskanzler, wo bleibt hier eigentlich Ihr
Vorbehalt für Arbeitsplätze? Ich habe in Ihrer Regierungserklärung nachgelesen - Sie haben das auch schon
einmal anderweitig gesagt; ich zitiere Sie -: Ich weiß,
daß es schwer ist, eine Technologie durchzusetzen, die
wenig Akzeptanz findet bzw. deren Akzeptanz so gefährdet ist wie die der Kernkraftindustrie. Aber man
muß sich natürlich fragen: Warum ist diese Akzeptanz
so gefährdet, und wer hat letztlich dazu beigetragen, die
Menschen auf diesem Gebiet zu verunsichern? Hier muß
man ein Stück weit Ursache und Wirkung mitbedenken.
Ich habe den Eindruck: Wer marktwirtschaftlich
denkt, dem bietet die Regierung Schröder wenig Platz.
Das zeigen die massenhaften Frühpensionierungen, die
jetzt in den Ministerien anstehen.
({15})
Gesichert sind dagegen Arbeitsplätze für Ideologen.
Wenn das die versprochene soziale Gerechtigkeit in
Deutschland ist, dann ist es hierum schlecht bestellt.
({16})
- Herr Kollege Stiegler, Sie brauchen keine Angst zu
haben, daß ich zu weinen anfange, obwohl mir an diesem Tag natürlich nicht sehr wohl zumute ist. Ich will
das gerne zugestehen.
Vorhin hat Herr Struck gesagt, wir hätten unsere Niederlage nicht verkraftet. Angesichts der Reden aber, die
ich heute gehört habe - das betrifft auch die Rede von
Herrn Struck -, kann ich nur sagen: Die SPD hat ihren
Sieg nicht verkraftet.
({17})
Was sagen Sie eigentlich zum Beispiel den Polizeibeamten oder den Studenten,
({18})
die von Ihrer Ökosteuererhöhung betroffen sind, von geringeren Sozialabgaben aber überhaupt nichts haben?
Was sagen Sie den Rentnern, denen Sie mehr Rente versprochen haben, die Sie jetzt aber mit höheren Stromund Heizungskosten zur Kasse bitten? Was sagen Sie
vor allen Dingen den vielen Pendlern im ländlichen
Raum, die tagtäglich auf das Auto angewiesen sind?
({19})
Was sagen Sie den Müttern auf dem Land, die in die
Stadt zum Einkaufen, zum Kindergarten oder zum Arzt
fahren?
({20})
- Da Sie einen Oberpfälzer Wahlkreis vertreten, sollten
Sie ganz besonders gut zuhören. Sie sind ja angeblich
der Interessenvertreter Bayerns mit einem Wächteramt
innerhalb der Koalition. Ich kann dazu nur sagen: Gute
Nacht, Bayern! Bayern hat in der Bundesregierung von
CDU/CSU und F.D.P. vier Minister und fünf Parlamentarische Staatssekretäre gestellt. Wir haben wichtigste
Funktionen wahrgenommen. Sie setzen sich hier als sogenannter Landesgruppenvertreter der SPD aus Bayern
hin und krakeelen dazwischen, um von Ihrer Niederlage,
die Sie im Rahmen der Regierungsbildung in bezug auf
Bayern erlitten haben, abzulenken.
({21})
Herr Bundeskanzler, was sagen Sie den kinderreichen
Familien? Diese haben Sie - wie bei Hänsel und Gretel
- massiv mit dem Zuckerbrot Kindergeld gelockt, und
jetzt - gefangen - kommt die Ökopeitsche. Der Familienbund hat vorgerechnet: Bereits bei einem Dreipersonenhaushalt mit einem Nettoeinkommen von 70 000
DM im Jahr sind die Belastungen höher als die Entlastungen.
Was sagen Sie der bäuerlichen Landwirtschaft? Das
ist ein Kapitel, das ganz besonders auch den süddeutschen Raum und Bayern angeht. Haben die Familien auf
den Höfen bei Rotgrün noch eine Zukunft?
({22})
Sie haben einen raschen Abschluß der Agenda 2000 angekündigt. Damit wird der Eindruck erweckt, die rotgrün geführte Bundesregierung unterstütze die Vorschläge der EU-Kommission. Ich würde das für fatal
halten. Ich kann dem neuen Landwirtschaftsminister
Funk unsere Unterstützung versprechen, falls er gegen
diese ungerechten Vorschläge ankämpft.
({23})
- Vielen Dank. Ich werde mich daran gewöhnen müssen. Wenn er hiergewesen wäre, wäre es mir vielleicht
eingefallen.
Herr Bundeskanzler, was haben Sie mit den Sparern,
den Häuslebauern und den Inhabern von Lebensversicherungen vor? Die Politik Ihres Finanzministers und
seiner Frau läuft offen auf mehr Inflation hinaus. Ein
Prozent mehr Inflation - dabei wird es nicht bleiben bedeutet einen Vermögensverlust der Sparer und derjenigen, die Lebensversicherungen haben, in Höhe von 50
Milliarden DM im Jahr.
Diese Politik gegen die Sparer ist unsozial. Sie geht
zu Lasten der Schwächeren, und sie benachteiligt die
kleinen Leute.
({24})
Wir wollen keine südamerikanischen Verhältnisse in
Deutschland und Europa. Die Inflationswellen dort haben immer nur den Besitzern von großen Sachwerten
und Grundstücksbesitzern geholfen und Arbeitnehmer
und Mittelstand verelenden lassen.
Auch bezüglich des Themas Föderalismus ist in der
rotgrünen Koalitionsvereinbarung von Gerechtigkeit
keine Spur. Das Koordinatensystem zwischen Bund und
Ländern soll mehr in Richtung Zentralismus und weniger in Richtung Föderalismus, in Richtung mehr Staat
und weniger Wettbewerb ausgerichtet werden.
({25})
- Stellen Sie Ihre Frage bitte laut! Dann kann ich sie beantworten.
({26})
- Wir kämpfen nicht das letzte Gefecht. Wir stehen am
Anfang eines Kampfes, an dessen Ende die Leute erkennen werden, daß Ihr Weg falsch ist.
({27})
Wir wollen größere, nicht kleinere Gestaltungsspielräume für die Bundesländer. Die Früchte größerer Anstrengungen einer Landesregierung müssen den Menschen in dem jeweiligen Bundesland zugute kommen.
Dadurch wird der Druck auf Nachahmung erzeugt.
({28})
Welche gewaltige Erblast der Herr Ministerpräsident
Lafontaine dem Herrn Finanzminister Lafontaine hinterläßt, weiß er selbst am besten.
({29})
Leider muß er als Finanzminister nicht persönlich die
Zeche zahlen. Das werden die deutschen Steuerzahler
tun müssen.
Wir fordern, daß es in diesem Bereich schneller geht.
Sie wollen eine Enquete-Kommission zur Neuordnung
des Finanzausgleiches einsetzen. Daß dies im Ergebnis,
wie angekündigt, auf das Jahr 2005 verschoben wird,
zeigt deutlich: Sie rechnen damit, daß dann die Union
schon lange wieder regiert und dieses Problem löst.
({30})
Statt die Länderverantwortung zu stärken, will die
Regierung Schröder offensichtlich entgegengesetzte
Wege gehen. Ein konkretes Beispiel: Wo bisher vorbildliche Krankenhäuser stehen, sollen die Beitragszahler vernachlässigte Krankenhäuser in den SPD-Ländern
mitfinanzieren. Das fördert nicht Effizienz und Sparsamkeit, sondern bestraft Länder mit eigenen Anstrengungen.
Wir brauchen nicht mehr Gleichmacherei. Wir brauchen mehr Wettbewerb. Ich sage es noch einmal: Wettbewerb schafft Höchstleistungen. Das gilt auch für den
Wettbewerb zwischen Bundesländern.
({31})
Lassen Sie mich noch ein anderes Kapitel ansprechen. Vorhin hat sich die Kollegin Müller damit gebrüstet, daß die Grünen in den Koalitionsverhandlungen
eine Privilegierung des Zusammenlebens vertreten haben, die der Privilegierung der Familie gleichkommt.
Wer das will, stellt die Wertentscheidung des Grundgesetzes für den Vorrang der Familie offen in Frage.
({32})
Die vorgesehene drastische Einschränkung des Ehegattensplittings ist nicht nur eine Frage des Geldes. Hier
geht es letztendlich an die Wurzeln von Ehe und Familie. Die Einführung eines Rechtsinstituts der eingetragenen Partnerschaft mit Rechten und Pflichten läuft auf
eine offene Entwertung der Familie hinaus. Die rotgrüne
Gesellschaftspolitik ist deswegen eine Politik gegen die
Familie, gegen Kinder. Deswegen wird die CSU eine
solche Politik kategorisch ablehnen.
({33})
Die deutsche Staatsbürgerschaft, Herr Fischer, ist
bislang ein Zeichen der Identifikation mit unserem Staat
und damit auch mit unserer Werteordnung. Davon will
man sich offensichtlich verabschieden. Staatsangehörigkeit soll künftig nur noch eine Frage von Wartezeit
oder Geburtsort sein. Das führt nicht zu einer besseren
Integration. Ich befürchte, daß wird eher zu einer Spaltung unserer Gesellschaft führen.
Wir sind der Meinung: Staatsangehörigkeit darf man
nicht verschenken. Staatsangehörigkeit muß man sich
auch ein Stück weit innerlich erwerben. Es ist nicht damit getan, jedem Ausländer einen deutschen Paß in die
Tasche zu schieben. Wer Deutscher werden will, muß
sich zuvor integrieren.
({34})
Das bedeutet die Beherrschung der deutschen Sprache
sowie den Willen, sich in die Gemeinschaft unseres
deutschen Volkes einzufügen und auch ein Stück weit
unsere Lebensformen zu übernehmen. Die Staatsbürgerschaft kann immer erst am Ende eines erfolgreichen Integrationsprozesses stehen und nicht an dessen Anfang.
({35})
Wir wollen, daß Deutschland ein ausländerfreundliches Land bleibt. Das erreicht man nicht durch die generelle Gewährung eines Privilegs wie der doppelten
Staatsbürgerschaft. Damit droht man das tolerante Zusammenleben in Gefahr zu bringen. Es entsteht eine gefährliche Sogwirkung auch für verstärkte Zuwanderungen aus anderen Kulturkreisen, und damit sind neue
Probleme nicht nur für den Arbeitsmarkt verbunden.
Geteilte Loyalitäten - das ist ja die Crux bei der doppelten Staatsbürgerschaft - führen nicht zu besserer
Integration. Deshalb warnen wir vor diesem Weg, und
deswegen werden wir alles tun, um diesen falschen Weg
zu verhindern - genau wie wir dagegen ankämpfen, daß
man in Deutschland lebenden nichtdeutschen Staatsangehörigen uneingeschränkt das kommunale Wahlrecht
verleihen will. Staatsangehörigkeit und Wahlrecht müssen nach unserer Auffassung eine Einheit bleiben - genauso wie Rechte und Pflichten auch künftig zusammengehören.
({36})
Über die Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung
ist heute schon gesprochen worden. Wir sind der Meinung, daß wir hier bei den bewährten Wegen bleiben
sollten. Es darf nicht zu einer sogenannten bürokratiearmen Bestrafung von Alltagskriminalität kommen, wie
das Ganze verharmlosend genannt wird. Wer Ladendiebstahl mit Falschparken gleichsetzt, der macht Kriminalität kalkulierbar, und dagegen kämpfen wir an.
({37})
Wir kämpfen auch gegen die in der Koalitionsvereinbarung enthaltene Absicht, die Abgabe von Heroin an
Süchtige in Zukunft zu ermöglichen. Man will damit
Rechtssicherheit für Drogenhilfestellen erreichen. Eine
solche Politik verharmlost mehr und löst keine Probleme.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die „Süddeutsche Zeitung“ belegt das rotgrüne Regierungsprogramm mit dem Ausdruck „Ausflug nach Utopia“. Diese
Regierung will gesellschaftliche Veränderungen in
Deutschland - von der Drogenpolitik bis zur Familienpolitik, von der Sicherheitspolitik bis zur Steuerpolitik,
von der Ausländerpolitik bis zu einer Schwächung des
Föderalismus. Das, was Sie angekündigt haben, ist keine
neue Politik. Das ist höchstens der Marsch in eine andere Republik. Diesem Marsch werden CDU und CSU ihren entschiedenen Widerstand entgegensetzen.
Vielen Dank.
({38})
Das Wort hat der
Bundesaußenminister Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten
Sie mir, mit einer allgemeinpolitischen Bemerkung zu
beginnen. Mich erinnert vieles, was ich von Ihrer Seite
gehört habe, namentlich dieser hervorragende Beitrag
vom Kollegen Glos,
({0})
aber auch das, was ich heute vom Kollegen Schäuble
gehört habe, sehr stark an das Jahr 1983. Da kann ich
Ihnen nur sagen: Das wird lange dauern, wenn Sie Oppositionspolitik so weitermachen, wenn Sie meinen, der
Wahlkampf sei noch nicht zu Ende.
({1})
Wenn Sie das meinen, erwidere ich: Das können Sie ruhig machen. Uns soll es recht sein. Ich kann Ihnen nur
sagen: Das wird lange dauern.
Der Wahlkampf ist zu Ende, und Sie müssen sich
Klarheit darüber verschaffen, warum Sie nach nur
14 Tagen, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder
gewählt wurde und in denen diese Regierung im Amt
ist, meinen, diese Welt müßte schon verändert sein, was
Sie aber gleichzeitig beklagen. Sie sollten vor allen Dingen eines nicht tun: die Augen vor den Ursachen des
großen Vertrauensverlustes, den Sie erlitten haben und
der die Ursache Ihrer Niederlage ist, verschließen.
({2})
Ich kann nur sagen: Machen Sie weiter so!
Ich möchte zur deutschen Außenpolitik, zur Außenpolitik der Bundesregierung sprechen. Dabei ist es ganz
besonders wichtig, festzustellen, daß angesichts der Daten, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben - gestern
haben wir den Jahrestag der Reichspogromnacht begangen; es ist zugleich auch der Jahrestag des Falls der
Mauer; das Ende des ersten Weltkriegs jährt sich jetzt
zum 80. Mal; mit diesem Datum verbinden sich das
Furchtbare, das Schreckliche, auch das Schöne, das
Großartige in unserer Geschichte -, weiterhin gilt: Auch
wenn es jetzt durch den Ablauf Zeit und den Regierungswechsel einen Wechsel hin zu einer jüngeren Generation gegeben hat, die nicht mehr unmittelbar mit der
Nazi-Barbarei und dem zweiten Weltkrieg zu tun hatte,
wird unser Land, Deutschland, auch in Zukunft immer
mit anderen Augen gesehen als andere Länder. Das liegt
an unserer Geschichte.
Es liegt an der Lage, an der Geschichte, an dem Potential unseres Landes, weshalb es so wichtig ist, daß
man zu Beginn - und dann auch in der praktischen Politik - einer neuen Regierung die Kontinuität der
Grundlagen und die Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik betont.
({3})
Ich möchte dies ganz besonders tun, weil uns die Macht
der kollektiven Erinnerung in Europa in dem Moment,
in dem wir das Flackern eines Zweifels aufkommen ließen, sofort einholen würde. Wir konnten im Zusammenhang mit dem Raubgold gemeinsam erleben, wie diese
Erinnerungen auch in Ländern zurückgekommen sind, in
denen man geglaubt hatte, daß dies nicht möglich sei.
Kontinuität in den Grundlagen schließt ja nicht aus,
daß die konkreten Akzentuierungen anders als bisher
sind. Die Berechenbarkeit der Grundlagen deutscher
Außenpolitik aber ist ein sehr, sehr hohes Gut, das wir
von der Bonner Republik in die Berliner Republik nicht
nur mitnehmen sollten, sondern mitnehmen müssen. Es
ist insofern sehr wichtig, nochmals daran zu erinnern,
daß wir an einer Politik der Selbstbeschränkung festhalten müssen.
Europa ist für uns die entscheidende Frage. Auf diesem Feld geht es nicht darum, was wir anders machen;
hier wird es darum gehen, weitere Bauabschnitte dieses
Hauses Europa zu vollenden. Ich behaupte, das ist die
wichtigste Herausforderung, der wir uns im Widerstreit
der Parteien gemeinsam zu stellen haben. Dabei hat es,
Kollege Glos, überhaupt nichts mit einem „vergifteten
Lob“ zu tun, wenn wir, bei allen parteipolitischen Unterschieden, bei aller Kritik, die es geben mußte, sagen damit vergeben wir uns überhaupt nichts -: Dort, wo
Helmut Kohl in der Europapolitik aufgehört hat, beim
europäischen Integrationsprozeß, wird die neue Bundesregierung weitermachen müssen. Sie wird die Aufgaben
lösen müssen, die offengeblieben sind.
({4})
- Es sind große Schuhe; deswegen passen sie Ihnen garantiert nicht, Herr Haussmann.
({5})
Dort, wo die alte Regierung in wesentlichen Punkten
des Integrationswerkes nicht zu Ende gekommen ist,
werden wir, weil es in zentralem Interesse unseres Landes liegt, bei allen Unterschieden in den Akzenten, bei
aller Kritik fortfahren müssen. Ich vergebe mir überhaupt nichts, wenn ich Ihnen, Herr Altbundeskanzler,
und Ihnen, als ehemaliger Bundesaußenminister, Herr
Kinkel, für das Geleistete im Interesse unseres Landes
danke. Mit einem vergifteten Lob hat das überhaupt
nichts zu tun.
({6})
Vertrauenskapital zu erwerben ist die Voraussetzung
dafür, daß wir die notwendigen Spielräume für die Neugestaltung bekommen. Für uns ist Selbstbeschränkung
geboten; Europa, das transatlantische Bündnis, die feste
Integration in den Westen und das auf Grund unserer
Geschichte besondere Verhältnis zu Israel sind die Felder, in denen wir Kontinuität beweisen wollen.
({7})
Die praktischen Probleme, vor denen wir heute stehen, ergeben sich aus dem europäischen Einigungsprozeß. In der Vergangenheit, als die Rollen noch anders
verteilt waren, gab es in der Frage der Europapolitik ein
hohes Maß an Übereinstimmung. Ich würde mich freuen, wenn es dieses hohe Maß an Übereinstimmung auch
in Zukunft, in neuer Konstellation, geben könnte.
Wir waren uns einig, daß Vertiefung und Erweiterung gleichermaßen wichtig sind. Vertiefung bedeutete
die Entscheidung für die Wirtschafts- und Währungsunion, für den Euro, der zum 1. Januar des nächsten Jahres praktisch wird. Der nächste Schritt, den wir gehen
müssen, wird die Erweiterung sein. So sehr ich für Realismus plädiere, weil wir jetzt in eine Phase eintreten, in
der Visionen konkretisiert werden müssen, will ich klarstellen: Realismus bedeutet für mich nicht eine Abkehr
von der Vision, sondern eine bauliche Umsetzung dieser
Vision.
Wir haben gestern auf dem Außenministertreffen in
Brüssel mit der konkreten Erweiterung begonnen. Es
geht jetzt nicht mehr um abstrakte Zahlen, es geht jetzt
nicht mehr um eine Vision; es geht jetzt um hartes Brot,
das geschnitten und gekaut werden muß. Es geht um die
wirtschaftliche Integration und die Frage der Übernahme
geltenden Rechtes. Es geht um die Frage der Anpassung
von Strukturen. All diese Dinge müssen jetzt realistisch
gesehen werden.
({8})
Meine Damen und Herren, genauso bestimmt sage
ich aber - da sind wir uns völlig einig -: Die Vision, die
dahintersteckt, gilt, nämlich daß die Grenze - der Bundeskanzler hat es heute morgen in seiner Regierungserklärung betont -, daß der Eiserne Vorhang, daß die Ostgrenze Deutschlands nicht die Grenze der EU bleiben
darf.
({9})
Das vereinigte Europa ist ein gesamteuropäisches und
nicht nur ein westeuropäisches Projekt. Deswegen bleiben wir diesem Einigungswerk verpflichtet.
({10})
Die deutsch-französische Freundschaft hat in letzter
Zeit, ich will nicht sagen, Schaden genommen; aber angesichts bestimmter Töne und auch angesichts einer bestimmten Politik im Zusammenhang mit dem Euro Stabilitätspakt I, Stabilitätspakt II, „Der Euro spricht
deutsch“ - wurden selbst die Dinge, die hier gemeinsam
getragen wurden, mit einer gewissen nationalen Arroganz rübergebracht, und zwar so, daß sie in Paris nur
negativ aufgenommen werden konnten.
({11})
Das deutsch-französische Verhältnis ist aus meiner
Sicht für die Fortentwicklung Europas ohne Alternative.
Das Verhältnis von Deutschland und Frankreich hat gerade in seiner Widersprüchlichkeit Großes für Europa
gebracht. Wenn wir an der Vollendung des europäischen Integrationsprozesses festhalten wollen, müssen
wir auf die Erneuerung des deutsch-französischen Verhältnisses setzen. Ich sage nochmals: Es ist ohne Alternative.
({12})
Aber genauso freue ich mich natürlich, wenn ich
heute mitbekomme, daß die Regierung Blair in Großbritannien entscheidende Schritte hin zur europäischen
Integration macht. Ich kann dies nur nachdrücklich begrüßen, warne aber davor, in Kategorien des 19. Jahrhunderts zurückzufallen: mit Achsen, mit Dreiecken und
ähnlichem mehr.
({13})
Die deutsch-französische Freundschaft, dieser zentrale
Motor des europäischen Integrationsprozesses, schließt
niemanden aus und richtet sich gegen niemanden. Wenn
Großbritannien eine verstärkte europäische Rolle sucht,
dann sollten wir es erfreut aufnehmen und daraus nicht
eine Abgrenzung gegen irgend jemanden machen.
({14})
Je mehr sich am europäischen Einigungswerk aktiv beteiligen, je stärker dieser Motor der europäischen Einigung wird, desto besser. In diesem Sinne freue ich mich,
freuen wir uns sehr, daß es zu verbesserten deutschbritischen Beziehungen, zu einer verstärkten Beteiligung
Großbritanniens am europäischen Einigungsprozeß
kommt.
({15})
- Wissen Sie, Herr Kollege Schäuble, ich verstehe ja die
Not eines Oppositionspolitikers, dem Bundeskanzler
vorzuwerfen, jedesmal, wenn es um den Inhalt gehe,
würde er kneifen, während Sie selbst hier im Grunde
genommen in Ihren Zetteln nur versucht haben, kleine
oppositionelle Münze daraus zu schlagen, und dann zu
fragen, wo der Unterschied sei, als wir zu Beginn dieser
Debatte versucht haben, die Kontinuitäten festzulegen,
weil das im Ausland sehr aufmerksam verfolgt wird.
- In der Europapolitik müssen und wollen wir das vollenden, was begonnen wurde. Ich würde mich freuen,
wenn auch bei der Umsetzung der Agenda 2000 - ich
habe sehr sorgfältig zugehört, was Herr Glos hier im
Gegensatz zu Ihnen angeblich im Interesse der bayerischen Bauern verkündet hat - diese oppositionelle Leidenschaft in der gemeinsamen inhaltlichen Kontinuität
bei Ihnen erkennbar würde.
({16})
Das werden Sie schon in den nächsten Monaten zeigen
müssen.
Für uns wird es ganz entscheidend sein, daß die Frage
der Finanzstruktur des kommenden größeren Europas
jetzt gelöst wird. Es wird unendlich schwierig. Die ersten Gespräche in Brüssel haben gezeigt, daß alle Länder ihre jeweiligen nationalen Interessen vertreten.
({17})
- Das Neue ist, daß Sie in der Opposition sind. Das ist
für mich sehr wichtig.
({18})
Der entscheidende Punkt ist, daß wir unter deutscher
Präsidentschaft den Agenda-2000-Prozeß werden abschließen müssen. Das werden wir nur hinbekommen,
wenn wir auf der Grundlage dessen, was vorliegt, einen
entsprechenden Einigungsprozeß schaffen, der bedeuten
wird, daß alle Länder bereit sind, sich zu bewegen, und
nicht nur ihre nationalen Egoismen vertreten.
({19})
Ohne einen erfolgreichen Abschluß des Agendaprozesses werden wir, so fürchte ich, bei der Erweiterung sehr
große Probleme bekommen.
Es geht nicht um abstrakte Beitrittsdaten. Es geht
auch nicht darum, daß Herr Haussmann, der hier verzweifelt versucht, einen oppositionellen Unterschied
hinzubekommen, in „dpa“ meldet: Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer fehlten in der Europapolitik Visionen. Zögerer und Zauderer
gebe es in den EU-Partnerstaaten schon genug. - Wie
arrogant, Herr Haussmann, bei den anderen von Zögerern und Zauderern zu sprechen!
Weiter sagt er, es wäre ein Fehler, daß wir - im Gegensatz zu dem Jahre 2000, das Bundeskanzler Helmut
Kohl genannt hatte - kein konkretes Datum bei der EUOsterweiterung nennen würden. Nun, Herr Haussmann,
das ist ein schöner Eiertanz;
({20})
denn er sagte hier folgendes: Die Äußerung des früheren
Kanzlers Helmut Kohl, der Beitritt Polens sei im Jahre
2000 möglich, sei vielleicht überstürzt gewesen. Jetzt
kommt Herr Haussmann mit der Zahl 2002. Das ist genauso unseriös wie die Zahl 2000.
Jetzt beginnt der Verhandlungsprozeß. Wir wollen,
daß er so schnell wie möglich erfolgreich ist. Aber ich
halte es für eine fahrlässige Politik, Zahlen, die nicht zu
halten sind und vor allen Dingen nicht begründet sind,
jetzt in den Raum zu stellen. Lassen Sie uns bei den
Verhandlungen erfolgreich zu einem Abschluß kommen.
Dabei geht es nicht um das Jahr 2000 oder 2002. Wenn
wir das Jahr 2002 erreichen, dann bin ich mehr als froh.
({21})
Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang
ansprechen möchte, ist das Verhältnis zur Türkei. Ich
sehe einen großen Fehler darin, den Türken die Tür vor
der Nase so zugeschlagen zu haben, wie es die Vorgänger-Bundesregierung getan hat.
({22})
Ich habe es nie verstanden, warum Bundeskanzler Kohl
das getan hat. Ich konnte diesen Fehler nur von der
innenpolitischen Situation des Vorwahlkampfes her begreifen. Es war ein großer Fehler.
Die Europäische Union ist unserer Meinung nach
keine Religionsgemeinschaft. Sie gründet sich auf Werte
und Interessen.
({23})
Die Türkei muß, wenn sie zu Europa gehören will, die
Möglichkeit haben, zu Europa zu gehören, und muß den
Weg des Beitritts haben. Aber genauso klar muß natürlich sein: Wir sind eine Werte- und Interessengemeinschaft. Das heißt, es bedarf dann auch für alle Beitrittskandidaten der Umsetzung dieser Werte, bevor beigetreten werden kann.
Daher wird es im wesentlichen von der Türkei, von
der inneren Entwicklung, von der Lösung der inneren
Menschenrechts-, Demokratie- und Minderheitenfragen,
der ökonomischen, aber auch der äußeren Grenzfragen
abhängen, daß es zu diesem Beitritt kommt. Aber wir
werden diese Tür nicht verschließen. Im Gegenteil: Wir
halten diese Tür offen. Hier gibt es einen klaren Unterschied.
({24})
Wir stehen vor einer schwierigen Situation. Wir werden bei Gelegenheit in eine detaillierte Debatte über die
Agenda 2000 einsteigen, auch im Ausschuß. Ich möchte
das in der Kürze der Zeit nicht vertiefen.
({25})
- Das ist Opposition vom Feinsten, aber bitte, ihr habt
viele, viele Jahre Zeit, das zu lernen.
({26})
Lassen Sie mich in aller gebotenen Kürze - das werden wir ebenfalls noch zu diskutieren haben - auf die
aktuelle Situation im Kosovo eingehen. Herr Kollege
Gysi, ich bin nun weiß Gott nicht derjenige gewesen, der
eine Bindung an das UN-Sicherheitsratsmandat aufgeben will.
({27})
Aber wir können anderrseits die Fakten nicht ignorieren.
Ich weiß von Ihnen, daß Sie nicht nur Jurist sind, sondern die Dinge durchaus auch politisch sehen können.
Ich spreche von der Vereinbarung von Holbrooke und
Milosevic. Man kann das eine nicht gut finden und das
andere kritisieren. Das wird in der Politik so nicht funktionieren.
({28})
Die zivile Implementierung wird der entscheidende
Punkt. Die nichtmilitärische Luftraumüberwachung ist
dafür die Voraussetzung. Wir - der Kollege Scharping
und ich ganz persönlich, die Bundesregierung und auch
der Kollege Schily - schicken jeweils 80 zivile Monitoren dort hinunter. Das sind Menschen, die das auf der
OSZE-Grundlage überwachen. Kollege Schily schickt
40 mit polizeilichen Aufgaben Betraute. Dies sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unbewaffnet in einer
Krisenregion eingesetzt werden. Für den Fall, daß es für
zivile, unbewaffnete Mitarbeiter zu einer lebensbedrohlichen Situation kommt, muß man dann aber auch die
Möglichkeit schaffen, und wir müssen ihnen die
Letztversicherung geben, alles Menschenmögliche zu
tun, um sie herauszuholen und sie nicht zu Geiseln machen zu lassen. Hierbei geht es nicht um die militärische
Durchsetzung, nicht um die militärische Begleitung des
Implementierungsprozesses. Dies wäre ein völliger Irrtum. Vielmehr geht es um lebensbedrohliche Situationen
für die zivilen, unbewaffneten Mitarbeiter und um die
Sorge für diese Menschen.
({29})
Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit, sozusagen
eine polizeiliche Letztversicherung. Wenn man sich
einmal die Aufgabenstruktur anschaut, so hat das nur
sehr bedingt etwas mit Militär zu tun.
Ich kann sagen: Ich bin heilfroh, daß der HolbrookeMilosevic-Vertrag - die Berichte zeigen es - funktioniert hat. Herr Gysi, ich bitte auch Sie, die richtigen Argumente, die ich ja gar nicht so abwegig finde, was die
Rechtsstandpunkte betrifft, in die Realität einzupassen
und einmal darüber nachzudenken. Eine Alternative zum
Holbrooke-Milosevic-Vertrag gab es nicht, außer Krieg
und Leid und Tod. Er hat Gott sei Dank funktioniert. Ich
weiß nicht, wie wir diskutieren würden, wenn er nicht
funktioniert hätte, und es wäre dort zum Einsatz gekommen. Aber entscheidend ist doch, daß wir uns jetzt
in einer klassischen Peace-keeping-Situation befinden,
mit der OSZE, die dort erstmals in einer historisch
neuen Dimension zum Einsatz kommt. Das finde ich gut
und richtig. Voraussetzung dafür war allerdings dieser
Vertrag, und Voraussetzung ist der begrenzte Einsatz
militärischer Mittel, unter anderem nichtbewaffneter
militärischer Luftraumüberwachung. Aber das alles wird
nur funktionieren können, wenn die zivile Implementierung eines Autonomie-Statuts gelingt, wenn es freie
Wahlen gibt, wenn es gelingt, eine entsprechend demokratisch legitimierte Autorität auf kosovo-albanischer
Seite zu schaffen.
Das sind meines Erachtens die Dinge, über die Sie
noch einmal ernsthaft nachdenken sollten. So wichtig
Rechtsstandpunkte sind - Kriegsverhütung und Kriegsverhinderung in Europa können nicht alleine unter dem
Gesichtspunkt von Rechtsstandpunkten gesehen werden.
Darüber, finde ich, sollten wir noch einmal ernsthaft
nachdenken.
({30})
Meine Damen und Herren, das Verhältnis zu Rußland bleibt von ganz entscheidender Bedeutung. Allerdings werden wir es auf eine breitere Grundlage stellen
müssen. Das ist völlig klar. Die Frage, die man sich auch
stellen muß - ich meine das gar nicht kritisch gegenüber
der alten Regierung -, die Frage, die sich der Westen
insgesamt stellen muß, lautet, ob man nicht einen Fehler
dergestalt gemacht hat, daß man meinte, man könne dort
Marktwirtschaft einführen, wo die kulturellen Voraussetzungen dafür nur rudimentär oder gar nicht vorhanden sind. Die Frage lautet also, ob man nicht zu schnell
zu viel wollte. - Ich meine gar nicht die VorgängerBundesregierung. Ich beziehe das sozusagen eher auf
einen bedeutenden Bündnispartner. Dort meinte man
auch, marktwirtschaftliche Theorien sehr schnell implementieren zu können, obwohl es kaum einen kulturellen Background gegeben hat, obwohl die gesellschaftliche Grundlage nicht vorhanden war.
Ich sehe zur Stabilisierung der Verhältnisse in Rußland, auch zur ökonomischen Stabilisierung gemeinsam
mit unseren Partnern, keine Alternative; denn wir können uns eine Versorgungskrise in Rußland nicht erlauben, und wir können uns auch eine entscheidende politische Destabilisierung Rußlands nicht erlauben. Deshalb
wissen wir uns einem internationalen Stabilisierungsprozeß verpflichtet, der auf Wirtschaftsreform und vor
allen Dingen auf Demokratie setzt. Auch das ist ein
wichtiger Punkt, dem wir uns in der Zukunft verpflichtet
wissen, meine Damen und Herren.
({31})
Die Fortsetzung der transatlantischen Partnerschaft
werden wir bei Gelegenheit diskutieren können. Meine
Zeit ist sehr begrenzt. Lassen Sie mich deswegen noch
zwei andere wichtige Punkte ansprechen.
({32})
- Es ist ein wichtiger Punkt, Herr Haussmann. Wir reden
bei Gelegenheit darüber.
Der entscheidende Punkt sind die Menschenrechte.
Da, finde ich, müssen wir einen neuen Schwerpunkt setzen. Die Asien-Krise hat gezeigt, daß Menschenrechte
unter den Bedingungen der Globalisierung neu zu deklinieren sind. Das hat auch Bosnien gezeigt. Die Einrichtung des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag sehe
ich als einen historischen Schritt nach vorne an, dem wir
uns als Parlament und Regierung verpflichtet zeigen
sollten.
({33})
Gestatten Sie mir ein offenes Wort. Daß Diktatoren
nicht über dem Recht stehen, sondern daß sie sich, selbst
wenn viele Jahre vergangen sind, in einem Rechtsstaat
vor dem Recht verantworten müssen, finde ich gut und
wichtig.
({34})
Zu der Tatsache, daß eine unabhängige Justiz in Spanien
einen internationalen Haftbefehl ausgestellt hat und daß
eine unabhängige Justiz in unserem Partnerland Großbritannien den Arrest für Pinochet verfügt hat, möchte
ich Ihnen sagen: Das erfüllt mich mit Genugtuung, und
das ist mehr als ein Symbol. Es zeigt nämlich, wohin die
Entwicklung in dieser Welt im 21. Jahrhundert zu gehen
hat.
({35})
Deswegen wollen wir hier einen neuen Schwerpunkt
setzen. Wir wissen uns den Menschenrechten verpflichtet. Die Asienkrise hat es gezeigt: Nur dort, wo demokratische Verfassung Realität ist, wo es Gewaltenteilung
gibt, wo es Regierungswechsel gibt, wo es eine unabhängige, kritische Opposition gibt, wo es eine unabhängige, kritische Presse gibt, wo Menschenrechts- und wo
Umweltgruppen arbeiten können, ohne von Gefängnis
und Geheimpolizei bedroht zu werden, gibt es auch sichere Investitionen. So sehr ich von der Notwendigkeit
privater Investitionen überzeugt bin, um diese Schwellenländer und die dritte Welt zu entwickeln, so sehr
müssen wir dann aber auch in Zukunft auf den Gleichklang von nachhaltiger Entwicklung, von Demokratie,
von Menschenrechten, von Umwelterhaltung und von
Investitionssicherheit setzen. Hier werden wir einen
neuen Schwerpunkt auch während unserer G-8Präsidentschaft setzen.
({36})
Herr
Minister, bitte beachten Sie die Zeit.
Ich komme zum Schluß. - Ein letzter Punkt, der die
Krise in Mittelamerika betrifft: Wir alle sind entschlossen, den von der Naturkatastrophe betroffenen Ländern
zu helfen, nicht nur bei der unmittelbaren Krisenbewältigung, sondern auch beim Wiederaufbau und darüber
hinaus. Diese Länder sind durch die totale Vernichtung
der Ernten, von denen sie ökonomisch abhängen, faktisch auf die ökonomische Nullinie zurückgeworfen
worden. Das heißt: Faktisch gehören sie mit zu den ärmsten Ländern der Erde. Daß wir uns hier nicht nur beim
Wiederaufbau großzügig erweisen, sondern auch bei der
Schuldenstreichung, hat die Bundesregierung klargemacht.
({0})
Ich möchte diesbezüglich aber noch auf einen anderen Zusammenhang zu sprechen kommen.
Herr Fischer, Sie sind fünf Minuten über die Zeit.
Wenn wir - ich komme zum letzten Satz - den Klimaschutz und die nachhaltige Entwicklung nicht ernster
nehmen als bisher - der Kollege Trittin ist bei der internationalen Klimakonferenz in Buenos Aires, falls Sie
ihn vermissen sollten,
({0})
nicht bei irgendwelchen Konspirationen, Herr Glos -,
({1})
dann werden wir allerdings mit einer größeren Häufigkeit solcher katastrophalen Entwicklungen zu tun haben.
Deswegen sehen wir hier, in der Umweltaußenpolitik,
gemeinsam mit den anderen Ressorts - mit Frau
Wieczorek-Zeul und mit Herrn Trittin - in der Bundesregierung einen zusätzlichen Schwerpunkt, den wir auch
in der klassischen Außenpolitik umsetzen müssen. Das
ist Außenpolitik, die sich an den Zielen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in einer globalisierten, in
der einen Welt orientiert. Daran wollen wir mit Ihrer
Hilfe arbeiten.
({2})
Das
Wort hat der Bundesminister Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Antrag der Bundesregierung dient der Verwirklichung
und der Überwachung eines Abkommens, von dem der
Kollege Fischer schon gesprochen hat. Aber ich will zunächst sagen, daß die Entscheidung des Deutschen Bundestages in einer schwierigen Übergangssituation dazu
beigetragen hat - ich bitte das nicht geringzuschätzen -,
daß 50 000 Menschen aus den Wäldern in ihre Dörfer
zurückkehren konnten, daß 50 000 Menschen der unmittelbaren Bedrohung durch Hunger, Seuchen, Krankheiten und Schlimmeres entkommen konnten, und daß
das entschlossene Handeln der internationalen Staatengemeinschaft dazu geführt hat, daß zunächst einmal ein
Zustand - mit einigen Ausnahmen und Unsicherheiten,
die nach wie vor da sind - erreicht wurde, in dem die direkte Bedrohung durch Mord, Vertreibung und Tod für
viele tausend Menschen verhindert worden ist. Wer das
geringschätzt, hat keine Ahnung von dem, was wir international an Verantwortung zu tragen haben.
({0})
Auf der Grundlage des Abkommens geschehen mehrere Dinge. Das eine ist Gegenstand des Antrages der
Bundesregierung, nämlich die Luftüberwachung entsprechend dem Abkommen und der Resolution 1203 der
Vereinten Nationen sicherzustellen. Das dient nicht nur
dazu, das Abkommen zu sichern und seine Überwachung zu gewährleisten, sondern dient auch dem Schutz
derjenigen, die im Auftrag der OSZE und im Interesse
der Stärkung der OSZE eine zivile, nichtmilitärische
Überwachung dieses Abkommens am Boden gewährleisten sollen.
Vermutlich kommt in der nächsten Woche - das
hängt aber von den weiteren Diskussionen innerhalb der
NATO ab - noch eine weitere Entscheidung auf die
Bundesregierung und den Deutschen Bundestag zu,
nämlich eine entsprechende Vorsorge für den nicht gewünschten, aber auch nicht ausschließbaren Notfall zu
treffen. Wer das alles im Zusammenhang mit militärischer Intervention betrachtet, der argumentiert in meinen
Augen unverantwortlich und närrisch.
({1})
Wir wollen eine Stärkung der OSZE erreichen. Das bedeutet aber, 2 000 Menschen in ein immer noch mit
Scharmützeln, mit Schwierigkeiten und mit Schußwechseln belastetes Gebiet zu schicken, also in eine Situation,
die nicht gesichert ist. Es wäre ganz und gar unverantwortlich für die Glaubwürdigkeit der OSZE und - was
viel schlimmer ist - ganz und gar unverantwortlich für
die Sicherheit dieser 2 000 Menschen, wenn wir sie in
eine Lage bringen würden wie UNPROFOR 1995 in
Bosnien-Herzegowina. Das darf man nicht tun.
({2})
Deshalb dienen alle diese Entscheidungen dazu, eine
friedliche Entwicklung in diesem Teil des Balkans zu
ermöglichen. Der Antrag der Bundesregierung ist Ausdruck von Verläßlichkeit, von Berechenbarkeit und von
Kontinuität in den Grundlagen deutscher Außenpolitik. Er ist Ausdruck dafür, daß wir uns im Rahmen der
internationalen Staatengemeinschaft in Europa und im
Bündnis der NATO bewegen, unsere Verantwortung
wahrnehmen und unseren Teil zur friedlichen Entwicklung beitragen.
Dieses Bündnis hat uns in Deutschland - zunächst im
Westen und dann bei der deutschen Einheit - ungeheuer
viel geholfen. Es hat uns Freiheit, es hat uns Frieden,
und es hat uns am Ende die Einbindung in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien ermöglicht.
({3})
Das macht das Verdienst dieser Integration überdeutlich.
Angesichts veränderter und neuer Herausforderungen
für unsere Sicherheit und für die unseres Kontinents, für
die Sicherheit Deutschlands und für die Sicherheit Europas müssen wir uns allerdings auch auf neue Entwicklungen einstellen. Die Entscheidungen, die wir im Zusammenhang mit Bosnien-Herzegowina getroffen haben
und jetzt - hoffentlich einmütig - im Zusammenhang
mit dem Kosovo treffen werden, sind ein Hinweis darauf, welche veränderten Herausforderungen auf uns zukommen. Die Sicherheit unseres Landes und die Sicherheit unseres Kontinents sind nicht voneinander zu trennen - im Gegenteil: Sie bedingen sich gegenseitig. Mit
wachsender Verflechtung, mit wachsender Integration
wächst auch unsere Verantwortung. Deshalb ist
Deutschland engagiert und wird es bleiben.
Ich will Ihnen das mit einigen wenigen Hinweisen
noch erläutern. In Bosnien-Herzegowina sind zur Zeit
Angehörige der Bundeswehr regelmäßig in der Stärke
von etwa 2 000 Mann und vorübergehend sogar - im
Zuge des Übergangs in eine neue Aufteilung und Stationierung der entsprechenden Gruppenteile - in der Stärke
von etwa 2 600 Mann im Einsatz. Mit den 200 nichtmilitärischen, zivilen Beobachtern, die wir als Teil dieser 2 000 Mann starken Beobachtermission stellen,
wächst unsere Verantwortung und unser Anteil im Handeln der internationalen Staatengemeinschaft. Wenn der
Deutsche Bundestag - wie ich hoffe - am Freitag die
Entscheidung getroffen haben wird, daß wir uns auch an
der Luftüberwachung eines verbindlichen Abkommens
und der darauf fußenden, darauf Bezug nehmenden Resolution des Weltsicherheitsrates beteiligen, wird unsere
Beteiligung noch einmal um 350 Personen zunehmen.
Ich will Ihnen heute schon sagen, daß zur Vorsorge
vor einem nicht gewünschten, aber nicht ausschließbaren Notfall wahrscheinlich noch einmal eine deutsche
Beteiligung - etwa in Kompaniestärke - erforderlich
wird. Das ist alles andere als eine militärische Intervention. Was die Soldaten - unsere wie die der anderen
Länder - dort tun, ist: Sie sichern Gewaltfreiheit, sie
unterstützen den zivilen Aufbau - zum Beispiel dadurch,
daß sie mit einer Beratertätigkeit helfen, das Ergebnis
der Wahlen zu implementieren und die Konstituierung
von Parlamenten und lokalen Autoritäten voranzubringen -, sie helfen bei der Rückkehr von Flüchtlingen,
zum Beispiel in einer sehr ausgeprägten zivil-militärischen Kooperation, indem sie Häuser wiederherrichten, Infrastruktur wiederherrichten und den Flüchtlingen
die Rückkehr überhaupt erst ermöglichen, und sie ergänzen nicht zuletzt die Arbeit der zivilen Hilfsorganisationen, von denen ich hier nur stellvertretend für alle
anderen die Organisation „Schüler helfen leben“ nenne.
({4})
An diesem SFOR-Einsatz, der zugleich auch gewisse
Belastungen hier in Deutschland bedeutet, haben jetzt
schon über 20 000 Soldaten der Bundeswehr teilgenommen. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß diese
Soldaten im Interesse unseres Landes, im Interesse gemeinsamer Sicherheit, im Interesse der Stabilität unseres
Kontinents, nicht zuletzt vielleicht auch im Interesse der
Verhinderung immer stärkerer Flüchtlingsbewegungen
ein hohes Risiko eingehen und daß sie deshalb auch mit
Blick auf ihre Familien die Unterstützung des Deutschen
Bundestages und übrigens der ganzen Bevölkerung verdient haben.
({5})
Freilich, diese Unterstützung muß auch noch auf andere Weise gewährleistet werden, nämlich indem wir in
Deutschland als Bundesregierung und als Parlament
auch dazu beitragen, daß ein klares politisches Ziel verfolgt und erreicht werden kann. Wir haben dafür nur
wenig Zeit. Es gibt leider auch Anzeichen dafür, daß in
dieser Periode der Gewaltfreiheit Vorbereitungen für
neue Ausbrüche von Gewalt getroffen werden könnten.
Der Winter wird das wahrscheinlich eine Zeitlang verhindern.
Ich will damit deutlich machen, daß wir für die politischen Bemühungen um die Lösung dieses Konfliktes
mit dem Ziel einer Autonomie des Kosovo im jugoslawischen Staatsverband nur ein sehr enges Zeitfenster
haben werden und daß es ganz und gar nicht vertretbar
ist, wenn man sowohl zivile Beobachter im Auftrage der
OSZE wie auch ihren militärischen Schutz in eine Gefahr bringen würde, die man durch entsprechend klaren
Druck sowohl auf Milosevic als auch auf die kosovoalbanische Seite, insbesondere auf die UCK, vermeiden
kann.
Die Abwesenheit von Krieg und Gewalt bedeutet
noch lange nicht Frieden. Wir sehen das in Bosnien und
Herzegowina. Ich fürchte, wir werden es eine längere
Zeit auch im Kosovo sehen. Also will ich darauf aufmerksam machen, daß die Beteiligung Deutschlands an
ziviler Überwachung und ihrem Schutz, an all den Maßnahmen, die ich genannt habe, auf Dauer genauso wie
die Sicherheit, die von der internationalen Staatengemeinschaft ausgeht, nur dann sinnvoll geleistet werden
kann, wenn die internationale Staatengemeinschaft den
Konfliktparteien die Notwendigkeit klarmacht und am
Ende dabei hilft, zivile Entwicklungen auf eine stabile
Grundlage zu stellen.
({6})
Das entspricht der Politik der Bundesregierung, die
das Ziel umfassender Sicherheit verfolgt. Ich will das an
drei Elementen verdeutlichen.
Erstens kommt es darauf an, Ursachen für Krisen in
Zukunft früher zu erkennen und entschlossener zu handeln als in der Vergangenheit.
({7})
Gerade das Thema, mit dem sich der Antrag der Bundesregierung beschäftigt, ist ein sehr nachdrücklicher
Hinweis darauf, wohin es führen kann, wenn man über
Jahre hinweg deutliche Hinweise auf eine sich immer
stärker verschärfende krisenhafte Entwicklung ignoriert.
({8})
Es hat diese Hinweise gegeben. Allerdings ist es auch
eindeutig so, daß die Europäische Union, die Westeuropäische Union und andere Organisationen der internationalen Staatengemeinschaft Krisenursachen häufig
zwar früh erkennen können - es mag auch vorkommen,
daß sie sie nicht erkennen -, daß uns aber oft genug die
entsprechenden Mittel und Institutionen fehlen, die Konsequenzen aus der frühzeitigen Erkenntnis von Krisenursachen zu ziehen. Also wird es nicht nur darauf ankommen, den Mangel in der frühzeitigen Erkennung von
Krisenursachen und ihrer gemeinsamen Bewertung zu
beklagen, sondern auch darauf, die notwendigen Institutionen zu schaffen, die wir im Rahmen der europäischen
Integration dringend brauchen.
({9})
Es kommt darauf an, aus dieser Vorstellung umfassender Sicherheit, die auch Krisenursachen wie Hunger,
Unterentwicklung, Terror und Haß zwischen Bevölkerungsgruppen mit einschließen muß, die notwendigen
Schlußfolgerungen zu ziehen. Es liegt auf der Hand, daß
diese Schlußfolgerungen nicht allein in den Kategorien
eines militärischen Bündnisses geleistet werden können.
Ich erinnere mich sehr gut, daß Willy Brandt davon
sprach, er habe zweimal erlebt, wie aus Krieg Hunger
geworden sei, und er hoffe, nie erleben zu müssen, daß
aus Hunger Krieg werde. Das aber ist eine Gefahr, mit
der wir uns heute auch auseinandersetzen müssen.
Das zweite Element beinhaltet, daß wir, die internationale Staatengemeinschaft, im Bereich der Krisenprävention wesentlich besser werden müssen, als wir es
derzeit sind.
({10})
Ich mache darauf aufmerksam, daß hier für die deutsche
Außen- und Sicherheitspolitik ein wesentliches Thema
liegt. In der Sondersitzung des Bundestages der
13. Wahlperiode hat eine Rolle gespielt, daß wir angesichts veränderter Krisenursachen, Bedrohungsursachen
und Risiken für die internationale Sicherheit und Stabilität in die Lage kommen müssen, die Instrumente neu
zu justieren; denn die Instrumente stammen aus der Zeit
nach dem Zweiten Weltkrieg, aus der Zeit des kalten
Krieges und der Blockkonfrontation und sind oft genug
nicht tauglich genug, mit dem fertig zu werden, was sich
heute an veränderter weltpolitischer Lage und auch an
veränderten Ursachen für internationale Krisen auf unserem Kontinent und weit darüber hinaus - in anderen Regionen der Welt ist es noch viel schlimmer - darstellt.
Als drittes Element nenne ich, daß diese Politik nur
erfolgreich sein kann, wenn deutsche Außen- und Sicherheitspolitik konsequent demokratische und zivile
Entwicklungsprozesse fördert und gleichzeitig zur
Achtung der Menschenrechte beiträgt.
({11})
Meine Damen und Herren, wie schwierig dies ist,
sieht man wieder am Beispiel des Kosovo. So hatten wir
zum Beispiel große Schwierigkeiten, im Rahmen des
Auftrags an die OSZE sicherzustellen - bisher konnte es
wegen einer Weigerung Rußlands nicht sichergestellt
werden - , daß der Zugang von Journalisten in das Gebiet des Kosovo ermöglicht und wieder unabhängige Berichterstattung erlaubt wird. Wenn wir aber demokratische, auf Menschenrechte orientierte Entwicklung fördern und zivile Entwicklungen voranbringen wollen,
dann wird das ohne entsprechende Institutionen einschließlich einer unabhängigen und freien Presse, einschließlich freier und unabhängiger Gewerkschaften, sozialer Organisationen, lokaler Selbstverwaltung und
dergleichen nicht gehen.
({12})
Die eigentliche Bedeutung des Beitrages der Bundeswehr auf dem Balkan liegt darin, daß diese beiden
Seiten der gleichen Medaille zur Zeit in einer guten
Weise gewährleistet sind, wobei ich beklage, daß die
zweite Seite oft genug in der Öffentlichkeit nicht so
wahrgenommen wird, wie ich es mir wünsche: neben
der Sicherung einer gewaltfreien Entwicklung durch
entsprechende militärische Präsenz die sehr vielen zivilen Elemente in diesem Engagement, die ich Ihnen zu
nennen versucht habe.
Meine Damen und Herren, all diese Fragen haben
Bedeutung für die Entwicklung auch der internationalen
Organisationen. Die NATO wird sich erweitern, und das
ist gut so. Sie wird nach dieser Erweiterung eine Zeit der
Konsolidierung brauchen und zugleich für weitere neue
Mitglieder die Tür offenhalten. Die NATO wird sich
eine neue Strategie geben. Es wird für die Europäer darauf ankommen, ihre eigenen Schwächen zu überwinden
und nicht immer ein gewisses Gefälle im Bündnis zu
beklagen, sondern selbst etwas dagegen zu tun, daß es
dieses Gefälle hier und da gibt. Das Stichwort dafür
heißt: europäische Identität für Verteidigung und Sicherheit.
({13})
Dazu gehört übrigens auch die Integration der WEUAufgaben in die Europäische Union, wie es ja im Vertrag von Amsterdam vorgesehen ist.
({14})
Ich sage Ihnen das, um etwas anderes noch verständlicher zu machen: Es ist unser gutes Recht - andernfalls
würden uns alle anderen mit guten Gründen, wie ich
denke, skeptisch betrachten -, unsere Interessen klar zu
definieren und zu vertreten. Uns in Deutschland muß
allerdings klar sein, daß Deutschland seine außen- und
sicherheitspolitischen Interessen nur noch in Europa
und in internationalen Organisationen wirksam verfolgen kann.
({15})
Deutschland kann mit Blick auf seine Streitkräfte in Zukunft nur das sinnvoll vorbereiten und entscheiden, was
mit den europäischen Interessen im Einklang steht und
mit den Interessen des Bündnisses kompatibel ist.
({16})
Auch in Zukunft ist die wesentliche Aufgabe der
Bundeswehr die Landesverteidigung. So wie wir Landesverteidigung derzeit wahrnehmen, ist sie der beste
Ausdruck dafür, daß wir uns der gemeinsamen Verantwortung und Verpflichtung stellen. Über die Landesverteidigung hinaus sind wir im Bündnis für die Sicherheit seiner Mitglieder mitverantwortlich. Man kann es
an den Entscheidungen der letzten Jahre ablesen, daß
Deutschland stärkere Beiträge zur internationalen Friedenssicherung leistet. Vor diesem Hintergrund und mit
Blick auf diese neuen Aufgaben muß die interne Bestandsaufnahme der Bundeswehr so vorangetrieben
werden, daß sie im März des nächsten Jahres abgeschlossen sein wird. Dann wird unter Beteiligung des
außen-, sicherheits- und friedenspolitischen Sachverstands, den wir dafür dringend brauchen,
({17})
und auf der Grundlage von Erfahrungen vieler Menschen in Deutschland darüber zu reden sein, welche Fähigkeiten unser Land in die internationalen Organisationen einbringen und wie es mit Hilfe dieser Fähigkeiten
zu internationaler Sicherheit und zu friedlicher, ziviler
und, wo immer es geht, demokratischer Entwicklung
beitragen kann.
Meine Damen und Herren, ich sprach davon, daß wir,
insbesondere aber die Soldaten und ihre Familien, darauf angewiesen sind, im Deutschen Bundestag und im
deutschen Volke eine breite Unterstützung zu erhalten.
Verstehen Sie das bitte als eine Einladung an alle Seiten
des Hauses - bei allem Streit auf anderen Feldern -, den
Konsens in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik zu
bewahren und diesen auf der Basis dessen, was wir erreicht haben, weiterzuentwickeln.
({18})
Das
Wort hat der Kollege Dr. Helmut Haussmann.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zwischenbilanz
der bisherigen Diskussion ist klar: Deutschland hat die
Abwahl eines international anerkannten Staatsmannes
und eines hervorragenden Bundeskanzlers, eines exzellenten Außenministers und eines anerkannten Finanzministers nicht verdient.
Was haben wir heute erlebt? Einen Bundeskanzler,
für den Außen- und Europapolitik eben keine Herzensangelegenheit ist. Ich will nur einmal zwei Belege nennen, wie Herr Schröder denkt: Vor seiner Wahl war er
gegen den Euro und vertrat in bezug auf die Osterweiterung die Auffassung, daß sie nicht mehr im nächsten
Jahrzehnt stattfinden werde. Das sind Tatsachen.
({0})
Wir haben einen Außenminister, der sich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich schnell umgestellt hat,
hochflexibel ohne politische Tradition in der grünen
Partei, ohne Basis in Krisenzeiten. Wir haben einen Finanzminister, der eigentlich der heimliche Vizekanzler
und Außenminister ist und beginnt, den Euro schwach
zu machen. Und wir haben einen Verteidigungsminister
wider Willen, weil er das gar nicht werden wollte; aber
die Rede von Herrn Struck weckte nicht nur bei uns,
sondern auch in der Opposition die Sehnsucht nach einem Fraktionsvorsitzenden Scharping.
({1})
Herr Außenminister Fischer, Sie sollten sich - Sie
werden noch darauf zurückkommen müssen - am Anfang einer solchen Debatte nicht nur förmlich bei Herrn
Kohl oder bei Herrn Kinkel bedanken, sondern Sie sollten sich auch darüber im klaren sein, daß Sie nur deshalb
einen guten Start hatten, über den ich mich im Interesse
Deutschlands freue, weil Sie auf eine exzellente Außen-,
Europa- und Sicherheitspolitik aufbauen konnten,
({2})
zu der Ihre eigenen Leute bisher überhaupt nichts beigetragen haben.
Sie haben es wohl vergessen: Sie waren gegen die
Nachrüstung, gegen den Euro und gegen den Vertrag
von Maastricht. Es gab Stimmenthaltungen zum Vertrag
von Amsterdam und vor kurzem noch gegen friedenserhaltende Einsätze. Das ist die Ausgangsbasis, und insofern, Herrr Fischer, sollten Sie sich über eines im klaren
sein: Ein guter Start bedeutet noch nicht belastbare Außenpolitik. Deshalb sollten Sie sich mit der Opposition
sehr gut stellen, Sie werden uns noch brauchen. Das sage ich Ihnen voraus.
({3})
Aus unserer Sicht gibt es drei große konzeptionelle
Fragen, an denen wir Sie und Herrn Schröder messen
wollen. Die erste betrifft die globale Verantwortung.
Sie sind dem Thema, das Herr Kinkel für uns exzellent
vorbereitet hat - Beteiligung an friedensschaffenden
Maßnahmen und Sitz im UN-Sicherheitsrat -, ausgewichen. Sie haben hier nichts dazu gesagt. Vor Journalisten haben Sie gesagt, das sei jetzt nicht so wichtig, derzeit kein Thema, um dem Konflikt mit Ihrer Fraktion
auszuweichen. Wenn jetzt nach einer so guten Vorarbeit
vom deutschen Außenminister das Signal gegeben wird,
das ist nicht vorrangig, nicht wichtig, verliert damit ein
wichtiges Symbol der gestiegenen globalen Mitverantwortung bei der Lösung von Krisen an Bedeutung.
({4})
Die zweite Frage - wir werden noch darüber diskutieren - betrifft das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist interessant, daß Sie dieses
Thema in Ihrer Rede am kürzesten abgehandelt haben.
Das ist zuwenig. Das, was Herr Schröder heute morgen
vorgetragen hat, ist natürlich ein latenter Protektionismus. Ich kann nur sagen: Die wichtigste Frage im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten wird sein: Wie wird
Deutschland als führendes Land in Europa so wettbewerbsfähig, daß es den Wettbewerb mit den Vereinigten
Staaten von Amerika durchhält?
Herr Außenminister Fischer, alle Konflikte in der
Vergangenheit waren nicht so sehr außenpolitische Konflikte, sondern es waren Konflikte, die in der Handelspolitik begannen. Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen.
Erstens. Sie haben in die Koalitionsvereinbarung locker
hineingeschrieben, die WTO müsse dringend mit Umwelt- und Sozialstandards angereichert werden. Sie stehen damit einsam in der Landschaft.
({5})
Das gehört nicht in die WTO. Das gehört in die ILO,
meine Damen und Herren. Sie werden isoliert sein.
({6})
- Ich sage Ihnen die Diskussion mit den Vereinigten
Staaten von Amerika voraus. Sie werden sich isolieren.
Zweitens. Mit diesem Reformrückschritt - keine
echte Steuerreform, keine Arbeitsmarktreform, Schwächung des Euro - werden Sie Deutschland und damit
Gesamteuropa im Wettbewerb schwächen.
({7})
Sie werden erleben, daß am Ende Ihrer Politik - im
Verein mit Herrn Jospin - ein latenter Protektionismus,
ein Festungsdenken in Europa herrschen wird. Das wird
zu einem der ganz großen Konflikte, wenn Sie nicht
zumindest die Politik von Herrn Blair verfolgen, wozu
Sie nicht bereit sind. Herr Blair hat vor kurzem auf einer
Konferenz der Sozialisten gesagt: Meine sehr verehrten
Parteigenossen, Amerikanismus und Globalisierung dürfen keine Fremdworte bei uns werden.
Wie wird darüber bei uns diskutiert? Wie wird über
die Unabhängigkeit der Zentralbank diskutiert? Wie
wird über die Zielzonen debattiert? Reden Sie einmal
mit einem Amerikaner über Wechselkurszielzonen. Sie
laufen völlig ins Leere und begeben sich in die Gefahr,
daß Sie das entscheidend wichtige Verhältnis zu den
Vereinigten Staaten von Amerika von der falschen Seite
her - durch Protektionismus, falsche Währungszusammenarbeit und ein fehlendes klares Bekenntnis zur Unabhängigkeit von Notenbanken - schwächen.
({8})
Die dritte Frage betrifft die Europapolitik, Herr Fischer. Sie ist nicht nur Baustein einer Vision, sondern in
der Europapolitik braucht man Visionen, man muß
Emotionen haben. Ich sehe weder bei Herrn Schröder
noch bei Ihnen jemanden, der in der Lage wäre, hier
nicht nur gute Reden zu halten, sondern die eigene Partei, die Bevölkerung in große Projekte mitzunehmen.
Meine Damen und Herren, wer hat denn die Debatte
über die Währungsunion geführt? Wo war denn Rotgrün?
({9})
Jetzt lehnt man sich zurück und profitiert von unserer
Arbeit. Aber in der Europapolitik bedarf es der Visionen
und eines langen Atems sowie der Unterstützung durch
die eigene Partei, die eigene Fraktion. Meine Damen
und Herren, die haben Sie nicht. Insofern ist es zwar
schön, wenn Sie gute Reden halten, wenn Sie gut angezogen sind, wenn Sie im Ausland gut ankommen. Nur,
die Bewährungsprobe - mehr Emotion, mehr Vision,
mehr Überzeugung in der Bevölkerung - müssen Sie
erst noch bestehen.
({10})
Das
Wort hat der Kollege Volker Rühe.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Beide Minister dieser Bundesregierung, der Außenminister und der Verteidigungsminister - auch ich muß mich erst daran gewöhnen -,
({0})
haben von Kontinuität und Berechenbarkeit gesprochen. Das ist gut so, und das ist ja auch ein Kompliment
für die Politik, die vorher gemacht worden ist. Aber,
Herr Fischer und Herr Scharping, die Politik, in deren
Kontinuität Sie sich stellen, mußte irgendwann im
Kampf durchgesetzt werden - hier und auch international. Das ist doch der entscheidende Punkt. Deswegen:
Die eigentliche Bewährung wird erst dann kommen,
wenn neue Fragestellungen auf Sie zukommen, ob auch
Sie dann etwas im Kampf durchsetzen können, was den
deutschen Interessen dient und was eine vernünftige internationale Politik ist. Das ist die eigentliche Bewährungsprobe.
Nehmen Sie das Beispiel - Herr Fischer, Sie haben
gesagt, das sei ganz wichtig -, daß Europa jetzt zusammenwächst. Aber die Öffnung Westeuropas von der Sicherheit her auch für die Polen, die Tschechen, die Ungarn, die Öffnung der NATO, das ist im Kampf durchgesetzt worden, hier in Deutschland gegen Sie und auch
international. Wo sind die Politiker in der neuen Regierung, die in der Lage sind, wichtige Weichenstellungen
auch in der Zukunft durchzusetzen und sich nicht nur in
eine Kontinuität hineinzustellen?
({1})
Oder nehmen Sie das Beispiel Jugoslawien: Herr
Scharping, ich will nicht die Kontroverse mit Ihnen.
Aber es ist schon ein starkes Stück, wenn Sie sagen,
man müsse die Krisen früher erkennen. Wer hat denn
darauf gedrängt, dort hinzugehen und zu intervenieren,
Massaker und Krieg zu stoppen? Ich glaube, dieses
Drängen ist nicht von der früheren Opposition gekommen, sondern von der Regierung. Das haben wir durchgesetzt. Sonst wären wir auch noch nicht so weit, wie
wir heute sind.
({2})
Herr Fischer, Sie werden eine Bewährungsprobe bekommen. Das ist der Irak. Da können Sie nicht sagen,
das sei allein Sache der Amerikaner. Es geht auch uns
an, ob es dort zur Produktion von Massenvernichtungswaffen kommt. Dann ist auch die Frage an die deutsche
Solidarität gestellt. Man kann nicht in Feiertagslaune wie der Kanzler Schröder - hier über deutschamerikanische Freundschaft sprechen, aber in einer konkreten Situation sich verweigern und abtauchen. Damit
werden Sie nicht durchkommen.
({3})
Aber ich habe bei aller Kontinuität den Eindruck, daß
man schon versucht, ein bißchen umzuinterpretieren.
Herr Fischer, wenn Sie sagen, im Kosovo gehe es nur
um den Einsatz von Zivilisten, die OSZE spiele dort die
Hauptrolle, so - das muß ich Ihnen sagen - unterschlagen Sie, daß die politischen Verhandlungen der Amerikaner nur deswegen Erfolg hatten, daß es den Einsatz
der Zivilisten dort nur deswegen gibt, weil wir bereit
waren, notfalls auch militärisch zu handeln - nur deswegen! Das darf nicht unterschlagen werden.
({4})
Herr Minister Scharping, an einem Punkt sollten Sie
noch einmal nachdenken. Sie haben gesagt, wenn deutsche Soldaten nach Mazedonien geschickt würden - ich
meine jetzt nicht die Luftüberwachungsoperation; dafür
haben Sie unsere Zustimmung, das ist klar; wir bleiben
in der Kontinuität unserer Politik, Sie brauchen Ihre eigenen Mehrheiten -, um notfalls im Kosovo einzugreifen, um diese Beobachter zu retten, dann sei das kein
militärischer Einsatz. Ich muß Ihnen sagen: Es ist hochgefährlich, wenn man versucht, die kleinste gemeinsame
Sprachregelung innerhalb der Koalition zu finden, um
im Deutschen Bundestag eine Mehrheit für einen Einsatz zu erzielen, der natürlich ein militärischer Einsatz
ist. Was bedeutet dieser Einsatz? Sie schicken deutsche
Soldaten nach Mazedonien. Im Ernstfall müssen sie gegen den Willen der Regierung der Bundesrepublik Jugoslawien im Kosovo militärisch eingreifen, um Zivilisten
aus dieser Region zu holen. Auch den Soldaten schulden
wir es, daß die Gefahren einer solchen Mission nicht
heruntergespielt werden, nur damit man in der Koalition
verbal eine Einigung erzielt.
({5})
Wenn es sich nicht um eine militärische Aktion handeln
würde - das gilt für die Luftüberwachung und natürlich
auch für die Mission einer Extraction Force -, müßte
sich der Deutsche Bundestag nicht mit dieser Angelegenheit beschäftigen.
Ich habe in der Koalitionsvereinbarung viel über die
Zivilisierung der internationalen Beziehungen und ihre
Verrechtlichung gelesen. Das sind alles schöne Worte.
Es ist richtig: Das Militärische ist die Ultima ratio. Aber:
Wenn politisches Verhandeln scheitert - es kann scheitern - und wenn nicht die Bereitschaft besteht, notfalls
auch mit militärischen Mitteln denen in den Arm zu fallen, die nicht friedenswillig sind, dann würden Sie sich
auf einen falschen Kurs begeben und sich von der Solidarität der westlichen Gemeinschaft verabschieden.
Herr Minister Fischer, Sie haben die Menschenrechte
in den Mittelpunkt gestellt. Das ist richtig. Wir haben
übrigens schon in der Zeit des kalten Krieges immer gesagt: Der Friede ist nichts Absolutes, sondern es gibt ihn
nur in Verbindung mit Freiheit, Gerechtigkeit und Beachtung der Menschenrechte. Sie haben gesagt: Es ist
gut, daß die Kriegsverbrecher in Bosnien nach Den
Haag kommen. Einer der übelsten Kriegsverbrecher ist
nur durch das „Kommando Spezialkräfte“ der deutschen
Bundeswehr nach Den Haag gekommen. Dagegen haben
die Grünen massiv protestiert. Meine konkrete Frage ist:
Sind Sie damit einverstanden, wenn auch in Zukunft
Spezialkräfte der Bundeswehr dafür sorgen, daß Kriegsverbrecher vor internationale Gerichte gebracht werden?
({6})
Sie haben ferner gesagt, es erfülle Sie mit Genugtuung, wenn ein Diktator wie Pinochet zur Rechenschaft
gezogen wird.
({7})
- „Vielleicht“, aber ich hoffe es trotzdem. - Ihre Haltung kann ich nachvollziehen. Ich - und vor mir Heiner
Geißler und Norbert Blüm - war in Chile in den Gefängnissen, als unsere Freunde, die christlichen Demokraten, dort verfolgt, eingesperrt und gefoltert wurden.
Deswegen kann ich Ihre Haltung nachvollziehen. Aber
haben Sie bitte keine selektive Haltung. Es gibt immer
noch politische Gefangene in Kuba und in anderen Gegenden der Welt. Was machen Sie mit Fidel Castro?
Lassen Sie uns also sehr sorgfältig darüber diskutieren,
was es bedeutet, Menschenrechte durchzusetzen und zu
verdeutlichen: Wer immer dagegen verstößt, muß damit
rechnen, daß er auf internationalem Wege zur Verantwortung gezogen wird. Es geht aber nicht an, daß es einen selektiven Einsatz für die Beachtung der Menschenrechte gibt.
({8})
Herr Minister Scharping, Sie haben als Verteidigungsminister das Richtige in bezug auf Ihre Amtszeit
gesagt. Sie haben sich für die Wehrpflicht eingesetzt. In
diesem Punkt haben Sie die volle Unterstützung unserer
Fraktion.
({9})
Sie haben noch einen weiteren sehr richtigen Satz gesagt: Diejenigen, die Sicherheit produzieren, nämlich
unsere Soldaten, haben selbst die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes verdient. Deswegen haben Sie sich klar geVolker Rühe
gen alle Vorstellungen der Grünen gewandt, im Rahmen
der Koalition in die Strukturen der Bundeswehr einzugreifen.
({10})
Sie müssen wissen, daß Sie in diesen entscheidenden
Punkten unsere Unterstützung haben, daß wir Sie aber
auch an diesen Punkten messen werden. Es ist deswegen
ganz wichtig, daß die Wehrstrukturkommission - Sie
haben ja auch eine Rentenkommission; überall, wo Sie
mit den Grünen uneins sind, werden Kommissionen eingesetzt - nicht sozusagen jahrelang ein Fragezeichen für
die Bundeswehr bedeutet. Unsere Soldaten haben es
nicht verdient, daß sie bezüglich ihrer Zukunft im ungewissen gehalten werden,
({11})
zumal wir gleichzeitig von ihnen schwierige Einsätze
verlangen müssen. Sie sollen wissen, daß eine Chance
für einen Konsens in diesem Hause besteht. Was Wehrpflicht und Umfang der Bundeswehr angeht, habe ich es
einmal so gesagt: Sicherheit für die Produzenten der Sicherheit, Sicherheit für unsere Soldaten. Wenn Sie sie zu
internationalen Einsätzen schicken, dann können Sie
nicht zu Hause die Kasernen anstecken, so wie die Grünen das immer wieder versucht haben.
({12})
- Entschuldigung, „Kasernen anstecken“ heißt natürlich,
die Stationierungsorte der Bundeswehr in Frage zu stellen. Das ist doch genau das, was Sie, Frau Kollegin
Beer, tun. Sie wollen doch den Umfang der Bundeswehr
halbieren. Das ist in einer solchen Situation unverantwortlich.
({13})
Gestatten Sie mir noch eine kurze Bemerkung zur Europapolitik. Es gab ja nach den Besuchen des Kanzlers
und des Außenministers in Polen die Diskussion, ob wir
für die EU-Osterweiterung eine zeitliche Perspektive
brauchen. Ich glaube, daß man noch einmal einen Moment darüber nachdenken sollte, was die richtige Politik
ist. Herr Schröder, der Bundeskanzler, hat gesagt, er habe nicht soviel Phantasie, ein Datum zu nennen.
Ich muß Ihnen sagen: Wenn Sie ein Datum setzen 2002 wäre realistisch -, ist es viel einfacher, die schwierigen Entscheidungen im jeweiligen Lande durchzusetzen. Ich weiß, daß die EU-Erweiterung nicht vergleichbar ist mit der NATO-Erweiterung. Die EU-Erweiterung
ist viel schwieriger umzusetzen. Mitglied der NATO
können Sie auch mit alten Flugzeugen und alten Panzern
werden. Mitglied der Europäischen Union aber können
Sie mit einer veralteten Landwirtschaft und einer veralteten Wirtschaft nicht werden. In dem Moment, in dem
ein Zieldatum im Hinblick auf den Beitritt zur NATO
genannt wurde, hat es unglaubliche Anstrengungen der
Ungarn, der Polen und der Tschechen gegeben, weil sie
gewußt haben: Die Anstrengungen lohnen sich; es gibt
ein konkretes Zieldatum.
Deswegen würde ich der Bundesregierung raten, zu
versuchen, gemeinsam mit Polen und den anderen Staaten ein Zieldatum zu entwickeln und zu sagen: Wir jedenfalls werden, was die Reformen innerhalb der Europäischen Union angeht, alles tun, daß ihr 2002 Mitglieder werden könnt. Wenn ihr dann noch auf eurer Seite
die notwendigen Reformen durchsetzt, dann ist der Beitritt zu einem solchen Datum machbar.
Es muß möglich sein, hier eine gemeinsame Strategie
zu entwickeln, damit Deutschland auch weiterhin Motor
im Hinblick auf das Zusammenwachsen in Europa ist.
Die letzte Bemerkung möchte ich auf die baltischen
Staaten beziehen. Ich glaube, jeder spürt, daß sie mehr
als manch andere zur Familie der europäischen Staaten
gehören - sie haben in diesem Jahrhundert ein besonders
schlimmes Schicksal gehabt -, daß aber der Weg in die
Sicherheitsgemeinschaft der NATO sicherlich noch ein
langer Weg ist. Um so offener sollten wir dafür sein das war auch bei Klaus Kinkel, dem früheren
Außenminister, der Fall -, sie so schnell wie möglich in
die Europäische Union aufzunehmen.
({14})
- Natürlich, alle drei als Gruppe. Denn sie alle haben
nicht das Gewicht, daß sie auf Grund irgendwelcher statistischer Abweichungen und auf Grund der Probleme,
die es in diesen Staaten noch gibt, die Europäische Union ruinieren könnten.
Nachdem sich Estland qualifiziert hat und Lettland
anerkanntermaßen Fortschritte gemacht hat - Außenminister Kinkel hat immer deutlich gemacht, daß die
Möglichkeit bestehen muß, auch zwischenzeitlich aufgenommen zu werden -, liegt es in der Verantwortung
der Bundesregierung, Lettland und Litauen in den europäischen Integrationsprozeß mit aufzunehmen.
({15})
Herr Kollege Fischer, wenn Sie das in Angriff nehmen
würden, dann würden Sie wirklich einen weiteren Schritt
für den Aufbau eines gemeinsamen Europas leisten und
im übrigen selbst eine Politik durchsetzen, angesichts der
Sie mit einem Konsens in Deutschland rechnen können.
Zeigen Sie also einmal, daß Sie nicht nur wie ein Außenminister gekleidet sind, sondern daß Sie sich auch in einer
wichtigen Frage durchsetzen können.
Vielen Dank.
({16})
Das
Wort hat der Bundesminister Rudolf Scharping.
Herr Kollege Rühe, ich möchte nicht, daß sich etwas Mißverständliches oder Falsches festsetzt: Ich habe
mich mit dem Abgeordneten Gysi und seiner Behauptung auseinandergesetzt, die Stationierung einer Schutztruppe in Mazedonien sei eine militärische Intervention.
Es ist völlig unbestritten: Wenn eine solche Schutztruppe stationiert wird, ist das ein militärischer Einsatz, und
zwar einer mit Risiko.
Das
Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul.
Meine Damen und Herren! Wir alle sind in den letzten Tagen mit den Bildern der Verwüstung konfrontiert worden, die der Hurrikan Mitch in Zentralamerika angerichtet hat. Und auch wenn die Schreckenszahlen noch
immer nicht zweifelsfrei sind: Es muß mit weit mehr als
10 000 Toten gerechnet werden. Es ist ein Rückfall der
Entwicklung um mindestens zwei Generationen festzustellen. Vor allem aber: Ein Großteil der Bevölkerung ist
obdachlos, in Honduras etwa die Hälfte der Bevölkerung.
Nicaragua und Honduras sind zusammen mit Tahiti
ärmste Länder der Region. Gleichzeitig sind sie die
Länder, die im Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit die größte Last an Auslandsschulden
tragen. El Salvador und Guatemala haben zwar weniger
Opfer unter den Menschen zu beklagen. Aber auch hier
ist ein Großteil der Ernte zerstört, ist die Aufbauarbeit
von mindestens einem Jahrzehnt, sind die landwirtschaftliche Produktion und die landwirtschaftlichen
Potentiale in wenigen Tagen vernichtet worden.
Ich habe am letzten Freitag in Gesprächen mit den
Botschaftern der sechs mittelamerikanischen Länder, die
von dem Hurrikan betroffen sind, gesprochen und - ich
denke auch in Ihrem Namen - unser aller Anteilnahme
und Solidarität ausgedrückt.
({0})
Meine Damen und Herren, diese Situation ist auch
deshalb besonders tragisch, weil diese Region, wie Sie
alle wissen, über Jahre, um nicht zu sagen: über Jahrzehnte hinweg in schreckliche Konflikte und Bürgerkriege verstrickt war, jetzt auf dem Wege der Konfliktbeilegung und des friedlichen Zusammenlebens ist
und in dieser Situation so schrecklich getroffen worden
ist.
Wir als Bundesregierung, als Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben
im Umfang von insgesamt 5,7 Millionen DM unmittelbar Soforthilfe geleistet und Nothilfe bereitgestellt. Diese Mittel sind also schon vor Ort zum Einsatz gekommen: Medikamente, Nahrungsmittel, Materialien und
vor allem Geräte für die Trinkwasseraufbereitung sowie
Baumaterialien für dringende Baumaßnahmen, um
überhaupt wieder Obdach zu schaffen.
Die Durchführung erfolgt in erster Linie über die laufenden Projekte der technischen Zusammenarbeit und
wird vom Deutschen Entwicklungsdienst und den
Partnern deutscher Nichtregierungsorganisationen unterstützt. Nur so ist sichergestellt - und es ist sichergestellt -, daß die Mittel wirklich den betroffenen Menschen zukommen.
Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen danken, die
diese schwere Hilfe vor Ort leisten.
({1})
Ich möchte vor allen Dingen den Menschen in Deutschland danken, die bereit waren, so schnell und in großem
Umfang zu spenden und damit Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.
({2})
Es ist auch jetzt noch notwendig zu spenden.
Ich möchte auch ein herzliches Dankeschön an die
Adresse all der Partnerstädte in Deutschland richten, die
zum Beispiel in Nicaragua Partnerstädte haben, meine
Heimatstadt Wiesbaden eingeschlossen, die eine Finanzhilfe von 100 000 DM unkonventionell und schnell
zur Verfügung gestellt hat.
({3})
Das ist aktive Solidarität und Hilfe und zeigt, daß Menschen bereit sind, sich zu engagieren.
Ich möchte gleichzeitig darauf hinweisen, daß wir ein
Programm erarbeiten, in dem wir als nächste Stufe, also
nach der unmittelbaren Nothilfe, die Finanzierung von
Reparatur- und Wiederaufbaumaßnahmen vor allen
Dingen der zerstörten Infrastruktur, der Brücken und der
Wege, vorsehen. Das alles muß ja gemacht werden. Wir
haben dafür einen Teil der Finanzmittel umgewidmet, so
daß wir auch weiterhin finanzielle und technische Hilfe
zur Verfügung stellen können. Und vor zwei Tagen hat
der Bundesfinanzminister eine Tranche von
10 Millionen DM für die finanzielle Zusammenarbeit
freigegeben, die zusätzlich für solche Wiederaufbaumaßnahmen eingesetzt werden kann.
Wir prüfen zudem, ob Mittel im Umfang von
18 Millionen DM, die bisher für andere Bereiche und
Regionen vorgesehen waren und nicht abgeflossen sind,
entsprechend umgewidmet werden können, und erwarten auch hier die Zustimmung des Bundesfinanzministers.
Vor allem aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind
die finanziellen Konsequenzen überhaupt nicht zu ermessen. Ich bin froh, daß der Bundeskanzler heute morgen hier das Notwendige dazu gesagt hat. Wir müssen
uns mit unseren Partnerländern dafür stark machen, daß
es einen Schuldenerlaß für die betroffenen Länder
gibt.
({4})
Sonst kommen sie nie mehr auf die Füße; sonst kommen
sie nie mehr voran; sonst ist der Wiederaufbau nicht zu
finanzieren. Ich freue mich, daß der Vorschlag, der vor
allen Dingen aus kirchlichen Gruppen gekommen ist,
aufgegriffen worden ist. Das ist das Allerwichtigste, was
wir tun können.
Als Zeichen der Unterstützung und Solidarität werden
Staatsminister Ludger Volmer und ich morgen einen
Hilfslieferungsflug, der Medikamente und die entsprechenden Geräte zur Wasseraufbereitung transportiert,
nach Honduras und Nicaragua begleiten. Ich denke, wir
tun dies mit Unterstützung des gesamten Bundestages,
weil wir damit unsere Solidarität gegenüber der so
schwer betroffenen Region zum Ausdruck bringen wollen.
({5})
Ich möchte an dieser Stelle auch sagen: Wir standen
schon früher an der Seite Mittelamerikas. Ich weiß, wovon ich rede; ich selbst war mit christdemokratischen
Kollegen aus dem Europäischen Parlament vor Jahren
bei Vermittlungsgesprächen in El Salvador. Das heißt,
wir waren verantwortlich dafür, daß dort Frieden möglich wurde. Wir tragen auch jetzt Verantwortung dafür,
daß der Wiederaufbau vorankommt. Das ist unsere Verpflichtung. Ich freue mich, daß wir im ganzen Hause mit
breiter Mehrheit zu dieser Aufgabe stehen.
({6})
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu den
Leitlinien unserer Entwicklungspolitik machen. Ich
finde es interessant, daß das an vielen Punkten in unterschiedlichen Facetten immer wieder deutlich wird: Aus
unserer Sicht ist der Leitgedanke der Entwicklungspolitik Friedenssicherung. Zusammenarbeit - das war meine Überzeugung, als ich für die europapolitische Arbeit
zuständig war - sichert Frieden, und Zusammenarbeit
sichert natürlich auch in den internationalen Beziehungen Frieden. Regionale Integration bewirkt Frieden. Das
gilt für die Region Mittelamerika und andere Regionen.
Es kommt darauf an, die internationalen Beziehungen zu
gestalten.
Herr Haussmann, Sie haben mit Ihren Bemerkungen
unrecht. Wenn wir dazu beitragen, daß in die Welthandelsabkommen entsprechende soziale und ökologische
Kriterien einbezogen werden, dann leisten wir einen
Beitrag zur besseren internationalen Gestaltung der Beziehungen.
({7})
Ich will darauf hinweisen, wer isoliert war, als es um das
Mandat zum letzten Welthandelsabkommen ging:
({8})
Das war die Bundesrepublik Deutschland. Ich kann
mich nämlich erinnern, daß der zuständige EUKommissar - Frau Matthäus-Maier, Oskar Lafontaine
und ich waren gemeinsam dort - sich beklagt hat - es
war ein Kommissar einer konservativen Partei -, daß die
Bundesregierung die einzige Regierung gewesen sei, die
verhindert habe, daß in das Mandat soziale und ökologische Kriterien aufgenommen wurden.
({9})
Wir werden das tun. Das ist ein Stück friedlicher Gestaltung internationaler Beziehungen.
Es geht darum, Entwicklungspolitik am Leitbild globaler nachhaltiger Entwicklung zu orientieren. Heute
ist Willy Brandt mehrfach erwähnt worden. Sein Kredo,
„das Überleben sichern“, beruht doch auf der Erkenntnis, daß es gemeinsame Interessen von Industrie- und
Entwicklungsländern gibt. Daraus müssen wir aber auch
Konsequenzen ziehen; wir müssen gemeinsam Klimaschutzprogramme in Gang setzen und dürfen den entwicklungspolitischen Haushalt nicht als Steinbruch benutzen.
({10})
Entwicklungspolitische Finanzmittel, richtig eingesetzt,
sind eben friedenssichernd und stellen eine Prävention
dar. In diesem Sinne, denke ich, müssen wir handeln.
Denn Krisenprävention muß großgeschrieben werden.
90 Prozent der 186 Kriege, die zwischen 1945 und 1996
stattfanden, sind in der sogenannten dritten Welt ausgetragen worden. Kriege und Bürgerkriege machen jahrzehntelange Entwicklungsbemühungen zunichte. Deshalb ist es doch wahrhaft menschlicher und zivilisierter
und auch ökonomisch sinnvoll und vernünftig, wenn
Entwicklungszusammenarbeit zusammen mit Außenpolitik und Sicherheitspolitik dazu beiträgt, daß Kriege und
Krisen gar nicht erst entstehen.
({11})
Diese Idee einer vorbeugenden Strukturpolitik verbindet
uns alle, die wir in der Bundesregierung sind, und sie ist
auch das Neue im Bereich der Außen-, Entwicklungsund Sicherheitspolitik.
Ich habe mir einmal angesehen, wer alles im Bundessicherheitsrat sitzt: sogar - ich will jetzt keinem Kollegen zu nahe treten - das Justizministerium. Ich bin stolz
darauf, daß das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung jetzt endlich einen Sitz in
diesem Gremium hat.
({12})
Auch das macht das neue Denken in der Sicherheitspolitik deutlich und praktisch.
Willy Brandt hat gesagt: „Entwicklungspolitik ist die
Friedenspolitik des 21. Jahrhunderts.“ Ich bin stolz darauf und ich glaube, es ist unsere große gemeinsame
Aufgabe, diese Entwicklungspolitik voranzubringen.
Wir müssen die globalen Rahmenbedingungen aktiv geBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
stalten, dürfen sie nicht nur ertragen. Wir müssen dazu
beitragen, mit all unseren Möglichkeiten, wirtschaftliche
und soziale Ungleichheiten abzubauen, die natürlichen
Lebensgrundlagen zu erhalten. Da geht es auch um die
Finanzmittel, zum Beispiel darum, ob man ein Klimaschutzprogramm in Gang setzt. - Ja, das ist notwendig
und richtig eingesetzt. Da geht es um Förderung von
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Ja, das ist notwendig und richtig eingesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen aber
auch, daß die Strukturanpassungspolitik des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank nach Kriterien
der Entwicklungsverträglichkeit und der ökologischen
Nachhaltigkeit gestaltet wird.
({13})
Ich lerne - man und frau lernt ja jeden Tag dazu -, daß
sich die bisherige Bundesregierung darauf beschränkte,
sich zurückzuziehen und anderen Einfluß zu überlassen.
({14})
Nein, wir müssen die Möglichkeiten, die wir haben auch unsere finanziellen -, einsetzen, um mit anderen
Partnern die Rolle von IWF und Weltbank aktiver zu gestalten.
({15})
Wir wollen auch die Gewährung von Exportbürgschaften stärker von sozialen, ökologischen und entwicklungsverträglichen Gesichtspunkten abhängig machen. Es ist heute hier nicht der Ort, die einzelnen
Punkte und Regionen durchzudiskutieren. Und ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn
das alles Sinn machen soll - und damit wende ich mich
auch an Sie aus den Reihen der CDU/CSU und der
F.D.P. -, was wir von „vorbeugender Politik“ reden,
dann müssen wir dazu beitragen, daß dieses Feld der
Entwicklungspolitik, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in das Zentrum unserer Politik und nicht an deren
Rand kommt.
({16})
Dann ist Entwicklungspolitik nicht nur Aufgabe des
Staates, dann geht sie einher mit dem Engagement der
Gesellschaft und der Wirtschaft insgesamt.
({17})
Deshalb sollten wir, so finde ich, überlegen, wie wir
öffentlich-private Partnerschaften entwickeln. Denn es
ist nicht immer nur Aufgabe des Staates, Entwicklungszusammenarbeit zu leisten. Um das Bewußtsein für internationalen Zusammenhang und Verflechtung zu stärken, ist es ganz wichtig, daß wir die Öffentlichkeits- und
Bildungsarbeit zu diesen Fragen in unserem Land verankern und dazu die entsprechenden Finanzmittel bereitstellen.
Ich freue mich zum Beispiel, Kollegin Ingrid Matthäus-Maier, daß hier in Bonn die entwicklungspolitischen Institutionen gemeinsam ihren Platz finden und
zusammen mit dem zuständigen Ministerium ein Zentrum für Nord-Süd-Zusammenarbeit bilden werden. Das
ist eine tolle Rolle, die die Stadt Bonn und die ganze
Region erhalten.
({18})
Mein Appell geht vor allem an die NichtRegierungsorganisationen. Mit ihnen gemeinsam
wollen wir unsere Arbeit leisten. Denn die Aufgaben,
die vor uns liegen, müssen rechtzeitig angegangen werden. Wir dürfen nicht erst warten, bis die Situation angeblich nur noch militärisches Eingreifen zuläßt. Wir
müssen frühzeitig tätig werden.
Dafür sind wir gemeinsam angetreten.
Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Der
nächste Redner ist Wolfgang Gehrcke von der PDS.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Deutsche Außenpolitik sollte Friedenspolitik sein; sie sollte zivile, nichtmilitärische Konfliktlösungen befördern und darauf verzichten, militärische und ökonomische Stärke zur eigenen internationalen Dominanz einzusetzen. Ich glaube, darin könnte sich
eine Mehrheit des Hauses einig sein. Aber deutsche Außenpolitik sollte auch dazu beitragen, soziale Ungerechtigkeiten weltweit zu mindern, nachhaltige Entwicklung
zu fördern, Grenzen durchlässiger zu machen, anstatt
weiter an einer Festung Europa zu bauen und die Menschenrechte wirklich unteilbar zu machen.
({0})
Eine solche Außenpolitik läßt sich aber nicht nur mit
„Kontinuität der letzten 16 Jahre“ beschreiben, sondern
bedarf auch des Zusatzes „Veränderung“.
Der Bundesaußenminister hat - wenn ich es richtig
verfolgt habe - seine Politik mit den Worten „Kontinuität als Voraussetzung für Spielräume“ beschrieben. Von
Kontinuität ist heute sehr viel die Rede gewesen - nach
meinem Geschmack viel zuviel Kontinuität. Deswegen
möchte ich etwas über Spielräume nachdenken und über
Spielräume diskutieren.
Im übrigen, glaube ich, darf man sich kein falsches
Bild von Rotgrün machen. Wenn Rotgrün so wäre, wie
Herr Glos es hier dargestellt hat, wäre mir diese Koalition sehr viel sympathischer. Aber dem ist leider nicht
so.
({1})
Wenn wir über Spielräume, über Gestaltungsräume
nachdenken, können wir als Beispiel Chile nehmen. Im
Unterschied zu seinen Vorgängern sagte der Bundesaußenminister, daß er den chilenischen Diktator Pinochet
gern vor Gericht sähe. Für diese Haltung bedanke ich
mich bei Ihnen ausdrücklich, Herr Bundesaußenminister.
({2})
Sie könnte einen Bruch mit der konjunkturellen Menschenrechtspolitik der alten Regierung einleiten. Ich
möchte gern davon ausgehen, daß die neue Regierung
auch bereit ist, die Menschenrechte - zum Beispiel das
Recht des kurdischen Volkes auf Selbstbestimmung gegen den NATO-Verbündeten Türkei - zu verteidigen
und einzuklagen.
({3})
Die Regierungskoalition hat verbal Abrüstung angekündigt. Doch wer Abrüstung will, kann den Wehretat
nicht zum Naturreservat erklären. Sagen Sie doch einfach und deutlich, daß die Rüstungsindustrie unsicheren
Zeiten entgegengeht. Setzen Sie Signale: Stoppen Sie
die Tiefflüge der Bundeswehr, zum Beispiel die
Übungsflüge für Bombenabwürfe in der Wittstocker
Freien Heide. Die Menschen wehren sich gegen den
Mißbrauch ihrer Landschaft, wie sie sich schon zu
DDR-Zeiten dagegen gewehrt haben.
Lassen Sie Ihrer Ankündigung, Bemühungen zur
Schaffung atomwaffenfreier Zonen zu unterstützen,
konkrete Schritte folgen in Richtung einer atomwaffenfreien Zone in Mitteleuropa.
Ich finde auch, daß der Verzicht auf ABC-Waffen ins
Grundgesetz gehört.
({4})
Neue Gestaltungsräume in der Außenpolitik würden
auch die Kontrolle internationaler Währungs- und
Finanzspekulationen eröffnen. Nachdenken sollten wir
zum Beispiel auch über die Tobin-Steuer als marktgerechtes Instrument zur Umsteuerung: weg von kurzfristigen Spekulationen hin zu investiven Kapitalanlagen,
zur Produktion, zur Nachhaltigkeit und zur Entschuldung der armen Länder.
Ich fand es enttäuschend, daß der Bundeskanzler in
seiner Regierungserklärung davon gesprochen hat, den
Abwärtstrend der Entwicklungshilfe zu stoppen. Das ist
zuwenig. Diesen Abwärtstrend muß man nicht nur stoppen, sondern man muß ihn umdrehen, damit man endlich Ergebnisse erhält, die insgesamt akzeptabel sind.
({5})
In der Kosovo-Frage - unabhängig davon, daß wir
prinzipiell gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr sind
und bleiben - erwarten wir im Moment nicht mehr und
nicht weniger von der Regierungskoalition, als daß sie
ihre eigene Koalitionsvereinbarung so ernst nimmt, wie
wir sie ernst nehmen wollen.
Ich darf aus der Koalitionsvereinbarung zitieren,
wenn das auch zu Lasten meiner Redezeit geht:
Die Beteiligung deutscher Streitkräfte an Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist an die Beachtung des Völkerrechts und des deutschen Verfassungsrechts gebunden. Die neue Bundesregierung wird sich aktiv
dafür einsetzen, das Gewaltmonopol der Vereinten
Nationen zu bewahren und die Rolle des Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu stärken.
Der Beschluß des 13. Deutschen Bundestages zum
NATO-Kosovo-Einsatz, Ihre Zustimmung zur Selbstmandatierung der NATO, verstößt aus unserer Sicht
eindeutig gegen das Völkerrecht, verletzt eindeutig das
Verfassungsrecht unseres Landes und hat das Gewaltmonopol der UNO ausgehebelt. Es ist zumindest umstritten, ob die UN-Resolution zur Stationierung von
Aufklärungskontingenten das völkerrechtlich abdeckt.
Auf alle Fälle sind es Einsätze im Rahmen der NATO.
In der nächsten Woche werden Sie von uns verlangen,
Kampfeinheiten in Mazedonien zu stationieren.
Herr
Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Danke sehr.
Die Entsendung nichtmilitärischer OSZE-Kontingente haben wir begrüßt. Dieser Einsatz wird aber entwertet, wenn die NATO als militärisch dominante Kraft
die Fäden zieht.
({0})
Diesem falschen Weg verweigern wir unsere Zustimmung. Ihn werden wir nicht mitgehen, auch wenn
die Einladung vom Kollegen Scharping, mitzumachen,
einfach und freundlich gewesen ist.
Herzlichen Dank.
({1})
Das
Wort hat jetzt die Kollegin Angelika Beer vom Bündnis
90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verteidigungsminister Scharping hat vorhin in einer sehr umfassenden Rede vergessen, den letzten Satz zu sagen.
Man könnte ihn bezeichnend zusammenfassen: Deutsche Politik ist Friedenspolitik.
Genau dieser Satz steht auch in den Koalitionsvereinbarungen von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD. Mit
Verlaub, Herr Rühe: Daß Sie das nicht nachvollziehen
können, Sie, der mit Rambo-Methoden die Bundeswehr
über Jahre für sich selbst instrumentalisiert hat, oder diesem Ansatz intellektuell vielleicht nicht folgen können,
erstaunt mich nicht.
Die neue Bundesregierung wird in der Außen- und
Sicherheitspolitik neue Wege beschreiten. Wir haben
festgelegt, daß dies im Rahmen der internationalen Verträge und der transatlantischen und europäischen InteWolfgang Gehrcke
gration geschehen wird, daß wir Kontinuität auch in der
Außenpolitik als die Grundlage für Wandel betrachten.
Kontinuität - ich weiß, dieses Wort ist heute oft gefallen, aber ich werde es noch einmal erwähnen.
Was heißt Kontinuität für diese neue Regierung?
Kontinuität heißt für uns: Wir werden keine nationalen
Alleingänge vornehmen, sondern weiter auf Integration
und Kooperation setzen. Kontinuität heißt auch: Wir
sind für feste Verankerung des internationalen Gewaltmonopols bei den Vereinten Nationen. Wir werden uns
unter Anerkennung der gültigen NATO-Verträge sehr
strittig in die Diskussion um die Veränderung der
NATO-Strategie einmischen und einer generellen Klausel zur Selbstmandatierung der NATO nicht das Wort
reden wie Sie, Herr Rühe, sondern versuchen, diese
Umorientierung der NATO anders zu bewegen.
Wir werden in der Kontinuität eine konsequente Sicherheits- und Friedenspolitik für Europa unter der Maxime „OSZE first“ praktizieren, nicht mehr nur als Lippenbekenntnis, sondern in der Praxis.
Ich will aber auch sagen, was Kontinuität der Außenund Sicherheitspolitik für uns nicht bedeutet. Sie bedeutet nicht die Fortsetzung des Denk- und Diskussionsverbotes, das der ehemalige Bundesminister der Verteidigung erlassen hat. Sie bedeutet nicht, jahrelange Menschenrechtsverletzung von diktatorischen Regimen mit
zugekniffenen Augen geschehen zu lassen, sondern bedeutet, eine präventive Krisenbewältigungspolitik zu
entwickeln und dort zu implementieren, wo die Würde
der Menschen verletzt wird.
Kontinuität heißt auch nicht, weiterhin Rüstungsexporte in Länder zuzulassen, die krisengeplagt sind, die
Menschenrechte mit Füßen treten. Wir werden zukünftig
vielmehr auf der Grundlage des Menschenrechtsstandards unsere Rüstungsexporte bewerten bzw. einschränken und einstellen.
Frau
Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Ja,
bitte.
Frau Kollegin Beer, da
Sie von Kontinuität sprechen, darf ich fragen - vielleicht
kommt es noch in Ihrer Rede -, ob Sie in Ihrer eigenen
Politik ebenfalls Kontinuität haben werden, zum Beispiel in Ihrer Kritik an den öffentlichen Gelöbnisfeiern
wie in Kiel. Ich darf mit meiner Frage das verbinden,
was in den „Kieler Nachrichten“ stand. Ich wäre Ihnen
für eine Auskunft dankbar, ob es erstens stimmt, was die
„Kieler Nachrichten“ zur öffentlichen Gelöbnisfeier in
Kiel und Ihren Aussagen dazu geschrieben haben, und
ob Sie zweitens als Mitglieder einer der die Regierungskoalition tragenden Fraktionen dabei bleiben werden.
Die „Kieler Nachrichten“ schreiben:
. . . Angelika Beer sprach von einer „aggressiven
militärischen Demonstration“, für die „öffentlicher
Raum beschlagnahmt wird.“ Gemeinsam mit dem
Bündnis der Gelöbnisgegner sprach sie sich für
Störungen der Feier aus . . .
Werden Sie das auch zukünftig machen?
({0})
Jetzt
haben Sie mich echt erwischt.
({0})
Ich will Ihnen einmal etwas sagen. Das gehört zu dem
Bereich, zu dem ich sage: Kontinuität werden wir in dieser Form nicht weiterführen.
Die Instrumentalisierung der Bundeswehr, auf dem
Rücken der Rekruten Wahlkampf zu machen, mit
Zwang und politischem Druck in diversen Städten in
den Wahlmonaten öffentliche Gelöbnisse abzuhalten ich rede auch zu Ihnen, Herr Kollege Rühe -, diese Zeit
der Kontinuität ist beendet. Wir werden keinen Wahlkampf mit der Bundeswehr machen, sondern wir werden
die Bundeswehr in einen Dialog einbeziehen.
Wir werden kritische Stimmen aus der Bundeswehr
unterstützen, daß man sich mißbraucht fühle, nicht nur
durch jene Art der öffentlichen Gelöbnisse, wie zum
Beispiel in Kiel oder in Berlin, sondern auch durch die
Plakatierung von Soldaten im Wahlkampf, mit der alle
anderen demokratischen Parteien aus der Friedenspolitik
ausgegrenzt werden. Dieser Art werden wir auch zukünftig Proteste entgegenstellen, wie immer friedlich
und phantasievoll. Ich kann Sie beruhigen: Unter diesem
Verteidigungsminister wird das Szenario Ihres Kollegen
Rühe mit Sicherheit nicht Wirklichkeit werden. Hierzu
wird es nur kommen, wenn es sicherheitspolitisch und
als Signal in der Außenpolitik einen Sinn macht, aber
nicht, um die eigene politische Karriere zu formulieren.
Das hat der Kollege Scharping nicht nötig.
({1})
Ich möchte noch einmal auf die Frage der Rüstungsexporte zurückkommen. Herr Gehrcke, Sie haben die
Türkei genannt und gefragt: Wann wird die Koalition
gegen die Türkei die Menschenrechte der Kurden durchsetzen? Ich glaube, es ist falsch, zu sagen: „gegen die
Türkei“. Wir müssen mit der türkischen Bevölkerung
die Anerkennung der Menschenrechte der kurdischen
Bevölkerung durchsetzen. Dazu gehört es natürlich, dem
türkischen Militär nicht weiter militärische Güter und
Waffen zur Verfügung zu stellen, dazu gehört auch eine
kritische Positionierung nicht nur zur Einhaltung der
Menschenrechte und zur engeren Kooperation mit der
Europäischen Union, sondern dazu gehört es auch, die
zivile Kontrolle über das türkische Militär durchzusetzen. Denn nur dann werden die Rechte des kurdischen
Volkes Anerkennung finden.
Ich möchte noch zwei Bereiche ansprechen, die wir
für unabdingbar halten und die ein Zeichen setzen für
die zukünftige Sicherheits- und Außenpolitik.
Erstens möchte ich sagen: Wir stehen vor einer globalen Herausforderung hinsichtlich der Abrüstung. Wie
kann zum Beispiel das KSE-Regime weiterentwickelt
werden? Welche Anstöße braucht der stagnierende atomare Abrüstungsprozeß gerade angesichts der Verhandlungen vor den Vereinten Nationen? Wie kann erreicht werden, daß wir endlich international zu einem
Verbot aller Landminen kommen? Wie können wir diesen Prozeß weiterentwickeln und international tragfähig
machen? Wie reagieren wir auf die Herausforderungen
der neuen technologischen Entwicklungen in bezug auf
die Dual-use-Problematik und die Früherkennung von
möglichen Rüstungswettläufen? Wie also können wir
präventive Rüstungskontrolle zum Bestandteil aktiver
Politik machen?
Dies sind die zentralen Bereiche und Herausforderungen. Wir werden die Praxis und unsere Verantwortung daran messen. Wir werden - das haben wir uns
gemeinsam vorgenommen - dieser Herausforderung mit
offenem Gesicht entgegengehen.
Der zweite Bereich sind die zivile Konfliktbearbeitung - Kollege Scharping hat dies bereits genannt - und
die Frage des Aufbaues der Krisenprävention. Es ist
das erste Mal, daß sich Deutschland an Peace-keeping
und an Peace-building beteiligen wird. Wir werden
„Schüler helfen leben“, zivile Friedensdienste fördern,
um eben, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist, zu
zeigen, daß wir aufmerksam sind, daß wir reagieren, daß
wir agieren, daß wir international intervenieren, unterhalb der militärischen Schwelle. Das ist doch das Defizit
der Politik gewesen, die Sie, Herr Rühe, in den letzten
Jahren mitzuverantworten hatten.
Zum Schluß möchte ich auf den Kosovo eingehen.
Der Kosovo hat uns hier schon mehrmals beschäftigt,
allerdings viel zu spät. Die Opposition - SPD wie Grüne - hat vor zehn Jahren die ersten Anträge eingebracht,
um auf die massivsten Menschenrechtsverletzungen im
Kosovo hinzuweisen.
Während der Dayton-Verhandlungen hat die damalige
Opposition darauf hingewiesen, daß im Kosovo ein gefährlicher Konfliktherd entsteht. Es gab nichts als Arroganz und einen Aktenzerreißer auf der Hardthöhe, der
gesagt hat: Interessiert uns nicht.
Der letzte Beschluß zum Kosovo war ein Bruch in
der Kontinuität der bisherigen Außenpolitik, weil er
nicht auf eindeutiger Grundlage der Vereinten Nationen
gefaßt worden ist. Aber ich sage auch - das sage ich
auch als Vertreterin der Grünen-Fraktion -: Wir werden
wohlwissend um die Defizite der Vergangenheit heute
die Verantwortung übernehmen. Es werden weder die
dort lebenden Menschen noch jene, die im Rahmen der
OSZE dort eingesetzt werden, für eine unverantwortliche Politik zu büßen haben, die die bisherige Regierung
zu verantworten hat.
({2})
Wir werden dem Abkommen, das heißt der OSZEDelegation und der Luftüberwachung, zustimmen, mehr
noch: Wir werden uns dafür einsetzen, daß Mittel freigestellt werden, damit wir im Rahmen des Open-SkiesVertrages wieder eine Tupolew oder ein anderes Flugzeug einsetzen können, um im präventiven Bereich eine
aktive OSZE-Politik zu betreiben. Sie, Herr Rühe, haben
das Geld dafür verweigert.
Wir werden auch einem Mandat für einen militärischen Einsatz zustimmen, den wir hoffentlich verhindern können; denn wenn wir mutige Zivilisten haben,
die sagen, daß sie ohne Waffen in diese Region hineingehen, wo auch heute noch jeden Tag Auseinandersetzungen stattfinden, dann haben Sie das Recht und wir
die Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Menschen, wenn
Milosevic oder andere wieder ihr Wort brechen, gerettet
werden. Das ist die Verantwortung, vor der wir stehen.
Deswegen werden wir dem Einsatz auch zustimmen.
({3})
Zum Ende noch eine Bemerkung, Herr Kollege Rühe.
Ich will nicht zuviel Zeit auf Ihre Beiträge, die heute relativ substanzlos waren, verwenden. Sie werden es nicht
schaffen, die neue Koalition in der Frage der Kommission, die die Zukunft der Bundeswehr, die politischen
Aufgaben, die Struktur und die Ausrüstung für das
21. Jahrhundert bestimmen wird, zu spalten. Wir werden
ein Ergebnis haben, auch wenn das Ergebnis heute offen
ist. Das Ergebnis wird das sein, was Sie immer verhindert haben: Es wird darin bestehen, daß der Bundeswehr
eine Struktur und ein Auftrag gegeben werden, die nicht
nur vom Verteidigungsminister, sondern auch von der
Bundeswehr selber, von dem Parlament, also von der
Politik, und von der Gesellschaft getragen werden; denn
nur so können wir auf die Herausforderungen des
21. Jahrhunderts eine verläßliche Antwort geben. Darum
werden wir uns gemeinsam bemühen. Da können Sie
querschlagen, wie Sie wollen. Diese Zeiten sind vorbei.
({4})
Das
Wort hat der Kollege Gernot Erler von der SPD.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Debatte war mehrfach
von dem Grundkonsens in der Außen- und Sicherheitspolitik die Rede. Ich möchte eines hier klarstellen:
Man kann sich mit der Interpretation von verschiedenen
Teilen des Hauses nicht einverstanden erklären, daß
ein solcher Grundkonsens etwa signalisiere, daß es einer
neuen Regierung an Innovation und an Ideen mangele
oder daß sie pauschal alles, was bisher gewesen ist, gutheiße.
Aus meiner Sicht ist ein möglichst breiter Grundkonses in der Außen- und Sicherheitspolitik ein Signum eines zivilisierten, demokratischen Staatswesens.
({0})
Es lohnt sich, auf jeden Fall große Anstrengungen zu
unternehmen, um daran festzuhalten. Ich will eines
gleich anfügen: Das Bemühen um diesen Grundkonsens
ist wesentlich auch Aufgabe der Opposition. Darum haben wir uns in den letzten Jahren in der Opposition bemüht. Es gibt jetzt auch eine Bringschuld von Ihnen,
sich um diesen Grundkonsens zu bemühen.
({1})
Kontinuität besteht nicht nur in der Arbeit um Vertrauen im Ausland; vielmehr gibt es auch Spielräume
- auch das steht in der Koalitionsvereinbarung - in der
Kontinuität für neue Initiativen und für neue Impulse.
Ich möchte hier drei Felder nennen, die mir sehr
wichtig erscheinen: Das erste ist das, was ich den gesamteuropäischen Integrationsprozeß nennen möchte,
bestehend aus dem Erweiterungsprozeß der Europäischen Union und dem der westlichen Allianz, der
NATO. Was noch nicht alle genügend gespürt haben, so
glaube ich, ist, daß 1998 in dem gesamteuropäischen
Integrationsprozeß eine neue Phase begonnen hat. Definitiv geht eine Phase zu Ende, in der es möglich und
auch üblich war, in die Hauptstädte der Transformationsstaaten zu fahren und dort wohlwollende Bekenntnisse abzugeben. Dadurch konnte man sehr preiswert
Zustimmung und populäre Erfolge erringen, aber ohne
eine dahinterstehende Substanz. Diese Phase geht definitiv zu Ende, denn seit mehreren Monaten läuft die
Vorverhandlungsphase. Jetzt - buchstäblich heute - beginnt offiziell die Verhandlungsphase gleich zu solch
wichtigen Themen wie Telekommunikation, Bildung,
Wissenschaft, Forschung, Industriepolitik und anderem,
insgesamt zu sieben verschiedenen Kapiteln.
Ende letzter Woche sind uns die ersten der sogenannten Fortschrittsberichte der Europäischen
Kommission vorgelegt worden. Das heißt, jetzt wird die
Frage der Anpassungsleistung der Transformationsstaaten objektiviert. Das ist eine neue Phase, denn jetzt wird
das konkret gemessen, was man Strukturreife nennt. Das
ist eine immense Arbeit dieser Transformationsstaaten,
die, was ihre marktwirtschaftliche Reife angeht, ordnungspolitische Kriterien vorweisen müssen, die zeigen
müssen, ob sie es schon geschafft haben, die 200 000
Seiten Text der Rechtsangleichung mit mehr als 14 000
Rechtsakten übernommen und an ihre Gesellschaft angepaßt zu haben, und die zeigen müssen, ob sie gesamtwirtschaftliche und monetäre Stabilität haben - sogar in
Richtung der Maastricht-Kriterien.
Diese Fortschrittsberichte zeigen erhebliche Fortschritte der betroffenen Länder, aber eben auch erhebliche Entwicklungsrückstände, die sehr ernst zu nehmen
sind. Dazu nur eine Zahl: Die fünf in der ersten Reihe
stehenden mittel- und osteuropäischen Staaten, mit denen jetzt konkret verhandelt wird, bringen bisher mit
180 Milliarden Ecu 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union auf. Sie stellen aber
gleichzeitig 62,6 Millionen Menschen und damit
16,8 Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union.
In diesen Zahlen liegt eine enorme Spannung, denn
darin spiegelt sich der riesige Abstand des Lebensniveaus, das sich aus Pro-Kopf-Einkommen und Kaufkraft definiert. Noch immer liegen alle Beitrittsaspiranten aus Mittel- und Osteuropa weit hinter den schwächsten Mitgliedern der Europäischen Union. Estland zum
Beispiel, ein vielgelobtes Reformland, erreicht nicht
mehr als 22 Prozent des Durchschnittsniveaus der EU,
Slowenien nicht mehr als 59 Prozent. Das heißt, daß ein
Aufholen dieser Einkommensrückstände notwendig und
wichtig ist, weil in der EU bis heute das Prinzip der
Struktur- und Kohäsionsfonds gilt, das greifen muß,
wenn die Abstände bei Regionen weniger als 75 Prozent, bei Ländern sogar weniger als 90 Prozent betragen.
In den letzten beiden Jahren wurden für diese Fonds
durchschnittlich 35 Milliarden Ecu aufgewandt. Man hat
ausgerechnet, daß, wenn heute die erste, die fortgeschrittene Gruppe, mit der im Moment verhandelt wird,
der EU beitreten würde, Ausgleichszahlungen von 20
bis 45 Milliarden Ecu notwendig wären. Das ist eine
Verdoppelung dieses Etats - völlig unrealistisch und
politisch auch gar nicht durchsetzbar.
Das heißt, wir haben eine neue Phase. Denn jetzt geht
es darum, zu fragen: Wie greifen die konkreten Anpassungshilfen, zum Beispiel die aus dem Heranführungstopf von 22 Milliarden Ecu? Was tun wir denn
konkret, um in der sogenannten Beitrittspartnerschaft
auch in der zweiten Fünfergruppe die Anpassung mit der
sogenannten Aufholfazilität zu unterstützen, die schon
viel bescheidener ist, nämlich 100 Millionen Ecu für
zwei Jahre? Man hört leider, daß sich diese Programme
trotz dieser Bemühungen verzögern. Da habe ich eine
andere Auffassung als Sie, Herr Rühe. Ich glaube nicht,
daß man Herrn Fischer raten sollte, mit neuen, erfundenen Beitrittszahlen zu operieren. Diese Zeit geht zu Ende. Statt gebetsmühlenhaft abstrakte Unterstützung zu
versichern und dafür kostenlos Beifall einzuheimsen,
müssen wir jetzt zeigen, daß wir bereit sind, die Ärmel
in der Europäischen Union aufzukrempeln, um die Länder auf diesem schwierigen Weg zu Gleichrangigkeit
und vor allen Dingen Wettbewerbsfähigkeit konkret zu
unterstützen. Das - nicht die abstrakte Nennung von
Beitrittsdaten - ist die Herausforderung des Tages.
({2})
Dazu gehört übrigens auch, daß endlich - dazu muß
die Bundesrepublik einen konkreten Beitrag leisten - die
Hausaufgaben der Europäischen Union gemacht werden.
Es ist noch gar nicht erreicht, daß wir selber, die 15, tatsächlich integrationsfähig sind. Hier muß noch vieles in
den Entscheidungsgremien geändert werden. Zum Beispiel muß der ganze Bereich des Agrarmarkts geändert
und reformiert werden; sonst besteht dort keinerlei Integrationsfähigkeit. Das Ziel muß dabei sein, daß neue
Grenzziehungen durch Europa verhindert werden. Der
Abstand im Geleitzug bei der europäischen Integration
darf nicht zu groß werden. Die Warnsignale aus Südosteuropa teilen uns mit, wie wichtig das ist.
Ein zweiter Punkt, wo neue Impulse notwendig sind:
Ich glaube, wir müssen unsere Politik gegenüber der
Russischen Föderation kritisch überprüfen. Die Beziehungen müssen eine breitere Grundlage bekommen. Das
sagen uns auch viele Fachleute. Ich will hier nicht die
alte Frage aufwerfen, wie wichtig ganz persönliche BeGernot Erler
ziehungen zwischen zwei ganz wichtigen Personen waren und sind. Sie hatten sehr positive Seiten. Aber jetzt
ist es an der Zeit, die Beziehungen zu diesem wichtigen
Nachbarn auf eine andere, auf eine breitere Grundlage
zu stellen.
({3})
Wir müssen die Stimmen derjenigen, die aus der
Staatsduma und aus dem Föderationsrat kommen, aufgreifen, die sagen, daß sie gerne engere Beziehungen
mit dem Deutschen Bundestag, vor allen Dingen auf der
fachlichen Ebene, haben wollen. Wir müssen auch zur
Kenntnis nehmen, daß es heute ganz andere wirtschaftliche und gesellschaftliche Kräfte mit großem Einfluß in
einem sich ändernden politischen System in Rußland
gibt, die uns herausfordern. Wir müssen aber auch die
Politik der internationalen Finanzorganisationen, von
IWF und Weltbank, auf ihren Sinn und ihre Wirksamkeit überprüfen. Da erscheinen gerade in diesem Jahr
große Fragezeichen.
Es gibt - auch das ist etwas, was wir als Regierung in
der neuen Legislaturperiode übernommen haben - eine
Baustelle, was die Erfüllung der sehr wichtigen NATORußland-Grundakte angeht. Es gibt einen positiven
Aspekt: Die Zusammenarbeit in dem Ständigen Gemeinsamen Rat funktioniert gut. Aber in der Akte stand
auch etwas über KSE und über eine neue Rolle der OSZE. Gerade das ist noch nicht erfüllt. Es handelt sich
um ein dickes Paket von innovativen Aufgaben in
der Außen- und Sicherheitspolitik für die nächsten
Jahre.
Ich komme zu einem dritten Punkt, den man unter
dem Stichwort „präventive Friedenspolitik“ zusammenfassen kann. Ich sage noch einmal: Das, was in
Südosteuropa, was in Albanien, was jetzt im Kosovo
passiert, zeigt eben leider, daß die Instrumente, die wir
hier geschaffen haben, noch nicht ausreichen. Abrüstung
ist auch heute noch kein Thema von gestern. Die Atomwaffentests in Indien und Pakistan waren für uns eine
Warnung, daß Nichtverbreitungsziele und die Eigenverpflichtung zu Abrüstung der offiziellen Atommächte
siamesische Zwillinge sind und daß man dies gar nicht
unabhängig voneinander behandeln kann.
Es ist auch klar - das ist wichtig -, daß die Rüstungskontrolle und die Rüstungsexportpolitik einer strengen
Kontrolle dieses Parlaments bedürfen. Ich kann die Aussage in der Koalitionsvereinbarung nur begrüßen, daß
ein Instrument, mit dem wir bei der Abrüstung gute Erfahrung gemacht haben, nämlich der Jahresabrüstungsbericht, jetzt auch durch einen jährlichen Rüstungsexportbericht ergänzt werden soll.
Ich persönlich bin ein bißchen besorgt. Es ist gut, daß
die NATO jetzt in der Kosovo-Krise innerhalb von wenigen Wochen die Fähigkeit demonstriert hat, eine
glaubwürdige Bedrohung gegenüber Herrn Milosevic
aufzubauen, bis hin zur Einsatzfähigkeit von 450
Kampfflugzeugen. Das hat nur wenige Wochen gedauert. Es ist gut, daß es diese Möglichkeit gibt. Aber der
zweite Teil, den auch Sie, Herr Rühe, und andere hier
angeführt haben und den auch Rudolf Scharping, der
Verteidigungsminister, sehr ausführlich beschrieben hat,
ist genauso wichtig. Es geht zum Beispiel um die Fähigkeit, die Einhaltung dieser Verträge zu beobachten und
zu kontrollieren. Da stellen wir eben fest, daß die OSZE
offensichtlich nicht die Möglichkeit hat, in kürzester
Frist eine bescheidenere Aufgabe wahrzunehmen, nämlich 2 000 Beobachter in Gang zu setzen. Hier wird also
deutlich, daß wir die Fähigkeit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, solche Aufgaben tatsächlich wahrzunehmen, bis hin zu den Instrumenten ausbauen müssen. Nur die Kombination dieser
beiden Elemente führt schließlich zum Erfolg.
({4})
Hinsichtlich der Entwicklungszusammenarbeit, liebe
Kolleginnen und Kollegen, kann ich mich kurz fassen,
weil Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul schon einiges dazu gesagt hat. Bei der Entwicklungszusammenarbeit handelt es sich, sehen wir einmal von der Soforthilfe ab, die in diesen Tagen wieder erforderlich wird,
letztlich auch um die wirksamste globale präventive
Friedenspolitik.
({5})
Die Koalitionsvereinbarung bekennt sich - das betone
ich noch einmal ausdrücklich auch in Richtung von
Herrn Gehrcke, der hier Zweifel geäußert hat - zu dem
Ziel, den Aufwand für die Entwicklungszusammenarbeit
auf 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts anzuheben,
und verspricht, die Verpflichtungsermächtigung kontinuierlich zu erhöhen. Wir werden als Bundestag darauf
achten, daß das auch so durchgesetzt wird.
Entscheidend ist, daß die Entwicklungszusammenarbeit nicht eine Art Wettbewerbsinstrument für bessere
Außenwirtschaftsdaten der Bundesrepublik ist, sondern
wirklich in den Kontext der Bildung einer gerechten
Weltwirtschaftsordnung gesetzt wird. Die Lehre der
Globalisierung heute heißt, daß es keine Inseln von Prosperität und Sicherheit mehr geben kann, sondern daß
wir bei globalisierten Märkten davon abhängig sind, ob
Gerechtigkeit überall herrscht oder nicht. Anderenfalls
fällt die Ungerechtigkeit auf uns zurück: Wenn ganze
Weltregionen marginalisiert werden, dann ist auch bei
uns Marginalisierung nicht mehr aufzuhalten. Es stellt
eine sehr große Herausforderung dar, diesen Zusammenhang zu begreifen und in konkrete Politik umzusetzen.
Das sind nur drei Beispiele von gestalteter Kontinuität in der Außenpolitik.
Auf dieser Seite des Hauses sitzen viele erfahrene
Leute. Vorhin saß hier noch Herr Kinkel. Jetzt sitzt hier
noch Herr Rühe. Ich sehe auch noch andere kompetente
Leute, zum Beispiel den Kollegen Dr. Pflüger, mit dem
wir und ich persönlich sehr gut in Abrüstungsfragen zusammengearbeitet haben. Ich greife die Bemerkungen
über den Sinn eines Grundkonsenses in der Außen- und
Sicherheitspolitik auf: Wir bieten Ihnen an, diese
schwierigen Aufgaben gemeinsam anzunehmen, und
wollen dabei auch sehr gerne von Ihren Erfahrungen und
Kenntnissen profitieren und in diesem Sinne zusammenarbeiten.
Vielen Dank.
({6})
Als
letzter Redner hat der Kollege Rudolf Bindig von der
SPD das Wort.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! In der Koalitionsvereinbarung heißt es zum Thema Menschenrechtspolitik:
Achtung und Verwirklichung der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamierten
und in den Menschenrechtsverträgen festgeschriebenen Menschenrechte sind Leitlinien für die gesamte internationale Politik der Bundesregierung.
Ich freue mich, daß aus den Reden mehrerer Regierungsmitglieder heute bereits hervorgegangen ist, daß
sie ihre Politik wirklich unter diese Leitlinie stellen
wollen. Das gilt für den Außenminister, für den Verteidigungsminister und auch für die Entwicklungsministerin.
Menschenrechtsarbeit erfordert sicherlich zunächst
einmal Betroffenheit. Man muß sich darüber empören
können, daß es Verfolgung und Unterdrückung gibt,
aber auch darüber, daß es Armut und Not auf der Welt
gibt. Der Satz, der heute hier schon mehrfach zitiert
worden ist, gilt in besonderem Maße für die Menschenrechte: Was du nicht willst, daß man dir tu‘, das füg‘
auch keinem andern zu. Bei den Menschenrechten
müßte es vielleicht besser heißen: Laß‘ nicht zu, daß andere gequält und unterdrückt werden, daß andere in Not
und Elend leben müssen, denn so willst auch du nicht
behandelt werden.
Aber Menschenrechtsarbeit darf nicht bei der Betroffenheit und der Kritik stehenbleiben. Menschenrechtsarbeit muß sich insbesondere darauf ausrichten, zu überlegen, wo wir denn, wenn die Situation so schlecht ist, wie
sie ist, Ansatzpunkte finden können, um etwas zu verändern und zu verbessern. Da müssen immer wieder neue
Initiativen ergriffen werden.
Zwei wichtige Neuerungen hat es im Zusammenhang
mit der Bildung dieser Koalition gegeben, für die wir
lange Jahre gearbeitet haben. Es wurde beschlossen, im
Deutschen Bundestag einen ordentlichen Ausschuß für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe einzusetzen.
Damit wird deutlich, daß wir dem Menschenrechtsbereich wachsende Bedeutung zumessen. Bis 1987 sind
diese Fragen zusammen mit der Außenpolitik, mit der
Innen- und bei Rechtspolitik diskutiert worden. Von
1987 bis 1998 hat es einen Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Auswärtigen Ausschusses gegeben. Jetzt richten wir diesen ordentlichen
Ausschuß ein.
Wir haben damit diesen Bereich im Deutschen Bundestag als einen eigenständigen Politikbereich etabliert;
dennoch müssen hier Querschnittsaufgaben wahrgenommen werden. Das ist wichtig. Das genaue Aufgabenfeld für diesen Ausschuß wird sich aus der praktischen Arbeit ergeben. Ich kann mir gut vorstellen, daß er
sich mit Fragen der Weiterentwicklung der internationalen und nationalen Instrumente des Menschenrechtsschutzes und der deutschen Menschenrechtspolitik im
multilateralen und bilateralen Rahmen, mit den menschenrechtsrelevanten Aspekten der Außen- und Sicherheitspolitik, der Wirtschafts- und Außenwirtschaftspolitik sowie der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, aber
auch mit den menschenrechtsrelevanten Aspekten der
Asyl- und Flüchtlingspolitik und schließlich mit Fragen
der humanitären Hilfe beschäftigt.
Eine zweite Maßnahme wurde beschlossen: Die Bundesregierung soll die Einrichtung eines politisch unabhängigen und organisatorisch eigenständigen Menschenrechtsinstituts in Deutschland unterstützen. Die
alte Mehrheit konnte sich dazu noch nicht durchringen.
Sie wollte einen Koordinierungsrat gründen. Wir haben
dagegen gesagt, daß schon im Vorfeld, um eine bessere
Zuarbeit zu erhalten, ein Instrument geschaffen werden
muß, welches mit den Nichtregierungsorganisationen
zusammenarbeiten und Politikberatung vornehmen
kann. Dieses wird jetzt geschaffen werden.
({0})
Eine operativ angelegte Menschenrechtspolitik ist unserer Auffassung nach Ausdruck der Bereitschaft zur
globalen zivilen Verantwortung. Wir müssen die Menschenrechtsfrage mit der Globalisierungsdebatte verbinden. Menschenrechte sind das globale Ethos, nach dem
immer gefragt wird. Was in der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte und in den internationalen Menschenrechtspakten festgelegt ist, kann der Maßstab für
eine wertorientierte Zielsetzung der gesamten internationalen Friedenspolitik werden.
Wichtig ist neben der Entwicklung der politischen Instrumente aber auch die Förderung der Verrechtlichung
der Menschenrechte. Im System des Europarates ist hier
ein wichtiger Fortschritt erreicht worden. Ab November
arbeitet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als ständiger Gerichtshof mit hauptamtlichen
Richtern. Die bisherige Mischung eines politisch administrativen Verfahrens mit einem rechtlichen Verfahren
weicht einem hauptsächlich rechtlichen Verfahren. Dies
ist ein Durchbruch im Völkerrecht.
({1})
Es ist wirklich ein historisches Ereignis gewesen, daß
sich 40 Länder direkt und unmittelbar der Rechtsprechung eines übernationalen Gerichtes unterwerfen.
Bis es beim Internationalen Strafgerichtshof soweit
ist, wird es noch einige Zeit dauern. Hier geht es jetzt
darum, die Ratifizierung voranzubringen. Wir werden
uns darum intensiv bemühen müssen. Wir wollen auch
UN-Institutionen weiter stärken: den UN-Hochkommissar für Menschenrechte und das Menschenrechtszentrum
in Genf. Hier geht es vor allen Dingen darum, Feldoperationen wie die Einrichtung von Menschenrechtsbüros zu unterstützen. Im Rahmen des Europarates geht
es darum, das Mandat des Kommissars für Menschenrechte zu definieren und festzuschreiben und diese
Institution dann auch mit den ausreichenden Mitteln zu
versehen. Es hat keinen Zweck, Einrichtungen im internationalen Bereich zu schaffen, die dann dahinkümmern müssen, weil sie nicht in der Lage sind, entsprechend zu arbeiten. Natürlich ist es wichtig, zuerst
das Instrument zu schaffen; wenn es dann aber da ist,
bedarf es der Unterstützung. Wir hoffen, daß es gelingt,
auch von Deutschland aus diese Unterstützung voranzubringen.
Wir hoffen, in den UN aus Anlaß des 50. Jahrestages
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine
Resolution zum Schutz der Menschenrechtsverteidiger und der Menschenrechtsaktivisten zuwege zu
bringen. Es ist leicht, sich in einer Demokratie, in der
man sicher lebt, für die Menschenrechte einzusetzen,
aber ich respektiere immer ganz besonders diejenigen,
die unter Einsatz ihres eigenen Lebens bereit sind, für
Menschenrechte und Demokratie zu kämpfen. Sie zu
unterstützen und einen Schutzschirm aufzubauen ist ein
wichtiges Ziel.
({2})
Im operativen Bereich können wir sicherlich noch einiges tun, um dafür zu sorgen, daß wir dann, wenn die
internationalen Organisationen - sei es die OSZE, der
Europarat oder die UN - Experten brauchen, die in die
Länder gehen, um Wahlbeobachtungen zu machen oder
Verifizierungsaufgaben wahrzunehmen, auch Fachleute
zur Verfügung stellen können. In Kanada gibt es eine
bemerkenswerte Einrichtung, die Personal zur Verfügung stellt: Canadem. Das ist ein Kunstwort aus „Canada“ und „democracy“. Vielleicht können wir etwas
Ähnliches bei uns schaffen.
Auch nach innen gerichtet wollen wir uns um die
Menschenrechte kümmern. Da gibt es noch einige
Grenzbereiche im Asyl- und Flüchtlingsbereich. Ich
möchte das Flughafenverfahren nennen. Ebenso sollten
wir uns die Bereiche noch einmal genau ansehen, in denen Menschen, insbesondere Ausländer, in Gewahrsam
sind.
({3})
Wir sollten auch überlegen und prüfen, ob es nicht
Möglichkeiten gibt, im Zivildienst für Menschenrechte
tätig zu werden. Eine weitere Aufgabe ist die Förderung
der Menschenrechtserziehung in Deutschland.
Es gibt also eine Menge zu tun. Einiges haben wir bereits eingeleitet, anderes haben wir uns vorgenommen.
Es ist ein anstrengendes und anspruchsvolles Programm.
Wir werden uns gemeinsam bemühen, es umzusetzen.
({4})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der
Bundesregierung zur deutschen Beteiligung an der
NATO-Luftüberwachungsoperation über dem Kosovo
auf Drucksache 14/16 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die
Überweisung beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 11. November
1998, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.