Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9a sowie die Zu-
satzpunkte 6a bis 6c auf:
9 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Peter Struck, Otto Schily, Wilhelm Schmidt
({0}), weiteren Abgeordneten der Fraktion der SPD, den Abgeordneten Kerstin Müller
({1}), Rezzo Schlauch, Kristin Heyne, weiteren Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten
Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Guido Westerwelle,
Jörg van Essen und weiteren Abgeordneten der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
- Drucksache 14/533 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({2})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP6 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter
Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts
({3})
- Drucksache 14/535 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({4})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Modernes Ausländerrecht
- Drucksache 14/532 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({5})
Rechtsausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Integration und Toleranz
- Drucksache 14/534 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({6})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die SPDFraktion dem Kollegen Michael Bürsch das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist nicht nur
für das Gelingen der Ausländerintegration von zentraler
Bedeutung. Sie steht auch für die Reform- und Zukunftsfähigkeit der Politik insgesamt. - Diese richtige
Feststellung stammt von den Kollegen Altmaier und
Röttgen aus der Unionsfraktion. Ich stimme dem nachdrücklich und uneingeschränkt zu. Wir befassen uns
heute in der Tat mit einem Modellprojekt für die Reformfähigkeit unserer Gesellschaft.
Zunächst eine Vorbemerkung zum bisherigen Stil der
Auseinandersetzung über die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. In Deutschland wurde über dieses Thema
in den letzten Monaten intensiv gestritten: in politischen
Veranstaltungen, in den Medien, an Infoständen und
nicht zuletzt am Stammtisch. Kein Zweifel, eine Demokratie braucht Auseinandersetzung über den richtigen
Weg. In letzter Zeit aber drohte ein entscheidendes Element unserer Demokratie unter die Räder zu geraten,
nämlich die politische Kultur.
({0})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, ich plädiere für eine Form
des politischen Streits, die dem Ernst des Themas und
seiner gesellschaftlichen Bedeutung Rechnung trägt.
Lassen Sie uns vom heutigen Tage an engagiert, aber
sachlich, Herr Rüttgers, leidenschaftlich, aber tolerant
über das Staatsangehörigkeitsrecht streiten!
({1})
So müßten im Grunde auch Sie von der CDU/CSU denken; denn Sie haben öffentlich erklärt und so Ihren Antrag begründet, bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts handle es sich um ein höchst sensibles Thema.
Wie wahr!
({2})
Nach dem Motto: Wo bleibt das Positive?, möchte
ich zunächst herausstellen, worüber wir uns beim Thema
Staatsangehörigkeitsrecht im Prinzip einig sind. Fraktionsübergreifende Übereinstimmung besteht darüber, daß
das veraltete Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht von
1913 dringend reformbedürftig ist. Unbestritten ist auch
die Notwendigkeit, den dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen umfassende politische Teilhabe zu ermöglichen.
Schon 1984 war die damalige Bundesregierung der
Auffassung: Kein Staat kann es auf Dauer hinnehmen,
daß ein zahlenmäßig bedeutender Teil der Bevölkerung über Generationen hinweg außerhalb der staatlichen Gemeinschaft und außerhalb der Loyalitätspflichten ihm gegenübersteht.
Schließlich kann niemand in diesem Hause und in öffentlichen Diskussionen ernsthaft bestreiten, daß bei einer Zahl von über 7 Millionen Ausländern nur verstärkte
Integrationsbemühungen den sozialen Frieden in
Deutschland sichern können.
({3})
Was sind nun die entscheidenden Fortschritte im
vorgelegten Staatsangehörigkeitsrecht? Innenminister
Schily wird am Ende der Debatte in seinem Beitrag noch
ausführlich erläutern, was Neues in dem Entwurf steht.
Vor allem mit der Einführung des Territorialprinzips
und der deutlichen Verkürzung der Einbürgerungsfristen
erreichen wir wichtige Verbesserungen. Auch für Vertriebene und Aussiedler gibt es Vereinfachungen. Auf
die Einführung des Territorialprinzips oder Jus soli haben wir Sozialdemokraten sehr lange gewartet, um genau zu sein: 86 Jahre lang. Schon 1913 kämpften wir damals erfolglos - für dessen Einführung. Der sozialdemokratische Abgeordnete Landsberg prophezeite damals:
Wenn unsere Anträge jetzt nicht das Recht der Gegenwart werden, so werden sie ganz sicherlich das
Recht der Zukunft sein, und wir sind stolz darauf,
daß wir auf diesem Gebiete wieder einmal als Pioniere tätig geworden sind.
({4})
Nun, daß es bis zur Einführung des Jus soli so lange
dauern würde, konnte damals natürlich niemand ahnen,
Herr Westerwelle. Aber wir Sozialdemokraten kennen
seit über 130 Jahren den Reiz der Langsamkeit
({5})
- und der Gründlichkeit, so füge ich hinzu, Herr Marschewski.
({6})
Auf jeden Fall können wir am Ende dieses Jahrhunderts nun endlich damit beginnen, unsere Vorstellungen
von einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht zu verwirklichen. An zwei Punkten entzündet sich die augenblickliche Debatte besonders: am sogenannten Optionsmodell und an der Hinnahme doppelter Staatsangehörigkeit.
Zum Optionsmodell. Wir sind der Meinung, daß der
vorgelegte Entwurf mit der Verfassung, insbesondere
mit Art. 16, vereinbar ist. Zu dieser rechtspolitischen
Frage wird meine Kollegin Christine Lambrecht noch im
einzelnen Stellung nehmen. - Auch viele Mitglieder der
Unionsfraktion sind offenbar - wie wir - von der Verfassungsmäßigkeit der Optionslösung überzeugt; denn
nur so ist es zu erklären, daß über ein Drittel der Unionsabgeordneten auf einer Fraktionssitzung im Januar
für das Optionsmodell votiert haben. Es gibt bei der
CDU sogar einen sehr prominenten Kronzeugen, der
sich schon 1993 bei einem Besuch der Türkei für das
Optionsmodell ausgesprochen hat. Herr Rüttgers, Herr
Marschweski, es handelt sich um Helmut Kohl, den Altkanzler. Er sagte damals bei einem Türkeibesuch: Dieses Optionsmodell ist in Ordnung. Für fünf Jahre sollen
die jungen Leute die Möglichkeit für die doppelte
Staatsangehörigkeit haben.
({7})
- Wenn Sie Zweifel an dieser Aussage haben, lege ich
Ihnen gerne die Quellen dazu offen.
Herr Schäuble, wenn Sie wirklich von der Überlegenheit Ihres Modells überzeugt sind, geben Sie doch in
dieser wichtigen Frage die Abstimmung in Ihrer Fraktion frei!
({8})
In Ihrer Fraktion gibt es ja nachhaltige Stimmen auch für
das Optionsmodell. Geben Sie die Abstimmung frei;
dann hätten wir am Ende nämlich tatsächlich die breite
parlamentarische Mehrheit, die auch Sie immer gefordert haben.
({9})
Zum zweiten Streitpunkt, der Frage der Doppelstaatlichkeit. Die Notwendigkeit, Doppelstaatlichkeit
zumindest in bestimmten Fällen hinzunehmen, wird im
Grundsatz von allen Fraktionen anerkannt. Der vorliegende Gesetzentwurf ergänzt nun in einigen Punkten sehr zurückhaltend - die bereits existierenden Möglichkeiten zur Hinnahme von Mehrstaatlichkeit, unter anderem für junge Menschen während einer Optionszeit von
fünf Jahren.
Besonders dringlich ist es, der ersten Ausländergeneration, die wir als Arbeitskräfte ins Land geholt haben
und die hier seit vielen Jahren integriert ist, volle Bürgerrechte zu gewähren und die Einbürgerung zu erleichtern. Darauf haben zum Beispiel die evangelische
und die katholische Kirche zu Recht hingewiesen.
Emotionale Barrieren beim Verzicht auf die alte
Staatsangehörigkeit sollten wir dabei nicht als Mißtrauensbeweis und Zeichen von Illoyalität werten. Für viele
lange hier lebende Ausländer wird die Aufgabe der alten
Staatsangehörigkeit als Bruch mit der eigenen Kultur,
als Lösung von früheren menschlichen und familiären
Bindungen empfunden. Solchen emotionalen und psychologischen Aspekten müssen wir bei der Gesetzgebung Rechnung tragen.
Sie alle wissen, daß die Regierungskoalition ursprünglich einen anderen, einen konsequenteren und
auch praktikableren Gesetzentwurf vorgelegt hat. Unter den derzeitigen Rahmenbedingungen haben wir davon Abstriche gemacht, mit der Absicht, unserem politischen Ziel der Integration von Ausländern jedenfalls
mit einem ersten Reformschritt näherzukommen. Namentlich bei der Frage der Hinnahme von Doppelstaatlichkeit hätten wir uns bekanntlich eine etwas weniger
engherzige Lösung gewünscht. Aus meiner Sicht gibt es
auch nach wie vor keinen durchschlagenden sachlichen
Grund, die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit zu diskreditieren:
Bereits heute wird in der Bundesrepublik Deutschland die doppelte Staatsangehörigkeit akzeptiert, …
ohne daß dies zu gravierenden praktischen, juristischen oder politischen Problemen geführt hätte.
Diese wunderbar klarsichtige Formulierung stammt
nicht aus der SPD, sondern ist Originalton F.D.P. Bereits im April 1993 hat die F.D.P.-Fraktion einen Gesetzentwurf befürwortet, „der die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit nicht mehr verlangt“.
Im übrigen waren es Union und F.D.P. selbst, die die
doppelte Staatsbürgerschaft seit 1990 in einer Weise gesetzlich ermöglicht haben, daß bei rund einem Drittel
der Eingebürgerten die Beibehaltung ihrer alten Staatsbürgerschaft zugelassen wird. Allzugern verschwiegen
wird auch, daß die über 2 Millionen Doppelstaatler in
Deutschland, unter ihnen honorige Lehrerinnen und
Lehrer, Verwaltungsbeamte und Polizisten,
({10})
tagtäglich die unproblematische Handhabung von
Mehrstaatlichkeit vorleben.
Wie sehr die Probleme der doppelten Staatsangehörigkeit in Deutschland überdramatisiert werden, Herr
Marschewski, zeigen nicht zuletzt die durchweg positiven Erfahrungen anderer Länder. Schauen wir auf
diesem Gebiet nach Frankreich, Großbritannien und den
Niederlanden. Nehmen Sie als Beispiel die überaus beliebte niederländische Königin Beatrix. Sie besitzt nicht
eine, nicht zwei, nicht drei, sie besitzt vier Staatsbürgerschaften, neben der niederländischen auch die deutsche,
die englische und die kanadische; man höre und staune.
({11})
Kein Niederländer, Herr Marschewski, hat jemals ernsthaft bezweifelt, daß seine Königin Beatrix eine loyale,
staatstreue Holländerin sei.
({12})
Auch käme niemand auf die Idee, Herr Zeitlmann,
einem Bayern vorzuhalten, er könne nicht gleichzeitig
auch ein guter Deutscher und ein guter Europäer sein.
({13})
Zum jetzigen Gruppenantrag bleibt festzuhalten:
Auch ohne generelle Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft macht die nun gefundene Lösung vielen
ausländischen Mitmenschen ein ihnen lange vorenthaltenes, faires Integrationsangebot, als politisch und
rechtlich Gleiche in unserer Gesellschaft heimisch zu
werden. Das ist ein deutlicher Schritt in die richtige
Richtung.
({14})
Indem wir ausreichende Sprachkenntnisse, Unterhaltsfähigkeit und Verfassungstreue von den Einbürgerungsbewerbern verlangen, machen wir außerdem deutlich, daß es eine Einbürgerung zum sogenannten Nulltarif nicht gibt. Die flexible Ausgestaltung der Voraussetzungen gewährleistet zugleich, daß sie einer Einbürgerung keine unüberwindbaren Hürden vorsetzen.
Genauso wichtig wie rechtliche Erleichterungen darauf sollten wir in der heutigen Debatte hinweisen ist letztlich der Bewußtseinswandel, der durch die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in Gang gebracht werden soll; denn ohne das berechtigte Vertrauen
der deutschen und der ausländischen Bevölkerung in die
wechselseitige Bereitschaft zu Toleranz und Akzeptanz
werden weitere Reformschritte und Integrationserfolge
nicht möglich sein. Integration im rechtlichen, sozialen,
sprachlichen und kulturellen Bereich muß zukünftig viel
stärker als eine gesellschaftliche Daueraufgabe begriffen
werden. Bessere Rahmenbedingungen allein werden
nicht zu mehr Integration führen. Vielmehr brauchen wir
ein langfristig angelegtes Bündnis für Integration von
Bund, Ländern und Kommunen, von Kirchen und Verbänden und über Parteigrenzen hinweg.
({15})
Dafür brauchen wir Aufklärung, Toleranz und einen
langen Atem. Dazu müssen wir bereit sein, zum Beispiel
den Erwerb der deutschen Sprache stärker als bisher zu
fördern.
({16})
- Wir werden das vorlegen, Herr Zeitlmann.
({17})
Lassen Sie mich zum Schluß einen Hinweis geben,
der vielleicht zu allgemeiner Zustimmung führen kann.
Ich habe dafür plädiert, daß wir die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts von nun an sachlich und konstruktiv diskutieren. In diesem Sinne möchte ich mit einem
Zitat aus dem 3. Buch Moses schließen
({18})
- die Bibel gibt soviel her, auch für diesen Fall -, dessen friedensstiftender Wirkung sich hoffentlich auch
die christlich orientierte Fraktion in diesem Hause
nicht entziehen kann. Im 3. Buch Moses, 19. Kapitel
heißt es:
Wenn … ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr
ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei
euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn schätzen wie dich selbst.
({19})
Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Zeitlmann für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Bürsch, ich habe Ihnen relativ intensiv zugehört.
({0})
Das fällt schwer, wenn sich jemand so scheinheilig verhält.
({1})
Ich verzeihe Ihnen noch den Moses. Das ist Ihr Problem.
Was ich Ihnen aber nicht verzeihe, ist, daß Sie hier zu
Anfang sagten, wir hätten die politische Kultur verletzt
({2})
- warten Sie nur! -, als wir ein ganz normales demokratisches Recht in Anspruch genommen haben, nämlich
eine Mobilisierung der Öffentlichkeit zu einem unsinnigen Gesetz zu unternehmen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich komme aus einem
Wahlkreis, wo wir bei 220 000 Wahlberechtigten zwischenzeitlich 55 000 Unterschriften haben.
({4})
Wenn Sie wollen, nenne ich Ihnen namhafte SPD-Leute
in meinem Wahlkreis, die ganz offen in die Geschäftsstelle kamen und gesagt haben: Diesen Unsinn mache
ich nicht mit. - Wenn Sie wollen, nenne ich Ihnen auch
Mitglieder Ihrer Partei, die sich bei mir telefonisch gemeldet haben und gefragt haben: Haben die noch alle
Tassen im Schrank?
({5})
Sie können kritisieren. Aber Sie können sich nicht
hier hinstellen und jemandem vorwerfen - wie haben
Sie gesagt? -, ein Element der Demokratie und die politische Kultur zu verletzen,
({6})
wenn Sie nicht Ihren eigenen Leuten, die ähnlich denken
wie ich, diesen Spiegel vorhalten. Daß Sie in der weiteren Rede von emotionalen Regungen - das war Ihre
Formulierung - der Menschen gesprochen haben, auf
die man Rücksicht nehmen muß, weil sie nicht verzichten können, sprechen, paßt mir ebenfalls nicht ganz.
({7})
Sie machen Emotionen zur Grundlage Ihrer Überlegungen; aber auf die Emotionen Ihrer Wähler und der Bürger in diesem Lande nehmen Sie keine Rücksicht.
({8})
Diesen Widerspruch müssen Sie erst einmal auflösen.
Herr Bürsch, ein bißchen Chuzpe war schon dabei,
als Sie sagten: Gebt ihr Unionsleute doch die Abstimmung frei!
({9})
Ich sitze seit 1987 im Parlament.
({10})
Ich kann Ihnen nur sagen: Was ist denn bei Ihnen? Geben Sie doch die Abstimmung zu unserem Modell „Einbürgerungszusicherung“ frei! Was ist das Problem? Sie
wissen ganz genau, daß Sie sie nicht freigeben - aus
ganz klaren Gründen.
Ich habe mir einmal schriftlich geben lassen, was in
den letzten Wochen von namhaften Vertretern der Bundesregierung zum Thema Optionsmodell gesagt worden
ist. Am 2. Februar zum Beispiel gab es eine Sendung
mit dem Bundeskanzler: „Was nun, Herr Schröder?“
({11})
- Ich habe es nicht vergessen, Kollege Bötsch. - In diesem Fernsehinterview sagte Herr Schröder, eine doppelte Staatsbürgerschaft nur bis zur Volljährigkeit, wie
es die F.D.P. vorgeschlagen habe, mache eine Verfassungsänderung nötig. Er verwies auf die Bestimmung
des Grundgesetzes, nach der eine deutsche Staatsbürgerschaft nicht entzogen werden kann. Diese Bestimmung
wolle er nicht ändern; sie sei ein Bollwerk unserer Verfassung. Eine Änderung des Koalitionsentwurfs entsprechend dem F.D.P.-Vorschlag komme daher nicht in Frage. - Ähnliche Kritikpunkte sind vom Kollegen Özdemir in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ am
21. Januar 1999 vorgebracht worden.
Dann gibt es noch die wunderschöne Meldung vom
11. Februar, daß Bundesinnenminister Schily dem InfoRadio Berlin gesagt habe, er habe verfassungsrechtliche
Bedenken gegen den Vorschlag, Ausländern mit einem
Doppelpaß, die sich mit 23 Jahren nicht für eine Staatsangehörigkeit entscheiden, den deutschen Paß zu entziehen.
({12})
- Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Ich habe Sie auch
nicht gefragt, obwohl Sie manches gesagt haben, was
mich zu Fragen veranlaßt hätte.
Ich sage Ihnen eines: Eher bekommen Sie einen Elefanten in ein Mauseloch, als daß diese Bundesregierung
einmal vier Wochen bei einer Meinung bleibt.
({13})
Das ist an Hand der vorgebrachten Zitate nachweisbar.
Wenn dann jemand wie Sie, Herr Bürsch, sagt, man
könne doch ein guter Bayer und trotzdem ein Deutscher
sein, dann stimme ich ihm zu.
({14})
Aber eines kann man sicher nicht sein: Man kann nicht
ein guter Bayer und gleichzeitig ein „Saupreiß“ sein, um
das mal deutsch auszusprechen.
({15})
Das eignet sich bei uns nur noch für Witze.
({16})
- Was da alles Verleumdung ist.
Sie legen heute einen Gesetzentwurf vor, aus dem ich
einige Punkte aufgreifen möchte. Sie sagen ganz klar mit vielen Ausnahmeregelungen -, die Mehrstaatlichkeit solle künftig weit ausgedehnt werden. In einem Absatz heißt es, älteren Bürgern solle die Entscheidung in
der Frage der Doppelstaatlichkeit erleichtert werden.
Definieren Sie mir einmal, was ein älterer Mensch ist.
({17})
Setzen Sie da die Grenze bei 60 Jahren? Sie verwenden
nur allgemeine, schwammige Begriffe.
Sie schreiben weiter, vermögensrechtliche und wirtschaftliche Nachteile
({18})
sollen zur Möglichkeit der Doppelstaatlichkeit führen.
Damit ist für mich klar: Sie legen ein Gesetz vor, in das
Sie zwar formal hineinschreiben, die Mehrstaatlichkeit
solle vermieden werden, aber Sie schaffen so viele Ausnahmetatbestände,
({19})
daß Sie viele Möglichkeiten eröffnen.
Es gibt schon derzeit manche Ausnahmeregelungen;
das weiß auch ich. Wenn Sie hier darauf hinweisen, daß
es Doppelstaatler gibt, dann ist das unbestritten; das
wird durch Wiederholung nicht besser.
({20})
Sie wissen, daß es nach den statistischen Zahlen ungefähr 580 000 sind.
({21})
Aber das ist auch egal. Ich behaupte doch nicht, daß jeder, der krank ist, auch schwerkrank sein muß, und
ebenso behaupte ich nicht, daß jeder Doppelstaatler an
sich schon negativ ist. Das hat nie jemand behauptet.
({22})
Aber Sie sagen: Weil es positive Beispiele gibt, machen
wir alle zu Doppelstaatlern. Das ist aus Ihrer Diktion
hervorgegangen. Viele, unter anderem Frau Müller und
Herr Struck, haben gesagt, momentan müßten sie etwas
Kreide fressen; aber irgendwann kämen sie auf ihre Urvorstellungen von genereller doppelter Staatsangehörigkeit zurück. Das können Sie doch nicht bestreiten. In Ihrer Diktion haben Sie ähnliches zum Ausdruck gebracht.
Ein weiteres Argument muß ich noch loswerden: Sie
wollen künftig jedem ausländischen Jugendlichen die
doppelte Staatsangehörigkeit geben. Ich habe einmal
durchgerechnet, wie viele Jugendliche das betrifft. In
Deutschland werden pro Jahr in etwa 100 000 ausländische Kinder geboren. Wenn ich einmal von einer geringeren Zahl ausgehe, dann werden davon etwa 60 000
ausländische Kinder eingebürgert. Wenn Sie das jetzt
rückwirkend auf die letzten zehn Geburtsjahre beziehen,
dann heißt das, daß mit einem Federstrich 600 000 ausländische Jugendliche eingebürgert werden.
Ich frage Sie, wie viele Ausländer nach der Kriminalitätsstatistik - ({23})
- Wenn ich boshaft wäre, würde ich sagen - ({24})
- Ja, natürlich, jetzt bin ich boshaft. Was stört Sie denn
daran, wenn man im Zusammenhang mit dem vorliegenden Thema auch über Kriminalität diskutiert?
({25})
Ist man in diesem Hause nicht mehr in der Lage, bei einem solchen Thema auch über den Aspekt der Kriminalität zu diskutieren?
Ich will wissen, ob Sie sich Gedanken darüber gemacht haben, daß Sie künftig alle kleinen Mehmets
hierbehalten müssen.
({26})
Mit der von Ihnen vorgesehenen Regelung müssen Sie
diejenigen Menschen, die in diese Gesellschaft absolut
nicht passen und alles getan haben, um sich an den Rand
dieser Gesellschaft zu begeben, auf Dauer behalten.
({27})
- Sie können ruhig schreien.
({28})
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Kriminalität ist auch ein Aspekt, den wir berücksichtigen müssen. Deswegen müssen Sie sich diesen entgegenhalten
lassen.
Wenn Sie im Hinblick auf das Thema „doppelte
Staatsangehörigkeit“ eine Befriedung ernstlich gewollt
hätten, dann hätten Sie in Ruhe auch mit uns, mit den
Kräften der Opposition, eine gemeinsame, vernünftige
Handlungsweise zu finden versucht.
({29})
Einen solchen Versuch haben Sie nicht einmal unternommen. Sie können der Öffentlichkeit nicht erklären,
warum Sie von den Äußerungen Schröders und Schilys
bis hin zu dem heutigen Gesetzentwurf einen derartigen
Bocksprung gemacht haben. Das Produkt, das Sie heute
vorlegen, haben Sie noch vor vier Wochen für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten.
Ich sage Ihnen ganz offen: Unsere Einbürgerungszusicherung beinhaltet im Kern das, von dem Sie behaupten, daß es hinter Ihrem Gesetzentwurf stehe, nämlich ein Integrationsangebot. Nach der Zusicherung kann
man den ausländischen Jugendlichen sagen: „Ihr könnt
ab sofort damit rechnen, Deutsche zu werden, also einen
deutschen Paß zu bekommen, wenn ihr volljährig seid,
euch entsprechend gut führt und die deutsche Sprache
gelernt habt.“ Sie aber sollten einmal draußen erklären,
was an Ihrem Entwurf, in dem Sie sagen: „Ich mache
euch automatisch zu Deutschen, ob ihr wollt oder nicht;
- auch der fanatische Islamist bekommt per Expreß einen deutschen Paß für sein Kind ins Haus geschickt, ob
er will oder nicht“, besser ist. Hinzu kommt, daß Sie das
Ende Ihres Unternehmens, nämlich den Zeitpunkt, zu
dem der ausländische Jugendliche 23 Jahre alt wird, verfassungsrechtlich nicht im Griff haben. Ich kann den
Menschen Ihr Vorhaben nicht erklären. Weil ich dies
nicht kann, kann ich Ihren Entwurf nur für falsch halten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({30})
Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Hans-Peter Kemper.
Herr Kollege
Zeitlmann, Sie haben in Ihrer Rede erstens behauptet,
wir würden Kriminelle einbürgern. Ich weise Sie darauf
hin, daß Sie wider besseres Wissen mehrere Dinge unterstellt haben, die so von uns in keiner Weise angedacht
worden sind. Das wissen Sie ganz genau. Denn wir
schließen die Einbürgerung von Kriminellen bzw. von
Extremisten aus.
Zweitens haben Sie in Ihrer Darstellung eine infame
Unterstellung begangen. Denn Sie haben den Eindruck
erweckt, als ob ausländische Mitbürger deutlich krimineller wären als vergleichbare deutsche Gruppen. Sie
wissen ganz genau, daß die ausländische Bevölkerung,
die sich seit langem in der Bundesrepublik aufhält und
arbeitet, nicht krimineller ist als vergleichbare deutsche
Gruppen.
({0})
Sie wissen auch ganz genau, daß die Kriminalitätsbelastung im wesentlichen auf die einreisenden organisierten Kriminellen und auf die ausländerspezifischen
Straftaten, die die Deutschen gar nicht begehen können,
zurückzuführen ist. Ich halte es für sehr bedauerlich, daß
Sie in einer solchen Rede, vor einem solchen Publikum
diese unwahren Behauptungen wiederholen.
({1})
Im übrigen ist mir bis heute noch nicht klar: Wie soll
man zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen unterscheiden, wenn wir die ausländischen Kinder mit der
Geburt einbürgern?
({2})
Denn auch in der Vererbungslehre geht man davon aus,
daß niemand als Krimineller geboren wird, sondern daß
verschiedene Faktoren daran mitwirken, ob die MenWolfgang Zeitlmann
schen später kriminell werden oder nicht. Die Geburt hat
am wenigsten damit zu tun. Von daher geht Ihre Darstellung völlig an der Sache vorbei.
({3})
Das Wort zur Erwiderung hat der Kollege Zeitlmann.
({0})
Herr Kollege
Kemper, Sie wissen ganz genau, daß Sie hier ein Modell
vorlegen - ich habe das eingehend ausgeführt -, mit
dem Sie die Konsequenz, nämlich die endgültige doppelte Staatsangehörigkeit, verfassungsrechtlich nicht im
Griff haben. Diese Regelung ist nach den Worten Ihres
Bundeskanzlers, um es vorsichtig auszudrücken, verfassungsrechtlich bedenklich.
Was die Einbürgerung derjenigen angeht, die kriminell werden, habe ich mich nicht so falsch ausgedrückt,
wie Sie das hingestellt haben.
({0})
- Gut, dann erkläre ich es Ihnen noch einmal: Sie müssen in Kauf nehmen, daß ein gewisser Anteil derjenigen,
die Sie heute einbürgern, kriminell wird. Ich habe ja
nicht gesagt, schon das Embryo sei potentiell kriminell.
Ich weise nur darauf hin: Wenn Sie die Jugendkriminalität in unseren Großstädten in bezug auf ausländische
und inländische Bevölkerung vergleichen, dann stimmt
Ihre Rechnung nicht. In den Kreisen ausländischer Jugendlicher ist die Kriminalität definitiv höher. Sie haben
recht - etwas anderes habe ich auch nicht behauptet -,
wenn Sie sich auf die gesamte Wohnbevölkerung beziehen und dann zwischen ausländischen und inländischen
Teilen vergleichen. Unter den Jugendlichen, die Sie einbürgern wollen, ist der Anteil der Kriminellen leider erhöht.
({1})
Wenn Sie die Konsequenz der doppelten Staatsbürgerschaft nicht im Griff haben, dann nehmen Sie in
Kauf, daß Sie künftig „Mehmets“ nicht mehr abschieben
können. Das ist Faktum.
({2})
Das Wort zu einer
weiteren Kurzintervention hat die Kollegin Claudia
Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte dem Hohen Haus versichern, daß
der Eindruck eines einförmigen Bayerns nicht stimmt.
Es gibt auch ein anderes Bayern.
({0})
Es gibt ein Bayern, das radikaldemokratisch ist. Es gibt
ein Bayern, das tolerant, das offen, das großherzig ist. Es
gibt ein Bayern, das sich nicht nur am Sonntagmorgen
auf die Bibel besinnt.
({1})
Es gibt ein Bayern, das für gleiche Rechte für alle Menschen steht, das für Integration und gegen Ausgrenzung
steht. Und es gibt Menschen aus Bayern, die stolz sind,
daß sie - wie ich - irgendwo in der Verwandtschaft
noch etwas Preußisches haben.
({2})
Wenn wir schon bei der Bibel sind, dann empfehle
ich Kollegen Zeitlmann Lukas 18, 11: Da heißt es:
„Gott, ich danke dir, daß ich nicht wie die anderen Menschen bin …“ Herr Zeitlmann, das sagen die Pharisäer.
Das ist mein Wort zum Sonntag für Sie.
({3})
Schließlich noch
eine Kurzintervention des Abgeordneten Rüdiger Veit.
Ich stamme nicht aus Bayern,
sondern aus Hessen, bin aber trotzdem des Lesens und
des Schreibens kundig. Ich möchte den Kollegen
Zeitlmann fragen, ob er folgenden Satz wiedererkennt:
Seit Jahren rechtmäßig in Deutschland lebende
Ausländer sind nicht signifikant häufiger an Straftaten beteiligt als Deutsche.
Dieser Satz, der von ihm unterschrieben ist, stammt man höre und staune - aus der Drucksache 14/532,
„Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, … Wolfang Zeitlmann“ zum modernen Ausländerrecht. Das
sind Ihre Worte, Herr Zeitlmann.
({0})
Kollege Zeitlmann
zur Antwort.
Herr Kollege,
ich habe doch gerade klargestellt, daß es einen Unterschied gibt zwischen der Kriminalitätsrate der ausländischen Bevölkerung insgesamt und der Kriminalitätsrate
ausländischer Jugendlicher. Das, was Sie vorgelesen
haben, sagt überhaupt nichts zur speziellen Jugendkriminalität in unseren Großstädten.
Ich gebe nunmehr
das Wort der Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Zeitlmann, ich finde, Ihr Beitrag war dem Ernst des
Themas, dem Ernst, den diese Debatte verdient, wirklich
nicht angemessen.
({0})
Heute geht es um eine zentrale Frage des Zusammenlebens aller Menschen in dieser Republik. Solche Beiträge, wie Sie sie hier geleistet haben, tragen nicht zum
guten Zusammenleben, sondern sie tragen zur Spaltung
der Gesellschaft bei.
({1})
7 Millionen sogenannte Ausländer leben in Deutschland, fast zwei Drittel schon seit über 10 Jahren, mehr
als 30 Prozent bereits seit über 20 Jahren. Hunderttausend Kinder ausländischer Eltern werden jährlich hier
geboren. Aber nach dem alten Ausländergesetz sind sie
Fremde im eigenen Land. Wir beenden nach nunmehr
86 Jahren endlich diese Ausgrenzung. Wir machen viele
von diesen sogenannten Ausländern endlich zu Inländern.
({2})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, das sind
Menschen, die dieses Land mit aufgebaut, die unschätzbar viel zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands beigetragen, die Freunde gefunden haben, die sich ehrenamtlich engagieren und die unsere Gesellschaft nachdrücklich geprägt und auch bereichert haben.
({3})
Diesen Menschen geben wir nun endlich die gleichen
Bürgerrechte, zum Beispiel das Recht, bei der Ausgestaltung des Zusammenlebens mitzuwirken, das Recht,
bei der Verabschiedung von Gesetzen mitzubestimmen,
und das Recht zu wählen. Diese elementaren Rechte haben wir Deutschen bis zum heutigen Tage für uns reserviert; denn nach dem Staatsangehörigkeitsrecht von
1913 sind Deutsche nur diejenigen, die deutsche Eltern
haben. Dieses Relikt aus der Kaiserzeit ändern wir mit
dieser Reform.
({4})
Künftig ist automatisch Deutscher, wer hier geboren
wird. Und nicht nur das: Auch Kinder, die hier geboren
wurden und nicht älter als zehn Jahre sind, erhalten
einen deutschen Paß. Erwachsene bekommen künftig
schon nach 8 Jahren statt nach 15 Jahren einen solchen
Anspruch, und zwar auch dann, wenn sie unverschuldet
von Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe leben. Beide
Neuerungen sind aus unserer Sicht ein großer Erfolg;
denn das bietet die Chance für eine schnelle und unbürokratische Einbürgerung vieler hunderttausend Menschen, denen als sogenannte Ausländer die Bürgerrechte
in diesem Land heute noch verwehrt werden.
({5})
Bei all den Schwächen, die dieses Gesetz aus der
Sicht meiner Fraktion auch hat: Die Einführung des Geburtsrechts in der Bundesrepublik ist wirklich ein historischer Schritt. Das ist eine Reform, mit der diese Republik endlich den Anschluß an Europa findet. Deshalb
wird meine Fraktion diesem Gesetzentwurf einstimmig
zustimmen.
({6})
Sicherlich, er bleibt an einigen Stellen hinter unseren
Zielen zurück. Es ist nicht das, was wir, diese Koalition,
uns gewünscht haben und was weiterhin notwendig
bleibt. Aber es ist ein erster Schritt. Da wir nun einmal
auf die Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates angewiesen sind, müssen wir akzeptieren, daß die
Mehrheit im Bundesrat zu einer weitergehenden Reform
nicht bereit ist.
Wir haben Kompromisse gemacht, die für uns und
viele Menschen in unserem Land nicht einfach sind. Wir
haben - auch das will ich nicht verhehlen - nach wie vor
große Bedenken gegen das Optionsmodell. Warum
sollen sich Jugendliche mit Erreichen der Volljährigkeit
plötzlich für eine Staatsbürgerschaft entscheiden? Warum stellt man ihre Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft, wenn sie 18 werden, auf einmal in Frage? Meine
Fraktion meint, hier geborene Kinder sollten mit der
Gewißheit aufwachsen, daß sie in unsere und zu unserer
Gesellschaft gehören.
Ich möchte besonders Ihnen, meine Damen und Herren von der F.D.P., einmal zu bedenken geben: Haben
Sie sich einmal überlegt, daß Sie mit dem Optionsmodell, mit dieser erzwungenen Entscheidung in vielen
Familien schwere Konflikte auslösen können? Denn
viele Eltern werden eine Entscheidung ihrer Kinder für
die deutsche Staatsbürgerschaft als Abkehr von ihren
eigenen Bindungen an ihr Heimatland empfinden, das
heißt als Entscheidung gegen die Eltern verstehen. Ich
frage Sie: Wollen Sie das wirklich? Das ist unsere
Hauptkritik an dem Optionsmodell und nicht, Herr Rüttgers und meine Damen und Herren von der CDU, die
verfassungsrechtlichen Fragezeichen. In vielen Fällen
wird dies die Integration verhindern.
Bedauerlich ist auch, daß die generelle Hinnahme der
doppelten Staatsangehörigkeit jetzt nicht durchsetzbar
war. Nicht, weil sie unser eigentliches Ziel war, wie Sie
von der Opposition wider besseres Wissen immer wieder behauptet haben; nein, die doppelte Staatsbürgerschaft ist und war immer nur als Instrument gedacht, um
die schnelle und unbürokratische Einbürgerung zu erreichen. Wir haben jetzt zwar die Ausnahmen bei der Hinnahme der Mehrstaatigkeit erweitert, was fehlt, ist aber
der Brückenschlag zur ersten Generation. Dies, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., ist leider an
Ihnen gescheitert. Ausschließlich Sie tragen die Verantwortung dafür, daß der Gesetzentwurf hier nicht weiter
geht. Sie haben das blockiert.
({7})
- Ich würde nicht klatschen - Sie werden damit die Einbürgerung der ersten Generation verhindern.
Es ist - ich möchte da auf Ihr Argument eingehen nämlich genau umgekehrt. Sie sagen immer, mit 30 Jahren kann man sich doch entscheiden, denn da ist man ja
schon so lange hier. Gerade bei der ersten Generation
sind die Bindungen an das Heimatland aber noch sehr
stark. Gerade deshalb werden sich die meisten Einwanderer der ersten Generation ohne die Möglichkeit des
Doppel-Passes nicht einbürgern lassen. Ich sage einmal
folgendes: Gerade diesen Menschen, die wir, meine Eltern, Sie, als Gastarbeiter hierhergeholt haben und die
hierbleiben werden, sollte man doch den Brückenschlag
eröffnen und den Doppel-Paß gewähren.
({8})
Wir können das noch ändern, meine Damen und Herren
von der F.D.P.
({9})
- ich dachte, wir machen jetzt ein parlamentarisches
Verfahren - , und ich fordere Sie auf, bis zum Abschluß
des parlamentarischen Verfahrens wenigstens diese
Chance zur Integration zu nutzen.
Der Kompromiß ist trotz der Kritik, die wir üben, ein
erster wichtiger Schritt zu einer umfassenden Reform.
Gerade wegen seiner Schwächen bleibt - das sage ich
für meine Fraktion ganz deutlich - dieses Thema für uns
auf der politischen Tagesordnung. Unser Ziel ist und
bleibt es, allen dauerhaft hier lebenden Menschen wirklich die gleichen Bürgerrechte zu geben. Deshalb werden wir in der Gesellschaft um die Mehrheiten kämpfen,
um einen weiteren Schritt der Integration in ferner Zukunft durchzusetzen.
({10})
Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Marschewski.
({11})
Sie fordere ich auf, Ihre absolut zynische Unterschriftenkampagne endlich einzustellen.
({12})
Angeblich - Herr Rüttgers, Sie werden ja heute noch
sprechen - soll es dabei um Integration gehen. Sie wissen ganz genau, daß diese Kampagne eine völlig andere
Wirkung hat. Sie integriert nicht, sie spaltet die Gesellschaft.
({13})
Viele Menschen, die ihre Listen unterzeichnet haben,
haben nicht für Integration, sondern, um es mit den
Worten von Ignatz Bubis zu sagen, gegen Ausländer
unterschrieben. Sie haben daher auf dem Rücken der
hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer Stimmungsmache betrieben. Das finde ich unverantwortlich,
({14})
vor allen Dingen auch deshalb, weil Ihre scheinheilige
Kampagne gegen den Doppel-Paß auf Behauptungen beruht, die schlichter Unfug sind.
Die doppelte Staatsbürgerschaft ist kein Privileg, wie
Sie unterstellen,
({15})
und sie hat nichts, aber auch gar nichts mit Rosinenpikkerei zu tun. Das ist dummes Zeug, und noch dazu gefährlich.
({16})
Die Rechte und Pflichten von Doppelstaatsbürgern
richten sich ganz einfach nach dem festen Wohnsitz. Die
zweite Staatsangehörigkeit zu bekommen bedeutet im
Kern nur einen einzigen Vorteil - das muß man, glaube
ich, einmal deutlich darstellen -,
({17})
nämlich den: Es gibt außer Deutschland ein weiteres
Land, in dem man das Recht hat, sich jederzeit niederzulassen. Dieses Recht, meine Damen und Herren, Herr
Zeitlmann, hat jeder Deutsche - das heißt, auch Sie in
diesem Hause -, und zwar nicht nur in einem anderen
Land, sondern in allen 14 Ländern der Europäischen
Union. Da sollten wir doch nicht von Privilegien reden.
Der Doppelpaß bedeutet eben keine doppelten Rechte.
({18})
Deshalb fordere ich Sie auf, mit dieser gezielten
Desinformation aufzuhören. Sie schüren damit in unverantwortlicher Weise Neidgefühle.
Kerstin Müller ({19})
Wieviel das Gerede von der Integration, auf das Sie
wahrscheinlich noch zu sprechen kommen werden, Wert
ist, zeigt sich meiner Meinung nach schon wenige Wochen nach der Hessen-Wahl: Roland Koch, der künftige
Ministerpräsident von Hessen, hat schon kurz nach der
Wahl nichts Besseres zu tun, als mit einem Federstrich
die Sprachförderung des muttersprachlichen Unterrichts
einzustellen. Soviel zur Umsetzung Ihres Integrationskonzeptes! Das ist Integration à la CDU.
({20})
Sie sollten Ihr Konzept einmal Herrn Koch schicken.
Die Maßnahmen, die Sie vorschlagen, liegen meistens in
der Kompetenz der Länder. Die rotgrün regierten Länder
haben das meiste davon schon umgesetzt.
Aber nicht genug, daß Integration bei Ihnen ein reines
Lippenbekenntnis ist, nicht genug, daß Sie daran denken, selbst noch gegen diesen Kompromiß zu klagen
und damit die unsägliche Stimmungsmache gegen die in
Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer
fortzusetzen ({21})
der Höhepunkt ist wirklich das von Ihnen heute eingebrachte Gesetz zur Regelung der Staatsangehörigkeit.
({22})
Da feiert Herr Kanther fröhliche Urstände. Die darin
enthaltenen Vorstellungen fallen weit hinter das zurück,
was wir in der letzten Legislaturperiode gewollt haben.
({23})
Was, bitte schön, soll die Einbürgerungszusicherung? Die ist praktisch wertlos. Denn die Hürden für
die sogenannte Zusicherung sind höher als für einen Anspruch auf Einbürgerung nach dem geltenden Ausländergesetz - mit dem Unterschied, daß der Anspruch auf
Einbürgerung zum Paß führt, während Ihre abenteuerliche Konstruktion nur zu einer Zusicherung auf jenen
Paß führt. Ich frage mich: Was soll das, bitte?
({24})
Ich glaube, diese Konstruktion ist das Papier nicht wert,
auf dem sie steht. Wir sollten uns damit nicht mehr länger beschäftigen.
({25})
Ich möchte zum Schluß aus einem Aufruf zitieren, in
dem es heißt:
Die soziale und rechtliche Integration der in
Deutschland lebenden ausländischen Mitbürger ist
eine moralische Verpflichtung gegenüber den Betroffenen und unverzichtbar für die dauerhafte Bewahrung des gesellschaftlichen Friedens. Der
Schaffung eines zeitgemäßen Staatsangehörigkeitsrechts kommt damit eine zentrale Bedeutung zu.
Frau Süssmuth, Herr Altmaier, Herr Geißler, Herr
Röttgen, Herr Pflüger
({26})
und viele anderen Damen und Herren von der Union
({27})
- gleich, ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen -,
ich denke, Sie wissen nur zu gut, aus welchem Text dieses Zitat stammt. 150 von Ihnen haben in der letzten Legislaturperiode den sogenannten Reformaufruf unterzeichnet, aus dem diese Passage stammt.
Der sogenannte Rüttgers-Entwurf hat nichts, aber
auch gar nichts mit den Forderungen dieses Aufrufes zu
tun. Im Gegenteil: Was die Einführung des Geburtsrechts betrifft, entspricht er eher dem, was wir heute
vorgelegt haben. 150 von Ihnen haben diesen Aufruf
unterschrieben - Sie nicht, Herr Zeitlmann, wie man
eben gemerkt hat. Sie haben jetzt - das meine ich ganz
ernst ({28})
die einmalige Chance: Sie können die Forderungen aus
diesem Aufruf in die Realität umsetzen, indem Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen.
Frau Kollegin, gestatten Sie, auch wenn Sie am Ende Ihrer Rede sind,
noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hohmann?
Ich würde das gerne noch zu Ende führen.
Gerade die Form des Gruppenantrags bietet dazu die
Möglichkeit. Überlegen Sie sich das gut! Ich glaube, Sie
tragen eine große Verantwortung. Denn damit wäre auch
dieser unsäglichen Unterschriftenkampagne, die diese
Gesellschaft spaltet
({0})
und die das Land keinen Schritt voranbringt, der Boden
entzogen. Dann können wir in diesem Haus endlich wie
in anderen europäischen Ländern gemeinsam über das
reden, was notwendig ist, nämlich darüber, wie man das
Einwanderungsland Bundesrepublik gestaltet.
Kerstin Müller ({1})
Ich fordere Sie daher auf: Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht! Stimmen Sie der vorgelegten Reform
des Staatsangehörigkeitsrechts zu! Stimmen Sie diesem
ersten historischen Schritt einer Reform zu!
Danke schön.
({2})
Frau Kollegin, ich
danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, eine Zwischenfrage
zuzulassen. Aber der Zwischenfrager hat mittlerweile
seine Frage zurückgezogen.
Ich gebe dem Kollegen Bosbach das Wort für eine
Kurzintervention.
Frau Kollegin
Müller, Sie haben vorhin zumindest sinngemäß dahin
gehend argumentiert, daß meine Fraktion durch ihre
politische Haltung in der hier diskutierten Frage die
Einbürgerung der ersten Einwanderungsgeneration verhindere. Sie haben dann gesagt - das akzeptiere ich auch
als Argument -, daß gerade diese Generation eine besonders enge emotionale Bindung zum ursprünglichen
Heimatland habe. Im Klartext bedeutet Ihre Argumentation, daß sich die Zahl derjenigen, die deutsche Staatsbürger werden möchten, wesentlich vergrößerte, wenn
man die doppelte Staatsbürgerschaft bei Einwanderern
hinnehmen würde.
Ich darf in diesem Zusammenhang aus einer Umfrage der früheren Ausländerbeauftragten, Cornelia
Schmalz-Jacobsen, zitieren. In der entsprechenden
Drucksache steht wörtlich:
Diejenigen Befragten, die bislang keine konkrete
Absicht haben, sich einbürgern zu lassen …,
- das ist der überwiegende Teil; über 90 Prozent derjenigen, die einen Anspruch auf Einbürgerung haben, machen davon keinen Gebrauch -,
nennen als Hauptgrund den Wunsch, Türke/
Grieche/Italiener/Kroate/Serbe/Bosnier zu bleiben …
- Das sind 71 Prozent. Die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit
stellt hingegen für eine weitaus kleinere Gruppe ein
Hindernis dar …
Das sind 18 Prozent.
Ich akzeptiere und respektiere, wenn drei Viertel der
Betroffenen sagen: Mein größter Wunsch ist es, Türke,
Serbe, Kroate oder Bosnier bleiben zu wollen. Aber
stellt eine solche Haltung für Sie ein ernsthaftes Kriterium dar, diesen Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit zu verleihen?
Zweiter Punkt. Sie haben vorhin gesagt - hier stimme
ich Ihnen zu -, das Optionsmodell trage Streit in die
ausländischen Familien. Neben Ihnen sitzt der Kollege
Beck, der mit mir zusammen an einer Podiumsdiskussion in der Volkshochschule Köln teilgenommen und dort
gesagt hat: Das Optionsmodell ist schlecht, weil es in
dem Moment Streit innerhalb der ausländischen Familien geben wird, in dem sich der junge Erwachsene zwischen zwei Staatsangehörigkeiten entscheiden muß und
die Eltern darauf drängen, daß die angestammte Staatsangehörigkeit beibehalten wird. Das ist doch ein kardinaler Mangel des Optionsmodells. Deswegen können
Sie Ihre Auffassung nicht ernsthaft mit den Argumenten,
die Sie hier vorgetragen haben, vertreten und gleichzeitig für das Optionsmodell stimmen. Hier bietet unser
Modell der Einbürgerungszusicherung einen großen
Vorteil.
Dritter Punkt. Wir können in der Tat nicht verhindern, daß jemand fragt, wo er gegen Ausländer unterschreiben könne. Auf eine solche Frage gibt es für die
Mitglieder meiner Fraktion nur eine Antwort: Bei der
Union nicht!
({0})
Wir sammeln Unterschriften für eine bessere Integration
der dauerhaft und rechtmäßig hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer, für eine erleichterte Einbürgerung
der jungen Generation und gegen die generelle doppelte
Staatsbürgerschaft. Unsere Politik hat also absolut nichts
mit Ausländerfeindlichkeit zu tun.
({1})
Frau Müller,
möchten Sie darauf antworten? - Bitte.
Herr Kollege, zunächst zur Unterschriftenkampagne: Sie sagen jetzt, daß es nicht Ihre Absicht gewesen sei, mit der Kampagne eine ausländerfeindliche
Stimmung in der Gesellschaft zu schüren. Das konzediere ich. Dennoch müssen Sie zur Kenntnis nehmen - wir
haben mit vielen Leuten an unseren Ständen in Hessen
gesprochen; ich war selbst an den Ständen in den Fußgängerzonen; auch viele bekannte Persönlichkeiten, unter anderem Ignatz Bubis,
({0})
haben darüber berichtet, daß bei vielen Bürgern der
scheinbar harmlose Text Ihres Aufrufes „Ja zur Integration“ ganz anders, als Sie ihn beabsichtigt hatten, angekommen ist; er hat in der Gesellschaft eine ganz andere
Wirkung hervorgerufen. Wenn man feststellt, daß mit
einem solchen Aufruf Stimmung zu Lasten der hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer gemacht wird,
finde ich, muß man die Konsequenzen ziehen und eine
solche Kampagne stoppen.
({1})
Kerstin Müller ({2})
Zum Optionsmodell. Es ist richtig, daß meine Fraktion hierzu Bedenken hat. Ich habe diese Bedenken genannt. Vor allen Dingen befürchten wir, daß es Konflikte in die Familien hineintragen könnte. Die Umsetzung des Modells bedeutet wahrscheinlich auch einen
ziemlich hohen bürokratischen Aufwand. Aber ich und
viele Mitglieder meiner Fraktion haben diesen Sachverhalt abgewogen. Ich möchte Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, bitten, dies auch zu tun.
Für mich ist entscheidend, daß wir mit dieser Reform
den Einstieg in das Geburtsrecht leisten. Es handelt sich
um einen ersten, rechtspolitisch historischen Schritt. Ich
bin der Meinung, daß man vor diesem Hintergrund die
Hinnahme des Optionsmodells akzeptieren kann. Wir
werden - das habe ich hier angekündigt, und das meine
ich sehr ernst; wir können das gerne gemeinsam tun für gesellschaftliche Mehrheiten kämpfen, um das ius
soli pur, ohne das Optionsmodell, zu bekommen. Ich
finde, ein Einstieg ist besser, als daß es bei der alten,
schlechten Rechtslage bleibt.
({3})
Herr Kollege, die Zahlen, die Sie genannt haben,
sprechen genau für das von mir genannte Argument.
Dies haben viele Gespräche ergeben. Die Verbände, die
nicht alle grün gefärbt sind, haben dies immer wieder
gesagt. Dies sagen auch viele Migrantenverbände, mit
denen wir seit langem im Dialog stehen. Diejenigen, die
seit 30 Jahren hier sind, haben nun einmal die größten
Bindungen zu ihrem Herkunftsland. Deshalb sagen in
dieser Umfrage 70 Prozent der Befragten: Wir möchten
gerne Griechen, wir möchten gerne Türken bleiben.
Aber das heißt nicht, daß sie nicht auch Deutsche werden würden, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu geben würde.
Wir sind dafür, daß sich dieses Haus dazu entschließt,
wenigstens diesen Menschen - wir selbst hätten auch
nichts gegen die Hinnahme der generellen doppelten
Staatsbürgerschaft - den doppelten Paß zu gewähren.
Wir haben sie hierhergeholt, und wir haben die Verantwortung, ihnen endlich gleiche Rechte zu geben, endlich
diesen Brückenschlag zu machen.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat der
Kollege Westerwelle.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte
ist aus Sicht der Freien Demokraten viel zu wichtig, als
daß wir sie im parteipolitischen kleinen Karo führen
sollten.
({0})
Wir reden hier bewußt über einen Gruppenantrag,
weil es unser Ziel ist, als diejenigen, die diesen Gruppenantrag initiiert haben, eine breite politische Mehrheit
in diesem Hause zu finden. Wenn das Recht von 1913
nach 86 Jahren zum erstenmal geändert wird, dann löst
das in unserem Lande natürlich große Diskussionen aus.
Wir sollten uns bewußt sein, daß diese Debatte nicht nur
im Inland, sondern auch im Ausland sehr genau verfolgt
wird.
({1})
Wir werden in Deutschland mit diesem Gesetz nach
einer langjährigen Diskussion jetzt ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht bekommen.
({2})
Das neue Staatsangehörigkeitsrecht wird zu einer Verbesserung der Integration der dauerhaft und rechtmäßig
in Deutschland lebenden Menschen ausländischer Herkunft führen. Die Verbesserung der Integration dieser
Menschen ist im Interesse unserer gesamten Gesellschaft dringend notwendig.
({3})
Was wir heute tun, dient nicht nur den hier geborenen
Kindern, sondern auch unserem nationalen Interesse.
Was wir jetzt unterlassen, rächt sich in Zukunft als soziale Verwerfung.
({4})
Diese Reform - das ist aus Sicht der Freien Demokraten besonders wichtig - wird von einer breiten Mehrheit in der Bevölkerung akzeptiert. Ich möchte mich
deshalb - Sie werden verstehen, daß ich das zu Beginn
meiner Rede tue - ausdrücklich bei denen herzlich bedanken, die bei diesem wichtigen, ja historischen Schritt
mitgewirkt haben. Zunächst möchte ich mich ganz herzlich bei unserer früheren Kollegin Cornelia SchmalzJacobsen bedanken, die als seinerzeitige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung maßgeblichen Anteil an
der hier vorliegenden Reform hat.
({5})
Ich möchte mich ausdrücklich auch bei Bundesinnenminister Otto Schily für eine sehr faire Verhandlungsführung bedanken; in diesen Dank schließe ich
ausdrücklich auch den Kollegen Wiefelspütz als innenpolitischen Sprecher seiner Fraktion ein.
({6})
Schließlich bedanke ich mich - Sie werden verstehen,
daß ich das tue - sehr herzlich bei unserem Kollegen
Brüderle und dem Justizminister des Landes RheinlandKerstin Müller ({7})
Pfalz, Caesar, die für eine klare Linie im Gesetzentwurf
gesorgt haben, so daß er nun eine Chance auf eine große
Mehrheit im Bundestag und Bundesrat hat.
({8})
Weil wir hier nicht unter uns sind, sondern die Öffentlichkeit sehr genau hinsieht, welche Unterschriften
unter einem solchen Gruppenantrag stehen und mit welchen Mehrheiten er beschlossen wird, will ich vorab eines klarstellen: Was wir hier heute als Gruppenantrag
beraten, ist ein Vorschlag der Vernunft, um eine Einigung in der Sache zugunsten unseres Landes und zugunsten der Kinder zu erreichen. Das Ganze hat nichts, aber
auch gar nichts mit Koalitionsliebäugeleien unter politischen Parteien zu tun. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist eben eine Sache von nationalem Interesse
und viel zu wichtig, als daß sie mit machtpolitischen
Taktierereien verbunden werden dürfte.
({9})
Die Kräfte der Vernunft haben sich zu einem Bündnis
der Vernunft zusammengefunden, um für eines der
wichtigsten gesellschaftspolitischen Vorhaben unserer
Zeit eine Mehrheit in den Gesetzgebungsorganen sicherzustellen.
Wir als Freie Demokraten, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, sind mit diesem Verhandlungsergebnis
hochzufrieden, weil es exakt der Lösung der Vernunft
entspricht, die wir selbst in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf angemahnt haben. Deswegen
haben wir unseren eigenen Gesetzentwurf von der
Tagesordnung absetzen lassen; denn unser Gesetzentwurf ist zu 100 Prozent in diesem Gruppenantrag
enthalten.
Der Staat macht ein weitreichendes Integrationsangebot. Er verlangt aber auch bewußt eine aktive Integrationsentscheidung.
({10})
Wichtig war uns - deswegen hatten wir einen eigenen
Gesetzentwurf eingebracht -, daß die hier geborenen
Kinder von dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland
lebenden Ausländern mit Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Wer den Eindruck erweckt, eine
im achten oder neunten Monat Schwangere könne gewissermaßen durch Deutschland reisen und ihr hier geborenes Kind wäre dann automatisch Deutscher, führt
eine absolut unzutreffende Polemik ein. Wir reden hier
von den Kindern seit langem in Deutschland rechtmäßig
lebender Ausländer. Es dient unserer Gesellschaft, wenn
wir diese Kinder integrieren.
({11})
Diese Kinder sollen von Anfang an wissen, daß sie dazugehören und Teil unserer Gesellschaft sind. Sie sollen
nicht mit dem Bewußtsein aufwachsen, Ausländer zu
sein. Diese Kinder sprechen Deutsch als Heimatsprache.
Sie gewinnen in den Schulklassen die Vorlesewettbewerbe.
({12})
Sie können die Sprache ihrer Eltern allenfalls noch mit
einem deutschen Akzent. Es macht keinen Sinn, diese
Kinder erst künstlich von ihren Altersgenossen abzugrenzen, um sie anschließend mit großem Aufwand und
ungewissen Erfolgsaussichten wieder integrieren zu
müssen.
({13})
Wenn es noch eines Beleges bedurft hätte, daß das
deutsche Staatsangehörigkeitsrecht zugunsten hier geborener Kinder geändert werden muß, dann haben ihn die
Ereignisse vor wenigen Wochen geliefert, als wir beinahe täglich Bilder fanatisierter Jugendlicher sehen mußten, die sich von der Gruppengewalt der PKK mitreißen
ließen. Deswegen, Herr Kollege Zeitlmann, möchte ich
Ihnen einmal diese Sicht der Dinge nahebringen. Es ist
unzulässig, gewissermaßen fahrlässig, ich finde, sogar
grob fahrlässig,
({14})
wenn Sie den Eindruck erwecken, die in Deutschland
geborenen ausländischen Kinder seien lauter kleine
Mehmets. Als ob es darum ginge! Es sollen doch nicht
Herr Öcalan eingebürgert werden oder Mehmets nicht
mehr abgeschoben werden können. Das Entscheidende
ist, daß wir durch eine Integrationspolitik dafür sorgen
müssen, daß sich die Kinder nicht fanatisieren lassen,
nicht fundamentalistischen Strömungen anschließen und
nicht in Ghettos in den Städten zusammenschließen.
Wer die Ghettoisierung in den Städten verhindern will,
der muß die Ghettoisierung in den Köpfen der hier geborenen Kinder verhindern.
({15})
Natürlich kann man bereits fanatisierte Kriminelle
mit einer Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts nicht
ändern. Sie müssen bestraft und auch abgeschoben werden. Darüber haben wir im Bundestag erst vor kurzem
diskutiert. Aber man muß verhindern, daß die nächste
Generation für Gewalt und Fanatismus anfällig wird
und zu Mitläufern auf Grund des Gruppendrucks wird.
Hier geborene Kinder dürfen nicht unter den Einfluß
ausländischer Fanatiker geraten, und deswegen wollen
wir sie durch die Vermittlung unserer Kultur und unserer Sprache, aber eben auch durch die Ausstellung des
deutschen Passes integrieren. Der Paß ersetzt nicht die
Integration, er ergänzt die Integration. Diese Leitlinie
liegt unserem Gesetzentwurf zugrunde.
({16})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Union,
wir halten nichts von Ihrem Vorschlag, den Kindern die
deutsche Staatsangehörigkeit zunächst vorzuenthalten
und ihnen lediglich eine Einbürgerungszusicherung zu
geben, die sie bei Volljährigkeit einlösen können. Sie
haben nämlich auf der einen Seite davon gesprochen,
die Auseinandersetzungen würden in die Familien hineingetragen, wenn wir nach der Volljährigkeit eine
Entscheidung verlangten. Auf der anderen Seite legen
Sie aber selber einen Gesetzentwurf vor, der eine Entscheidung nach dem Erreichen der Volljährigkeit verlangt.
Das Problem bei Ihrem Gesetzentwurf ist - um diesen
Gesetzentwurf haben wir in der letzten Legislaturperiode sehr kollegial und sehr fair miteinander gerungen -,
daß Sie damit nichts gegenüber der bestehenden
Rechtslage ändern. Wir haben schon heute eine Einbürgerungsgarantie bis zum 23. Lebensjahr für die Kinder,
die hier geboren sind und volljährig werden. Diese Regelung bestätigen Sie gewissermaßen mit Ihrem Gesetzentwurf. Wenn Sie aber die Kinder zunächst mit einem
ausländischen Bewußtsein aufwachsen lassen, um sie
später integrieren zu müssen, dann muß ich sagen, daß
Ihr Gesetzentwurf das Problem nicht löst. Es wäre besser, die Kinder erst zu integrieren und ihnen das Gefühl
zu geben, daß sie zu uns gehören. Man muß ihnen ein
Angebot machen! Diese Kinder sollen wissen, daß sie in
unsere Gesellschaft gehören. Wir möchten aber auch,
daß sich die Kinder später als junge Erwachsene entscheiden müssen, welche Staatsangehörigkeit sie annehmen wollen, zu welchem Land sie also gehören
wollen.
({17})
Was wir heute unterlassen, das werden wir in wenigen Jahren mit Zins und Zinseszins zurückzahlen.
Deshalb ist die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts mit dem Ziel einer besseren Integration der Kinder ausländischer Eltern eine nationale Aufgabe ersten
Ranges.
Der Elterngeneration macht dieser Gruppenantrag
durch eine deutliche Absenkung der Einbürgerungsfrist ebenfalls ein großzügiges Integrationsangebot. Ich
gehe davon aus, daß die Union diesem Teil des Gesetzentwurfes zustimmen wird; denn über diese Regelung
bestand bereits in der letzten Legislaturperiode zwischen
der F.D.P.-Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion Einvernehmen. Dagegen muß ich offen gestehen, daß ich
bei Ihrer Rede, Frau Müller, nicht ganz erkennen konnte,
ob Sie nun für oder gegen den Gruppenantrag sind, den
Sie selbst mit unterzeichnet haben.
({18})
Wir als F.D.P. treten dafür ein, daß dem Integrationsangebot auch eine Integrationsentscheidung folgt.
Deshalb haben wir uns eindeutig und konsequent gegen
die ursprünglichen Pläne der Koalition gestellt, eine
dauerhafte doppelte Staatsangehörigkeit für alle einzuführen. Wer deutscher Staatsangehöriger werden
möchte, soll sich grundsätzlich durch die Aufgabe seiner
bisherigen Staatsangehörigkeit zu unserem Land bekennen. Der deutsche Paß ist nicht irgendein Papier, das
man gerne zusätzlich in Empfang nimmt, sondern er
setzt eine bewußte Hinwendung zum deutschen Staat
voraus.
({19})
Deshalb halten wir es für gerechtfertigt, von dem einbürgerungswilligen Ausländer die Aufgabe seiner bisherigen Staatsangehörigkeit zu verlangen.
Das gilt insbesondere für diejenigen Ausländer, die
bereits lange in Deutschland leben. Wer 30 Jahre in
Deutschland gelebt hat, der kennt dieses Land gut genug, um sich entscheiden zu können, ob er Deutscher
sein will oder nicht. Aber bei den hier geborenen Kindern nehmen wir die Mehrstaatigkeit für eine gewisse
Zeit in Kauf, weil sie eben als Minderjährige nicht selbst
entscheiden können.
({20})
Deswegen möchten wir, daß diese Kinder sich erst als
junge Erwachsene, nach Erreichen der Volljährigkeit,
zwischen der Staatsangehörigkeit der Eltern und unserer
deutschen Staatsangehörigkeit entscheiden müssen.
({21})
Das ist unser Optionsmodell, das die Koalition nun
übernommen hat. Damit wir zu nennenswerten Integrationsfortschritten kommen, haben wir als F.D.P. vorgeschlagen, daß dieses Modell auch auf bereits geborene
Kinder übertragen wird, die noch nicht älter als zehn
Jahre sind. Ich bin froh darüber, daß sich in unserem
Gruppenantrag gerade dieses Angebot an die bereits in
Deutschland geborenen Kinder findet.
Wir halten an dem Grundsatz der Vermeidung von
Mehrstaatsangehörigkeit klar und eindeutig fest. Der
Katalog der Ausnahmetatbestände wird nicht erweitert,
sondern lediglich flexibler gestaltet.
Da Sie, Herr Kollege Zeitlmann, aus dem Gesetzentwurf zitiert haben - Sie können jetzt nicht zuhören, weil
Sie telefonieren müssen -, möchte ich noch einmal auf
§ 87 des Ausländergesetzes in unserem Gesetzentwurf
hinweisen. Sie haben von älteren Bürgern gesprochen.
So, wie Sie das wiedergegeben haben, stimmt es einfach
nicht. Hier steht:
Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit
Sie wird hingenommen, wenn
der Einbürgerung älterer Personen ausschließlich
das Hindernis eintretender Mehrstaatigkeit entgegensteht, die Entlassung auf unverhältnismäßige
Schwierigkeiten stößt und die Versagung der
Einbürgerung eine besondere Härte darstellen
würde …
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das entspricht
der Rechtslage, wie sie sich schon heute herausgebildet
hat. Das können Sie in den einschlägigen Texten der
Einbürgerungsrichtlinie nachlesen.
({22})
Wer den Kopf schüttelt, dem nenne ich auch gleich die
Quelle: Es ist die Ziffer 5.3.3. der Einbürgerungsrichtlinie. Da gibt es, Herr Kollege Rüttgers, diese fabelhaften kleinen Beck-Ausgaben der Gesetzestexte.
({23})
Es gibt keine verfassungsrechtlich ernstzunehmenden
Bedenken gegen das Optionsmodell. Das Optionsmodell
ist von mehreren Justizministern geprüft worden. Es ist
dem früheren Bundesjustizminister vorgelegt und dort
geprüft worden, ebenso der derzeitigen Bundesjustizministerin, dem Innenminister, dem Landesjustizminister
von Rheinland-Pfalz, und es ist übrigens natürlich auch
vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages eingehend geprüft worden. Dabei wurde klar festgestellt, daß das Optionsmodell vollständig verfassungsgemäß ist und daß es selbstverständlich auch zulässig
ist, den jungen Erwachsenen eine Entscheidung abzuverlangen.
Weil in diesem Zusammenhang Art. 16 des Grundgesetzes immer wieder zitiert wird, der dem angeblich
entgegensteht, möchte ich einmal darauf hinweisen, was
dort steht. Natürlich heißt es in Art. 16 Abs. 1 Satz 1:
Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.
Die Juristen wissen aber: Immer einen Satz weiterlesen.
({24})
Denn Satz 2 lautet:
Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf
Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des
Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.
Entziehung ist eben nicht Verlust. Wer sich selbst entscheiden kann, der bekommt die Staatsangehörigkeit
nicht gegen seinen oder ohne seinen Willen entzogen.
Vielmehr führt er durch seine eigene Willensentscheidung den Verlust oder den Behalt der deutschen Staatsangehörigkeit herbei.
({25})
Falls Sie es mir nicht glauben, zitiere ich unseren Kollegen und Kronjuristen der CDU/CSU, Professor Scholz,
wörtlich. Er hat am 16. Februar 1999 gesagt:
Ja, ganz im Gegensatz zu einer generellen Vergabe
der doppelten Staatsbürgerschaft, die mit der Verfassung nicht zu vereinbaren wäre … Das Optionsmodell ist verfassungskonform, weil keine generelle doppelte Staatsangehörigkeit verliehen wird
und weil keine Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit vorgesehen ist.
({26})
Ich kann Sie einfach nur bitten, hier ehrlich zu argumentieren. Es geht Ihnen nicht um juristische Bedenken;
es geht Ihnen um politische Bedenken. Ihre juristischen
Bedenken sind vor allen Dingen politisch motiviert.
({27})
Das wird der Seriosität der Diskussion nicht gerecht.
Der Gesetzentwurf ist verfassungskonform; das ist immer wieder festgestellt worden.
Letzte Bemerkung, meine sehr geehrten Damen und
Herren: Vor einiger Zeit stritten sich vor unserem Haus
in der Bonner Altstadt eine türkische Oma und ihr kleines Enkelkind. Die türkische Oma beschimpfte das Kind
auf türkisch, das Enkelkind schimpfte auf deutsch zurück. Um diese Kinder geht es. Sie gehören zu uns, und
sie müssen integriert werden.
({28})
Ich gebe der Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Zeitlmann, wer im Niveau so weit
heruntergeht, wie Sie, aber auch Ihre Partei es heute
wieder mit der Parole getan haben, daß der Doppelpaß
dazu führe, daß Kriminelle leichter eingebürgert werden
können, wer sich dazu hinreißen läßt, diese Kampagne
mit der Parole zu führen, daß die Gefahren durch ein
modernes Staatsangehörigkeitsrecht bzw. den Doppelpaß größer seien als in den siebziger Jahren die Gefahr durch die RAF, wer Angstmache betreibt mit der
Parole, daß Menschen ausländischer Herkunft dann auch
das Wahlrecht haben und das Ausland die Interessen
der Deutschen beeinflussen könnte, wer den Familiennachzug prophezeit und damit Angst erzeugen will,
der arbeitet Rechtsextremisten ganz offensichtlich in
die Arme, der fördert ein Bewußtsein, das Ausländerfeindlichkeit und Rassismus schürt und den rassistischen Mob, wie wir gesehen haben, auf die Straße
bringt.
({0})
Meine Damen und Herren, die Kampagne der
CDU/CSU ist in der Tat, wie wir eben auch von Herrn
Westerwelle gehört haben, politisch motiviert. Man
kann der CDU/CSU nicht ernsthaft abnehmen, daß sie
die Integration will, wie sie es in Teilen ihrer Anträge
wieder zum Ausdruck gebracht hat. Sie knüpft vielmehr
ganz gezielt und bewußt an der Unsicherheit, an dem
Unwissen der Menschen an, um demagogisch gegen ein
Recht der Menschen einzutreten, die hier seit Jahren leben und die eigentlich längst die gleichen Rechte haben
müßten wie wir Deutschen.
Ich bin aber auch der Meinung, daß Frau Müller es
sich hier zu einfach macht, wenn sie nur auf die BundesDr. Guido Westerwelle
ratsmehrheit hinweist. Ich möchte daran erinnern, daß
gerade die SPD und die Grünen es versäumt haben, der
Kampagne der Unionspartein massiv etwas entgegenzusetzen. Sie sind meines Erachtens sehr schnell eingeknickt. Sie haben ihren Entwurf nach der Hessenwahl
sehr schnell zurückgezogen. Das liegt meines Erachtens
nicht nur an der neuen Mehrheit; denn wer sich die Umfragen anschaut, der weiß, daß es eben keine große
Mehrheit in der Bevölkerung gegen den Doppelpaß bzw.
gegen ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht gibt, der
weiß, daß viele Menschen der doppelten Staatsbürgerschaft nur deshalb ablehnend gegenüberstehen, weil sie
zuwenig über diesen Paß wissen. Wenn von der Gegenseite, einschließlich der linken Opposition, eine Kampagne geführt worden wäre, dann wären wir heute mit Sicherheit einen Schritt weiter.
Wir haben heute einige Redner gehört, die den jetzigen Entwurf, das Optionsmodell, schöngeredet haben.
Ich möchte hier eine Aussage des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften zitieren: Der Berg
kreißte und gebar eine Maus.
({1})
- Doch, ich möchte einiges mehr. Dazu werde ich noch
kommen.
Ich meine, daß diese Reform es nach diesen vielen
Jahren Debatten nicht wirklich verdient, Reform genannt
zu werden, auch wenn sie zweifellos - darauf werde ich
später noch kommen - einige Verbesserungen beinhaltet. Wichtig ist mir, zunächst klarzustellen: Sie hat nicht
einmal den Standard der westeuropäischen Länder erreicht. Das finde ich mehr als bedauerlich.
Wenn wir in den letzten Wochen eine Bundesregierung erlebt haben, die meines Erachtens kraftlos ist und
den politischen Willen nicht hatte, einer ausländerfeindlichen Kampagne entgegenzutreten, dann muß man sich
doch allen Ernstes fragen: Wie kann es eigentlich angehen - diese Frage werde ich besonders an die Grünen
richten -, daß Sie heute einen Entwurf eingebracht haben, der eigentlich ein Kompromißentwurf an die
Adresse der CDU ist?
Wer die Geschichte der Debatten über das Staatsangehörigkeitsrecht in diesem Hause verfolgt hat, der
weiß: Herr Westwelle, Sie haben unrecht. Die F.D.P. hat
1993 die Mehrstaatigkeit, den Doppelpaß, gefordert und
hat schon 1994 in den Koalititionsvereinbarungen formuliert, daß eine Schnupperstaatsbürgerschaft möglicherweise denkbar wäre. Das ist natürlich nicht umgesetzt worden. Sie machen jetzt im Grunde genommen
ein Kompromißangebot an die CDU, obwohl Sie wissen,
sie wird diesem Entwurf, diesem Optionsmodell nicht
zustimmen.
In diesem Zusammenhang möchte ich den Vorsitzenden der türkischen Gemeinde, Professor Keskin, zitieren. Er schreibt:
Mit welcher Leichtfertigkeit die SPD mit der eigenen Glaubwürdigkeit umgeht, ist kaum zu glauben.
Da der Entwurf überdies für den Koalitionspartner
Bündnis 90/Die Grünen inakzeptabel sein dürfte,
scheut man in einigen Kreisen der SPD offenbar
nicht einmal vor einer Gefährdung der Regierungskoalition zurück.
Meine Damen und Herren, ich fand es nicht wenig
demütigend, daß die SPD und die F.D.P. als erste bekanntgeben, daß man sich über das Optionsmodell geeinigt habe. Auch die Grünen haben meines Wissens aus
den Medien erfahren müssen, was jetzt der neue Entwurf
sein soll.
({2})
Es wundert mich, ehrlich gesagt nicht, wenn Herr Trittin
hier das rotgrüne Modell als tot, als gescheitert erklärt.
({3})
Man muß einfach sagen: Wo er recht hat, hat er recht.
Das vermisse ich hier ganz eindeutig: Die Grünen haben
nicht einmal mehr zu ihren Positionen gestanden. Sie
haben nicht einmal das i-Tüpfelchen in diesem Entwurf
bewegt. Das muß wohl in aller Deutlichkeit gesagt werden.
({4})
Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zu dem
Entwurf. Für viele Menschen - das habe ich schon angedeutet - wird es in diesem Land keinen Doppelpaß
geben. Für viele Menschen ist das eine große Enttäuschung. Für viele Menschen ist es längst so, daß
Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die Erleichterungen der Einbürgerung wären in der Tat wichtiger
denn je gewesen, um endlich dem Klima in diesem
Land, was Rassismus und Ausländerfeindlichkeit angeht, etwas entgegenzusetzen.
Zweifellos, in diesem Entwurf gibt es einige positive
Ansätze. Ich nenne hier die Fristen, ich nenne die
stückweise Abkehr vom Abstammungsrecht, also hin
zum Jus soli, was meiner Meinung nach aber auch nur
halbherzig passiert. Ich nenne die Tatsache, daß es in
Zukunft möglich sein wird, schneller und leichter Frauen und Kinder oder Männer und Kinder einzubürgern,
die einen deutschen Partner bzw. eine deutsche Partnerin
geheiratet haben.
Das aber kann es doch nicht gewesen sein, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Daß auf der anderen Seite
Verschlechterungen zur Kenntnis genommen werden
müssen bzw. höhere Hürden in das Gesetz eingebaut
werden, das kann und darf nicht übersehen werden. Ich
nenne die Tatsache, daß man jetzt die deutsche Sprache
ausreichend beherrschen muß. Ich frage Sie, was ist ausreichend? Wer bestimmt, was ausreichend ist? Auch wer
angeblich seine Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfesituation selbst verschuldet hat, wird nicht eingebürgert. Ebenfalls nicht ganz unwichtig ist, daß Sie einen neuen Paragraphen einbringen, in dem der Schwur auf die FDGO
enthalten ist. Damit schaffen Sie meines Erachtens ein
Einfallstor für Gesinnungsschnüffelei in größerem Ausmaß.
Von Ihnen wird der Entwurf als gelungen gefeiert,
obwohl hier anzumerken ist, daß er verfassungsrechtliche Mängel hat, die mit Sicherheit Folgen haben werden. In vielen Passagen weist der Entwurf Ungereimtheiten auf. Er schafft meines Erachtens auch keine Erleichterung in bezug auf behördliche Willkür. Erst gestern konnte man in der Zeitung einen langen Bericht
über eine Frau lesen, die eingebürgert wurde. Aus diesem Artikel wurde deutlich, welche bürokratischen Hürden - es ist beinahe ein Spießrutenlaufen - ein Mensch
in diesem Lande überwinden muß, wenn er eingebürgert
werden will.
Verfassungsrechtlich bedenklich ist beispielsweise,
daß binationale Kinder, die hier geboren sind, den Doppelpaß behalten dürfen, während Kinder mit Eltern ausländischer Herkunft sich mit 18 Jahren für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen. Wie wollen Sie das mit
dem Gleichheitsgrundsatz in Übereinstimmung bringen?
Und was soll nach Auffassung der Bundesregierung
geschehen, wenn jemand seinen Paß nicht freiwillig abgibt? Ich denke zum Beispiel daran, daß eine junge Frau
mit 21 Jahren für einen Landtag kandidiert und sich
noch nicht entschieden hat, welche Staatsbürgerschaft
sie annehmen will. Was passiert dann? Muß sie ihr
Mandat abgeben? Wird sie zwangseingebürgert oder
zwangsausgebürgert?
({5})
All diese Fragen sind bisher nicht beantwortet worden.
Ungereimtheiten gibt es aber auch in anderen Bereichen. Mit welcher Berechtigung soll es eine Übergangsregelung für Kinder bis zu zehn Jahren geben? Warum
nicht auch für Jugendliche im Alter von 18 Jahren?
({6})
- Ich weiß, daß es rückwirkend gemeint ist. Trotzdem ist
es sehr willkürlich, es erst einmal auf zehn Jahre festzulegen. Das ist in diesem Zusammenhang doch völlig unbegründet. Sie könnten auch 14 Jahre sagen. Erklären
Sie uns einmal, warum nur ein Teil der jungen Menschen, die hier geboren sind, rückwirkend die doppelte
Staatsangehörigkeit annehmen darf!
Auch jetzt gibt es schon vielfach eine unerträgliche
Willkür in der Behördenpraxis. In diesem Zusammenhang haben Sie den Härtefall in Ihren Entwurf aufgenommen. Ich erinnere hier an die Debatte um den § 19
des Ausländergesetzes und frage: Was bedeutet „Härtefall“ in Bayern, wenn eine Frau von ihrem Ehemann geschlagen wird und kein eigenständiges Aufenthaltsrecht
hat? Muß sie halbtot geprügelt sein, oder reicht eine
Vergewaltigung aus? All dies ist im Gesetz nicht geregelt worden; der Härtefall ist allgemein und nicht präzise formuliert. Vor allen Dingen ist er zu eng und nicht
großzügig genug gefaßt, was wiederum dazu führen
wird, daß es in den verschiedenen Ländern oder auch bei
einzelnen Behörden sehr unterschiedliche Handhabungen geben wird.
Meine Damen und Herren, besonders ärgerlich ist
aber die Ignoranz der Bundesregierung gegenüber
Flüchtlingen und Menschen ohne festen Aufenthaltsstatus. Selbst der UNHCR ist der Meinung, daß es keinen sachlichen Grund für die Differenzierung zwischen
verschiedenen Flüchtlingsgruppen gibt, von denen die
einen die Chance bekommen, sich einbürgern zu lassen,
die anderen aber nicht, einmal ganz abgesehen davon,
daß Sie auch hier den Versuch machen könnten, Menschen, die seit vielen Jahren illegal in der Bundesrepublik Deutschland leben, aus der Illegalität herauszuholen, indem Sie ihnen die Einbürgerung anbieten.
Was den Punkt der Straffälligkeit angeht, so glaube
ich -
Frau Kollegin, ich
muß Sie darauf hinweisen: Die Uhr leuchtet schon seit
einiger Zeit. Sie müssen jetzt zum Abschluß kommen.
Okay. Dann komme ich zu meinem letzten Punkt. ({0})
Ein Punkt ist mir ganz besonders wichtig; den möchte
ich Ihnen hier heute noch sagen. Ich finde es falsch, daß
wir uns einzig und allein auf die Frage des Staatsbürgerschaftsrechts beziehen, wenn wir die Debatte führen,
wie Menschen integriert werden können. Es besteht die
Gefahr - Sie haben selber seit 1993 heftig daran mitgewirkt, vor allen Dingen die rechte Seite in diesem
Haus -, daß Rechte für Menschen ausländischer Herkunft abgebaut werden. Wenn wirklich gleiche Rechte
für Menschen existieren würden, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben, dann - Herr Bosbach, da würde ich
Ihnen recht geben - würden wahrscheinlich viele gar
nicht die deutsche Staatsangehörigkeit anstreben und bei
ihrer Staatsbürgerschaft bleiben.
Diese Debatte muß geführt werden und darf nicht
vernachlässigt werden. Denn nur so ist meiner Meinung
nach ein wirklich gleichberechtigtes Leben in diesem
Land möglich, ist der Kampf gegen Rassismus und
Ausländerfeindlichkeit zu führen und tatsächlich ein
Stück Frieden in dieses Land einzubringen.
Ich danken Ihnen.
({1})
Das Wort für die
SPD-Fraktion hat der Kollege Sebastian Edathy.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Heute ist ein bedeutsames, ein
wichtiges Datum. Denn was heute Gegenstand der Beratung hier im Plenum des Deutschen Bundestages ist,
was anschließend in den zuständigen Ausschüssen
diskutiert wird und worüber wir und der Bundesrat voraussichtlich im Mai dieses Jahres abschließend befinden,
ist ein Reformvorhaben, dessen Bedeutung weit jenseits
der Tagespolitik liegt, ja dessen volle Bedeutung erst
im Abstand von vielen Jahren zum Tragen kommen
wird.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf von Kolleginnen und
Kollegen aus den Fraktionen der SPD, der Grünen und
der F.D.P. wird zu einer zeitgemäßen Veränderung des
Staatsbürgerschaftsrechts führen, die längst überfällig ist
und die zumindest auf mittlere, ganz bestimmt aber auf
lange Sicht auch zu einer Veränderung in den Köpfen,
zu einer Veränderung im staatsbürgerlichen Selbstverständnis führen wird.
({1})
Nach einigen Beiträgen hier - ich denke da insbesondere
an den Kollegen Zeitlmann - kann ich nur feststellen:
Diese Veränderung in den Köpfen ist dringend nötig.
({2})
Ich bin mir ziemlich sicher: Es wird in einigen Jahren zu
einigem Kopfschütteln führen, wenn man das Protokoll
von heute noch einmal daraufhin durchliest, wie kleinkariert man war, wie man in vielen Beiträgen nicht in
der Lage war, über den Tellerrand der Tagespolitik hinauszublicken. Ich glaube, es geht wirklich um etwas Historisches, was wir gemeinsam vorhaben und auch gemeinsam tragen sollten.
Die Ergänzung des Abstammungsprinzips durch die
Hinzufügung des Grundsatzes, daß, wer hier geboren
wird und aufwächst, die deutsche Staatsbürgerschaft mit
der Geburt erhält, wird eine historische Entscheidung
sein, die zeitgemäß ist und die wir dringend brauchen.
Es ist höchste Zeit, daß wir die Grundlage für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft und damit für die
Erlangung demokratischer Teilhabechancen in unserer
Gesellschaft verbreitern.
Als Demokraten sind wir alle, unabhängig vom Parteibuch, gefordert, die gesellschaftliche Realität anzuerkennen und aus ihr ohne jede ideologische Befrachtung die richtigen Schlüsse für unser Handeln zu
ziehen. Dazu gehört festzustellen: Ja, es hat Zuwanderung nach Deutschland in erheblichem Maße stattgefunden, und diese Zuwanderung hatte und hat Auswirkungen auf die Zusammensetzung der hier lebenden
Bevölkerung.
Wir wissen: Von den rund 7 Millionen Ausländerinnen und Ausländern in Deutschland hat die Mehrheit
hier ihren Lebensmittelpunkt gefunden. Vor diesem
Hintergrund müssen wir als Träger politischer Verantwortung handeln, indem wir mit Blick zumindest auf die
kommenden Jahrzehnte die Weichen dafür stellen, daß
kein zu großer Teil der dauerhaft hier lebenden Bevölkerung nicht zum Staatsvolk gehört.
({3})
Das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens hängt in einem erheblichen Maße davon ab, daß die
ihm angehörenden Menschen hinsichtlich ihrer Pflichten
und hinsichtlich ihrer Rechte gleichgestellt sind. Das ist
keine Frage der Parteipolitik, sondern das ist die Frage,
wie ernst wir den Demokratieanspruch nehmen, und
zwar im Interesse aller Menschen, die in diesem Land
leben.
({4})
Es geht nämlich bei genauer Betrachtung nicht allein um
die, die von einer Gesetzesänderung unmittelbar betroffen sein werden, sondern es geht um die Gesamtheit der
Bevölkerung, deren Zusammenleben es zu verbessern
gilt.
Klar ist dabei - wir als Sozialdemokraten haben auch
nie etwas anders behauptet -, daß Integration ein langer
Weg ist und eine Gesetzesänderung nur einen Beitrag
dazu leisten kann, daß manche Steine, die sich auf diesem Weg befinden, beiseite geräumt werden können.
Aber wenn wir dafür sorgen, daß hier geborene und heranwachsende Kinder von rechtmäßig hier lebenden
Ausländern mit der Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, dann räumen wir einen großen Stein auf
diesem Weg zu einer besseren Integration beiseite, und
dafür ist es höchste Zeit.
({5})
Es ist völlig widersinnig, junge Menschen, deren Lebensmittelpunkt in diesem Land liegt - ein Land, das
übrigens umgekehrt auch diese jungen Menschen
braucht -, als Ausländer zu behandeln.
({6})
Sie kamen nie aus dem Ausland; sie sind im Grunde Inländer ohne deutschen Paß. Dieser Unsinn wird - dafür
wollen wir mit unserem Gesetzentwurf Sorge tragen bald ein Ende finden.
({7})
Wir werden diesen Kindern und Jugendlichen signalisieren und deutlich machen, daß wir der Meinung sind, daß
sie zu uns gehören und uns willkommen sind.
In diese Richtung gehen auch unsere Vorschläge für
eine Verkürzung der Einbürgerungsfristen für Erwachsene. Ich will an dieser Stelle keinen Hehl aus folgendem
machen: Ich hätte mir gewünscht, wir könnten ein paar
Schritte mehr machen, gewissermaßen ein paar Steine
mehr aus dem Weg räumen.
({8})
Ich hätte mir gewünscht, wir könnten gerade gegenüber
denen, die vor Jahrzehnten zu uns gekommen sind und
die, wie auch ihre Kinder und ihre Enkel, zu unserer Gesellschaft gehören, ein noch deutlicheres Zeichen geben,
daß wir sie nicht nur als Nachbarn unter uns haben wollen, sondern auch als gleichberechtigte Mitbürger.
({9})
In dieser Hinsicht - das muß man so feststellen - war
das, was wir in den Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben haben, weitgehender und schlüssiger. Ich erachte aber gleichwohl das, was sowohl wir nach den anstehenden Beratungen mit voraussichtlich breiter Mehrheit hier im Bundestag als auch der Bundesrat verabschieden werden, als alles andere als gering. Dieser
Gruppengesetzentwurf ist ein echter Fortschritt. Er geht
in die richtige Richtung. Wir beenden damit nicht zuletzt
den jahrelangen Stillstand in diesem wichtigen Politikbereich.
Ich möchte an dieser Stelle dem deutschen Innenminister ausdrücklich für die Übernahme und die Meisterung der nicht einfachen Aufgabe danken, hier die nötige Übereinkunft herbeizuführen.
({10})
Ich denke übrigens, es ist nicht entscheidend, wer von
den Initiatoren des Gesetzentwurfes im einzelnen welchen konkreten Anteil am Zustandekommen des Entwurfes hatte. Für entscheidend halte ich vielmehr, daß es
gelungen ist, einen Gesetzentwurf zu formulieren, der
geeignet ist, die Gestaltung des Zusammenlebens der
Menschen in diesem Land zu verbessern.
Ich bin in diesen Bundestag nicht eingezogen, um
Gesetze zu beschließen, damit Gesetze beschlossen werden, sondern um Gesetze zu beschließen, damit wir die
konkrete Lebenswirklichkeit in einem positiven Sinne
mitgestalten können. Das sollten wir auch tun.
({11})
Nun liegt uns heute neben dem Gesetzentwurf von
Abgeordneten aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
F.D.P. auch ein Gesetzentwurf der Union vor, nebst
zwei Anträgen. Einer davon trägt den Titel „Integration
und Toleranz“.
({12})
Meine Damen und Herren von CDU und CSU, maßgebliche Vertreter Ihrer beiden Parteien haben auch in den
letzten Tagen erklärt, die Unterschriftenkampagne
gegen die generelle Hinnahme des Entstehens von
Mehrstaatigkeit solle fortgesetzt werden.
({13})
Es hätte meines Erachtens einem Mindestmaß an
Anstand und Redlichkeit entsprochen, wenn Sie spätestens zum heutigen Tag, an dem wir über den Gesetzentwurf der Gruppe beraten, diese Kampagne beendet hätten, weil sie schlichtweg gegenstandslos geworden ist.
({14})
Sie von der Union lassen nach wie vor Unterschriften
unter einen Text setzen, der folgenden Schlußsatz hat:
Deshalb sind wir gegen die generelle Zulassung der
doppelten Staatsangehörigkeit.
({15})
Das steht nicht zur Debatte. Hier liegt keine Initiative
vor, die so etwas fordert. Das muß man einmal zur
Kenntnis nehmen, auch wenn es schwerfallen mag.
({16})
- Herr Marschewski, es ist ja gut.
Wenn Sie gleichwohl an einer solch offenkundig
gegenstandslosen Unterschriftensammlung festhalten,
dann offenbaren Sie damit, daß es Ihnen entgegen allen
Beteuerungen nicht um die Sache oder sogar um Integration und Toleranz geht, wie es in Ihrem Antrag heißt,
sondern um wahlstrategische Interessen.
({17})
Herr Kollege Zeitlmann - Sie schreien gerade dazwischen -, Sie haben zu Beginn dieses Jahres ein Papier
erstellt, in dem es unter anderem heißt - ich zitiere -:
Die rotgrünen Pläne zum Staatsbürgerschaftsrecht bereiten den Nährboden für Volksverhetzung.
({18})
Herr Kollege Zeitlmann, nach der Lektüre dieses Satzes
- das war im Januar dieses Jahres - bin ich eigentlich
nicht davon ausgegangen, daß das, was Sie hier formuliert haben, eine Art Selbstaufforderung an die Union
sein sollte.
({19})
Ihr Beitrag von heute morgen läßt mich daran zweifeln,
ob das, was Sie dort geschrieben haben, nicht doch eine
interne Signalwirkung entfaltet hat.
Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten
für das Linsengericht eines vermeintlichen parteipolitischen Vorteils einen Konsens aufgekündigt, der darin
bestand, zum Beispiel ein so komplexes Thema wie die
Fortentwicklung des Staatsbürgerschaftsrechts angemessen und mit der nötigen Sorgfalt und Sensibilität zu behandeln.
Ich bin immer davon ausgegangen, daß es unabhängig von der Parteizugehörigkeit so etwas wie
({20})
ein gemeinsames Selbstverständnis aller Demokraten
gibt, daß es eine unstrittige Aufgabe ist, Ängste und
Vorbehalte in der Bevölkerung ernst zu nehmen, zu berücksichtigen und dort, wo sie unbegründet sind, zu entkräften. Aber Sie, meine Damen und Herren von der
Union, haben Ängste und Vorbehalte bei den Bürgern
geschürt, indem Sie das Thema unzulässig verzerrt bzw.
verfälscht haben.
({21})
Dann haben Sie die Menschen, nachdem Sie deren
Ängste geweckt und instrumentalisiert haben, mit ihren
Ängsten allein gelassen. Damit haben Sie dem inneren
Frieden dieses Landes und dem gesellschaftlichen Klima
bewußt und willentlich Schaden zugefügt.
({22})
Das ist nach meinem Dafürhalten einer demokratischen
Partei völlig unwürdig.
Herr Rüttgers, ich habe gesehen, daß Sie heute
noch hier sprechen werden: Beenden Sie Ihre Taktik des
Verhetzens und Verletzens der Menschen in diesem
Land!
({23})
Stellen Sie hier und heute klar, daß Ihre Unterschriftenaktion sofort beendet wird!
({24})
Der von Ihnen an diesem Tag kurzfristig vorgelegte
Gesetzentwurf erfüllt nicht zuletzt die Funktion eines
Alibis. Sie tun so, als seien Sie in dem heute behandelten Feld politikfähig. Sie sind es nicht. Sie sind allenfalls
kampagnefähig und mehr nicht. Nach jahrelanger Untätigkeit bzw. Verweigerungshaltung, was die Fortentwicklung des Staatsbürgerschaftsrechts betrifft, bleiben
Ihre jetzt gemachten Vorschläge hinter dem, was erforderlich ist, weit zurück. Die Zusicherung des Erwerbs
der deutschen Staatsbürgerschaft für Kinder von Ausländern ist völlig ungenügend.
Ich möchte Sie ermuntern, die Schlußabstimmung
freizugeben. - Mir wird signalisiert, daß ich zum Ende
kommen muß. Herr Präsident, ich komme zu den letzten
wenigen Absätzen.
({25})
- Es sind ganz kurze Absätze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in wenigen Monaten nimmt das deutsche Parlament seine Arbeit in Berlin
auf. Noch vorher, voraussichtlich im Mai, werden Bundestag und Bundesrat über die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts entscheiden. Im Mai werden wir auch auf
das 50jährige Bestehen des Grundgesetzes zurückblicken, dessen Bedeutung für die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger am demokratischen Leben völlig unstrittig ist. Das werden wir entsprechend würdigen, und
das ist gut so.
Aber wir werden im Mai nicht nur die Gelegenheit
haben, über das Grundgesetz zu sprechen. Wir werden
im Mai hier in diesem Haus auch Gelegenheit haben, im
Sinne des Grundgesetzes zu handeln, indem wir ein aufgeklärtes, ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht beschließen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({26})
Ausweislich des
Protokolls hat die Kollegin Renate Rennebach nach der
Rede des Kollegen Zeitlmann einen Zwischenruf gemacht, der unparlamentarisch ist und den ich rügen muß.
Das gibt mir Gelegenheit, darum zu bitten, daß wir
uns - das ist an alle Seiten des Hauses gerichtet - in den
Formulierungen bezüglich dieses wichtigen und sensiblen Themas ein wenig mäßigen.
Ich gebe nunmehr dem Innenminister des Landes Baden-Württemberg, Dr. Thomas Schäuble, das Wort.
Dr. Thomas Schäuble, Minister ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Lassen Sie mich zu Beginn feststellen: Die meisten
ausländischen Menschen - jedenfalls sehr viele -, von
denen bisher in dieser Debatte die Rede war, haben
schon heute Anspruch darauf, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, wenn sie es nur wollten und dabei die ererbte Staatsangehörigkeit aufgeben würden.
({1})
Dies muß man immer wieder sagen, damit hier nicht ein
künstliches Mißverständnis aufgebaut wird.
({2})
Nun finde ich den Grundgedanken der F.D.P. im
Prinzip sympathisch: Für eine gewisse Zeit wäre die
Mehrstaatigkeit nicht schlecht, um die jungen Menschen
emotional stärker für Deutschland einzunehmen. Aber
das Problem ist: Es kann nicht funktionieren. Deshalb
muß man schon zwischen den Motiven der F.D.P. und
den Motiven von Rotgrün unterscheiden.
({3})
Bei aller Kritik an dieser Bundesregierung muß man
ihr eines zugeben: Sie bleibt sich - jedenfalls war das in
der kurzen Zeit bisher der Fall - selbst treu; für jedes
wichtige Vorhaben braucht sie etliche Anläufe. Im Januar gab es den Entwurf „Schily 1“, vor wenigen Wochen
kam „Schily 2“, und vor wenigen Tagen haben Sie den
heute zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf vorgelegt. Eine Steigerung im Sinne einer grundlegenden
Besserung ist nicht zu erkennen. Der entscheidende
Punkt ist: Rotgrün - ich spreche nicht von der F.D.P. will nach wie vor die generelle doppelte Staatsangehörigkeit auf Dauer. Das kam expressis verbis vorhin auch
im Beitrag der Abgeordneten Müller zum Ausdruck.
({4})
Der wesentliche Punkt meines Vorwurfes ist: Rotgrün
will nach wie vor die Bevölkerung täuschen, wenn Sie
sagen, Sie seien zu einem Kompromiß - welcher Art
auch immer und warum auch immer - bereit. Das
stimmt nicht. Denn daß Sie andere Absichten haben,
wird daran deutlich, daß schon heute ganz unverhohlen
gesagt wird, der jetzige Kompromiß sei natürlich nicht
der letzte Schritt.
({5})
Noch wichtiger ist für mich persönlich die Tatsache darin kommt die von Rotgrün beabsichtigte Tarnung, die
Täuschung noch deutlicher zum Ausdruck -,
({6})
daß Sie wissen müßten: Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf, dieses Optionsmodell, wird eben nicht nur zu
einer zeitlich beschränkten, sondern zu einer dauerhaften
doppelten Statsangehörigkeit führen. Das ist der Kern
meines Vorwurfs.
({7})
Warum ist das so? - Rotgrün hat bisher selbst immer
die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die zeitliche
Beschränkung der doppelten, sprich: gegen den Verlust
der deutschen Staatsangehörigkeit herausgestellt.
({8})
Jetzt plötzlich werden die Bedenken - und die sind eben
nicht ausgeräumt - verschwiegen.
({9})
Angesichts des Beitrages der Abgeordneten Müller frage
ich mich: Was sind die Grünen noch alles zu tun bereit,
um an der Regierung bleiben zu können?
({10})
Um diese vorgetäuschte Kompromißbereitschaft letztlich nicht auf ihre Echtheit kritisch hinterfragen zu müssen, gehen Sie plötzlich auf wundersame Weise selbst
von der Verfassungsmäßigkeit des Optionsmodells aus,
entgegen Ihrer bisherigen Aussage.
({11})
- Moment, Sie verwechseln eines: Ich habe damit die
Frage der verfassungsrechtlichen Problematik überhaupt
nicht angesprochen, sondern nur gesagt, daß Rotgrün
bisher der Auffassung war, die Regelung sei verfassungswidrig, und jetzt aus sehr durchsichtigen Gründen
plötzlich die Meinung geändert hat. Das war meine Aussage.
({12})
Darüber hinaus wissen Sie ganz genau - falls Sie es
nicht wissen, lassen Sie es sich von einem Mann sagen,
der als Landesminister für die Verwaltung Verantwortung trägt -: Dieses Optionsmodell muß aus verwaltungspraktischen Gründen scheitern, wenn Sie nicht, um
es verfassungsrechtlich wirklich wasserdicht zu machen,
einen riesigen Verwaltungsaufwand in Kauf nehmen.
Sie müssen nämlich mit großem Aufwand feststellen,
welche der jungen Menschen, die 18 Jahre sind, optionspflichtig sind. Sie müssen bei den Optionspflichtigen nachfragen. Sie müssen die Erklärungen werten.
Dann werden Anträge auf Beibehaltung der doppelten
Staatsangehörigkeit kommen, und zwar in großer Zahl.
Das wird erneut Verwaltungsverfahren auslösen. Am
Schluß werden wir eine Zahl von verwaltungsgerichtlichen Verfahren bekommen, die mindestens so groß ist
wie die vor der Grundgesetzänderung im Zusammenhang mit dem Asylrecht.
({13})
Der Verwaltungsaufwand wird also exorbitant sein.
Ich stelle mir das entsprechende Gesetzblatt vor. Da
steht dann unter Buchstabe D: Kosten: keine. - Aber die
Länder werden gezwungen sein, einen großen bürokratischen Apparat aufzubauen, um die mit diesem Gesetz
verbundenen Folgen für die Verwaltung zu bewältigen.
Ich habe mir nicht vorgestellt, die Arbeitslosigkeit dadurch zu verringern, daß wir immer noch größere Bürokratien aufbauen.
({14})
Im übrigen: Es glaubt wohl niemand, man könne
Hunderttausenden von jungen Menschen nach mehr als
20 Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit wegnehmen,
wenn sie nicht auf ihre ererbte verzichten. Es gibt zahllose Beispiele dafür - viele sind in der Öffentlichkeit
auch schon genannt worden -, zu welchen innenpolitischen Verwerfungen dies zwangsläufig führen würde.
Wir sollten sie uns wirklich ersparen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPDFraktion, wenn es wirklich so käme, daß einem die deutsche Staatsangehörigkeit nach mehr als 20 Jahren weggenommen werden könnte, dann muß ich sagen: Integrationspolitisch wäre dies wirklich die größte Absurdität. Das muß man auch feststellen.
({15})
Ich gehe davon aus: Dies alles ist nicht nur uns bekannt; das ist auch Ihnen bestens bekannt. Daher mein
harter Vorwurf: Es geht Ihnen nicht um einen Kompromiß; vielmehr wollen Sie die besorgte Bevölkerung mit
einem Placebo beruhigen. Das ist die Wahrheit.
({16})
Dabei setzen Sie darauf, daß die Folgen, nämlich die
dauerhafte doppelte Staatsangehörigkeit, erst in vielen
Jahren - frühestens in 13 Jahren, bei denjenigen, die erst
noch geboren werden, frühestens in 23 Jahren - sichtbar
werden und daß sich nach so langer Zeit niemand mehr
gegen die bekannte normative Kraft des Faktischen wehren kann. Bei der Art und Weise, in der Sie vorgehen,
vom Entwurf Schily 1 über Schily 2 bis Schily 3 - ich
weiß nicht, wie der dritte Entwurf heißt -, drängt sich
einem das bekannte Zitat von William Shakespeare aus
„Hamlet“ förmlich auf: Ist es schon Wahnsinn, hat es
Minister Dr. Thomas Schäuble ({17})
doch Methode. Das ist wahr, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({18})
Weil das alles nicht ehrlich gemeint ist, müssen wir
unsere Informations- und Unterschriftenaktion weiterführen,
({19})
um die Bevölkerung vor solchen Roßtäuschereien zu
bewahren.
({20})
Uns war von Anfang an klar, daß wir mit den üblichen
Argumenten der sogenannten „political correctness“
usw. zu schlechten Menschen gemacht werden sollen.
Ich sage Ihnen folgendes - auch nach den Beiträgen,
die ich heute gehört habe -: Wir hätten unsere Pflicht
nicht wahrgenommen, wenn wir der Bevölkerung aus
Feigheit nicht die Wahrheit gesagt hätten. Das ist der
Punkt.
({21})
Wenn Sie uns wegen der Unterschriftenaktion angreifen, dann zeigen Sie zum einen, daß Sie Angst davor
haben, und zum anderen verwechseln Sie Ursache mit
Wirkung, denn Sie mit Ihren Vorschlägen, die auf einen
Irrweg führen, sind die Ursache für diese Situation.
({22})
Ich muß, weil das Thema Straftäter die Diskussion
etwas geprägt hat, einige Sätze dazu sagen. Eines muß
dabei ganz deutlich gesagt werden: Wenn die deutsche
Staatsangehörigkeit durch Geburt erworben wird, dann
können junge Menschen oder auch Erwachsene, die die
deutsche Staatsangehörigkeit auf diesem Weg erworben
haben, nicht mehr ausgewiesen und abgeschoben werden. Man kann es so wollen, aber man darf diesen Umstand nicht verschweigen.
({23})
Sie haben vorhin die Statistik ein bißchen hin- und
hergewendet. Ich kann es Ihnen ganz genau sagen,
denn ich bin permanent damit befaßt. Zu Recht ist gesagt worden - auch Kollege Zeitlmann hat es mehrfach betont -, die ausländische Mitbevölkerung, die seit
vielen Jahren da ist, die sogenannten Gastarbeiter sind
nicht in höherem Maße kriminalitätsbelastet als die
übrige Bevölkerung. Das ist schlicht und ergreifend
richtig.
({24})
Ich glaube, sie sind sogar etwas geringfügiger kriminalitätsbelastet.
({25})
Richtig ist aber auch, daß die jungen Ausländer in erheblich stärkerem Maße kriminalitätsbelastet sind als die
jungen Deutschen. Es geht nicht nur darum, daß jemand
vielleicht auch auf Grund Integrationsschwierigkeiten
einmal zum Sünder wird und daß sich dann dies wieder
irgendwo auslebt.
Wir haben in Baden-Württemberg - ich empfehle,
das in allen Bundesländern zu tun - vor wenigen Wochen kreisweit einmal die jugendlichen Intensivstraftäter erfaßt, also diejenigen, die mehr als 20 Straftaten begangen haben. Da beträgt - das muß man schon deutlich
sagen - der Ausländeranteil allerdings über 40 Prozent.
({26})
Sie haben vorhin die jungen Leute bei der PKK angesprochen. Ich sehe es für richtig an, daß man sich bemüht, sie aus diesem Getto herauszuholen. Aber man
kann mir nicht erzählen, daß diese jungen fanatisierten
Menschen bei den gewalttätigen Demonstrationen der
PKK nicht mitgemacht hätten, wenn sie die deutsche
Staatsangehörigkeit gehabt hätten. Das zu glauben ist
nun völlig naiv.
({27})
Bei jungen Menschen ist die Ausweisung und erst recht
die Abschiebung die Ultima ratio, die auch nur in wenigen Ausnahmefällen überhaupt Platz greifen kann. Aber
eines muß klar sein: Ausweisung und Abschiebung wären bei dieser Gruppe dann kein Thema mehr.
Beim Thema „Erwerb der Staatsangehörigkeit durch
Geburt“ möchte ich noch einen anderen Punkt ansprechen. Wenn ich es richtig sehe - ich habe den Entwurf
erst vor wenigen Tagen bekommen; diese kurze Zeit
macht es nicht gerade einfach -, können die jungen
Leute, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt erwerben, ins Ausland oder zum Beispiel in die
Heimat ihrer Eltern gehen und ohne deutsche Sprachund Schulkenntnisse usw. irgendwann jedenfalls bis
zum 18. oder 23. Lebensjahr wieder nach Deutschland
zurückkehren und die deutsche Staatsangehörigkeit,
wenn sie sich für sie entscheiden und dies erfolgreich
ist, behalten. Integrationspolitisch halte ich dies für
einen völligen Irrweg.
({28})
- Vielleicht habe ich Ihren Gesetzentwurf gründlicher
gelesen als Sie.
({29})
Das alles ist nicht die Art Integration, die wir uns vorstellen.
Demgegenüber - das müssen Sie sich einfach deutlich sagen lassen - vermeidet die von uns vorgeschlagene Einbürgerungszusicherung alle diese Nachteile des
Optionsmodells, ohne daß sie für die jungen Leute ihrerseits mit irgendeinem Nachteil verbunden wäre, mit
Ausnahme des Wahlrechts, aber das haben sie vor dem
Minister Dr. Thomas Schäuble ({30})
18. Lebensjahr sowieso nicht. Insofern gibt es keinen
vernünftigen Grund, gegen diese Einbürgerungszusicherung zu sein.
Abgesehen von dem Irrglauben an das Optionsmodell
enthält der Gesetzentwurf von Rotgrün und der F.D.P.
überhaupt nichts zum Thema der tatsächlichen Integration. Demgegenüber gehen wir hinsichtlich der Integration der jungen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger von einem klaren Leitsatz aus. Eines muß klargestellt sein: Sie müssen gefördert werden; aber wir dürfen
nicht nur fördern, wir müssen auch fordern.
({31})
Vielleicht wäre es gar keine schlechte Überlegung für
dieses Hohe Haus, einmal die Integrationsarbeit der
16 Bundesländer zu vergleichen.
({32})
Soweit ich es übersehen kann, geschieht bei dem Thema
Integration schon viel. Zugegebenermaßen kann man
das alles - Bildungsangebot, Sprachkenntnisse, Schule,
Ausbildung, gesellschaftliche Integration - noch steigern.
({33})
Bevor Sie einfach hineinschreien, bitte ich Sie, sich ein
klein wenig sachkundig zu machen. Baden-Württemberg
hat zum Beispiel die Mittel für die Sprachförderung in
ganz erheblichem Umfang verstärkt, weil wir der Meinung sind, daß die deutsche Sprache das A und O für die
Integration der jungen Menschen ist.
({34})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
({0})
Dr. Thomas Schäuble, Minister ({1}): Gerne.
Herr Minister, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß in Baden-Württemberg
gerade in dem Bereich der Integration von Ausländern
die Mittel überproportional gekürzt worden sind, so daß
die Verbände - zum Beispiel die Arbeiterwohlfahrt - im
Moment gezwungen sind, Sozialarbeiter, die in BadenWürttemberg bisher die Ausländerbetreuung gemacht
haben, zu entlassen, und daß die Integrationsbemühungen in vielen Bereichen auf Null geführt worden sind?
Darf ich Sie zu mir nach Karlsruhe-Land einladen, um
diese Situation einmal vor Ort zu besichtigen?
Dr. Thomas Schäuble, Minister ({0}): Darf ich als Innenminister Sie darauf aufmerksam
machen, daß das Kabinett erst vor wenigen Monaten eine Vorlage meines Hauses beschlossen hat. Mit dieser
Vorlage wurden die Mittel zur Sprachförderung erheblich erhöht. Das ist für Baden-Württemberg die Wahrheit.
({1})
Wenn ich sage, wir müssen die jungen Menschen
fördern, dann verbinde ich damit, daß wir sie gleichzeitig fordern müssen. Das hat eine praktische Konsequenz
für die Integrationsarbeit, die nach meiner Überzeugung
in der Zukunft dringend verstärkt werden muß. In concreto bedeutet das: Wenn wir Angebote zur Integration
machen und wenn diese Angebote nicht angenommen
werden, dann kann das nicht einfach folgenlos bleiben,
sondern muß gewisse Konsequenzen haben. Wenn die
jungen Ausländer zum Beispiel finanzielle Leistungen
beziehen, aber Integrationsangebote wie Sprachkurse
usw. nicht annehmen, dann muß man darüber nachdenken - und auch entsprechend handeln -, die finanziellen
Leistungen einzuschränken.
Ich bin der Auffassung, daß auch bei dem Thema Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bis hin
zur Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung die Erfordernisse einer nachweisbar geleisteten Integration noch
wesentlich stärker betont werden müssen, als das heute
im Ausländergesetz verankert ist. Allerdings darf eines
nicht eintreten, nämlich daß es künftig leichter wird, die
deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, als eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltsberechtigung zu erhalten. Das wäre ein völlig fataler Irrweg.
({2})
Man muß, weil unsere Bevölkerung das erwartet, mit
unseren Bürgerinnen und Bürgern ganz deutlich darüber
sprechen, daß es natürlich Grenzen der Integrationsfähigkeit gibt, zum Beispiel was die Zahl der Menschen
angeht, die bei uns integriert werden können. Wenn die
Zahl zu groß wird, muß die Integration scheitern. Deshalb müssen wir gemeinsam darüber nachdenken, wie
wir eine verantwortbare Zuzugsbegrenzung erhalten.
Der nächste Punkt ist für die Integration von herausragender praktischer Bedeutung. Ich bin hundertprozentig dafür, daß wir das Nachzugsalter der jungen Menschen - also den Zeitpunkt, bis zu dem sie nach
Deutschland kommen müssen - absenken müssen. Das
Alter von 16 Jahren ist schlicht und ergreifend zu hoch.
Wer erst mit 16 Jahren nach Deutschland kommt, wird
das deutsche Bildungssystem in der Regel nicht mehr
mit Erfolg durchlaufen können. Damit ist der ganze fatale Weg vorgegeben: Er wird auch keinen Ausbildungsplatz erhalten. Er wird zum Schluß in der Arbeitslosigkeit und in der Sozialhilfe enden. Deshalb muß
das Nachzugsalter auf zehn Jahre gesenkt werden.
({3})
Wir brauchen bessere Möglichkeiten, um ausländische Straftäter leichter auszuweisen und abzuschieben.
Das ist ein Grundanliegen der überwältigenden Mehrheit
unserer Bevölkerung. Das liegt auch im Interesse der
überragenden Mehrheit der anständigen Ausländer.
({4})
Minister Dr. Thomas Schäuble ({5})
Es ist doch auch ein Anliegen vieler von Ihnen, daß die
schwarzen Schafe stärker als bisher ausgewiesen und
abgeschoben werden.
Ich stelle fest: Sie haben aus den Fehlern der HessenWahl nichts gelernt. Mit Ihrer Mehrheit laufen Sie jetzt
Gefahr, den Boden für eine Entwicklung zu bereiten, die
unabsehbare Folgen haben wird und für die Sie die Verantwortung tragen. Für unsere Republik wäre es besser,
wenn Sie sich sachlich und nicht polemisch mit unseren
Argumenten auseinandersetzten.
({6})
Unsere Argumente - das wissen Sie ganz genau; deshalb
haben Sie Angst - werden von einer großen Mehrheit
der Bevölkerung mitgetragen. Noch ist es nicht zu spät
für Sie, dies zu erkennen. Nutzen Sie die Zeit, die Sie
noch haben!
Danke schön.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Guido
Westerwelle, F.D.P.
Herr Minister, da
Sie in Ihrer Rede mehrfach auf mich, die F.D.P. und vor
allen Dingen auch auf die Unterschriftenaktion Bezug
genommen haben, habe ich mir erlaubt, mich zu einer
Kurzintervention zu melden.
Wenn Sie als Landesminister von „unserer Unterschriftenaktion“ sprechen, dann gehe ich fest davon aus,
daß Sie damit die Unterschriftenaktion der CDU/CSU
meinen; denn daß die baden-württembergische Landesregierung, der auch die F.D.P. angehört, dieser Unterschriftenaktion zugestimmt hat bzw. sie gegen unseren
Gruppenantrag fortsetzen will, ist mir bis heute verborgen geblieben.
({0})
Man muß das noch einmal klarstellen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
Herr Minister, da wir uns heute auf einem hohen literarischen Niveau bewegen, möchte auch ich ein Zitat
dazu beitragen: „Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende,
was ihm an Wahrheit … fehlt!“
({1})
Ich möchte eine weitere Bemerkung zu dem machen,
was Sie über den Verwaltungsmehraufwand gesagt
haben. Sie haben hier starke Argumente angeführt, die
ich aufgreifen möchte. Sie haben gesagt, der Verwaltungsaufwand werde sehr viel größer werden. Ich schätze das nicht so ein, weil der ausländische Bürger genauso wie jeder andere Bürger für die Verlängerung seines
Passes selber sorgen muß, wenn er nicht ungültig werden soll. Der hier vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur
Reform des Staatsangehörigkeitsrechts umfaßt auch das
Paßgesetz. Aber Sie haben gesagt, daß es hier eine ähnliche Vergrößerung des Verwaltungsaufwandes wie
schon nach der Änderung des Art. 16 a des Grundgesetzes geben wird.
({2})
- Entschuldigung, „vorher“. Dann nehme ich das zurück. - Ich glaube, wir sind uns darüber einig, daß die
letzte Änderung unter dem Strich sehr sinnvoll gewesen
ist und zu guten Ergebnissen geführt hat.
Des weiteren haben Sie ausgeführt, daß das vorliegende Gesetz nur der erste Schritt sei. Ich möchte darauf
hinweisen, daß es auch für die F.D.P. eine wichtige Geschäftsgrundlage gewesen ist, daß der Bundesinnenminister in dieser Woche noch einmal öffentlich erklärt
hat, mit dem vorliegenden Gruppenantrag sei die Änderung der Staatsangehörigkeit für diese Legislaturperiode
vom Tisch. - Daß er nur für diese Legislaturperiode
sprechen kann, halte ich für normal; denn es ist auch unser Ziel, daß Rotgrün nach dieser Legislaturperiode
nicht mehr regiert.
({3})
Ferner haben Sie von einem Placebo gesprochen, das
in unserem Gruppenantrag enthalten sei.
({4})
- Sie haben wörtlich das Wort „Placebo“ verwendet. Herr Staatsminister, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die Einbürgerungszusicherung, die jetzt von
der Union beantragt wird, das eigentliche Placebo ist;
denn die Einbürgerungszusicherung ändert gegenüber
der bisherigen Rechtslage nichts.
Sie als Prädikatsjurist wissen, daß in § 85 Ausländergesetz bereits das enthalten ist, was auch im Antrag der
Union gefordert wird, und zwar Punkt für Punkt. Die
Einbürgerungszusicherung ist das eigentliche Placebo,
weil sie nicht nur die Aufgabe, die hier geborenen Kinder zu integrieren, nicht löst, sondern auch nichts anderes tut, als die bisherige Rechtslage fortzuschreiben.
({5})
Schließlich bitte ich Sie um eines: Den von mir gegebenen Hinweis auf die PKK können Sie gar nicht so
mißverstanden haben, wie es Ihre Äußerung vermittelt
hat. Ich habe doch nicht davon gesprochen, daß irgendeiner der fanatisierten, fundamentalisierten Jugendlichen, die heute Krawall machen, das mit einem deutschen Paß nicht täten. Ich habe nur gesagt: Wer möchte,
daß die in Deutschland geborenen Kinder nicht fanatisiert, nicht fundamentalisiert und nicht gettoisiert werden, der sollte alles dafür tun, daß sie integriert in unserer Gesellschaft groß werden.
({6})
Minister Dr. Thomas Schäuble ({7})
Zu einer zweiten
Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Dr.
Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Innenminister Schäuble, als Abgeordnete aus Heidelberg, die mit den Verhältnissen in Baden-Württemberg recht gut vertraut ist, frage ich Sie, ob
Sie das Buch von George Orwell „1984“ gelesen haben.
Wenn nicht, dann lesen Sie es! Wenn Sie es schon gelesen haben, dann lesen Sie es noch einmal! Bei Ihrem
„newspeak“ heißt „Verhetzung“ „Aufklärung“, und
„Ausgrenzung“ heißt „Integration“. Ich glaube, daß das,
was Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben, wirklich ein
schreckliches Beispiel für das ist, was Orwell in seinem
Buch beschrieben hat.
({0})
Herr Innenminister,
möchten Sie darauf etwas erwidern? - Nein, er macht
davon keinen Gebrauch.
Ich erteile das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen der Abgeordneten Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die erste zentrale Frage, die hinter der Debatte über
das Staatsbürgerschaftsrecht und das Ausländergesetz
steht, ist, ob wir Kinder, die in diesem Land geboren
werden, mit ihrer Geburt tatsächlich zu deutschen Bürgern dieses Landes machen wollen.
({0})
Die zweite zentrale Frage ist, ob wir diejenigen Menschen, die schon seit Jahren hier leben, die zum Wohlstand des Volkes mit beitragen, die oft sogar die
Drecksarbeit erledigen - auch das muß deutlich gesagt
werden -, einbürgern wollen, ob wir ein Interesse daran
haben, sie zu gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern zu machen oder ob wir unsere Gesetze lieber so
stricken, daß diese Menschen den Weg in die Einbürgerung auf Grund zu hoher Hürden nicht gehen
können oder nicht gehen wollen. Um diese beiden Fragen geht es.
Wie soll unsere Gesellschaft also aussehen, was für
ein Gesicht soll sie haben? Nehmen wir die Herausforderung an, daß Deutschland - ob wir es gewollt haben
oder nicht - im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu einem Einwanderungsland geworden ist? Die Einwanderung hat das Gesicht dieses Landes verändert. Einwanderung führt auch zu Verunsicherungen in der Bevölkerung. Es ist eine Herausforderung an die Politik, diese
Veränderungen und Verunsicherungen so zu bündeln,
daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung mit Ruhe
und mit Frieden den Neuerungen entgegensehen kann.
({1})
Ich begrüße es ausdrücklich, daß wir dieses sensible
Thema heute morgen in dieses Haus zurückgeholt haben. Das Thema Ausländereinbürgerung gehört nicht auf
die Straße. Auch wenn Sie hier heute noch einmal betont
haben, die Unterschriftenaktion weiterführen zu wollen, möchte ich an Sie appellieren, ja ich möchte Sie sogar wegen des Friedens im Lande bitten: Stellen Sie diese Unterschriftenaktion ein!
({2})
Ich sage das nicht deswegen, weil uns die Unterschriftenaktion parteipolitisch geschadet hätte, sondern
weil wir wissen, daß auf dem Boden von Verunsicherung, von Verängstigung, auch von Ablehnung gegenüber den Fremden und dem Fremden Stimmungen entstehen und Geister aus der Flasche geraten, die wieder
einzufangen wir alle uns gemeinsam bemühen müssen.
Man kann so keine Politik machen. Wir haben die Verantwortung dafür, daß diese Stimmungen in der Bevölkerung, die, wie wir alle wissen, rudimentär vorhanden
sind, nicht durch Stichworte, die aus der Politik gegeben
werden, weitere Nahrung bekommen.
({3})
Aus den Reihen der CDU ist eine sehr kluge und besonnene Kollegin als Ausländerbeauftragte in Berlin
tätig. Sie schildert genau wie ich, daß ihr aus den Migranten- und Ausländerverbänden nahegelegt wird, alles
daranzusetzen, daß diese Unterschriftenaktion aufhört,
({4})
weil die Ausländer diejenigen sind, die den Stimmungswechsel zu spüren bekommen, und nicht die rotgrüne Koalition. Wir können damit leben, wenn es
schlechte Stimmung gegen uns gibt. Das auszuhalten
gehört bei Parteien dazu. Es geht um Menschen, die diese Stimmungen zu spüren bekommen. Das können Sie
nicht wollen. Ich bitte Sie noch einmal: Gehen Sie herunter von der Straße, kehren Sie zurück ins Parlament!
Hierhin gehört die Auseinandersetzung.
({5})
Sonst müssen Sie die Verantwortung dafür übernehmen, daß ein gesellschaftliches Klima entsteht, in dem
nicht Integration und Toleranz, wie Sie in Ihrem Antrag
sagen, vorangetrieben werden. Wir haben viel Fremdenfeindlichkeit in diesem Land. In den östlichen Bundesländern bemühen sich viele Menschen im Sinne von
Weltoffenheit und Toleranz, etwas den sich radikalisierenden Stimmungen gegen Fremde und Andersaussehende entgegenzusetzen. Es darf von seiten der Politik
nichts dazu getan werden, diese sich radikalisierenden
Stimmungen von oben her noch zu schüren. Sie dürfen
keine Tische in den Städten aufstellen, an denen den
Menschen das Gefühl vermittelt wird, sie könnten all
ihren Frust, all ihre Ängste gegen die Türken, gegen den
Islam und gegen die anderen dort mit einer Unterschrift
abladen. Das darf in diesem Land nicht sein, wenn
wir an demokratischen und zivilen Verhältnissen interessiert sind.
({6})
Es liegt in der Natur von Kompromissen, daß jede
Seite Zugeständnisse machen muß und sich jede Seite in
einem Kompromiß wiederfinden muß. Das ist mit dem
hier vorgelegten Gesetzentwurf zur Einbürgerung der
Fall. Es ist bekannt, daß wir uns weitergehende Schritte
hätten vorstellen können und daß wir den Erwartungen
an dieses neue Staatsbürgerschaftsrecht, die bei den Migranten in diesem Land sehr groß geworden sind, nicht
voll nachkommen konnten.
Eines sollten wir aber nicht kleinreden: Wir haben
endlich die Zäsur bei dem bisher ausschließlichen Abstammungsrecht in unserem Staatsbürgerschaftsrecht.
Die Kinder, die ab jetzt in deutschen Kreißsälen zur
Welt kommen - egal, ob sie bosnische, polnische oder
deutsch-türkische Eltern haben - werden hier als deutsche Kinder aufwachsen, wenn die Eltern die Voraussetzungen erfüllen.
({7})
Das ist gut so und ist ein großer Schritt in Richtung Integration. Damit wird ihnen von vornherein die Möglichkeit eröffnet dazuzugehören. Darum geht es eigentlich. Es geht nicht um das Papier, den Paß. Es geht um
die Botschaft: Ihr gehört dazu; ihr seid nicht etwas anderes und nicht andere.
({8})
Kinder kommen nicht mit einem Gefühl für Staatsangehörigkeit zur Welt. Kinder fühlen, in welcher Umwelt
sie leben und wozu sie gehören. Wie gesagt, sie sollen
dazugehören.
({9})
Das zweite Angebot richtet sich an die schon hier lebenden Migranten. Wir werden darum werben, daß diejenigen, die schon jetzt die rechtlichen Bedingungen erfüllen, um sich einbürgern zu lassen, aber diesen Schritt
nicht tun mochten, ihn vollziehen. Wir werben darum,
weil diese neue Regierung - damit bricht sie mit der Politik der alten Regierung ({10})
möchte, daß die Migranten dazugehören und gleichberechtigt sind. Sie sollen als gleichberechtigter Teil unserer Bevölkerung anerkannt werden. Wir wollen sie dazu
einladen. Diese Einladung können wir nicht oft genug
aussprechen.
({11})
Das Dazugehören zu betonen ist ein Teil von Integration. Zur Integration gehören ferner die Bildungs- und
Schulpolitik, die - wie auch Experimente und Modellvorhaben - extrem wichtig sind. In diesem Bereich passiert in den Ländern sehr viel. Auch die Sprachförderung
ist wichtig, weil die Sprache die Brücke in eine Gesellschaft ist. Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit
und auch der Jugendsport, in dem es unendlich viele
Begegnungen zwischen ausländischen, deutschen oder
schon eingebürgerten Kindern gibt, sind wichtig. All
diese Punkte gehörten zur Integrationspolitik.
Ich finde es gut, daß die Union zu diesem Thema
einen Antrag vorlegt. Allerdings müssen Sie sich schon
fragen lassen, weshalb es 16 Jahre gedauert hat, bis Sie
mit diesem Thema in der politischen Arena erscheinen.
({12})
Die eigentliche Differenz zwischen der alten und der
neuen Regierung besteht in der Tatsache, daß sich die
neue Regierung der Realität stellt und sagt: Deutschland
ist zu einem Einwanderungsland geworden; dementsprechend werden wir die Gesetze gestalten.
({13})
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß sich das kulturelle Gesicht dieses Landes tatsächlich verändert hat: Es
ist unser Land, in dem Sabrina Setlur als „Beste nationale Künstlerin“ geehrt wird; es ist unser Land, in dem
die Top-Nachrichten von Yasemin Kalkan im „Bericht
aus Bonn“ präsentiert werden; es ist unser Land, in dem
ein junger Mann mit dem urdeutschen Namen Yueshi
Lai beim Landeswettbewerb „Jugend forscht in NRW“
einen ersten Preis erringt; es ist unser Land, in dem
die deutsche Goldhoffnung bei den Taekwondo-Weltmeisterschaften Fadime Karatas heißt.
In unserem Land steht die Karriere einer Nilgün Özel
mit ihrer Agentur für „Marketing-Service/Design“ und
ihren 14 Mitarbeitern beispielhaft für Existenzgründungen von Frauen.
({14})
In unserem Land hat der „Kicker“ eine Elf zur „Mannschaft der Woche“ erklärt, in dem die Fußballer aus
Frankfurt - wohlgemerkt: aus Frankfurt - die Namen
Arslan, Karagiannidis, Bakyrtzis und Zeran tragen. Das
ist Deutschland. Unser Land besitzt inzwischen diese
Vielfalt.
({15})
Es wird Ihnen nicht gelingen, meine Damen und Herren
von der Union, dieses Land in die Abgeschlossenheit
und Spießigkeit der 50er Jahre zurückzukatapultieren.
({16})
Marieluise Beck ({17})
Wir wollen ein modernes und zukunftsfähiges
Deutschland gestalten. Weil diese Menschen zu uns gehören, ändern wir das Staatsangehörigkeitsrecht, wonach
die Kinder, die hier geboren werden, sofort vom ersten
Tag an zu unserer Gesellschaft gehören. Mit diesem Gesetzentwurf werden die Hürden für die Einbürgerung
nicht so hoch gelegt, daß die Annahme der deutschen
Staatsangehörigkeit nicht möglich wird.
Es ist richtig, daß noch einige Punkte dieses Gesetzentwurfs zu diskutieren sind.
({18})
Dazu gibt es die parlamentarische Beratung. Wir werden diese Diskussionen im Rahmen der Anhörung mit
Fachleuten führen. In diesem Zusammenhang will ich
im Namen meiner Fraktion dem Bundesinnenminister
noch einmal für die oft mühseligen Verhandlungen danken, die er geführt hat.
({19})
Herr Rüttgers, wir führen den Doppelpaß nicht durch
die Hintertür ein, wie Sie behaupten. Wir sprechen für
alle Jugendlichen und für alle, die hier dauerhaft leben,
endlich die Einladung aus, durch die Vordertür in diese
Gesellschaft zu kommen. Sie sollen sich nicht länger
durch den Lieferanteneingang drücken müssen. Kommen Sie aus Ihrer Nörgelecke, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU!
({20})
Es liegt ein Kompromiß auf dem Tisch, der die
breite Mehrheit in der Gesellschaft widerspiegelt. Ich
möchte gerne wissen, wie Sie angesichts der Europawahlen, die ein Schritt auf dem Weg zu einem weltoffenen Europa sind, Ihre Campingtische in die Fußgängerzonen stellen können, wo Sie gegen Mobilität, gegen
Offenheit und gegen eine tolerante Gesellschaft agieren.
Das darf nicht passieren!
({21})
Sie können die Tür zu einer weltoffenen Gesellschaft
nicht mehr zunageln. Diesen Weg wird auch die Gesellschaft nicht gehen.
Denn bei allen Schwierigkeiten, die eine multikulturelle Gesellschaft macht, bringt sie letztlich doch einen
Gewinn an Lebensqualität, an Buntheit, an Offenheit
und an Vielfalt mit sich. Und Vielfalt ist immer noch
besser als Einfalt.
({22})
Das Wort hat die
Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute beginnt ein
historischer Abschnitt in der Rechtsgeschichte unseres
Landes. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert wird nach
86 Jahren das alte wilhelminische Staatsbürgerschaftsrecht mit seiner völkischen Philosophie des deutschen
Blutes durchbrochen.
({0})
Zum erstenmal tritt das in den meisten Staaten der Europäischen Union und in den meisten demokratischen
Ländern der Welt gültige Ius soli, das Territorialprinzip,
an seine Seite. Künftig erwerben in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern mit der Geburt die
deutsche Staatsangehörigkeit. Es ist ein Fortschritt für
unser Land und ein Schritt hin zu einem vereinten Europa.
Genauso wie Innenminister Schily halte ich den ursprünglichen Gesetzentwurf für den konsequenteren und
für den, der die Ziele dieser Gesetzesinitiative besser erreichen würde, nämlich Integration und sozialen Frieden
durch gesellschaftliche Gleichstellung. Wir haben mit
dem nun eingebrachten Gesetzentwurf einen Kompromiß erreicht, einen Kompromiß, der sich an den
politischen Mehrheiten im Bundesrat orientiert, einen
Kompromiß, der zu diesem Zeitpunkt das umsetzt, was
zu erreichen ist. Ich sehe darin ebenso wie Peter Struck
einen Einstieg, einen ersten Schritt zu einer grundlegenderen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die in Zukunft unumgänglich sein wird. Wir werden weiterhin
um eine gesellschaftliche Mehrheit für eine grundlegendere Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts
werben.
Der hier vorliegende Entwurf ist das Ergebnis einer
sachlichen Diskussion von den politischen Kräften, die
an einer solchen Diskussion und an einer Lösung der bestehenden Probleme interessiert sind. Die Zustimmung
geht über die Fraktionen der Regierungskoalition hinaus; sie umfaßt die Abgeordneten der F.D.P.-Fraktion
und, wie zu hören ist, auch Abgeordnete der CDU/CSUFraktion. Ich will Ihnen dazu eine kleine Szene von
heute morgen schildern. Mir hat ein Kollege aus der
Fraktion der CDU/CSU erklärt, daß er heute lieber gar
nicht erst ins Plenum kommt, weil er sonst womöglich
der Situation ausgesetzt würde, daß er klatschen möchte
- wenn nämlich heute das eingebracht wird, wofür er in
den letzten vier Jahren gekämpft hat - und deswegen
Schwierigkeiten bekäme, oder weil er der Situation ausgesetzt würde, daß er Schwierigkeiten von Ihrer Seite
bekäme, wenn er bei den Redebeiträgen von Ihnen nicht
klatschen würde.
({1})
Ich denke, das ist eindeutig. Deswegen freue ich mich
ganz besonders darüber, daß es auch noch andere Kollegen aus Ihrer Fraktion gibt, die ihre Zustimmung zu dem
vorliegenden Gesetzentwurf deutlich ausgedrückt haben,
die also nicht den einfacheren Weg gehen, zu Hause zu
bleiben, sondern die klar Stellung beziehen.
({2})
Marieluise Beck ({3})
Daß es weder dem Kollegen Schäuble noch Herrn
Stoiber, noch der Mehrheit in Ihrer Partei um eine sachliche Diskussion geht, das liegt auf der Hand. Die Union
geht nach rechts. Die CDU/CSU hat beschlossen, die
umstrittene Unterschriftenaktion fortzuführen. Ich fand
es bezeichnend, wie Sie, Herr Schäuble, als Innenminister von Baden-Württemberg erklärt haben: Wir führen
die Unterschriftenaktion fort. - Ich gehe davon aus, Sie
haben das als Sprachrohr der CDU gesagt und nicht in
der Funktion als Innenminister, in der Sie hier sind.
({4})
Meine Damen und Herren, Sie polemisieren mit dieser Unterschriftenaktion weiterhin gegen eine generelle
Hinnahme der sogenannten doppelten Staatsbürgerschaft, und das, obwohl das in dem vorliegenden Gesetzentwurf überhaupt nicht mehr enthalten ist.
({5})
In diesem Entwurf ist das schon einmal gar nicht der
Fall. Ihnen geht es gar nicht darum, ein Gesetz zu verhindern. Ihnen geht es einzig und allein darum, weiterhin mit gezielter Desinformation unterschwellige Ängste
und Fremdenfeindlichkeit zu schüren.
({6})
Sie stehen damit in der übelsten und unseligsten Tradition der deutschen Rechten in diesem Jahrhundert. Sofort
nach dem Start der Unterschriftenaktion haben die Republikaner, die DVU und die NPD lauthals Beifall geklatscht und angekündigt, Ihnen inhaltlich und organisatorisch unter die Arme zu greifen. Ich würde mich für
diesen Zuspruch und solche politischen Bündnispartner
schämen.
({7})
Die Union geht nach rechts!
Während die katholische und die evangelische Kirche, während alle wichtigen gesellschaftlichen Institutionen Sie kritisiert haben und noch immer kritisieren,
setzen Sie diese Kampagne fort. Da stellt sich Herr Stoiber hin und erklärt unseren Ansatz zum „gefährlichsten
Anschlag auf den Rechtsstaat seit der RAF“.
({8})
Da verbreitet die CSU die Auffassung, daß bei einer
erleichterten Einbürgerung die PKK in unserem Parlament sitzen wird.
Sie haben in der Debatte zur Festnahme von Abdullah
Öcalan mehrmals einen Zusammenhang zwischen den
Ausschreitungen von PKK-Anhängern und der Diskussion um eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
hergestellt. Das ist eine infame und wissentlich unrichtige Darstellung.
({9})
Sie wissen ganz genau, daß es sich bei den an den Krawallen beteiligten Personen mit großer Mehrheit um
Menschen gehandelt hat, die in gar keiner Weise die
Voraussetzungen des Gesetzentwurfs erfüllt hätten. Da
ich Ihnen unterstelle, daß Sie des Lesens und des geistigen Erfassens eines Gesetzentwurfes mächtig sind,
bleibt nur die Schlußfolgerung, daß Sie hier wissentlich
und kalkuliert die Unwahrheit gesagt haben, um auch
hier eine fremdenfeindliche Stimmung zu schüren und
die Regierungsfraktionen zu verunglimpfen. Die Union
geht nach rechts!
Die Väter und Mütter der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland haben eine demokratische und
freiheitliche Gesetzgebung geschaffen, in der Taten
wie Volksverhetzung unter Strafe gestellt wurden. Ich
kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß maßgebliche Teile der CDU/CSU im Begriff sind, diesen
Konsens zu verlassen. Man ist heutzutage in der CSU
stolz darauf, wenn DVU-Chef Frey erklärt, seine Partei
werde nicht zu den bayerischen Landtagswahlen antreten, weil die CSU alle Voraussetzungen einer
Rechtspartei in seinem Sinne erfülle. Die CDU/CSU hat
die Orientierung an der Mitte aufgegeben. Die Union
geht nach rechts!
({10})
Wenn Sie es mit solchen Kampagnen schaffen, bei
Landtagswahlen zu punkten, ist das noch hinnehmbar.
Sie befördern damit aber in unserem Land ein Klima, in
dem es dann möglich wird, daß Menschen zu Tode gehetzt und wegen ihrer Herkunft angezündet werden. Dafür tragen Sie Ihren Teil der Verantwortung. Und dies ist
unlösbar mit der Diskussion verbunden, die wir hier
heute führen.
({11})
Zur Unterschriftenaktion nur ein kurzes Zitat Ihres
Parteifreundes Michel Friedman, der im Berliner „Tagesspiegel“ erklärt hat:
Es ist doch der Gipfel der Heuchelei, wenn die
CDU behauptet, diese Unterschriftensammlung im
Interesse der Ausländer zu machen.
Dem kann man eigentlich nichts mehr hinzufügen.
({12})
Sie mögen ja den Ausgang der Wahl in Hessen als
großen Sieg Ihrer Unterschriftenaktion feiern. Es gibt
aber auch Siege, die schlimmer sein können als Niederlagen. Und dieser Sieg wird Sie entzweien.
({13})
Die Union geht nach rechts! Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden dem entschlossen
entgegentreten. Gemeinsam mit den Kollegen des
Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. haben wir angesichts der veränderten Verhältnisse im Bundesrat
einen tragfähigen Kompromiß gesucht und gefunden. Er
beinhaltet einige Veränderungen, die wirklich nach vorne weisen.
Natürlich ist das Optionsmodell stark in der Kritik.
Ich kann diese Kritik beispielsweise vom Geschäftsführer des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg, Herrn
Kenan Kollat - stellvertretend für viele Betroffene -,
verstehen. Aber ich kann nur sagen: Dieses Gesetz ist
gegenüber der bestehenden Regelung eine Reform, die
nach vorne weist. Ich kann alle Kritikerinnen und Kritiker nur auffordern: Arbeiten Sie mit! Führen Sie mit uns
eine gesellschaftliche Diskussion, damit dies nur ein erster Schritt ist!
({14})
An dieser Stelle möchte ich noch etwas zum Kollegen
Gerhardt von der F.D.P. sagen, der erklärte, die Grünen
müßten begreifen, daß sie die Schlacht in dieser Angelegenheit verloren hätten. Ich finde, schon die Diktion läßt
tief blicken; hier wird von einer Schlacht, sozusagen von
einem Krieg gesprochen. Es ist aber auch sachlich
falsch; denn die Verlierer in dieser Angelegenheit sind
nicht die Grünen. Die Verlierer sind vielmehr die Menschen, die seit Jahrzehnten in diesem Land leben, die
hierhergeholt wurden, um zu arbeiten, und die unsere
Wirtschaft, unseren Wohlstand mit aufgebaut haben.
({15})
Von seiten der CDU kommt natürlich wieder der Ruf:
Wir gehen vors Bundesverfassungsgericht. Das sind
wir mittlerweile gewohnt. Es war in den letzten 16 Jahren auch kaum eine politische Entscheidung möglich,
ohne daß sie Ihnen aus Karlsruhe diktiert wurde. Sie
selbst waren ja nicht mehr für Politik zuständig. Das hat
sich jetzt geändert. Wir haben eine Regierung, die Politik macht. Wir brauchen auch die verfassungsrechtliche
Untersuchung nicht zu fürchten.
({16})
Ich brauche hier, glaube ich, kein juristisches Seminar zur Verfassungsmäßigkeit eines Optionsmodells abzuhalten. Sie alle wissen, daß nach Art. 16 des Grundgesetzes ein Entzug der Staatsbürgerschaft verboten,
aber ein Verlust durchaus möglich ist. Hierzu wird es
eine ausführliche juristische Diskussion und auch eine
Anhörung geben. Wir werden dann zu einem verfassungsmäßigen Entwurf kommen, der dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts standhalten wird.
Allerdings finde ich es schon etwas witzig, wenn Sie
sich hier hinstellen und sagen: Das Optionsmodell ist
wegen des Verlustes per se verfassungswidrig. Lesen
Sie sich einmal Ihren Gesetzentwurf durch; darin stehen
einige Verlustgründe. Dann wären diese ja genauso wenig möglich, dann wären diese ja genauso verfassungswidrig. Ich erspare es mir, auf einige einzugehen. Die
sind schon hanebüchen. Als Juristin stellen sich mir da
die Haare zu Berge.
Ich möchte nur noch auf einen Punkt Ihres Antrages
eingehen, nämlich auf § 6, die Erwerbszusicherung.
Sie haben uns immer vorgeworfen, wenn wir auch nur in
Ausnahmefällen zulassen würden, daß Menschen in diesem Land mehr als eine Staatsbürgerschaft besitzen,
dann würden wir eine Zweiklassengesellschaft schaffen:
Doppeldeutsche und Nur-Deutsche. Was machen Sie
jetzt? - Sie wollen für in Deutschland geborene Kinder
ausländischer Eltern eine Einbürgerungszusicherung
einführen, eine Art Gutschein, der den jungen Menschen
dann sagt: Ihr gehört nicht zu uns, aber wenn ihr hübsch
brav seid, dann dürft ihr vielleicht einmal zu einem von
uns werden.
Vorhin ist mir fast einmal die Luft weggeblieben das kommt bei mir selten vor -,
({17})
als Ihr Kollege gesagt hat, sie müßten sich gut führen.
Wissen Sie, woher ich den Begriff kenne? - Aus meiner
Tätigkeit als Anwältin. Da haben mich Mandaten immer
gefragt, wenn sie zu einer Haftstrafe verurteilt wurden,
wann sie denn herauskommen, wenn sie sich gut führen.
Wenn Sie so eine Assoziation mit einer Einbürgerungsmöglichkeit für Kinder und Jugendliche verbinden, dann
sträuben sich mir wirklich die Haare. Das läßt tief blikken.
({18})
Meine Damen und Herren, mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes, wenn wir es durchsetzen, beginnt eine
neue Entwicklung. Wir wollen nämlich keine ethnische
Sauberkeit, sondern kreative, leistungsfähige und zukunftsorientierte Vielfalt. Wir wollen für die Menschen,
die in dieser Gesellschaft leben und arbeiten, die gleichen Rechte und Pflichten, unabhängig von ihrer ethnischen Abstammung.
Das heute eingebrachte Gesetz, der Gruppenantrag,
ist ein erster Schritt im Rahmen dieser Entwicklung. Es
ist nicht das Ende des Weges, sondern der Anfang. Die
Union geht nach rechts; wir gehen nach vorn!
Vielen Dank.
({19})
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Jürgen Rüttgers, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin, zu Ihrer Rede: Von Gift und Häme geprägt, würde es sich
normalerweise nicht besonders lohnen, darauf einzugehen.
({0})
Sie sollten nur an einer Stelle etwas vorsichtig sein:
wenn Sie über rechtsradikale Parteien diskutieren. Sonst
fällt mir ein, daß die von Ihnen zitierte DVU anläßlich
der Niedersachsenwahl im vergangenen Jahr aufgerufen
hat, Gerhard Schröder zu wählen. Ich wäre an Ihrer
Stelle viel vorsichtiger bei dem, was ich hier vorn sage,
oder ich würde wenigstens ordentlich lesen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung hat eben in ihrer
Rede einige Menschen vorgestellt, die in Deutschland
leben, mit dem emotionalen Anfang der Sätze: Das ist
unser Land. - Sie hat recht: Es ist schön, daß es in diesem Land viele Menschen gibt mit sehr unterschiedlichen Begabungen und auch mit unterschiedlicher
Herkunft.
({2})
- Lieber Herr Kollege Tauss, ich habe Ihnen schon
mehrfach gesagt: Gewöhnen Sie sich doch einmal an,
das Gehirn einzuschalten, bevor Sie den Mund aufmachen! Es ist doch wirklich unerträglich.
({3})
Halten Sie doch einfach einmal den Mund und hören Sie
zu. Vielleicht lernen Sie etwas. Das täte Ihnen gut.
({4})
Frau Kollegin Beck, es ist schön, daß dieses Land so
vielfältig ist. Aber man muß auch darauf achten, daß ein
solches Land zusammenbleibt, daß es ausländerfreundlich bleibt. Da haben Sie nun wirklich einen Fehler gemacht. Nicht wir haben das Thema Doppelpaß auf die
Tagesordnung gesetzt, sondern Sie glaubten vor der
Hessen-Wahl, Sie könnten Stimmen gewinnen, wenn
Sie das Thema ansprechen. Aber Sie haben sich geirrt,
und es wird Zeit, daß Sie zur Kenntnis nehmen, was in
dieser Frage die Mehrheit in diesem Land will.
({5})
Sie versuchen jetzt vor der Bremen-Wahl und vor der
Europa-Wahl schon wieder, dieses Gesetz mit Sondersitzungen durch das Parlament zu peitschen. Sie werden
sich noch einmal irren. Ich beschwöre Sie: Lassen Sie
von diesem Vorhaben ab, lassen Sie uns über die Frage
reden, wie man das Land versöhnen kann, statt es zu
spalten, wie Sie es machen.
({6})
Wo sind denn Ihre konkreten Vorschläge für die Integration? Der Glaube, man gebe einem Menschen einen Paß und dann sei er integriert, ist ein Irrglaube, wie
wir aus Frankreich, England und den Niederlanden wissen. Wo sind denn Ihre Vorschläge, wie es mit dem
Sprachunterricht weitergeht,
({7})
wie es am Arbeitsplatz und bei den Lehrstellen sein soll?
Da ist bei Ihnen Sendepause, Frau Kollegin Müller. Sie
haben keinen Antrag hinbekommen. Deshalb meinen
Sie, Sie müßten Ihre Ideologie durchsetzen.
({8})
Die CDU/CSU-Fraktion hat heute zwei Anträge und
einen Gesetzentwurf vorgelegt.
({9})
In einem Antrag legen wir ein Konzept für die Integration mit vielen konkreten Punkten vor.
({10})
Der Antrag für ein modernes Ausländerrecht enthält
Vorschläge für die Novellierung des Ausländergesetzes.
Unser Gesetzentwurf schließlich beinhaltet die Neuregelung des Staatsangehörigkeitrechtes.
({11})
Diese Vorlagen sind eine klare Alternative zu dem ausländerpolitischen Scherbenhaufen, den Rotgrün hier in
den letzten Wochen angerichtet hat.
({12})
Es ist das bessere Konzept für die Integration der rechtmäßig und dauerhaft hier lebenden Ausländer.
({13})
Heute hat Herr Schily den dritten Entwurf vorgelegt.
({14})
Man höre und staune: den dritten Entwurf in zwei Monaten. Mitte Januar hat man noch von historischen Dimensionen geredet. Im Februar mußte der Bundesinnenminister diesen Entwurf zurückziehen, und zwar wegen inhaltlicher Mängel, wegen politischer Unausgegorenheit, weil er nicht mehrheitsfähig war und weil die
Bevölkerung in Hessen diesen Entwurf klar abgelehnt
hat.
Dann kam Schily II aus der Abteilung Tricksen und
Täuschen. Man wollte so tun, als verzichte man auf die
Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehörigkeit. Aber es gab für fast jeden Fall eine Ausnahmevorschrift, was bedeutet hätte, der Doppelpaß wäre doch
gekommen. Auch dieser Entwurf wurde wenige Tage
später kassiert.
Heute haben wir nun Schily III. Dieser Entwurf hat
mit seinen Vorgängern eines gemeinsam: Auch er wurde
mit heißer Nadel gestrickt. Er ist wiederum nur ein
Stückwerk und keine Gesamtreform des deutschen
Staatsangehörigkeitsrechts. Noch nicht einmal Verfahrensregeln sind in diesem Entwurf enthalten. Vor allem
fehlt jede inhaltliche Abstimmung mit dem Ausländerrecht.
Ein Beispiel: Man kann künftig als Ausländer leichter
die deutsche Staatsangehörigkeit als ein Daueraufenthaltsrecht in Deutschland erwerben. Das erkläre einem,
wer will; ich verstehe das nicht.
({15})
Es bleibt völlig offen, wie viele der hier lebenden
Ausländer die Einbürgerungsvoraussetzungen erfülDr. Jürgen Rüttgers
len, ob es 100 000, 500 000 oder 1 Million sind. Aber
angeblich soll der Doppelpaß nur noch die Ausnahme
sein. Das haben wir jedenfalls gehört. Lassen Sie mich
einmal versuchen, abzuschätzen, um wie viele Menschen es geht. Politisch Verfolgte sollen in jedem Fall
die doppelte Staatsangehörigkeit bekommen. Nach den
Zahlen des Ausländerzentralregisters sind es knapp
300 000 Menschen.
({16})
EU-Bürger sollen das Recht auf den Doppelpaß haben.
Das sind rund 1,6 Millionen Menschen.
({17})
Mehrstaatlichkeit soll für ältere Ausländer zugelassen
werden.
({18})
Wenn wir eine Grenze von 60 Jahren annehmen, sind
das 450 000 Personen.
({19})
Mehrstaatlichkeit soll nach Schily III aber vor allem
dann hingenommen werden, und zwar zwingend, wenn
die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit zu
wirtschaftlichen oder vermögensrechtlichen Problemen
führt.
({20})
Das trifft aber in jedem Land für jeden zu, der nicht
mehr Inländer, sondern Ausländer ist. Das heißt, man
braucht nur vorzutragen, man werde von der Familie
enterbt, und schon kann man die doppelte Staatsangehörigkeit behalten.
({21})
Zudem läge es in den Händen anderer Staaten, jedem ihrer hier lebenden Staatsbürger die doppelte Staatsangehörigkeit zu ermöglichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir wirklich, daß andere Staaten über die
Zahl von doppelten Staatsangehörigkeiten in Deutschland bestimmen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Herr Kollege Westerwelle hat heute schon mehrfach geredet.
Jetzt muß er sich das auch einmal ein bißchen anhören.
Heißt dies nicht auch, je strenger der ausländische
Staat ist, desto leichter kann er die doppelte Staatsangehörigkeit in Deutschland für seine Bürger durchsetzen,
falls er das politisch als vorteilhaft ansieht?
Es bleiben die jährlich etwa 80 000 in Deutschland
geborenen Kinder ausländischer Eltern, die nach Schily
III zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen, also jährlich etwa 80 000 neue Doppelstaatler.
Hinzu kommen noch diejenigen, die bereits zehn Jahre
hier sind und die jetzt auch den Doppelpaß erhalten. Das
sind auf einen Schlag noch einmal zwischen 600 000
und 700 000 Personen.
({0})
Diese Zahlen, werte Kolleginnen und Kollegen, zeigen: Auch Schily III führt die doppelte Staatsangehörigkeit ein, wenn auch nur durch die Hintertür. Diejenigen,
die dann den Doppelpaß immer noch nicht haben, sollen
ihn - das haben wir heute gehört, etwa bei der Rede von
Frau Kollegin Müller oder bei den Äußerungen des
SPD-Fraktionsvorsitzenden - in einem zweiten Schritt
bekommen. Für Sie ist das Gesetz ein erster Schritt. Ich
sage Ihnen: Sie mißachten mit diesem Gesetz nicht nur
den Willen der Bevölkerung; Sie werden mit diesem
Vorhaben auch ein zweites Mal scheitern.
({1})
Das Optionsmodell ist „weder von der Verfassung
her unproblematisch noch in Hinsicht auf die verwaltungspraktische Umsetzung“.
({2})
Es führt zu einem „gigantischen Verwaltungsaufwand“,
der „überhaupt nicht zu bewältigen“ ist, wenn jeweils
geprüft werden muß, ob die zweite Staatsangehörigkeit
bei der Option für die deutsche tatsächlich aufgegeben
wird. - Das waren Zitate von Herrn Bundesinnenminister Schily vom 24. Januar 1999.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage?
Ich frage Sie,
({0})
Herr Bundesinnenminister: Ist es nicht so, daß Sie für
die Verfassung in diesem Land zuständig sind? Wie
kann es sein, daß ein Bundesinnenminister hier einen
Gesetzentwurf vorlegt und vertritt, der nicht zweifelsfrei
verfassungsgemäß ist?
({1})
Ich frage Sie: Wie kann es sein, daß notwendige Abklärungen, die gerade auch im Hinblick auf den Rechtsfrieden von zentraler Bedeutung sind, unterbleiben, bloß
weil man aus politischer Not glaubt, man müsse jetzt in
dieser Frage handeln? Ich verstehe das nicht.
({2})
Ich weiß auch nicht, wie Sie, Herr Schily, das mit Ihrem
Amtseid in Übereinstimmung bringen können. In dieser
Woche haben Sie gesagt, eventuelle verfassungsrechtliche Bedenken könnten im Laufe des parlamentarischen Verfahrens beseitigt werden. Herr Schily, was ist
das für ein Verständnis von Ihrem Amt, wenn Sie Gesetze vorlegen und begründen und zugeben, daß es verfassungsrechtliche Bedenken gibt, die man nicht ausgeräumt hat? Herr Schily, ziehen Sie Ihre Zustimmung zu
diesem Entwurf zurück, solange nicht klar ist, ob dieser
Gesetzentwurf verfassungsgemäß ist oder nicht!
({3})
Ich persönlich glaube, daß dieses Gesetz verfassungsrechtlich mehr als bedenklich ist.
({4})
Der Sache nach handelt es sich um eine befristete
Staatsangehörigkeit, die vom Grundgesetz nicht vorgesehen ist. Aber unabhängig von dieser Frage ist dieses
Gesetz auch integrationspolitisch unausgegoren. Es wirft
nur Fragen auf, löst aber die praktischen Probleme der
Integration nicht. Zur Rechtssicherheit gerade in Statusfragen gehört eben auch Rechtsklarheit; die wird durch
dieses Gesetz nicht erreicht.
({5})
Integration durch einen Paß - das ist der ideologische Glaube an die Macht bürokratischer Entscheidungen. Zur wahren Integration gehört aber, wie jeder weiß,
viel mehr.
({6})
Integration, Frau Müller, findet im Kindergarten und in
der Schule statt. Sie findet in der Wohnumgebung statt.
Sie findet im Sportverein statt. Sie findet bei Freundschaften zwischen jungen Ausländern und Deutschen
statt. Da entscheidet sich die Integration.
Deshalb verstehe ich Ihre Bemerkung zu Roland
Koch im Hinblick auf den muttersprachlichen Unterricht
nicht. Wer die Integration in die deutsche Gesellschaft
will, der muß den Deutschunterricht fördern und nicht
eine ausländische Sprache, um die Rückkehr zu ermöglichen.
({7})
Das ist genau das, was Sie anscheinend nicht verstehen
können oder nicht verstehen wollen.
({8})
Bisher hat niemand plausibel erklären können, worin
eigentlich der integrationspolitische Zugewinn des Doppelpasses für Jugendliche liegen soll. Es ist vor kurzem
vom Kollegen Kanther gefragt worden, wie es mit der
integrativen Logik des Modells auf Zeit, wie es im Gesetzentwurf von Rotgrün steht, dem Herr Westerwelle
zugestimmt hat, zu vereinbaren sei, wenn das kleine
Kind über zwei Pässe verfügt, aber der 23jährige die
deutsche Staatsangehörigkeit wieder verlieren soll, weil
er die elterliche nicht aufgeben will. Für wen ist denn
eigentlich die Integration - der Paß, wie Sie meinen wichtiger: für den Zweijährigen oder für den
23jährigen?
({9})
Das zeigt, Herr Westerwelle, daß schon der Ansatz des
Optionsmodells völlig unausgegoren ist. Er führt zu integrationspolitisch völlig unmöglichen Situationen.
Nehmen wir einmal den Fall der jungen Frau, die
18jährig, das heißt als Doppelstaatlerin, ein deutsches
Kind zur Welt bringt, mit 23 Jahren aber die deutsche
Staatsangehörigkeit verliert, weil sie zur Aufgabe ihrer
ausländischen Staatsangehörigkeit nicht bereit ist. Das
Kind bleibt dann deutsch, im übrigen ohne spätere Optionspflicht, da es die deutsche Staatsangehörigkeit nach
dem Abstammungsprinzip erhalten hat - was beweist,
daß Ihre ganze Rhetorik gegen das Abstammungsprinzip
völlig an der Sache vorbeigeht, denn Sie behalten es selber bei, wie dieser Fall zeigt. Insofern sollten Sie diese
Argumentation einstellen.
Nehmen Sie den zweiten Fall des 22jährigen Ausländers, der als Doppelstaatler zum Bundestag wählen darf,
mit 24 Jahren aber nicht mehr an der Landtagswahl teilnehmen darf, weil er zwischenzeitlich seine deutsche
Staatsangehörigkeit verloren hat, und zwar nur deshalb,
weil er seine elterliche Staatsangehörigkeit nicht ausdrücklich aufgeben will.
Oder nehmen Sie den dritten Fall des 19jährigen
Doppelstaatlers, der Wehrdienst leistet, dann aber plötzlich wieder zum Ausländer in Deutschland wird, obwohl
sich an seinen persönlichen Lebensumständen überhaupt
nichts geändert hat.
Und wie steht denn derjenige da, der seit seiner Geburt als Deutscher in Deutschland lebt, jetzt aber gegen
die deutsche Staatsangehörigkeit optiert: Muß er dann,
nach einem Vierteljahrhundert als Deutscher, Deutschland verlassen? - Keine Antwort im Schily-Entwurf.
Herr Kollege Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Dagmar Schmidt?
Frau Präsidentin,
ich glaube, ich hatte mehrfach deutlich gemacht, daß ich
keine Zwischenfrage zulasse. Ich sage das gerne noch
einmal.
Oder was ist mit jugendlichen Kriminellen, die dann
nicht mehr ausgewiesen bzw. abgeschoben werden können? Wir alle kennen den Fall Mehmet; er ist eben
schon diskutiert worden. Man kann jungen Kriminellen
dann eigentlich nur raten, nach Erreichen der Volljährigkeit so schnell wie möglich für die deutsche Staatsangehörigkeit zu optieren, damit sie vor Abschiebung oder
Ausweisung sicher sein können.
({0})
Wie man das auch dreht und wendet: Das Optionsmodell - nun hören Sie einmal zu; jetzt zitiere ich nämlich den „Spiegel“- ist „der größte anzunehmende Unfug
in der Nachkriegsgeschichte des Staatsangehörigkeitsrechts“. Auch darin hat der „Spiegel“ recht. Weiter:
„Kinder, die - ohne daß ihre Eltern gefragt werden
- zunächst von Amts wegen Deutsche werden sollen, bekommen eine familiäre Zeitbombe unters
Bett gelegt“.
({1})
Diese völlig verfehlte Konzeption des SchilyEntwurfs und seine zahlreichen Ungereimtheiten und
Inkonsequenzen vermeidet der Entwurf der CDU/CSUBundestagsfraktion. Er hat ein klares System. Er wirft
die Grundprinzipien des bisherigen Staatsangehörigkeitsrechts nicht einfach über Bord, sondern entwickelt
sie fort.
({2})
Wir wollen das Einbürgerungsrecht erleichtern. Wir
wollen Rechtsansprüche und nicht bloßes behördliches
Ermessen. Wir verkürzen die Mindestaufenthaltszeiten
im Bundesgebiet, bei Erwachsenen von derzeit 15 Jahren auf künftig 10 Jahre, bei jungen Ausländern von
derzeit 8 Jahren auf künftig 6 Jahre. Wir hätten dann eines der großzügigsten Einbürgerungsrechte der Welt.
Unverzichtbar ist aber die nachweisbare Integration
und Sozialisation des Einbürgerungsbewerbers. Wir
verlangen deshalb den Nachweis ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache und Grundkenntnisse der
verfassungsmäßigen Ordnung unseres Landes.
({3})
Wir halten am Grundsatz der Vermeidung von
Mehrstaatlichkeit fest. Wer sich einbürgern lassen will,
muß sich für die Bundesrepublik Deutschland entscheiden. Wer Deutscher werden will, muß also seine alte
Staatsangehörigkeit aufgeben.
({4})
Natürlich muß es auch weiter Ausnahmen davon geben. Manche Staaten lassen das Ausscheiden aus ihrer
Staatsangehörigkeit überhaupt nicht zu, andere verweigern es regelmäßig oder willkürhaft oder machen es von
unzumutbaren Bedingungen abhängig. Deshalb enthält
unser Entwurf Ausnahmen, die es auch jetzt schon gibt.
Aber es gibt in unserem Entwurf keine Generalklausel,
sondern eine abschließende Aufzählung aller Fälle, in
denen von diesem Erfordernis Abstand genommen wird.
Für die hier geborenen Kinder von Ausländern, die seit
langem in Deutschland leben, wollen wir eine Zusicherung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit einführen.
({5})
Diese Einbürgerungszusicherung löst alle praktischen
Fälle, die im Zusammenhang mit der Frage „Wie können Kinder hier aufwachsen?“ denkbar sind. Sie können
so aufwachsen wie ihre Spielkameraden und wie ihre
Schulkameraden. Sie können mit ihrer Schulklasse ins
Ausland reisen. Sie können sogar eine Lehre im öffentlichen Dienst aufnehmen.
({6})
Sie können bei der Polizei eine Ausbildung absolvieren.
Es gibt also praktisch überhaupt nichts, was sie bei
ihrem Aufwachsen von deutschen Kindern und Jugendlichen unterscheidet. Die Einbürgerungszusicherung
vermeidet alle Probleme, die ich soeben aufgezählt habe.
Das macht den Unterschied aus: Statt Ideologie zu betreiben, sollten praktische Lösungen für die jungen
Menschen hier in diesem Lande gefunden werden. Das
zu erreichen wäre wichtig. Statt unser Land zu spalten,
sollte es zu einer Versöhnung kommen.
({7})
Deshalb sage ich Ihnen - obwohl das nach manchen
Beiträgen in dieser Debatte unglaublich schwerfällt -:
({8})
Aus Verantwortung für die jungen Menschen und gerade
auch für die jungen Ausländer in diesem Land sind wir
bereit, in Gespräche einzutreten, um zu einer vernünftigen und praktikablen Lösung zu kommen.
({9})
Das setzt allerdings voraus, daß Sie aufhören, den vorliegenden Gruppenantrag bzw. Gesetzentwurf durch die
parlamentarischen Verfahren zu peitschen, und daß wir
in vernünftige Gespräche eintreten. Ich fordere Sie deshalb auf: Lassen Sie davon ab, dieses Land zu spalten,
bevor es zu spät ist! Wir brauchen eine vernünftige Lösung im Interesse der Menschen und vor allen Dingen
der Kinder in diesem Land.
Vielen Dank.
({10})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Guido
Westerwelle, F.D.P.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich Ihre Geduld noch einmal ganz
kurz strapazieren muß. Aber als einer der Autoren des
vorliegenden Gesetzentwurfes liegt mir an drei kurzen
Bemerkungen.
Erstens. Wir sind - so wie Sie - Angehörige der Opposition. Deswegen würden wir es schon aus Prinzip
nicht zulassen, daß die Rechte der Opposition im
Rahmen der Beratung dieses Gesetzentwurfes beschnitten werden.
({0})
Wir könnten es nicht akzeptieren, daß jemand berechtigterweise den Vorwurf erheben müßte, der vorliegende
Gesetzentwurf werde durchgepeitscht.
({1})
Das ist doch nicht erfolgt.
({2})
Deswegen ist das parlamentarische Verfahren, insbesondere die Anberaumung einer diesbezüglichen Anhörung für den 13. April dieses Jahres, im Innenausschuß
einstimmig, also unter Zustimmung der Vertreter der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, festgelegt worden.
({3})
Sie haben dem zugestimmt. Sie können hier nicht von
„Durchpeitschen“ sprechen.
Zweitens. Ich möchte Sie alle darauf aufmerksam
machen, daß wir in der letzten Periode einen Reformaufruf vorgelegt bekommen haben, dem 30 Abgeordnete
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zugestimmt und den
sie unterschrieben haben.
({4})
Hier heißt es wörtlich:
Die in Deutschland geborenen Kinder ausländischer Eltern erhalten mit der Geburt die deutsche
Staatsangehörigkeit. Voraussetzung ist, daß ein Elternteil dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland
lebt, da zu erwarten ist, daß diese Kinder in unserem Land aufwachsen und bleiben werden. Nach
Erreichen der Volljährigkeit sollen sie sich für eine
der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden.
Punktum. Das wollen wir jetzt mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf umsetzen.
Ich appelliere an die CDU/CSU: Heben Sie den
Fraktionszwang auf! Lassen Sie die Abgeordneten der
CDU/CSU-Fraktion, so wie dies alle anderen Fraktionen
auch tun, über den vorliegenden Gruppenantrag frei entscheiden, wie wir das auch in bezug auf § 218 des Strafgesetzbuches getan haben. Dann wird hier im Deutschen
Bundestag für die vorgelegte Reform mehr als eine
Zweidrittelmehrheit erzielt.
({5})
Drittens. Ich nehme, was den vorliegenden Gesetzentwurf angeht, eine Vielzahl der von Ihnen vorgetragenen Argumente sehr ernst. Das ist für mich überhaupt
keine Frage. Aber eine Sache kann ich nicht akzeptieren,
und zwar, daß Sie den Eindruck erwecken, durch den
vorliegenden Gruppenantrag werde der Doppelpaß
durch die Hintertür eingeführt. Das geschieht nicht.
Verschiedene Redner der Grünen und der SPD haben
ausdrücklich bedauert, daß ihr ursprüngliches Modell
vom Tisch ist - ich kann das verstehen -, weil wir diesem Modell nicht zugestimmt haben. Es gibt also keinen
Doppelpaß - nicht offen, nicht verdeckt, nicht durch die
Hintertür und nicht von vornherein. Er ist ausdrücklich
ausgeschlossen worden.
Diejenigen Regelungen in unserem Gesetzentwurf,
die eine Mehrstaatlichkeit vorsehen, entsprechen der
bisherigen Rechtslage. § 87 des Ausländergesetzes enthält genau diese Gründe, warum man eine Mehrstaatlichkeit hinnehmen kann: zum Beispiel, wenn ein junger
Mensch, der hier geboren wurde, aus seiner alten Staatsangehörigkeit nicht entlassen wird, so wie wir das aus
dem Iran und manchmal bei jungen wehrfähigen Männern aus Serbien kennen. Wenn das so ist, können wir
doch nicht allen Ernstes sagen: Du darfst nicht Deutscher werden.
In meine Kanzlei - dies war einer meiner ersten Prozesse, lange bevor ich in die Politik ging - kam ein junger Serbe, der pfälzischen Dialekt sprach und eingebürgert werden wollte.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Entschuldigen Sie,
eine letzte Bemerkung. - Dieser serbische Kfz-Lehrling,
der hier groß geworden ist und nur einmal in seinem Leben auf Besuch zu Hause in Jugoslawien war, konnte
nicht aus seiner Staatsangehörigkeit entlassen werden,
weil man für die Annahme des Ausbürgerungsantrages
fast 10 000 DM Gebühren verlangt hat. Das kann ein
Kfz-Lehrling nicht bezahlen. Für solche Fälle, in denen
jemand nicht aus der alten Staatsangehörigkeit entlassen
werden kann, muß es die Möglichkeit der Mehrstaatlichkeit geben. Das ist Recht heute, und das ist Recht in
Zukunft.
({0})
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Volker Beck,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Werter Kollege Rüttgers! Ich hatte Ihnen eigentlich eine
Zwischenfrage stellen wollen. Denn ich möchte etwas
über Ihren Gesetzentwurf, der ja erst seit drei Tagen
vorliegt, lernen, weil er meines Erachtens Fragen aufwirft. Sie haben sehr wenig über Ihren Gesetzentwurf,
aber viel über den Gesetzentwurf der „Koalition der
Vernunft“ gesprochen. Sie haben dafür wahrscheinlich
gute Gründe. Denn ich glaube, Ihr Gesetzentwurf ist im
wesentlichen „Blindtext“.
In diesem Land werden jährlich etwa 100 000 Kinder
ausländischer Eltern geboren. Die heutige Rechtslage
ist, sie sozusagen im Kreißsaal auszubürgern. Diesen
Zustand wollen wir beenden, das wollen wir mit diesem Optionenmodell zumindest erreichen. Ich habe jetzt
die ganz konkrete Frage: Was ändert sich für diese
Kinder nach Ihrem Gesetzesvorschlag gegenüber der
heutigen Rechtslage? Wenn die Kinder hier geboren
sind, sind sie mit 18 - das ist das Alter, bei dem Sie die
Zusicherung der Einbürgerung geben wollen - länger als
15 Jahre in diesem Land und haben deshalb nach geltendem Ausländerrecht einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung.
Deshalb halte ich das, was Sie hier vorschlagen, für
eine Verwirrung der Öffentlichkeit mit neuen Begriffen. In der Substanz ändern Sie nichts. Aus Sicht der
hier geborenen Kinder muß man sagen: Der Berg - die
Union - kreißte und gebar nicht einmal eine Maus.
Die Union war schlicht scheinschwanger. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich jetzt belehren, daß
Sie doch schwanger sind. Erläutern Sie mir einmal
Ihren Vorschlag: Was ändert sich gegenüber dem IstZustand?
({0})
Zu einer weiteren
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Michael Bürsch, SPD-Fraktion.
Herr Rüttgers, ich hatte
zu Beginn der Debatte dafür plädiert, die Diskussion
durchaus leidenschaftlich, aber tolerant und sachbezogen zu führen. Das haben Sie auch für sich reklamiert.
Bloß, Ihre Rede war insofern ein Widerspruch in sich. Drei Bemerkungen.
Erstens. Zu der Unterschriftenaktion, auf die auch
andere CDU/CSU-Redner verwiesen haben - für Sie
war sie eine Frage der Aufklärung -, sagt jemand wie
Richard von Weizsäcker:
Die Materie ist für plebiszitär eingesammelte Unterschriften viel zu komplex. Eine solche Aktion könnte es auch beim besten Willen nicht
vermeiden, „Ausländer raus!“-Instinkte zu schüren. Sie paßt nicht zu einer Partei, die sich mit
großem Recht zum Zusammenschluß Europas
bekennt.
Das ist eine Stimme aus Ihren Reihen.
Zweitens. Seien Sie doch so ehrlich, zuzugeben, daß
es auch bei Ihnen keine Einheitsmeinung gibt, Herr
Rüttgers. Es handelt sich um eine schwierige Materie,
bei der unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen.
In Ihrer Fraktionssitzung am 19. Januar ist das ebenfalls
passiert. Die „FAZ“, wirklich kein SPD-Blatt, hat lang
und breit berichtet, was da passiert ist: Ein Drittel hat
sich für das Optionsmodell ausgesprochen. - Das können doch nicht Idioten oder verfassungsmäßig Blinde
gewesen sein;
({0})
auch diese Menschen haben sich doch dabei etwas gedacht. Frau Merkel, Herr Rühe, Herr von Klaeden und
andere wirklich honorige Mitglieder Ihrer Fraktion man kann noch mehr Namen nennen: Geißler, Blüm,
Schwarz-Schilling und Frau Süssmuth - haben sich aus
ihrer Überzeugung heraus, weil sie Art. 38 GG ernst
nehmen, für dieses Optionsmodell ausgesprochen. Die
„FAZ“ berichtet über die Fraktionssitzung, daß daraufhin von CSU-Abgeordneten Schmährufe wie „Ihr
Weichlinge!“ kamen, ebenso laut wie die Aufforderung:
„Macht doch gleich eine Große Koalition!“
({1})
Diese Art der Diskussion entspricht nicht der Toleranz,
die dieses Thema verlangt.
({2})
Dann gab es noch einen weiteren Zwischenruf in Ihrer Fraktion, der sehr interessant ist; er ist in der „FAZ“
nachzulesen:
Was hier passiert, ist das gleiche wie in den anderen europäischen Staaten, der Zerfall des bürgerlichen Lagers.
So wird das bei Ihnen diskutiert. Ich glaube, da müssen
Sie sich an Ihre eigene Nase fassen und prüfen, ob das
tolerant ist, ob das dem entspricht, was Sie hier einfordern.
Drittens. Bundeskanzler a. D. Kohl, den ich vorhin
zitiert habe, hat im Mai 1993 bei seinem Besuch in der
Türkei gesagt, er wolle zustimmen, in Deutschland geborenen Ausländern die doppelte Staatsbürgerschaft
befristet zuzugestehen. Nach einer Spanne von fünf Jahren müßten sich diese dann zwischen dem deutschen
und dem ausländischen Staatsbürgerschaftsrecht entscheiden. Er hat bei seinem dortigen Aufenthalt auch signalisiert, die Interessen der 1,8 Millionen Türken in
Deutschland bei der Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts zu berücksichtigen. - Bravo, Herr Kohl! Das
sind Dinge, die bei Ihnen völlig zu Recht strittig und leidenschaftlich diskutiert werden.
Aber ich plädiere dafür: Lassen Sie uns bei aller Leidenschaft in der Debatte darauf achten, daß das Thema
sensibel ist - wie Sie selber geschrieben haben - und
daß wir zu einer Lösung kommen, die der Integration
dient.
Ein letzter Hinweis - auch Herr Westerwelle hat das
angesprochen -: Wir peitschen das nicht durch. Ich habe
darauf verwiesen: Das Thema Jus soli steht seit 86 Jahren auf der Tagesordnung, nämlich seit 1913. Das ist alVolker Beck ({3})
so wirklich nicht neu. Sie können nicht sagen, daß wir
hier etwas völlig Neues erfinden und Sie das nicht schon
lange gewußt haben.
({4})
Zur Erwiderung Herr
Kollege Rüttgers, bitte.
Herr Kollege
Bürsch, ich habe all das, was Sie hier aus Zeitungen
vorgelesen haben, mit Interesse gehört; ich hatte es auch
gelesen.
({0})
- Ich habe auch an der Debatte teilgenommen. - Ich
weiß nur, daß wir in unserer Fraktion mit großem Engagement um die richtige Lösung gerungen haben. Bitte
nehmen Sie zur Kenntnis: Als wir in unserer Fraktion
ganz offen und freundschaftlich um den richtigen Weg
gerungen haben, etwas für die hier geborenen Kinder
ausländischer Familien zu tun, haben Herr Bundesinnenminister Schily und Herr Özdemir in den Zeitungen
bekanntgegeben, daß das Optionsmodell verfassungswidrig ist. Damit sollten Sie sich einmal auseinandersetzen. Insofern finde ich das, was Sie hier sagen, nicht besonders erhellend.
Wir haben uns klar für das entschieden, was nach unserer Meinung richtig ist. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß niemand aus der Fraktion der CDU/CSU - auch
nicht diejenigen, die bei den ausländischen Kindern gerne einen Schritt weiter gegangen wären - Ihren Gruppenantrag unterschrieben hat. Niemand aus der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ihn unterschrieben,
weil wir der Auffassung sind - das habe ich darzulegen
versucht -, daß dieser Entwurf nicht nur von der juristischen, sondern vor allen Dingen auch von der praktischen Seite her für diejenigen, die hier leben, schädlich
ist, daß er nicht integrationsfördernd, sondern integrationshemmend ist. Deshalb bleiben wir bei einem Nein
zu Ihrem Entwurf.
({1})
Letzter Redner in
dieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, Otto
Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Der Gesetzentwurf, der Ihnen heute vorliegt, ist das Ergebnis
zahlreicher Gespräche mit Vertretern der Landesregierungen und Abgeordneten des Deutschen Bundestages.
Ich danke allen, die sich an diesen konstruktiven Gesprächen beteiligt und zu einer Versachlichung der Diskussion jenseits der Schlagwortrhetorik beigetragen haben. Insbesondere habe ich Anlaß, den Koalitionsfraktionen und der Fraktion der F.D.P. sowie der rheinlandpfälzischen Landesregierung unter Führung von Ministerpräsident Kurt Beck zu danken.
({0})
Mein Dank gilt aber auch der Mehrzahl der übrigen
Bundesländer, die sich in den Diskussionen sehr konstruktiv verhalten haben.
Ich bin überzeugt, daß der Gesetzentwurf, der im
Rahmen der Ausschußberatungen in einzelnen Formulierungen möglicherweise noch der Überarbeitung bedarf, in der Schlußabstimmung eine breite Mehrheit im
Bundestag und im Bundesrat finden wird. Wir bilden ein
„Bündnis der Vernunft“, das auch die Zustimmung der
überwiegenden Mehrheit unseres Volkes finden wird.
Ich möchte der Hoffnung Ausdruck geben, daß sich diesem Bündnis der Vernunft auch diejenigen aus der
CDU/CSU-Fraktion hinzugesellen, die in der Vergangenheit haargenau denselben Standpunkt vertreten haben
wie wir.
({1})
Herr Rüttgers, die Aufregung, die Sie heute mit Ihrem
Redebeitrag dargestellt haben, kann ich mir nur so erklären, daß ein tiefer Riß durch Ihre Fraktion geht, den Sie
übertünchen wollen.
({2})
Daß Modernisierungsbedarf hinsichtlich des Staatsangehörigkeitsrechtes besteht, wird von allen Seiten des
Hauses anerkannt. Die frühere Bundesregierung hat sich
jeweils zu Beginn der zurückliegenden Legislaturperioden die als dringlich erkannte Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes vorgenommen. Sie ist jedoch mit diesem Vorhaben mangels Einigungsbereitschaft unter den
früheren Koalitionspartnern immer wieder gescheitert.
Wenn jetzt von seiten der CDU/CSU-Fraktion versucht
wird, die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes wieder
auf die lange Bank zu schieben, ist das nicht seriös.
({3})
Leider muß ich auch aus der heutigen Debatte den
Eindruck gewinnen, daß die CDU/CSU in dieser Frage
zu großen Teilen nicht dialogfähig ist. Ich muß das so
sagen im Hinblick auf einige Äußerungen, mit denen Sie
zum Beispiel immer wieder versucht haben, das Thema
Staatsangehörigkeitsrecht mit der Frage der Verfassungstreue und mit Kriminalitätserscheinungen zu verbinden. Sie wissen ganz genau, daß Sie da an bestimmte
Emotionen rühren, die diese Debatte verdunkeln können. Lassen Sie sich einmal von kirchlichen Kreisen sagen, daß man mit diesem Thema so nicht umgehen darf.
({4})
Jeder Mensch kommt unschuldig auf die Welt, nicht
als Fanatiker, nicht als Verbrecher. Deshalb kann es einem deutschen Kind deutscher Eltern geschehen, daß es
leider zu einem Verbrecher wird. Es kann einem deutDr. Michael Bürsch
schen Kind deutscher Eltern geschehen, daß es leider zu
einem Fanatiker wird, wie wir zum Beispiel an den
Skinheads erkennen. Wollen wir darauf so reagieren,
daß wir die Jugendlichen, die diese Fehlentwicklung erfahren haben, ausbürgern? Ist das Ihre Vorstellung von
Demokratie und Verfassung?
({5})
Oder wollen Sie ungleiches Recht für die Jugendlichen
schaffen, die von ausländischen Eltern geboren wurden
und hier in gleicher Weise aufgewachsen sind? Wollen
Sie für die ein Extrarecht einführen? Vergewissern Sie
sich erst einmal über das, was Sie sagen, ehe Sie mit
dieser Polemik fortfahren.
Gewiß ist der Entwurf, den wir heute beraten, ein
Kompromiß. Er ist übrigens ein Kompromiß, der in
der Tat für diese Legislaturperiode dann auch als abschließender betrachtet werden sollte. Das ist meine
Überzeugung; damit wir uns da nicht etwas vormachen. Allerdings sage ich zugleich: Eine umfassende
Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, auch wegen
einiger wichtiger Fragen aus der Vergangenheit, steht
uns noch bevor. Deshalb werden wir daran weiterarbeiten. Ich hoffe, daß wir mit einer noch breiteren
Mehrheit wieder in den nächsten Bundestag einziehen,
und dann wird dieses Thema wieder auf der Tagesordnung stehen.
({6})
Der Kompromiß bleibt hinter dem, wie ich finde,
konsequenteren Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion aus
dem Jahre 1993 und dem ebenfalls konsequenteren Arbeitsentwurf auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarung vom Januar dieses Jahres zurück. Jedoch sollte der
Reformschritt, der mit dem jetzt eingebrachten Gesetzentwurf vollzogen wird, deshalb nicht unterschätzt werden. Es ist eine Reform von großer Tragweite, wenn im
deutschen Staatsangehörigkeitsrecht festgelegt wird, daß
die Kinder der sogenannten zweiten Ausländergeneration - das sind die in Deutschland geborenen Kinder
ausländischer Eltern mit verfestigtem Aufenthaltsstatus
- künftig mit Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit
erwerben. Die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Optionspflicht entspricht der Beibehaltung des Grundsatzes, daß Mehrstaatlichkeit nach Möglichkeit vermieden werden soll. Die verfassungsrechtlichen Probleme,
die sich in diesem Zusammenhang stellen, erscheinen
mir auf Grund der gutachterlichen Stellungnahmen, die
wir eingeholt haben, lösbar.
Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie sich
das Optionsmodell auf die Verwaltungspraxis auswirken wird. Leider - das sage ich ganz offen - müssen wir damit rechnen, daß bei seiner verwaltungsmäßigen Umsetzung einige Schwierigkeiten auftreten werden. Es wird unsere gemeinsame Aufgabe sein, die
Schwierigkeiten so gering wie möglich zu halten. Immerhin - das sollte nicht übersehen werden - schaffen
wir mit diesem Gesetzentwurf für die Einbürgerungsbehörden auch erhebliche Erleichterungen. Dazu gehört folgendes:
Erstens. Die generelle Verpflichtung der Einbürgerungsbehörden, vor einer beabsichtigten Einbürgerung
die Zustimmung des Bundesministeriums des Innern
einzuholen, wird aufgehoben. Zugleich wird dem Bundesministerium des Innern das Recht übertragen, zur
Ausführung des Staatsangehörigkeitsrechts allgemeine
Verwaltungsvorschriften zu erlassen. In der Praxis ist
für die weitaus meisten Fälle ohnehin die Zustimmung
im Wege der Vorabzustimmung allgemein erteilt worden, so daß mit dieser Rechtsänderung im Ergebnis eine
Anpassung an die Einbürgerungspraxis erfolgt.
Zweitens. Ferner wird die Zuständigkeit für Staatsangehörigkeitsangelegenheiten von im Ausland lebenden
Antragstellern beim Bundesverwaltungsamt konzentriert. Diese Fälle mit Auslandsberührung, in denen bei
beabsichtigten Einbürgerungen derzeit noch relativ häufig eine Einzelfallbeteiligung des Bundesministeriums
des Innern erfolgt, können dadurch leichter nach einheitlichen Kriterien behandelt werden.
Drittens. Schließlich werden die Gebühren der Einwanderungsbehörden für die Anspruchseinbürgerung
nach dem Ausländergesetz auf ein kostendeckendes
Niveau angehoben, und zwar von bisher 100 DM auf
grundsätzlich 500 DM; für die Einbürgerung Minderjähriger ohne eigenes Einkommen bleibt es bei einer Gebühr von 100 DM. Das sage ich an die Adresse von
Herrn Minister Schäuble, der diese Verwaltungsangelegenheiten in seiner Rede angesprochen hat.
Viertens. Die wichtigste Verwaltungsvereinfachung
besteht darin, daß die Einwanderungsbehörden von den
Verfahren zur Einbürgerung von Deutschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit - gemeint sind die sogenannten
Statusdeutschen im Sinne des Art. 116 des Grundgesetzes; das sind Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler
sowie ihre Familienangehörigen - entlastet werden. Die
genannten Personengruppen erwerben die deutsche
Staatsangehörigkeit künftig automatisch kraft Gesetzes.
Das Verfahren einer Anspruchseinbürgerung in jedem
Einzelfall - 1997 mußten immerhin zirka 195 000 Fälle
bearbeitet werden - wird abgeschafft.
Der Gesetzentwurf enthält auch für die erste Ausländergeneration im Rahmen der Anspruchseinbürgerung
deutliche Verbesserungen. Die Frist für die Anspruchseinbürgerung wird von 15 auf 8 Jahre verkürzt, und die
Ausnahmeregelungen in § 87 Ausländergesetz werden
gegenüber dem geltenden Recht flexibler gestaltet. Herr Dr. Rüttgers, das ist nicht Mehrstaatlichkeit durch
die Hintertür - Herr Kollege Westerwelle hat das schon
richtig angesprochen -; im wesentlichen ist das geltendes Recht. Zum Teil haben wir aus den Einbürgerungsrichtlinien einiges in den Gesetzestext überführt. Wissen
Sie, Herr Kollege Rüttgers, wir sind für Anregungen
immer dankbar. Nun nehme ich Ihren Gesetzestext und
finde darin auf Seite 13 eine Passage, in der es unter Ziffer 3 heißt, daß vom Ausscheiden aus der bisherigen
Staatsangehörigkeit abgesehen werden kann,
({7})
wenn eine mindestens 35 Jahre alte antragstellende Person zwar die Verweigerung der Entlassung zu vertreten
hat, sich aber seit 15 Jahren nicht mehr im Heimatstaat
aufgehalten hat, sofern sie während dieser Zeit mindestens 5 Jahre rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt
im Bundesgebiet hatte.
Wissen Sie, das ist ein gute Anregung; die werden
wir übernehmen, darüber kann man reden.
({8})
- Herr Westerwelle hat Bedenken. - Aber es ist immerhin interessant, daß Sie mit der Hinnahme der
Mehrstaatlichkeit eine so weit gehende Regelung einführen wollen. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese
Anregung, Herr Dr. Rüttgers.
({9})
Auch die in unserem Gesetzentwurf enthaltenen Einbürgerungserleichterungen sollten im Sinne einer umfassenden Integrationspolitik als Angebot zur gleichberechtigten Teilhabe an die erste Generation der bei uns
lebenden Bürgerinnen und Bürger ausländischer Herkunft verstanden werden. Sicherlich kann ein umfassendes Integrationskonzept nicht allein auf die Reform des
Staatsangehörigkeitsrechts beschränkt werden. Aber die
Staatsangehörigkeitsreform ist ein wesentliches Element
einer umfassenden Integrationspolitik. Die Reform des
Staatsangehörigkeitsrechts ist sogar mehr als das: Sie ist
der Kern eines umfassenden Integrationskonzeptes, weil
Integration - davon bin ich fest überzeugt - nur gelingen
kann, wenn den Bürgerinnen und Bürgern ausländischer
Herkunft über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland ermöglicht wird.
({10})
Alles andere ist fauler Zauber, mit dem man davon ablenken will, daß diese gleichberechtigte Teilhabe nicht
gewollt ist.
Wer im übrigen beständig den vermeintlichen Integrationswillen beteuert, aber zugleich durch fragwürdige
Aktionen Ausländerfeindlichkeit schürt und damit die
Spaltung der Gesellschaft vertieft sowie seinen eigenen
Worten zuwiderhandelt, sie quasi dementiert, kann in
dieser Debatte nicht als glaubwürdig gelten.
({11})
Wer sich dem gesellschaftlichen Frieden verpflichtet weiß, muß daher die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes unterstützen. Wer die Bedeutung des gesellschaftlichen Friedens erkannt hat, muß sich um Verständnis und Ausgleich bemühen sowie von den alten
Horrorbildern verabschieden. Ich habe noch die Worte
des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber im
Ohr, als er - leider - von der „homogenen, nicht durchraßten Gesellschaft“ gesprochen hat. Manches, was
heute geäußert wurde, ist ein böser Widerhall dieser
schlimmen Worte.
({12})
Wer nach Wegen sucht, den gesellschaftlichen Frieden zu festigen, muß sein Selbstverständnis überprüfen
und den Gegebenheiten einer globalisierten Welt angleichen. Es ist seltsam, daß die CDU/CSU keine Probleme
mit der Mehrstaatlichkeit eines Otto von Habsburg hat,
jedoch einem Bürger türkischer Herkunft, der seit Jahrzehnten bei uns lebt, gute Arbeit leistet, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlt, ein rechtschaffenes Leben führt und unsere Gesellschaft auch in kultureller
Hinsicht bereichert, die Beibehaltung seiner früheren
Staatsangehörigkeit verweigert.
({13})
Mehrstaatlichkeit als Adelsprivileg scheint mir eine ziemlich veraltete und verquere Anschauungsweise zu sein.
({14})
Daß eine solche rückwärtsgewandte Politik so weit geht,
daß ein CSU-Bewerber um ein bayerisches Oberbürgermeisteramt - ich zitiere wörtlich - „bis zum letzten
Blutstropfen“ gegen ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht kämpfen will, hat dabei eine unfreiwillige Komik,
die kaum noch zu überbieten ist.
({15})
Aber die Sache, um die es geht, ist überhaupt nicht
komisch, sondern sehr ernst. Wenn es uns nicht gelingt,
durch ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht und ein
umfassendes Integrationskonzept die Ligaturen der Gesellschaft zu festigen, dann müssen wir damit rechnen,
daß sich Konfliktpotentiale vergrößern, von denen wir in
den zurückliegenden Jahren allenfalls eine Vorahnung
hatten.
Wir müssen uns auf die grundsätzlichen Fragen besinnen. In einem lesenswerten Aufsatz in der „Süddeutschen Zeitung“ hat Reinhard Kreissl diesen Gedanken
vor wenigen Tagen so auf den Punkt gebracht:
Die Auseinandersetzung um das neue Staatsangehörigkeitsrecht hat uns eine Debatte beschert, an
der man vor allen Dingen eines lernen kann: Wir
wissen nicht, wer zu uns gehört, oder, anders formuliert, wir wissen nicht, wer wir sind.
Ich für meinen Teil habe auf beide Fragen eine einfache Antwort: Zu uns gehört, wer die Verfassung und deren Grundwerte achtet und unsere Gesetze einhält. Zu
uns gehört, wer sprachfähig ist. Zu uns gehört, wer sich
mit dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland auf
seine eigene Weise ohne Leitkultur verbinden will. Wer
wir sind, erkennen wir an der Würde jedes einzelnen
Menschen, die zu achten und zu schützen uns durch
Art. 1 des Grundgesetzes aufgegeben ist.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/533, 14/535, 14/532 und 14/534 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Bekämpfung des politischen Extremismus
- Drucksache 14/295 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Manfred Grund.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie
mich eingangs aus dem Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion „Bekämpfung des politischen Extremismus“ zwei wesentliche Sätze vortragen:
Politischer Extremismus ist eine Kampfansage an
die Demokratie und an die verfassungsmäßige Ordnung. ... Gerade auf dem Weg der europäischen
Nationen in ein geeintes Europa darf dem Extremismus in Deutschland als dem größten Mitgliedstaat keine Chance gegeben werden.
Diesen Sätzen können sicherlich alle Parteien in diesem Hause zustimmen, und sie können sich sicherlich
auch der Aufforderung anschließen, daß jeder einzelne
Bürger für sich prüfen möge, wo er einen Beitrag zur
Demokratie und zur Sicherung der Freiheit leisten
kann. Wenn politischer Extremismus eine Kampfansage
an unsere Demokratie und an die verfassungsmäßige
Ordnung ist, dann brauchen wir erstens staatliche Anstrengungen zur Bekämpfung und Eindämmung des
politischen Extremismus, und zweitens brauchen wir
dringend eine aktive geistig-politische Auseinandersetzung der Bürgerinnen und Bürger mit allen Erscheinungsformen des Extremismus.
Die Demokratie legitimiert sich letztlich aus der
Identifizierung der Bürger mit dem Gemeinwesen, mit
unserer Verfassungsordnung. Wir benötigen die Bereitschaft der Bürger, an der Bewahrung dieser Ordnung
mitzuwirken. Dabei hat der Staat Orientierungshilfen zu
leisten. Doch nicht nur der Staat allein ist zur Orientierung, zur Sinnstiftung aufgerufen. Es ist notwendig, daß
sich Kirchen, Verbände und Gewerkschaften an dieser
Diskussion beteiligen und daß Jugendlichen und Heranwachsenden insbesondere an den Schulen Werte vermittelt werden.
In einer freien und offenen Gesellschaft wie der, in
der wir leben, müssen politischen Extremen Werte wie
Toleranz, Kreativität und konstruktive Leistungsbereitschaft entgegengestellt werden. Wenn über politischen
Extremismus diskutiert wird, dann fängt die Sprachverwirrung bereits mit der Bezeichnung und mit der
Abgrenzung an. Wo ist die Trennlinie zwischen „extrem“, „extremistisch“ und „radikal“? Allzuoft und allzu
leichtfertig wird die Bezeichnung „politisch extrem“ als
Kampfbegriff verwandt, und sie dient einer politischen
Etikettierung.
Ich will versuchen, politischen Extremismus zu definieren. Es handelt sich um die prinzipielle Bereitschaft,
zur Durchsetzung eigener Wertvorstellungen Gewalt anzuwenden. Unter Demokraten sollte es unerheblich sein,
ob es sich dabei um Gewalt gegen Personen oder „nur“
um Gewalt gegen Sachen handelt, wie zum Beispiel gegen Bahnanlagen. Extremistische Positionen sind durch
einen Absolutheitsanspruch, durch den Glauben an eine
finale Problemlösung, durch ein ausgeprägtes FreundFeind-Schema, durch kompromißloses Kämpfen und
immer wieder durch ein antipluralistisches Politik- und
Gesellschaftsverhältnis gekennzeichnet.
Diese Merkmale finden sich sowohl beim Rechtswie beim Linksextremismus. Strategie, Taktik, ja Begriffe sind oft deckungsgleich und austauschbar. Dabei
wechseln Aktivisten und Sympathisanten sogar die Lager. Wer in seiner Jugend als Linksextremer begonnen
hat, beendet seinen Weg durch die politischen Instanzen
oftmals als strammer Rechter. Links- und rechtsextremistische Parteien wie die KPD und die NSDAP haben aus
unterschiedlichen Ausgangspositionen die verfassungsmäßige Ordnung der Weimarer Republik mit fast identischer Begründung, mit auswechselbaren Losungen, mit
gleichen Mitteln legal und illegal bekämpft und letztlich
auch zu Fall gebracht. Die bürgerlichen Parteien und das
Bürgertum haben dem Treiben hilflos zugesehen und es
zum Teil sogar geduldet.
Uns bleibt die Erkenntnis: Extremismus ist nur aus
der Mitte der Gesellschaft heraus zu bekämpfen. Die
politische Mitte muß zu den Rändern hin integrieren, sie
darf aber nie mit Extremen paktieren. Wer über politischen Extremismus und über politisch motivierte Straftaten spricht, kommt um die jeweiligen Verfassungsschutzberichte bzw. die Berichte der Landeskriminalämter nicht herum. Deswegen folgen nun einige Ausführungen zum Rechtsextremismus, zum Linksextremismus
und zur politisch motivierten Ausländerkriminalität.
Zuerst das Erfreuliche: Sowohl bei den rechtsextremistischen wie auch bei den fremdenfeindlichen Gewalttaten gingen die Fallzahlen 1998 um 5 bzw. 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück. Aber im Bereich
des Linksextremismus ist eine Zunahme um fast 4 Prozent zu verzeichnen. Bei der um fast 50 Prozent erhöhten politisch motivierten Ausländerkriminalität handelt
es sich fast ausschließlich um eine Steigerung der Anzahl der Landfriedensbrüche und der Verstöße gegen das
Versammlungs- und Vereinsgesetz.
Dem Linksextremismus sind der linksextremistische
Terrorismus, die Autonomen, die anarchistische Gewaltszene, aber auch das linksextremistische Parteien2320
spektrum zuzuordnen. Revolutionäre marxistische Parteien und sonstige Gruppierungen unter Einschluß marxistisch-leninistischer und trotzkistischer Organisationen
haben sich in Erscheinungsbild und Zustand kaum verändert. Sie verfolgen weiterhin das Ziel, die bestehende
Staats- und Gesellschaftsordnung zu beseitigen und an
ihrer Stelle eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaft zu etablieren. Hier setzen sie nach wie vor auf
Klassenkampf und Revolution.
Eine herausragende Bedeutung behält die Partei des
Demokratischen Sozialismus. Ihr Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie bleibt weiterhin unbestimmt
und zweideutig. Nach wie vor hält die PDS den außerparlamentarischen Kampf für entscheidend.
({0})
Wenn von extremistischen Tendenzen innerhalb der
PDS die Rede ist, dann muß die Kommunistische Plattform der PDS angesprochen werden. Die Kommunistische Plattform versteht sich als Zusammenschluß von
Kommunistinnen und Kommunisten in der PDS, die für
den Sozialismus als Ziel gesellschaftlicher Veränderungen eintreten. Dabei wird offen die Machtfrage gestellt,
wobei parlamentarischer, aber vor allem außerparlamentarischer Widerstand notwendig sei.
Aus diesem Umfeld einige Zitate: „Mit diesem System kann es keinen Frieden geben“, sagte Heinz Maron, einer der Sprecher der Kommunistischen Plattform.
Weiter sagte Ellen Brombacher, daß die Dominanz des
privatkapitalistischen Eigentums überwunden werden
müsse. Bei einer Demonstration in Sachsen-Anhalt hat
eine PDS-Sprecherin den Ausspruch getätigt: „Ob friedlich oder militant - wichtig ist der Widerstand.“
Bei soviel Militanz mutet es schon merkwürdig an,
wenn der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringstorff, die Absicht äußert, die
Kommunistische Plattform nicht mehr vom Verfassungsschutz überwachen zu lassen, obwohl sich die Innenministerkonferenz wenige Tage zuvor für eine weitere Beobachtung der PDS durch das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Länderbehörden ausgesprochen
hatte. Bezeichnend für die unheilige Allianz in Mecklenburg-Vorpommern ist die Aussage des stellvertretenden Ministerpräsidenten Holter von der PDS, er bekenne
sich zur „Systemopposition“, was wohl nur ein Bekenntnis gegen die Werteordnung des Grundgesetzes
bedeuten kann.
Seiner Zeit voraus war bereits Ende 1994 der Innenminister Dewes in Thüringen. Eine seiner ersten Amtshandlungen als SPD-Innenminister war die Auflösung
des Referates „Geistig-politische Auseinandersetzung
mit dem Extremismus“. Diese Dienststelle war nach der
Wende vom damaligen Staatssekretär des Innenministeriums, Michael Lippert, eingerichtet worden. Dem Referat oblag unter anderem die Bewertung der PDS. Innenminister und SPD-Landesvorsitzender Dewes hatte offensichtlich für sich eine eigene Bewertung der PDS
vorgenommen. Er braucht die PDS, um in Thüringen
Ministerpräsident zu werden. In diesem Zusammenhang
paßt eine kritische Bewertung der PDS nicht in die Karriereplanung.
Wenn wir heute hier über politischen Extremismus
debattieren, müssen wir gerade angesichts der Aktionen
militanter Kurden nach der Öcalan-Festnahme über
Ausländerextremismus reden. So waren allein im Jahr
1997 der PKK insgesamt 965 Straftaten, drei versuchte
Tötungsdelikte, 45 Körperverletzungen sowie 126 Raubund Erpressungsdelikte zuzurechnen. Bekannt sind
Spendengelderpressungen, Entführungen Minderjähriger, Gewaltandrohung und Gewaltanwendungen. Wer
die Büroräume in Berlin, Frankfurt und Hamburg nach
den PKK-Besetzungen gesehen hat, hat ein Bild von der
Militanz dieser Organisation.
Dies wissend, haben der PDS-Bundestagsabgeordnete
Carsten Hübner, der PDS-Landtagsabgeordnete Dittes
und der PDS-Stadtvorstand von Erfurt zur Teilnahme an
einer Demonstration der verbotenen Kurden-Partei
PKK in Erfurt aufgerufen. Der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen hat gegenüber der „Südthüringer Zeitung“ gesagt, die Initiative
für die Kundgebung sei von linksextremistischen Kreisen ausgegangen, und die Mitglieder der PDS wollten
die Kurdenproteste für eigene ideologische Ziele nutzen.
Die Ankündigung der Demonstration hat unter den Erfurter Bürgern Ängste und Befürchtungen ausgelöst, daß
die Demonstration eskalieren könne. Dank umfangreicher Information und eines besonnenen Polizeieinsatzes
eskalierte die Situation am 5. März aber nicht. Übrigens
hat die PDS zu einer ähnlichen Kundgebung in Halle
eingeladen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbe
zum Thema Extremismus noch vieles hinzuzufügen,
insbesondere was die unterschiedliche Wahrnehmung
von Extremismus in den neuen Bundesländern betrifft
({2})
oder was die Frage betrifft, wie gewaltbereite Jugendliche wieder in die Gesellschaft integriert werden können.
Doch hierfür fehlt mir heute die Redezeit.
Es bleibt festzuhalten: Die Bekämpfung des Extremismus hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn der
Staat bereit ist, Extremisten und Gewalttätern von links
und rechts gleichermaßen entschlossen entgegenzutreten. Unsere Mitglieder dürfen sich nicht auf die Ränge
einer „Zuschauerdemokratie“ zurückziehen. Der mündige Bürger und die aktive Bürgergesellschaft müssen
Extreme und Extremisten in die Schranken weisen. Dazu wollen wir von der CDU/CSU mit diesem Antrag
einen Beitrag leisten.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die Fraktion der
SPD spricht jetzt die Kollegin Ute Vogt.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offen gestanden, lieber Herr Kollege Grund, fällt es mir ziemlich schwer,
auf der Grundlage Ihres vorgelegten Antrags eine Diskussion über dieses sehr wichtige und grundlegende
Thema zu führen. Beim ersten Durchlesen Ihres Antrags
habe ich mir gedacht, er hilft nicht und er schadet nicht,
weil er nicht besonders viel enthält. Beim näheren Hinschauen bin ich aber ziemlich zornig geworden.
Die Überschrift Ihres Antrags lautet zwar „Bekämpfung des politischen Extremismus“, aber Sie haben kein
einziges Wort darüber verloren, wie man politischen
Extremismus bekämpfen kann. Sie haben nur die Gelegenheit genutzt, sich über allgemeine Strömungen auszulassen, die Ihnen nicht passen. Sie haben keinen Ton
zu dem gesagt, was wir uns zueigen machen müssen,
({0})
nämlich eine Antwort auf die Frage zu geben: Wie gehen wir damit um, daß extremistische Strömungen unsere Demokratie bedrohen?
Jetzt zitiere ich einmal aus Ihrem Antrag. Sie schreiben, es geht darum, daß wir auch künftig in der Information über das parlamentarische Regierungssystem
eine wichtige Aufgabe sehen. Wollen Sie mit solchen
Plattheiten dem Extremismus den Boden entziehen? Das kann ich mir nun wirklich kaum vorstellen.
Sie wollen die Bürgerinnen und Bürger ferner einladen, verstärkt an der Arbeit des Parlaments teilzunehmen. Dafür sind auch wir. Aber wie wollen Sie das machen? - Diese Anwort sind Sie schuldig geblieben. Es
könnte etwa darum gehen: Wollen Sie mehr Fernsehübertragungen? Dafür sind wir tatsächlich auch. Aber
einmal ganz ehrlich gesagt: So, wie es hier zuweilen,
auch in der Auseinandersetzung, zugeht, weiß ich nicht,
ob mehr Fernsehübertragungen und die Erhöhung der
Zahl der Besuchergruppen dem Zweck dienen könnten,
die Akzeptanz des Parlaments zu erhöhen.
({1})
Was ich mir in diesem Zusammenhang durchaus wünschen würde, ist, daß wir einmal eine Auseinandersetzung - ich meine das jetzt wirklich ernsthaft - über die
Frage führen, wie hier debattiert wird, in welcher Weise
man miteinander umgeht, ob Argumente zum Tragen
kommen. Denn ich habe den Eindruck, in vielen unserer
Debatten - das gilt nicht für alle - beschränken wir uns
auf das Austauschen von Schlagworten. Das macht
einen häufig ziemlich unzufrieden, und das ist sicher
nicht nur auf eine Partei, sondern auf alle zu beziehen.
Ich würde mich freuen, wenn wir das zum Anlaß nähmen, zu sagen: Wir überprüfen einmal, wie die Diskussionskultur bei uns ist, und überlegen, wie wir in dieser
Beziehung etwas tun können. Damit wäre vielleicht eine
erhöhte Akzeptanz zu erreichen.
Aber wenn die Frage angesprochen wird, wie wir die
Leute beteiligen können, wie wir die Arbeit des Parlaments so gestalten können, daß die Menschen mehr teilhaben können, wäre aus meiner Sicht etwas ganz anderes notwendig, zum Beispiel zu sagen: Wir eröffnen den
Menschen auch die Möglichkeit zur direkten Beteiligung. Dabei hat sich die Fraktion der CDU/CSU bisher
ganz massiv zurückgehalten. Sie sammeln Unterschriften; aber Sie sind nicht bereit, die Menschen wirklich
abstimmen zu lassen. Wenn man eine Grundgesetzänderung in Richtung auf die Möglichkeit eines Volksentscheides oder der direkten Mitbestimmung durchführen
würde, wäre das ein Beitrag, mit dem man die Absicht
umsetzen könnte: Wir wollen wirklich, daß die Menschen Demokratie mitgestalten. Jedenfalls wäre das ein
größerer Beitrag, als wenn man nur davon spricht, daß
die Menschen verstärkt an der Arbeit des Parlaments
teilnehmen sollen, weil sie das nach der jetzigen Verfassungslage, zumindest was die direkte Parlamentsarbeit
angeht, nur als Zuschauer tun können.
Sie schreiben weiter:
Populistische Parolen extremistischer Gruppierungen und Parteien tragen nicht zur Lösung gegenwärtiger Probleme bei …
Dazu muß ich Ihnen sagen: Das gilt nicht nur für Parolen extremistischer Parteien, sondern das gilt auch für
Parolen der CDU/CSU, wie sie zum Beispiel in der vorangegangenen Debatte ausführlich zu hören waren.
({2})
Man kann Ihnen vielleicht unterstellen, daß Ihre Beweggründe für die Unterschriftenaktion nicht waren,
solche Parolen loszutreten.
({3})
Sie hätten aber dann wenigstens im Laufe dieser Aktionen auf Grund der Reaktionen an den Infoständen, auf
Grund dessen, was hochkam, auf Grund der Leserbriefe,
die an die Zeitungen geschickt wurden - Dinge, die
selbst konservative Zeitungen nicht mehr veröffentlichten, weil man gesagt hat, daß eine solche Hetze in einem
solchen Maße nicht mehr zulässig ist -, Verantwortung
übernehmen müssen und hätten sagen müssen: Wir unterbrechen unsere Aktion.
({4})
- Ich war in Städten an Infoständen, wo man mich nicht
gekannt hat, und ich kann Ihnen sagen: Vielleicht ist es
bei Ihnen im Land ganz gesittet abgelaufen, aber die
baden-württembergische CDU hat dabei Reaktionen
provoziert,
({5})
die genau dem entsprechen, was Sie hier verurteilen,
nämlich populistische Parolen und einem brutalen
„Ausländer raus“-Stimmungsgefühl.
({6})
Ute Vogt ({7})
Weiterhin formulieren Sie, daß nicht nur die Politik
Verantwortung hat, sondern auch andere gesellschaftliche Gruppen. Sie sprechen davon, daß diese Verantwortung auch die Kraft zur Differenzierung umfaßt. Dazu muß ich Ihnen sagen: Ich kann nicht verstehen, wie
Sie zum einen so etwas Läppisches - jetzt sage ich es
einmal - zu diesem Thema einbringen können und wie
Sie zum anderen auch noch die Stirn haben - nach dem,
was heute morgen hier geäußert wurde -, über so etwas
auch noch debattieren zu lassen. Sie sprechen von der
Kraft zur Differenzierung und haben bewiesen, daß Sie
selber nicht in der Lage sind, zu vielen wichtigen Themen, in denen sich das Problematische im Umgang mit
der Öffentlichkeit widerspiegelt, die erforderlich machen, daß wir sehr differenziert argumentieren, und die
den Extremismus in unserem Land geschürt haben, differenziert Stellung zu nehmen.
({8})
Ich kann Sie deshalb nur auffordern: Wenn Sie wollen, daß Politik Verantwortung übernimmt, vor allen
Dingen aber, daß sich andere verantwortlich verhalten,
dann müssen Sie diese Verantwortlichkeit vorleben. Da
genügt nicht ein Satz in einem Antrag. Es muß praktisch
agiert werden. Es ist nämlich viel entscheidender, wie
man sich verhält. Jede Mutter und jeder Vater wissen,
daß das eigene Vorbild wesentlich mehr bewirkt als das,
was man den Leuten erzählt.
({9})
Daher bitte ich Sie, diese Dinge nicht nur in einem
Satz einzufordern, sondern zu sagen: Mein eigenes Verhalten wird dazu beitragen, daß es differenzierte Diskussionen gibt. Das wäre die eigentliche Lösung für das
Problem, um zu verhindern, daß extremistische Stimmungen populistisch verschärft werden. - Weil Sie am
Schluß Ihres Antrags an jeden einzelnen appellieren,
sich zu prüfen, möchte ich Sie bitten: Prüfen Sie sich in
dieser Frage zuallererst selbst!
Ich möchte Ihnen sagen, wie wir mit diesem Thema
weiter verfahren sollten. Dieses Thema ist uns wichtig.
Deswegen möchten wir es nicht - wie Sie - dabei belassen, lapidare Sätze niederzuschreiben. Wir würden gerne
eine intensive Diskussion führen mit denen, die sich dafür interessieren und die zuhören. Wir möchten auch eine ausführliche Debatte im Bundestag vorbereiten. Wir
könnten uns gut vorstellen, den Zeitpunkt des Umzugs
nach Berlin zu nutzen, um zu Beginn unserer Arbeit
dort, im September oder Oktober, ein entsprechendes
Signal zu setzen. Wir werden seitens unserer Fraktion
einen ausführlichen Antrag dazu vorlegen. Darin werden
nicht nur Appelle enthalten sein, sondern vor allem ganz
konkrete Maßnahmen benannt werden.
Wir sollten uns darüber unterhalten: Aus welchem
sozialen Umfeld kommen die Leute? Wie sollen wir das
soziale Umfeld gestalten? Gelingt es uns, die Arbeitsplätze zu schaffen, die wir brauchen? Gelingt es uns,
über Bildungspolitik Einfluß zu nehmen? Gelingt es uns
über die Jugendarbeit? Wir sollten uns aber auch fragen:
Gibt es rechtliche Maßnahmen, mit denen man zum Beispiel die organisierten Extremisten belegen kann? Gibt
es auch für uns eine Möglichkeit, ein Bewußtsein für
mehr Zivilcourage zu schaffen?
Es gibt eine ganze Reihe von konkreten Themen, die
man in diesem Zusammenhang in Angriff nehmen muß.
Ich denke, wir sollten uns Zeit nehmen und nicht nur eine kleine Willenserklärung abgeben, sondern uns wirklich ernsthaft mit den Ursachen von Extremismus auseinandersetzen. Wir sollten eine tiefgehende Auseinandersetzung führen mit dem Ziel, gemeinsam ein starkes
Signal zu setzen, mit dem Ziel, daß es der gesamte Bundestag nicht dabei beläßt, Links- und Rechtsextremismus gegeneinander auszuspielen, wie es Teile von Ihnen
versucht haben, sondern deutlich macht: Wir stehen für
die parlamentarische Demokratie. Wir stehen für eine
lebendige Demokratie. Wir wollen, daß sich Bürgerinnen und Bürger einbringen; wir wollen sie einbeziehen.
Wir setzen ein Signal, um gemeinsam gegen den Extremismus vorzugehen.
Dazu müssen Sie allerdings diesen zusammengeschriebenen Antrag beiseite legen, sich einmal tiefergehende Gedanken machen und sich dann mit uns auseinandersetzen, um eine gemeinsame, starke Willenserklärung zustande zu bringen. Das hätte eine entsprechende
öffentliche Wirkung; denn das wäre ein deutliches
Signal. Im übrigen wäre dies dem Thema wesentlich
angemessener als dieses kleinkarierte Hickhack, wie es
meinem Eindruck nach in Teilen Ihrer Beiträge zum
Ausdruck gekommen ist.
({10})
Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der liberale Rechtsstaat des Grundgesetzes ist eine wehrhafte Demokratie, wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausgesprochen hat.
Deshalb zählt die Bekämpfung des politischen Extremismus zu den wichtigen Daueraufgaben der Innen- und
Gesellschaftspolitik. Die Bedeutung des Themas ließe
sich auch durch zahlreiche aktuelle Vorgänge belegen.
So ist es schon ein bedenkliches Zeichen, wenn politische Veranstaltungen aus Angst vor extremistischer
Gewalt nicht mehr durchgeführt werden können.
({0})
Genau dies ist zum Beispiel dem Landesverband Brandenburg der Jungen Liberalen am 6. März mit einer beabsichtigten Podiumsdiskussion zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts passiert.
Ein so ernstes und bedeutsames Thema muß dann
aber im Deutschen Bundestag auch auf angemessener
Grundlage behandelt werden. Der vorliegende Antrag
der CDU/CSU genügt diesem Anspruch leider nicht.
({1})
Ute Vogt ({2})
Er läßt jede klare Gedankenführung vermissen. Die
schwierige Thematik wird allenfalls an der Oberfläche
berührt. Einzelne richtige und weiterführende Gedanken
mischen sich in bunter Reihe mit Binsenweisheiten. Insgesamt wirkt der Antrag so, als sei er rasch und lieblos
zusammengeschustert worden.
({3})
Kurz gesagt - ich kann es Ihnen nicht ersparen -: Mit
einem solch dürftigen Antragstext wird ein wichtiges
Thema geradezu verschenkt.
({4})
Deshalb hat man sich natürlich gefragt - auch bei der
Abfassung dieses Redemanuskriptes habe ich mich gefragt -, worin denn die Zielsetzung eines so formulierten
Antrags liegen könnte. Ich habe schon befürchtet, daß er
hauptsächlich den Zweck hat, die üblichen Diskussionsrituale in Gang zu bringen, die auf bestimmte Reizwörter wie Pawlowsche Reflexe folgen.
({5})
Es war vorherzusehen, daß Sie der SPD die PDS vorhalten. Es war vorherzusehen, daß mit der Unterschriftenaktion gekontert wird.
Meine Damen und Herren, ich finde, all dies führt
nicht sonderlich weiter. Dabei gäbe es vieles, was dringend aufgearbeitet werden müßte.
({6})
Ich nehme allein den Posteingang der letzten beiden
Tage, um nur einige Beispiele auszuwählen. Darunter
befindet sich etwa der Jahresbericht der Wehrbeauftragten mit einer wirklich lesenswerten Darstellung zu
rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Fällen in
der Bundeswehr im Jahre 1998.
({7})
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat den Abgeordneten in dieser Woche seine Mitteilungen zur Migrationspolitik vom 1. März 1999 zukommen lassen. Dort
lesen wir bedrückende Hinweise auf die Zunahme sogenannter national befreiter Zonen. Über die Verbreitung
von Extremismus im Internet wäre zu reden ebenso wie
selbstverständlich darüber, wie verhindert werden kann,
daß sich politische Konflikte aus dem Ausland in der
Bundesrepublik Deutschland gewaltsam entladen.
Schließlich wäre Bilanz zu ziehen, welche Folgerungen
denn die Politik aus den Erkenntnissen der von uns
selbst eingesetzten Kommission zur Verhinderung und
Bekämpfung von Gewalt gezogen hat. Was hat eigentlich das Europäische Jahr gegen Rassismus wirklich gebracht?
Zu all dem findet sich in dem Antrag kein Wort.
Auch die Lösungsansätze sind äußerst dünn skizziert.
Richtig ist dabei, daß alle gesellschaftlichen Gruppen
und jeder einzelne Verantwortung trägt. Die Rolle der
politischen Institutionen bei der Bekämpfung der Ursachen von Extremismus kommt aber in dem Antrag nur
unzureichend zum Ausdruck. Die Einladung an die Bürger, verstärkt an der Arbeit des Parlaments teilzunehmen, ist zwar in Ordnung, kann aber doch wohl nicht
genügen. Wie steht es denn statt dessen mit verstärkten
Mitwirkungsbefugnissen der Bürgerinnen und Bürger
etwa durch eine vorsichtige Ausweitung plebiszitärer
Elemente?
({8})
Auch das Thema des kommunalen Ausländerwahlrechts
gehört in diesen Zusammenhang.
Meine Damen und Herren, mir scheint ein Gedanke
entscheidend. Der frühere Bundesverfassungsrichter
Dieter Grimm
({9})
hat kürzlich in einem Aufsatz dargelegt, daß die Achtung der Grundrechte den Verfassungspatriotismus
ausmacht, der eine liberale und offene Gesellschaft
zusammenhält. Dies bedeutet für die Politik, eine
geistige Führung im Kampf gegen Extremismus
wahrzunehmen, und zwar eine geistige Führung, die
sich dadurch auszeichnet, daß sie sich auch nicht den
geringsten Anschein von Anpassung an extreme Positionen leistet, nach dem bekannten Motto: Neben uns
darf es keine extreme Partei geben. Dies ist ein sehr
gefährliches Motto. Es birgt nämlich die Gefahr in
sich, daß man politische Führung dahingehend versteht,
durch Adaption oder Teiladaption extremistischer
Positionen dafür zu sorgen, daß extremistische Parteien bei Wahlen den Einzug in das Parlament nicht
schaffen.
Aber die Aufgabe besteht gerade darin, den Wertekatalog der Grundrechte ohne jeden Abstrich offensiv zu
vertreten, und zwar auch dann, wenn dies nicht allgemeinen Beifall erheischen kann. Gelegenheiten, bei der
Verteidigung von Grundwerten Rückgrat zu beweisen,
gibt es nur allzuoft. Wir werden zum Beispiel heute am
späteren Nachmittag noch die Frage diskutieren, wie
ernst wir es mit der Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention in einer bestimmten aktuellen
politischen Frage nehmen, nämlich in bezug auf die Abschiebung von Kurden.
Deswegen noch einmal mein Appell, meine Damen
und Herren: Es ist leicht, sich auf die Grundwerte des
Grundgesetzes zu berufen, wenn dies allgemeinen Beifall findet. Aber es wird schwierig, wenn man zu den
Grundrechten und Grundwerten auch dann steht,
wenn es dem Mainstream gerade nicht entspricht. Das
aber ist die entscheidende Aufgabe im Kampf gegen den
Extremismus.
({10})
Ein letzter Punkt. Ich meine, Radikalität bei der Bewahrung der Grundrechte zeichnet die Demokraten aus.
Deswegen möchte ich an die Adresse der Union zu ihDr. Max Stadler
rem Antrag noch eines anmerken: Von der Wurzel her,
also radikal im Sinne des Wortes, zu denken ist oft genug geboten. Daß dies aber, wie in dem Antrag geschehen, in begrifflicher Ungenauigkeit mit Extremismus
vermischt wird, der in der Tat zu bekämpfen ist, zeigt
ein weiteres Mal, daß mit wesentlich größerer Präzision
und Gedankentiefe an diese Problematik herangegangen
werden muß,
({11})
als es die Verfasser des Unionsantrags getan haben.
({12})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Annelie Buntenbach.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Dem Zorn der Kollegin Vogt und auch dem Unverständnis, das der Kollege Stadler in bezug auf den vorliegenden Antrag gerade geäußert hat, kann ich mich
nur anschließen. Herr Grund, Sie muten uns hier schon
einiges im Namen Ihrer Fraktion zu, wenn Sie ein so
zentrales Thema - das ist es ohne Zweifel; wir hatten
schon in der letzten Legislaturperiode versucht, darüber
eine vernünftige Debatte zu führen, was uns von der
damaligen Mehrheit jedoch verweigert worden ist - in
dieser Form zur Debatte stellen. Sie legen einen einseitigen Antrag vor und halten zugleich eine Rede, bei der
Ihnen genau an dem Punkt, an dem Sie zum Thema
etwas hätten sagen können, die Redezeit ausgeht. Das ist
wirklich sehr bedauerlich, und darum werden wir hier
über dieses Thema noch einmal vertiefter diskutieren
müssen.
Die Debatte, um die es hier eigentlich gehen müßte,
hat nach Drucklegung Ihres Antrags eine traurige
Aktualität erhalten. Am 13. Februar wurde in Guben der
algerische Flüchtling Ben Noui von rechtsextremen
Jugendlichen zu Tode gehetzt. Am 9. März wurde in
Saarbrücken ein Sprengstoffanschlag auf die Ausstellung „Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht
1941-1944“ verübt.
Gerade deshalb ist es sehr schade, daß die Vorlage,
die Sie hier abgeliefert haben, ein Paradebeispiel für
Substanzlosigkeit darstellt. Ich kann mich des Eindrucks
nicht erwehren, als wollten Sie mit der Vorlage dieses
Antrags die Verantwortungslosigkeit Ihrer Unterschriftenkampagne und den Schaden, den Sie damit in der Gesellschaft angerichtet haben, in einem Wasserfall von
Floskeln ertränken. Das wird Ihnen aber nicht gelingen;
vielmehr können Sie sich die praktischen Konsequenzen
nicht ersparen. Eine erste praktische Konsequenz aus der
heutigen Diskussion wäre, daß diese Unterschriftenkampagne sofort definitiv eingestellt wird.
({0})
Ich zitiere ein Beispiel für die Substanzlosigkeit des
Antrags, den Sie hier vorgelegt haben:
Pauschalverurteilungen helfen nicht bei der Problemlösung, können sie gar behindern. Dort, wo
Probleme existieren, muß politisch gehandelt werden.
Wie wahr!
({1})
Wollen Sie einen solchen Text ernsthaft in diesem Parlament zur Abstimmung stellen? Damit werden wir das
Ansehen des Parlaments und der repräsentativen Demokratie nicht gerade erhöhen; denn dieser Text zeigt lediglich, wie man mit mehr oder minder gefälligen Formulierungen gar nichts oder zumindest doch nur sehr
wenig sagt. Denn wenn Sie das Thema wirklich ernst
nehmen würden - das hätte es verdient -, dann hätten
Sie wenigstens einen konkreten Vorschlag gemacht und
es nicht bei allgemeinen Appellen bewenden lassen.
Aber wenn wir heute über dieses Thema diskutieren ich muß sagen, wir diskutieren viel zu selten über
Rechtsextremismus -, dann will ich die Gelegenheit
nutzen, zum Thema und nicht nur zu Ihren Anträgen einige inhaltliche Bemerkungen zu machen.
Ich möchte als erstes bei der Betrachtung des Extremismus differenzieren. Das, was Sie Extremismus von
links und rechts nennen, sind zwei ganz unterschiedliche
Phänomene. Ich will hier keineswegs die Begehung von
Straftaten beschönigen; jede Straftat muß mit der notwendigen Konsequenz verfolgt werden. Aber es besteht
schon ein Unterschied, Kollege Grund, ob sich Gewalt
in erster Linie gegen Menschen richtet und sich auf
Ideologien stützt, die geradezu zu Gewalt und Vernichtung herausfordern, wie es im rechtsextremen Bereich
der Fall ist, oder ob es sich weitgehend um Sachbeschädigungen oder Verstöße gegen das Versammlungsrecht
handelt. Wenn zum Beispiel eine friedliche Demonstration gegen die Abschiebehaftanstalt in Büren in den
letzten Verfassungsschutzberichten unter Linksextremismus aufgeführt wird, dann stellt sich schon die Frage, was da eigentlich unter Linksextremismus verstanden wird. Denn Kritik an der Ausländer- und Asylpolitik
einer Regierung muß doch wohl erlaubt sein, ohne
gleich als Extremismus diskriminiert zu werden.
({2})
Ich gehe davon aus, daß es in diesem Haus unbestritten ist, daß der Rechtsextremismus derzeit das gravierende Problem darstellt. Die rechtsextremen Gewalttaten
sind keine Einzelfälle. Sie haben in weiten Teilen unseres Landes dazu geführt, daß sich diejenigen, die zu den
Gruppen der Opfer des Rechtsextremismus gehören,
nicht mehr angstfrei im öffentlichen Raum bewegen
können. Es ist inzwischen so weit, daß Berliner Schulen
keine Ausflüge mehr ins Brandenburger Umland machen können. Neonazis haben „ausländerfreie“ oder
„national befreite Zonen“ ausgerufen und leider teilweise auch mit Gewalt durchgesetzt, so daß sich dort zum
Beispiel in Stadtteilen oder Jugendzentren Menschen
mit der falschen Hautfarbe zu bestimmten Zeiten,
abends oder am Wochenende, nicht mehr frei bewegen
können, ohne Kopf und Kragen zu riskieren. Diese mehr
als bedrückende Tendenz wird zum Beispiel durch die
NPD logistisch unterstützt. Andere wie die DVU flankieren diese Strategie durch gigantische Propagandafeldzüge mit ausländerfeindlichen und rassistischen Parolen.
({3})
Da reicht es dann nicht aus, in einem solchen Antrag
mit gesetzten Worten niederzulegen, man wolle - ich
zitiere erneut - „die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie erhöhen“. Da ist auch von Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ein Bekenntnis zum
Faktum der multikulturellen Gesellschaft notwendig und
nicht die Fortsetzung einer diskriminierenden Unterschriftenkampagne.
({4})
Wir stehen als Politiker und Politikerinnen in einer
besonderen Verantwortung, weil wir die öffentlichen
Debatten sehr stark beeinflussen. Führen Sie sich doch
einmal all die Energie vor Augen, die Sie in den letzten
Jahren für die Heraufbeschwörung einer Kurdengefahr
oder einer islamischen Gefahr verwandt haben, die Sie
in die Durchsetzung von Kinderabschiebungen gesteckt
haben! Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten diese
Energie statt dessen darauf verwandt, die tatsächlichen
Fluchtursachen von Menschen, die hier Schutz suchen,
in die Gesellschaft hinein zu vermitteln!
({5})
Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten all die Energie,
die Sie jetzt in Ihre diskriminierende Unterschriftenkampagne investiert haben und investieren, tatsächlich
in die Vermittlung demokratischer Werte, von Toleranz
und Solidarität gesteckt! Ich bin sicher, dann hätten wir
jetzt ein öffentliches Klima, in dem Rechtsextremisten
weit mehr Probleme hätten, so offen zu agieren.
({6})
Neben dieser politischen Verantwortung, die wir mit
Sorgfalt wahrnehmen müssen, sind wir auch gefordert,
Maßnahmen zu ergreifen, um die gesellschaftlichen Widerstandskräfte gegen Rechtsextremismus zu stärken.
Wir haben als grüne Bundestagsfraktion schon in der
letzten Wahlperiode eine Reihe von konkreten Vorschlägen gemacht, die wir jetzt mit der neuen Bundesregierung auch praktisch umsetzen wollen. Ich will nur einige Beispiele nennen.
Wir brauchen eine Verbesserung des Schutzes und
eine Unterstützung der Opfer rechtsextremer Gewalt.
Die meisten dieser Menschen werden auch von der Gesellschaft ausgegrenzt. Sie trauen sich häufig nicht, zur
Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Da ist es
dringend nötig, durch Beratungs- und Unterstützungsangebote die Konfliktfähigkeit zu stärken. Wo Minderheiten an den Rand gedrängt werden, müssen wir sie offensiv in die Mitte der Gesellschaft zurückholen.
Wir brauchen eine bessere Förderung demokratisch
orientierter Jugendszenen und präventiver Jugendarbeit. Es geht nicht an, daß die knappen Mittel in
immer höherem Maße rechtsextremen Problemgruppen
zur Verfügung gestellt werden. Es gibt zahlreiche
Beispiele dafür, daß Angebote der Jugendhilfe von
organisierten Neonazis zur Stärkung ihrer Logistik genutzt werden. Damit muß Schluß gemacht werden. Gerade in Regionen, in denen rechtsextreme Szenen eine
Dominanz erreicht haben, müssen die demokratisch
orientierten Jugendszenen gefördert werden, um überhaupt eine Vielfalt des kulturellen Angebots sicherzustellen.
Wir brauchen außerdem ein Verweigerungsrecht für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, damit diese nicht
weiter gezwungen werden können, sich an der Produktion und Verbreitung von rechtsextremer Propaganda zu
beteiligen.
Diese Maßnahmen sollen vor allem die gesellschaftlichen Widerstandskräfte stärken. Die Maßnahmen sind in
der vorigen Legislaturperiode an der CDU/CSU gescheitert, ohne daß Sie andere Vorschläge gemacht hätten. Auf diese anderen Vorschläge von Ihnen warte ich
bis heute.
Wir halten im Kampf gegen Rechtsextremismus wenig von Strafverschärfung und Einschränkungen der
Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die letztlich immer
einen Schritt in den autoritären Staat bedeuten. Unsere
Politik zielt vielmehr darauf ab, die gesellschaftliche
Auseinandersetzung zu stärken und den demokratisch
eingestellten Menschen Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, Zivilcourage und selbstverantwortliches Handeln
zu stärken und zu unterstützen.
Nicht weniger, sondern mehr Demokratie ist der
richtige Weg zur Bekämpfung des Rechtsextremismus.
({7})
Das Wort für die
PDS-Fraktion hat der Kollege Roland Claus.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Liebe Kollegen Antragsteller, im Blick auf
Sie von der CDU/CSU-Fraktion stelle ich zunächst einmal fest, daß Ihre antiextremistische Aktionsgruppe hier
im Plenarsaal etwas klein ausfällt. Ihr Appell an den
einzelnen, sich zu beteiligen - Sie haben ihn in Ihrem
Text verankert -, hat im Moment zirka 5 Prozent Ihrer
eigenen Fraktion erreicht. Da sehen Sie, wieviel Sie
noch zu tun haben.
({0})
Ich stehe wie auch die anderen Rednerinnen und
Redner natürlich vor der schwierigen Frage, worüber
jetzt hier zu debattieren ist: über den uns vorgelegten
Text,
({1})
darüber, was uns die geschätzten Kollegen mit dem Text
möglicherweise sagen wollten, oder darüber, was sie
meinen, hier schon gesagt zu haben oder noch sagen
zu müssen? Dann stelle ich mir natürlich die Frage:
Worüber hast du als Abgeordneter abzustimmen?
Antwort: über den Text. So halte ich mich also an den
Text.
Ich will nur eines sagen: Das Thema, um das es hier
geht, wäre in der Tat für eine sehr ernsthafte Debatte geeignet, und es wird bitter notwendig sein - da teile ich
die Auffassungen, wie sie die Kollegin Vogt und der
Kollege Stadler hier geäußert haben -, über dieses
Thema ernsthaft zu reden. Das aber, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU, gibt Ihr Text nicht her.
({2})
Deshalb muß ich diesen Text hinterfragen.
Offenbar hat Sie bei der Abfassung des Antrages ein
starkes Harmoniebedürfnis getrieben. Ich weiß zwar
nicht, woher bei Ihnen dieser Hang kommt; bei uns kann
ich mir das immer erklären, bei Ihnen nicht. Dennoch
meine ich, die Unionsfraktion war wohl darum bemüht,
partout einen Text vorzulegen, dem alle, aber auch
wirklich alle im Bundestag zustimmen können. Dazu
kann ich Ihnen sagen: Das ist Ihnen nur bedingt gelungen. Allerdings würden wir gern zustimmen, aber nur,
sofern uns die Koalitionsfraktionen in dieser Frage nicht
mit der CDU/CSU allein lassen. Diesen Eindruck habe
ich im Moment allerdings.
Trotzdem bleibt natürlich eine tiefe Nachdenklichkeit
bei mir, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß die
CDU/CSU wirklich nur eine Feindbildverzichtserklärung innerhalb des Bundestages im Sinn hätte. Auch das
wäre nicht schlecht. So stellt sich die Frage: Hatten die
Autorinnen und Autoren tatsächlich ein Ziel für ihre
Kritik vor Augen? An welche Adresse geht denn die
Botschaft? Da habe ich mich einmal durchgefragt. In der
Regel kritisiert die Union hier die Regierung. Aber ich
mag nicht glauben, daß die CDU/CSU in der Koalition
oder in der Nähe der Koalition Extremisten ausgemacht
hätte, es sei denn, man geht nach dem Prinzip vor: Man
schlägt den Sack und meint den Kanzler. Hier kommen
wir also nicht weiter.
Irgendwann war ich kurz davor, bei den CDU/CSUKollegen vorstellig zu werden, um aus erster Hand und
aus berufenem Munde zu erfahren, was denn der tiefe
Sinne ihres Vorhabens sei. Doch kurz davor hielt ich inne. Was, wenn die geschätzten Kollegen den Antrag als
ernstgemeinten Fingerzeig nach innen, an die eigene
Adresse gemeint hätten? Da hätte meine Frage natürlich
sehr gestört.
Aber auch das ist natürlich nicht des Pudels Kern.
Kein Mensch käme auf die Verdächtigung, dem CDUFraktionsvorsitzenden im Magdeburger Landtag eine
Nähe zu Extremisten zu unterstellen, nur weil die DVUAbgeordneten nach Christoph Bergners Reden Landtagssitzung für Landtagssitzung Standing ovations abhalten. Oder kam der CDU womöglich in den Sinn, daß
bei ihrem Straßenkampf um Unterschriften etwas aus
dem Ruder gelaufen sein könnte?
Erst ganz zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen, kam mir der Gedanke, die CDU/CSU könnte uns,
die PDS, gemeint haben. Darüber habe ich lange nachgedacht. Aber auch nach längerem Grübeln fiel mir hierfür kein Anhaltspunkt ein. Auch die Rede des Kollegen
Grund betrachte ich eher als Werbung für uns und nicht
als einen ernsthaften Anhaltspunkt für meine letzte
Vermutung.
({3})
So kam ich zu dem Schluß - dabei habe ich all meine
Redlichkeit zusammengenommen -, daß die CDU/CSU
diesen Antrag völlig frei von Hintergedanken und Verdächtigungen, also redlich vom Scheitel bis zur Sohle,
stellt. Wenn man so will, ist dies ein Antrag wie das
Schwert Karls des Großen: lang, breit, aber auch unheimlich flach.
Deshalb schlage ich vor, diesen Antrag nicht erst zu
überweisen, sondern sofort über ihn abzustimmen. Bei
so viel Einigkeit könnten wir uns das Recht und die
Freiheit nehmen, dem Antrag zuzustimmen oder ihn abzulehnen. Das Ergebnis wäre dasselbe.
Ich danke Ihnen.
({4})
Für die CDU/CSUBundestagsfraktion gebe ich Herrn Dr. Hans-Peter Uhl
das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich glaube, es erübrigt sich,
den Antrag vorzulesen. Ich nehme an, daß die Kollegen
von der Fraktion der Grünen des Lesens fähig sind.
({0})
Ich möchte zu dem Antrag im Detail Stellung nehmen,
und zwar in der Weise, in der wir es für richtig halten.
({1})
Wer den politischen Extremismus wirklich bekämpfen will, muß dies in beiden Richtungen tun. Das wurde
mit Recht bereits betont. Die rechtsextremen Parteien
sind in Deutschland derzeit - glücklicherweise - von
eifersüchtigem Konkurrenzdenken geprägt. Deswegen
ist es ihnen bisher nicht gelungen, eine einheitliche
Sammlungsbewegung herzustellen, obwohl knapp
50 000 Personen dieses rechtsextremistische Potential
bilden.
Bei der vergangenen Bundestagswahl ist es den drei
rechtsextremen Parteien, der DVU, den Republikanern
und der NPD, trotz millionenschwerer WahlkampfkonRoland Claus
zepte, Postwurfsendungen und Plakataktionen mit extremistischen Parolen nur gelungen, 3,3 Prozent der
Zweitstimmen zu erreichen. In absoluten Zahlen sind
das 1,6 Millionen Stimmen.
({2})
Das ist noch keine ernsthafte Bedrohung für die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch - um hier einen falschen Zungenschlag zu vermeiden - werden die Verfassungsschutzbehörden diese
rechtsextremen Splitterparteien auch weiterhin sehr
sorgfältig zu beobachten haben.
Wir müssen diese schrecklichen Simplifikateure von
rechts ebenso bekämpfen wie jene von links.
({3})
Wir müssen den demokratischen Grundkonsens der
Gründerväter unseres Grundgesetzes wieder wachrufen.
Ihnen war klar, daß es zwischen demokratischen Parteien einerseits und Extremisten andererseits Trennungslinien gibt. Der Rechtsextremist braucht den Linksextremisten und umgekehrt. Sie brauchen sich gegenseitig
wie die Luft zum Atmen.
Ich möchte das an einem konkreten Beispiel aus meiner Erfahrung aus München deutlich machen: Als die
umstrittene Wehrmachtsausstellung in München stattfand - wie anschließend auch in anderen großen deutschen Städten -, kam es, wie Sie wissen, zu sehr kontroversen Debatten. Diese Situation nutzten die beiden extremen Lager, um ihre jeweiligen Anhänger bundesweit
zu mobilisieren. Aus ganz Deutschland kamen sie mit
Bussen angereist: die Neonazis, die Skinheads in Springerstiefeln, die Anarchisten und Chaoten.
({4})
- Jetzt meldet sich eine Abgeordnete der Grünen zu
einer Zwischenfrage, die hinsichtlich dieses Themas
offensichtlich ein anderes Wahrnehmungsvermögen
hat.
Herr Kollege Uhl,
gestatten Sie zunächst eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ströbele?
Im Anschluß an
meine Ausführungen gerne, Herr Präsident. Ich möchte
erst das Beispiel zu Ende führen. Anschließend können
wir über Einzelheiten debattieren.
Bei dieser Demonstration zeigte sich sehr deutlich, daß es dem gewaltbereiten Teil der linksextremen
Szene darum ging, eine direkte körperliche Auseinandersetzung mit dem nicht minder gewaltbereiten Teil
der rechtsextremen Szene zu suchen. Jeder Versuch
der örtlichen Verlagerung der Rechtsextremen führte
dazu, daß ihnen die Linksextremen auf dem Fuße
folgten.
Es war mehreren tausend Polizisten zu verdanken,
daß es über Sachbeschädigungen und Körperverletzungen hinaus nicht zu weiteren Ausschreitungen und zu
Straßenschlachten in München anläßlich dieser Ausstellung gekommen ist. Diese Erfahrung mit gewaltbereiten Demonstranten, die wir in anderen deutschen
Großstädten noch sehr viel deutlicher gemacht haben,
zeigt zumindest zweierlei -
Herr Kollege Uhl,
gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön.
Bitte, Herr Ströbele.
Herr Kollege, sehen Sie einen Unterschied
zu denen aus Gewerkschaftskreisen oder kirchlichen
Kreisen, die im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung zu einer Gegendemonstration zur angekündigten Demonstration von Rechtsextremisten aufgerufen
haben? Oder ist das für Sie das gleiche, wenn Mitglieder
von Gewerkschaften, Mitglieder von kirchlichen Organisationen, Antifagruppen dazu aufrufen, gegen eine
solche Meinungskundgabe von Rechtsextremisten auf
die Straße zu gehen?
Ich bedanke mich
für die Frage, Herr Ströbele. Sie gibt mir Gelegenheit,
darauf hinzuweisen, daß wir natürlich zwischen der Personengruppe, die Sie gerade geschildert haben, einerseits und den Links- und Rechtsextremisten andererseits
differenzieren müssen.
({0})
Es gab - das können Sie nicht wissen, weil Sie, so nehme ich an, zu dem Zeitpunkt nicht in München zugegen
waren; zumindest waren Sie nicht wie ich Leiter der
Versammlungsbehörde - drei Versammlungen. Die
dritte, von der Sie jetzt geredet haben, habe ich natürlich
nicht gemeint. Dort waren die Gewerkschaften, die SPD,
Teile der Grünen anwesend. Andere Teile der Grünen
waren bei den Linksextremen. Das ist der Punkt, von
dem ich rede, Herr Ströbele, nicht aber Sie.
({1})
Der Staat muß diesen Chaoten, von denen ich rede, mit
massivem Polizeiaufgebot Grenzen aufzeigen. Es darf
kein Zurückweichen der Staatsgewalt geben; es darf keine
rechtsfreien Räume geben, weil sich diese Chaoten genau
so stark fühlen, wie sie den Staat als schwach erleben.
({2})
Vieles deutet darauf hin, daß das Demonstrationsgeschehen in Deutschland leider radikaler und gewaltbereiter wird,
({3})
ausgelöst auch durch die importierten Konflikte des
Ausländerextremismus. Wenn diese Prognose zutreffend
ist, werden die Grenzen der Demonstrationsfreiheit
klar zu ziehen sein. Es geht um die ganz praktische Frage - dieses Thema ist Ihnen, Herr Ströbele, als demonstrationserprobtem Parlamentarier bekannt -: Wie viele
tausend Polizeibeamte müssen ihren Kopf hinhalten, um
gewaltbereite Chaoten von links oder rechts daran zu
hindern, aufeinander einzuschlagen?
({4})
Wenn Sie es, wie ich, erlebt haben, was es heißt, mit
den Polizisten zwischen 4 000 Linksextremisten auf der
einen Seite und einer gleich großen Zahl von Rechtsextremisten auf der anderen Seite - die nichts anderes vorhaben, als aufeinander einzuschlagen - zu stehen, wenn
Flaschen, Steine und sonstige Gegenstände über ihren
Kopf hinweg fliegen, dann kommt man sehr schnell zu
der Auffassung, daß das mit dem Grundgedanken der
Demonstrationsfreiheit, wie sie im Grundgesetz verankert ist, nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun hat.
({5})
Es geht um den Mut zu einem konsequenten Versammlungsverbot. Wenn zu einer öffentlich aufgeheizten Stimmung sowohl links- wie rechtsextreme gewaltbereite Berufsdemonstranten
({6})
bundesweit angereist kommen, muß es rechtlich möglich
sein, örtlich, zeitlich und thematisch begrenzt ein Demonstrationsverbot für Extremisten beider Lager auszusprechen.
({7})
Dies kann man derzeit nur, wie Sie wissen, wenn die
Polizei zuvor kapituliert hat, wenn sie den „polizeilichen
Notstand“ erklärt hat. Über dieses Thema wird in nächster Zeit zu reden sein; ich möchte das nicht weiter ausführen.
Das linksextremistische Potential besteht derzeit aus
34 000 Personen. Davon sind 6 000 genauer zu beachten, weil sie zum anarchistischen Spektrum, zur sogenannten autonomen Szene gehören. Dieser Kreis hat
durch Gewaltbereitschaft, Brandanschläge, Sachbeschädigungen bundesweit auf sich aufmerksam gemacht. In
ihren Wahnvorstellungen kämpfen diese Anarchisten
gegen das kapitalistische System, für eine herrschaftsfreie Gesellschaft, gegen die von ihnen so genannte
Atommafia. Der Antifaschismus, den sie bekämpfen wobei sie mit den Begriffen sehr locker umgehen; auch
ich selber bin aus deren Sicht ein Anhänger des Faschismus -, drückt sich in Parolen aus wie: „dem staatlichen Terror entgegentreten“, dem „Polizeistaat verhindern“ - als wären wir auf dem Weg zu einem Polizeistaat -, „Feuer und Flamme für den Staat“, „Deutsche
Polizisten schützen die Faschisten“ - wirre Gedanken,
die wir eigentlich bekämpfen müssen; da müßten wir
uns einig sein. Deswegen, Herr Ströbele, bin ich besonders empört darüber, daß auf allen drei Ebenen - Bundesebene, Landesebene und kommunale Ebene - Parlamentarier der Grünen ebenso wie der PDS klammheimlich Sympathie für diese autonome Szene haben.
({8})
Unter dem Oberbegriff des antiimperialistischen Widerstandes steht der deutsche Linksextremismus auf
vielfältige Weise mit der kurdischen PKK und der baskischen ETA in Verbindung. Heute weiß jeder, daß es
richtig war, die PKK in Deutschland zu verbieten. Heute
weiß fast jeder - bis auf einige Unverbesserliche -,
({9})
daß es unverantwortlich war, daß diese verbotene PKK
dennoch in einigen Bundesländern unter den Augen der
Polizei Massenveranstaltungen durchführen durfte. In
diesen Ländern ist versäumt worden, eine klare Trennlinie zwischen den militanten Anhängern der PKK und
den vielen hier friedlich lebenden kurdischen Mitbürgern zu ziehen.
Wir alle kennen den vielzitierten Ausspruch von
„Wer unser Gastrecht mißbraucht, fliegt raus, und zwar schnell“. So hat er getönt.
Aber wer sich das Verhalten in Nordrhein-Westfalen
und in anderen Bundesländern gegenüber der verbotenen PKK und ihren Massenveranstaltungen anschaut,
muß doch zugeben, daß die bewußt geduldeten politischen Rechtsbrüche diesen Ausspruch von Schröder zu
einem leeren Getöse machen.
({0})
Meine Damen und Herren, es wäre noch viel zu den
Konsulatsbesetzungen und wie damit umgegangen wurde, zu sagen. Ich will mir das hier ersparen und zum
Schluß kommen.
Es gibt Bundesländer, die nach dem Motto handeln:
Deeskalation durch Wegschauen. Nein: Hinschauen ist
das Gebot der Stunde.
({1})
Das heißt, auch Bundesinnenminister Schily wird auf
seine Kollegen Landesminister zugehen und sie anhalten
müssen: PKK-Veranstaltungen, auch unter kulturellem
Tarnmantel, müssen verboten werden. PKKVeranstaltungen, auch wenn sie mit Hilfe von Strohmännern angemeldet werden, müssen verboten werden.
({2})
Die Verwendung von PKK-Symbolen, die ich in München elf Jahre lang verboten habe, die in anderen Bundesländern elf Jahre lang permanent erlaubt war, muß
endlich untersagt werden.
({3})
31 000 Personen gehören zum islamischen Fundamentalistenkreis; über den wäre auch noch zu sprechen.
Hier haben der Verfassungsschutz und der BundesnachDr. Hans-Peter Uhl
richtendienst eine schwierige Aufgabe. Deswegen verdienen sie die Unterstützung aller Parteien, von links bis
rechts.
Die Bekämpfung des politischen Extremismus ist die
Aufgabe des Staates, der demokratischen Parteien und
jedes einzelnen. Die politische Ordnung in diesem Land
ist vom Grundgesetz bewußt und aus bitterer Erfahrung
als wehrhafte Demokratie angelegt.
Es ist die Aufgabe des Staates, im Kampf gegen
Rechtsextremismus und Linksextremismus das Recht
durchzusetzen sowie Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. In dem Maße, wie dem Staat diese Aufgabe
gelingt, wird er die Anerkennung seiner Bürger finden.
Danke schön.
({4})
Das war die erste
Rede des Kollegen Hans-Peter Uhl. Ich darf ihm im
Namen des Hauses dazu gratulieren.
({0})
Ich gebe nunmehr dem Kollegen Hans-Werner Bertl
von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute
morgen in der ersten Lesung einen Gesetzentwurf behandelt, der in den letzten Wochen viel in unserem Land
verändert hat. Ich rede jetzt nicht von dem, was er für
hier lebende Ausländer bewirkt, sondern davon, was sich
in unserem Land getan hat und was in unmittelbarem
Zusammenhang mit Ihrem Antrag gesehen werden muß.
Ich gebe zu, ich war von diesem Antrag im ersten
Moment angetan, weil ich dachte, es kommen noch ein
paar Seiten. Sie haben wichtige Funktionen unseres
Parlaments angesprochen, zum Beispiel, unsere Arbeit
den Bürgern transparent zu machen. Natürlich ist es ein
richtiges Anliegen und ein richtiger Auftrag, die „Akzeptanz der repräsentativen Demokratie zu erhöhen“.
Das schließt natürlich den Kampf gegen Extremismus
jeder Richtung ein. Auch der richtige Hinweis, daß
populistische Parolen extremistischer Gruppierungen
und Parteien nicht zur Lösung unserer Probleme beitragen, sondern sie erhöhen, ist richtig.
Dann folgt der Appell an alle gesellschaftlichen
Gruppen und an jeden einzelnen, aber auch an die Politik, Verantwortung wahrzunehmen. Ich hoffe, Sie haben
sich bei diesem Appell nicht ausgenommen. Sie haben
sogar festgestellt: „Pauschalverurteilungen helfen nicht“,
und Sie appellieren an jeden einzelnen, zu prüfen, „wo
ein Beitrag für Demokratie und die Sicherung der Freiheit geleistet werden kann“.
Meine Damen und Herren, spätestens an dieser Stelle
ist mir insbesondere im Zusammenhang mit der Diskussion heute morgen ein böser Verdacht gekommen. Dieser Antrag zu diesem Zeitpunkt mit dieser Diktion ist
wie der Versuch einer schlechten Beichte und die Absicht, sich die Absolution billig zu erschleichen. Ist Ihnen eigentlich klar, was in unserem Land los ist? Ist Ihnen allen wirklich klar - ich sage Ihnen, meine Herren
von der CDU/CSU, das jetzt sehr ernsthaft - in welch
schlechte Gesellschaft Sie in den letzten Wochen und
Monaten geraten sind? Sie haben ohne Wenn und Aber
um der reinen Machtsicherung willen eine unselige Diskussion in diesem Land vom Zaun gebrochen und dabei
entweder nicht gemerkt - was übrigens genauso
schlimm ist -, zu welcher Polarisierung Sie beigetragen
haben, oder Sie haben es bewußt in Kauf genommen. Es
war Ihnen auch egal, wer Sie vereinnahmt hat.
({0})
Herr Uhl hat eben von Wahrnehmung gesprochen.
Haben Sie wirklich wahrgenommen, was los ist? In unserem Land werden Fremde zu Tode gehetzt? Haben Sie
registriert, daß laut BKA-Bericht in den ersten fünf Monaten des Jahres 1998 3029 rechtsextrem motivierte
Straftaten begangen wurden, im zweiten Quartal 1998
164 Straftaten mit antisemitischer Motivation verübt
wurden? Haben Sie zur Kenntnis genommen, daß Innensenator Werthebach am 18. Februar dieses Jahres gesagt
hat, daß die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten im
Jahr 1998 deutlich gestiegen ist? Haben Sie registriert,
daß das BKA uns mitgeteilt hat, daß das gewaltbereite
rechte Personenpotential - das linke gibt es auch - von
1996 mit 6400 auf jetzt 8000 gestiegen ist?
Für uns im Parlament ist wichtig: Die Täter werden
immer jünger. 60 Prozent von ihnen werden der Gruppe
unter 21 Jahren zugerechnet. Ich erinnere an diesem
Punkt nur daran, was Ihr Fraktionsvorsitzender Schäuble
zu unserem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit gesagt hat: Wir würden sie ruhigstellen.
({1})
Hier gibt es vieles aufzuarbeiten, wenn wir diese Diskussion entsprechend Ihrem Antrag führen wollen.
Haben Sie - es ist eben angesprochen worden - den
Bericht der Wehrbeauftragten gelesen, der erst wenige
Tage alt ist? Sie hat von 320 Vorfällen in der Bundeswehr im Jahr 1998 berichtet. Ich will jetzt gar nicht
mehr auf die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses
eingehen, der uns in der letzten Legislaturperiode wichtige Erkenntnisse über Tendenzen in unserer Gesellschaft und Bundeswehr vermittelt hat.
Ich will vor allem denen in Ihrer Fraktion, die den
Antrag - der sehr kurz greift - gestellt haben und ihn
vielleicht ernst meinen, die sich in den letzten Wochen
und möglicherweise auch heute morgen bei der Debatte
sogar heimlich geschämt haben - viele waren gar nicht
mehr hier -, deutlich machen, in welch schlechte Gesellschaft sie in der letzten Zeit geraten sind. Da bejammert
Schönhuber in „Nation und Europa“, Ausgabe 2/99
- eine eindeutig rechtsextreme Publikation -, „daß
CDU/CSU mit ihrer Kampagne gegen die doppelte
Staatsbürgerschaft ein weiteres Mal das Bröckeln des
rechten Randes anstreben“.
In der „Jungen Freiheit“ verbreitet sich in diesem Jahr
Herr von Stetten, und in der Ausgabe 7/99 dieser rechtsextremen Zeitung gibt Ihr Fraktionskollege Martin
Hohmann ein Interview und bekräftigt - jetzt OrigiDr. Hans-Peter Uhl
nalton -, daß die nationale Karte bei der Hessen-Wahl
gestochen und den Sieg gebracht habe. Und weiter Originalton - es wird jetzt ganz spannend -: „Die Moralkeule sauste nieder, aber siehe, sie tat gar nicht weh.“
Wie recht er übrigens hat, denn er beschreibt Ihre Resistenz gegen diejenigen, die Sie gebeten haben, eine solche Aktion zu unterlassen. Das waren die Kirchen, die
Wohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, Sportvereine,
Arbeitgeberverbände, Unternehmensverbände und viele
Ihrer eigenen Kreisverbände.
In der Ausgabe 4/99 der gleichen Publikation läßt
sich Ihr Kollege Wolfgang Zeitlmann - wir haben ihn
heute morgen hier erlebt - über „regierungsamtlichen
Unsinn im Ausländerrecht“ aus.
Ich habe noch viel mehr Fundstellen; ich nenne sie
Ihnen alle. In der Ausgabe 45 vom letzten Jahr ist sogar
der Justizminister aus Sachsen zu lesen, der sich - es
ging um die Diskussion von Walser und Bubis - darüber
verbreitet, daß Ignatz Bubis nicht nur sich selbst, sondern auch dem Ansehen der Juden in Deutschland geschadet habe.
({2})
Ich frage mich ganz ernsthaft: Wie können Sie, wenn
Sie hier einen solchen Antrag einbringen, in solchen Publikationen, die gleichzeitig in wüsten Angriffen über
die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages,
unsere Kollegin Frau Süssmuth, herfallen, Äußerungen
verbreiten oder verbreiten lassen? Merken Sie das alles
nicht? Nehmen Sie das nicht zur Kenntnis? Schauen Sie
nur noch in eine Richtung?
({3})
Haben Sie einmal ins Internet gesehen, wie die Republikaner ihre Anhänger zur bedingungslosen Unterstützung
Ihrer Unterschriftenaktion auffordern? Oder haben Sie
einmal das „Nationale Infotelefon“ von Andre Goertz,
einem bekannten Neonazi, abgehört? Ich zitiere einmal
ein paar Originaltöne: „Nationale Parteien unterstützen
die Unterschriftenaktion.“ - „Sowohl die Republikaner
als auch NPD wollen die Aktion tatkräftig unterstützen
und bieten Mitarbeit an.“ Der Republikaner-Chef Rolf
Schlierer meint: „Das ist ein Schritt in die richtige
Richtung.“ Der NPD-Bundessprecher Beier sagt: „Wenn
die Hauptzielrichtung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft bleibt, dann machen unsere Mitglieder bei der
CSU/CDU-Aktion an vorderster Front mit.“ Das „Nationale und soziale Aktionsbündnis Norddeutschland“
verkündet: Wir „nehmen mit Genugtuung zur Kenntnis,
daß auch CDU-Politiker den wirklichen politischen
Kampf aufgenommen haben.“
Meine Damen und Herren, wir haben alle Internetanschluß; schauen Sie doch einmal in das Thule-Netz! In
der Nacht der Bundestagswahl erschien dort der Aufruf
zu Gewalt und Bürgerkrieg. Ich zitiere den Originaltext:
Unter der SPD-Regie muß es schnell gehen - bevor
die gewalttätigen Ausländer der 3. und 4. Generation ins Kampfalter kommen … Die Zeit für demokratische Spielregeln ist vorbei … Die politische
Säuberung der Bunzwehr
- das ist die Bundeswehr zeigt, wohin der Weg weist …
Der Verfassungsschutz weist uns klar auf deutliche
Radikalisierungstendenzen sowie auf die Zunahme von
volksverhetzenden, antisemitischen und den Nationalsozialismus verherrlichenden Texten hin. Die Zahl
der extremistischen Homepages hat sich in weniger als
zwei Jahren verfünffacht: 1996 waren es in Deutschland
32, jetzt sind es 156; weltweit ist die Zahl von 5 im Jahre 1995 auf heute 448 angestiegen.
Das ist der Grund, warum Ihr Antrag zu kurz greift.
Er ist vordergründig; er ist nicht ehrlich. Ich muß Ihnen
ganz offen sagen: Natürlich muß aus unserem Parlament
Widerspruch gegen jede Form von Extremismus kommen. Dabei brauchen wir keine Rechts-Links-Diskussion.
({4})
Wir brauchen von dieser Stelle aus den Widerspruch gegen Ausgrenzung und Gewalt gegen jeden Menschen
und gegen jede Minderheit. Unsere Aufgabe ist es, eine
stabile und an den Menschenrechten orientierte Republik für die Menschen in unserem Land als Wert erfahrbar zu machen. Es ist dabei notwendig, auch im Parlament Klartext zu reden - vielleicht auch einmal schonungslos. Denn es geht um unsere politische Hygiene.
Kompromisse dürfen sich die politisch Verantwortlichen, also auch die Parlamentarier im Deutschen Bundestag, da nicht mehr erlauben.
Meine Damen und Herren von der Union, Sie müssen
sich darüber klar sein, daß Sie eine schlimme Spur durch
unser Land gelegt haben. Ich bin sicher, Sie werden aus
dieser Sache nicht mit sauberen Füßen herauskommen.
Ihren Antrag kann man wirklich nur ablehnen. Aber ich
möchte Ihnen ein sehr ehrliches Angebot machen: Wir
sollten uns fraktionsübergreifend zusammensetzen und
gemeinsam an dieser Problematik arbeiten, um dann ein
glaubwürdigeres Signal als Ihren Antrag aus diesem
Parlament heraus an die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zu senden.
Danke schön.
({5})
Das Wort zu einer
Erklärung zur Aussprache nach § 30 der Geschäftsordnung gebe ich dem PDS-Abgeordneten Carsten
Hübner.
Sehr geehrter Herr Kollege
Grund, da Sie mich vorhin so freundlich angesprochen
haben, erlauben Sie mir eine Erwiderung.
Ich möchte Ihnen zuerst einmal mitteilen, in welchem
Zusammenhang der von Ihnen erwähnte Artikel in der
„Südthüringer Zeitung“ erschienen ist. Die Demonstration ist meines Wissens an einem Montagnachmittag angemeldet worden. Bereits am darauffolgenden Dienstag
erschien darüber ein Artikel in dieser Zeitung, der wie
ein Interview aufgemacht ist, das angeblich ein Journalist der „Südthüringer Zeitung“ mit dem Landesverfassungsschutzpräsidenten Roewer geführt hat. Welche
Rückschlüsse man daraus ziehen kann, überlasse ich Ihnen selbst. Ich jedenfalls gehe davon aus, daß sowohl
die Polemik als auch der Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels kein Zufall sind; vielmehr sollten damit bestimmte Stimmungen forciert und geschürt werden.
Zum zweiten möchte ich Ihnen gerne mitteilen, daß
die Koordinierungsgespräche zur Vorbereitung der Demonstration nach meinem Wissen sowohl mit dem Innenministerium als auch mit der Polizei, also mit den für
den Ablauf der Veranstaltung zuständigen Behörden,
völlig problemfrei verlaufen sind. Das hat unter anderem
dazu geführt, daß die Demonstration - abgesehen von
einem relativ großen Polizeiaufgebot - in keiner Weise
mit Auflagen, die verlesen werden, belegt worden ist,
zum Beispiel ähnlich den Auflagen für Gewerkschaftsdemonstrationen oder anderen Veranstaltungen. Ich bitte, auch das zur Kenntnis zu nehmen.
Der dritte Punkt, auf den ich hinweisen möchte, ist,
daß die Demonstration völlig gewaltfrei und friedlich
verlaufen ist. Es gab weder Gewalttaten gegen Personen
noch solche gegen Sachen. Der Einsatzleiter der Polizei
vor Ort hat nach der Demonstration „dpa“ mitgeteilt, es
habe ein „volksfestähnlicher Zustand“ auf der Veranstaltung geherrscht. - Soviel zu Ihrer Aussage, die Demonstration sei nur deshalb gewaltfrei verlaufen, weil
ein massives Polizeiaufgebot am Rande der Demonstration dafür gesorgt habe. Die Veranstaltung selber ist
friedlich gewesen. Deswegen möchte ich Ihnen wie
Herrn Köckert, dem Vorsitzenden der CDU-Fraktion im
Thüringer Landtag, der in ähnlich ungehobelter Weise
wie Sie sowohl gegen meine Person als auch gegen den
Thüringer Landtagsabgeordneten Steffen Dittes Vorwürfe erhoben hat, mit einem Satz antworten: Kommen Sie
wieder herunter!
Danke.
({0})
Das Wort zu einer
Erwiderung hat der Kollege Manfred Grund.
({0})
Herr Präsident, ich
möchte zuerst kurz auf die Rede des Kollegen Bertl eingehen und feststellen, daß in der Aneinanderreihung von
Zitaten auch ein hoher Desinformationsgehalt liegen
kann. Während der gesamten Debatte ist die Unterschriftenaktion angesprochen worden. Nach meinem
Dafürhalten - diese Einschätzung muß niemand teilen hat die Unterschriftenaktion in Hessen bewirkt, daß bei
den dortigen Wahlen keine extremistische Partei in den
Hessischen Landtag eingezogen ist. Wenn das allein
durch die Unterschriftenaktion erreicht worden ist, ist
das ein großer Erfolg.
({0})
Des weiteren möchte ich auf das eingehen, was der
Kollege von der PDS gesagt hat. Den „volksfestähnlichen Zustand“ kann es durchaus gegeben haben. Nur,
bei der Demonstration sind Kinder aufgetreten, die
Schilder umhängen hatten, auf denen stand: In uns allen
stecken kleine Öcalans. Ob das zu einem Volksfest mit
dazugehört, wage ich zu bezweifeln. Insoweit habe ich
nach wie vor Bedenken gegen eine Veranstaltung, wie
sie im thüringischen Erfurt durchgeführt worden ist.
Ich schließe die
Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 14/295 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 sowie die Zusatzpunkte 7a und 7b auf:
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R.
Werner Schuster, Joachim Tappe, Adelheid Tröscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika
Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin
Müller ({0}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reform der europäischen Entwicklungspolitik
durch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft
- Drucksache 14/538 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ralf
Brauksiepe, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian
Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Europäische Entwicklungszusammenarbeit reformieren
- Drucksache 14/537 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Günther, Gerhard Schüßler, Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
Eigenverantwortlichkeit der AKP-Staaten fördern
- Drucksache 14/531 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst für das Bündnis 90/Die Grünen der Kollegin Angelika Köster-Loßack.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es freut mich, daß in den vorgelegten Anträgen zur Reform der europäischen Entwicklungspolitik
ein Konsens darüber besteht, die deutsche Ratspräsidentschaft und die Neuverhandlungen des LoméAbkommens für wirkliche Reformschritte zu nutzen. In
der Frage, wie diese Reform erreicht werden kann, sehe
ich jedoch in den von den Oppositionsfraktionen vorgelegten Anträgen einige Ungereimtheiten, auf die ich
noch eingehen werde. Wir haben gemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen Antrag vorgelegt, mit dem
die wichtigsten Schritte für eine zukunftsfähige Entwicklungspolitik dargestellt werden.
Lassen Sie mich zu Beginn festhalten: Wir wünschen
keine Renationalisierung der Entwicklungspolitik.
Hierzu geben auch die jüngsten Entwicklungen in Brüssel keinen Anlaß. Den Rücktritt der Kommission sehe
ich als Ausdruck eines demokratischen Prozesses in den
Institutionen der EU. Wir sollten hierin auf keinen Fall
einen neuen Anlaß sehen, die Entwicklungspolitik stärker in die Verantwortung der Mitgliedstaaten zurückzuführen. Das würde gerade die dringend benötigte bessere
Abstimmung der europäischen Entwicklungspolitiken
verhindern.
Mir ist leider auch nicht deutlich geworden, worauf
die Unionsfraktion in ihrem Antrag hinaus will, wenn
einerseits ein Zuviel an Zentralisierung und an starrem
Regelwerk beklagt wird und wenn andererseits im nächsten Satz die Zersplitterung der administrativen Zuständigkeiten angesprochen wird. Auch unter dem Deckmantel des Stichwortes „Subsidiarität“ halten wir eine
Renationalisierung für nicht geeignet, den immensen
entwicklungspolitischen Herausforderungen zu begegnen, insbesondere bei der Aufgabe der Krisenprävention.
Was wir allerdings brauchen, ist eine bessere Koordination und eine bessere Komplementarität zwischen
den Entwicklungspolitiken der Mitgliedstaaten und der
Gemeinschaft. Es gibt einen Konsens darüber, daß die
Verteilung der Entwicklungspolitik auf vier verschiedene Kommissare, drei Generaldirektionen und ECHO
dringend reformbedürftig ist. Wir wollen, daß die Zuständigkeit für die europäische Entwicklungspolitik in
der Hand einer Kommissarin oder eines Kommissars
gebündelt wird.
({0})
Der Europäische Entwicklungsfonds sollte darüber
hinaus einer starken Kontrolle durch das Europäische
Parlament unterworfen werden. Wie sinnvoll und wie
wirksam das Europäische Parlament seine Kontrollfunktionen ausüben kann, haben wir gerade erlebt.
Für uns ist die Agrarpolitik der EU ein zentrales
Thema, insbesondere die Frage der Exportsubventionen. Wir denken, daß die europäischen Exportsubventionen nicht allein aus Gründen der WTO-Konformität
abgebaut werden müssen, sondern vor allem wegen der
Ernährungssituation in den Entwicklungsländern und der
Auswirkungen auf die dortigen Märkte. Wir kennen alle
die Beispiele, daß durch die Subventionierung der europäischen Agrarprodukte lokale Märkte im Süden schwer
geschädigt worden sind und weiterhin geschädigt werden.
({1})
Der Abbau der Agrarsubventionen wird nicht einfach
durchzusetzen sein. Wir sind in diesen Tagen - nicht nur
in Deutschland - Zeugen massiver Bauernproteste gegen
die Agenda 2000 geworden. Aus entwicklungspolitischer
Sicht kann es jedoch keine Rechtfertigung einer unveränderten Weiterführung von Exportsubventionen geben.
Wir müssen mit einem schrittweisen Abbau beginnen.
Damit die Entwicklungspolitik wirklich zur Verbesserung der Situation in den Ländern des Südens beitragen kann, müssen auch in den anderen Politikbereichen,
die hier eine Rolle spielen, andere Prioritäten gesetzt
werden. Ich denke vor allem an die Rüstungspolitik,
nicht nur an die in Deutschland, sondern auch an die in
den anderen Staaten der Europäischen Union.
({2})
Wir sehen nämlich die Krisenprävention als die zentrale
Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit an.
({3})
Deshalb ist es wichtig, im Politikdialog nicht nur in Europa, sondern auch mit den Ländern des Südens ihre in
Relation zu den Ausgaben für menschliche Entwicklung
viel zu hohen Rüstungsausgaben zu thematisieren.
({4})
Damit ist auch eine Mahnung an unsere eigene Rüstungspolitik verbunden, insbesondere an unsere Rüstungsexportpolitik.
({5})
In Zukunft müssen deutlichere Anstrengungen auf europäischer Ebene gemacht werden. Der Code of Conduct
für Rüstungsexporte, wie er innerhalb der EU verabschiedet worden ist, ist lange nicht ausreichend und fällt
hinter unseren eigenen Standard zurück.
Zur Verhandlungsrunde in Dakar ist zu sagen, daß
dort in wesentlichen Bereichen sehr gute Ansätze formuliert worden sind. Jetzt kommt es auf die konkrete
Umsetzung an. Ich möchte an dieser Stelle die Verantwortlichen in der Bundesregierung ganz herzlich darum
bitten, dafür zu sorgen, daß angesichts der Krise, die
sich jetzt in Brüssel ergeben hat, die Verhandlungen
nicht ins Stocken geraten, sondern termingerecht weitergeführt werden.
({6})
Vizepräsident Rudolf Seiters
Ich begrüße sehr, daß in Dakar dem politischen Dialog
insbesondere über Menschenrechte und Demokratisierung sowie über das Einbinden der Zivilgesellschaft ein
größeres Gewicht als bisher eingeräumt worden ist.
Es ist auch ein wichtiger Schritt, daß das Kriterium
der verantwortlichen Regierungsführung zukünftig der
Zusammenarbeit zwischen der EU und den AKPLändern zugrunde gelegt werden soll. Ich denke, hier ist
aus den Fehlschlägen der Vergangenheit wirklich der
gute Schluß gezogen worden, daß man nicht mehr aus
normalen diplomatischen Gepflogenheiten heraus über
diese Fragen hinweggehen kann. Wenn es Defizite bei
Good Governance gibt, muß das auch Folgen haben.
Weiter ist besonders hervorzuheben, daß als allgemeine Zielsetzungen Armutsbekämpfung, nachhaltige
und umweltschonende Entwicklung sowie die schrittweise Integration in die Weltwirtschaft klar formuliert
worden sind. In unserem Antrag fordern wir außerdem
die Einbeziehung der Nichtregierungsorganisationen
nicht nur bei der konkreten Arbeit und bei der Umsetzung, sondern auch in den politischen Dialog. Auch die
Vereinfachung und bessere Transparenz bei der Projektabwicklung im Rahmen der europäischen NRO-Kofinanzierung ist nicht zu unterschätzen; da werden noch
viele Abstimmungen nötig sein. Im Rahmen der LoméFolgeverhandlungen müssen wir zu differenzierten Modellen für die EU-AKP-Zusammenarbeit kommen, da
die Bedingungen in den verschiedenen Regionen im
Rahmen dieses Abkommens sehr unterschiedlich sind.
Die Weltmarktintegration dieser Staaten muß sehr
behutsam vorgenommen werden, denn viele dieser Länder verfügen nicht über die entsprechenden Lieferpotentiale, um von einer Weltmarktintegration wirklich zu
profitieren. Ihnen muß es durch eine angemessene Entwicklungszusammenarbeit erst ermöglicht werden, die
notwendigen Strukturen und Produktangebote aufzubauen.
({7})
Erst dann wird die Liberalisierung in vielen Fällen
nicht zu einer Belastung der jeweiligen Inlandsmärkte
führen, sondern den Ländern helfen, ihre eigene Ausgangslage für eine nachhaltige Entwicklung zu verbessern. Den im Antrag der F.D.P. vorgeschlagenen Weg,
ausschließlich auf die Liberalisierung des Weltmarktes
zu setzen, halte ich für nicht ausreichend und mit Blick
auf eine gewisse Übergangszeit sogar für falsch.
({8})
Ich halte es für wichtig, daß wir von europäischer
Seite aus besonders die ärmsten Entwicklungsländer
stärker als bisher darin unterstützen, Verhandlungen in
der WTO überhaupt angemessen führen zu können.
({9})
Diesen Ländern fehlen bisher meist die personellen und
auch die finanziellen Ressourcen, um gleichrangig Einfluß auf die Verhandlungen in der WTO nehmen zu
können. Hier schlagen wir die Einrichtung eines gemeinsamen EU-AKP-Verbindungsbüros bei der WTO in
Genf vor.
Die positiven Ansätze der bisherigen Partnerschaft
müssen in Zukunft verstärkt werden. Die aus der kolonialen Hypothek herrührenden Prioritätensetzungen in
der EU-AKP-Partnerschaft müssen überwunden werden.
Auch anderen Ländern muß eine engere Partnerschaft
mit der EU ermöglicht werden. Das ist aber eine mittelbis langfristige Aufgabe und läßt sich nicht von heute
auf morgen verwirklichen. Dazu gehört auch, den
gleichberechtigten Dialog mit den Partnerländern institutionell so abzusichern und weiter auszubauen, daß es
läuft.
Die vielversprechendste politische Rahmenbedingung
für diesen Dialog bildet die Umsetzung der Agenda 21,
wie sie in Rio verabschiedet worden ist. Hier sind zunächst die Industrieländer aufgefordert, ihre Produktions- und Lebensweise zu verändern, um im Gespräch
mit den Ländern des Südens glaubwürdig zu sein. Das
gilt im übrigen auch für den Abbau der Korruption. Wir
fordern von den Ländern des Südens Transparenz darüber, wie sie ihre finanziellen Ressourcen einsetzen;
auch wir müssen in diesem Zusammenhang Transparenz
beweisen. Das ist deswegen eine gemeinsame Aufgabe.
({10})
Vielen Dank.
({11})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die europäische Entwicklungszusammenarbeit ist reformbedürftig.
Diese Feststellung wurde nicht nur in der Rede der Kollegin Köster-Loßack getroffen, sondern darüber hat
- wie auch hinsichtlich der Grundzüge der europäischen
Entwicklungszusammenarbeit selbst - in diesem Haus,
soweit ich das beurteilen kann, weitgehend Konsens
bestanden. Dieser Konsens hat sich im letzten Jahr in
einem gemeinsamen Beschluß der Fraktionen niedergeschlagen.
Uns war die Hoffnung gemeinsam, daß unter der
deutschen Ratspräsidentschaft diese Reformen vorangetrieben werden. Nun ist uns allen aber - mindestens insgeheim - auch die Befürchtung gemeinsam, daß die
notwendigen Reformen unter die Räder kommen, nachdem der Bundeskanzler viel zu lange und letztlich doch
erfolglos an der jetzt zurückgetretenen Europäischen
Kommission festgehalten hat. Damit hat er den Zeitraum
für die Beschlüsse über die notwendigen Reformen unnötig verkürzt.
({0})
Wenn man über Reformen der Entwicklungszusammenarbeit redet, dann darf man natürlich nicht nur über
Formalien, sondern muß auch über die Richtung, die
solche Reformen auf europäischer wie nationaler Ebene
einschlagen sollen, diskutieren. Die rotgrüne Bundesregierung hat bei vielen Organisationen und bei mit ihr
sympathisierenden Gruppen zweifellos hohe Erwartungen im Hinblick auf eine Neuorientierung der Entwicklungspolitik geweckt. Sie, meine Damen und Herren,
haben aber zur Erfüllung dieser Erwartungen bisher
vorwiegend nur Überschriften produziert.
Ich will Ihnen einige dieser Überschriften in Erinnerung rufen. So postulieren Sie unter anderem einen höheren Stellenwert der Entwicklungszusammenarbeit insgesamt. Wir können aber bisher nur feststellen, daß die
Frau Ministerin nun ein paar zusätzliche Sitzungstermine, beispielsweise im Bundessicherheitsrat, hat. Ob sich
daraus wirklich konkrete Verbesserungen für die Menschen in den Entwicklungsländern ergeben, bleibt erst
einmal abzuwarten. Es darf nicht bei der Lieferung von
U-Booten nach Südafrika bleiben, sondern in diesem
Bereich muß schon ein bißchen mehr geschehen.
({1})
Eine weitere Überschrift - ich will darauf eingehen,
obwohl sie schon einige Zeit zurückliegt - war die geforderte Steigerung des BMZ-Haushaltes. Auch in diesem Punkt hat längst Ernüchterung um sich gegriffen.
Selbst die Regierungsfraktionen im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit haben vor zwei Tagen ihre
Enttäuschung über die Entwicklung des BMZHaushaltes deutlich zum Ausdruck gebracht. Dabei waren Kürzungen, die wir auf Grund der Erfahrungen der
letzten Jahre beim Europäischen Entwicklungsfonds
gemeinsam beschlossen haben, noch gar nicht eingerechnet. Man kann also nicht mehr - wir haben zu dieser
Thematik in den Haushaltsberatungen ausführlich Stellung genommen - von einer Steigerung des BMZHaushaltes reden. Mehr als eine Überschrift ist nicht übriggeblieben.
({2})
Sie, Frau Ministerin, haben eine weitere, für uns nicht
ganz überraschende Überschrift produziert, als Sie sich
heute vor einer Woche in der „Süddeutschen Zeitung“
mit den Worten vernehmen ließen: „Wir überprüfen unsere Politik gegenüber Kuba.“ Nun ist Nachdenken und
Überprüfen an sich niemals schlecht. Aber aus unserer
Sicht wäre es besser, wenn Herr Castro selber seine eigene Kuba-Politik überprüfen würde. Ich glaube, dies
wird in weiten Teilen der Europäischen Union nicht anders gesehen.
({3})
Ich will noch zwei weitere Überschriften nennen. Sie
sprechen von einem qualitativen Schuldenerlaß und
von einer globalen Strukturpolitik. All dies hört sich
sehr schön an, ist aber entweder nichts Neues oder
nichts Greifbares. So hatte bereits die CDU/CSUgeführte Bundesregierung zahlreiche Initiativen zum
Schuldenerlaß auf den Weg gebracht, natürlich nicht in
Form eines pauschalen Schuldenerlasses. Was Sie nun
„qualitativen Schuldenerlaß“ nennen, bedeutet letztlich
doch nichts anderes als eine einzelfallgerechte Entschuldungsstrategie, für die auch wir uns aussprechen. Der
Kollege Hedrich hat dieses Konzept vor Wochen also zu
Recht als Mogelpackung bezeichnet.
({4})
Eine Erklärung darüber, was Sie unter globaler Strukturpolitik verstehen, sind Sie uns bisher schuldig geblieben. Für CDU und CSU geht es bei der Wirtschaftsordnung in den Entwicklungsländern um die Einführung
und Festigung der sozialen Marktwirtschaft, eingebettet in andere entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen wie Rechtssicherheit, Beachtung der Menschenrechte und Beteiligung der Bevölkerung an politischen
Entscheidungen. Diese bekannten, von uns schon vor
Jahren aufgestellten Kriterien haben nach unserer Überzeugung nichts an Aktualität verloren und können auch
nicht durch eine - wie auch immer geartete - globale
Strukturpolitik ersetzt werden. Ich denke, es ist an der
Zeit, daß Sie einmal erklären, ob Sie unser Ordnungsmodell der sozialen Marktwirtschaft weiterhin als entwicklungsförderlich ansehen oder ob Sie es unter der
Überschrift „globale Strukturpolitik“ durch etwas anderes ersetzen wollen. Mir ist das bisher nicht klargeworden.
({5})
Das Kernstück der europäischen Entwicklungszusammenarbeit ist ja zweifellos das Lomé-Abkommen,
über dessen Weiterentwicklung zur Zeit diskutiert wird.
Die Lomé-Kooperation war in der Vergangenheit durch
Stärken wie auch durch Schwächen gekennzeichnet.
Deshalb sind wir grundsätzlich für ein Festhalten an dieser Kooperation, aber als Konsequenz aus den erkennbaren Schwächen eben auch für eine Weiterentwicklung in
konzeptioneller Hinsicht. Wenn ich mir diese in der
Vergangenheit im Konsens festgestellte Position vor
Augen führe, dann muß ich sagen, daß der Antrag der
Regierungsfraktionen, den Sie heute vorlegen, schon
sehr enttäuschend ist.
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, was Sie hier vorlegen - es tut mir persönlich leid
für Leute wie Sie, Herr Schuster, die ja den Sachverstand besitzen, auch etwas anderes zu formulieren -, ist,
positiv ausgedrückt, sehr staatstragend. Man könnte
auch sagen: Es ist eigentlich nichtssagend, was in Ihrem
Antrag steht. Denn trotz Ihres verbalen Bekenntnisses
zum früheren Beschluß von CDU/CSU, F.D.P., SPD
und Bündnis 90/Die Grünen, der in diesem Hause vor
einem Jahr gefaßt wurde, gehen Sie deutlich hinter ihn
zurück. Enttäuschend ist vor allem das, was in Ihrem
Antrag nicht steht. Ich komme darauf gleich zurück. Sie
sagen zum Beispiel:
Alle Beteiligten sind sich grundsätzlich über die
Reformbedürftigkeit des Vertragswerks einig …
Das ist sehr staatstragend. Ich lasse es einmal dahingestellt sein, ob Sie uns das als wesentliche Aussage zum
Lomé-Vertrag so hätten durchgehen lassen. Ich glaube,
eher nicht. Ein bißchen konkreter hätten wir es dann
schon gern.
Sie werden immer da deutlich - jetzt komme ich auf
den eben von Frau Kollegin Köster-Loßack angesprochenen Punkt -, wo es um formale Fragen geht, die
weitgehend unstrittig sind. Deswegen kann ich Ihnen
sagen: Wenn es um die Straffung der Kompetenzen
der europäischen Entwicklungszusammenarbeit geht, also darum, wegzukommen von einer Struktur, in der die
Entwicklungszusammenarbeit auf vier Kommissare, drei
Generaldirektionen etc. verteilt ist, dann haben Sie uns
bei dieser Forderung auf Ihrer Seite.
({6})
- Ja. - Aber für uns gilt eben auch das Prinzip der Subsidiarität. Das heißt, wir wollen keine eigenen Durchführungsorganisationen auf europäischer Ebene, sondern
wir sagen ganz deutlich - nicht nur vor dem Hintergrund
der Erfahrungen und Berichte der letzten Tage -: Das
können die nationalen Durchführungsorganisationen
besser; dazu brauchen wir keinen zusätzlichen bürokratischen Apparat in Europa.
({7})
Nun müssen wir neben diesen formalen Fragen eben
auch über die Inhalte der Entwicklungszusammenarbeit
auch und gerade mit den AKP-Staaten reden. Unsere
gemeinsame Feststellung vor einem Jahr lautete unter
anderem - ich zitiere -:
Die strukturkonservierend wirkenden STABEXund SYSMIN-Instrumente müssen zugunsten flexibler Elemente, die … die Förderung kleiner und
mittlerer Unternehmen einschließen, umgewandelt
werden.
Davon findet sich in Ihrem Antrag leider nicht mehr sehr
viel, außer der sehr wolkigen Überschrift eines Unterpunktes: „Politikkohärenz im Bereich der Außenhandelspolitik“.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, da ist ja sogar Ihre Ministerin noch vor zwei Tagen
im Ausschuß weiter gegangen mit ihren Vorstellungen
im Sinne dieses gemeinsamen Beschlusses zu Stabex
und Sysmin, an dem wir festhalten.
Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen, das unsere Enttäuschung über das verdeutlicht, was nicht in Ihrem Antrag steht. In dem gemeinsamen Beschluß ist vor
einem Jahr formuliert worden - ich zitiere wiederum
wörtlich -:
Darüber hinaus sollte das Abkommen
- gemeint ist das Lomé-Abkommen weiteren Least Developed Countries offenstehen.
Ich halte dies für ein ganz zentrales Anliegen und frage
mich: Wo ist das eigentlich in Ihrem Antrag konkret geblieben? Es kann doch wohl nicht sein, daß die früher
einmal bestehenden kolonialen Strukturen weiterhin bestimmen, wer im Rahmen der EU-AKP-Zusammenarbeit eigentlich unser Vertragspartner ist. Nun ist es
natürlich nicht ganz einfach, an dieser Struktur etwas zu
ändern. Es handelt sich ja um Strukturen, die im Grundsatz schon seit den 70er Jahren bestehen. Auch damals
gab es eine SPD-geführte Bundesregierung. Diejenigen,
die heute regieren, waren damals noch nicht dabei; viele
von ihnen waren damals noch auf den Barrikaden. Von
daher kann ich noch einmal feststellen: Sie sind sehr
staatstragend geworden. - Man ändert solche Strukturen
ja nicht dadurch, daß man großspurig von der Vertretung
deutscher Interessen redet, sondern indem man das konkret an einem Punkt festmacht oder indem man zumindest an diesem Ziel festhält.
Deswegen sage ich: Statt - wie Sie es in Ihrem Papier
fordern - ein neues EU-AKP-Verbindungsbüro und damit eine neue Bürokratie zu schaffen, sollten Sie dieses
Geld lieber für die Entwicklungszusammenarbeit mit
anderen, den ärmsten Ländern zur Verfügung stellen, bei
denen es nur sachgerecht wäre, sie in dieses Programm
aufzunehmen, und die Sie nicht dafür bestrafen sollten,
daß sie nicht in die bisherigen, kolonial geprägten
Strukturen der EU-AKP-Entwicklungszusammenarbeit
passen. Jedenfalls für uns ist das bei der Reform ein
Schwerpunkt, auf den wir Wert legen.
({8})
Meine Damen und Herren, CDU und CSU wollen
unter Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität darauf legen wir Wert; dies haben wir auch in unserem
Antrag zum Ausdruck gebracht - eine offene Diskussion
über Ziele, Instrumente, Schwerpunkte und auch Vertragspartner der europäischen Entwicklungszusammenarbeit führen. Soweit wir dies im Konsens tun können,
haben Sie uns auf Ihrer Seite. Wir werden Sie nicht an
Ihren Überschriften, sondern an Ihren Taten messen im Interesse der Menschen, die Hilfe zur Selbsthilfe
brauchen.
Vielen Dank.
({9})
Ich darf dem Kollegen Brauksiepe zu seiner ersten Rede in diesem Hause
im Namen der anwesenden Kolleginnen und Kollegen
gratulieren.
({0})
Nunmehr gebe ich für die SPD-Fraktion dem Kollegen Werner Schuster das Wort.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit
einem Kompliment an die ganz linke Seite dieses Hauses beginnen. Es war Ihr Antrag vom Dezember 1998,
der eine Art Initialzündung ausgelöst und die großen
Fraktionen angeregt hat, selber aktiv zu werden. Ich finde auch den Inhalt sehr bemerkenswert. Deshalb bedaure ich immer wieder, daß in diesem Hause nicht entscheidend ist, was jemand sagt, sondern wer es sagt.
({0})
Das ist sicher ein großer Nachteil.
Allerdings muß ich nach Vergleich der vier Anträge
deutlich sagen, daß sich Ihr Antrag und auch der Antrag
der F.D.P. vom Ansatz her ausschließlich auf Lomé beDr. Ralf Brauksiepe
ziehen, während wir, die Regierungsfraktionen, und die
CDU/CSU, wie ich glaube, zu Recht den Gesamtrahmen
gesehen haben.
Ich hoffe sehr - das wird es Herrn Kollegen Brauksiepe vielleicht verständlich machen, warum ich so
staatstragend formuliere -, daß wir, zumindest die Regierungskoalition gemeinsam mit der großen Oppositionsfraktion, nach den Beratungen im Ausschuß zu einer gemeinsamen Beschlußempfehlung kommen. Wir
haben uns nämlich in den letzten Jahren immer wieder
gewünscht, wenigstens in der Entwicklungszusammenarbeit gegenüber Brüssel mit einer Stimme zu reden.
Hier, Herr Hedrich, sollten wir uns davon unterscheiden,
wie wir gestern die Diskussion zum Thema Agenda
2000 geführt haben.
({1})
Unserem Anliegen nützt es sehr, für Brüssel einen Konsens zu finden, aufeinander zuzugehen. Ich denke, wir
werden in den Beratungen das eine oder andere von Ihnen übernehmen.
Zweitens möchte ich mich im Gegensatz zu Ihnen
ausdrücklich bei der Frau Ministerin bedanken und sie
an dieser Stelle loben.
({2})
Frau Tröscher, Herr Dzembritzki und ich waren vor
14 Tagen in der berühmten DG VIII in Brüssel, bei
Herrn Lowe. Wir waren überrascht, als er ungefragt
zwei Dinge sagte. Er sagte, ihm habe imponiert, daß die
neue deutsche Bundesregierung erklärt habe, die Entwicklungszusammenarbeit sei ein wesentlicher Teil der
Friedenssicherung. Das hätten wir auch in den letzten
vier Jahren gern einmal so deutlich gehört.
({3})
Zudem hat er gesagt, es habe Eindruck gemacht, daß
nicht irgend jemand, sondern die Ministerin selbst im
Europäischen Parlament gesprochen hat. Das hätten wir
früher auch gern so gehabt.
({4})
Insofern ist verständlich, daß die DG VIII - da haben
Sie recht, Herr Kollege Brauksiepe - große Erwartungen
an die EU-Präsidentschaft hat.
Ich will nur vorbeugen: Frau Ministerin, wir waren
uns der Beschränkung auf diese sechs Monate bewußt.
Wir wissen, daß Sie dies alles nicht in sechs Monaten
lösen können. Wir hoffen aber, daß Sie entscheidende
Impulse geben können bzw., wie ich immer flapsig sage,
den Zug auf das richtige Gleis bringen. Das wäre schon
ein Fortschritt gegenüber dem, Herr Hedrich, was wir in
den letzten acht Jahren erlebt haben.
({5})
Wir wünschen Ihnen - da bin ich mit Ihnen, Herr Brauksiepe, und der CDU offensichtlich einer Meinung - bei
diesem Unternehmen viel Erfolg.
({6})
Damit bin ich bei der Kritik an Brüssel. Sehr geehrter
Herr Hedrich, ich habe manche Dinge nicht vergessen.
Sie haben immer dafür votiert - im Detail waren wir
beide uns immer einig -: Wer Kritik an Brüssel übt, muß
sich zuerst an die eigene Nase fassen.
Das fängt damit an, daß man bei den Entscheidungen
persönlich anwesend ist. Zweitens muß man zum Beispiel dafür sorgen, daß in Brüssel deutsches Personal
vorhanden ist. Wir zahlen ungefähr 25 Prozent. Der
Anteil des deutschen Personals in den entsprechenden
Generaldirektionen liegt unter 10 Prozent. Hier müssen
wir unsere Haushälter überzeugen, daß wir jungen Beamten eine Karriere eröffnen, wenn sie unsere wohlverstandenen deutschen Interessen in Brüssel - übrigens
auch bei der UNO - vertreten.
({7})
Meine Damen und Herren, ich wiederhole den Vorschlag, den ich schon in der letzten Wahlperiode gemacht habe - hier spreche ich auch unseren Ausschußvorsitzenden, Herrn Kraus, an -: Wir müssen dafür sorgen, daß wichtige Beschlüsse des Bundestages vor allem
dann, wenn sie einstimmig gefaßt worden sind, auch in
Brüssel gelesen werden. Das heißt, sie müssen hingeschickt und vorher, Frau Ministerin, möglichst ins Englische übersetzt werden. Dort wird eben nur Englisch
oder Französisch gelesen. Wenn wir wollen, daß unsere
Beschlüsse das Europäische Parlament und die Kommission beeinflussen, müssen wir unsere Ergebnisse entsprechend vorlegen. Das sollte doch wirklich möglich
sein.
Es ist ganz bezeichnend und im Vergleich zu den
letzten acht Jahren ungewöhnlich, Herr Hedrich, daß die
Frau Ministerin gemeinsam mit ihrer Kollegin Clare
Short und mit Charles Josselin ein Positionspapier veröffentlicht hat. Das ist doch auch schon ein Schritt: Man
darf nicht nur kritisieren, sondern muß zusehen, wie
man in Brüssel Verbündete findet, um dann gemeinsam
etwas zu bewirken.
({8})
Insofern bitte ich um Verständnis, Herr Kollege
Brauksiepe, daß wir bewußt nicht wiederholt haben, was
wir schon vor einem Jahr formuliert haben. Das haben
wir inkorporiert. Wir sind uns da in vielen Grundsatzforderungen, wenn auch nicht in der Frage der Liberalisierung, einig. Das haben wir aber bewußt nicht wiederholt.
({9})
Uns hat die Kommission einen Gefallen getan, indem
sie komplett zurückgetreten ist. Nach einem solchen
Rücktritt gibt es ein neues Spiel. Diese Chance, meine
Damen und Herren, sollten wir nutzen.
({10})
Das ist ein Neuanfang. Dabei geht es auch um institutionelle Reformen. Wir sind uns doch darin einig, daß es
schwachsinnig ist, daß vier Kommissare, drei Generaldirektionen und ECHO unabhängig voneinander arbeiten.
({11})
Wir müssen endlich mit dem Unsinn aufräumen, die
Töpfe nur deshalb, weil sie woanders herkommen, in der
Durchführung getrennt zu sehen. Nothilfe ist nur dann
sinnvoll, wenn sie einen kontinuierlichen Übergang zur
Entwicklungszusammenarbeit zuläßt. Mein Kollege
Tappe und ich haben im Sudan erlebt, daß aus ECHOMitteln wunderschöne Brunnenbohrungen im Rahmen
der Nothilfe vorgenommen worden sind. Nachdem die
Experten den Sudan verlassen hatten, ist alles kaputtgegangen, weil die Einrichtung eines Wasserkomitees
nicht vorgesehen war; das ist nämlich Entwicklungshilfe. Das kann doch nicht wahr sein.
Ein weiterer Punkt ist die Koordination innerhalb der
Mitgliedstaaten. Rechnet man sämtliche Leistungen
hoch, dann geht es um mehr als 35 Milliarden DM pro
Jahr. Wir wollen nicht die Subsidiarität in Frage stellen;
aber es wäre doch klug, wenn die 25 Milliarden DM der
15 Länder und die EU- und Lomé-Mittel in Höhe von 10
Milliarden DM in ein Gesamtkonzept eingebracht würden. Das geht aber nur mit gemeinsamen Länderkonzepten. In diesem Zusammenhang haben wir wieder gehört, Herr Hedrich, daß Brüssel Länderkonzepte liefert.
Bloß wir liefern unsere nicht. Warum eigentlich? Das
kann man ändern. Man kann auch die Kooperationsbereitschaft der anderen Mitgliedstaaten testen; dafür
braucht man keine Gesetze. Ich bin davon überzeugt,
daß wir auf diese Weise viele Synergieeffekte bekämen
und dies auch die Koordination, die Kohärenz und die
Einstimmigkeit gegenüber unseren Partnern erhöhte.
Des weiteren müssen wir Kriterien für eine nachhaltige und menschenwürdige Entwicklung, unterschiedlich
für das jeweilige Entwicklungsland, entwerfen. Dabei
würde auch die Heuchelei deutlich. Aber dazu wird
nachher mein Kollege Dzembritzki etwas sagen, was
nachhaltige Entwicklung ohne Kohärenz bedeutet.
Schließlich erleichterte es die Evaluation, wenn man
sich auf solche Kriterien verständigte. Da hätte man ein
gemeinsames Grundsystem und würde nicht mehr mit
unterschiedlichen Maßstäben herangehen. Wir brauchen
bilateral und multilateral dieselben Maßstäbe.
Frau Köster-Loßack ist auf die Förderung der zivilgesellschaftlichen Strukturen eingegangen. Das möchte ich
jetzt nicht alles wiederholen. Aber wichtig scheint mir,
Frau Ministerin, der politische Dialog vor Ort. Ich sage
es einmal ganz negativ: Es kann nicht angehen, daß die
GTZ oder die politischen Stiftungen den Job tun, den eigentlich unsere Botschaften oder das BMZ tun müßten.
({12})
Das ist kein politischer Dialog. Er muß bitte schön von
den Ministerien wahrgenommen werden.
Auch das Thema Krisenprävention hatte die Kollegin Köster-Loßack schon angesprochen. Dazu möchte
ich nur noch eines sagen: Für mich ist gerade in Afrika
das zentrale Thema die Rüstungsexportkontrolle. Es
ist schlicht Heuchelei, wenn wir über die Bürgerkriege
jammern und zugleich zur Kenntnis nehmen, daß in so
unverdächtigen Zeitungen wie „Observer“ oder „Herald
Tribune“ nachgewiesen wird, wie Länder aus dem Westen an dem Waffengeschäft beteiligt sind, und zwar in
der Regel nicht in Unkenntnis der Regierungen. Ich darf
die Länder nennen: Ruanda, Burundi, Angola, Kongo Kabila -, Äthiopien, Eritrea und Sudan. Diese Heuchelei
muß aufhören. Sonst brauchen wir unsere ganze Entwicklungszusammenarbeit nicht. Die Gelder können wir
sonst einsparen.
({13})
Schließen möchte ich, bevor Sie mich mahnen, Herr
Präsident, mit dem Hinweis auf ein kleines Buch, geschrieben von einer sehr engagierten Journalistin, Brigitte Kols von der „Frankfurter Rundschau“: „Tatort
Afrika. Ein Kontinent zwischen Gewalt und Hoffnung“.
Sie sagt am Schluß - ich stimme ihr zu -: Der Tatort
Afrika ist vor allem ein Ort für die Taten der Afrikaner.
- Richtig. Aber es liegt auch sehr an uns Europäern, ob
dieser Kontinent in Zukunft ein Kontinent der Gewalt
bleibt oder ein Kontinent der Hoffnung wird.
In diesem Sinne bitte ich Sie alle gemeinsam, Afrikaner und Europäer, die Chance eines Neuanfanges der europäischen Entwicklungszusammenarbeit wirklich zu
begreifen und in Taten umzusetzen.
Danke schön.
({14})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Gerhard Schüßler, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die vorliegenden Anträge sorgfältig liest, dann kann man trotz
aller Widersprüche und Unzulänglichkeiten feststellen,
daß wir in vielen Punkten gemeinsame Meinungen vertreten. Wenn die Beratung dieser Anträge zu einem
Konsens führt, kann das der Sache nur dienlich sein.
Ich sage das deshalb, weil unsere Partner in Europa
und in den Entwicklungsländern von uns erwarten, daß
von der deutschen EU-Präsidentschaft entscheidende
Impulse für die Erneuerung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit ausgehen. Nun muß man sagen:
Bislang hat die Bundesregierung bei den laufenden Verhandlungen über die Erneuerung der Zusammenarbeit
zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staaten
weder klare Schwerpunkte benannt noch ein Konzept zu
der Gestaltung vorgelegt. Wie anders ist es möglich, daß
die Koalitionsfraktionen mit einem Antrag vom 16.
März die Bundesregierung auffordern, im Rahmen ihrer
EU-Ratspräsidentschaft eine Initiative zu ergreifen? Das
ist schon ein Armutszeugnis für eine Bundesregierung:
Sie muß von den Koalitionsfraktionen knapp ein halbes
Jahr nach Verhandlungsbeginn und fast zur Halbzeit ihDr. R. Werner Schuster
rer Präsidentschaft in einem Antrag aufgefordert werden, eine Initiative zu ergreifen. Das ist schon sehr ungewöhnlich.
Meine Damen und Herren, die bisherige EU-AKPZusammenarbeit gilt zwar als erfolgreiches Modell
interregionaler Entwicklungspartnerschaft; sie ist in ihrer gegenwärtigen Form jedoch nicht den Herausforderungen der Globalisierung gewachsen und muß daher
vollständig überarbeitet werden. Strukturelle Defizite
müssen beseitigt, neue Prioritäten gesetzt werden.
Die Erfahrungen aus vier Entwicklungsdekaden, die
durch schlechte Rahmenbedingungen für Selbsthilfe und
unzureichende Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer gekennzeichnet waren, lehren, daß ein reiner Finanztransfer und neue Verteilungsmechanismen das Ziel
einer nachhaltigen Entwicklung eher behindern. Nur ein
neues Konzept, das Eigenanstrengungen als unerläßliche
Voraussetzung für wohlverstandene Solidarität und
Partnerschaft definiert, kann langfristig erfolgreich sein.
Dem von der Bundesregierung bei der EU-AKPMinisterkonferenz am 8. Februar in Dakar angekündigten neuen Schub für die Verhandlungen müssen nun
dringend Taten folgen. Darum hat die F.D.P.Bundestagsfraktion einen Antrag, ein eigenes NeunPunkte-Konzept zur zukünftigen Gestaltung der EUAKP-Zusammenarbeit vorgelegt. - Frau Kollegin
Köster-Loßack, es behandelt sicherlich nicht nur den
marktwirtschaftlichen Teil; ich möchte Sie bitten, das
sorgfältig zu lesen. - Dabei soll neben der Armutsbekämpfung die Stärkung der Eigeninitiative der AKPPartner absolute Priorität haben.
Voraussetzung dafür sind rechtsstaatliche Rahmenbedingungen, entwicklungsorientiertes staatliches Handeln, Wettbewerb, Privatisierungen, Dezentralisierung,
die wirksame Bekämpfung von Korruption, freie und
faire Handelsbedingungen und regionale Zusammenarbeit. Verantwortungsvolle Staatsführung, Eigeninitiative
und freier Handel sind die besten Voraussetzungen für
nachhaltige Entwicklung. Dies alles finden Sie in den
neun Punkten ausformuliert wieder.
Eine Reform der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, die diesen Namen verdient, muß auch auf eine verbesserte Kohärenz der verschiedenen europäischen und nationalen Instrumente und Geberinstitutionen abzielen.
({0})
Zu viele Köche verderben, wie Sie wissen, den Brei,
auch in der Entwicklungspolitik.
({1})
Die Europäische Union braucht eine Entwicklungspolitik aus einem Guß. Um bessere Kohärenz zu erreichen, müssen die sich teilweise überlappenden Zuständigkeiten verschiedener Generaldirektionen der Kommission klar abgegrenzt und die Aufgabenteilung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten transparenter
gestaltet werden. Das wissen Sie auch alle.
Die entwicklungspolitischen Aktivitäten der Mitgliedstaaten und der Kommission müssen gemäß dem in
Maastricht festgelegten Subsidiaritätsprinzip zu einer
kohärent vernetzten europäischen Entwicklungspolitik
umgestaltet werden. Hierzu ist eine zwischen allen Beteiligten, einschließlich der Bundesländer und der
Kommunen, abgestimmte Schwerpunktsetzung erforderlich. Die EU-Kommission sollte nur für solche Aufgaben zuständig sein, die besser und wirksamer auf europäischer Ebene durchgeführt werden können. Hierfür
eignen sich insbesondere Handelsfragen, Strukturanpassungsmaßnahmen und die interregionale Zusammenarbeit.
({2})
Aus liberaler Sicht sollten insbesondere solche entwicklungspolitischen Maßnahmen unterstützt werden,
die auf eine Stärkung des Privatsektors abzielen. Der Errichtung marktwirtschaftlicher Strukturen, der Unterstützung unternehmerischer Eigeninitiative und der Förderung eines günstigen Investitionsklimas in den Partnerländern sollte Vorrang eingeräumt werden. Eine besondere Rolle sollten in diesem Zusammenhang die bereits in der Praxis bewährten Modelle der sogenannten
„private public partnerships“ übernehmen, in denen öffentliche Entwicklungsinstitutionen mit privaten Trägern
bei der Verwirklichung von Entwicklungsprojekten intensiv zusammenarbeiten.
Zu einer erfolgreichen Neustrukturierung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit gehört auch eine
abgestimmte inhaltliche Schwerpunktsetzung, wobei
sich die Bemühungen der Kommission in erster Linie
auf die Integration der Entwicklungsländer in den freien
Welthandel und auf Strukturanpassungsmaßnahmen
sowie auf interregionale Zusammenarbeit beziehen
sollten.
({3})
Die Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten muß spätestens nach Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam mit der gemeinsamen Außenpolitik der Europäischen Union zusammengeführt werden. Die Vorbereitungen dafür müssen jetzt beginnen. Zur politischen
Komponente einer gemeinsamen Entwicklungspolitik
gehört auch eine gemeinsame Politik der Konfliktvermeidung und Konfliktlösung. Dabei müßte es Aufgabe
der Kommission sein, das Umfeld von Konfliktzonen,
insbesondere in Afrika, durch Entwicklungspole abzusichern, landwirtschaftliche und handwerkliche Subsistenzwirtschaft zu ermöglichen und sich für ein Minimum an öffentlicher Sicherheit und Ordnung einzusetzen.
All dies kann nur gelingen, wenn die europäische
Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr neben den
15 bilateralen Gebern als 16. Geber steht, sondern unter
größtmöglicher Einbeziehung ihrer Mitglieder zusammen
mit den jeweiligen AKP-Partnern ein Gesamtkonzept der
Reformen erarbeitet. Nur abgestimmte länder- und regionalspezifische Konzepte werden es ermöglichen, die
Schwierigkeiten der Konfliktregionen anzugehen.
Die gegenwärtige Praxis, daß die Entwicklungshilfe
nur reihum die Löcher zu stopfen versucht, welche sie in
der Vergangenheit selbst gerissen hat, ist nicht mehr zu
verantworten. Es wird nicht möglich sein, alle AKPLänder auf den Pfad politischer Tugenden zurückzufühGerhard Schüßler
ren. Es wird Länder geben, die sich den Reformen verweigern, deren staatliche Ordnung insgesamt zusammenbricht oder in denen bewaffnete Konflikte für lange
Zeit andauern werden. Deshalb gehört ein langfristiges
politisches Konzept der Konfliktprävention und lösung zur europäischen Entwicklungspolitik.
Deutsche und europäische Entwicklungspolitik ist
noch längst nicht erfolgreich, wenn jedes einzelne Entwicklungshilfeprojekt erfolgreich ist. Sie ist erfolgreich,
wenn ein Beitrag zu einer dauerhaften, positiven Gesamtentwicklung in den Nehmerländern geleistet wird.
Ein solcher dauerhafter Erfolg ist nur möglich, wenn dazu beigetragen wird, daß die Nehmerländer eine entsprechende kohärente Gesamtpolitik konzipieren und
realisieren.
Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesregierung auf, die derzeitige EU-Präsidentschaft zu nutzen, die Entwicklungspolitik zu einem Bereich gemeinsamer EU-Politik zu entwickeln. Nur dann können ausscherende nationale Interessen auch anderer EU-Staaten
hinreichend unter Kontrolle gebracht werden.
In diesem Sinne bitten wir im Hinblick auf die Beratungen unseres Antrags in den Ausschüssen um Ihre Zustimmung.
({4})
Ich möchte etwas
Ungewöhnliches tun: Ich möchte einmal, da wir am
heutigen Freitag um 14.20 Uhr noch voll besetzte Zuhörertribünen haben, unsere Gäste hier im Parlament recht
herzlich begrüßen.
({0})
Gleichzeitig bitte ich unsere Besucher, keine falschen
Rückschlüsse daraus zu ziehen, daß das Parlament nicht
so stark besetzt ist wie bei anderen Debatten. Wir hatten
eine lange Sitzungswoche mit vielen namentlichen Abstimmungen. Jetzt geht es hier um sogenannte erste Lesungen. Der Inhalt dieser Debatten ist allerdings nicht
weniger wichtig. Ich hoffe, Sie haben trotzdem Interesse
daran.
Nun gebe ich das Wort an den Kollegen Carsten
Hübner von der PDS.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Nach den zum Teil äußerst
erhitzten Kontroversen des heutigen Tages empfinde ich
es als ausgesprochen angenehm, daß wir in der jetzigen
Debatte wieder zum sachlichen Diskurs zurückgekehrt
sind und daß parteipolitische Motive in den Hintergrund
getreten sind.
({0})
Ich hoffe, daß das die Grundlage dafür ist, daß wir in
den Ausschüssen die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen und einen interfraktionellen Konsens zu erreichen versuchen. Dabei möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, daß diese Beratungen möglichst bald erfolgen müssen, wenn unsere parlamentarische Initiative
die Bundesregierung noch rechtzeitig erreichen und
während des besonderen Rahmens der deutschen Ratspräsidentschaft wirksam werden soll.
Nun komme ich zu den Anträgen selbst. Dabei beschränke ich mich auf die derzeit strittigen Fragen des
Lomé-Nachfolgeprozesses. Zunächst - das ist wohl die
Kernfrage - zur Handelspolitik: In diesem Bereich gehen die Positionen erheblich auseinander. Die Anträge
der F.D.P. und der PDS bilden die jeweiligen Pole. Das
hat Herr Schüßler in seinem Beitrag soeben schon verdeutlicht.
Während die F.D.P. auf eine verstärkte Liberalisierung der Handelsbeziehungen im wirtschaftlichen Sinne,
also auf mehr deregulierten Markt und damit auf den
weiteren Ausbau des Rechts des Stärkeren setzt, erklärt
die PDS in ihrem Antrag einer völlig verfrühten und von
den entwicklungspolitischen Folgen her unüberschaubaren Transformation des bisherigen Lomé-Vertragswerkes in Freihandelsabkommen eine deutliche Absage.
Statt dessen sind Konzepte für eine zeitlich und ökonomisch angemessene und vertretbare Integration der
AKP-Staaten gefragt - Konzepte, die dem Ansatz einer
internationalen Strukturpolitik und einer gerechten
Weltwirtschaftsordnung verpflichtet sein müssen, Konzepte, die nicht auch noch die ärmsten und am wenigsten entwickelten Länder - um diese geht es nämlich völlig schutzlos der turbokapitalistischen Megamaschine
aussetzen
({1})
- das sind schöne Worte; wenn man sieht, was dies in
diesen Regionen anrichtet, dann kann man auch einmal
solche schönen Formulierungen wählen -,
({2})
die bekanntlich national wie international immer dann
am reibungslosesten läuft, wenn soziale, bildungs- und
kulturpolitische Standards abgebaut werden. Aus Sicht
meiner Fraktion ist dies ein verheerender Trend, der
nicht fortgeschrieben, sondern umgekehrt werden muß.
Dies setzt voraus, daß sich die Bundesregierung, die EU
und die AKP-Staaten gemeinsam in der WTO gegen
diesen Trend stemmen und eine verantwortliche Politik
erzwingen.
Ein zweiter wesentlicher Punkt, meine Damen und
Herren, ist der Aspekt der „good governance“. Sosehr
ich den Ansatz teile, daß die Zusammenarbeit zwischen
der EU und den AKP-Staaten und die Entwicklungszusammenarbeit allgemein an verbindliche rechtsstaatliche, menschenrechtliche, ökologische und demokratische Standards angebunden wird, so wichtig ist es aber
auch, dafür zu sorgen, daß bei den AKP-Partnern nicht
der Eindruck entsteht, diese Standards seien nur ein
weiterer und ganz perfider Trick, um den weiteren
Rückzug der Geberländer aus einer internationalen
Strukturpolitik zu legitimieren und eigene strategische
und ökonomische Interessen zu verschleiern.
Diesen Eindruck kann man eben nur dadurch ausräumen, daß man mit gutem Beispiel vorangeht. Aber
genau da gibt es, wie Sie wissen, auf EU-Ebene erhebliche Defizite - Defizite, die durch die mangelhafte
demokratische Verfaßtheit der EU zumindest befördert
werden und die auf strukturelle, nicht allein personelle
Mängel schließen lassen.
Gleichzeitig müssen wir uns aber dafür einsetzen, daß
der entwicklungspolitische Etat - möglichst erhöht - in
den regulären Haushalt der EU-Kommission eingestellt
wird, was zumindest ein erster Schritt in Richtung eines
höheren Stellenwerts der Entwicklungspolitik in der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU
sein könnte. Leider wurde dieser Schritt auch in der
Bundesrepublik längst noch nicht vollzogen, wie die
bisherigen Haushaltsberatungen gezeigt haben. Ich befürchte, das dicke Ende kommt erst noch.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir sind
uns einig, daß Lomé keine reine Erfolgsgeschichte war,
daß - dies ist mehrfach angesprochen worden - Reformen und Strukturveränderungen notwendig sind,
wenn wir im europäischen Zusammenhang angemessen
auf die Herausforderungen der nächsten Jahre reagieren
wollen. Stabex und Sysmin müssen transformiert
werden; den Frauen muß als einem wesentlichen Tragpfeiler von Entwicklungsprozessen vor Ort noch weitaus
mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch eine
bessere, eine strukturell effektivere und zielgenauere
Koordinierung der multilateralen und bilateralen Entwicklungszusammenarbeit steht dringend auf der Tagesordnung.
Ich bin mir sicher: In den Ausschußberatungen werden wir auf ebendiese Fragen zu sprechen kommen. Ich
hoffe, daß wir uns nicht nur kritisch und sachorientiert
auseinandersetzen werden, sondern daß wir auch zu
einem gemeinsamen, einem interfraktionellen Ergebnis
kommen. Dem Thema wäre es angemessen. Aber sicher
bin ich mir, was das anbetrifft, natürlich nicht. Ich hoffe.
Danke.
({3})
Das Wort hat der
Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die neue Bundesregierung will in der Entwicklungspolitik mehr auf Europa
und die internationalen Organisationen setzen. Herr
Schuster hat noch einmal betont, daß Europa in der
Entwicklungspolitik sozusagen erst jetzt richtig entdeckt
werde, und auch die Frau Ministerin hat in der Presse
erklärt, das sei der große Unterschied zu ihrem Vorgänger, Carl-Dieter Spranger.
({0})
Angesichts der Entwicklung in dieser Woche muß
man auf dieses Thema antworten. Der durch die nicht
mehr zu bestreitenden Skandale erzwungene Rücktritt
der Kommission der Europäischen Union hat überdeutlich gezeigt, daß die Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit und der Kompetenz der europäischen
Entwicklungszusammenarbeit in den vergangenen Jahren voll und ganz berechtigt war.
({1})
Die Kritik, wie sie zum Beispiel im Urteil des Rechnungshofes über die Arbeit des Europäischen Amtes für
humanitäre Hilfe zum Ausdruck kommt, war schließlich
mit ein Anlaß dafür, daß der Kommission im Parlament
die Entlastung verweigert wurde und daß sie nach Bestätigung dieser Kritik durch den Rat der Weisen jetzt
zurücktreten mußte.
Auch wenn Frau Köster-Loßack das höflich als „Akt
der Demokratie“ beschrieben hat, muß man doch sagen:
Dieser lange, schmerzhafte Prozeß bis zum Rücktritt ist
zunächst für all die eine Blamage, die sich bis zum
Schluß hinter diese Kommission gestellt haben. Es war
dringend notwendig, daß sie diesen Schritt endlich unternommen hat, nachdem im Parlament dafür leider keine Mehrheit zustande gekommen war.
({2})
Nun will ich bei aller berechtigten Kritik nicht bestreiten: Die Europäische Union hat eine Reihe komparativer Vorteile gegenüber rein nationalen Entwicklungspolitiken. Nur, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land sind zu Recht äußerst sensibel, ob die von
ihnen für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung gestellten Gelder tatsächlich den Menschen in den
ärmsten Ländern der Welt zugute kommen.
Man muß heute feststellen, daß diese Kommission,
die jetzt endlich zurückgetreten ist, einen riesigen Vertrauensverlust verursacht hat. Ich will es einfach noch
einmal erwähnen: Da wurden Gelder, die für die humanitäre Hilfe oder die Entwicklungszusammenarbeit vorgesehen waren, zur Finanzierung von „U-Booten“ umgeleitet. Das sind in diesem Fall nicht die U-Boote, von
denen Frau Köster-Loßack sprach, sondern damit sind
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeint, die außerhalb
des Stellenplans eingesetzt wurden. Da läßt es sich nicht
mehr feststellen, ob Nahrungsmittel und medizinische
Hilfsgüter tatsächlich die vorgesehenen Empfänger erreicht haben, weil Überwachung und Kontrolle ungenügend waren. Da wursteln mehrere Organisationen und
Institutionen im gleichen Entwicklungsland mit den
gleichen EU-Mitteln nebeneinander her, ohne daß koordiniert und kooperiert wird.
Deshalb hat das Europäische Parlament bekanntlich
bereits im vergangenen Jahr Konsequenzen gefordert.
Die Kommission hat diese rigoros abgelehnt.
({3})
Diese Arroganz der Kommission ist letztlich der Auslöser für ihren Sturz. Ich finde zu Recht: Hochmut kommt
vor dem Fall.
({4})
Oftmals wird davon gesprochen - auch heute ein bißchen -, eine verbesserte europäische Entwicklungszusammenarbeit sei vor allem eine Frage von mehr Geld.
({5})
- Ich komme darauf. - Erst am 5. März dieses Jahres hat
die neue Leitung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Kollegen Hedrich aus der CDU/CSU-Fraktion als - ich
zitiere - „hochgradig unseriös“ bezeichnet,
({6})
weil er - so die Begründung in der Erklärung des
Ministeriums - die geplante Erhöhung der deutschen
Mittel für den europäischen Entwicklungsfonds kritisiert
habe. Nun muß ich feststellen: Der Schock des Kommissionsrücktritts hat offensichtlich auch bei Sozialdemokraten und Grünen eine andere Politik ausgelöst; denn
wir haben uns in dieser Woche gemeinsam darauf
verständigt, die Mittel im Haushaltsansatz etwas zu
senken.
Eine Reform der europäischen Entwicklungszusammenarbeit muß bei Strukturen wie bei Inhalten erfolgen;
ansonsten ist möglicherweise jeder zusätzliche Euro verschwendet. Für die Reform der Strukturen brauchen
wir, wenn wir eine neue Kommission bilden - wir fordern den Bundeskanzler auf, dafür zu sorgen, daß das
rasch erfolgt -, eine Zusammenführung der für die Entwicklungszusammenarbeit zuständigen Stellen; wir
brauchen humanitäre Hilfe in einer Hand; wir müssen
Schluß machen mit der Zersplitterung in eine Vielzahl
von Kommissaren, Generaldirektionen und unterschiedlichen Dienststellen.
({7})
Herr Dr. Schuster hat es als eine großartige Sache erwähnt, die in Europa auf Beifall stoße, daß die Ministerin so gerne ihren politischen Lehrmeister zitiert und
von Entwicklungspolitik als Friedenspolitik spricht.
({8})
Verehrte Frau Ministerin, ich denke, die entscheidende
Frage wird sein, wie sich die Entwicklungszusammenarbeit dem neuen Instrument der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik des Amsterdamer Vertrages zuordnet.
({9})
Ich meine, daß die entwicklungspolitische Zusammenarbeit ein wesentlicher Bestandteil und gleichberechtigtes Element der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union sein muß.
({10})
Ich sehe dabei weniger die Gefahr, daß die Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere die humanitäre Hilfe, instrumentalisiert werden könnte, als - auf Grund der
Erfahrung der letzten Jahre - vielmehr die Gefahr, daß
sich Eitelkeiten und Rivalitäten zwischen den Akteuren
zum Schaden der Betroffenen auswirken.
({11})
Jetzt möchte ich die Zusammenarbeit mit den Kirchen und Nichtregierungsorganisationen ansprechen.
Frau Ministerin, ich gehe davon aus, daß Sie uns am
Schluß der Debatte noch einen Bericht über das Treffen
mit den Nichtregierungsorganisationen in Berlin geben.
Ich will schon vorher folgendes feststellen: Schöne
Worte sind zuwenig. Für die Zusammenarbeit der Europäischen Kommission mit den Nichtregierungsorganisationen gibt es eigentlich nur ein Wort: Chaos. Sie brauchen nicht zu erschrecken: Ich meine jetzt nicht das
Chaos in der rotgrünen Koalition, sondern ich meine das
Chaos in Brüssel.
Seit Jahren wird den Nichtregierungsorganisationen
seitens der EU-Kommission das Leben eher schwergemacht: viel zu lange Wartezeiten für die Genehmigung
wichtiger Projekte; man richtet Consulting-Büros in den
einzelnen Mitgliedstaaten ein; man löst sie zum 30. Juni
dieses Jahres vorzeitig auf; man will in Brüssel ein neues großes Büro einrichten, laut Ausschreibung doppelt
so teuer wie das bisherige; zum 1. Januar 2000 sollen die
Verträge im Rahmen der Kofinanzierung auf eine neue
Basis gestellt werden. - Also: Rein in die Kartoffeln,
raus aus den Kartoffeln. Das ist keine verläßliche Politik, erst recht keine Partnerschaft mit Nichtregierungsorganisationen, wie wir sie verstehen.
Im Bereich der humanitären Hilfe wird von der EUKommission über Jahre eine französische Hilfsorganisation einseitig bevorzugt. Der Direktor des Amtes kann
unwidersprochen behaupten, humanitäre Hilfe im Rahmen der Europäischen Union sei grundsätzlich französisch. Verfolgt wird zudem ein rein interventionistischer
Ansatz. Herr Dr. Schuster hat ein schönes Beispiel mit
dem Brunnen aus dem Sudan genannt. Jede Nachhaltigkeit und Entwicklungsorientierung fehlt.
Meine Damen und Herren, Nichtregierungsorganisationen müssen echte Partner in der Entwicklungszusammenarbeit und bei der humanitären Hilfe werden.
Die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen selbst
sollte sich meines Erachtens europäisieren. Da hätte
auch die EU-Kommission eine Aufgabe, nämlich dazu
beizutragen, daß transnationale Zusammenarbeit von
Nichtregierungsorganisationen gefördert wird.
Wir brauchen - auch das ist schon angesprochen
worden - ein neues und besseres System der Evaluierung. Prüfberichte, in denen nur die eigenen Wunschvorstellungen bestätigt werden und keine kritische
Bewertung stattfindet, sind wertlos. Auch das hat der
EU-Rechnungshof zu Recht kritisiert. Notwendig sind
mehr unabhängige Evaluierungen und keine Gefälligkeitsgutachten. Es gibt den schönen Spruch, eine Allerweltsweisheit: Jede Krise birgt in sich auch eine Chance.
So ist der Rücktritt der Kommission in der Tat eine
Peter Weiß ({12})
Chance für einen Neuanfang auch in der europäischen
Entwicklungszusammenarbeit, die wir gemeinsam nutzen sollten. Mein Wunsch ist: Von Europa sollte man
zielgerichtetes entwicklungs- und partnerorientiertes
Handeln und nicht Bürokratismus und Interventionismus
lernen können.
Vielen Dank.
({13})
Auch dem Kollegen
Peter Weiß darf ich zu seiner ersten Rede hier im Hause
gratulieren.
({0})
Nun gebe ich dem Kollegen Detlef Dzembritzki für
die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Weiß, ich habe
aufmerksam zugehört und bei Ihrer Rede an den von
Herrn Dr. Schuster schon angesprochenen Besuch in
Brüssel gedacht. Ich will Ihnen offen sagen: Ich war bei
dem Besuch in Brüssel überrascht, daß, jedenfalls für
mich, nachvollziehbare strategische Konzepte über Entwicklungspolitik nicht erkennbar waren. Eine Konsequenz daraus ist für mich, daß wir unseren Einfluß in
Richtung Brüssel mit Sicherheit intensiv wahrnehmen
müssen, wenn wir dort weiterhin eigene Vorstellungen
realisieren wollen und wenn wir erreichen wollen, daß
dort tatsächlich eine sinnvolle, vernünftige, nachvollziehbare Entwicklungspolitik gemacht wird.
Nachdem Sie aber die Kommission und das Verhalten der jetzigen Bundesregierung in dieser Massivität
kritisiert haben, kann ich eigentlich nur den Rückschluß
ziehen, daß in den zurückliegenden Jahren von Ihrer
Seite aus offensichtlich verhältnismäßig wenig Einfluß
auf die Institutionen in Brüssel genommen wurde, um
bestimmte Entwicklungen nicht in der Weise eintreten
zu lassen, wie es geschehen ist.
({0})
Angesichts der zu bewältigenden Situation ist festzuhalten, daß trotz der knappen finanziellen Ressourcen
nach wie vor Möglichkeiten vorhanden sind und - da
stimme ich dem Kollegen der F.D.P.-Fraktion zu - daß
der Einsatz lediglich von Finanzen die notwendigen
Veränderungen nicht bringen wird. Kreativität, Engagement und gemeinsame Konzepte sind gefragt. Das
große Verdienst der Bundesministerin Wieczorek-Zeul
liegt gerade darin, daß sie sich dieser Herausforderung
gestellt und diese Aufgabe angepackt hat.
({1})
Nach den Verhandlungen in Dakar sind wir auf dem
richtigen Weg. Die für das Post-Lomé-Abkommen festgelegten Eckpunkte sind wirklich eine Chance, hier
weiterzukommen, weil sie die Europäer zu mehr Zusammenarbeit mahnen. Es geht um die grundlegende
Reform der Beziehungen zwischen EU und AKPStaaten. Ich finde es gut, daß hier im Hause Einigkeit
darüber herrscht, daß die EU nicht quasi der 16. Staat in
Europa sein und nicht als solcher agieren darf, sondern
daß die EU vielmehr für die Bündelung und Koordination der EU-Entwicklungspolitik verantwortlich sein muß.
({2})
Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen wollen eine
kohärente Gesamtpolitik. Dem Europäischen Parlament,
der Kommission und allen 15 nationalen Parlamenten
muß künftig eine Übersicht über die Gesamtmittel der
europäischen Entwicklungszusammenarbeit vorgelegt
werden. Eine effizientere Entwicklungszusammenarbeit
setzt Transparenz voraus. Die Kommission wurde schon
häufig genug gescholten; ich denke, daß wir alle ein Interesse daran haben, daß gerade auch die Betrugsvorwürfe im ECHO-Kommissariat bzw. in der Generaldirektion restlos aufgeklärt werden. Andererseits darf man
wiederum nicht übersehen, wie wichtig es ist, die ideell
und über Soforthilfen tätige ECHO-Generaldirektion als
Instrument in diesen weltweiten Krisen- und Katastrophenbereichen zu haben.
Die Ziele der Reform der europäischen Entwicklungspolitik unter unserer Ratspräsidentschaft sind Krisenprävention und Konfliktmanagement sowie Förderung der Handelsbeziehungen. Beides setzt Demokratisierung voraus. Was heißt das im einzelnen?
Nach unserer Meinung muß Krisenprävention ein
operativer Bestandteil der europäischen Entwicklungszusammenarbeit werden. Die EU-Mitgliedstaaten müssen sich auf ein gemeinsames Konzept einigen. Herr
Kollege Weiß, ich muß das noch einmal sagen: In Ihrem
Antrag fehlt diese Friedenspolitik als Hinweis und als
wichtiges Moment; Sie können das noch einmal nachlesen. Wir hingegen fordern diese Friedenspolitik gerade
angesichts der Bürgerkriege und Konflikte, wie wir sie
zum Beispiel in Afrika oder jetzt in Indonesien erleben
müssen. Solche Konflikte zerstören die Ergebnisse einer
jahrelangen Förderung. Deshalb wollen wir die Ursachen der Krisen an der Wurzel bekämpfen. Da ich höre,
daß in dieser Woche in Osttimor keine Chirurgen und
keine ärztliche Versorgung zur Verfügung stehen, bitte
ich die Bundesregierung - möglicherweise mit EU-Hilfe
-, gute Dienste anzubieten. Denn wir wollen die Wurzel
der Gewalt bekämpfen, und Hoffnungslosigkeit ist häufig eine dieser Wurzeln.
Die Entwicklungs- und Wirtschaftspartnerschaft muß
aber um die politische Dimension erweitert werden.
Deshalb ist die Demokratisierung in den Entwicklungsländern der Dreh- und Angelpunkt. Der politische Dialog ist das Schlüsselwort und die Grundlage für eine
partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen EU und
AKP-Staaten. Es geht uns nicht darum, dort ein Spiegelbild Europas zu schaffen. Vielmehr müssen traditionelle
und demokratische Strukturen verzahnt werden. Die
Entwicklungsländer sollen sich in der Zusammenarbeit
wiederfinden. Unsere Forderungen nach Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der MenschenPeter Weiß ({3})
rechte sollen einen internationalen Mindeststandard garantieren. Bei Verletzung dieser Standards muß eine
gemeinsam mit den AKP-Staaten vereinbarte Suspendierungsklausel greifen. Gelder können dann ausgesetzt
oder gestoppt werden.
Ein zweiter wesentlicher Punkt bei der Reform der
europäischen Entwicklungszusammenarbeit sind die
Handlungsbeziehungen. Die Armutsbekämpfung ist für
uns zentral. Die Sicherung der Ernährung in den Entwicklungsländern selbst muß - auch als Wirtschaftsund Arbeitsmarktfaktor - Vorrang haben. Die Wirtschaftsinteressen der EU müssen das berücksichtigen.
Übrigens fehlt auch dieser Aspekt in den Oppositionsanträgen. Wichtigstes Instrument ist für uns die Agrarund Fischereipolitik. Das bedeutet Abbau von Subventionen und Öffnung unserer Märkte. Es kann doch
nicht sein, daß in Entwicklungsländern Viehwirte ihr
Rindfleisch nicht verkaufen können, weil billigeres
subventioniertes Fleisch aus den EU-Ländern importiert
wird. Solange das so ist, leisten wir keine Hilfe.
({4})
Es sind Handelsregeln notwendig, die an das Entwicklungsniveau der einzelnen Länder flexibel anpaßbar
sind. Wir wollen den Entwicklungsländern den Zugang
zum Weltmarkt erleichtern. Unsere soziale Marktwirtschaft wird sich daran messen lassen, ob wir dazu bereit
und in der Lage sind. Insofern können wir über Kriterien
der sozialen Marktwirtschaft diskutieren.
({5})
Ich denke, daß es richtig ist, daß wir die kulturellen und
sozialen, aber auch die technischen Besonderheiten im
jeweiligen Land bei der Unterstützung berücksichtigen.
Denn nur so werden wir Akzeptanz bekommen, und nur
so werden wir erreichen, daß die Entwicklungsprojekte
in den betroffenen Ländern auch tatsächlich nachhaltig
sind.
Außerdem ist zu überlegen, ob ein EU/AKP-Verbindungsbüro bei der WTO angesiedelt werden sollte
und ob es nicht Sinn macht, Europa auch in der Weltbank eine eigene Stimme zu geben. Wir müssen auch
darauf achten, daß in diesen Bereichen nicht nur Finanzgewaltige, sondern auch Entwicklungsexperten sitzen.
Demokratie und wirtschaftliche Prosperität müssen
Hand in Hand gehen. Deshalb wollen wir die demokratische Entwicklung und Wirtschaftskraft in den Entwicklungsländern gleichzeitig stärken und Planungssicherheit
schaffen. Unter diesem Aspekt muß die Mittelvergabe
an einen längeren Zeitraum gebunden sein. Gleichzeitig
muß eine Fortschrittsevaluierung gesichert werden.
Es geht nicht nur um die EU. Auch die Beziehungen
der Entwicklungsländer untereinander müssen verbessert werden. Das Europa der Regionen ist ein Beispiel
dafür, wie wichtig regionale Zusammenarbeit ist.
Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben von
„good governance“ gesprochen. Mit der Politik der
„good governance“ können wir die Zivilgesellschaft
stärken. Aber „good governance“ gilt für alle beteiligten
Seiten. Insbesondere sind die Entwicklungsländer vor
Korruption von dritter Seite zu schützen. Es treibt einem
die Schamröte ins Gesicht, wenn eine afrikanische Ministerin, die übrigens in ihrem Land für die Ölförderung
zuständig ist, nach nur drei Wochen Amtszeit ein Angebot von europäischen Gönnern bekommt, sich in Genf
ein Konto einrichten zu lassen.
({6})
Dazu fällt mir nur noch eine Aussage von Gustav Heinemann ein:
Wer mit einem Finger auf andere zeigt, weist mit
drei Fingern auf sich selbst zurück.
Die Interessen beider Seiten müssen in einem gleichberechtigten Dialog berücksichtigt werden. Die Atmosphäre, die ich bei der Lomé-Konferenz in Dakar erlebt
habe, stimmt mich optimistisch, daß dies möglich ist.
Das ist auch ein Verdienst unserer Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Kompliment und Anerkennung!
({7})
Wir wollen aber auch lokale und regionale Gruppen
in die politische Vorbereitung unserer Entwicklungshilfemaßnahmen stärker einbeziehen. Machen wir auch
Mut für kommunale Partnerschaften zwischen Städten
der EU und AKP-Staaten! Meine eigenen Erfahrungen
aus meinem Wahlkreis, der zusammen mit einer französischen Partnerstadt und mit einer Region in Burkina
Faso Entwicklungszusammenarbeit betreibt, sind überzeugend. Wer gesehen hat, wie junge Leute nach vier
Wochen Aufenthalt in dieser afrikanischen Region verändert zurückkommen, nachdem sie in einem armen
Land Gastfreundschaft, Herzlichkeit und eine andere
Kultur erlebt haben, der stellt fest, daß es sich bei der
Entwicklungszusammenarbeit auch um ein Geben und
Nehmen handelt, nicht nur um ein Geben. Das muß auch
eine der Grundlagen unserer Entwicklungspolitik sein.
({8})
Die europäischen Länder müssen ihre Konzepte austauschen. Sie müssen gemeinsam vor Ort zu einer abgestimmten Zusammenarbeit gelangen. Nicht die Addition,
sondern die Vernetzung und Verzahnung von Entwicklungshilfe führt zu nachhaltigem Erfolg. Wichtig ist, daß
wir dies in einer Partnerschaft betreiben.
Lassen Sie mich zum Schluß meine zentralen Forderungen wiederholen: erstens Bündelung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, zweitens Reform
der europäischen Entwicklungszusammenarbeit durch
Einführung von Krisenprävention und Förderung der
Handelsbeziehungen, drittens Förderung der Kohärenz
der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, viertens
Steigerung der Effektivität durch flexiblere Instrumente.
Wenn wir hierbei Erfolg haben, arbeiten wir erfolgreich
für die Demokratisierung, die wir alle wollen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Auch dem Kollegen
Dzembritzki möchte ich zu seiner ersten Rede gratulieren.
({0})
Nun gebe ich der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau Heidemarie
Wieczorek-Zeul, das Wort.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine EURatspräsidentschaft dauert sechs Monate. Für eine EUEntwicklungspolitik - das wissen Sie alle, Herr Hedrich,
und auch die, die vorher in diesem Bereich tätig waren braucht man jedoch lange Entwicklungslinien und auch
einen langen Atem sowie Visionen, Perspektiven, aber
auch Hartnäckigkeit und Zähigkeit gegenüber allen Widerständen und Widerwärtigkeiten, um die eigene Linie
durchhalten zu können.
Wir haben die deutsche Ratspräsidentschaft vorbereitet. Wir haben im November letzten Jahres beim ersten Ministerrat der Europäischen Union nach dem Bonner Regierungswechsel sozusagen im Vorfeld der Troika
mitgearbeitet. Wir werden auch die finnische Ratspräsidentschaft begleiten, die ab Juli die Arbeit übernimmt.
Wir haben selbstverständlich auch im Vorfeld der Formulierung der Anträge diese Positionen während unserer
Ratspräsidentschaft seit Januar vertreten. Da ich im
AwZ dazu immer Berichte abgebe, verzichte ich jetzt
auf die Details in diesem Bereich. Sie wissen, daß wir in
Dakar - das ist wichtig; ich bitte darum, das positiv zur
Kenntnis zu nehmen - sehr viel weitergekommen sind,
als man auf Grund des Ausgangsmandats der EU und
auch der AKP-Staaten befürchten mußte.
Ich möchte Sie, Herr Brauksiepe und alle Kolleginnen und Kollegen, die zu diesem Thema gesprochen haben, bitten, keine künstlichen Differenzen aufzubauen.
Wir können uns über wirklich notwendige Sachen streiten. Aber zur Entschuldung der ärmsten Entwicklungsländer könnte ich auch sagen, daß das, was die
vorherige Bundesregierung gemacht hat - ein Schuldenerlaß von 9 Milliarden DM -, noch aus dem UNCTADBeschluß von 1978 stammt, der in die Regierungszeit
der sozialliberalen Koalition fällt. Meine Güte, was für
diejenigen Kinder, die verhungern, oder für diejenigen
Menschen, die in Armut leben, wichtig ist, ist, daß wir
schnell einen Schuldendiensterlaß von 30 Milliarden
DM auf den Weg bringen und die frei werdende Geldsumme in das Gesundheitswesen der entsprechenden
Länder umorientieren. Das würde sieben Millionen Kindern das Leben retten.
({0})
Es ist in Ordnung, wenn Sie uns in der Entschuldungsstrategie gegenüber armen Entwicklungsländern unterstützen. Diesen Plan wollen wir auf dem G-7-Gipfel
verwirklichen.
In diesem Bereich gibt es interessante Unterstützung,
zum Beispiel die von James Wolfensohn, dem Präsidenten der Weltbank, von vor wenigen Tagen in Berlin.
Und der amerikanische Präsident hat gesagt, es bedürfe
eines Schuldenerlasses im Umfang von 70 Milliarden
DM. Wenn der G-7-Gipfel nur diesen einen Beschluß
wirklich in Politik umsetzen würde, dann hätten wir in
unserer Entwicklungspolitik etwas erreicht. Das wäre
gut so. Darauf könnten alle stolz sein.
({1})
Werner Schuster hat vom Tatort Afrika gesprochen.
Es geht auch hier um lange Linien, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Der Konvention gegen die Antipersonenminen, gegen Landminen ging ein ganz langer
Kampf voraus. Wir haben es aber jetzt durchgesetzt, daß
Landminen geächtet werden, daß kein Transfer, keine
Produktion und keine Verlagerung in die entsprechenden Länder mehr stattfinden darf. Wir fordern alle Länder, die diese Konvention noch nicht unterschrieben haben - die USA, China und Rußland -, auf, sich dieser
Konvention anzuschließen, damit wir in diesem Bereich
vorankommen.
({2})
Ein weiterer Punkt ist mit dem vorherigen vergleichbar, wenn auch nicht identisch. Es geht darum, dafür zu
sorgen, erst einmal in der EU und dann hoffentlich auch
UN-weit eine Konvention zustande zu bringen, daß dem
millionenfachen Transfer von Kleinwaffen - so werden
sie verniedlichend genannt; es geht um Gewehre, Handfeuerwaffen und Pistolen - ein Ende gemacht wird. Das
ist die Voraussetzung dafür, daß sich afrikanische Länder nicht länger gegenseitig niedermetzeln und Kindersoldaten nicht mehr mit Gewehren und Pistolen in Kriege gegeneinander gehetzt werden.
Lassen Sie uns alle gemeinsam dazu beitragen, diesem Skandal und diesen Verbrechen ein Ende zu setzen.
Wenn das geschieht, dann haben wir doch etwas erreicht!
({3})
Dieses Problem beschäftigt doch jeden von uns und
kann doch niemanden gleichgültig lassen. Wir haben es
hier mit europäischer Entwicklungspolitik zu tun; denn
kein Land kann dabei allein vorangehen.
Zu dem, was in der Ratspräsidentschaft unmittelbar
ansteht, möchte ich sagen: Wir werden unsere Pläne umsetzen. Es geht vor allen Dingen darum, die Wirksamkeit der europäischen Entwicklungszusammenarbeit zu
verstärken. Es liegen mittlerweile die Berichte zur
Evaluierung der EU-Entwicklungspolitik vor. Ich
möchte Ihnen drei wichtige Elemente nennen, die wir
umsetzen werden.
Das erste ist, daß die europäische Entwicklungszusammenarbeit im Vergleich zu anderen Gebern nicht
ausreichend strategisch konzipiert ist.
Das zweite ist - das wundert uns nicht, es ist aber
wichtig, daß das jetzt gesagt wird -, daß die fehlende
Abstimmung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten
den Wettbewerb zwischen den Gebern erhöht und damit
die Verwaltungen der Entwicklungsländer belastet. Das
ist eine absurde Situation.
Das dritte ist, daß eine Entwicklungszusammenarbeit
aus einem Guß geschaffen werden muß. Sie muß zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten so abgestimmt
werden, daß sie zu mehr entwicklungspolitischem Einfluß auf die jeweiligen Länderkonzepte führt.
({4})
- Darauf wollte ich gerade kommen, Herr Kollege. Das Ministerium hat vor, während der deutschen Ratspräsidentschaft diese Ergebnisse aus der Evaluierung
der europäischen Entwicklungszusammenarbeit auf die
Tagesordnung des nächsten Ministerrates am 21. Mai zu
setzen und daraus entsprechende Schlußfolgerungen für
die Politik der Europäischen Union zu ziehen.
Vor zwei Tagen hatten wir - einer der Kollegen hat
darauf hingewiesen - ein informelles Treffen der EUEntwicklungsminister in Berlin, die auf meine Einladung hin dort waren. Es bestand Einvernehmen zwischen uns allen darüber, daß es jetzt, nachdem die EUKommission selber die Konsequenzen gezogen hat, an
der Zeit ist, daß nur eine Person, Mann oder Frau, in der
Europäischen Kommission für den Bereich der Entwicklungspolitik zuständig ist. Dafür sollten die Regierungen sorgen, damit es nicht durch die Zuständigkeit
unterschiedlicher Stellen für diesen Bereich zu Verzettelungen kommt. Wir alle waren der Meinung, daß dieses notwendig ist.
({5})
Weiter haben alle EU-Entwicklungsminister gesagt, daß
keine Zeitverzögerungen bei den Verhandlungen mit
den AKP-Staaten eintreten dürfen. Das sage ich hier
ausdrücklich noch einmal zu. Es bleibt bei dem entsprechenden Zeitplan.
Zur Ratspräsidentschaft. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie sind wahrscheinlich alle gleichermaßen
darüber empört: Wir reden alle über Kohärenz und da ist
es doch ein Skandal, daß die Unterzeichnung des Handelsabkommens mit Südafrika vor dem Ende der
Amtszeit Mandelas daran zu scheitern droht, daß manche Mitgliedstaaten die Begriffe „Port“ und „Sherry“ für
sich reserviert sehen wollen. Da ist ein Mann jahrzehntelang im Gefängnis und schafft es dann, die Demokratie
in Südafrika voranzubringen und die Apartheid zu beseitigen, Präsident Mandela, und die Europäische Union
soll nicht imstande sein, dieses Handelsabkommen
mit Südafrika so rechtzeitig abzuschließen, daß dieses
Ereignis noch in die Amtszeit von Präsident Mandela
fällt? Ich fordere alle Regierungen auf, dazu beizutragen, daß dieses Handelsabkommen endlich beschlossen
wird.
({6})
Vorhin wurde ich von Herrn Kollegen Weiß und
anderen nach dem informellen Treffen gefragt: Alle
waren davon begeistert, daß wir zum erstenmal auf der
Ebene der EU - das wurde noch während keiner
Ratspräsidentschaft praktiziert - ein Seminar mit den
EU-Entwicklungsministern, von denen fast alle da
waren, und Nicht-Regierungsorganisationen hatten. Zum
einen wurden die bürokratischen Hemmnisse innerhalb
der EU angesprochen. Wir werden dieses Problem
anpacken und versuchen, sie auszuräumen. Zum anderen
haben wir festgestellt, daß wir viele gemeinsame Ziele
haben: Zum Beispiel ist unser gemeinsames Ziel im
Verhältnis zu den AKP-Ländern, dort die Zivilgesellschaft auszubauen und in den Partnerländern dazu
beizutragen, daß Menschenrechte gesichert werden,
daß Demokratie und gute Regierungsführung verwirklicht werden und daß die Menschen in diesen Ländern
an den Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt
werden.
({7})
Eines ist doch sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es wird keinen Frieden und keine Entwicklung
geben, wenn nicht die breite Bevölkerung in diese
Entwicklungen einbezogen wird. Deshalb muß die
EU-Entwicklungspolitik die Beteiligung der Mitgliedsländer, der Entwicklungsländer und der NichtRegierungsorganisationen an diesen Prozessen voranbringen. Von unserer Seite aus werden wir das tun. Wir
haben mit dem Seminar deutlich gemacht, daß wir uns
ein gemeinsames Herangehen aller Beteiligten wünschen.
Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen.
({8})
Ich möchte mich dafür entschuldigen, daß ich etwas
länger gesprochen habe. Aber in dieser Debatte ging es
um Probleme, die uns allen am Herzen liegen. Ich bitte
um Nachsicht, daß meine Rede etwas länger als geplant
war. Eine ausreichende Behandlung dieses Themas sind
wir aber den Menschen, die ihre Hoffnung in uns setzen,
schuldig.
({9})
Herr Vizepräsident
Seiters hat Ihnen die verlängerte Redezeit zu Recht ein-
geräumt, Frau Ministerin, weil es eine wichtige Rede
war. Ich schließe mich seiner Auffassung an.
Damit ist die Aussprache beendet. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
14/538, 14/537 und 14/531 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der
Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/538 soll zu-
nächst dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Re-
aktorsicherheit überwiesen werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Petra Pau und der Fraktion der PDS
Sofortiger unbefristeter Abschiebestop für
Flüchtlinge in die Türkei
- Drucksache 14/331 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann-Kasten, Dr. Dietmar Bartsch, Eva
Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Einleitung eines internationalen Friedensprozesses zur Situation der Kurdinnen und Kurden in der Türkei
- Drucksache 14/470 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({1})
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Wir beginnen die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Vor allem viele Anfragen von Asyl- und
Flüchtlingsorganisationen und von Personen aus dem
Bereich des Kirchenasyls und die große Anzahl der Petitionen haben uns vor einigen Wochen dazu bewogen,
einen Antrag hinsichtlich eines sofortigen Abschiebestopps in die Türkei zu stellen. Wir wissen alle, daß es
inzwischen eine erhebliche Zuspitzung der Situation in
der Türkei insbesondere durch die Verschleppung von
Abdullah Öcalan gegeben hat.
Ich möchte meinen Beitrag mit einem Zitat aus einem
Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom Februar
1999 beginnen:
Angesichts der zur Zeit hochemotionalisierten Atmosphäre im Zusammenhang mit der Inhaftierung
Öcalans ist jedoch zu bedenken, daß ein erhöhtes
Risiko einer besonderen Gefährdung für abzuschiebende Türken kurdischer Volkszugehörigkeit besteht.
Wer es also ernst mit seiner Sorge um die Lage der
Menschenrechte in der Türkei meint, müßte schon allein
auf Grund dieses Satzes einen sofortigen Abschiebestopp fordern.
Ich möchte ganz kurz wenige Fakten zur aktuellen
Lage nennen: In der Zeit vom 16. bis 24. Februar, also
in der Zeit unmittelbar nach der Verhaftung von Öcalan,
hat es allein in der Westtürkei rund 3 370 Verhaftungen
gegeben. In der Türkei findet gegenwärtig eine Hetzkampagne unvorstellbaren Ausmaßes gegen die kurdische Bevölkerung statt. Kurdinnen und Kurden werden
verhaftet; Razzien finden statt; Kurdinnen und Kurden
werden in der Haft Repressionen ausgesetzt; Folter und
weitere Verfolgung stehen auf der Tagesordnung.
Wenn wir heute über Abschiebung sprechen, dann
möchte ich mich nicht nur auf die aktuelle Situation beziehen, sondern ich möchte Sie daran erinnern, daß Amnesty International erst vor kurzem darauf hingewiesen
hat, daß es in der Westtürkei eben nicht die Fluchtalternative in Richtung Westen gibt. Ich zitiere aus dem entsprechenden Bericht:
Immer weniger ist dabei ein konkreter Tatverdacht
gegen die Betroffenen ausschlaggebend.
- Gemeint sind die Kurden.
Immer wieder werden von Kurden bewohnte
Stadtteile abgeriegelt und kurdische Versammlungen und Feste gestört und willkürlich Personen
festgenommen. Die Festgenommenen sind während
der Polizeihaft sehr häufig Mißhandlungen und
Folter ausgesetzt.
Die kurdischen Provinzen sind von der türkischen
Regierung zu „verbotenen Orten“ erklärt worden. Das
heißt, gegenwärtig kann niemand nach Kurdistan reisen.
Delegationen, die dies in den vergangenen Tagen und
Wochen versucht haben, wurden direkt am Flughafen in
Diyarbakir abgefangen und per Flugzeug nach Ankara
und Istanbul zurückgebracht. Unsere Einschätzung ist
eindeutig: Mit den Verschärfungen bei der Einreise will
man derzeit verhindern, daß es Zeugen des Krieges in
Kurdistan gibt. Deswegen werden auch türkische Journalisten nicht ins Land gelassen. Der Ausnahmezustand
wird in einem Ausmaß durchgesetzt, daß es unmöglich
ist, gesicherte Informationen zu erhalten.
Ich möchte hier aber auch in aller Kürze darauf hinweisen, daß Bündnis 90/Die Grünen eine Dokumentation über abgeschobene Flüchtlinge herausgegeben haben, die nach der Abschiebung in der Türkei festgenommen, verfolgt und gefoltert wurden. Auch Fernsehreporter wie Michael Enger - ich kann leider nicht alle
aufführen - haben deutlich gemacht und durch Materialien bewiesen, daß Menschen, die aus Deutschland
abgeschoben wurden, Verfolgung erlitten haben. Ich zitiere:
Alle, die wir gefunden haben, sind direkt nach der
Ankunft in der Türkei inhaftiert und gefoltert worden.
Ich kann das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen hier im einzelnen nicht beschreiben, dazu fehlt
mir die Zeit. Ich möchte Sie daran erinnern, wie viele
Menschen Jahr für Jahr in der Türkei verschwinden.
Denken Sie an die Aktionen der „Samstagsmütter“, die
inzwischen keine Chance mehr haben, ihre Aktionen
ganz normal in Istanbul oder Ankara durchzuführen, da
sie permanent von Übergriffen betroffen sind.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
In dieser Situation - das wissen wir alle - hat es Ausschreitungen und Anschläge gegeben. Sicher wird das
niemand gutheißen. Dennoch bin ich der Meinung, daß
der Innenminister seine Position aufgeben muß, die
Kanthersche Linie fortzusetzen, die da hieß, daß man
allein einer Versicherung, einer Garantie der türkischen
Regierung, Abgeschobenen würde nichts passieren,
traut, der Garantie eines Staates, der - das wissen wir
ganz genau - Menschenrechtsverletzungen begeht, der
keine rechtsstaatliche Behandlung Menschen kurdischer
Herkunft kennt. Deswegen darf es nicht die Politik von
Herrn Schily sein, diese Politik fortzusetzen, wie es jedenfalls im Moment geplant ist.
({0})
Kommen Sie zum
Schluß, Frau Kollegin.
Ja. - Ich möchte zum Schluß
noch zwei Sätze zu unserem Antrag, der die friedliche
Lösung betrifft, sagen.
Sie alle wissen, daß die Bundesrepublik Deutschland
seit langem eine Politik betreibt, die zu Ursachen von
Flucht führt. Ich nenne hier die Waffenexporte. Ich
möchte Sie daran erinnern, daß erst jüngst eine Anfrage
der PDS genauso beantwortet wurde, wie von der alten
Bundesregierung: Man habe keine Erkenntnisse, daß
deutsche Waffen in Kurdistan eingesetzt werden. Ich
brauche Ihnen - so glaube ich - nicht zu sagen, wie
viele Beweise es dafür gibt und wie viele Beweise noch
vorgelegt werden können.
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluß kommen.
Ja, ich komme zum Schluß.
Ich bin der Meinung, daß es nur dann eine friedliche
Lösung geben kann, wenn sich dieses Haus im Rahmen
der deutschen EU-Präsidentschaft dafür einsetzt, endlich
eine internationale Friedenskonferenz durchzuführen.
Außerdem muß der Waffenexport gestoppt werden.
Und, meine Damen und Herren: Reden Sie nicht nur von
der Rechtsstaatlichkeit des Prozesses gegen Abdullah
Öcalan, sondern überprüfen Sie, was dort passiert.
Danke.
({0})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Rüdiger Veit, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Während Frau Zapf
zum außenpolitischen Teil des heutigen Themas reden
wird, will ich mich dem innenpolitischen Teil zuwenden.
Ich sage das Ergebnis vorweg: Die SPD-Fraktion
schlägt Ihnen vor, den Antrag der PDS an die zuständigen Ausschüsse zu überweisen. Ich tue das, obwohl ich
Ihnen den auf etwas Unmögliches gerichteten Antrag
sehr leicht sofort zur Ablehnung empfehlen könnte;
denn die Bundesregierung und ihr Innenminister sind für
die Anordnung eines wie auch immer gearteten Abschiebestopps im Sinne des § 54 des Ausländergesetzes
schlicht nicht zuständig.
Die Initiative liegt bei den obersten Landesbehörden, das heißt, bei den Innenministern der Länder. Diese
bedürfen der Zustimmung des Bundesministers des Innern nur dann und insoweit, als sie einen von ihnen angeordneten Abschiebestopp über sechs Monate hinaus
verlängern wollen. Unter welchen Voraussetzungen,
nämlich einstimmiges Wollen der Länderinnenminister
- wie Herr Kanther meinte -, Zweidrittelmehrheit Länderinnenminister - wie die Innenministerkonferenz politisch festgelegt hat - oder lediglich ein entsprechender
Vorstoß von einigen Bundesländern oder sogar nur einem Bundesland, dies dann zu geschehen hat, will ich
heute mit Ihnen nicht juristisch ausdiskutieren. Das können wir hier und heute auch nicht.
Eine politische Bewertung dieses Hauses und ein darauf gestütztes Signal des Bundesinnenministers aber
würde zumindest dazu führen, daß sich die Länderinnenminister in ihrer humanitären Verantwortung nicht
mehr voreinander und auch nicht mehr hinter dem Bundesinnenminister verstecken können. Deswegen will ich
das in Ihrem Antrag sich verbergende Anliegen nicht
mit einem formalen Hinweis abbügeln, zumal der politische Schutt von Unglaubwürdigkeiten und Widersprüchen im außen- wie innenpolitischen Handeln den Türken und den Flüchtlingen gegenüber, den uns die Vorgängerregierung und die sie tragende Mehrheit hinterlassen hat, endlich abgeräumt und eine neue, glaubwürdige Position erst wieder aufgebaut werden muß.
({0})
Schließlich muß man es schon fast zynisch nennen,
daß einige Innenminister, insbesondere von B-Ländern,
kurdische Flüchtlinge unter zum Teil heftigem Zuspruch
des früheren Bundesinnenministers nach Kräften in die
Türkei abgeschoben haben, die sich tragischerweise gerade in ihrer alten Heimat mit ebenfalls aus Deutschland
stammenden Waffen, zum Beispiel aus ehemaligen
NVA-Beständen, konfrontiert sahen.
({1})
- Eben. - Die frühere Bundestagsmehrheit und die Regierung folgten eher der Einschätzung des NATOPartners, Europa- und OSZE-Mitglieds und EUAspiranten Türkei, die Problematik der Unterdrückung
des kurdischen Volkes reduziere sich auf bloße Terrorismusbekämpfung. Dies hat allerdings mittlerweile
mehr als 40 000 Menschenleben gekostet.
In diesem Kontext unterscheidet sich auch der letzte
Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. September 1998 praktisch durch nichts von früheren. Die darin
fast inflationär gebrauchten Beruhigungsformeln stanUlla Jelpke
den nicht selten im krassen Gegensatz zu dem, was Betroffene, Menschenrechtsorganisationen oder Reisende
aus der Türkei an Einschätzungen berichtet haben.
({2})
Wohl aber - das ist richtig, Frau Jelpke - enthält der Adhoc-Lagebericht vom 25. Februar 1999 in Kurzfassung er umfaßt eine Seite - neue Gesichtspunkte. Daher ist
jetzt eine differenzierte Betrachtung des durch den Antrag der PDS angesprochenen Problems angesagt.
Dazu gehört vorab der Hinweis, daß es sich natürlich
nicht um einen sofortigen und unbefristeten Abschiebestopp für sämtliche Flüchtlinge aus der Türkei handeln kann. Es geht vielmehr um die friedlich bei uns lebenden Türken, die keinen rechtlich gesicherten Aufenthaltsstatus haben, genauer gesagt: um die zirka 70 bis 80
Prozent aller in die Türkei abgeschobenen bzw. noch
abzuschiebenden Flüchtlinge kurdischer Volkszugehörigkeit. Für sie ist im Lichte einer aktuellen Einschätzung des Auswärtigen Amtes die Frage nach der Rechtfertigung eines Abschiebestopps - wohlgemerkt: zu initiieren durch die Länder - genauestens zu prüfen. Ich
hoffe im übrigen sehr, daß die herrschende Verwaltungsrechtsprechung ihre Auffassung von der angeblich sicheren Fluchtalternative in der Westtürkei als
Grund für die Nichtgewährung des Asylrechtes ebenfalls
neu bewertet.
({3})
Die SPD-Bundestagsfraktion geht zum einen davon
aus, daß diese Koalition und ihr Bundesinnenminister zu
dem Thema Abschiebestopp zweifelsfrei andere Vorstellungen haben als die Vorgängerregierung. Allein
deswegen bedarf es einer inhaltlichen Befassung.
Zum anderen erwarten wir von einem grünen Außenminister einer rotgrünen Koalition, daß die von ihm
weiterzugebende Lageeinschätzung des Auswärtigen
Amtes ohne Rücksicht auf die Interessen der Rüstungsindustrie und ohne Rücksicht auf außenpolitische Interessen Dritter die Menschenrechtslage in der Türkei ungeschminkt und so realitätsnah wie möglich darlegt.
Zum dritten und letzten ist seit der Festsetzung des
PKK-Führers Abdullah Öcalan, wie wir alle fast täglich
den Nachrichten entnehmen können, eine beklagenswerte, von allen Seiten zu verantwortende Verschärfung
der Menschenrechts- und Sicherheitslage eingetreten.
Mit diesen gebotenen Differenzierungen sollten wir
nach der Bewertung eines neuen Lageberichtes aus dem
Auswärtigen Amt, der dem Vernehmen nach zur Zeit
auf der Leitungsebene behandelt wird und womöglich
schon unterschrieben ist, in den Ausschüssen beraten.
Die Koalitionsfraktionen behalten sich vor, alsdann eine
eigene parlamentarische Initiative zu diesem Thema einzubringen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das war Ihre erste
Rede, Herr Kollege Veit. Ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses.
({0})
Ich erteile der Kollegin Sylvia Bonitz, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die PDS
schlägt vor, einen sofortigen, unbefristeten und bedingungslosen Abschiebestopp für Flüchtlinge in die Türkei
zu erlassen. Sie fordert daneben die Einleitung eines internationalen Friedensprozesses zur Kurdensituation in
der Türkei. Doch die Lösung dieses außenpolitischen
Problemes ist längst zu einem innenpolitischen Brandherd in Deutschland geworden.
Die PDS ignoriert diese Brisanz.
({0})
Sie ignoriert diese Brisanz in einer Zeit, in der die Bilder
der gewaltsamen Kurdenproteste und ihrer Opfer noch
allgegenwärtig sind, in der die Anhänger der verbotenen
PKK die Demonstrationsfreiheit für ihre Angriffe gegen Menschen, Einrichtungen und die freiheitliche
Grundordnung unseres Landes mißbrauchen
({1})
und in der unsere volle Solidarität unseren Polizeibeamten gilt, die in diesem schwierigen Einsatzfeld Dienst
tun.
({2})
Kein normaler Bürger auf der Straße kann mehr verstehen, warum die Gewalttäter weiterhin in Deutschland
bleiben und unser Gastrecht mißbrauchen dürfen.
Schlimmer noch: Wir sehen mittlerweile hilflos zu,
wie sich einige kurdische Fanatiker, die sich durch eine
besonders hohe kriminelle Energie auszeichnen, erst
durch ihre Gewalttaten überhaupt das Recht verschaffen,
trotz Ausweisung in Deutschland bleiben zu dürfen, und
dies mit der abenteuerlichen Begründung, ihre Gewalttaten seien als besonderes Engagement für die PKK nun
auch dem türkischen Geheimdienst aufgefallen, so daß
diese „armen Menschen“ bei ihrer Rückkehr in die Türkei nicht mehr vor Folter oder Tod sicher sein könnten.
({3})
Weil das so ist, wird selbst der Bundeskanzler unschwer erkennen können, daß markige Sprüche, wie sie
zum Teil auch von Ihnen hier gekommen sind, allein
noch zu keiner Ausweisung und anschließenden Abschiebung geführt haben.
({4})
Weil das so ist, hätte die rotgrüne Bundesregierung wesentlich wirkungsvoller für eine menschenwürdige Behandlung der Kurden in der Türkei auftreten müssen, als
sie noch das Druckmittel des Auslieferungsersuchens im
Fall Öcalan in der Hand hatte.
({5})
Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Beseitigung
von Abschiebungshindernissen. Aber vermutlich fällt es
Herrn Minister Schily schwer, das Konsultationsverfahren als erfolgversprechenden Ansatz, den noch der frühere Innenminister Manfred Kanther geliefert hat, aufzunehmen und gerichtsfest fortzuentwickeln.
({6})
Angesichts der mit äußerster Brutalität ausgeführten
gewalttätigen Aktionen fanatischer Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK ist ein genereller Abschiebestopp von Kurden in die Türkei ein Signal in die falsche Richtung. Es könnte fatale Folgen haben, zumal im
Falle einer Verurteilung Öcalans mit weiteren massiven
Protesten zu rechnen ist.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Danke schön.
Die in § 53 Ausländergesetz festgelegten Abschiebungshindernisse verlangen
zudem, daß für einen zur Abschiebung anstehenden
Ausländer die konkrete Gefahr - ich wiederhole: die
konkrete Gefahr - der Folter oder Todesstrafe besteht.
Für die Verhängung eines sofortigen generellen Abschiebestopps bleibt daher schon aus diesem Grunde
kein Raum.
Die PDS mißachtet nicht nur den Anspruch unserer
Bevölkerung, vor solchen Gewalttätern geschützt zu
werden. Nein, sie schlägt mit ihren Anträgen vielmehr
all denjenigen Flüchtlingen ins Gesicht, die vor dem
Hintergrund teilweise erschütternder Einzelschicksale
Zuflucht in unserem Land gesucht haben, um sich hier
in unsere Ordnung einzufügen und die Spielregeln unseres Landes zu respektieren. Diese Menschen wie auch
wir von der CDU/CSU-Fraktion blicken mit Unverständnis, Sorge und Entsetzen auf die wenig friedlichen
Gäste in unserem Land; denn wir gewähren ihnen
Schutz vor politischer Verfolgung und Flüchtlingselend
und lassen sie an den Wohltaten unserer umfassenden
staatlichen Sozialfürsorge teilhaben.
({0})
Aber wir können und wir wollen nicht hinnehmen, daß
diejenigen, die durch besondere Gewalttätigkeit aufgefallen sind, nun auch noch mit einem generellen Abschiebungsstopp belohnt werden sollen.
({1})
Frau Kollegin Bonitz, das war Ihre erste Rede im Parlament. Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Jetzt liegen mir zwei Bitten um Zwischenbemerkungen vor. Ich will sie gerne zulassen. Ich gucke nur alle
an, die zu ihrem Zug wollen, und frage mich, ob wir uns
dadurch Sympathie einhandeln.
({1})
Zur ersten Zwischenbemerkung der Kollege Veit,
bitte.
Frau Kollegin, ich möchte es
kurz machen.
Ich habe dies nicht in die Form einer Zwischenfrage
gekleidet, weil Sie heute ebenso wie ich Ihre erste Rede
gehalten haben; aber ich will Ihnen schon noch einmal
sagen: Von denjenigen, die auf Grund ihrer zum Teil
kriminellen PKK-Aktivitäten hier in Deutschland aufgefallen sind, kann nach Flüchtlingskonvention und Europäischer Menschenrechtskonvention sowieso niemand
abgeschoben werden. Das sollten Sie bitte wissen. Um
sie geht es nicht in dem Antrag, und um sie ging es auch
nicht in meinem Redebeitrag.
Ich will Sie davon in Kenntnis setzen, daß das Verfahren, das der frühere Bundesinnenminister mit seinem
früheren türkischen Kollegen verabredet hat, seit anderthalb Jahren, nicht erst seit September, deswegen nicht
mehr funktioniert, weil die türkische Regierung den
deutschen Abschiebebehörden überwiegend nicht mehr
antwortet. Schon deswegen geht das ins Leere. Das ist
keine Möglichkeit für die Zukunft.
Ich bitte um Nachsicht dafür, das hier noch einmal
sagen zu müssen.
({0})
Frau Kollegin, Sie
können nachher auf alle drei Zwischenbemerkungen
antworten.
Jetzt hat der Kollege Ströbele das Wort zu einer Zwischenbemerkung.
Ich bitte Sie, wenn Sie diese Ihre Thesen
hier vortragen, doch einmal klar und deutlich dem deutschen Volk und der deutschen Öffentlichkeit zu sagen,
daß jemand, der in Deutschland beispielsweise an einer
verbotenen Demonstration teilgenommen hat oder auch
andere Delikte begangen hat, nach Ihrer und der CDU
Auffassung in die Türkei abgeschoben werden soll,
auch wenn er dort gefoltert wird, indem ihm Elektroschocks versetzt werden, indem ihm die Hoden geklemmt werden, indem er in anderer Weise malträtiert
wird.
Das möchte ich dann auch einmal so hören und nicht
immer nur ein Drumherumgerede. Jeder soll sich vorstellen können, was Sie für richtig halten und was nicht.
({0})
Nun hat die Kollegin
Heidi Lippmann das Wort zu einer Zwischenbemerkung.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, Sie sind
noch sehr jung. Deswegen möchte ich sagen: Sie haben
vielleicht die Gnade der späten Geburt in Anspruch genommen.
16 Jahre lang ist von seiten der Bundesregierung Sie gehören einer der sie damals tragenden Parteien an eine ganz massive freundschaftliche Politik betrieben
worden. Im Rahmen eines bilateralen Abkommens zwischen der Bundesregierung und der türkischen Republik
und seit 1995 auch im Rahmen der NATO sind massiv
Waffen geliefert worden; das ist hier zum Teil schon
ausgeführt worden. Es hat eine massive finanzielle Unterstützung der türkischen Regierung gegeben, egal welche Partei dort an der Regierung war, womit diese in
dem Krieg in Kurdistan, der in den östlichen Provinzen
herrscht, einseitig unterstützt wurde. Das bedeutet: Die
CDU/CSU hat einseitig eine der Kriegsparteien unterstützt und jahrelang nicht die Verantwortung dafür übernommen. Sie ist anscheinend bis heute nicht bereit Ihre Ausführungen haben das gezeigt -, die Verantwortung hierfür zu übernehmen.
Von den Ausschreitungen, die es in den vergangenen
Wochen nach der Verschleppung Abdullah Öcalans in
die Türkei gegeben hat, hat sich die PKK häufig distanziert. Es sind einzelne fanatische Leute gewesen, die zu
Unfrieden beigetragen haben.
({0})
Aber Sie müssen das als Reaktion auf die Politik des
Schweigens und des Verharrens der Bundesrepublik
Deutschland sehen.
Sagen Sie doch hier und heute einmal ganz klar, was
die PKK von der UCK unterscheidet,
({1})
die im Moment als Verhandlungspartner in Rambouillet
mit am Tisch sitzt. Im Kosovo wird mit allen politischen
und militärischen Mitteln versucht zu intervenieren.
Weshalb gibt es keinerlei Bemühungen, Friedensmaßnahmen in der Türkei einzuleiten und den dringend erforderlichen Abschiebestopp damit in Verbindung zu
bringen? Ich möchte Sie bitten, einmal in die Türkei zu
fahren und sich vor Ort zu informieren, gerade angesichts der aktuellen Situation. Dann sprechen Sie vielleicht in ein, zwei Jahren anders, als Sie es hier heute
getan haben.
({2})
Frau Kollegin,
möchten Sie antworten? - Bitte sehr.
Ich möchte gerne auf einiges eingehen, weil ich meine, daß das nicht so im
Raum stehenbleiben kann.
Ich habe sehr deutlich ausgeführt, daß eine Abschiebung nur als Konsequenz einer Ausweisungsverfügung
erfolgen kann, und zwar unter den Voraussetzungen, die
in § 53 Abs. 1 des Ausländergesetzes dargelegt sind.
Dort steht, daß eine ganz konkrete Gefahr, wie möglicherweise bevorstehende Folter oder Tod, bestehen
muß. Das heißt, es geht nicht um ein generelles Abschiebungsverbot. Was Sie von der PDS heute verlangen, ist ein Abschiebestopp, der generellen Charakter
haben soll, der den Einzelfall nicht mehr berücksichtigt
und auch, wie Herr Kollege Ströbele es hier ausgeführt
hat, bei Ausländern anzuwenden wäre, die hier in
Deutschland Delikte begangen haben.
({0})
- Liebe Kollegin, ich habe Sie aussprechen lassen. Seien
Sie bitte so freundlich, auch mich aussprechen zu
lassen.
In den Fällen, in denen als Voraussetzung der Abschiebung eine Ausweisungsverfügung erlassen wird,
muß ein ganzes Register von Straftaten zugrunde liegen,
das unter Umständen zu einer Freiheitsstrafe von drei
Jahren führt. Das sind wirklich keine Delikte, sondern
schwere Straftaten.
Es geht nicht um Folter. Ich habe Ihnen gesagt, daß es
um die Einzelfallprüfung geht und nicht um einen generellen Abschiebestopp, der den Einzelfall nicht mehr
sieht.
Ich möchte auch noch kurz auf den Kollegen Veit
eingehen. Es wird deutlich, daß Herr Schily als neuer
Innenminister hier im Grunde genommen eine Chance
vertan hat, zusammen mit seinem Kollegen im Bereich
des Auswärtigen. Denn die Bundesregierung hatte im
Fall Öcalan das Druckmittel des Auslieferungsersuchens in der Hand. Wir hatten einen internationalen
Haftbefehl. In dem Moment, als wir ihn noch hatten
und damit die Chance, diesen Auslieferungsantrag zu
stellen - das war bis zum Dezember letzten Jahres der
Fall -, hätten wir sehr wohl ein Druckmittel gehabt
- wenn Sie nicht fahrlässigerweise darauf verzichtet
hätten -, um die Türkei zu Verhandlungen zu bringen.
Die Verhandlungsbereitschaft jetzt, da Öcalan in den
Händen der Türkei ist, geht natürlich tendenziell gegen
null.
Insofern kann ich durchaus verstehen, daß Herr
Schily überhaupt keine Notwendigkeit sieht, wie er das
auch über die Medien verkündet hat, mit der Türkei in
neue Verhandlungen einzutreten. Das ist das Jämmerliche: daß alles unterbleibt, was getan werden könnte,
um die Abschiebungshindernisse, nämlich die Gefahr
von Folter und Tod, im entsprechenden Land zu vermeiden.
({1})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In dieser Debatte geht es um Menschenrechte,
um verantwortliche Politik, um Mitverantwortung und
um Glaubwürdigkeit, aber auch um Doppelbödigkeit
von Politik. Diese wichtige Debatte, die wir heute beginnen, aber keinesfalls heute abschließen, richtet sich
an die Türkei, aber auch an uns selber, an die Bundesrepublik Deutschland.
Ich glaube, daß die zentrale Frage, die wir uns gemeinsam stellen müssen, ist: Wie kann deutsche Politik
und wie kann die Politik der Europäischen Union zum
Schutz der Menschenrechte in der Türkei und damit
auch zur Demokratisierung der Türkei beitragen? Die
Debatte ist notwendig und richtig, weil wir vor einer
neuen Situation stehen. Erstens gibt es eine neue Bundesregierung, die sich vorgenommen hat, Menschenrechte zum Leitmotiv ihrer Politik zu machen.
({0})
Daran wird sich auch eine neue Türkeipolitik orientieren müssen.
Zweitens stehen wir deshalb vor einer neuen Situation - darauf haben einige Vorrednerinnen und Vorredner schon hingewiesen -, weil es im Zusammenhang mit
der Verhaftung von Abdullah Öcalan eine dramatische
Verschlechterung und Zuspitzung der Menschenrechtslage in der Türkei gibt. Türkische Medien und Regierende haben einen Chauvinismus geschürt, der zu einer
Pogromstimmung gegen kurdische Organisationen,
wie zum Beispiel gegenüber der HADEP, geführt hat
und der sich gegen Personen richtet, die sich für eine
friedliche, für eine politische Lösung der Kurdenfrage
einsetzen.
Die türkische Regierung diffamiert in diesen Wochen
die gesamte kurdische Bewegung als terroristisch. Büros
der HADEP sind gestürmt worden, Hunderte, Tausende
von Mitgliedern sind verhaftet worden. Jetzt wird auch
mit dem Parteiverbot gedroht. Anwälte und Anwältinnen
werden bedroht; Maßnahmen zu ihrem Schutz werden
abgelehnt. Ich erinnere daran: Unmittelbar nach der
Verhaftung von Abdullah Öcalan ist das türkische Militär völkerrechtswidrig in den Nordirak einmarschiert.
Voraussetzung für die Demokratisierung der Türkei
und untrennbar damit verbunden sind die politische Lösung der kurdischen Frage und das Ende des schmutzigen Krieges, in dem über 3 000 Dörfer zerstört worden
sind, 30 000 Menschen getötet worden sind und Hunderttausende von Menschen auf der Flucht sind. Dieser
schmutzige Krieg muß aufhören. Denn die militärische
Lösung ist keine Lösung. Niemand kann bei einer militärischen Lösung gewinnen. Die Zivilbevölkerung hat
schon lange verloren.
({1})
Wir Grünen haben uns schon immer gegen die Behauptung gewehrt, daß dieser Konflikt eine rein innerstaatliche Auseinandersetzung sei. Mein Vorredner von
der SPD hat schon darauf hingewiesen: Dieser Krieg
wurde und wird noch immer auch mit deutschen Waffen
geführt. Die Rüstungsexportpolitik der früheren Regierung war in hohem Maße doppelbödig.
({2})
Sie war heuchlerisch. Denn es ist doppelbödig - Herr
Lamers, das wissen Sie ganz genau -, wenn auf der einen Seite die Einhaltung der Menschenrechte eingefordert wird, auf der anderen Seite aber Waffen geliefert
oder sogar verschenkt werden, die genau diese Menschenrechtsverletzungen möglich machen.
({3})
Ich war sehr oft in kurdischen Gebieten. Ich habe
mich dabei geschämt. Denn ich kam mir bisweilen vor,
als sei ich auf einem deutschen Truppenübungsplatz.
({4})
Die neue Regierung muß ihre Rüstungsexportpolitik
auch im Hinblick auf die Türkei an den Folgen ausrichten, die diese Politik für die Einhaltung der Menschenrechte hat.
({5})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lippmann
von der PDS?
Nein, ich möchte meine Rede zunächst beenden; vielleicht hinterher.
War es denn wirklich - Herr Lamers, Sie wissen, wovon wir jetzt sprechen - ein Freundschaftsdienst der früheren Regierung gegenüber der Türkei, Frau Çiller als
Repräsentantin für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu präsentieren? Wäre es nicht richtiger und notwendiger gewesen, diejenigen Organisationen zu unterstützen, die für Demokratie und Menschenrechte eintreten, oder laut und deutlich die Freilassung der kurdischen Abgeordneten Leyla Zana zu fordern, die nichts
anderes getan hat als das, wozu sie gewählt wurde,
nämlich für die Rechte der Kurden in der Türkei einzutreten? War denn das bereits angesprochene Konsultationsverfahren, der Kanther-Mentese-Briefwechsel, wirklich ein Freundschaftsdienst im Sinne der Demokratisierung der Türkei, in dessen Folge es zu Abschiebungen
gekommen ist und in dessen Folge Menschen gefoltert
worden sind, verschwunden sind und verhaftet worden
sind?
Die neue Bundesregierung wird sich auch in diesem
Punkt an der Unteilbarkeit der Menschenrechte ori2352
entieren. Sie wird sich an diesbezüglichen Erfolgen prüfen lassen müssen. Deswegen appelliere ich mit Nachdruck an die verantwortlichen Innenminister der Länder,
ihre Flüchtlingspolitik am Prinzip der Schutzgewährung
auszurichten, wie es zum Beispiel in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgeschrieben wird, und gerade angesichts
der aktuellen Situation, die vom Auswärtigen Amt als
Situation mit einem erhöhten Risiko vor allem für abzuschiebende Türken kurdischer Volkszugehörigkeit eingeschätzt wird, nicht abzuschieben.
Wir haben uns im Rahmen der EU immer für eine
glaubwürdige Türkeipolitik ausgesprochen. Daran ändert sich nichts dadurch, daß wir jetzt in der Regierungsverantwortung stehen. Daran darf sich nichts ändern, wenn wir selber glaubwürdig bleiben wollen.
Deswegen gehe ich davon aus, daß die jetzige Regierung
bald eine neue Initiative hinsichtlich einer internationalen Konferenz zur Lösung dieser Problematik in die
Wege leiten wird, daß sie im Rahmen der UNO, im
Rahmen der OSZE und in bezug auf die USA eine aktive Demokratisierungsinitiative unterstützen wird und
daß sie sich für eine wirkliche Perspektive der Türkei, in
die Europäische Union integriert zu werden, einsetzen
wird. - Herr Lamers, warum schlagen Sie eigentlich die
Augen so auf, wenn Sie mich anschauen? Das ist schön,
Herr Lamers. ({0})
Dies muß eine Initiative sein, die die Demokratisierung
der Türkei mobilisiert. Man sollte aber nicht darüber
nachdenken, ob die Türkei in der Europäischen Union
tatsächlich Platz hat. Dies geschieht ohnehin nicht aus
Zweifeln an der Einhaltung von Menschenrechten und
Demokratie, sondern deshalb, weil die Menschen in der
Türkei Moslems und nicht Christen sind.
Frau Kollegin, bitte
kommen Sie zum Schluß.
Mein letzter Satz. - In den nächsten Tagen
wird das kurdische Newroz-Fest gefeiert. Ich hoffe aus
ganzem Herzen, daß es ein wirkliches Fest wird und die
Gewalt nicht weiter eskaliert, nicht in der Türkei und
nicht bei uns. Ich hoffe, daß diese Aufforderung zur
Deeskalation bei allen ankommt: auf seiten der Türkei,
aber auch auf seiten der PKK.
({0})
Für eine Zwischenfrage ist jetzt kein Raum mehr. Ich lasse, wenn Sie das
gestatten, meine Damen und Herren, keine Kurzinterventionen mehr zu, weil wir sehr in zeitliche Bedrängnis
gekommen sind.
Jetzt hat das Wort der Kollege Max Stadler, F.D.P.Fraktion. Bitte sehr.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Roth, ich glaube, es zeichnet einen lebendigen Parlamentarismus aus,
wenn aus den Fraktionen, die die Regierung tragen,
durchaus andere Forderungen formuliert werden, als wir
sie im Regierungshandeln erkennen können.
({0})
Wir sind auf Grund Ihres Redebeitrages neugierig, wann
das, was Sie heute gesagt haben, und das, was die Regierung in diesem Bereich bisher tut, in Einklang stehen
wird.
Meine Damen und Herren, der Antrag, die Bundesregierung solle einen Abschiebestopp erlassen, ist schon
aus Rechtsgründen abzulehnen. Das hat Herr Kollege
Veit ausführlich dargelegt, so daß ich mich darauf beziehen kann. Die Länder wären dafür zuständig; sie haben aber von ihrer Möglichkeit nach § 54 Ausländergesetz bisher keinen Gebrauch gemacht.
Unabhängig von dieser Kompetenzregelung gibt der
Antrag von Frau Kollegin Jelpke Gelegenheit, gerade
nach den Vorfällen der letzten Wochen noch einmal einige grundsätzliche Bemerkungen zu Abschiebungen
von Kurden zu machen.
Nach der Verhaftung Öcalans hat es in Deutschland
schwere Ausschreitungen gegeben. Dies können wir
nicht dulden, egal, welche politischen Motive zu diesen
Taten geführt haben.
({1})
Der Staat hat selbstverständlich das Recht und die
Pflicht, alle strafrechtlichen und ausländerrechtlichen
Bestimmungen anzuwenden, zu denen auch Ausweisung
und Abschiebung gehören. Aber es gilt dabei wieder
einmal die Devise Herbert Wehners, die er seinerzeit im
Zusammenhang mit den Ostverträgen formuliert hat:
„Voll anwenden, strikt einhalten!“ Dazu gehört der Abschiebeschutz gemäß § 51 Ausländergesetz, wonach ein
Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden darf,
in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Ausländergesetz besteht, wenn
dem Ausländer in dem Staat der Abschiebung konkret
die Folter oder die Todesstrafe droht oder wenn dort für
ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben
oder Freiheit besteht. Diese Vorschriften müssen nicht
nur voll angewendet, sondern, wie ich zitiert habe, strikt
eingehalten werden.
Dazu finden sich deutliche Worte in der „Frankfurter
Allgemeinen Sonntagszeitung“ - ich zitiere -:
Wer will, daß wir uns über diese äußerste Grenze
hinwegsetzen und trotzdem abschieben, soll es
deutlich und ohne Beschönigung sagen.
({2})
Wer diese Grenze überschreitet, ist schamlos. Er
paktiert mit den Häschern. Er beschädigt uns und
den Rechtsstaat, den wir auf den Trümmern einer
Tyrannei aufgebaut haben.
({3})
Claudia Roth ({4})
Dies sagte zu Recht der ehemalige Vizepräsident dieses
Hohen Hauses, Burkhard Hirsch.
Was heißt dies praktisch? Es ist nicht zu bestreiten,
daß Türken kurdischer Herkunft, die aktiv für die Rechte
der kurdischen Bevölkerung in der Türkei eintreten, dort
Repressalien ausgesetzt sind.
({5})
Eine Abschiebung ist daher keinesfalls zulässig, solange
keine verbindlichen und nachprüfbaren Vereinbarungen
mit der Türkei über die rechtsstaatliche Behandlung Abgeschobener vorliegen und die Einhaltung solcher Vereinbarungen nicht gesichert ist. Wenn sie denn zustande
kommen, müssen sie noch im Lichte damit in der Vergangenheit gemachter Erfahrungen bewertet werden.
({6})
Ob die Bundesregierung Vereinbarungen, die diesen
Kriterien genügen, zustande bringt, bleibt mit Skepsis
abzuwarten, zumal das US State Department in seinem
Menschenrechtsbericht vom 26. Februar dieses Jahres
der Türkei schwere Menschenrechtsverletzungen vorwirft.
Meine Damen und Herren, zum außenpolitischen
Aspekt der Debatte kann ich aus Zeitgründen nur noch
einige wenige Punkte anführen.
Erstens. Allgemein besteht Einigkeit darüber, daß das
Kurdenproblem nicht mit militärischen, sondern nur mit
politischen Mitteln gelöst werden kann.
Zweitens. Wir beobachten mit großer Sorge eine zunehmende Verhärtung der Haltung der türkischen Regierung in der Kurdenfrage, insbesondere zunehmende
Diskriminierungen der HADEP.
Drittens. Wir fordern die Bundesregierung auf, im
Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft auf die türkische
Regierung einzuwirken, gemeinsam mit den Vertretern
der weit überwiegenden Mehrheit der Kurden, die sich
für eine friedliche Beilegung des Konfliktes einsetzen,
in einen konstruktiven Dialog mit dem Ziel einer weitgehenden kulturellen Autonomie für die Kurden einzutreten.
Viertens. Die friedliche Beilegung des Konflikts und
die uneingeschränkte Gewährleistung von Menschenund Minderheitsrechten in der Türkei sind entscheidende Voraussetzungen für die erstrebte Annäherung der
Türkei an die Europäische Union.
Fünftens. Ebenso unmißverständlich muß der kurdischen Seite verdeutlicht werden, daß nur ein gewaltfreier Weg zum Ziel führt. Dies betrifft auch die jüngsten
Androhungen von Terroranschlägen gegen Urlaubsziele.
Gewalttaten führen nur dazu, die bei weiten Teilen der
deutschen Bevölkerung durchaus vorhandene Sympathie
für die kurdische Sache zu zerstören.
Vielen Dank.
({7})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Uta Zapf.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen! Der Schlagabtausch in den
Interventionen hat gezeigt, daß wir dringend lernen
müssen, wie man mit Konflikten umgeht. Ich glaube,
daß der richtige Ansatz von der einen wie der anderen
Seite noch nicht gefunden worden ist. Insbesondere die
junge Kollegin von der CDU/CSU sollte sich mit der
Natur des Konfliktes einmal etwas vertrauter machen.
({0})
Meine Damen und Herren, der Friedensprozeß, der
in dem Antrag der PDS eingeklagt wird, ist in der Tat
dringend erforderlich. Nach der Verhaftung von Öcalan
hat es in der Türkei eine Eskalation von Gewalt und Repression - im übrigen von beiden Seiten - gegeben. Die
Ängste, daß eine solche Eskalation außer Kontrolle gerät, sind, glaube ich, durchaus begründet. Es gab Bombenanschläge; es gab Feuer in einem Einkaufszentrum.
Da waren viele Tote und Verletzte zu beklagen.
Auf der anderen Seite steht der türkische Generalstab,
der die völlige Vernichtung der PKK ankündigt und keinerlei Bereitschaft zur Deeskalation zeigt. Festzustellen
ist auch die Weigerung der Regierung und des Generalstabes, überhaupt ein Kurdenproblem anzuerkennen und
den Kurden kulturelle Rechte zuzugestehen. Es gibt also
eine zunehmende Verhärtung in dieser Frage.
Das Verbot der HADEP ist hier schon erwähnt worden. Das Verfassungsgericht hat noch eine andere Partei
verboten, die DKP, die Demokratische Volkspartei, und
zwar mit einer bemerkenswerten Begründung: Weil sie
sich für die kurdische Sprache und Identität einsetze, sei
die Einheit der türkischen Nation und die territoriale
Einheit der Türkei gefährdet. Auch das hat in diesem
Konflikt zu Verhärtungen geführt. Ich denke, wir müssen hier ganz deutlich sagen: Wir wollen die territoriale
Einheit der Türkei in keiner Weise gefährden. Wir wollen vielmehr zu einer friedlichen politischen Lösung dieses Konfliktes beitragen. Wir müssen uns in der Tat
überlegen, mit welchen Instrumenten wir das schaffen.
({1})
Wir haben in diesem Hohen Hause schon einmal den
Beschluß gefaßt, den Sie jetzt wieder aufgreifen, eine
internationale Konferenz einzufordern. Aber, ich denke,
man kann auch klüger werden. Wir haben in den letzten
Jahren eine Menge gelernt, unter anderem auch, daß eine solche internationale Konferenz möglicherweise dazu
dient, sich gegenseitig an den Pranger zu stellen, aber
nicht zu einer Konfliktlösung führt, für die sich beide
Teile näherkommen müssen. Wir müssen die Spirale der
Gewalt durchbrechen.
Wir fordern, daß die Türkei das Verfahren gegen
Öcalan wirklich transparent und menschenwürdig
durchführt, daß sie Beobachter zuläßt - wir unterstützen die Initiative des Europarates an dieser Stelle ausdrücklich: Es muß eine internationale Beobachtung geben - und daß die Türkei keine Todesstrafe verhängt.
Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt, zumal die Türkei
schon zugesichert hat, die Todesstrafe ganz aufzuheben. Auch ich weiß von dem Moratorium. Nur kann
man in der Kürze der Zeit nicht alles ausführlich darstellen.
Ich habe im übrigen noch ein paar Vorschläge zu machen: Wir müssen durch bilaterale Politik und durch eine gemeinsame europäische Politik dazu beitragen,
daß eine politische Lösung gefunden wird. Da werden
wir im Zusammenhang mit den Menschenrechten eine
ganze Menge an Einwirkung auf die türkische Regierung zu besorgen haben. Wir müssen gleichzeitig die
PKK auffordern, die Gewaltanwendung einzustellen.
Auch die PKK hat einen totalen Krieg gegenüber der
Türkei erklärt und gesagt, sie werde die militärischen
Aktionen auf die gesamte Türkei, insbesondere auf die
touristischen Gebiete, ausweiten. Dort liegt eine ganze
Menge an Aufgaben vor uns.
Ich weiß, daß diese Bundesregierung, auch wenn es
nicht spektakulär nach außen dringt, sehr bemüht ist, Initiativen zu befördern, die einer solchen Konfliktlösung
näherkommen. Aber es wird wahrscheinlich erst nach
den Wahlen in der Türkei überhaupt möglich sein, wieder miteinander sprachfähig zu werden. Dieses Parlament ist sich darin einig, daß es einen solchen Befriedungsprozeß geben muß. Warum muß es ihn geben?
Weil die Türkei zu Europa gehört, das wissen wir alle.
Es liegt innen- wie außenpolitisch in unserem eigenen
deutschen Interesse, daß die Türkei stabil ist. Es liegt in
unserem Interesse, daß die Kurden und die Türken in der
Bundesrepublik mit uns friedlich zusammenleben können. Die Krawalle auf unseren Straßen sind doch Ausfluß des Problems in der Türkei. Dieses Problem muß in
der Türkei mit Kurden und mit Türken gemeinsam gelöst werden. Lassen Sie uns mit einer deutschen Initiative, mit bilateralen Initiativen und europäischen Initiativen gemeinsam dazu beitragen, daß der Friedensprozeß
in der Türkei in Gang gebracht wird. Dies ist nicht nur
eine humanitäre Forderung, sondern dies ist auch eine
Forderung in unser aller Interesse.
Ich danke Ihnen.
({2})
Als letzter in dieser
Aussprache hat nun der Kollege Ruprecht Polenz,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir haben uns in dieser Woche im Auswärtigen Ausschuß mit der Türkei-Politik der
Bundesregierung befaßt. Es war, glaube ich, nicht nur
mein Eindruck, Herr Staatsminister, daß das eigentlich
eine enttäuschende Beratung war. Wenn Frau Kollegin
Zapf gerade davon sprach, die Regierung sei mit ihren
Initiativen sehr bemüht, so wissen auch Sie, was das in
der Zeugnissprache bedeutet. Ich stelle das deshalb fest,
weil ich mir schon darüber im klaren bin, wie schwierig
es ist, gerade im Bereich der Türkei-Politik Fortschritte
zu erzielen. Aber das wußten Sie auch, als Sie die vollmundigen Ankündigungen einer neuen Türkei-Politik in
die Welt gesetzt haben. Sie haben bewußt gesagt: Das ist
das Politikfeld, auf dem wir es mit der außenpolitischen
Kontinuität anders sehen, da wollen wir neue Wege gehen, da wollen wir besonders erfolgreich sein. Sie haben, als der italienische Ministerpräsident D’Alema bei
Schröder war, eine deutsch-italienische Initiative in Sachen Türkeipolitik angekündigt. Ich habe Sie schon
einmal gefragt: Was ist daraus geworden?
({0})
Sie haben bei der Festnahme Öcalans wichtige Chancen für politische Initiativen verpaßt, die seinerzeit
auch Außenminister Fischer gesehen hat. Aber es sind
keine ergriffen worden. Auch haben Sie die deutsche
Ratspräsidentschaft, gemeinsame EU-Initiativen angekündigt. Bis heute ist davon nichts erkennbar, wenngleich es aber wahrscheinlich redliches Bemühen gibt,
Frau Kollegin. Wir werden sehen, was bis zum Abschlußgipfel unserer Präsidentschaft noch passiert. Bisher aber - außer der üblichen Kritik an der Vorgängerregierung -: weitgehend Fehlanzeige. Seit Anfang November - das müssen wir feststellen - ist hier nichts
passiert.
({1})
Die PDS fordert nun in ihrem Antrag, zu dem ich
mich äußern möchte, die Einleitung eines internationalen Friedensprozesses. Seite 3 Ihrer Begründung macht
allerdings deutlich, daß Sie als PDS jegliche kritische
Distanz zur PKK vermissen lassen. Ich möchte Ihnen
sagen: Mit diesem Ansatz wird man dem Kurdenproblem nicht gerecht. Denn die PKK und ihre Methoden
tragen dazu bei, daß die Lösung dieses Konfliktes so
schwierig ist. Die PKK ist Teil des Problems und nicht
Teil der Lösung. Wenn wir überhaupt weiterkommen
wollen, ist es erforderlich, daß alle, die Einfluß nehmen
wollen, eine klare Distanzierung von Gewaltanwendung
und damit eine klare Distanzierung von der PKK zum
Ausdruck bringen.
({2})
- Weil Sie jetzt gerade diesen Zwischenruf machen und
weil Sie auch vorhin schon gewollt haben, daß man Ihnen den Unterschied zwischen UCK und PKK erklärt,
sage ich folgendes: Mir ist nicht bekannt, daß die UCK
in belebten Einkaufsstraßen oder Einkaufszentren Bomben geworfen hätte. Mir ist nicht bekannt, daß die UCK
in Touristenzentren Gewalt anwenden will und dabei
den Tod von Touristen in Kauf nimmt. Mir ist nicht bekannt, daß die UCK ihre Organisationsstrukturen in
einer stalinistischen Weise aufbaut, wie die PKK das tut.
Mir ist nicht bekannt, daß die UCK gegen ihre Mitglieder mit den Methoden des Terrorrismus bis hin zum
Mord - auch das war ja Hintergrund des Haftbefehls gegen Öcalan - vorgeht. Bitte tun Sie der UCK nicht dadurch Unrecht, daß Sie sie mit der PKK in einen Topf
werden!
({3})
Meine Damen und Herren, die PKK fordert die umgehende Einberufung einer internationalen Friedenskonferenz. - Aus Zeitgründen kann ich nur noch zu diesem Punkt etwas sagen. - Wir halten das nicht für das
geeignete Mittel, denn die Ausgangsbasis eines jeglichen Lösungsansatzes muß die Erkenntnis sein, daß eine
Lösung des Kurdenproblems nicht gegen die Türkei
möglich ist. Wir müssen erst einmal zur Kenntnis nehmen, daß es bei den türkischen Eliten - insbesondere
bei der Justiz, beim Militär und bei der staatlichen
Bürokratie - die Überzeugung gibt, daß die Türkei ein
Einheitsstaat mit einer einheitlichen nationalen Identität
ist. Das kommt in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft in dem Verbotsverfahren gegen die
HADEP jetzt noch einmal wie in einem Brennglas zum
Ausdruck. Ich zitiere aus dem Briefing Nr. 1228 vom
1. Februar 1999:
Es gibt nur eine Identität in der Türkei, und das ist
die türkische Identität. Forderungen nach Anerkennung einer kurdischen Identität sind nur ein erster
Schritt in einem hinterhältigen Versuch, das Land
zu teilen.
Das ist die Position der kemalistischen Hardliner. Aber
nicht nur von denen: Diese Position wird bis hin zum
Staatspräsidenten Demirel offiziell von der Türkei vertreten. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Wir
halten diese Position nicht für richtig. Wenn wir die
Türkei aber bewegen wollen, eine andere Sicht des Problems zu gewinnen, dann müssen wir dort anknüpfen,
wo die Türkei jetzt steht, und nicht dort, wo wir sie uns
gerne hinmalen würden. Eine internationale Friedenskonferenz, wie sie jetzt gefordert wird, würde aus
Sichtweise der Türkei als Vorwand der Europäer gesehen, nun das zu erreichen, was man 1920 im Vertrag
von Sèvres nicht geschafft hat, nämlich die Türkei zu
zerschlagen.
Aus Zeitgründen - weil ich für die Anmerkungen zu
PKK und UCK etwas mehr Zeit gebraucht habe - nur
noch ein Hinweis, in welche Richtung man nach Lösungen suchen muß. Herr Staatsminister, Deutschland alleine wird das nicht können; auch die EU wird das nicht
alleine können. Im Zweifel wird die EU wegen der griechisch-türkischen Spannungen sogar paralysiert sein, als
Gemeinschaft zu handeln. Es wird deshalb vor allem
darauf ankommen, daß es uns gelingt, die USA in eine
koordinierte Türkeipolitik einzubeziehen, gemeinsam
auf die Türkei einzuwirken und dort die zivilgesellschaftlichen Kräfte zu stärken. Diese Kräfte gibt es vor
allen Dingen in der Wirtschaft der Türkei. Daran muß
man anknüpfen. Dann kann man - hoffentlich - Schritt
für Schritt weiterkommen. Ich will nicht so weit gehen,
daß man von der Bundesregierung die Lösung des Kurdenproblems erwarten sollte. Das ist Sache der Türkei
selbst. Aber dann nehmen Sie, Herr Staatsminister, in
dieser Frage bitte den Mund in Zukunft nicht mehr so
voll!
({4})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/331 und 14/470 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf.
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu den u. a.
durch die ökologische Steuerreform bedingten
Tariferhöhungen der Deutschen Bahn AG unter besonderer Berücksichtigung der zusätzlichen Belastungen in den neuen Bundesländern
Ich eröffne die Aussprache. Sind Sie damit einverstanden, daß wir die Reden der Kollegen Norbert Otto,
Peter Letzgus und Dr. Michael Meister zu Protokoll
nehmen? - Das ist der Fall.
Dann gebe ich jetzt dem Kollegen Gerhard Jüttemann, PDS, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist natürlich
traurig, wenn man zu einem solchen aktuellen Thema,
das eigentlich alle Bürger in Deutschland betrifft und zu
dem eine Aktuelle Stunde einberufen worden ist, vor einem so leeren Haus sprechen muß. Vielleicht sollte sich
die Bundesregierung einmal überlegen, solche Aktuellen
Stunden zu anderen Zeiten als Freitag nachmittags, zum
Beispiel zu guten Fernsehzeiten, auf die Tagesordnung
zu setzen.
Wir wollen hier heute über die angekündigten Fahrpreiserhöhungen bei der Deutschen Bahn AG reden. Ab
April kostet der Fernverkehr bundesweit 1,5 Prozent
mehr, der Nahverkehr in den alten Bundesländern ebenfalls 1,5 Prozent mehr, in Ostdeutschland durchschnittlich 5,2 Prozent mehr. Die Preise für Schülermonatskarten im Osten steigen sogar - das muß ich so deutlich sagen - um unanständige 9,9 Prozent. Ansonsten
kommt es nicht so oft vor, daß die höheren Zahlen für
den Osten gelten. Aber wenn es um Preise geht, spielt
das offenbar keine Rolle. Angleichung der Fahrpreise
nennt man das bei der Deutschen Bahn AG. Die Angleichung der Löhne und der Arbeitslosenquote ist unterdessen noch einmal auf unbestimmte Zeit verschoben
worden.
Die Deutsche Bahn AG geht mit ihrer Preispolitik
konsequent weiter auf dem seit der Privatisierung eingeschlagenen Weg. Sie entfernt sich damit immer weiter
von ihrer ursprünglichen Aufgabe, nämlich der Befriedigung des gesellschaftlichen Interesses an Mobilität.
Schnell, sicher, bequem, preiswert und umweltfreundlich - an diesen fünf Kriterien muß sich die Bahn messen lassen. Die ersten vier Kriterien werden seit Jahren
immer mehr vernachlässigt, und zwar in einem Tempo,
daß den Bahnfahrern Hören und Sehen vergeht und immer mehr von ihnen auf die eigenen vier Räder ausweichen müssen.
Die Deutsche Bahn AG reduziert ihr Personal jährlich
in unverantwortlicher Weise um 15 000 bis 20 000 Beschäftigte. Auch in den kommenden vier Jahren sollen
mindestens 60 000 Stellen bei der Bahn verschwinden.
Viele Experten und Eisenbahngewerkschafter führen die
Unfallserie bei der Deutschen Bahn AG in den vergangenen Wochen und Monaten auch auf den immer größer
werdenden Personalmangel und die damit verbundene
Demotivation des verbleibenden Personals zurück. Bei
der Bahn scheinen in allen Bereichen statt Fachleuten
zunehmend die Kaufleute zu bestimmen. Deswegen gibt
es massive Streckenstillegungen im Nahverkehr. Auch
der Interregio-Bereich schrumpft immer mehr. Von den
heute noch täglich verkehrenden 434 Interregio-Zügen
sollen in diesem Frühjahr weitere 30 gestrichen werden.
Gleichzeitig sinken die Erlöse im Fernverkehr. In diesem Bereich fehlen 1998 370 Millionen DM an erwarteten Einnahmen. Damit werden die Gesamterlöse im
Fernverkehr um 100 Millionen DM unter denen des
Vorjahres liegen.
Die kundenfeindliche Entwicklung bei der Bahn ist
natürlich nicht zufällig. Sie ist das Ergebnis der von der
Politik im Interesse mächtiger Wirtschaftsgruppen im
Laufe der vergangenen Jahrzehnte geschaffenen Rahmenbedingungen, inklusive der Privatisierung der Bahn.
Von Rotgrün durfte man erwarten, daß dieser verheerenden Entwicklung endlich einmal entgegengesteuert
wird. Wenigstens verbal geschah das tatsächlich. Zum
Beispiel wurde eine Ökosteuer verabschiedet, was sozial
und erst recht ökologisch klingt. Aber in Wirklichkeit
wird die umweltfreundliche Bahn durch die Ökosteuer
mit 172 Millionen DM zusätzlich belastet. Diese Mehrbelastung reicht sie natürlich an ihre Kunden weiter. Das
heißt, auf all die genannten Preiserhöhungen werden
noch einmal 1,5 Prozent Ökosteuer aufgeschlagen.
({0})
Was bedeutet das anderes, als daß die neue Regierung
die autofreundliche und bahnfeindliche Politik der alten
Regierung nahtlos fortsetzt? Die Wirkung der Ökosteuer
ist unökologisch, unsozial und verkehrspolitisch sowieso
unsinnig. Sie belastet wegen der ohnehin stärkeren
Preissteigerungen im Osten die neuen Bundesländer in
besonderem Maße. Die Spirale dreht sich immer
schneller und immer weiter: Höhere Bahnpreise führen
zu weniger Bahnkunden; weitere Streckenstillegungen
bedeuten zunehmenden Autoverkehr; das führt wiederum zu weniger Bahnkunden und damit zu höheren
Bahnpreisen. Wenn Sie diesen Kreislauf nicht durchbrechen oder wenn Sie ihn noch nicht einmal durchbrechen
wollen, dann heißt das, daß Ihre Ansprüche weder sozial
noch ökologisch sind. Das wird, auf längere Zeiträume
bezogen, eine unvergleichlich höhere Rechnung als diejenige ergeben, die uns schon jetzt als Ergebnis Ihrer
Politik von der Deutschen Bahn AG präsentiert wird.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angelika Mertens, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Zum zweitenmal innerhalb weniger
Wochen beschäftigt uns die PDS mit einem Thema zur
Bahn. Ich kann nur sagen: Sie liefern hier eine richtig
„gute“ Performance ab. Sie beklagen, daß so wenig
Leute im Plenum anwesend sind. Ich habe einmal geschaut: Ihre Fraktion hat 36 Mitglieder, von denen jetzt
wohl sechs anwesend sind. Ich beschreibe das einmal so:
Dr. Wolf und die sechs Geißlein sitzen hier.
({0})
Wie beim letztenmal ist auch diese Aktuelle Stunde
ziemlich sinnlos.
Haltung der Bundesregierung zu den u. a. durch die
ökologische Steuerreform bedingten Tariferhöhungen der Deutschen Bahn AG unter besonderer Berücksichtigung der zusätzlichen Belastungen in den
neuen Bundesländern.
So lautet das genaue Thema dieser Aktuellen Stunde.
Mir ist jedenfalls nicht bekannt, daß es derzeit eine einzige durch die ökologische Steuerreform bedingte Tariferhöhung bei der Deutschen Bahn AG gibt.
Die Deutsche Bahn AG beabsichtigt, ihre Tarife zum
1. April um 1,5 Prozent zu erhöhen. Soweit diese Tariferhöhungen den Schienenpersonennahverkehr betreffen,
liegt eine Genehmigung der Länder vor. Ein darüber
hinausgehender Antrag, eventuelle Kostenerhöhungen
wegen der Ökosteuer auf die Nahverkehrstarife umzulegen, ist bisher bei den Ländern nicht gestellt worden.
Wenn Sie dazu etwas wissen wollen, dann sollten Sie
nicht nur die richtige Frage stellen; vielmehr sollten Sie
sich auch an den richtigen Adressaten wenden. Das sind
die jeweiligen Landesregierungen. Wenn Sie etwas zur
ökologischen Steuerreform wissen wollen, dann muß ich
Ihnen sagen, daß Sie dazu in den letzten Wochen wirklich genügend Gelegenheiten hatten. Wir haben zu fast
allen Tageszeiten dazu etwas geboten. Aber ich kann es
gerne wiederholen: Die Regierung und die sie tragenden
Fraktionen halten die Ökosteuer für richtig und für
wichtig, weil sie erstens den Faktor Arbeit entlastet und
zweitens dazu auffordern soll, mit Energie bewußter
und damit auch sparsamer umzugehen.
Außerdem ist es uns angesichts der Bedeutung des
Schienenverkehrs gelungen, für den Stromverbrauch der
Deutschen Bahn AG den halben Regelsteuersatz durchzusetzen. Genauer gesagt, der Regelsteuersatz der
Stromsteuer von 2 Pfennig pro Kilowattstunde ist für
den Fahrbetrieb der Schienenbahn sowie der Oberleitungsbusse um 50 Prozent auf 1 Pfennig pro Kilowattstunde ermäßigt worden.
Damit diese ganze Veranstaltung hier noch einen
Nutzen hat, will ich zumindest den Versuch machen, die
PDS ein bißchen schlauer zu machen. Vielleicht erspart
das uns in Zukunft Zeitverschwendung.
Erstens. Nach der Bahnreform bestimmt die Deutsche
Bahn AG die Preise ihrer Dienstleistungen grundsätzlich
eigenverantwortlich.
Zweitens. Die Deutsche Bahn AG ist deshalb gegenüber der Bundesregierung nicht zur Information bei Tariferhöhungen verpflichtet.
Daraus resultiert drittens, daß sie auch nicht zur Einholung einer Genehmigung bei der Bundesregierung
verpflichtet ist.
Zum Schluß möchte ich zwei Bemerkungen machen.
Erstens. Wir können getrost davon ausgehen, daß die
Länder konkrete Anträge auf Tariferhöhungen im
SPNV, mit welcher Begründung auch immer, spitz
nachrechnen werden, zumal die Energiepreise - mein
Kollege Schmidt wird noch darauf eingehen - in den
letzten Jahren trotz massiver Steuererhöhungen durch
die alte Bundesregierung insgesamt gesunken sind.
Zweitens. Die Attraktivität, besonders die des SPNV
und die des ÖPNV, macht sich nicht nur am Preis fest;
vielmehr hat sie sehr viel damit zu tun, wie attraktiv diese Verkehrsmittel sind: Pünktlichkeit, Vernetzung, objektive und subjektive Sicherheit, Bequemlichkeit und
Schnelligkeit sind einige Kriterien, die über Erfolg und
Mißerfolg entscheiden.
In diesem Sinne wünsche ich der Deutschen Bahn
AG sehr ernsthaft und sehr ehrlich viel Erfolg beim
weiteren Nachdenken über die Steigerung ihrer Attraktivität.
({1})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Hinblick auf die generelle Betrachtung der Bahn kann ich
mich den Worten der Kollegin Mertens anschließen. Ich
will nur noch hinzufügen: Diejenige Partei, die uns die
Deutsche Reichsbahn im schrottreifen Zustand übergeben hat, sollte vielleicht einmal nachdenken, an welchem Punkt sie den Zeigefinger hebt.
({0})
Ich möchte mich auf den Punkt Preiserhöhungen wegen der ökologischen Steuerreform bei der Bahn konzentrieren. Da läuft ja tatsächlich das Stück ab: Haltet den
Dieb! Erst legt Rotgrün in einem chaotischen Gesetzgebungsverfahren ein Gesetz zu einer sogenannten ökologischen Steuerreform vor, von dem überraschenderweise
auch der bisher von den Grünen fast als heilige Kuh behandelte öffentliche Personennahverkehr betroffen ist.
Dann gibt es Proteststürme. Verkehrsminister Franz
Müntefering erklärt: Es gibt keine Ausnahme für den öffentlichen Personennahverkehr; alle müssen zahlen.
Dann gibt es offensichtlich doch genügend Druck.
Nachdem die Gesetzesberatungen im Finanzausschuß
bereits abgeschlossen sind, erreicht die mitberatenden
Ausschüsse ein staunenswerter Brief der Vorsitzenden,
Kollegin Scheel, in dem steht:
Ich darf Sie darüber informieren, daß das vom Finanzausschuß bereits abgeschlossene Gesetz zum
Einstieg in die ökologische Steuerreform noch einmal geändert werden soll. Die Änderungsanträge
werden voraussichtlich am … frühen Vormittag
vorliegen. Sie werden Ihnen zum frühestmöglichen
Zeitpunkt per Fax zugeleitet werden.
Weiter heißt es sinngemäß: Ich will Sie nur darüber informieren, daß davon der Personennahverkehr sowie die
Deutsche Bahn AG betroffen sein werden.
({1})
Das ist dann also das geordnete Gesetzgebungsverfahren!
Die F.D.P. hat im Vorfeld darauf hingewiesen, daß
nach dem von Kollegin Mertens richtigerweise festgestellten Prinzip Preiserhöhungen, egal aus welchem
Grund, im Nahverkehr folgende Konsequenzen haben:
Entweder muß eingespart werden, oder der Fahrpreis
muß erhöht werden, oder die im Nahverkehr tätigen
Aufgabenträger müssen die Erhöhung des Defizitausgleiches zugestehen. Nun kann man ja verniedlichend
sagen: Das ist alles nur halb so schlimm, der Strompreis
ist ja statt um 2 Pfennig nur um 1 Pfennig erhöht worden. Gegenüber dem Zeitraum vor Inkrafttreten der
Ökosteuerreform ist es eine Kostenerhöhung, die offensichtlich durch die gleichzeitig eingeführte Senkung der
Lohnnebenkosten nicht in vollem Umfang ausgeglichen
wird. Das heißt, es bleibt auch für die Bahn eine Kostenerhöhung übrig.
Nun beginnt der zweite Akt der Komödie. Ausgerechnet die, die für die Kostenerhöhungen verantwortlich sind, heben moralisierend den Zeigefinger und sagen: Das gilt aber nicht, Bahn, was du da machst; das ist
unfair; das darfst du nicht. - An vorderster Front steht
leider auch der Kollege Schmidt,
({2})
der ja nun - das ist eine seiner Nebentätigkeiten - im
Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG sitzt. Es wäre
vielleicht an der Zeit, Herr Kollege Schmidt, daß Sie
einmal Ihre Rolle klären: Entweder sprechen Sie als
Aufsichtsrat der Bahn in der Öffentlichkeit - dann sind
Sie dafür verantwortlich, daß die Bahn ein positives
Wirtschaftsergebnis erzielt -, oder Sie melden sich als
verkehrspolitischer Sprecher.
({3})
Dann sollten Sie zu den Erhöhungen auf Grund der Kostensituation stehen und sollten die Bahn nicht mit dem
Zeigefinger darauf hinweisen, daß sie gefälligst Tariferhöhungen unterlassen soll.
({4})
Nein, meine Damen und Herren, der Versuch, die
Bahn hier als Sündenbock abzustempeln, ist ein ganz
billiger Versuch von Rotgrün, sich aus der mißlungenen
Ökosteuerreform zu verabschieden, die, um mit den
Worten meines Kollegen Thiele zu sprechen, weder öko
noch logisch ist,
({5})
sondern schlicht und ergreifend ein weiteres Konzept
zum Geldkassieren. Leider Gottes ist sie wahrscheinlich
heute durch den Bundesrat gegangen. Dieser Freitag
wird als schwarzer Freitag der Steuergesetzgebung in
die Geschichte eingehen.
({6})
Wir lehnen dieses Verfahren und auch dieses Gesetz
strikt ab.
Ich will nicht verschweigen, daß es mit Sicherheit
viele Gründe gibt, um die Bahn zu kritisieren. Es gibt
auch viele Anlässe dazu. Aber man sollte als Vertreter
derjenigen, die dafür gesorgt haben, daß die Bahn über
Preiserhöhungen nachdenken muß, nicht mit dem Finger
auf die zeigen, die das tatsächlich umsetzen müssen,
weil die Wirtschaft bestimmten Gesetzmäßigkeiten
unterliegt.
In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit, Frau Präsidentin, und wäre dankbar, wenn Sie
dem nächsten Redner erst dann das Wort erteilen, wenn
ich mich hingesetzt habe, damit im Protokoll steht: Beifall bei der F.D.P.
Ich danke Ihnen.
({7})
Der Beifall ist meistens so brausend, daß die Zeit für Sie reicht, um Platz
zu nehmen, Herr Kollege. - Nun ist das im Protokoll
verzeichnet.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Titel der heutigen Aktuellen Stunde enthält eine falsche Behauptung. Dort ist die Rede von
Fahrpreiserhöhungen bei der Bahn, die unter anderem
durch die Ökosteuer bedingt seien. Da wird seitens der
PDS und mit Unterstützung der F.D.P., wie ich gerade
festgestellt habe, an einer Legende gestrickt, die dadurch
nicht wahrer wird, daß man sie als Thema einer Aktuellen Stunde in die Tagesordnung setzt.
In Wahrheit kann die ökologisch-soziale Steuerreform in gar keiner Weise als Begründung dafür herhalten, daß wieder an der Fahrpreisschraube gedreht werden muß. Im Gegenteil: Die öffentlichen Verkehrsbetriebe insgesamt sind die Nettoprofiteure auf dem Verkehrsmarkt.
({0})
- Hören Sie einmal zu! Ich habe Ihnen auch in aller Ruhe zugehört. - Die Ökosteuer verbessert nämlich die relativen Marktchancen der umweltfreundlichen öffentlichen Verkehrssysteme, insbesondere die Chancen der
Schiene gegenüber dem Straßenverkehr.
Dies zeigt eine einfache Rechnung, die jeder Viertklässler durchführen kann: Eine Autofahrt über 100 Kilometer verteuert sich durch die Ökosteuer im Durchschnitt um etwa 50 Pfennige. Eine Zugfahrt über dieselbe Strecke würde sich durch die Einführung der Ökosteuer um etwa 10 Pfennige verteuern, wenn die Ökosteuer voll auf den Fahrpreis umgelegt werden würde.
Also selbst unter dieser Annahme kann man sagen, daß
sich die relative Marktchance der öffentlichen Verkehrsträger verbessert.
Herr Kollege Friedrich, meine Haltung zu dieser Frage hat mit meiner Funktion überhaupt nichts zu tun.
Meinem Vorgänger im Aufsichtsrat, dem Kollegen
Kohn von der F.D.P., haben Sie nie vorgehalten, daß er
gleichzeitig Abgeordneter und Aufsichtsratsmitglied
war. Das ist sehr komisch.
({1})
- Das stimmt. Ich habe nie etwas von ihm gelesen oder
gehört.
Der entscheidende Punkt ist aber, daß es zu einer
Fahrpreiserhöhung, insbesondere zu der im Schienennahverkehr, überhaupt keinen Grund gibt. Warum ist
dies so? Ich will Ihnen drei Gründe nennen.
Erstens. Die Strompreise weisen eine sinkende Tendenz auf. Im Wege des europäischen Strombinnenmarktes wird sich diese Tendenz verstärken. Das heißt,
man kann heute gerade als Großkunde günstiger Strom
einkaufen. Davon wird auch die Bahn verstärkt profitieren.
Zweitens. Der Mineralölpreis, der im Hinblick auf die
Diesellokomotiven durchaus von Bedeutung ist, ist in
den letzten Monaten in einer Größenordnung gefallen,
was durch die Einführung der Ökosteuer nicht annähernd ausgeglichen wird. Der Dieselpreis pro Liter liegt
heute um mehr als 10 Pfennige unter dem Vorjahrespreis. Wenn man die Energiekosten immer gleich auf
den Fahrpreis umrechnen würde, müßte logischerweise
die Frage aufkommen: Wo bleibt die Fahrpreissenkung?
({2})
Horst Friedrich ({3})
Drittens. Darüber hinaus haben wir Bündnisgrüne in
der Koalition durchgesetzt, daß für die Eisenbahnen, die
U-Bahnen, die Straßenbahnen und die S-Bahnen nur der
halbe Stromsteuersatz gilt, weil wir den ökologischen
Lenkungseffekt, der im ersten Schritt dieser Energiekostenbelastung nach unserer Meinung sehr bescheiden
ausfällt, verstärken wollen.
({4})
Eine derart maßvolle Einbeziehung in die Ökosteuer
schadet den öffentlichen Verkehrsbetrieben nicht nur
nicht, im Gegenteil - ich wiederhole diesen Punkt -: Sie
liefert den notwendigen Anreiz, auch im Bereich der
Schiene und im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs
für einen sparsamen und effizienten Energieeinsatz zu
sorgen. Dies steht in Übereinstimmung mit dem von der
Deutschen Bahn AG selbst aufgelegten „Energieeinsparprogramm 2005“, das vorsieht, bis zum Jahr 2005
den Stromverbrauch um satte 25 Prozent zu reduzieren.
Ich habe mir einmal die bisherige Entwicklung angeschaut. Seit 1990 hat sich der Stromverbrauch bei der
Deutschen Bahn um 16 Prozent, von 52 Gigawattstunden auf 44 Gigawattstunden, reduziert. Das heißt, diese
Tendenz zur Energieeinsparung durch höhere Effizienz
und durch bessere Logistik wird durch die Ökosteuer
nicht nur beschleunigt und verbessert, sondern sie sorgt
dafür, daß der Energieeinkaufspreis für die Bahn trotz
Ökosteuer summa summarum sinken wird. Die Legende
von einer Fahrpreiserhöhung, die durch die Ökosteuer
notwendig würde, ist durch die Sachlage überhaupt nicht
gerechtfertigt. Diese Auffassung werde ich auch in Zukunft vertreten.
Sie, Herr Kollege Friedrich, als Vertreter einer Partei,
die viel mit Wirtschaftspolitik zu tun hatte, sollten wissen, daß es ein einfaches kaufmännisches Gesetz gibt:
Wenn es in einem Betrieb an einer Stelle Kostenerhöhungen und an einer anderen Stelle Kostensenkungen
gibt, dann wird man diese Kosten zunächst gegeneinander aufrechnen, bevor man auf den Markt geht, auf dem
man eigentlich erfolgreich sein will, und sagt: man müsse den Verkaufspreis seiner Ware erhöhen. Das ist meine Auffassung vom unternehmerischen Handeln. Infolgedessen sehen wir das sehr gelassen.
Auch der zweite und dritte Schritt der Ökosteuerreform werden die Wettbewerbsposition der öffentlichen
Verkehrssysteme weiter verbessern. Das ist von uns
durchaus so gewollt.
({5})
Zum Abschluß erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Winfried Wolf,
PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Da es der Wahrheitsfindung dient, habe ich ein
Lederjackett angezogen. Ich möchte zunächst auf Frau
Mertens eingehen: Nicht die PDS beschäftigt uns hier
mit dem Thema Bahn. Vielmehr beschäftigt die Bahn
die Öffentlichkeit mit Preiserhöhungen, mit schlechter
Qualität und mit neuen Unfällen. Mich wundert, wo der
Kollege Schmidt und wo die Kollegin Mertens real leben. Ich lese - wie Sie auch - Zeitung, und habe vor mir
einige Schlagzeilen. „Stern“: Ärger auf Rädern; „Süddeutsche Zeitung“: Die Bahn droht endgültig, aufs Abstellgleis zu fahren;
({0})
„Express“: Spart sich die Bahn in die Katastrophe?;
({1})
„Berliner Tagesspiegel“: Das Gespenst der Schrumpfbahn kehrt zurück; „Express“: Der tägliche Bahnhorror;
„FAZ“ - Lieblingslektüre von Abgeordneten einiger anderer Parteien -: Bei der Bahn nehmen die schlechten
Nachrichten kein Ende; „Frankfurter Rundschau“: Auch
die Treuesten verzweifeln jetzt an der Bahn. Last, not
least noch eine Zeitschrift für junge Frauen, „Lisa“, die
schreibt: Verspätungen, überhöhte Preise, mangelnde
Sicherheit - das Chaosunternehmen „Deutsche Bahn“
steht im Kreuzfeuer der Kritik.
({2})
Wenn Sie völlig an der Öffentlichkeit vorbeireden wollen, Herr Schmidt, dann reden Sie weiter so, wie Sie geredet haben. Das gilt auch für Sie, Frau Mertens. Aber
wenn Sie sich ein bißchen in Ihrem Wahlkreis umschauen, ein bißchen Zeitung lesen und ein bißchen mit Kolleginnen und Kollegen reden,
({3})
- Ich rede genau zum Thema, Herr Schmidt -,
({4})
dann wissen Sie, daß Sie darauf eingehen müssen.
({5})
Zur Ökosteuer hat der Kollege Friedrich das Richtige
gesagt. Es ist einfach Tatsache, daß, wenn Sie das ökologischste Verkehrsunternehmen mit einer zusätzlichen
Steuer belasten und es ankündigt,
({6})
deswegen die Tarife zu erhöhen, Herr Aufsichtsrat
Schmidt, man das zur Kenntnis nehmen und darüber
diskutieren muß.
Ich bin der Meinung, daß es nicht nur zu einer direkten Tariferhöhung kommt, sondern - das hat Herr
Albert Schmidt ({7})
Schmidt in der Presse gesagt, ob als Aufsichtsrat oder
verkehrspolitischer Sprecher, ist egal - zu einer doppelten Preiserhöhung. Dazu ein Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“: Zu der normalen Tariferhöhung kommt
noch - das ist jetzt ein Zitat von Herrn Schmidt - die
Preiserhöhung auf kaltem Wege dadurch, daß weitere
200 Fernverkehrsverbindungen eingestellt werden und
die Leute gezwungen werden, von bisherigen Interregiozügen und D-Zügen auf IC- oder sogar ICE-Züge umzusteigen und noch einmal höhere Preise zu zahlen.
({8})
Es kommt hinzu, daß in besonderem Maße die neuen
Bundesländer betroffen sind, und zwar auf verschiedene
Art und Weise: zum Beispiel durch die schlechte Qualität, die bei der Bahn im Osten angeboten wird, und
durch das Streckensterben, das es in den neuen Bundesländern viel stärker gibt als anderswo.
Zur PDS und ihrer Verantwortung möchte ich nur soviel sagen: Ich halte es für einen schweren verkehrspolitischen Fehler, daß die SED in ihrer 40jährigen Regierungszeit versucht hat, beides, sowohl Straßen als auch
Schienenwege, zu bauen. Beides hat sie halb schlecht
oder halb gut gemacht. Sie hat 40 Jahre die Chance gehabt, eine Wende im Bereich des Verkehrs herbeizuführen - sie hat es nicht geschafft.
Das rechtfertigt aber in keiner Weise, daß im Jahre 10
nach der deutschen Einheit dieser Zustand im Osten
weiterhin anhält. Man findet solch absurde Zustände,
daß man mit dem ICE von Berlin nach München
schneller über Magdeburg und Hannover kommt als auf
dem direkten Weg über Leipzig. So fallen entsprechend
mehr Tarifkilometer bei der Bahn an.
({9})
Zum Schluß möchte ich Sie darauf hinweisen, daß die
Bahn momentan eine Philosophie verfolgt - gerade Sie
müssen das zur Kenntnis nehmen -, die dem absolut
entgegengesetzt ist, was sie behauptet. Ich zitiere aus der
„Deutschen Verkehrs-Zeitung“, in der sich Herr Sinnekker aus dem Frachtbereich so äußert: Das Warten auf
den Kunden bei der Bahn gehört jetzt endgültig der Vergangenheit an. - Das ist die Philosophie der heutigen
Bahn, nämlich keine Rücksicht auf die Kunden und auf
die Belange eines ökologischen Verkehrs zu nehmen.
Sie macht im Grunde Politik gegen den Markt und gegen die Kunden und hat so die absurde Teufelsspirale in
Gang gesetzt: neue Tariferhöhungen, ein höherer Fahrgastverlust, neue Tariferhöhungen usw. Damit fährt sie
auf das Abstellgleis.
Danke schön.
({10})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich
berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages
auf Mittwoch, den 24. März 1999, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.