Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/19/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Guten Morgen, die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9a sowie die Zu- satzpunkte 6a bis 6c auf: 9 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Peter Struck, Otto Schily, Wilhelm Schmidt ({0}), weiteren Abgeordneten der Fraktion der SPD, den Abgeordneten Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch, Kristin Heyne, weiteren Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Guido Westerwelle, Jörg van Essen und weiteren Abgeordneten der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts - Drucksache 14/533 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({2}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP6 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Staatsangehörigkeitsrechts ({3}) - Drucksache 14/535 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({4}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Modernes Ausländerrecht - Drucksache 14/532 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({5}) Rechtsausschuß c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Integration und Toleranz - Drucksache 14/534 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({6}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe für die SPDFraktion dem Kollegen Michael Bürsch das Wort.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist nicht nur für das Gelingen der Ausländerintegration von zentraler Bedeutung. Sie steht auch für die Reform- und Zukunftsfähigkeit der Politik insgesamt. - Diese richtige Feststellung stammt von den Kollegen Altmaier und Röttgen aus der Unionsfraktion. Ich stimme dem nachdrücklich und uneingeschränkt zu. Wir befassen uns heute in der Tat mit einem Modellprojekt für die Reformfähigkeit unserer Gesellschaft. Zunächst eine Vorbemerkung zum bisherigen Stil der Auseinandersetzung über die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. In Deutschland wurde über dieses Thema in den letzten Monaten intensiv gestritten: in politischen Veranstaltungen, in den Medien, an Infoständen und nicht zuletzt am Stammtisch. Kein Zweifel, eine Demokratie braucht Auseinandersetzung über den richtigen Weg. In letzter Zeit aber drohte ein entscheidendes Element unserer Demokratie unter die Räder zu geraten, nämlich die politische Kultur. ({0}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich plädiere für eine Form des politischen Streits, die dem Ernst des Themas und seiner gesellschaftlichen Bedeutung Rechnung trägt. Lassen Sie uns vom heutigen Tage an engagiert, aber sachlich, Herr Rüttgers, leidenschaftlich, aber tolerant über das Staatsangehörigkeitsrecht streiten! ({1}) So müßten im Grunde auch Sie von der CDU/CSU denken; denn Sie haben öffentlich erklärt und so Ihren Antrag begründet, bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts handle es sich um ein höchst sensibles Thema. Wie wahr! ({2}) Nach dem Motto: Wo bleibt das Positive?, möchte ich zunächst herausstellen, worüber wir uns beim Thema Staatsangehörigkeitsrecht im Prinzip einig sind. Fraktionsübergreifende Übereinstimmung besteht darüber, daß das veraltete Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 dringend reformbedürftig ist. Unbestritten ist auch die Notwendigkeit, den dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen umfassende politische Teilhabe zu ermöglichen. Schon 1984 war die damalige Bundesregierung der Auffassung: Kein Staat kann es auf Dauer hinnehmen, daß ein zahlenmäßig bedeutender Teil der Bevölkerung über Generationen hinweg außerhalb der staatlichen Gemeinschaft und außerhalb der Loyalitätspflichten ihm gegenübersteht. Schließlich kann niemand in diesem Hause und in öffentlichen Diskussionen ernsthaft bestreiten, daß bei einer Zahl von über 7 Millionen Ausländern nur verstärkte Integrationsbemühungen den sozialen Frieden in Deutschland sichern können. ({3}) Was sind nun die entscheidenden Fortschritte im vorgelegten Staatsangehörigkeitsrecht? Innenminister Schily wird am Ende der Debatte in seinem Beitrag noch ausführlich erläutern, was Neues in dem Entwurf steht. Vor allem mit der Einführung des Territorialprinzips und der deutlichen Verkürzung der Einbürgerungsfristen erreichen wir wichtige Verbesserungen. Auch für Vertriebene und Aussiedler gibt es Vereinfachungen. Auf die Einführung des Territorialprinzips oder Jus soli haben wir Sozialdemokraten sehr lange gewartet, um genau zu sein: 86 Jahre lang. Schon 1913 kämpften wir damals erfolglos - für dessen Einführung. Der sozialdemokratische Abgeordnete Landsberg prophezeite damals: Wenn unsere Anträge jetzt nicht das Recht der Gegenwart werden, so werden sie ganz sicherlich das Recht der Zukunft sein, und wir sind stolz darauf, daß wir auf diesem Gebiete wieder einmal als Pioniere tätig geworden sind. ({4}) Nun, daß es bis zur Einführung des Jus soli so lange dauern würde, konnte damals natürlich niemand ahnen, Herr Westerwelle. Aber wir Sozialdemokraten kennen seit über 130 Jahren den Reiz der Langsamkeit ({5}) - und der Gründlichkeit, so füge ich hinzu, Herr Marschewski. ({6}) Auf jeden Fall können wir am Ende dieses Jahrhunderts nun endlich damit beginnen, unsere Vorstellungen von einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht zu verwirklichen. An zwei Punkten entzündet sich die augenblickliche Debatte besonders: am sogenannten Optionsmodell und an der Hinnahme doppelter Staatsangehörigkeit. Zum Optionsmodell. Wir sind der Meinung, daß der vorgelegte Entwurf mit der Verfassung, insbesondere mit Art. 16, vereinbar ist. Zu dieser rechtspolitischen Frage wird meine Kollegin Christine Lambrecht noch im einzelnen Stellung nehmen. - Auch viele Mitglieder der Unionsfraktion sind offenbar - wie wir - von der Verfassungsmäßigkeit der Optionslösung überzeugt; denn nur so ist es zu erklären, daß über ein Drittel der Unionsabgeordneten auf einer Fraktionssitzung im Januar für das Optionsmodell votiert haben. Es gibt bei der CDU sogar einen sehr prominenten Kronzeugen, der sich schon 1993 bei einem Besuch der Türkei für das Optionsmodell ausgesprochen hat. Herr Rüttgers, Herr Marschweski, es handelt sich um Helmut Kohl, den Altkanzler. Er sagte damals bei einem Türkeibesuch: Dieses Optionsmodell ist in Ordnung. Für fünf Jahre sollen die jungen Leute die Möglichkeit für die doppelte Staatsangehörigkeit haben. ({7}) - Wenn Sie Zweifel an dieser Aussage haben, lege ich Ihnen gerne die Quellen dazu offen. Herr Schäuble, wenn Sie wirklich von der Überlegenheit Ihres Modells überzeugt sind, geben Sie doch in dieser wichtigen Frage die Abstimmung in Ihrer Fraktion frei! ({8}) In Ihrer Fraktion gibt es ja nachhaltige Stimmen auch für das Optionsmodell. Geben Sie die Abstimmung frei; dann hätten wir am Ende nämlich tatsächlich die breite parlamentarische Mehrheit, die auch Sie immer gefordert haben. ({9}) Zum zweiten Streitpunkt, der Frage der Doppelstaatlichkeit. Die Notwendigkeit, Doppelstaatlichkeit zumindest in bestimmten Fällen hinzunehmen, wird im Grundsatz von allen Fraktionen anerkannt. Der vorliegende Gesetzentwurf ergänzt nun in einigen Punkten sehr zurückhaltend - die bereits existierenden Möglichkeiten zur Hinnahme von Mehrstaatlichkeit, unter anderem für junge Menschen während einer Optionszeit von fünf Jahren. Besonders dringlich ist es, der ersten Ausländergeneration, die wir als Arbeitskräfte ins Land geholt haben und die hier seit vielen Jahren integriert ist, volle Bürgerrechte zu gewähren und die Einbürgerung zu erleichtern. Darauf haben zum Beispiel die evangelische und die katholische Kirche zu Recht hingewiesen. Emotionale Barrieren beim Verzicht auf die alte Staatsangehörigkeit sollten wir dabei nicht als Mißtrauensbeweis und Zeichen von Illoyalität werten. Für viele lange hier lebende Ausländer wird die Aufgabe der alten Staatsangehörigkeit als Bruch mit der eigenen Kultur, als Lösung von früheren menschlichen und familiären Bindungen empfunden. Solchen emotionalen und psychologischen Aspekten müssen wir bei der Gesetzgebung Rechnung tragen. Sie alle wissen, daß die Regierungskoalition ursprünglich einen anderen, einen konsequenteren und auch praktikableren Gesetzentwurf vorgelegt hat. Unter den derzeitigen Rahmenbedingungen haben wir davon Abstriche gemacht, mit der Absicht, unserem politischen Ziel der Integration von Ausländern jedenfalls mit einem ersten Reformschritt näherzukommen. Namentlich bei der Frage der Hinnahme von Doppelstaatlichkeit hätten wir uns bekanntlich eine etwas weniger engherzige Lösung gewünscht. Aus meiner Sicht gibt es auch nach wie vor keinen durchschlagenden sachlichen Grund, die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit zu diskreditieren: Bereits heute wird in der Bundesrepublik Deutschland die doppelte Staatsangehörigkeit akzeptiert, … ohne daß dies zu gravierenden praktischen, juristischen oder politischen Problemen geführt hätte. Diese wunderbar klarsichtige Formulierung stammt nicht aus der SPD, sondern ist Originalton F.D.P. Bereits im April 1993 hat die F.D.P.-Fraktion einen Gesetzentwurf befürwortet, „der die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit nicht mehr verlangt“. Im übrigen waren es Union und F.D.P. selbst, die die doppelte Staatsbürgerschaft seit 1990 in einer Weise gesetzlich ermöglicht haben, daß bei rund einem Drittel der Eingebürgerten die Beibehaltung ihrer alten Staatsbürgerschaft zugelassen wird. Allzugern verschwiegen wird auch, daß die über 2 Millionen Doppelstaatler in Deutschland, unter ihnen honorige Lehrerinnen und Lehrer, Verwaltungsbeamte und Polizisten, ({10}) tagtäglich die unproblematische Handhabung von Mehrstaatlichkeit vorleben. Wie sehr die Probleme der doppelten Staatsangehörigkeit in Deutschland überdramatisiert werden, Herr Marschewski, zeigen nicht zuletzt die durchweg positiven Erfahrungen anderer Länder. Schauen wir auf diesem Gebiet nach Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden. Nehmen Sie als Beispiel die überaus beliebte niederländische Königin Beatrix. Sie besitzt nicht eine, nicht zwei, nicht drei, sie besitzt vier Staatsbürgerschaften, neben der niederländischen auch die deutsche, die englische und die kanadische; man höre und staune. ({11}) Kein Niederländer, Herr Marschewski, hat jemals ernsthaft bezweifelt, daß seine Königin Beatrix eine loyale, staatstreue Holländerin sei. ({12}) Auch käme niemand auf die Idee, Herr Zeitlmann, einem Bayern vorzuhalten, er könne nicht gleichzeitig auch ein guter Deutscher und ein guter Europäer sein. ({13}) Zum jetzigen Gruppenantrag bleibt festzuhalten: Auch ohne generelle Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft macht die nun gefundene Lösung vielen ausländischen Mitmenschen ein ihnen lange vorenthaltenes, faires Integrationsangebot, als politisch und rechtlich Gleiche in unserer Gesellschaft heimisch zu werden. Das ist ein deutlicher Schritt in die richtige Richtung. ({14}) Indem wir ausreichende Sprachkenntnisse, Unterhaltsfähigkeit und Verfassungstreue von den Einbürgerungsbewerbern verlangen, machen wir außerdem deutlich, daß es eine Einbürgerung zum sogenannten Nulltarif nicht gibt. Die flexible Ausgestaltung der Voraussetzungen gewährleistet zugleich, daß sie einer Einbürgerung keine unüberwindbaren Hürden vorsetzen. Genauso wichtig wie rechtliche Erleichterungen darauf sollten wir in der heutigen Debatte hinweisen ist letztlich der Bewußtseinswandel, der durch die Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in Gang gebracht werden soll; denn ohne das berechtigte Vertrauen der deutschen und der ausländischen Bevölkerung in die wechselseitige Bereitschaft zu Toleranz und Akzeptanz werden weitere Reformschritte und Integrationserfolge nicht möglich sein. Integration im rechtlichen, sozialen, sprachlichen und kulturellen Bereich muß zukünftig viel stärker als eine gesellschaftliche Daueraufgabe begriffen werden. Bessere Rahmenbedingungen allein werden nicht zu mehr Integration führen. Vielmehr brauchen wir ein langfristig angelegtes Bündnis für Integration von Bund, Ländern und Kommunen, von Kirchen und Verbänden und über Parteigrenzen hinweg. ({15}) Dafür brauchen wir Aufklärung, Toleranz und einen langen Atem. Dazu müssen wir bereit sein, zum Beispiel den Erwerb der deutschen Sprache stärker als bisher zu fördern. ({16}) - Wir werden das vorlegen, Herr Zeitlmann. ({17}) Lassen Sie mich zum Schluß einen Hinweis geben, der vielleicht zu allgemeiner Zustimmung führen kann. Ich habe dafür plädiert, daß wir die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts von nun an sachlich und konstruktiv diskutieren. In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat aus dem 3. Buch Moses schließen ({18}) - die Bibel gibt soviel her, auch für diesen Fall -, dessen friedensstiftender Wirkung sich hoffentlich auch die christlich orientierte Fraktion in diesem Hause nicht entziehen kann. Im 3. Buch Moses, 19. Kapitel heißt es: Wenn … ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn schätzen wie dich selbst. ({19})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zeitlmann für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Bürsch, ich habe Ihnen relativ intensiv zugehört. ({0}) Das fällt schwer, wenn sich jemand so scheinheilig verhält. ({1}) Ich verzeihe Ihnen noch den Moses. Das ist Ihr Problem. Was ich Ihnen aber nicht verzeihe, ist, daß Sie hier zu Anfang sagten, wir hätten die politische Kultur verletzt ({2}) - warten Sie nur! -, als wir ein ganz normales demokratisches Recht in Anspruch genommen haben, nämlich eine Mobilisierung der Öffentlichkeit zu einem unsinnigen Gesetz zu unternehmen. ({3}) Meine Damen und Herren, ich komme aus einem Wahlkreis, wo wir bei 220 000 Wahlberechtigten zwischenzeitlich 55 000 Unterschriften haben. ({4}) Wenn Sie wollen, nenne ich Ihnen namhafte SPD-Leute in meinem Wahlkreis, die ganz offen in die Geschäftsstelle kamen und gesagt haben: Diesen Unsinn mache ich nicht mit. - Wenn Sie wollen, nenne ich Ihnen auch Mitglieder Ihrer Partei, die sich bei mir telefonisch gemeldet haben und gefragt haben: Haben die noch alle Tassen im Schrank? ({5}) Sie können kritisieren. Aber Sie können sich nicht hier hinstellen und jemandem vorwerfen - wie haben Sie gesagt? -, ein Element der Demokratie und die politische Kultur zu verletzen, ({6}) wenn Sie nicht Ihren eigenen Leuten, die ähnlich denken wie ich, diesen Spiegel vorhalten. Daß Sie in der weiteren Rede von emotionalen Regungen - das war Ihre Formulierung - der Menschen gesprochen haben, auf die man Rücksicht nehmen muß, weil sie nicht verzichten können, sprechen, paßt mir ebenfalls nicht ganz. ({7}) Sie machen Emotionen zur Grundlage Ihrer Überlegungen; aber auf die Emotionen Ihrer Wähler und der Bürger in diesem Lande nehmen Sie keine Rücksicht. ({8}) Diesen Widerspruch müssen Sie erst einmal auflösen. Herr Bürsch, ein bißchen Chuzpe war schon dabei, als Sie sagten: Gebt ihr Unionsleute doch die Abstimmung frei! ({9}) Ich sitze seit 1987 im Parlament. ({10}) Ich kann Ihnen nur sagen: Was ist denn bei Ihnen? Geben Sie doch die Abstimmung zu unserem Modell „Einbürgerungszusicherung“ frei! Was ist das Problem? Sie wissen ganz genau, daß Sie sie nicht freigeben - aus ganz klaren Gründen. Ich habe mir einmal schriftlich geben lassen, was in den letzten Wochen von namhaften Vertretern der Bundesregierung zum Thema Optionsmodell gesagt worden ist. Am 2. Februar zum Beispiel gab es eine Sendung mit dem Bundeskanzler: „Was nun, Herr Schröder?“ ({11}) - Ich habe es nicht vergessen, Kollege Bötsch. - In diesem Fernsehinterview sagte Herr Schröder, eine doppelte Staatsbürgerschaft nur bis zur Volljährigkeit, wie es die F.D.P. vorgeschlagen habe, mache eine Verfassungsänderung nötig. Er verwies auf die Bestimmung des Grundgesetzes, nach der eine deutsche Staatsbürgerschaft nicht entzogen werden kann. Diese Bestimmung wolle er nicht ändern; sie sei ein Bollwerk unserer Verfassung. Eine Änderung des Koalitionsentwurfs entsprechend dem F.D.P.-Vorschlag komme daher nicht in Frage. - Ähnliche Kritikpunkte sind vom Kollegen Özdemir in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ am 21. Januar 1999 vorgebracht worden. Dann gibt es noch die wunderschöne Meldung vom 11. Februar, daß Bundesinnenminister Schily dem InfoRadio Berlin gesagt habe, er habe verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Vorschlag, Ausländern mit einem Doppelpaß, die sich mit 23 Jahren nicht für eine Staatsangehörigkeit entscheiden, den deutschen Paß zu entziehen. ({12}) - Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Ich habe Sie auch nicht gefragt, obwohl Sie manches gesagt haben, was mich zu Fragen veranlaßt hätte. Ich sage Ihnen eines: Eher bekommen Sie einen Elefanten in ein Mauseloch, als daß diese Bundesregierung einmal vier Wochen bei einer Meinung bleibt. ({13}) Das ist an Hand der vorgebrachten Zitate nachweisbar. Wenn dann jemand wie Sie, Herr Bürsch, sagt, man könne doch ein guter Bayer und trotzdem ein Deutscher sein, dann stimme ich ihm zu. ({14}) Aber eines kann man sicher nicht sein: Man kann nicht ein guter Bayer und gleichzeitig ein „Saupreiß“ sein, um das mal deutsch auszusprechen. ({15}) Das eignet sich bei uns nur noch für Witze. ({16}) - Was da alles Verleumdung ist. Sie legen heute einen Gesetzentwurf vor, aus dem ich einige Punkte aufgreifen möchte. Sie sagen ganz klar mit vielen Ausnahmeregelungen -, die Mehrstaatlichkeit solle künftig weit ausgedehnt werden. In einem Absatz heißt es, älteren Bürgern solle die Entscheidung in der Frage der Doppelstaatlichkeit erleichtert werden. Definieren Sie mir einmal, was ein älterer Mensch ist. ({17}) Setzen Sie da die Grenze bei 60 Jahren? Sie verwenden nur allgemeine, schwammige Begriffe. Sie schreiben weiter, vermögensrechtliche und wirtschaftliche Nachteile ({18}) sollen zur Möglichkeit der Doppelstaatlichkeit führen. Damit ist für mich klar: Sie legen ein Gesetz vor, in das Sie zwar formal hineinschreiben, die Mehrstaatlichkeit solle vermieden werden, aber Sie schaffen so viele Ausnahmetatbestände, ({19}) daß Sie viele Möglichkeiten eröffnen. Es gibt schon derzeit manche Ausnahmeregelungen; das weiß auch ich. Wenn Sie hier darauf hinweisen, daß es Doppelstaatler gibt, dann ist das unbestritten; das wird durch Wiederholung nicht besser. ({20}) Sie wissen, daß es nach den statistischen Zahlen ungefähr 580 000 sind. ({21}) Aber das ist auch egal. Ich behaupte doch nicht, daß jeder, der krank ist, auch schwerkrank sein muß, und ebenso behaupte ich nicht, daß jeder Doppelstaatler an sich schon negativ ist. Das hat nie jemand behauptet. ({22}) Aber Sie sagen: Weil es positive Beispiele gibt, machen wir alle zu Doppelstaatlern. Das ist aus Ihrer Diktion hervorgegangen. Viele, unter anderem Frau Müller und Herr Struck, haben gesagt, momentan müßten sie etwas Kreide fressen; aber irgendwann kämen sie auf ihre Urvorstellungen von genereller doppelter Staatsangehörigkeit zurück. Das können Sie doch nicht bestreiten. In Ihrer Diktion haben Sie ähnliches zum Ausdruck gebracht. Ein weiteres Argument muß ich noch loswerden: Sie wollen künftig jedem ausländischen Jugendlichen die doppelte Staatsangehörigkeit geben. Ich habe einmal durchgerechnet, wie viele Jugendliche das betrifft. In Deutschland werden pro Jahr in etwa 100 000 ausländische Kinder geboren. Wenn ich einmal von einer geringeren Zahl ausgehe, dann werden davon etwa 60 000 ausländische Kinder eingebürgert. Wenn Sie das jetzt rückwirkend auf die letzten zehn Geburtsjahre beziehen, dann heißt das, daß mit einem Federstrich 600 000 ausländische Jugendliche eingebürgert werden. Ich frage Sie, wie viele Ausländer nach der Kriminalitätsstatistik - ({23}) - Wenn ich boshaft wäre, würde ich sagen - ({24}) - Ja, natürlich, jetzt bin ich boshaft. Was stört Sie denn daran, wenn man im Zusammenhang mit dem vorliegenden Thema auch über Kriminalität diskutiert? ({25}) Ist man in diesem Hause nicht mehr in der Lage, bei einem solchen Thema auch über den Aspekt der Kriminalität zu diskutieren? Ich will wissen, ob Sie sich Gedanken darüber gemacht haben, daß Sie künftig alle kleinen Mehmets hierbehalten müssen. ({26}) Mit der von Ihnen vorgesehenen Regelung müssen Sie diejenigen Menschen, die in diese Gesellschaft absolut nicht passen und alles getan haben, um sich an den Rand dieser Gesellschaft zu begeben, auf Dauer behalten. ({27}) - Sie können ruhig schreien. ({28}) Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Kriminalität ist auch ein Aspekt, den wir berücksichtigen müssen. Deswegen müssen Sie sich diesen entgegenhalten lassen. Wenn Sie im Hinblick auf das Thema „doppelte Staatsangehörigkeit“ eine Befriedung ernstlich gewollt hätten, dann hätten Sie in Ruhe auch mit uns, mit den Kräften der Opposition, eine gemeinsame, vernünftige Handlungsweise zu finden versucht. ({29}) Einen solchen Versuch haben Sie nicht einmal unternommen. Sie können der Öffentlichkeit nicht erklären, warum Sie von den Äußerungen Schröders und Schilys bis hin zu dem heutigen Gesetzentwurf einen derartigen Bocksprung gemacht haben. Das Produkt, das Sie heute vorlegen, haben Sie noch vor vier Wochen für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten. Ich sage Ihnen ganz offen: Unsere Einbürgerungszusicherung beinhaltet im Kern das, von dem Sie behaupten, daß es hinter Ihrem Gesetzentwurf stehe, nämlich ein Integrationsangebot. Nach der Zusicherung kann man den ausländischen Jugendlichen sagen: „Ihr könnt ab sofort damit rechnen, Deutsche zu werden, also einen deutschen Paß zu bekommen, wenn ihr volljährig seid, euch entsprechend gut führt und die deutsche Sprache gelernt habt.“ Sie aber sollten einmal draußen erklären, was an Ihrem Entwurf, in dem Sie sagen: „Ich mache euch automatisch zu Deutschen, ob ihr wollt oder nicht; - auch der fanatische Islamist bekommt per Expreß einen deutschen Paß für sein Kind ins Haus geschickt, ob er will oder nicht“, besser ist. Hinzu kommt, daß Sie das Ende Ihres Unternehmens, nämlich den Zeitpunkt, zu dem der ausländische Jugendliche 23 Jahre alt wird, verfassungsrechtlich nicht im Griff haben. Ich kann den Menschen Ihr Vorhaben nicht erklären. Weil ich dies nicht kann, kann ich Ihren Entwurf nur für falsch halten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({30})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hans-Peter Kemper.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Zeitlmann, Sie haben in Ihrer Rede erstens behauptet, wir würden Kriminelle einbürgern. Ich weise Sie darauf hin, daß Sie wider besseres Wissen mehrere Dinge unterstellt haben, die so von uns in keiner Weise angedacht worden sind. Das wissen Sie ganz genau. Denn wir schließen die Einbürgerung von Kriminellen bzw. von Extremisten aus. Zweitens haben Sie in Ihrer Darstellung eine infame Unterstellung begangen. Denn Sie haben den Eindruck erweckt, als ob ausländische Mitbürger deutlich krimineller wären als vergleichbare deutsche Gruppen. Sie wissen ganz genau, daß die ausländische Bevölkerung, die sich seit langem in der Bundesrepublik aufhält und arbeitet, nicht krimineller ist als vergleichbare deutsche Gruppen. ({0}) Sie wissen auch ganz genau, daß die Kriminalitätsbelastung im wesentlichen auf die einreisenden organisierten Kriminellen und auf die ausländerspezifischen Straftaten, die die Deutschen gar nicht begehen können, zurückzuführen ist. Ich halte es für sehr bedauerlich, daß Sie in einer solchen Rede, vor einem solchen Publikum diese unwahren Behauptungen wiederholen. ({1}) Im übrigen ist mir bis heute noch nicht klar: Wie soll man zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen unterscheiden, wenn wir die ausländischen Kinder mit der Geburt einbürgern? ({2}) Denn auch in der Vererbungslehre geht man davon aus, daß niemand als Krimineller geboren wird, sondern daß verschiedene Faktoren daran mitwirken, ob die MenWolfgang Zeitlmann schen später kriminell werden oder nicht. Die Geburt hat am wenigsten damit zu tun. Von daher geht Ihre Darstellung völlig an der Sache vorbei. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort zur Erwiderung hat der Kollege Zeitlmann. ({0})

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kemper, Sie wissen ganz genau, daß Sie hier ein Modell vorlegen - ich habe das eingehend ausgeführt -, mit dem Sie die Konsequenz, nämlich die endgültige doppelte Staatsangehörigkeit, verfassungsrechtlich nicht im Griff haben. Diese Regelung ist nach den Worten Ihres Bundeskanzlers, um es vorsichtig auszudrücken, verfassungsrechtlich bedenklich. Was die Einbürgerung derjenigen angeht, die kriminell werden, habe ich mich nicht so falsch ausgedrückt, wie Sie das hingestellt haben. ({0}) - Gut, dann erkläre ich es Ihnen noch einmal: Sie müssen in Kauf nehmen, daß ein gewisser Anteil derjenigen, die Sie heute einbürgern, kriminell wird. Ich habe ja nicht gesagt, schon das Embryo sei potentiell kriminell. Ich weise nur darauf hin: Wenn Sie die Jugendkriminalität in unseren Großstädten in bezug auf ausländische und inländische Bevölkerung vergleichen, dann stimmt Ihre Rechnung nicht. In den Kreisen ausländischer Jugendlicher ist die Kriminalität definitiv höher. Sie haben recht - etwas anderes habe ich auch nicht behauptet -, wenn Sie sich auf die gesamte Wohnbevölkerung beziehen und dann zwischen ausländischen und inländischen Teilen vergleichen. Unter den Jugendlichen, die Sie einbürgern wollen, ist der Anteil der Kriminellen leider erhöht. ({1}) Wenn Sie die Konsequenz der doppelten Staatsbürgerschaft nicht im Griff haben, dann nehmen Sie in Kauf, daß Sie künftig „Mehmets“ nicht mehr abschieben können. Das ist Faktum. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention hat die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte dem Hohen Haus versichern, daß der Eindruck eines einförmigen Bayerns nicht stimmt. Es gibt auch ein anderes Bayern. ({0}) Es gibt ein Bayern, das radikaldemokratisch ist. Es gibt ein Bayern, das tolerant, das offen, das großherzig ist. Es gibt ein Bayern, das sich nicht nur am Sonntagmorgen auf die Bibel besinnt. ({1}) Es gibt ein Bayern, das für gleiche Rechte für alle Menschen steht, das für Integration und gegen Ausgrenzung steht. Und es gibt Menschen aus Bayern, die stolz sind, daß sie - wie ich - irgendwo in der Verwandtschaft noch etwas Preußisches haben. ({2}) Wenn wir schon bei der Bibel sind, dann empfehle ich Kollegen Zeitlmann Lukas 18, 11: Da heißt es: „Gott, ich danke dir, daß ich nicht wie die anderen Menschen bin …“ Herr Zeitlmann, das sagen die Pharisäer. Das ist mein Wort zum Sonntag für Sie. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Schließlich noch eine Kurzintervention des Abgeordneten Rüdiger Veit.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich stamme nicht aus Bayern, sondern aus Hessen, bin aber trotzdem des Lesens und des Schreibens kundig. Ich möchte den Kollegen Zeitlmann fragen, ob er folgenden Satz wiedererkennt: Seit Jahren rechtmäßig in Deutschland lebende Ausländer sind nicht signifikant häufiger an Straftaten beteiligt als Deutsche. Dieser Satz, der von ihm unterschrieben ist, stammt man höre und staune - aus der Drucksache 14/532, „Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, … Wolfang Zeitlmann“ zum modernen Ausländerrecht. Das sind Ihre Worte, Herr Zeitlmann. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Kollege Zeitlmann zur Antwort.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich habe doch gerade klargestellt, daß es einen Unterschied gibt zwischen der Kriminalitätsrate der ausländischen Bevölkerung insgesamt und der Kriminalitätsrate ausländischer Jugendlicher. Das, was Sie vorgelesen haben, sagt überhaupt nichts zur speziellen Jugendkriminalität in unseren Großstädten.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nunmehr das Wort der Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Zeitlmann, ich finde, Ihr Beitrag war dem Ernst des Themas, dem Ernst, den diese Debatte verdient, wirklich nicht angemessen. ({0}) Heute geht es um eine zentrale Frage des Zusammenlebens aller Menschen in dieser Republik. Solche Beiträge, wie Sie sie hier geleistet haben, tragen nicht zum guten Zusammenleben, sondern sie tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei. ({1}) 7 Millionen sogenannte Ausländer leben in Deutschland, fast zwei Drittel schon seit über 10 Jahren, mehr als 30 Prozent bereits seit über 20 Jahren. Hunderttausend Kinder ausländischer Eltern werden jährlich hier geboren. Aber nach dem alten Ausländergesetz sind sie Fremde im eigenen Land. Wir beenden nach nunmehr 86 Jahren endlich diese Ausgrenzung. Wir machen viele von diesen sogenannten Ausländern endlich zu Inländern. ({2}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, das sind Menschen, die dieses Land mit aufgebaut, die unschätzbar viel zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands beigetragen, die Freunde gefunden haben, die sich ehrenamtlich engagieren und die unsere Gesellschaft nachdrücklich geprägt und auch bereichert haben. ({3}) Diesen Menschen geben wir nun endlich die gleichen Bürgerrechte, zum Beispiel das Recht, bei der Ausgestaltung des Zusammenlebens mitzuwirken, das Recht, bei der Verabschiedung von Gesetzen mitzubestimmen, und das Recht zu wählen. Diese elementaren Rechte haben wir Deutschen bis zum heutigen Tage für uns reserviert; denn nach dem Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 sind Deutsche nur diejenigen, die deutsche Eltern haben. Dieses Relikt aus der Kaiserzeit ändern wir mit dieser Reform. ({4}) Künftig ist automatisch Deutscher, wer hier geboren wird. Und nicht nur das: Auch Kinder, die hier geboren wurden und nicht älter als zehn Jahre sind, erhalten einen deutschen Paß. Erwachsene bekommen künftig schon nach 8 Jahren statt nach 15 Jahren einen solchen Anspruch, und zwar auch dann, wenn sie unverschuldet von Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe leben. Beide Neuerungen sind aus unserer Sicht ein großer Erfolg; denn das bietet die Chance für eine schnelle und unbürokratische Einbürgerung vieler hunderttausend Menschen, denen als sogenannte Ausländer die Bürgerrechte in diesem Land heute noch verwehrt werden. ({5}) Bei all den Schwächen, die dieses Gesetz aus der Sicht meiner Fraktion auch hat: Die Einführung des Geburtsrechts in der Bundesrepublik ist wirklich ein historischer Schritt. Das ist eine Reform, mit der diese Republik endlich den Anschluß an Europa findet. Deshalb wird meine Fraktion diesem Gesetzentwurf einstimmig zustimmen. ({6}) Sicherlich, er bleibt an einigen Stellen hinter unseren Zielen zurück. Es ist nicht das, was wir, diese Koalition, uns gewünscht haben und was weiterhin notwendig bleibt. Aber es ist ein erster Schritt. Da wir nun einmal auf die Zustimmung des Bundestages und des Bundesrates angewiesen sind, müssen wir akzeptieren, daß die Mehrheit im Bundesrat zu einer weitergehenden Reform nicht bereit ist. Wir haben Kompromisse gemacht, die für uns und viele Menschen in unserem Land nicht einfach sind. Wir haben - auch das will ich nicht verhehlen - nach wie vor große Bedenken gegen das Optionsmodell. Warum sollen sich Jugendliche mit Erreichen der Volljährigkeit plötzlich für eine Staatsbürgerschaft entscheiden? Warum stellt man ihre Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft, wenn sie 18 werden, auf einmal in Frage? Meine Fraktion meint, hier geborene Kinder sollten mit der Gewißheit aufwachsen, daß sie in unsere und zu unserer Gesellschaft gehören. Ich möchte besonders Ihnen, meine Damen und Herren von der F.D.P., einmal zu bedenken geben: Haben Sie sich einmal überlegt, daß Sie mit dem Optionsmodell, mit dieser erzwungenen Entscheidung in vielen Familien schwere Konflikte auslösen können? Denn viele Eltern werden eine Entscheidung ihrer Kinder für die deutsche Staatsbürgerschaft als Abkehr von ihren eigenen Bindungen an ihr Heimatland empfinden, das heißt als Entscheidung gegen die Eltern verstehen. Ich frage Sie: Wollen Sie das wirklich? Das ist unsere Hauptkritik an dem Optionsmodell und nicht, Herr Rüttgers und meine Damen und Herren von der CDU, die verfassungsrechtlichen Fragezeichen. In vielen Fällen wird dies die Integration verhindern. Bedauerlich ist auch, daß die generelle Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit jetzt nicht durchsetzbar war. Nicht, weil sie unser eigentliches Ziel war, wie Sie von der Opposition wider besseres Wissen immer wieder behauptet haben; nein, die doppelte Staatsbürgerschaft ist und war immer nur als Instrument gedacht, um die schnelle und unbürokratische Einbürgerung zu erreichen. Wir haben jetzt zwar die Ausnahmen bei der Hinnahme der Mehrstaatigkeit erweitert, was fehlt, ist aber der Brückenschlag zur ersten Generation. Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., ist leider an Ihnen gescheitert. Ausschließlich Sie tragen die Verantwortung dafür, daß der Gesetzentwurf hier nicht weiter geht. Sie haben das blockiert. ({7}) - Ich würde nicht klatschen - Sie werden damit die Einbürgerung der ersten Generation verhindern. Es ist - ich möchte da auf Ihr Argument eingehen nämlich genau umgekehrt. Sie sagen immer, mit 30 Jahren kann man sich doch entscheiden, denn da ist man ja schon so lange hier. Gerade bei der ersten Generation sind die Bindungen an das Heimatland aber noch sehr stark. Gerade deshalb werden sich die meisten Einwanderer der ersten Generation ohne die Möglichkeit des Doppel-Passes nicht einbürgern lassen. Ich sage einmal folgendes: Gerade diesen Menschen, die wir, meine Eltern, Sie, als Gastarbeiter hierhergeholt haben und die hierbleiben werden, sollte man doch den Brückenschlag eröffnen und den Doppel-Paß gewähren. ({8}) Wir können das noch ändern, meine Damen und Herren von der F.D.P. ({9}) - ich dachte, wir machen jetzt ein parlamentarisches Verfahren - , und ich fordere Sie auf, bis zum Abschluß des parlamentarischen Verfahrens wenigstens diese Chance zur Integration zu nutzen. Der Kompromiß ist trotz der Kritik, die wir üben, ein erster wichtiger Schritt zu einer umfassenden Reform. Gerade wegen seiner Schwächen bleibt - das sage ich für meine Fraktion ganz deutlich - dieses Thema für uns auf der politischen Tagesordnung. Unser Ziel ist und bleibt es, allen dauerhaft hier lebenden Menschen wirklich die gleichen Bürgerrechte zu geben. Deshalb werden wir in der Gesellschaft um die Mehrheiten kämpfen, um einen weiteren Schritt der Integration in ferner Zukunft durchzusetzen. ({10}) Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Marschewski. ({11}) Sie fordere ich auf, Ihre absolut zynische Unterschriftenkampagne endlich einzustellen. ({12}) Angeblich - Herr Rüttgers, Sie werden ja heute noch sprechen - soll es dabei um Integration gehen. Sie wissen ganz genau, daß diese Kampagne eine völlig andere Wirkung hat. Sie integriert nicht, sie spaltet die Gesellschaft. ({13}) Viele Menschen, die ihre Listen unterzeichnet haben, haben nicht für Integration, sondern, um es mit den Worten von Ignatz Bubis zu sagen, gegen Ausländer unterschrieben. Sie haben daher auf dem Rücken der hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer Stimmungsmache betrieben. Das finde ich unverantwortlich, ({14}) vor allen Dingen auch deshalb, weil Ihre scheinheilige Kampagne gegen den Doppel-Paß auf Behauptungen beruht, die schlichter Unfug sind. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist kein Privileg, wie Sie unterstellen, ({15}) und sie hat nichts, aber auch gar nichts mit Rosinenpikkerei zu tun. Das ist dummes Zeug, und noch dazu gefährlich. ({16}) Die Rechte und Pflichten von Doppelstaatsbürgern richten sich ganz einfach nach dem festen Wohnsitz. Die zweite Staatsangehörigkeit zu bekommen bedeutet im Kern nur einen einzigen Vorteil - das muß man, glaube ich, einmal deutlich darstellen -, ({17}) nämlich den: Es gibt außer Deutschland ein weiteres Land, in dem man das Recht hat, sich jederzeit niederzulassen. Dieses Recht, meine Damen und Herren, Herr Zeitlmann, hat jeder Deutsche - das heißt, auch Sie in diesem Hause -, und zwar nicht nur in einem anderen Land, sondern in allen 14 Ländern der Europäischen Union. Da sollten wir doch nicht von Privilegien reden. Der Doppelpaß bedeutet eben keine doppelten Rechte. ({18}) Deshalb fordere ich Sie auf, mit dieser gezielten Desinformation aufzuhören. Sie schüren damit in unverantwortlicher Weise Neidgefühle. Kerstin Müller ({19}) Wieviel das Gerede von der Integration, auf das Sie wahrscheinlich noch zu sprechen kommen werden, Wert ist, zeigt sich meiner Meinung nach schon wenige Wochen nach der Hessen-Wahl: Roland Koch, der künftige Ministerpräsident von Hessen, hat schon kurz nach der Wahl nichts Besseres zu tun, als mit einem Federstrich die Sprachförderung des muttersprachlichen Unterrichts einzustellen. Soviel zur Umsetzung Ihres Integrationskonzeptes! Das ist Integration à la CDU. ({20}) Sie sollten Ihr Konzept einmal Herrn Koch schicken. Die Maßnahmen, die Sie vorschlagen, liegen meistens in der Kompetenz der Länder. Die rotgrün regierten Länder haben das meiste davon schon umgesetzt. Aber nicht genug, daß Integration bei Ihnen ein reines Lippenbekenntnis ist, nicht genug, daß Sie daran denken, selbst noch gegen diesen Kompromiß zu klagen und damit die unsägliche Stimmungsmache gegen die in Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer fortzusetzen ({21}) der Höhepunkt ist wirklich das von Ihnen heute eingebrachte Gesetz zur Regelung der Staatsangehörigkeit. ({22}) Da feiert Herr Kanther fröhliche Urstände. Die darin enthaltenen Vorstellungen fallen weit hinter das zurück, was wir in der letzten Legislaturperiode gewollt haben. ({23}) Was, bitte schön, soll die Einbürgerungszusicherung? Die ist praktisch wertlos. Denn die Hürden für die sogenannte Zusicherung sind höher als für einen Anspruch auf Einbürgerung nach dem geltenden Ausländergesetz - mit dem Unterschied, daß der Anspruch auf Einbürgerung zum Paß führt, während Ihre abenteuerliche Konstruktion nur zu einer Zusicherung auf jenen Paß führt. Ich frage mich: Was soll das, bitte? ({24}) Ich glaube, diese Konstruktion ist das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Wir sollten uns damit nicht mehr länger beschäftigen. ({25}) Ich möchte zum Schluß aus einem Aufruf zitieren, in dem es heißt: Die soziale und rechtliche Integration der in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürger ist eine moralische Verpflichtung gegenüber den Betroffenen und unverzichtbar für die dauerhafte Bewahrung des gesellschaftlichen Friedens. Der Schaffung eines zeitgemäßen Staatsangehörigkeitsrechts kommt damit eine zentrale Bedeutung zu. Frau Süssmuth, Herr Altmaier, Herr Geißler, Herr Röttgen, Herr Pflüger ({26}) und viele anderen Damen und Herren von der Union ({27}) - gleich, ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen -, ich denke, Sie wissen nur zu gut, aus welchem Text dieses Zitat stammt. 150 von Ihnen haben in der letzten Legislaturperiode den sogenannten Reformaufruf unterzeichnet, aus dem diese Passage stammt. Der sogenannte Rüttgers-Entwurf hat nichts, aber auch gar nichts mit den Forderungen dieses Aufrufes zu tun. Im Gegenteil: Was die Einführung des Geburtsrechts betrifft, entspricht er eher dem, was wir heute vorgelegt haben. 150 von Ihnen haben diesen Aufruf unterschrieben - Sie nicht, Herr Zeitlmann, wie man eben gemerkt hat. Sie haben jetzt - das meine ich ganz ernst ({28}) die einmalige Chance: Sie können die Forderungen aus diesem Aufruf in die Realität umsetzen, indem Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, gestatten Sie, auch wenn Sie am Ende Ihrer Rede sind, noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hohmann?

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde das gerne noch zu Ende führen. Gerade die Form des Gruppenantrags bietet dazu die Möglichkeit. Überlegen Sie sich das gut! Ich glaube, Sie tragen eine große Verantwortung. Denn damit wäre auch dieser unsäglichen Unterschriftenkampagne, die diese Gesellschaft spaltet ({0}) und die das Land keinen Schritt voranbringt, der Boden entzogen. Dann können wir in diesem Haus endlich wie in anderen europäischen Ländern gemeinsam über das reden, was notwendig ist, nämlich darüber, wie man das Einwanderungsland Bundesrepublik gestaltet. Kerstin Müller ({1}) Ich fordere Sie daher auf: Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht! Stimmen Sie der vorgelegten Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zu! Stimmen Sie diesem ersten historischen Schritt einer Reform zu! Danke schön. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, eine Zwischenfrage zuzulassen. Aber der Zwischenfrager hat mittlerweile seine Frage zurückgezogen. Ich gebe dem Kollegen Bosbach das Wort für eine Kurzintervention.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Müller, Sie haben vorhin zumindest sinngemäß dahin gehend argumentiert, daß meine Fraktion durch ihre politische Haltung in der hier diskutierten Frage die Einbürgerung der ersten Einwanderungsgeneration verhindere. Sie haben dann gesagt - das akzeptiere ich auch als Argument -, daß gerade diese Generation eine besonders enge emotionale Bindung zum ursprünglichen Heimatland habe. Im Klartext bedeutet Ihre Argumentation, daß sich die Zahl derjenigen, die deutsche Staatsbürger werden möchten, wesentlich vergrößerte, wenn man die doppelte Staatsbürgerschaft bei Einwanderern hinnehmen würde. Ich darf in diesem Zusammenhang aus einer Umfrage der früheren Ausländerbeauftragten, Cornelia Schmalz-Jacobsen, zitieren. In der entsprechenden Drucksache steht wörtlich: Diejenigen Befragten, die bislang keine konkrete Absicht haben, sich einbürgern zu lassen …, - das ist der überwiegende Teil; über 90 Prozent derjenigen, die einen Anspruch auf Einbürgerung haben, machen davon keinen Gebrauch -, nennen als Hauptgrund den Wunsch, Türke/ Grieche/Italiener/Kroate/Serbe/Bosnier zu bleiben … - Das sind 71 Prozent. Die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit stellt hingegen für eine weitaus kleinere Gruppe ein Hindernis dar … Das sind 18 Prozent. Ich akzeptiere und respektiere, wenn drei Viertel der Betroffenen sagen: Mein größter Wunsch ist es, Türke, Serbe, Kroate oder Bosnier bleiben zu wollen. Aber stellt eine solche Haltung für Sie ein ernsthaftes Kriterium dar, diesen Menschen die deutsche Staatsangehörigkeit zu verleihen? Zweiter Punkt. Sie haben vorhin gesagt - hier stimme ich Ihnen zu -, das Optionsmodell trage Streit in die ausländischen Familien. Neben Ihnen sitzt der Kollege Beck, der mit mir zusammen an einer Podiumsdiskussion in der Volkshochschule Köln teilgenommen und dort gesagt hat: Das Optionsmodell ist schlecht, weil es in dem Moment Streit innerhalb der ausländischen Familien geben wird, in dem sich der junge Erwachsene zwischen zwei Staatsangehörigkeiten entscheiden muß und die Eltern darauf drängen, daß die angestammte Staatsangehörigkeit beibehalten wird. Das ist doch ein kardinaler Mangel des Optionsmodells. Deswegen können Sie Ihre Auffassung nicht ernsthaft mit den Argumenten, die Sie hier vorgetragen haben, vertreten und gleichzeitig für das Optionsmodell stimmen. Hier bietet unser Modell der Einbürgerungszusicherung einen großen Vorteil. Dritter Punkt. Wir können in der Tat nicht verhindern, daß jemand fragt, wo er gegen Ausländer unterschreiben könne. Auf eine solche Frage gibt es für die Mitglieder meiner Fraktion nur eine Antwort: Bei der Union nicht! ({0}) Wir sammeln Unterschriften für eine bessere Integration der dauerhaft und rechtmäßig hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer, für eine erleichterte Einbürgerung der jungen Generation und gegen die generelle doppelte Staatsbürgerschaft. Unsere Politik hat also absolut nichts mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Müller, möchten Sie darauf antworten? - Bitte.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, zunächst zur Unterschriftenkampagne: Sie sagen jetzt, daß es nicht Ihre Absicht gewesen sei, mit der Kampagne eine ausländerfeindliche Stimmung in der Gesellschaft zu schüren. Das konzediere ich. Dennoch müssen Sie zur Kenntnis nehmen - wir haben mit vielen Leuten an unseren Ständen in Hessen gesprochen; ich war selbst an den Ständen in den Fußgängerzonen; auch viele bekannte Persönlichkeiten, unter anderem Ignatz Bubis, ({0}) haben darüber berichtet, daß bei vielen Bürgern der scheinbar harmlose Text Ihres Aufrufes „Ja zur Integration“ ganz anders, als Sie ihn beabsichtigt hatten, angekommen ist; er hat in der Gesellschaft eine ganz andere Wirkung hervorgerufen. Wenn man feststellt, daß mit einem solchen Aufruf Stimmung zu Lasten der hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer gemacht wird, finde ich, muß man die Konsequenzen ziehen und eine solche Kampagne stoppen. ({1}) Kerstin Müller ({2}) Zum Optionsmodell. Es ist richtig, daß meine Fraktion hierzu Bedenken hat. Ich habe diese Bedenken genannt. Vor allen Dingen befürchten wir, daß es Konflikte in die Familien hineintragen könnte. Die Umsetzung des Modells bedeutet wahrscheinlich auch einen ziemlich hohen bürokratischen Aufwand. Aber ich und viele Mitglieder meiner Fraktion haben diesen Sachverhalt abgewogen. Ich möchte Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, bitten, dies auch zu tun. Für mich ist entscheidend, daß wir mit dieser Reform den Einstieg in das Geburtsrecht leisten. Es handelt sich um einen ersten, rechtspolitisch historischen Schritt. Ich bin der Meinung, daß man vor diesem Hintergrund die Hinnahme des Optionsmodells akzeptieren kann. Wir werden - das habe ich hier angekündigt, und das meine ich sehr ernst; wir können das gerne gemeinsam tun für gesellschaftliche Mehrheiten kämpfen, um das ius soli pur, ohne das Optionsmodell, zu bekommen. Ich finde, ein Einstieg ist besser, als daß es bei der alten, schlechten Rechtslage bleibt. ({3}) Herr Kollege, die Zahlen, die Sie genannt haben, sprechen genau für das von mir genannte Argument. Dies haben viele Gespräche ergeben. Die Verbände, die nicht alle grün gefärbt sind, haben dies immer wieder gesagt. Dies sagen auch viele Migrantenverbände, mit denen wir seit langem im Dialog stehen. Diejenigen, die seit 30 Jahren hier sind, haben nun einmal die größten Bindungen zu ihrem Herkunftsland. Deshalb sagen in dieser Umfrage 70 Prozent der Befragten: Wir möchten gerne Griechen, wir möchten gerne Türken bleiben. Aber das heißt nicht, daß sie nicht auch Deutsche werden würden, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu geben würde. Wir sind dafür, daß sich dieses Haus dazu entschließt, wenigstens diesen Menschen - wir selbst hätten auch nichts gegen die Hinnahme der generellen doppelten Staatsbürgerschaft - den doppelten Paß zu gewähren. Wir haben sie hierhergeholt, und wir haben die Verantwortung, ihnen endlich gleiche Rechte zu geben, endlich diesen Brückenschlag zu machen. Danke schön. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Kollege Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte ist aus Sicht der Freien Demokraten viel zu wichtig, als daß wir sie im parteipolitischen kleinen Karo führen sollten. ({0}) Wir reden hier bewußt über einen Gruppenantrag, weil es unser Ziel ist, als diejenigen, die diesen Gruppenantrag initiiert haben, eine breite politische Mehrheit in diesem Hause zu finden. Wenn das Recht von 1913 nach 86 Jahren zum erstenmal geändert wird, dann löst das in unserem Lande natürlich große Diskussionen aus. Wir sollten uns bewußt sein, daß diese Debatte nicht nur im Inland, sondern auch im Ausland sehr genau verfolgt wird. ({1}) Wir werden in Deutschland mit diesem Gesetz nach einer langjährigen Diskussion jetzt ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht bekommen. ({2}) Das neue Staatsangehörigkeitsrecht wird zu einer Verbesserung der Integration der dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland lebenden Menschen ausländischer Herkunft führen. Die Verbesserung der Integration dieser Menschen ist im Interesse unserer gesamten Gesellschaft dringend notwendig. ({3}) Was wir heute tun, dient nicht nur den hier geborenen Kindern, sondern auch unserem nationalen Interesse. Was wir jetzt unterlassen, rächt sich in Zukunft als soziale Verwerfung. ({4}) Diese Reform - das ist aus Sicht der Freien Demokraten besonders wichtig - wird von einer breiten Mehrheit in der Bevölkerung akzeptiert. Ich möchte mich deshalb - Sie werden verstehen, daß ich das zu Beginn meiner Rede tue - ausdrücklich bei denen herzlich bedanken, die bei diesem wichtigen, ja historischen Schritt mitgewirkt haben. Zunächst möchte ich mich ganz herzlich bei unserer früheren Kollegin Cornelia SchmalzJacobsen bedanken, die als seinerzeitige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung maßgeblichen Anteil an der hier vorliegenden Reform hat. ({5}) Ich möchte mich ausdrücklich auch bei Bundesinnenminister Otto Schily für eine sehr faire Verhandlungsführung bedanken; in diesen Dank schließe ich ausdrücklich auch den Kollegen Wiefelspütz als innenpolitischen Sprecher seiner Fraktion ein. ({6}) Schließlich bedanke ich mich - Sie werden verstehen, daß ich das tue - sehr herzlich bei unserem Kollegen Brüderle und dem Justizminister des Landes RheinlandKerstin Müller ({7}) Pfalz, Caesar, die für eine klare Linie im Gesetzentwurf gesorgt haben, so daß er nun eine Chance auf eine große Mehrheit im Bundestag und Bundesrat hat. ({8}) Weil wir hier nicht unter uns sind, sondern die Öffentlichkeit sehr genau hinsieht, welche Unterschriften unter einem solchen Gruppenantrag stehen und mit welchen Mehrheiten er beschlossen wird, will ich vorab eines klarstellen: Was wir hier heute als Gruppenantrag beraten, ist ein Vorschlag der Vernunft, um eine Einigung in der Sache zugunsten unseres Landes und zugunsten der Kinder zu erreichen. Das Ganze hat nichts, aber auch gar nichts mit Koalitionsliebäugeleien unter politischen Parteien zu tun. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist eben eine Sache von nationalem Interesse und viel zu wichtig, als daß sie mit machtpolitischen Taktierereien verbunden werden dürfte. ({9}) Die Kräfte der Vernunft haben sich zu einem Bündnis der Vernunft zusammengefunden, um für eines der wichtigsten gesellschaftspolitischen Vorhaben unserer Zeit eine Mehrheit in den Gesetzgebungsorganen sicherzustellen. Wir als Freie Demokraten, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sind mit diesem Verhandlungsergebnis hochzufrieden, weil es exakt der Lösung der Vernunft entspricht, die wir selbst in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf angemahnt haben. Deswegen haben wir unseren eigenen Gesetzentwurf von der Tagesordnung absetzen lassen; denn unser Gesetzentwurf ist zu 100 Prozent in diesem Gruppenantrag enthalten. Der Staat macht ein weitreichendes Integrationsangebot. Er verlangt aber auch bewußt eine aktive Integrationsentscheidung. ({10}) Wichtig war uns - deswegen hatten wir einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht -, daß die hier geborenen Kinder von dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland lebenden Ausländern mit Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Wer den Eindruck erweckt, eine im achten oder neunten Monat Schwangere könne gewissermaßen durch Deutschland reisen und ihr hier geborenes Kind wäre dann automatisch Deutscher, führt eine absolut unzutreffende Polemik ein. Wir reden hier von den Kindern seit langem in Deutschland rechtmäßig lebender Ausländer. Es dient unserer Gesellschaft, wenn wir diese Kinder integrieren. ({11}) Diese Kinder sollen von Anfang an wissen, daß sie dazugehören und Teil unserer Gesellschaft sind. Sie sollen nicht mit dem Bewußtsein aufwachsen, Ausländer zu sein. Diese Kinder sprechen Deutsch als Heimatsprache. Sie gewinnen in den Schulklassen die Vorlesewettbewerbe. ({12}) Sie können die Sprache ihrer Eltern allenfalls noch mit einem deutschen Akzent. Es macht keinen Sinn, diese Kinder erst künstlich von ihren Altersgenossen abzugrenzen, um sie anschließend mit großem Aufwand und ungewissen Erfolgsaussichten wieder integrieren zu müssen. ({13}) Wenn es noch eines Beleges bedurft hätte, daß das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht zugunsten hier geborener Kinder geändert werden muß, dann haben ihn die Ereignisse vor wenigen Wochen geliefert, als wir beinahe täglich Bilder fanatisierter Jugendlicher sehen mußten, die sich von der Gruppengewalt der PKK mitreißen ließen. Deswegen, Herr Kollege Zeitlmann, möchte ich Ihnen einmal diese Sicht der Dinge nahebringen. Es ist unzulässig, gewissermaßen fahrlässig, ich finde, sogar grob fahrlässig, ({14}) wenn Sie den Eindruck erwecken, die in Deutschland geborenen ausländischen Kinder seien lauter kleine Mehmets. Als ob es darum ginge! Es sollen doch nicht Herr Öcalan eingebürgert werden oder Mehmets nicht mehr abgeschoben werden können. Das Entscheidende ist, daß wir durch eine Integrationspolitik dafür sorgen müssen, daß sich die Kinder nicht fanatisieren lassen, nicht fundamentalistischen Strömungen anschließen und nicht in Ghettos in den Städten zusammenschließen. Wer die Ghettoisierung in den Städten verhindern will, der muß die Ghettoisierung in den Köpfen der hier geborenen Kinder verhindern. ({15}) Natürlich kann man bereits fanatisierte Kriminelle mit einer Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts nicht ändern. Sie müssen bestraft und auch abgeschoben werden. Darüber haben wir im Bundestag erst vor kurzem diskutiert. Aber man muß verhindern, daß die nächste Generation für Gewalt und Fanatismus anfällig wird und zu Mitläufern auf Grund des Gruppendrucks wird. Hier geborene Kinder dürfen nicht unter den Einfluß ausländischer Fanatiker geraten, und deswegen wollen wir sie durch die Vermittlung unserer Kultur und unserer Sprache, aber eben auch durch die Ausstellung des deutschen Passes integrieren. Der Paß ersetzt nicht die Integration, er ergänzt die Integration. Diese Leitlinie liegt unserem Gesetzentwurf zugrunde. ({16}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Union, wir halten nichts von Ihrem Vorschlag, den Kindern die deutsche Staatsangehörigkeit zunächst vorzuenthalten und ihnen lediglich eine Einbürgerungszusicherung zu geben, die sie bei Volljährigkeit einlösen können. Sie haben nämlich auf der einen Seite davon gesprochen, die Auseinandersetzungen würden in die Familien hineingetragen, wenn wir nach der Volljährigkeit eine Entscheidung verlangten. Auf der anderen Seite legen Sie aber selber einen Gesetzentwurf vor, der eine Entscheidung nach dem Erreichen der Volljährigkeit verlangt. Das Problem bei Ihrem Gesetzentwurf ist - um diesen Gesetzentwurf haben wir in der letzten Legislaturperiode sehr kollegial und sehr fair miteinander gerungen -, daß Sie damit nichts gegenüber der bestehenden Rechtslage ändern. Wir haben schon heute eine Einbürgerungsgarantie bis zum 23. Lebensjahr für die Kinder, die hier geboren sind und volljährig werden. Diese Regelung bestätigen Sie gewissermaßen mit Ihrem Gesetzentwurf. Wenn Sie aber die Kinder zunächst mit einem ausländischen Bewußtsein aufwachsen lassen, um sie später integrieren zu müssen, dann muß ich sagen, daß Ihr Gesetzentwurf das Problem nicht löst. Es wäre besser, die Kinder erst zu integrieren und ihnen das Gefühl zu geben, daß sie zu uns gehören. Man muß ihnen ein Angebot machen! Diese Kinder sollen wissen, daß sie in unsere Gesellschaft gehören. Wir möchten aber auch, daß sich die Kinder später als junge Erwachsene entscheiden müssen, welche Staatsangehörigkeit sie annehmen wollen, zu welchem Land sie also gehören wollen. ({17}) Was wir heute unterlassen, das werden wir in wenigen Jahren mit Zins und Zinseszins zurückzahlen. Deshalb ist die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts mit dem Ziel einer besseren Integration der Kinder ausländischer Eltern eine nationale Aufgabe ersten Ranges. Der Elterngeneration macht dieser Gruppenantrag durch eine deutliche Absenkung der Einbürgerungsfrist ebenfalls ein großzügiges Integrationsangebot. Ich gehe davon aus, daß die Union diesem Teil des Gesetzentwurfes zustimmen wird; denn über diese Regelung bestand bereits in der letzten Legislaturperiode zwischen der F.D.P.-Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion Einvernehmen. Dagegen muß ich offen gestehen, daß ich bei Ihrer Rede, Frau Müller, nicht ganz erkennen konnte, ob Sie nun für oder gegen den Gruppenantrag sind, den Sie selbst mit unterzeichnet haben. ({18}) Wir als F.D.P. treten dafür ein, daß dem Integrationsangebot auch eine Integrationsentscheidung folgt. Deshalb haben wir uns eindeutig und konsequent gegen die ursprünglichen Pläne der Koalition gestellt, eine dauerhafte doppelte Staatsangehörigkeit für alle einzuführen. Wer deutscher Staatsangehöriger werden möchte, soll sich grundsätzlich durch die Aufgabe seiner bisherigen Staatsangehörigkeit zu unserem Land bekennen. Der deutsche Paß ist nicht irgendein Papier, das man gerne zusätzlich in Empfang nimmt, sondern er setzt eine bewußte Hinwendung zum deutschen Staat voraus. ({19}) Deshalb halten wir es für gerechtfertigt, von dem einbürgerungswilligen Ausländer die Aufgabe seiner bisherigen Staatsangehörigkeit zu verlangen. Das gilt insbesondere für diejenigen Ausländer, die bereits lange in Deutschland leben. Wer 30 Jahre in Deutschland gelebt hat, der kennt dieses Land gut genug, um sich entscheiden zu können, ob er Deutscher sein will oder nicht. Aber bei den hier geborenen Kindern nehmen wir die Mehrstaatigkeit für eine gewisse Zeit in Kauf, weil sie eben als Minderjährige nicht selbst entscheiden können. ({20}) Deswegen möchten wir, daß diese Kinder sich erst als junge Erwachsene, nach Erreichen der Volljährigkeit, zwischen der Staatsangehörigkeit der Eltern und unserer deutschen Staatsangehörigkeit entscheiden müssen. ({21}) Das ist unser Optionsmodell, das die Koalition nun übernommen hat. Damit wir zu nennenswerten Integrationsfortschritten kommen, haben wir als F.D.P. vorgeschlagen, daß dieses Modell auch auf bereits geborene Kinder übertragen wird, die noch nicht älter als zehn Jahre sind. Ich bin froh darüber, daß sich in unserem Gruppenantrag gerade dieses Angebot an die bereits in Deutschland geborenen Kinder findet. Wir halten an dem Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatsangehörigkeit klar und eindeutig fest. Der Katalog der Ausnahmetatbestände wird nicht erweitert, sondern lediglich flexibler gestaltet. Da Sie, Herr Kollege Zeitlmann, aus dem Gesetzentwurf zitiert haben - Sie können jetzt nicht zuhören, weil Sie telefonieren müssen -, möchte ich noch einmal auf § 87 des Ausländergesetzes in unserem Gesetzentwurf hinweisen. Sie haben von älteren Bürgern gesprochen. So, wie Sie das wiedergegeben haben, stimmt es einfach nicht. Hier steht: Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit Sie wird hingenommen, wenn der Einbürgerung älterer Personen ausschließlich das Hindernis eintretender Mehrstaatigkeit entgegensteht, die Entlassung auf unverhältnismäßige Schwierigkeiten stößt und die Versagung der Einbürgerung eine besondere Härte darstellen würde … Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das entspricht der Rechtslage, wie sie sich schon heute herausgebildet hat. Das können Sie in den einschlägigen Texten der Einbürgerungsrichtlinie nachlesen. ({22}) Wer den Kopf schüttelt, dem nenne ich auch gleich die Quelle: Es ist die Ziffer 5.3.3. der Einbürgerungsrichtlinie. Da gibt es, Herr Kollege Rüttgers, diese fabelhaften kleinen Beck-Ausgaben der Gesetzestexte. ({23}) Es gibt keine verfassungsrechtlich ernstzunehmenden Bedenken gegen das Optionsmodell. Das Optionsmodell ist von mehreren Justizministern geprüft worden. Es ist dem früheren Bundesjustizminister vorgelegt und dort geprüft worden, ebenso der derzeitigen Bundesjustizministerin, dem Innenminister, dem Landesjustizminister von Rheinland-Pfalz, und es ist übrigens natürlich auch vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages eingehend geprüft worden. Dabei wurde klar festgestellt, daß das Optionsmodell vollständig verfassungsgemäß ist und daß es selbstverständlich auch zulässig ist, den jungen Erwachsenen eine Entscheidung abzuverlangen. Weil in diesem Zusammenhang Art. 16 des Grundgesetzes immer wieder zitiert wird, der dem angeblich entgegensteht, möchte ich einmal darauf hinweisen, was dort steht. Natürlich heißt es in Art. 16 Abs. 1 Satz 1: Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Die Juristen wissen aber: Immer einen Satz weiterlesen. ({24}) Denn Satz 2 lautet: Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. Entziehung ist eben nicht Verlust. Wer sich selbst entscheiden kann, der bekommt die Staatsangehörigkeit nicht gegen seinen oder ohne seinen Willen entzogen. Vielmehr führt er durch seine eigene Willensentscheidung den Verlust oder den Behalt der deutschen Staatsangehörigkeit herbei. ({25}) Falls Sie es mir nicht glauben, zitiere ich unseren Kollegen und Kronjuristen der CDU/CSU, Professor Scholz, wörtlich. Er hat am 16. Februar 1999 gesagt: Ja, ganz im Gegensatz zu einer generellen Vergabe der doppelten Staatsbürgerschaft, die mit der Verfassung nicht zu vereinbaren wäre … Das Optionsmodell ist verfassungskonform, weil keine generelle doppelte Staatsangehörigkeit verliehen wird und weil keine Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit vorgesehen ist. ({26}) Ich kann Sie einfach nur bitten, hier ehrlich zu argumentieren. Es geht Ihnen nicht um juristische Bedenken; es geht Ihnen um politische Bedenken. Ihre juristischen Bedenken sind vor allen Dingen politisch motiviert. ({27}) Das wird der Seriosität der Diskussion nicht gerecht. Der Gesetzentwurf ist verfassungskonform; das ist immer wieder festgestellt worden. Letzte Bemerkung, meine sehr geehrten Damen und Herren: Vor einiger Zeit stritten sich vor unserem Haus in der Bonner Altstadt eine türkische Oma und ihr kleines Enkelkind. Die türkische Oma beschimpfte das Kind auf türkisch, das Enkelkind schimpfte auf deutsch zurück. Um diese Kinder geht es. Sie gehören zu uns, und sie müssen integriert werden. ({28})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe der Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion das Wort.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Zeitlmann, wer im Niveau so weit heruntergeht, wie Sie, aber auch Ihre Partei es heute wieder mit der Parole getan haben, daß der Doppelpaß dazu führe, daß Kriminelle leichter eingebürgert werden können, wer sich dazu hinreißen läßt, diese Kampagne mit der Parole zu führen, daß die Gefahren durch ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht bzw. den Doppelpaß größer seien als in den siebziger Jahren die Gefahr durch die RAF, wer Angstmache betreibt mit der Parole, daß Menschen ausländischer Herkunft dann auch das Wahlrecht haben und das Ausland die Interessen der Deutschen beeinflussen könnte, wer den Familiennachzug prophezeit und damit Angst erzeugen will, der arbeitet Rechtsextremisten ganz offensichtlich in die Arme, der fördert ein Bewußtsein, das Ausländerfeindlichkeit und Rassismus schürt und den rassistischen Mob, wie wir gesehen haben, auf die Straße bringt. ({0}) Meine Damen und Herren, die Kampagne der CDU/CSU ist in der Tat, wie wir eben auch von Herrn Westerwelle gehört haben, politisch motiviert. Man kann der CDU/CSU nicht ernsthaft abnehmen, daß sie die Integration will, wie sie es in Teilen ihrer Anträge wieder zum Ausdruck gebracht hat. Sie knüpft vielmehr ganz gezielt und bewußt an der Unsicherheit, an dem Unwissen der Menschen an, um demagogisch gegen ein Recht der Menschen einzutreten, die hier seit Jahren leben und die eigentlich längst die gleichen Rechte haben müßten wie wir Deutschen. Ich bin aber auch der Meinung, daß Frau Müller es sich hier zu einfach macht, wenn sie nur auf die BundesDr. Guido Westerwelle ratsmehrheit hinweist. Ich möchte daran erinnern, daß gerade die SPD und die Grünen es versäumt haben, der Kampagne der Unionspartein massiv etwas entgegenzusetzen. Sie sind meines Erachtens sehr schnell eingeknickt. Sie haben ihren Entwurf nach der Hessenwahl sehr schnell zurückgezogen. Das liegt meines Erachtens nicht nur an der neuen Mehrheit; denn wer sich die Umfragen anschaut, der weiß, daß es eben keine große Mehrheit in der Bevölkerung gegen den Doppelpaß bzw. gegen ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht gibt, der weiß, daß viele Menschen der doppelten Staatsbürgerschaft nur deshalb ablehnend gegenüberstehen, weil sie zuwenig über diesen Paß wissen. Wenn von der Gegenseite, einschließlich der linken Opposition, eine Kampagne geführt worden wäre, dann wären wir heute mit Sicherheit einen Schritt weiter. Wir haben heute einige Redner gehört, die den jetzigen Entwurf, das Optionsmodell, schöngeredet haben. Ich möchte hier eine Aussage des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften zitieren: Der Berg kreißte und gebar eine Maus. ({1}) - Doch, ich möchte einiges mehr. Dazu werde ich noch kommen. Ich meine, daß diese Reform es nach diesen vielen Jahren Debatten nicht wirklich verdient, Reform genannt zu werden, auch wenn sie zweifellos - darauf werde ich später noch kommen - einige Verbesserungen beinhaltet. Wichtig ist mir, zunächst klarzustellen: Sie hat nicht einmal den Standard der westeuropäischen Länder erreicht. Das finde ich mehr als bedauerlich. Wenn wir in den letzten Wochen eine Bundesregierung erlebt haben, die meines Erachtens kraftlos ist und den politischen Willen nicht hatte, einer ausländerfeindlichen Kampagne entgegenzutreten, dann muß man sich doch allen Ernstes fragen: Wie kann es eigentlich angehen - diese Frage werde ich besonders an die Grünen richten -, daß Sie heute einen Entwurf eingebracht haben, der eigentlich ein Kompromißentwurf an die Adresse der CDU ist? Wer die Geschichte der Debatten über das Staatsangehörigkeitsrecht in diesem Hause verfolgt hat, der weiß: Herr Westwelle, Sie haben unrecht. Die F.D.P. hat 1993 die Mehrstaatigkeit, den Doppelpaß, gefordert und hat schon 1994 in den Koalititionsvereinbarungen formuliert, daß eine Schnupperstaatsbürgerschaft möglicherweise denkbar wäre. Das ist natürlich nicht umgesetzt worden. Sie machen jetzt im Grunde genommen ein Kompromißangebot an die CDU, obwohl Sie wissen, sie wird diesem Entwurf, diesem Optionsmodell nicht zustimmen. In diesem Zusammenhang möchte ich den Vorsitzenden der türkischen Gemeinde, Professor Keskin, zitieren. Er schreibt: Mit welcher Leichtfertigkeit die SPD mit der eigenen Glaubwürdigkeit umgeht, ist kaum zu glauben. Da der Entwurf überdies für den Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen inakzeptabel sein dürfte, scheut man in einigen Kreisen der SPD offenbar nicht einmal vor einer Gefährdung der Regierungskoalition zurück. Meine Damen und Herren, ich fand es nicht wenig demütigend, daß die SPD und die F.D.P. als erste bekanntgeben, daß man sich über das Optionsmodell geeinigt habe. Auch die Grünen haben meines Wissens aus den Medien erfahren müssen, was jetzt der neue Entwurf sein soll. ({2}) Es wundert mich, ehrlich gesagt nicht, wenn Herr Trittin hier das rotgrüne Modell als tot, als gescheitert erklärt. ({3}) Man muß einfach sagen: Wo er recht hat, hat er recht. Das vermisse ich hier ganz eindeutig: Die Grünen haben nicht einmal mehr zu ihren Positionen gestanden. Sie haben nicht einmal das i-Tüpfelchen in diesem Entwurf bewegt. Das muß wohl in aller Deutlichkeit gesagt werden. ({4}) Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zu dem Entwurf. Für viele Menschen - das habe ich schon angedeutet - wird es in diesem Land keinen Doppelpaß geben. Für viele Menschen ist das eine große Enttäuschung. Für viele Menschen ist es längst so, daß Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die Erleichterungen der Einbürgerung wären in der Tat wichtiger denn je gewesen, um endlich dem Klima in diesem Land, was Rassismus und Ausländerfeindlichkeit angeht, etwas entgegenzusetzen. Zweifellos, in diesem Entwurf gibt es einige positive Ansätze. Ich nenne hier die Fristen, ich nenne die stückweise Abkehr vom Abstammungsrecht, also hin zum Jus soli, was meiner Meinung nach aber auch nur halbherzig passiert. Ich nenne die Tatsache, daß es in Zukunft möglich sein wird, schneller und leichter Frauen und Kinder oder Männer und Kinder einzubürgern, die einen deutschen Partner bzw. eine deutsche Partnerin geheiratet haben. Das aber kann es doch nicht gewesen sein, liebe Kolleginnen und Kollegen! Daß auf der anderen Seite Verschlechterungen zur Kenntnis genommen werden müssen bzw. höhere Hürden in das Gesetz eingebaut werden, das kann und darf nicht übersehen werden. Ich nenne die Tatsache, daß man jetzt die deutsche Sprache ausreichend beherrschen muß. Ich frage Sie, was ist ausreichend? Wer bestimmt, was ausreichend ist? Auch wer angeblich seine Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfesituation selbst verschuldet hat, wird nicht eingebürgert. Ebenfalls nicht ganz unwichtig ist, daß Sie einen neuen Paragraphen einbringen, in dem der Schwur auf die FDGO enthalten ist. Damit schaffen Sie meines Erachtens ein Einfallstor für Gesinnungsschnüffelei in größerem Ausmaß. Von Ihnen wird der Entwurf als gelungen gefeiert, obwohl hier anzumerken ist, daß er verfassungsrechtliche Mängel hat, die mit Sicherheit Folgen haben werden. In vielen Passagen weist der Entwurf Ungereimtheiten auf. Er schafft meines Erachtens auch keine Erleichterung in bezug auf behördliche Willkür. Erst gestern konnte man in der Zeitung einen langen Bericht über eine Frau lesen, die eingebürgert wurde. Aus diesem Artikel wurde deutlich, welche bürokratischen Hürden - es ist beinahe ein Spießrutenlaufen - ein Mensch in diesem Lande überwinden muß, wenn er eingebürgert werden will. Verfassungsrechtlich bedenklich ist beispielsweise, daß binationale Kinder, die hier geboren sind, den Doppelpaß behalten dürfen, während Kinder mit Eltern ausländischer Herkunft sich mit 18 Jahren für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen. Wie wollen Sie das mit dem Gleichheitsgrundsatz in Übereinstimmung bringen? Und was soll nach Auffassung der Bundesregierung geschehen, wenn jemand seinen Paß nicht freiwillig abgibt? Ich denke zum Beispiel daran, daß eine junge Frau mit 21 Jahren für einen Landtag kandidiert und sich noch nicht entschieden hat, welche Staatsbürgerschaft sie annehmen will. Was passiert dann? Muß sie ihr Mandat abgeben? Wird sie zwangseingebürgert oder zwangsausgebürgert? ({5}) All diese Fragen sind bisher nicht beantwortet worden. Ungereimtheiten gibt es aber auch in anderen Bereichen. Mit welcher Berechtigung soll es eine Übergangsregelung für Kinder bis zu zehn Jahren geben? Warum nicht auch für Jugendliche im Alter von 18 Jahren? ({6}) - Ich weiß, daß es rückwirkend gemeint ist. Trotzdem ist es sehr willkürlich, es erst einmal auf zehn Jahre festzulegen. Das ist in diesem Zusammenhang doch völlig unbegründet. Sie könnten auch 14 Jahre sagen. Erklären Sie uns einmal, warum nur ein Teil der jungen Menschen, die hier geboren sind, rückwirkend die doppelte Staatsangehörigkeit annehmen darf! Auch jetzt gibt es schon vielfach eine unerträgliche Willkür in der Behördenpraxis. In diesem Zusammenhang haben Sie den Härtefall in Ihren Entwurf aufgenommen. Ich erinnere hier an die Debatte um den § 19 des Ausländergesetzes und frage: Was bedeutet „Härtefall“ in Bayern, wenn eine Frau von ihrem Ehemann geschlagen wird und kein eigenständiges Aufenthaltsrecht hat? Muß sie halbtot geprügelt sein, oder reicht eine Vergewaltigung aus? All dies ist im Gesetz nicht geregelt worden; der Härtefall ist allgemein und nicht präzise formuliert. Vor allen Dingen ist er zu eng und nicht großzügig genug gefaßt, was wiederum dazu führen wird, daß es in den verschiedenen Ländern oder auch bei einzelnen Behörden sehr unterschiedliche Handhabungen geben wird. Meine Damen und Herren, besonders ärgerlich ist aber die Ignoranz der Bundesregierung gegenüber Flüchtlingen und Menschen ohne festen Aufenthaltsstatus. Selbst der UNHCR ist der Meinung, daß es keinen sachlichen Grund für die Differenzierung zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen gibt, von denen die einen die Chance bekommen, sich einbürgern zu lassen, die anderen aber nicht, einmal ganz abgesehen davon, daß Sie auch hier den Versuch machen könnten, Menschen, die seit vielen Jahren illegal in der Bundesrepublik Deutschland leben, aus der Illegalität herauszuholen, indem Sie ihnen die Einbürgerung anbieten. Was den Punkt der Straffälligkeit angeht, so glaube ich -

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, ich muß Sie darauf hinweisen: Die Uhr leuchtet schon seit einiger Zeit. Sie müssen jetzt zum Abschluß kommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Okay. Dann komme ich zu meinem letzten Punkt. ({0}) Ein Punkt ist mir ganz besonders wichtig; den möchte ich Ihnen hier heute noch sagen. Ich finde es falsch, daß wir uns einzig und allein auf die Frage des Staatsbürgerschaftsrechts beziehen, wenn wir die Debatte führen, wie Menschen integriert werden können. Es besteht die Gefahr - Sie haben selber seit 1993 heftig daran mitgewirkt, vor allen Dingen die rechte Seite in diesem Haus -, daß Rechte für Menschen ausländischer Herkunft abgebaut werden. Wenn wirklich gleiche Rechte für Menschen existieren würden, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben, dann - Herr Bosbach, da würde ich Ihnen recht geben - würden wahrscheinlich viele gar nicht die deutsche Staatsangehörigkeit anstreben und bei ihrer Staatsbürgerschaft bleiben. Diese Debatte muß geführt werden und darf nicht vernachlässigt werden. Denn nur so ist meiner Meinung nach ein wirklich gleichberechtigtes Leben in diesem Land möglich, ist der Kampf gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit zu führen und tatsächlich ein Stück Frieden in dieses Land einzubringen. Ich danken Ihnen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die SPD-Fraktion hat der Kollege Sebastian Edathy.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute ist ein bedeutsames, ein wichtiges Datum. Denn was heute Gegenstand der Beratung hier im Plenum des Deutschen Bundestages ist, was anschließend in den zuständigen Ausschüssen diskutiert wird und worüber wir und der Bundesrat voraussichtlich im Mai dieses Jahres abschließend befinden, ist ein Reformvorhaben, dessen Bedeutung weit jenseits der Tagespolitik liegt, ja dessen volle Bedeutung erst im Abstand von vielen Jahren zum Tragen kommen wird. ({0}) Der vorliegende Gesetzentwurf von Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen der SPD, der Grünen und der F.D.P. wird zu einer zeitgemäßen Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechts führen, die längst überfällig ist und die zumindest auf mittlere, ganz bestimmt aber auf lange Sicht auch zu einer Veränderung in den Köpfen, zu einer Veränderung im staatsbürgerlichen Selbstverständnis führen wird. ({1}) Nach einigen Beiträgen hier - ich denke da insbesondere an den Kollegen Zeitlmann - kann ich nur feststellen: Diese Veränderung in den Köpfen ist dringend nötig. ({2}) Ich bin mir ziemlich sicher: Es wird in einigen Jahren zu einigem Kopfschütteln führen, wenn man das Protokoll von heute noch einmal daraufhin durchliest, wie kleinkariert man war, wie man in vielen Beiträgen nicht in der Lage war, über den Tellerrand der Tagespolitik hinauszublicken. Ich glaube, es geht wirklich um etwas Historisches, was wir gemeinsam vorhaben und auch gemeinsam tragen sollten. Die Ergänzung des Abstammungsprinzips durch die Hinzufügung des Grundsatzes, daß, wer hier geboren wird und aufwächst, die deutsche Staatsbürgerschaft mit der Geburt erhält, wird eine historische Entscheidung sein, die zeitgemäß ist und die wir dringend brauchen. Es ist höchste Zeit, daß wir die Grundlage für den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft und damit für die Erlangung demokratischer Teilhabechancen in unserer Gesellschaft verbreitern. Als Demokraten sind wir alle, unabhängig vom Parteibuch, gefordert, die gesellschaftliche Realität anzuerkennen und aus ihr ohne jede ideologische Befrachtung die richtigen Schlüsse für unser Handeln zu ziehen. Dazu gehört festzustellen: Ja, es hat Zuwanderung nach Deutschland in erheblichem Maße stattgefunden, und diese Zuwanderung hatte und hat Auswirkungen auf die Zusammensetzung der hier lebenden Bevölkerung. Wir wissen: Von den rund 7 Millionen Ausländerinnen und Ausländern in Deutschland hat die Mehrheit hier ihren Lebensmittelpunkt gefunden. Vor diesem Hintergrund müssen wir als Träger politischer Verantwortung handeln, indem wir mit Blick zumindest auf die kommenden Jahrzehnte die Weichen dafür stellen, daß kein zu großer Teil der dauerhaft hier lebenden Bevölkerung nicht zum Staatsvolk gehört. ({3}) Das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwesens hängt in einem erheblichen Maße davon ab, daß die ihm angehörenden Menschen hinsichtlich ihrer Pflichten und hinsichtlich ihrer Rechte gleichgestellt sind. Das ist keine Frage der Parteipolitik, sondern das ist die Frage, wie ernst wir den Demokratieanspruch nehmen, und zwar im Interesse aller Menschen, die in diesem Land leben. ({4}) Es geht nämlich bei genauer Betrachtung nicht allein um die, die von einer Gesetzesänderung unmittelbar betroffen sein werden, sondern es geht um die Gesamtheit der Bevölkerung, deren Zusammenleben es zu verbessern gilt. Klar ist dabei - wir als Sozialdemokraten haben auch nie etwas anders behauptet -, daß Integration ein langer Weg ist und eine Gesetzesänderung nur einen Beitrag dazu leisten kann, daß manche Steine, die sich auf diesem Weg befinden, beiseite geräumt werden können. Aber wenn wir dafür sorgen, daß hier geborene und heranwachsende Kinder von rechtmäßig hier lebenden Ausländern mit der Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, dann räumen wir einen großen Stein auf diesem Weg zu einer besseren Integration beiseite, und dafür ist es höchste Zeit. ({5}) Es ist völlig widersinnig, junge Menschen, deren Lebensmittelpunkt in diesem Land liegt - ein Land, das übrigens umgekehrt auch diese jungen Menschen braucht -, als Ausländer zu behandeln. ({6}) Sie kamen nie aus dem Ausland; sie sind im Grunde Inländer ohne deutschen Paß. Dieser Unsinn wird - dafür wollen wir mit unserem Gesetzentwurf Sorge tragen bald ein Ende finden. ({7}) Wir werden diesen Kindern und Jugendlichen signalisieren und deutlich machen, daß wir der Meinung sind, daß sie zu uns gehören und uns willkommen sind. In diese Richtung gehen auch unsere Vorschläge für eine Verkürzung der Einbürgerungsfristen für Erwachsene. Ich will an dieser Stelle keinen Hehl aus folgendem machen: Ich hätte mir gewünscht, wir könnten ein paar Schritte mehr machen, gewissermaßen ein paar Steine mehr aus dem Weg räumen. ({8}) Ich hätte mir gewünscht, wir könnten gerade gegenüber denen, die vor Jahrzehnten zu uns gekommen sind und die, wie auch ihre Kinder und ihre Enkel, zu unserer Gesellschaft gehören, ein noch deutlicheres Zeichen geben, daß wir sie nicht nur als Nachbarn unter uns haben wollen, sondern auch als gleichberechtigte Mitbürger. ({9}) In dieser Hinsicht - das muß man so feststellen - war das, was wir in den Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben haben, weitgehender und schlüssiger. Ich erachte aber gleichwohl das, was sowohl wir nach den anstehenden Beratungen mit voraussichtlich breiter Mehrheit hier im Bundestag als auch der Bundesrat verabschieden werden, als alles andere als gering. Dieser Gruppengesetzentwurf ist ein echter Fortschritt. Er geht in die richtige Richtung. Wir beenden damit nicht zuletzt den jahrelangen Stillstand in diesem wichtigen Politikbereich. Ich möchte an dieser Stelle dem deutschen Innenminister ausdrücklich für die Übernahme und die Meisterung der nicht einfachen Aufgabe danken, hier die nötige Übereinkunft herbeizuführen. ({10}) Ich denke übrigens, es ist nicht entscheidend, wer von den Initiatoren des Gesetzentwurfes im einzelnen welchen konkreten Anteil am Zustandekommen des Entwurfes hatte. Für entscheidend halte ich vielmehr, daß es gelungen ist, einen Gesetzentwurf zu formulieren, der geeignet ist, die Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen in diesem Land zu verbessern. Ich bin in diesen Bundestag nicht eingezogen, um Gesetze zu beschließen, damit Gesetze beschlossen werden, sondern um Gesetze zu beschließen, damit wir die konkrete Lebenswirklichkeit in einem positiven Sinne mitgestalten können. Das sollten wir auch tun. ({11}) Nun liegt uns heute neben dem Gesetzentwurf von Abgeordneten aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. auch ein Gesetzentwurf der Union vor, nebst zwei Anträgen. Einer davon trägt den Titel „Integration und Toleranz“. ({12}) Meine Damen und Herren von CDU und CSU, maßgebliche Vertreter Ihrer beiden Parteien haben auch in den letzten Tagen erklärt, die Unterschriftenkampagne gegen die generelle Hinnahme des Entstehens von Mehrstaatigkeit solle fortgesetzt werden. ({13}) Es hätte meines Erachtens einem Mindestmaß an Anstand und Redlichkeit entsprochen, wenn Sie spätestens zum heutigen Tag, an dem wir über den Gesetzentwurf der Gruppe beraten, diese Kampagne beendet hätten, weil sie schlichtweg gegenstandslos geworden ist. ({14}) Sie von der Union lassen nach wie vor Unterschriften unter einen Text setzen, der folgenden Schlußsatz hat: Deshalb sind wir gegen die generelle Zulassung der doppelten Staatsangehörigkeit. ({15}) Das steht nicht zur Debatte. Hier liegt keine Initiative vor, die so etwas fordert. Das muß man einmal zur Kenntnis nehmen, auch wenn es schwerfallen mag. ({16}) - Herr Marschewski, es ist ja gut. Wenn Sie gleichwohl an einer solch offenkundig gegenstandslosen Unterschriftensammlung festhalten, dann offenbaren Sie damit, daß es Ihnen entgegen allen Beteuerungen nicht um die Sache oder sogar um Integration und Toleranz geht, wie es in Ihrem Antrag heißt, sondern um wahlstrategische Interessen. ({17}) Herr Kollege Zeitlmann - Sie schreien gerade dazwischen -, Sie haben zu Beginn dieses Jahres ein Papier erstellt, in dem es unter anderem heißt - ich zitiere -: Die rotgrünen Pläne zum Staatsbürgerschaftsrecht bereiten den Nährboden für Volksverhetzung. ({18}) Herr Kollege Zeitlmann, nach der Lektüre dieses Satzes - das war im Januar dieses Jahres - bin ich eigentlich nicht davon ausgegangen, daß das, was Sie hier formuliert haben, eine Art Selbstaufforderung an die Union sein sollte. ({19}) Ihr Beitrag von heute morgen läßt mich daran zweifeln, ob das, was Sie dort geschrieben haben, nicht doch eine interne Signalwirkung entfaltet hat. Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten für das Linsengericht eines vermeintlichen parteipolitischen Vorteils einen Konsens aufgekündigt, der darin bestand, zum Beispiel ein so komplexes Thema wie die Fortentwicklung des Staatsbürgerschaftsrechts angemessen und mit der nötigen Sorgfalt und Sensibilität zu behandeln. Ich bin immer davon ausgegangen, daß es unabhängig von der Parteizugehörigkeit so etwas wie ({20}) ein gemeinsames Selbstverständnis aller Demokraten gibt, daß es eine unstrittige Aufgabe ist, Ängste und Vorbehalte in der Bevölkerung ernst zu nehmen, zu berücksichtigen und dort, wo sie unbegründet sind, zu entkräften. Aber Sie, meine Damen und Herren von der Union, haben Ängste und Vorbehalte bei den Bürgern geschürt, indem Sie das Thema unzulässig verzerrt bzw. verfälscht haben. ({21}) Dann haben Sie die Menschen, nachdem Sie deren Ängste geweckt und instrumentalisiert haben, mit ihren Ängsten allein gelassen. Damit haben Sie dem inneren Frieden dieses Landes und dem gesellschaftlichen Klima bewußt und willentlich Schaden zugefügt. ({22}) Das ist nach meinem Dafürhalten einer demokratischen Partei völlig unwürdig. Herr Rüttgers, ich habe gesehen, daß Sie heute noch hier sprechen werden: Beenden Sie Ihre Taktik des Verhetzens und Verletzens der Menschen in diesem Land! ({23}) Stellen Sie hier und heute klar, daß Ihre Unterschriftenaktion sofort beendet wird! ({24}) Der von Ihnen an diesem Tag kurzfristig vorgelegte Gesetzentwurf erfüllt nicht zuletzt die Funktion eines Alibis. Sie tun so, als seien Sie in dem heute behandelten Feld politikfähig. Sie sind es nicht. Sie sind allenfalls kampagnefähig und mehr nicht. Nach jahrelanger Untätigkeit bzw. Verweigerungshaltung, was die Fortentwicklung des Staatsbürgerschaftsrechts betrifft, bleiben Ihre jetzt gemachten Vorschläge hinter dem, was erforderlich ist, weit zurück. Die Zusicherung des Erwerbs der deutschen Staatsbürgerschaft für Kinder von Ausländern ist völlig ungenügend. Ich möchte Sie ermuntern, die Schlußabstimmung freizugeben. - Mir wird signalisiert, daß ich zum Ende kommen muß. Herr Präsident, ich komme zu den letzten wenigen Absätzen. ({25}) - Es sind ganz kurze Absätze. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in wenigen Monaten nimmt das deutsche Parlament seine Arbeit in Berlin auf. Noch vorher, voraussichtlich im Mai, werden Bundestag und Bundesrat über die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts entscheiden. Im Mai werden wir auch auf das 50jährige Bestehen des Grundgesetzes zurückblicken, dessen Bedeutung für die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger am demokratischen Leben völlig unstrittig ist. Das werden wir entsprechend würdigen, und das ist gut so. Aber wir werden im Mai nicht nur die Gelegenheit haben, über das Grundgesetz zu sprechen. Wir werden im Mai hier in diesem Haus auch Gelegenheit haben, im Sinne des Grundgesetzes zu handeln, indem wir ein aufgeklärtes, ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht beschließen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({26})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ausweislich des Protokolls hat die Kollegin Renate Rennebach nach der Rede des Kollegen Zeitlmann einen Zwischenruf gemacht, der unparlamentarisch ist und den ich rügen muß. Das gibt mir Gelegenheit, darum zu bitten, daß wir uns - das ist an alle Seiten des Hauses gerichtet - in den Formulierungen bezüglich dieses wichtigen und sensiblen Themas ein wenig mäßigen. Ich gebe nunmehr dem Innenminister des Landes Baden-Württemberg, Dr. Thomas Schäuble, das Wort. Dr. Thomas Schäuble, Minister ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn feststellen: Die meisten ausländischen Menschen - jedenfalls sehr viele -, von denen bisher in dieser Debatte die Rede war, haben schon heute Anspruch darauf, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, wenn sie es nur wollten und dabei die ererbte Staatsangehörigkeit aufgeben würden. ({1}) Dies muß man immer wieder sagen, damit hier nicht ein künstliches Mißverständnis aufgebaut wird. ({2}) Nun finde ich den Grundgedanken der F.D.P. im Prinzip sympathisch: Für eine gewisse Zeit wäre die Mehrstaatigkeit nicht schlecht, um die jungen Menschen emotional stärker für Deutschland einzunehmen. Aber das Problem ist: Es kann nicht funktionieren. Deshalb muß man schon zwischen den Motiven der F.D.P. und den Motiven von Rotgrün unterscheiden. ({3}) Bei aller Kritik an dieser Bundesregierung muß man ihr eines zugeben: Sie bleibt sich - jedenfalls war das in der kurzen Zeit bisher der Fall - selbst treu; für jedes wichtige Vorhaben braucht sie etliche Anläufe. Im Januar gab es den Entwurf „Schily 1“, vor wenigen Wochen kam „Schily 2“, und vor wenigen Tagen haben Sie den heute zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf vorgelegt. Eine Steigerung im Sinne einer grundlegenden Besserung ist nicht zu erkennen. Der entscheidende Punkt ist: Rotgrün - ich spreche nicht von der F.D.P. will nach wie vor die generelle doppelte Staatsangehörigkeit auf Dauer. Das kam expressis verbis vorhin auch im Beitrag der Abgeordneten Müller zum Ausdruck. ({4}) Der wesentliche Punkt meines Vorwurfes ist: Rotgrün will nach wie vor die Bevölkerung täuschen, wenn Sie sagen, Sie seien zu einem Kompromiß - welcher Art auch immer und warum auch immer - bereit. Das stimmt nicht. Denn daß Sie andere Absichten haben, wird daran deutlich, daß schon heute ganz unverhohlen gesagt wird, der jetzige Kompromiß sei natürlich nicht der letzte Schritt. ({5}) Noch wichtiger ist für mich persönlich die Tatsache darin kommt die von Rotgrün beabsichtigte Tarnung, die Täuschung noch deutlicher zum Ausdruck -, ({6}) daß Sie wissen müßten: Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf, dieses Optionsmodell, wird eben nicht nur zu einer zeitlich beschränkten, sondern zu einer dauerhaften doppelten Statsangehörigkeit führen. Das ist der Kern meines Vorwurfs. ({7}) Warum ist das so? - Rotgrün hat bisher selbst immer die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die zeitliche Beschränkung der doppelten, sprich: gegen den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit herausgestellt. ({8}) Jetzt plötzlich werden die Bedenken - und die sind eben nicht ausgeräumt - verschwiegen. ({9}) Angesichts des Beitrages der Abgeordneten Müller frage ich mich: Was sind die Grünen noch alles zu tun bereit, um an der Regierung bleiben zu können? ({10}) Um diese vorgetäuschte Kompromißbereitschaft letztlich nicht auf ihre Echtheit kritisch hinterfragen zu müssen, gehen Sie plötzlich auf wundersame Weise selbst von der Verfassungsmäßigkeit des Optionsmodells aus, entgegen Ihrer bisherigen Aussage. ({11}) - Moment, Sie verwechseln eines: Ich habe damit die Frage der verfassungsrechtlichen Problematik überhaupt nicht angesprochen, sondern nur gesagt, daß Rotgrün bisher der Auffassung war, die Regelung sei verfassungswidrig, und jetzt aus sehr durchsichtigen Gründen plötzlich die Meinung geändert hat. Das war meine Aussage. ({12}) Darüber hinaus wissen Sie ganz genau - falls Sie es nicht wissen, lassen Sie es sich von einem Mann sagen, der als Landesminister für die Verwaltung Verantwortung trägt -: Dieses Optionsmodell muß aus verwaltungspraktischen Gründen scheitern, wenn Sie nicht, um es verfassungsrechtlich wirklich wasserdicht zu machen, einen riesigen Verwaltungsaufwand in Kauf nehmen. Sie müssen nämlich mit großem Aufwand feststellen, welche der jungen Menschen, die 18 Jahre sind, optionspflichtig sind. Sie müssen bei den Optionspflichtigen nachfragen. Sie müssen die Erklärungen werten. Dann werden Anträge auf Beibehaltung der doppelten Staatsangehörigkeit kommen, und zwar in großer Zahl. Das wird erneut Verwaltungsverfahren auslösen. Am Schluß werden wir eine Zahl von verwaltungsgerichtlichen Verfahren bekommen, die mindestens so groß ist wie die vor der Grundgesetzänderung im Zusammenhang mit dem Asylrecht. ({13}) Der Verwaltungsaufwand wird also exorbitant sein. Ich stelle mir das entsprechende Gesetzblatt vor. Da steht dann unter Buchstabe D: Kosten: keine. - Aber die Länder werden gezwungen sein, einen großen bürokratischen Apparat aufzubauen, um die mit diesem Gesetz verbundenen Folgen für die Verwaltung zu bewältigen. Ich habe mir nicht vorgestellt, die Arbeitslosigkeit dadurch zu verringern, daß wir immer noch größere Bürokratien aufbauen. ({14}) Im übrigen: Es glaubt wohl niemand, man könne Hunderttausenden von jungen Menschen nach mehr als 20 Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit wegnehmen, wenn sie nicht auf ihre ererbte verzichten. Es gibt zahllose Beispiele dafür - viele sind in der Öffentlichkeit auch schon genannt worden -, zu welchen innenpolitischen Verwerfungen dies zwangsläufig führen würde. Wir sollten sie uns wirklich ersparen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPDFraktion, wenn es wirklich so käme, daß einem die deutsche Staatsangehörigkeit nach mehr als 20 Jahren weggenommen werden könnte, dann muß ich sagen: Integrationspolitisch wäre dies wirklich die größte Absurdität. Das muß man auch feststellen. ({15}) Ich gehe davon aus: Dies alles ist nicht nur uns bekannt; das ist auch Ihnen bestens bekannt. Daher mein harter Vorwurf: Es geht Ihnen nicht um einen Kompromiß; vielmehr wollen Sie die besorgte Bevölkerung mit einem Placebo beruhigen. Das ist die Wahrheit. ({16}) Dabei setzen Sie darauf, daß die Folgen, nämlich die dauerhafte doppelte Staatsangehörigkeit, erst in vielen Jahren - frühestens in 13 Jahren, bei denjenigen, die erst noch geboren werden, frühestens in 23 Jahren - sichtbar werden und daß sich nach so langer Zeit niemand mehr gegen die bekannte normative Kraft des Faktischen wehren kann. Bei der Art und Weise, in der Sie vorgehen, vom Entwurf Schily 1 über Schily 2 bis Schily 3 - ich weiß nicht, wie der dritte Entwurf heißt -, drängt sich einem das bekannte Zitat von William Shakespeare aus „Hamlet“ förmlich auf: Ist es schon Wahnsinn, hat es Minister Dr. Thomas Schäuble ({17}) doch Methode. Das ist wahr, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({18}) Weil das alles nicht ehrlich gemeint ist, müssen wir unsere Informations- und Unterschriftenaktion weiterführen, ({19}) um die Bevölkerung vor solchen Roßtäuschereien zu bewahren. ({20}) Uns war von Anfang an klar, daß wir mit den üblichen Argumenten der sogenannten „political correctness“ usw. zu schlechten Menschen gemacht werden sollen. Ich sage Ihnen folgendes - auch nach den Beiträgen, die ich heute gehört habe -: Wir hätten unsere Pflicht nicht wahrgenommen, wenn wir der Bevölkerung aus Feigheit nicht die Wahrheit gesagt hätten. Das ist der Punkt. ({21}) Wenn Sie uns wegen der Unterschriftenaktion angreifen, dann zeigen Sie zum einen, daß Sie Angst davor haben, und zum anderen verwechseln Sie Ursache mit Wirkung, denn Sie mit Ihren Vorschlägen, die auf einen Irrweg führen, sind die Ursache für diese Situation. ({22}) Ich muß, weil das Thema Straftäter die Diskussion etwas geprägt hat, einige Sätze dazu sagen. Eines muß dabei ganz deutlich gesagt werden: Wenn die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt erworben wird, dann können junge Menschen oder auch Erwachsene, die die deutsche Staatsangehörigkeit auf diesem Weg erworben haben, nicht mehr ausgewiesen und abgeschoben werden. Man kann es so wollen, aber man darf diesen Umstand nicht verschweigen. ({23}) Sie haben vorhin die Statistik ein bißchen hin- und hergewendet. Ich kann es Ihnen ganz genau sagen, denn ich bin permanent damit befaßt. Zu Recht ist gesagt worden - auch Kollege Zeitlmann hat es mehrfach betont -, die ausländische Mitbevölkerung, die seit vielen Jahren da ist, die sogenannten Gastarbeiter sind nicht in höherem Maße kriminalitätsbelastet als die übrige Bevölkerung. Das ist schlicht und ergreifend richtig. ({24}) Ich glaube, sie sind sogar etwas geringfügiger kriminalitätsbelastet. ({25}) Richtig ist aber auch, daß die jungen Ausländer in erheblich stärkerem Maße kriminalitätsbelastet sind als die jungen Deutschen. Es geht nicht nur darum, daß jemand vielleicht auch auf Grund Integrationsschwierigkeiten einmal zum Sünder wird und daß sich dann dies wieder irgendwo auslebt. Wir haben in Baden-Württemberg - ich empfehle, das in allen Bundesländern zu tun - vor wenigen Wochen kreisweit einmal die jugendlichen Intensivstraftäter erfaßt, also diejenigen, die mehr als 20 Straftaten begangen haben. Da beträgt - das muß man schon deutlich sagen - der Ausländeranteil allerdings über 40 Prozent. ({26}) Sie haben vorhin die jungen Leute bei der PKK angesprochen. Ich sehe es für richtig an, daß man sich bemüht, sie aus diesem Getto herauszuholen. Aber man kann mir nicht erzählen, daß diese jungen fanatisierten Menschen bei den gewalttätigen Demonstrationen der PKK nicht mitgemacht hätten, wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit gehabt hätten. Das zu glauben ist nun völlig naiv. ({27}) Bei jungen Menschen ist die Ausweisung und erst recht die Abschiebung die Ultima ratio, die auch nur in wenigen Ausnahmefällen überhaupt Platz greifen kann. Aber eines muß klar sein: Ausweisung und Abschiebung wären bei dieser Gruppe dann kein Thema mehr. Beim Thema „Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt“ möchte ich noch einen anderen Punkt ansprechen. Wenn ich es richtig sehe - ich habe den Entwurf erst vor wenigen Tagen bekommen; diese kurze Zeit macht es nicht gerade einfach -, können die jungen Leute, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Geburt erwerben, ins Ausland oder zum Beispiel in die Heimat ihrer Eltern gehen und ohne deutsche Sprachund Schulkenntnisse usw. irgendwann jedenfalls bis zum 18. oder 23. Lebensjahr wieder nach Deutschland zurückkehren und die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sie sich für sie entscheiden und dies erfolgreich ist, behalten. Integrationspolitisch halte ich dies für einen völligen Irrweg. ({28}) - Vielleicht habe ich Ihren Gesetzentwurf gründlicher gelesen als Sie. ({29}) Das alles ist nicht die Art Integration, die wir uns vorstellen. Demgegenüber - das müssen Sie sich einfach deutlich sagen lassen - vermeidet die von uns vorgeschlagene Einbürgerungszusicherung alle diese Nachteile des Optionsmodells, ohne daß sie für die jungen Leute ihrerseits mit irgendeinem Nachteil verbunden wäre, mit Ausnahme des Wahlrechts, aber das haben sie vor dem Minister Dr. Thomas Schäuble ({30}) 18. Lebensjahr sowieso nicht. Insofern gibt es keinen vernünftigen Grund, gegen diese Einbürgerungszusicherung zu sein. Abgesehen von dem Irrglauben an das Optionsmodell enthält der Gesetzentwurf von Rotgrün und der F.D.P. überhaupt nichts zum Thema der tatsächlichen Integration. Demgegenüber gehen wir hinsichtlich der Integration der jungen ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger von einem klaren Leitsatz aus. Eines muß klargestellt sein: Sie müssen gefördert werden; aber wir dürfen nicht nur fördern, wir müssen auch fordern. ({31}) Vielleicht wäre es gar keine schlechte Überlegung für dieses Hohe Haus, einmal die Integrationsarbeit der 16 Bundesländer zu vergleichen. ({32}) Soweit ich es übersehen kann, geschieht bei dem Thema Integration schon viel. Zugegebenermaßen kann man das alles - Bildungsangebot, Sprachkenntnisse, Schule, Ausbildung, gesellschaftliche Integration - noch steigern. ({33}) Bevor Sie einfach hineinschreien, bitte ich Sie, sich ein klein wenig sachkundig zu machen. Baden-Württemberg hat zum Beispiel die Mittel für die Sprachförderung in ganz erheblichem Umfang verstärkt, weil wir der Meinung sind, daß die deutsche Sprache das A und O für die Integration der jungen Menschen ist. ({34})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss? ({0}) Dr. Thomas Schäuble, Minister ({1}): Gerne.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß in Baden-Württemberg gerade in dem Bereich der Integration von Ausländern die Mittel überproportional gekürzt worden sind, so daß die Verbände - zum Beispiel die Arbeiterwohlfahrt - im Moment gezwungen sind, Sozialarbeiter, die in BadenWürttemberg bisher die Ausländerbetreuung gemacht haben, zu entlassen, und daß die Integrationsbemühungen in vielen Bereichen auf Null geführt worden sind? Darf ich Sie zu mir nach Karlsruhe-Land einladen, um diese Situation einmal vor Ort zu besichtigen? Dr. Thomas Schäuble, Minister ({0}): Darf ich als Innenminister Sie darauf aufmerksam machen, daß das Kabinett erst vor wenigen Monaten eine Vorlage meines Hauses beschlossen hat. Mit dieser Vorlage wurden die Mittel zur Sprachförderung erheblich erhöht. Das ist für Baden-Württemberg die Wahrheit. ({1}) Wenn ich sage, wir müssen die jungen Menschen fördern, dann verbinde ich damit, daß wir sie gleichzeitig fordern müssen. Das hat eine praktische Konsequenz für die Integrationsarbeit, die nach meiner Überzeugung in der Zukunft dringend verstärkt werden muß. In concreto bedeutet das: Wenn wir Angebote zur Integration machen und wenn diese Angebote nicht angenommen werden, dann kann das nicht einfach folgenlos bleiben, sondern muß gewisse Konsequenzen haben. Wenn die jungen Ausländer zum Beispiel finanzielle Leistungen beziehen, aber Integrationsangebote wie Sprachkurse usw. nicht annehmen, dann muß man darüber nachdenken - und auch entsprechend handeln -, die finanziellen Leistungen einzuschränken. Ich bin der Auffassung, daß auch bei dem Thema Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bis hin zur Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung die Erfordernisse einer nachweisbar geleisteten Integration noch wesentlich stärker betont werden müssen, als das heute im Ausländergesetz verankert ist. Allerdings darf eines nicht eintreten, nämlich daß es künftig leichter wird, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, als eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltsberechtigung zu erhalten. Das wäre ein völlig fataler Irrweg. ({2}) Man muß, weil unsere Bevölkerung das erwartet, mit unseren Bürgerinnen und Bürgern ganz deutlich darüber sprechen, daß es natürlich Grenzen der Integrationsfähigkeit gibt, zum Beispiel was die Zahl der Menschen angeht, die bei uns integriert werden können. Wenn die Zahl zu groß wird, muß die Integration scheitern. Deshalb müssen wir gemeinsam darüber nachdenken, wie wir eine verantwortbare Zuzugsbegrenzung erhalten. Der nächste Punkt ist für die Integration von herausragender praktischer Bedeutung. Ich bin hundertprozentig dafür, daß wir das Nachzugsalter der jungen Menschen - also den Zeitpunkt, bis zu dem sie nach Deutschland kommen müssen - absenken müssen. Das Alter von 16 Jahren ist schlicht und ergreifend zu hoch. Wer erst mit 16 Jahren nach Deutschland kommt, wird das deutsche Bildungssystem in der Regel nicht mehr mit Erfolg durchlaufen können. Damit ist der ganze fatale Weg vorgegeben: Er wird auch keinen Ausbildungsplatz erhalten. Er wird zum Schluß in der Arbeitslosigkeit und in der Sozialhilfe enden. Deshalb muß das Nachzugsalter auf zehn Jahre gesenkt werden. ({3}) Wir brauchen bessere Möglichkeiten, um ausländische Straftäter leichter auszuweisen und abzuschieben. Das ist ein Grundanliegen der überwältigenden Mehrheit unserer Bevölkerung. Das liegt auch im Interesse der überragenden Mehrheit der anständigen Ausländer. ({4}) Minister Dr. Thomas Schäuble ({5}) Es ist doch auch ein Anliegen vieler von Ihnen, daß die schwarzen Schafe stärker als bisher ausgewiesen und abgeschoben werden. Ich stelle fest: Sie haben aus den Fehlern der HessenWahl nichts gelernt. Mit Ihrer Mehrheit laufen Sie jetzt Gefahr, den Boden für eine Entwicklung zu bereiten, die unabsehbare Folgen haben wird und für die Sie die Verantwortung tragen. Für unsere Republik wäre es besser, wenn Sie sich sachlich und nicht polemisch mit unseren Argumenten auseinandersetzten. ({6}) Unsere Argumente - das wissen Sie ganz genau; deshalb haben Sie Angst - werden von einer großen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen. Noch ist es nicht zu spät für Sie, dies zu erkennen. Nutzen Sie die Zeit, die Sie noch haben! Danke schön. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle, F.D.P.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, da Sie in Ihrer Rede mehrfach auf mich, die F.D.P. und vor allen Dingen auch auf die Unterschriftenaktion Bezug genommen haben, habe ich mir erlaubt, mich zu einer Kurzintervention zu melden. Wenn Sie als Landesminister von „unserer Unterschriftenaktion“ sprechen, dann gehe ich fest davon aus, daß Sie damit die Unterschriftenaktion der CDU/CSU meinen; denn daß die baden-württembergische Landesregierung, der auch die F.D.P. angehört, dieser Unterschriftenaktion zugestimmt hat bzw. sie gegen unseren Gruppenantrag fortsetzen will, ist mir bis heute verborgen geblieben. ({0}) Man muß das noch einmal klarstellen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Herr Minister, da wir uns heute auf einem hohen literarischen Niveau bewegen, möchte auch ich ein Zitat dazu beitragen: „Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit … fehlt!“ ({1}) Ich möchte eine weitere Bemerkung zu dem machen, was Sie über den Verwaltungsmehraufwand gesagt haben. Sie haben hier starke Argumente angeführt, die ich aufgreifen möchte. Sie haben gesagt, der Verwaltungsaufwand werde sehr viel größer werden. Ich schätze das nicht so ein, weil der ausländische Bürger genauso wie jeder andere Bürger für die Verlängerung seines Passes selber sorgen muß, wenn er nicht ungültig werden soll. Der hier vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts umfaßt auch das Paßgesetz. Aber Sie haben gesagt, daß es hier eine ähnliche Vergrößerung des Verwaltungsaufwandes wie schon nach der Änderung des Art. 16 a des Grundgesetzes geben wird. ({2}) - Entschuldigung, „vorher“. Dann nehme ich das zurück. - Ich glaube, wir sind uns darüber einig, daß die letzte Änderung unter dem Strich sehr sinnvoll gewesen ist und zu guten Ergebnissen geführt hat. Des weiteren haben Sie ausgeführt, daß das vorliegende Gesetz nur der erste Schritt sei. Ich möchte darauf hinweisen, daß es auch für die F.D.P. eine wichtige Geschäftsgrundlage gewesen ist, daß der Bundesinnenminister in dieser Woche noch einmal öffentlich erklärt hat, mit dem vorliegenden Gruppenantrag sei die Änderung der Staatsangehörigkeit für diese Legislaturperiode vom Tisch. - Daß er nur für diese Legislaturperiode sprechen kann, halte ich für normal; denn es ist auch unser Ziel, daß Rotgrün nach dieser Legislaturperiode nicht mehr regiert. ({3}) Ferner haben Sie von einem Placebo gesprochen, das in unserem Gruppenantrag enthalten sei. ({4}) - Sie haben wörtlich das Wort „Placebo“ verwendet. Herr Staatsminister, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß die Einbürgerungszusicherung, die jetzt von der Union beantragt wird, das eigentliche Placebo ist; denn die Einbürgerungszusicherung ändert gegenüber der bisherigen Rechtslage nichts. Sie als Prädikatsjurist wissen, daß in § 85 Ausländergesetz bereits das enthalten ist, was auch im Antrag der Union gefordert wird, und zwar Punkt für Punkt. Die Einbürgerungszusicherung ist das eigentliche Placebo, weil sie nicht nur die Aufgabe, die hier geborenen Kinder zu integrieren, nicht löst, sondern auch nichts anderes tut, als die bisherige Rechtslage fortzuschreiben. ({5}) Schließlich bitte ich Sie um eines: Den von mir gegebenen Hinweis auf die PKK können Sie gar nicht so mißverstanden haben, wie es Ihre Äußerung vermittelt hat. Ich habe doch nicht davon gesprochen, daß irgendeiner der fanatisierten, fundamentalisierten Jugendlichen, die heute Krawall machen, das mit einem deutschen Paß nicht täten. Ich habe nur gesagt: Wer möchte, daß die in Deutschland geborenen Kinder nicht fanatisiert, nicht fundamentalisiert und nicht gettoisiert werden, der sollte alles dafür tun, daß sie integriert in unserer Gesellschaft groß werden. ({6}) Minister Dr. Thomas Schäuble ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer zweiten Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Innenminister Schäuble, als Abgeordnete aus Heidelberg, die mit den Verhältnissen in Baden-Württemberg recht gut vertraut ist, frage ich Sie, ob Sie das Buch von George Orwell „1984“ gelesen haben. Wenn nicht, dann lesen Sie es! Wenn Sie es schon gelesen haben, dann lesen Sie es noch einmal! Bei Ihrem „newspeak“ heißt „Verhetzung“ „Aufklärung“, und „Ausgrenzung“ heißt „Integration“. Ich glaube, daß das, was Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben, wirklich ein schreckliches Beispiel für das ist, was Orwell in seinem Buch beschrieben hat. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Innenminister, möchten Sie darauf etwas erwidern? - Nein, er macht davon keinen Gebrauch. Ich erteile das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Abgeordneten Marieluise Beck.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die erste zentrale Frage, die hinter der Debatte über das Staatsbürgerschaftsrecht und das Ausländergesetz steht, ist, ob wir Kinder, die in diesem Land geboren werden, mit ihrer Geburt tatsächlich zu deutschen Bürgern dieses Landes machen wollen. ({0}) Die zweite zentrale Frage ist, ob wir diejenigen Menschen, die schon seit Jahren hier leben, die zum Wohlstand des Volkes mit beitragen, die oft sogar die Drecksarbeit erledigen - auch das muß deutlich gesagt werden -, einbürgern wollen, ob wir ein Interesse daran haben, sie zu gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern zu machen oder ob wir unsere Gesetze lieber so stricken, daß diese Menschen den Weg in die Einbürgerung auf Grund zu hoher Hürden nicht gehen können oder nicht gehen wollen. Um diese beiden Fragen geht es. Wie soll unsere Gesellschaft also aussehen, was für ein Gesicht soll sie haben? Nehmen wir die Herausforderung an, daß Deutschland - ob wir es gewollt haben oder nicht - im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu einem Einwanderungsland geworden ist? Die Einwanderung hat das Gesicht dieses Landes verändert. Einwanderung führt auch zu Verunsicherungen in der Bevölkerung. Es ist eine Herausforderung an die Politik, diese Veränderungen und Verunsicherungen so zu bündeln, daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung mit Ruhe und mit Frieden den Neuerungen entgegensehen kann. ({1}) Ich begrüße es ausdrücklich, daß wir dieses sensible Thema heute morgen in dieses Haus zurückgeholt haben. Das Thema Ausländereinbürgerung gehört nicht auf die Straße. Auch wenn Sie hier heute noch einmal betont haben, die Unterschriftenaktion weiterführen zu wollen, möchte ich an Sie appellieren, ja ich möchte Sie sogar wegen des Friedens im Lande bitten: Stellen Sie diese Unterschriftenaktion ein! ({2}) Ich sage das nicht deswegen, weil uns die Unterschriftenaktion parteipolitisch geschadet hätte, sondern weil wir wissen, daß auf dem Boden von Verunsicherung, von Verängstigung, auch von Ablehnung gegenüber den Fremden und dem Fremden Stimmungen entstehen und Geister aus der Flasche geraten, die wieder einzufangen wir alle uns gemeinsam bemühen müssen. Man kann so keine Politik machen. Wir haben die Verantwortung dafür, daß diese Stimmungen in der Bevölkerung, die, wie wir alle wissen, rudimentär vorhanden sind, nicht durch Stichworte, die aus der Politik gegeben werden, weitere Nahrung bekommen. ({3}) Aus den Reihen der CDU ist eine sehr kluge und besonnene Kollegin als Ausländerbeauftragte in Berlin tätig. Sie schildert genau wie ich, daß ihr aus den Migranten- und Ausländerverbänden nahegelegt wird, alles daranzusetzen, daß diese Unterschriftenaktion aufhört, ({4}) weil die Ausländer diejenigen sind, die den Stimmungswechsel zu spüren bekommen, und nicht die rotgrüne Koalition. Wir können damit leben, wenn es schlechte Stimmung gegen uns gibt. Das auszuhalten gehört bei Parteien dazu. Es geht um Menschen, die diese Stimmungen zu spüren bekommen. Das können Sie nicht wollen. Ich bitte Sie noch einmal: Gehen Sie herunter von der Straße, kehren Sie zurück ins Parlament! Hierhin gehört die Auseinandersetzung. ({5}) Sonst müssen Sie die Verantwortung dafür übernehmen, daß ein gesellschaftliches Klima entsteht, in dem nicht Integration und Toleranz, wie Sie in Ihrem Antrag sagen, vorangetrieben werden. Wir haben viel Fremdenfeindlichkeit in diesem Land. In den östlichen Bundesländern bemühen sich viele Menschen im Sinne von Weltoffenheit und Toleranz, etwas den sich radikalisierenden Stimmungen gegen Fremde und Andersaussehende entgegenzusetzen. Es darf von seiten der Politik nichts dazu getan werden, diese sich radikalisierenden Stimmungen von oben her noch zu schüren. Sie dürfen keine Tische in den Städten aufstellen, an denen den Menschen das Gefühl vermittelt wird, sie könnten all ihren Frust, all ihre Ängste gegen die Türken, gegen den Islam und gegen die anderen dort mit einer Unterschrift abladen. Das darf in diesem Land nicht sein, wenn wir an demokratischen und zivilen Verhältnissen interessiert sind. ({6}) Es liegt in der Natur von Kompromissen, daß jede Seite Zugeständnisse machen muß und sich jede Seite in einem Kompromiß wiederfinden muß. Das ist mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf zur Einbürgerung der Fall. Es ist bekannt, daß wir uns weitergehende Schritte hätten vorstellen können und daß wir den Erwartungen an dieses neue Staatsbürgerschaftsrecht, die bei den Migranten in diesem Land sehr groß geworden sind, nicht voll nachkommen konnten. Eines sollten wir aber nicht kleinreden: Wir haben endlich die Zäsur bei dem bisher ausschließlichen Abstammungsrecht in unserem Staatsbürgerschaftsrecht. Die Kinder, die ab jetzt in deutschen Kreißsälen zur Welt kommen - egal, ob sie bosnische, polnische oder deutsch-türkische Eltern haben - werden hier als deutsche Kinder aufwachsen, wenn die Eltern die Voraussetzungen erfüllen. ({7}) Das ist gut so und ist ein großer Schritt in Richtung Integration. Damit wird ihnen von vornherein die Möglichkeit eröffnet dazuzugehören. Darum geht es eigentlich. Es geht nicht um das Papier, den Paß. Es geht um die Botschaft: Ihr gehört dazu; ihr seid nicht etwas anderes und nicht andere. ({8}) Kinder kommen nicht mit einem Gefühl für Staatsangehörigkeit zur Welt. Kinder fühlen, in welcher Umwelt sie leben und wozu sie gehören. Wie gesagt, sie sollen dazugehören. ({9}) Das zweite Angebot richtet sich an die schon hier lebenden Migranten. Wir werden darum werben, daß diejenigen, die schon jetzt die rechtlichen Bedingungen erfüllen, um sich einbürgern zu lassen, aber diesen Schritt nicht tun mochten, ihn vollziehen. Wir werben darum, weil diese neue Regierung - damit bricht sie mit der Politik der alten Regierung ({10}) möchte, daß die Migranten dazugehören und gleichberechtigt sind. Sie sollen als gleichberechtigter Teil unserer Bevölkerung anerkannt werden. Wir wollen sie dazu einladen. Diese Einladung können wir nicht oft genug aussprechen. ({11}) Das Dazugehören zu betonen ist ein Teil von Integration. Zur Integration gehören ferner die Bildungs- und Schulpolitik, die - wie auch Experimente und Modellvorhaben - extrem wichtig sind. In diesem Bereich passiert in den Ländern sehr viel. Auch die Sprachförderung ist wichtig, weil die Sprache die Brücke in eine Gesellschaft ist. Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und auch der Jugendsport, in dem es unendlich viele Begegnungen zwischen ausländischen, deutschen oder schon eingebürgerten Kindern gibt, sind wichtig. All diese Punkte gehörten zur Integrationspolitik. Ich finde es gut, daß die Union zu diesem Thema einen Antrag vorlegt. Allerdings müssen Sie sich schon fragen lassen, weshalb es 16 Jahre gedauert hat, bis Sie mit diesem Thema in der politischen Arena erscheinen. ({12}) Die eigentliche Differenz zwischen der alten und der neuen Regierung besteht in der Tatsache, daß sich die neue Regierung der Realität stellt und sagt: Deutschland ist zu einem Einwanderungsland geworden; dementsprechend werden wir die Gesetze gestalten. ({13}) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß sich das kulturelle Gesicht dieses Landes tatsächlich verändert hat: Es ist unser Land, in dem Sabrina Setlur als „Beste nationale Künstlerin“ geehrt wird; es ist unser Land, in dem die Top-Nachrichten von Yasemin Kalkan im „Bericht aus Bonn“ präsentiert werden; es ist unser Land, in dem ein junger Mann mit dem urdeutschen Namen Yueshi Lai beim Landeswettbewerb „Jugend forscht in NRW“ einen ersten Preis erringt; es ist unser Land, in dem die deutsche Goldhoffnung bei den Taekwondo-Weltmeisterschaften Fadime Karatas heißt. In unserem Land steht die Karriere einer Nilgün Özel mit ihrer Agentur für „Marketing-Service/Design“ und ihren 14 Mitarbeitern beispielhaft für Existenzgründungen von Frauen. ({14}) In unserem Land hat der „Kicker“ eine Elf zur „Mannschaft der Woche“ erklärt, in dem die Fußballer aus Frankfurt - wohlgemerkt: aus Frankfurt - die Namen Arslan, Karagiannidis, Bakyrtzis und Zeran tragen. Das ist Deutschland. Unser Land besitzt inzwischen diese Vielfalt. ({15}) Es wird Ihnen nicht gelingen, meine Damen und Herren von der Union, dieses Land in die Abgeschlossenheit und Spießigkeit der 50er Jahre zurückzukatapultieren. ({16}) Marieluise Beck ({17}) Wir wollen ein modernes und zukunftsfähiges Deutschland gestalten. Weil diese Menschen zu uns gehören, ändern wir das Staatsangehörigkeitsrecht, wonach die Kinder, die hier geboren werden, sofort vom ersten Tag an zu unserer Gesellschaft gehören. Mit diesem Gesetzentwurf werden die Hürden für die Einbürgerung nicht so hoch gelegt, daß die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit nicht möglich wird. Es ist richtig, daß noch einige Punkte dieses Gesetzentwurfs zu diskutieren sind. ({18}) Dazu gibt es die parlamentarische Beratung. Wir werden diese Diskussionen im Rahmen der Anhörung mit Fachleuten führen. In diesem Zusammenhang will ich im Namen meiner Fraktion dem Bundesinnenminister noch einmal für die oft mühseligen Verhandlungen danken, die er geführt hat. ({19}) Herr Rüttgers, wir führen den Doppelpaß nicht durch die Hintertür ein, wie Sie behaupten. Wir sprechen für alle Jugendlichen und für alle, die hier dauerhaft leben, endlich die Einladung aus, durch die Vordertür in diese Gesellschaft zu kommen. Sie sollen sich nicht länger durch den Lieferanteneingang drücken müssen. Kommen Sie aus Ihrer Nörgelecke, meine Damen und Herren von der CDU/CSU! ({20}) Es liegt ein Kompromiß auf dem Tisch, der die breite Mehrheit in der Gesellschaft widerspiegelt. Ich möchte gerne wissen, wie Sie angesichts der Europawahlen, die ein Schritt auf dem Weg zu einem weltoffenen Europa sind, Ihre Campingtische in die Fußgängerzonen stellen können, wo Sie gegen Mobilität, gegen Offenheit und gegen eine tolerante Gesellschaft agieren. Das darf nicht passieren! ({21}) Sie können die Tür zu einer weltoffenen Gesellschaft nicht mehr zunageln. Diesen Weg wird auch die Gesellschaft nicht gehen. Denn bei allen Schwierigkeiten, die eine multikulturelle Gesellschaft macht, bringt sie letztlich doch einen Gewinn an Lebensqualität, an Buntheit, an Offenheit und an Vielfalt mit sich. Und Vielfalt ist immer noch besser als Einfalt. ({22})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute beginnt ein historischer Abschnitt in der Rechtsgeschichte unseres Landes. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert wird nach 86 Jahren das alte wilhelminische Staatsbürgerschaftsrecht mit seiner völkischen Philosophie des deutschen Blutes durchbrochen. ({0}) Zum erstenmal tritt das in den meisten Staaten der Europäischen Union und in den meisten demokratischen Ländern der Welt gültige Ius soli, das Territorialprinzip, an seine Seite. Künftig erwerben in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit. Es ist ein Fortschritt für unser Land und ein Schritt hin zu einem vereinten Europa. Genauso wie Innenminister Schily halte ich den ursprünglichen Gesetzentwurf für den konsequenteren und für den, der die Ziele dieser Gesetzesinitiative besser erreichen würde, nämlich Integration und sozialen Frieden durch gesellschaftliche Gleichstellung. Wir haben mit dem nun eingebrachten Gesetzentwurf einen Kompromiß erreicht, einen Kompromiß, der sich an den politischen Mehrheiten im Bundesrat orientiert, einen Kompromiß, der zu diesem Zeitpunkt das umsetzt, was zu erreichen ist. Ich sehe darin ebenso wie Peter Struck einen Einstieg, einen ersten Schritt zu einer grundlegenderen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die in Zukunft unumgänglich sein wird. Wir werden weiterhin um eine gesellschaftliche Mehrheit für eine grundlegendere Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts werben. Der hier vorliegende Entwurf ist das Ergebnis einer sachlichen Diskussion von den politischen Kräften, die an einer solchen Diskussion und an einer Lösung der bestehenden Probleme interessiert sind. Die Zustimmung geht über die Fraktionen der Regierungskoalition hinaus; sie umfaßt die Abgeordneten der F.D.P.-Fraktion und, wie zu hören ist, auch Abgeordnete der CDU/CSUFraktion. Ich will Ihnen dazu eine kleine Szene von heute morgen schildern. Mir hat ein Kollege aus der Fraktion der CDU/CSU erklärt, daß er heute lieber gar nicht erst ins Plenum kommt, weil er sonst womöglich der Situation ausgesetzt würde, daß er klatschen möchte - wenn nämlich heute das eingebracht wird, wofür er in den letzten vier Jahren gekämpft hat - und deswegen Schwierigkeiten bekäme, oder weil er der Situation ausgesetzt würde, daß er Schwierigkeiten von Ihrer Seite bekäme, wenn er bei den Redebeiträgen von Ihnen nicht klatschen würde. ({1}) Ich denke, das ist eindeutig. Deswegen freue ich mich ganz besonders darüber, daß es auch noch andere Kollegen aus Ihrer Fraktion gibt, die ihre Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf deutlich ausgedrückt haben, die also nicht den einfacheren Weg gehen, zu Hause zu bleiben, sondern die klar Stellung beziehen. ({2}) Marieluise Beck ({3}) Daß es weder dem Kollegen Schäuble noch Herrn Stoiber, noch der Mehrheit in Ihrer Partei um eine sachliche Diskussion geht, das liegt auf der Hand. Die Union geht nach rechts. Die CDU/CSU hat beschlossen, die umstrittene Unterschriftenaktion fortzuführen. Ich fand es bezeichnend, wie Sie, Herr Schäuble, als Innenminister von Baden-Württemberg erklärt haben: Wir führen die Unterschriftenaktion fort. - Ich gehe davon aus, Sie haben das als Sprachrohr der CDU gesagt und nicht in der Funktion als Innenminister, in der Sie hier sind. ({4}) Meine Damen und Herren, Sie polemisieren mit dieser Unterschriftenaktion weiterhin gegen eine generelle Hinnahme der sogenannten doppelten Staatsbürgerschaft, und das, obwohl das in dem vorliegenden Gesetzentwurf überhaupt nicht mehr enthalten ist. ({5}) In diesem Entwurf ist das schon einmal gar nicht der Fall. Ihnen geht es gar nicht darum, ein Gesetz zu verhindern. Ihnen geht es einzig und allein darum, weiterhin mit gezielter Desinformation unterschwellige Ängste und Fremdenfeindlichkeit zu schüren. ({6}) Sie stehen damit in der übelsten und unseligsten Tradition der deutschen Rechten in diesem Jahrhundert. Sofort nach dem Start der Unterschriftenaktion haben die Republikaner, die DVU und die NPD lauthals Beifall geklatscht und angekündigt, Ihnen inhaltlich und organisatorisch unter die Arme zu greifen. Ich würde mich für diesen Zuspruch und solche politischen Bündnispartner schämen. ({7}) Die Union geht nach rechts! Während die katholische und die evangelische Kirche, während alle wichtigen gesellschaftlichen Institutionen Sie kritisiert haben und noch immer kritisieren, setzen Sie diese Kampagne fort. Da stellt sich Herr Stoiber hin und erklärt unseren Ansatz zum „gefährlichsten Anschlag auf den Rechtsstaat seit der RAF“. ({8}) Da verbreitet die CSU die Auffassung, daß bei einer erleichterten Einbürgerung die PKK in unserem Parlament sitzen wird. Sie haben in der Debatte zur Festnahme von Abdullah Öcalan mehrmals einen Zusammenhang zwischen den Ausschreitungen von PKK-Anhängern und der Diskussion um eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts hergestellt. Das ist eine infame und wissentlich unrichtige Darstellung. ({9}) Sie wissen ganz genau, daß es sich bei den an den Krawallen beteiligten Personen mit großer Mehrheit um Menschen gehandelt hat, die in gar keiner Weise die Voraussetzungen des Gesetzentwurfs erfüllt hätten. Da ich Ihnen unterstelle, daß Sie des Lesens und des geistigen Erfassens eines Gesetzentwurfes mächtig sind, bleibt nur die Schlußfolgerung, daß Sie hier wissentlich und kalkuliert die Unwahrheit gesagt haben, um auch hier eine fremdenfeindliche Stimmung zu schüren und die Regierungsfraktionen zu verunglimpfen. Die Union geht nach rechts! Die Väter und Mütter der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland haben eine demokratische und freiheitliche Gesetzgebung geschaffen, in der Taten wie Volksverhetzung unter Strafe gestellt wurden. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß maßgebliche Teile der CDU/CSU im Begriff sind, diesen Konsens zu verlassen. Man ist heutzutage in der CSU stolz darauf, wenn DVU-Chef Frey erklärt, seine Partei werde nicht zu den bayerischen Landtagswahlen antreten, weil die CSU alle Voraussetzungen einer Rechtspartei in seinem Sinne erfülle. Die CDU/CSU hat die Orientierung an der Mitte aufgegeben. Die Union geht nach rechts! ({10}) Wenn Sie es mit solchen Kampagnen schaffen, bei Landtagswahlen zu punkten, ist das noch hinnehmbar. Sie befördern damit aber in unserem Land ein Klima, in dem es dann möglich wird, daß Menschen zu Tode gehetzt und wegen ihrer Herkunft angezündet werden. Dafür tragen Sie Ihren Teil der Verantwortung. Und dies ist unlösbar mit der Diskussion verbunden, die wir hier heute führen. ({11}) Zur Unterschriftenaktion nur ein kurzes Zitat Ihres Parteifreundes Michel Friedman, der im Berliner „Tagesspiegel“ erklärt hat: Es ist doch der Gipfel der Heuchelei, wenn die CDU behauptet, diese Unterschriftensammlung im Interesse der Ausländer zu machen. Dem kann man eigentlich nichts mehr hinzufügen. ({12}) Sie mögen ja den Ausgang der Wahl in Hessen als großen Sieg Ihrer Unterschriftenaktion feiern. Es gibt aber auch Siege, die schlimmer sein können als Niederlagen. Und dieser Sieg wird Sie entzweien. ({13}) Die Union geht nach rechts! Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden dem entschlossen entgegentreten. Gemeinsam mit den Kollegen des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. haben wir angesichts der veränderten Verhältnisse im Bundesrat einen tragfähigen Kompromiß gesucht und gefunden. Er beinhaltet einige Veränderungen, die wirklich nach vorne weisen. Natürlich ist das Optionsmodell stark in der Kritik. Ich kann diese Kritik beispielsweise vom Geschäftsführer des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg, Herrn Kenan Kollat - stellvertretend für viele Betroffene -, verstehen. Aber ich kann nur sagen: Dieses Gesetz ist gegenüber der bestehenden Regelung eine Reform, die nach vorne weist. Ich kann alle Kritikerinnen und Kritiker nur auffordern: Arbeiten Sie mit! Führen Sie mit uns eine gesellschaftliche Diskussion, damit dies nur ein erster Schritt ist! ({14}) An dieser Stelle möchte ich noch etwas zum Kollegen Gerhardt von der F.D.P. sagen, der erklärte, die Grünen müßten begreifen, daß sie die Schlacht in dieser Angelegenheit verloren hätten. Ich finde, schon die Diktion läßt tief blicken; hier wird von einer Schlacht, sozusagen von einem Krieg gesprochen. Es ist aber auch sachlich falsch; denn die Verlierer in dieser Angelegenheit sind nicht die Grünen. Die Verlierer sind vielmehr die Menschen, die seit Jahrzehnten in diesem Land leben, die hierhergeholt wurden, um zu arbeiten, und die unsere Wirtschaft, unseren Wohlstand mit aufgebaut haben. ({15}) Von seiten der CDU kommt natürlich wieder der Ruf: Wir gehen vors Bundesverfassungsgericht. Das sind wir mittlerweile gewohnt. Es war in den letzten 16 Jahren auch kaum eine politische Entscheidung möglich, ohne daß sie Ihnen aus Karlsruhe diktiert wurde. Sie selbst waren ja nicht mehr für Politik zuständig. Das hat sich jetzt geändert. Wir haben eine Regierung, die Politik macht. Wir brauchen auch die verfassungsrechtliche Untersuchung nicht zu fürchten. ({16}) Ich brauche hier, glaube ich, kein juristisches Seminar zur Verfassungsmäßigkeit eines Optionsmodells abzuhalten. Sie alle wissen, daß nach Art. 16 des Grundgesetzes ein Entzug der Staatsbürgerschaft verboten, aber ein Verlust durchaus möglich ist. Hierzu wird es eine ausführliche juristische Diskussion und auch eine Anhörung geben. Wir werden dann zu einem verfassungsmäßigen Entwurf kommen, der dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts standhalten wird. Allerdings finde ich es schon etwas witzig, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen: Das Optionsmodell ist wegen des Verlustes per se verfassungswidrig. Lesen Sie sich einmal Ihren Gesetzentwurf durch; darin stehen einige Verlustgründe. Dann wären diese ja genauso wenig möglich, dann wären diese ja genauso verfassungswidrig. Ich erspare es mir, auf einige einzugehen. Die sind schon hanebüchen. Als Juristin stellen sich mir da die Haare zu Berge. Ich möchte nur noch auf einen Punkt Ihres Antrages eingehen, nämlich auf § 6, die Erwerbszusicherung. Sie haben uns immer vorgeworfen, wenn wir auch nur in Ausnahmefällen zulassen würden, daß Menschen in diesem Land mehr als eine Staatsbürgerschaft besitzen, dann würden wir eine Zweiklassengesellschaft schaffen: Doppeldeutsche und Nur-Deutsche. Was machen Sie jetzt? - Sie wollen für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern eine Einbürgerungszusicherung einführen, eine Art Gutschein, der den jungen Menschen dann sagt: Ihr gehört nicht zu uns, aber wenn ihr hübsch brav seid, dann dürft ihr vielleicht einmal zu einem von uns werden. Vorhin ist mir fast einmal die Luft weggeblieben das kommt bei mir selten vor -, ({17}) als Ihr Kollege gesagt hat, sie müßten sich gut führen. Wissen Sie, woher ich den Begriff kenne? - Aus meiner Tätigkeit als Anwältin. Da haben mich Mandaten immer gefragt, wenn sie zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, wann sie denn herauskommen, wenn sie sich gut führen. Wenn Sie so eine Assoziation mit einer Einbürgerungsmöglichkeit für Kinder und Jugendliche verbinden, dann sträuben sich mir wirklich die Haare. Das läßt tief blikken. ({18}) Meine Damen und Herren, mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes, wenn wir es durchsetzen, beginnt eine neue Entwicklung. Wir wollen nämlich keine ethnische Sauberkeit, sondern kreative, leistungsfähige und zukunftsorientierte Vielfalt. Wir wollen für die Menschen, die in dieser Gesellschaft leben und arbeiten, die gleichen Rechte und Pflichten, unabhängig von ihrer ethnischen Abstammung. Das heute eingebrachte Gesetz, der Gruppenantrag, ist ein erster Schritt im Rahmen dieser Entwicklung. Es ist nicht das Ende des Weges, sondern der Anfang. Die Union geht nach rechts; wir gehen nach vorn! Vielen Dank. ({19})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Rüttgers, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin, zu Ihrer Rede: Von Gift und Häme geprägt, würde es sich normalerweise nicht besonders lohnen, darauf einzugehen. ({0}) Sie sollten nur an einer Stelle etwas vorsichtig sein: wenn Sie über rechtsradikale Parteien diskutieren. Sonst fällt mir ein, daß die von Ihnen zitierte DVU anläßlich der Niedersachsenwahl im vergangenen Jahr aufgerufen hat, Gerhard Schröder zu wählen. Ich wäre an Ihrer Stelle viel vorsichtiger bei dem, was ich hier vorn sage, oder ich würde wenigstens ordentlich lesen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung hat eben in ihrer Rede einige Menschen vorgestellt, die in Deutschland leben, mit dem emotionalen Anfang der Sätze: Das ist unser Land. - Sie hat recht: Es ist schön, daß es in diesem Land viele Menschen gibt mit sehr unterschiedlichen Begabungen und auch mit unterschiedlicher Herkunft. ({2}) - Lieber Herr Kollege Tauss, ich habe Ihnen schon mehrfach gesagt: Gewöhnen Sie sich doch einmal an, das Gehirn einzuschalten, bevor Sie den Mund aufmachen! Es ist doch wirklich unerträglich. ({3}) Halten Sie doch einfach einmal den Mund und hören Sie zu. Vielleicht lernen Sie etwas. Das täte Ihnen gut. ({4}) Frau Kollegin Beck, es ist schön, daß dieses Land so vielfältig ist. Aber man muß auch darauf achten, daß ein solches Land zusammenbleibt, daß es ausländerfreundlich bleibt. Da haben Sie nun wirklich einen Fehler gemacht. Nicht wir haben das Thema Doppelpaß auf die Tagesordnung gesetzt, sondern Sie glaubten vor der Hessen-Wahl, Sie könnten Stimmen gewinnen, wenn Sie das Thema ansprechen. Aber Sie haben sich geirrt, und es wird Zeit, daß Sie zur Kenntnis nehmen, was in dieser Frage die Mehrheit in diesem Land will. ({5}) Sie versuchen jetzt vor der Bremen-Wahl und vor der Europa-Wahl schon wieder, dieses Gesetz mit Sondersitzungen durch das Parlament zu peitschen. Sie werden sich noch einmal irren. Ich beschwöre Sie: Lassen Sie von diesem Vorhaben ab, lassen Sie uns über die Frage reden, wie man das Land versöhnen kann, statt es zu spalten, wie Sie es machen. ({6}) Wo sind denn Ihre konkreten Vorschläge für die Integration? Der Glaube, man gebe einem Menschen einen Paß und dann sei er integriert, ist ein Irrglaube, wie wir aus Frankreich, England und den Niederlanden wissen. Wo sind denn Ihre Vorschläge, wie es mit dem Sprachunterricht weitergeht, ({7}) wie es am Arbeitsplatz und bei den Lehrstellen sein soll? Da ist bei Ihnen Sendepause, Frau Kollegin Müller. Sie haben keinen Antrag hinbekommen. Deshalb meinen Sie, Sie müßten Ihre Ideologie durchsetzen. ({8}) Die CDU/CSU-Fraktion hat heute zwei Anträge und einen Gesetzentwurf vorgelegt. ({9}) In einem Antrag legen wir ein Konzept für die Integration mit vielen konkreten Punkten vor. ({10}) Der Antrag für ein modernes Ausländerrecht enthält Vorschläge für die Novellierung des Ausländergesetzes. Unser Gesetzentwurf schließlich beinhaltet die Neuregelung des Staatsangehörigkeitrechtes. ({11}) Diese Vorlagen sind eine klare Alternative zu dem ausländerpolitischen Scherbenhaufen, den Rotgrün hier in den letzten Wochen angerichtet hat. ({12}) Es ist das bessere Konzept für die Integration der rechtmäßig und dauerhaft hier lebenden Ausländer. ({13}) Heute hat Herr Schily den dritten Entwurf vorgelegt. ({14}) Man höre und staune: den dritten Entwurf in zwei Monaten. Mitte Januar hat man noch von historischen Dimensionen geredet. Im Februar mußte der Bundesinnenminister diesen Entwurf zurückziehen, und zwar wegen inhaltlicher Mängel, wegen politischer Unausgegorenheit, weil er nicht mehrheitsfähig war und weil die Bevölkerung in Hessen diesen Entwurf klar abgelehnt hat. Dann kam Schily II aus der Abteilung Tricksen und Täuschen. Man wollte so tun, als verzichte man auf die Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehörigkeit. Aber es gab für fast jeden Fall eine Ausnahmevorschrift, was bedeutet hätte, der Doppelpaß wäre doch gekommen. Auch dieser Entwurf wurde wenige Tage später kassiert. Heute haben wir nun Schily III. Dieser Entwurf hat mit seinen Vorgängern eines gemeinsam: Auch er wurde mit heißer Nadel gestrickt. Er ist wiederum nur ein Stückwerk und keine Gesamtreform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts. Noch nicht einmal Verfahrensregeln sind in diesem Entwurf enthalten. Vor allem fehlt jede inhaltliche Abstimmung mit dem Ausländerrecht. Ein Beispiel: Man kann künftig als Ausländer leichter die deutsche Staatsangehörigkeit als ein Daueraufenthaltsrecht in Deutschland erwerben. Das erkläre einem, wer will; ich verstehe das nicht. ({15}) Es bleibt völlig offen, wie viele der hier lebenden Ausländer die Einbürgerungsvoraussetzungen erfülDr. Jürgen Rüttgers len, ob es 100 000, 500 000 oder 1 Million sind. Aber angeblich soll der Doppelpaß nur noch die Ausnahme sein. Das haben wir jedenfalls gehört. Lassen Sie mich einmal versuchen, abzuschätzen, um wie viele Menschen es geht. Politisch Verfolgte sollen in jedem Fall die doppelte Staatsangehörigkeit bekommen. Nach den Zahlen des Ausländerzentralregisters sind es knapp 300 000 Menschen. ({16}) EU-Bürger sollen das Recht auf den Doppelpaß haben. Das sind rund 1,6 Millionen Menschen. ({17}) Mehrstaatlichkeit soll für ältere Ausländer zugelassen werden. ({18}) Wenn wir eine Grenze von 60 Jahren annehmen, sind das 450 000 Personen. ({19}) Mehrstaatlichkeit soll nach Schily III aber vor allem dann hingenommen werden, und zwar zwingend, wenn die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit zu wirtschaftlichen oder vermögensrechtlichen Problemen führt. ({20}) Das trifft aber in jedem Land für jeden zu, der nicht mehr Inländer, sondern Ausländer ist. Das heißt, man braucht nur vorzutragen, man werde von der Familie enterbt, und schon kann man die doppelte Staatsangehörigkeit behalten. ({21}) Zudem läge es in den Händen anderer Staaten, jedem ihrer hier lebenden Staatsbürger die doppelte Staatsangehörigkeit zu ermöglichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir wirklich, daß andere Staaten über die Zahl von doppelten Staatsangehörigkeiten in Deutschland bestimmen?

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Herr Kollege Westerwelle hat heute schon mehrfach geredet. Jetzt muß er sich das auch einmal ein bißchen anhören. Heißt dies nicht auch, je strenger der ausländische Staat ist, desto leichter kann er die doppelte Staatsangehörigkeit in Deutschland für seine Bürger durchsetzen, falls er das politisch als vorteilhaft ansieht? Es bleiben die jährlich etwa 80 000 in Deutschland geborenen Kinder ausländischer Eltern, die nach Schily III zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen, also jährlich etwa 80 000 neue Doppelstaatler. Hinzu kommen noch diejenigen, die bereits zehn Jahre hier sind und die jetzt auch den Doppelpaß erhalten. Das sind auf einen Schlag noch einmal zwischen 600 000 und 700 000 Personen. ({0}) Diese Zahlen, werte Kolleginnen und Kollegen, zeigen: Auch Schily III führt die doppelte Staatsangehörigkeit ein, wenn auch nur durch die Hintertür. Diejenigen, die dann den Doppelpaß immer noch nicht haben, sollen ihn - das haben wir heute gehört, etwa bei der Rede von Frau Kollegin Müller oder bei den Äußerungen des SPD-Fraktionsvorsitzenden - in einem zweiten Schritt bekommen. Für Sie ist das Gesetz ein erster Schritt. Ich sage Ihnen: Sie mißachten mit diesem Gesetz nicht nur den Willen der Bevölkerung; Sie werden mit diesem Vorhaben auch ein zweites Mal scheitern. ({1}) Das Optionsmodell ist „weder von der Verfassung her unproblematisch noch in Hinsicht auf die verwaltungspraktische Umsetzung“. ({2}) Es führt zu einem „gigantischen Verwaltungsaufwand“, der „überhaupt nicht zu bewältigen“ ist, wenn jeweils geprüft werden muß, ob die zweite Staatsangehörigkeit bei der Option für die deutsche tatsächlich aufgegeben wird. - Das waren Zitate von Herrn Bundesinnenminister Schily vom 24. Januar 1999.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Frage?

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich frage Sie, ({0}) Herr Bundesinnenminister: Ist es nicht so, daß Sie für die Verfassung in diesem Land zuständig sind? Wie kann es sein, daß ein Bundesinnenminister hier einen Gesetzentwurf vorlegt und vertritt, der nicht zweifelsfrei verfassungsgemäß ist? ({1}) Ich frage Sie: Wie kann es sein, daß notwendige Abklärungen, die gerade auch im Hinblick auf den Rechtsfrieden von zentraler Bedeutung sind, unterbleiben, bloß weil man aus politischer Not glaubt, man müsse jetzt in dieser Frage handeln? Ich verstehe das nicht. ({2}) Ich weiß auch nicht, wie Sie, Herr Schily, das mit Ihrem Amtseid in Übereinstimmung bringen können. In dieser Woche haben Sie gesagt, eventuelle verfassungsrechtliche Bedenken könnten im Laufe des parlamentarischen Verfahrens beseitigt werden. Herr Schily, was ist das für ein Verständnis von Ihrem Amt, wenn Sie Gesetze vorlegen und begründen und zugeben, daß es verfassungsrechtliche Bedenken gibt, die man nicht ausgeräumt hat? Herr Schily, ziehen Sie Ihre Zustimmung zu diesem Entwurf zurück, solange nicht klar ist, ob dieser Gesetzentwurf verfassungsgemäß ist oder nicht! ({3}) Ich persönlich glaube, daß dieses Gesetz verfassungsrechtlich mehr als bedenklich ist. ({4}) Der Sache nach handelt es sich um eine befristete Staatsangehörigkeit, die vom Grundgesetz nicht vorgesehen ist. Aber unabhängig von dieser Frage ist dieses Gesetz auch integrationspolitisch unausgegoren. Es wirft nur Fragen auf, löst aber die praktischen Probleme der Integration nicht. Zur Rechtssicherheit gerade in Statusfragen gehört eben auch Rechtsklarheit; die wird durch dieses Gesetz nicht erreicht. ({5}) Integration durch einen Paß - das ist der ideologische Glaube an die Macht bürokratischer Entscheidungen. Zur wahren Integration gehört aber, wie jeder weiß, viel mehr. ({6}) Integration, Frau Müller, findet im Kindergarten und in der Schule statt. Sie findet in der Wohnumgebung statt. Sie findet im Sportverein statt. Sie findet bei Freundschaften zwischen jungen Ausländern und Deutschen statt. Da entscheidet sich die Integration. Deshalb verstehe ich Ihre Bemerkung zu Roland Koch im Hinblick auf den muttersprachlichen Unterricht nicht. Wer die Integration in die deutsche Gesellschaft will, der muß den Deutschunterricht fördern und nicht eine ausländische Sprache, um die Rückkehr zu ermöglichen. ({7}) Das ist genau das, was Sie anscheinend nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen. ({8}) Bisher hat niemand plausibel erklären können, worin eigentlich der integrationspolitische Zugewinn des Doppelpasses für Jugendliche liegen soll. Es ist vor kurzem vom Kollegen Kanther gefragt worden, wie es mit der integrativen Logik des Modells auf Zeit, wie es im Gesetzentwurf von Rotgrün steht, dem Herr Westerwelle zugestimmt hat, zu vereinbaren sei, wenn das kleine Kind über zwei Pässe verfügt, aber der 23jährige die deutsche Staatsangehörigkeit wieder verlieren soll, weil er die elterliche nicht aufgeben will. Für wen ist denn eigentlich die Integration - der Paß, wie Sie meinen wichtiger: für den Zweijährigen oder für den 23jährigen? ({9}) Das zeigt, Herr Westerwelle, daß schon der Ansatz des Optionsmodells völlig unausgegoren ist. Er führt zu integrationspolitisch völlig unmöglichen Situationen. Nehmen wir einmal den Fall der jungen Frau, die 18jährig, das heißt als Doppelstaatlerin, ein deutsches Kind zur Welt bringt, mit 23 Jahren aber die deutsche Staatsangehörigkeit verliert, weil sie zur Aufgabe ihrer ausländischen Staatsangehörigkeit nicht bereit ist. Das Kind bleibt dann deutsch, im übrigen ohne spätere Optionspflicht, da es die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Abstammungsprinzip erhalten hat - was beweist, daß Ihre ganze Rhetorik gegen das Abstammungsprinzip völlig an der Sache vorbeigeht, denn Sie behalten es selber bei, wie dieser Fall zeigt. Insofern sollten Sie diese Argumentation einstellen. Nehmen Sie den zweiten Fall des 22jährigen Ausländers, der als Doppelstaatler zum Bundestag wählen darf, mit 24 Jahren aber nicht mehr an der Landtagswahl teilnehmen darf, weil er zwischenzeitlich seine deutsche Staatsangehörigkeit verloren hat, und zwar nur deshalb, weil er seine elterliche Staatsangehörigkeit nicht ausdrücklich aufgeben will. Oder nehmen Sie den dritten Fall des 19jährigen Doppelstaatlers, der Wehrdienst leistet, dann aber plötzlich wieder zum Ausländer in Deutschland wird, obwohl sich an seinen persönlichen Lebensumständen überhaupt nichts geändert hat. Und wie steht denn derjenige da, der seit seiner Geburt als Deutscher in Deutschland lebt, jetzt aber gegen die deutsche Staatsangehörigkeit optiert: Muß er dann, nach einem Vierteljahrhundert als Deutscher, Deutschland verlassen? - Keine Antwort im Schily-Entwurf.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Rüttgers, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dagmar Schmidt?

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich glaube, ich hatte mehrfach deutlich gemacht, daß ich keine Zwischenfrage zulasse. Ich sage das gerne noch einmal. Oder was ist mit jugendlichen Kriminellen, die dann nicht mehr ausgewiesen bzw. abgeschoben werden können? Wir alle kennen den Fall Mehmet; er ist eben schon diskutiert worden. Man kann jungen Kriminellen dann eigentlich nur raten, nach Erreichen der Volljährigkeit so schnell wie möglich für die deutsche Staatsangehörigkeit zu optieren, damit sie vor Abschiebung oder Ausweisung sicher sein können. ({0}) Wie man das auch dreht und wendet: Das Optionsmodell - nun hören Sie einmal zu; jetzt zitiere ich nämlich den „Spiegel“- ist „der größte anzunehmende Unfug in der Nachkriegsgeschichte des Staatsangehörigkeitsrechts“. Auch darin hat der „Spiegel“ recht. Weiter: „Kinder, die - ohne daß ihre Eltern gefragt werden - zunächst von Amts wegen Deutsche werden sollen, bekommen eine familiäre Zeitbombe unters Bett gelegt“. ({1}) Diese völlig verfehlte Konzeption des SchilyEntwurfs und seine zahlreichen Ungereimtheiten und Inkonsequenzen vermeidet der Entwurf der CDU/CSUBundestagsfraktion. Er hat ein klares System. Er wirft die Grundprinzipien des bisherigen Staatsangehörigkeitsrechts nicht einfach über Bord, sondern entwickelt sie fort. ({2}) Wir wollen das Einbürgerungsrecht erleichtern. Wir wollen Rechtsansprüche und nicht bloßes behördliches Ermessen. Wir verkürzen die Mindestaufenthaltszeiten im Bundesgebiet, bei Erwachsenen von derzeit 15 Jahren auf künftig 10 Jahre, bei jungen Ausländern von derzeit 8 Jahren auf künftig 6 Jahre. Wir hätten dann eines der großzügigsten Einbürgerungsrechte der Welt. Unverzichtbar ist aber die nachweisbare Integration und Sozialisation des Einbürgerungsbewerbers. Wir verlangen deshalb den Nachweis ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache und Grundkenntnisse der verfassungsmäßigen Ordnung unseres Landes. ({3}) Wir halten am Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatlichkeit fest. Wer sich einbürgern lassen will, muß sich für die Bundesrepublik Deutschland entscheiden. Wer Deutscher werden will, muß also seine alte Staatsangehörigkeit aufgeben. ({4}) Natürlich muß es auch weiter Ausnahmen davon geben. Manche Staaten lassen das Ausscheiden aus ihrer Staatsangehörigkeit überhaupt nicht zu, andere verweigern es regelmäßig oder willkürhaft oder machen es von unzumutbaren Bedingungen abhängig. Deshalb enthält unser Entwurf Ausnahmen, die es auch jetzt schon gibt. Aber es gibt in unserem Entwurf keine Generalklausel, sondern eine abschließende Aufzählung aller Fälle, in denen von diesem Erfordernis Abstand genommen wird. Für die hier geborenen Kinder von Ausländern, die seit langem in Deutschland leben, wollen wir eine Zusicherung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit einführen. ({5}) Diese Einbürgerungszusicherung löst alle praktischen Fälle, die im Zusammenhang mit der Frage „Wie können Kinder hier aufwachsen?“ denkbar sind. Sie können so aufwachsen wie ihre Spielkameraden und wie ihre Schulkameraden. Sie können mit ihrer Schulklasse ins Ausland reisen. Sie können sogar eine Lehre im öffentlichen Dienst aufnehmen. ({6}) Sie können bei der Polizei eine Ausbildung absolvieren. Es gibt also praktisch überhaupt nichts, was sie bei ihrem Aufwachsen von deutschen Kindern und Jugendlichen unterscheidet. Die Einbürgerungszusicherung vermeidet alle Probleme, die ich soeben aufgezählt habe. Das macht den Unterschied aus: Statt Ideologie zu betreiben, sollten praktische Lösungen für die jungen Menschen hier in diesem Lande gefunden werden. Das zu erreichen wäre wichtig. Statt unser Land zu spalten, sollte es zu einer Versöhnung kommen. ({7}) Deshalb sage ich Ihnen - obwohl das nach manchen Beiträgen in dieser Debatte unglaublich schwerfällt -: ({8}) Aus Verantwortung für die jungen Menschen und gerade auch für die jungen Ausländer in diesem Land sind wir bereit, in Gespräche einzutreten, um zu einer vernünftigen und praktikablen Lösung zu kommen. ({9}) Das setzt allerdings voraus, daß Sie aufhören, den vorliegenden Gruppenantrag bzw. Gesetzentwurf durch die parlamentarischen Verfahren zu peitschen, und daß wir in vernünftige Gespräche eintreten. Ich fordere Sie deshalb auf: Lassen Sie davon ab, dieses Land zu spalten, bevor es zu spät ist! Wir brauchen eine vernünftige Lösung im Interesse der Menschen und vor allen Dingen der Kinder in diesem Land. Vielen Dank. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle, F.D.P.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich Ihre Geduld noch einmal ganz kurz strapazieren muß. Aber als einer der Autoren des vorliegenden Gesetzentwurfes liegt mir an drei kurzen Bemerkungen. Erstens. Wir sind - so wie Sie - Angehörige der Opposition. Deswegen würden wir es schon aus Prinzip nicht zulassen, daß die Rechte der Opposition im Rahmen der Beratung dieses Gesetzentwurfes beschnitten werden. ({0}) Wir könnten es nicht akzeptieren, daß jemand berechtigterweise den Vorwurf erheben müßte, der vorliegende Gesetzentwurf werde durchgepeitscht. ({1}) Das ist doch nicht erfolgt. ({2}) Deswegen ist das parlamentarische Verfahren, insbesondere die Anberaumung einer diesbezüglichen Anhörung für den 13. April dieses Jahres, im Innenausschuß einstimmig, also unter Zustimmung der Vertreter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, festgelegt worden. ({3}) Sie haben dem zugestimmt. Sie können hier nicht von „Durchpeitschen“ sprechen. Zweitens. Ich möchte Sie alle darauf aufmerksam machen, daß wir in der letzten Periode einen Reformaufruf vorgelegt bekommen haben, dem 30 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zugestimmt und den sie unterschrieben haben. ({4}) Hier heißt es wörtlich: Die in Deutschland geborenen Kinder ausländischer Eltern erhalten mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit. Voraussetzung ist, daß ein Elternteil dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland lebt, da zu erwarten ist, daß diese Kinder in unserem Land aufwachsen und bleiben werden. Nach Erreichen der Volljährigkeit sollen sie sich für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. Punktum. Das wollen wir jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf umsetzen. Ich appelliere an die CDU/CSU: Heben Sie den Fraktionszwang auf! Lassen Sie die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, so wie dies alle anderen Fraktionen auch tun, über den vorliegenden Gruppenantrag frei entscheiden, wie wir das auch in bezug auf § 218 des Strafgesetzbuches getan haben. Dann wird hier im Deutschen Bundestag für die vorgelegte Reform mehr als eine Zweidrittelmehrheit erzielt. ({5}) Drittens. Ich nehme, was den vorliegenden Gesetzentwurf angeht, eine Vielzahl der von Ihnen vorgetragenen Argumente sehr ernst. Das ist für mich überhaupt keine Frage. Aber eine Sache kann ich nicht akzeptieren, und zwar, daß Sie den Eindruck erwecken, durch den vorliegenden Gruppenantrag werde der Doppelpaß durch die Hintertür eingeführt. Das geschieht nicht. Verschiedene Redner der Grünen und der SPD haben ausdrücklich bedauert, daß ihr ursprüngliches Modell vom Tisch ist - ich kann das verstehen -, weil wir diesem Modell nicht zugestimmt haben. Es gibt also keinen Doppelpaß - nicht offen, nicht verdeckt, nicht durch die Hintertür und nicht von vornherein. Er ist ausdrücklich ausgeschlossen worden. Diejenigen Regelungen in unserem Gesetzentwurf, die eine Mehrstaatlichkeit vorsehen, entsprechen der bisherigen Rechtslage. § 87 des Ausländergesetzes enthält genau diese Gründe, warum man eine Mehrstaatlichkeit hinnehmen kann: zum Beispiel, wenn ein junger Mensch, der hier geboren wurde, aus seiner alten Staatsangehörigkeit nicht entlassen wird, so wie wir das aus dem Iran und manchmal bei jungen wehrfähigen Männern aus Serbien kennen. Wenn das so ist, können wir doch nicht allen Ernstes sagen: Du darfst nicht Deutscher werden. In meine Kanzlei - dies war einer meiner ersten Prozesse, lange bevor ich in die Politik ging - kam ein junger Serbe, der pfälzischen Dialekt sprach und eingebürgert werden wollte.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Entschuldigen Sie, eine letzte Bemerkung. - Dieser serbische Kfz-Lehrling, der hier groß geworden ist und nur einmal in seinem Leben auf Besuch zu Hause in Jugoslawien war, konnte nicht aus seiner Staatsangehörigkeit entlassen werden, weil man für die Annahme des Ausbürgerungsantrages fast 10 000 DM Gebühren verlangt hat. Das kann ein Kfz-Lehrling nicht bezahlen. Für solche Fälle, in denen jemand nicht aus der alten Staatsangehörigkeit entlassen werden kann, muß es die Möglichkeit der Mehrstaatlichkeit geben. Das ist Recht heute, und das ist Recht in Zukunft. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Werter Kollege Rüttgers! Ich hatte Ihnen eigentlich eine Zwischenfrage stellen wollen. Denn ich möchte etwas über Ihren Gesetzentwurf, der ja erst seit drei Tagen vorliegt, lernen, weil er meines Erachtens Fragen aufwirft. Sie haben sehr wenig über Ihren Gesetzentwurf, aber viel über den Gesetzentwurf der „Koalition der Vernunft“ gesprochen. Sie haben dafür wahrscheinlich gute Gründe. Denn ich glaube, Ihr Gesetzentwurf ist im wesentlichen „Blindtext“. In diesem Land werden jährlich etwa 100 000 Kinder ausländischer Eltern geboren. Die heutige Rechtslage ist, sie sozusagen im Kreißsaal auszubürgern. Diesen Zustand wollen wir beenden, das wollen wir mit diesem Optionenmodell zumindest erreichen. Ich habe jetzt die ganz konkrete Frage: Was ändert sich für diese Kinder nach Ihrem Gesetzesvorschlag gegenüber der heutigen Rechtslage? Wenn die Kinder hier geboren sind, sind sie mit 18 - das ist das Alter, bei dem Sie die Zusicherung der Einbürgerung geben wollen - länger als 15 Jahre in diesem Land und haben deshalb nach geltendem Ausländerrecht einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung. Deshalb halte ich das, was Sie hier vorschlagen, für eine Verwirrung der Öffentlichkeit mit neuen Begriffen. In der Substanz ändern Sie nichts. Aus Sicht der hier geborenen Kinder muß man sagen: Der Berg - die Union - kreißte und gebar nicht einmal eine Maus. Die Union war schlicht scheinschwanger. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich jetzt belehren, daß Sie doch schwanger sind. Erläutern Sie mir einmal Ihren Vorschlag: Was ändert sich gegenüber dem IstZustand? ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Michael Bürsch, SPD-Fraktion.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Rüttgers, ich hatte zu Beginn der Debatte dafür plädiert, die Diskussion durchaus leidenschaftlich, aber tolerant und sachbezogen zu führen. Das haben Sie auch für sich reklamiert. Bloß, Ihre Rede war insofern ein Widerspruch in sich. Drei Bemerkungen. Erstens. Zu der Unterschriftenaktion, auf die auch andere CDU/CSU-Redner verwiesen haben - für Sie war sie eine Frage der Aufklärung -, sagt jemand wie Richard von Weizsäcker: Die Materie ist für plebiszitär eingesammelte Unterschriften viel zu komplex. Eine solche Aktion könnte es auch beim besten Willen nicht vermeiden, „Ausländer raus!“-Instinkte zu schüren. Sie paßt nicht zu einer Partei, die sich mit großem Recht zum Zusammenschluß Europas bekennt. Das ist eine Stimme aus Ihren Reihen. Zweitens. Seien Sie doch so ehrlich, zuzugeben, daß es auch bei Ihnen keine Einheitsmeinung gibt, Herr Rüttgers. Es handelt sich um eine schwierige Materie, bei der unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen. In Ihrer Fraktionssitzung am 19. Januar ist das ebenfalls passiert. Die „FAZ“, wirklich kein SPD-Blatt, hat lang und breit berichtet, was da passiert ist: Ein Drittel hat sich für das Optionsmodell ausgesprochen. - Das können doch nicht Idioten oder verfassungsmäßig Blinde gewesen sein; ({0}) auch diese Menschen haben sich doch dabei etwas gedacht. Frau Merkel, Herr Rühe, Herr von Klaeden und andere wirklich honorige Mitglieder Ihrer Fraktion man kann noch mehr Namen nennen: Geißler, Blüm, Schwarz-Schilling und Frau Süssmuth - haben sich aus ihrer Überzeugung heraus, weil sie Art. 38 GG ernst nehmen, für dieses Optionsmodell ausgesprochen. Die „FAZ“ berichtet über die Fraktionssitzung, daß daraufhin von CSU-Abgeordneten Schmährufe wie „Ihr Weichlinge!“ kamen, ebenso laut wie die Aufforderung: „Macht doch gleich eine Große Koalition!“ ({1}) Diese Art der Diskussion entspricht nicht der Toleranz, die dieses Thema verlangt. ({2}) Dann gab es noch einen weiteren Zwischenruf in Ihrer Fraktion, der sehr interessant ist; er ist in der „FAZ“ nachzulesen: Was hier passiert, ist das gleiche wie in den anderen europäischen Staaten, der Zerfall des bürgerlichen Lagers. So wird das bei Ihnen diskutiert. Ich glaube, da müssen Sie sich an Ihre eigene Nase fassen und prüfen, ob das tolerant ist, ob das dem entspricht, was Sie hier einfordern. Drittens. Bundeskanzler a. D. Kohl, den ich vorhin zitiert habe, hat im Mai 1993 bei seinem Besuch in der Türkei gesagt, er wolle zustimmen, in Deutschland geborenen Ausländern die doppelte Staatsbürgerschaft befristet zuzugestehen. Nach einer Spanne von fünf Jahren müßten sich diese dann zwischen dem deutschen und dem ausländischen Staatsbürgerschaftsrecht entscheiden. Er hat bei seinem dortigen Aufenthalt auch signalisiert, die Interessen der 1,8 Millionen Türken in Deutschland bei der Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts zu berücksichtigen. - Bravo, Herr Kohl! Das sind Dinge, die bei Ihnen völlig zu Recht strittig und leidenschaftlich diskutiert werden. Aber ich plädiere dafür: Lassen Sie uns bei aller Leidenschaft in der Debatte darauf achten, daß das Thema sensibel ist - wie Sie selber geschrieben haben - und daß wir zu einer Lösung kommen, die der Integration dient. Ein letzter Hinweis - auch Herr Westerwelle hat das angesprochen -: Wir peitschen das nicht durch. Ich habe darauf verwiesen: Das Thema Jus soli steht seit 86 Jahren auf der Tagesordnung, nämlich seit 1913. Das ist alVolker Beck ({3}) so wirklich nicht neu. Sie können nicht sagen, daß wir hier etwas völlig Neues erfinden und Sie das nicht schon lange gewußt haben. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Herr Kollege Rüttgers, bitte.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bürsch, ich habe all das, was Sie hier aus Zeitungen vorgelesen haben, mit Interesse gehört; ich hatte es auch gelesen. ({0}) - Ich habe auch an der Debatte teilgenommen. - Ich weiß nur, daß wir in unserer Fraktion mit großem Engagement um die richtige Lösung gerungen haben. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis: Als wir in unserer Fraktion ganz offen und freundschaftlich um den richtigen Weg gerungen haben, etwas für die hier geborenen Kinder ausländischer Familien zu tun, haben Herr Bundesinnenminister Schily und Herr Özdemir in den Zeitungen bekanntgegeben, daß das Optionsmodell verfassungswidrig ist. Damit sollten Sie sich einmal auseinandersetzen. Insofern finde ich das, was Sie hier sagen, nicht besonders erhellend. Wir haben uns klar für das entschieden, was nach unserer Meinung richtig ist. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß niemand aus der Fraktion der CDU/CSU - auch nicht diejenigen, die bei den ausländischen Kindern gerne einen Schritt weiter gegangen wären - Ihren Gruppenantrag unterschrieben hat. Niemand aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ihn unterschrieben, weil wir der Auffassung sind - das habe ich darzulegen versucht -, daß dieser Entwurf nicht nur von der juristischen, sondern vor allen Dingen auch von der praktischen Seite her für diejenigen, die hier leben, schädlich ist, daß er nicht integrationsfördernd, sondern integrationshemmend ist. Deshalb bleiben wir bei einem Nein zu Ihrem Entwurf. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Der Gesetzentwurf, der Ihnen heute vorliegt, ist das Ergebnis zahlreicher Gespräche mit Vertretern der Landesregierungen und Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Ich danke allen, die sich an diesen konstruktiven Gesprächen beteiligt und zu einer Versachlichung der Diskussion jenseits der Schlagwortrhetorik beigetragen haben. Insbesondere habe ich Anlaß, den Koalitionsfraktionen und der Fraktion der F.D.P. sowie der rheinlandpfälzischen Landesregierung unter Führung von Ministerpräsident Kurt Beck zu danken. ({0}) Mein Dank gilt aber auch der Mehrzahl der übrigen Bundesländer, die sich in den Diskussionen sehr konstruktiv verhalten haben. Ich bin überzeugt, daß der Gesetzentwurf, der im Rahmen der Ausschußberatungen in einzelnen Formulierungen möglicherweise noch der Überarbeitung bedarf, in der Schlußabstimmung eine breite Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat finden wird. Wir bilden ein „Bündnis der Vernunft“, das auch die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit unseres Volkes finden wird. Ich möchte der Hoffnung Ausdruck geben, daß sich diesem Bündnis der Vernunft auch diejenigen aus der CDU/CSU-Fraktion hinzugesellen, die in der Vergangenheit haargenau denselben Standpunkt vertreten haben wie wir. ({1}) Herr Rüttgers, die Aufregung, die Sie heute mit Ihrem Redebeitrag dargestellt haben, kann ich mir nur so erklären, daß ein tiefer Riß durch Ihre Fraktion geht, den Sie übertünchen wollen. ({2}) Daß Modernisierungsbedarf hinsichtlich des Staatsangehörigkeitsrechtes besteht, wird von allen Seiten des Hauses anerkannt. Die frühere Bundesregierung hat sich jeweils zu Beginn der zurückliegenden Legislaturperioden die als dringlich erkannte Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes vorgenommen. Sie ist jedoch mit diesem Vorhaben mangels Einigungsbereitschaft unter den früheren Koalitionspartnern immer wieder gescheitert. Wenn jetzt von seiten der CDU/CSU-Fraktion versucht wird, die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes wieder auf die lange Bank zu schieben, ist das nicht seriös. ({3}) Leider muß ich auch aus der heutigen Debatte den Eindruck gewinnen, daß die CDU/CSU in dieser Frage zu großen Teilen nicht dialogfähig ist. Ich muß das so sagen im Hinblick auf einige Äußerungen, mit denen Sie zum Beispiel immer wieder versucht haben, das Thema Staatsangehörigkeitsrecht mit der Frage der Verfassungstreue und mit Kriminalitätserscheinungen zu verbinden. Sie wissen ganz genau, daß Sie da an bestimmte Emotionen rühren, die diese Debatte verdunkeln können. Lassen Sie sich einmal von kirchlichen Kreisen sagen, daß man mit diesem Thema so nicht umgehen darf. ({4}) Jeder Mensch kommt unschuldig auf die Welt, nicht als Fanatiker, nicht als Verbrecher. Deshalb kann es einem deutschen Kind deutscher Eltern geschehen, daß es leider zu einem Verbrecher wird. Es kann einem deutDr. Michael Bürsch schen Kind deutscher Eltern geschehen, daß es leider zu einem Fanatiker wird, wie wir zum Beispiel an den Skinheads erkennen. Wollen wir darauf so reagieren, daß wir die Jugendlichen, die diese Fehlentwicklung erfahren haben, ausbürgern? Ist das Ihre Vorstellung von Demokratie und Verfassung? ({5}) Oder wollen Sie ungleiches Recht für die Jugendlichen schaffen, die von ausländischen Eltern geboren wurden und hier in gleicher Weise aufgewachsen sind? Wollen Sie für die ein Extrarecht einführen? Vergewissern Sie sich erst einmal über das, was Sie sagen, ehe Sie mit dieser Polemik fortfahren. Gewiß ist der Entwurf, den wir heute beraten, ein Kompromiß. Er ist übrigens ein Kompromiß, der in der Tat für diese Legislaturperiode dann auch als abschließender betrachtet werden sollte. Das ist meine Überzeugung; damit wir uns da nicht etwas vormachen. Allerdings sage ich zugleich: Eine umfassende Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, auch wegen einiger wichtiger Fragen aus der Vergangenheit, steht uns noch bevor. Deshalb werden wir daran weiterarbeiten. Ich hoffe, daß wir mit einer noch breiteren Mehrheit wieder in den nächsten Bundestag einziehen, und dann wird dieses Thema wieder auf der Tagesordnung stehen. ({6}) Der Kompromiß bleibt hinter dem, wie ich finde, konsequenteren Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion aus dem Jahre 1993 und dem ebenfalls konsequenteren Arbeitsentwurf auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarung vom Januar dieses Jahres zurück. Jedoch sollte der Reformschritt, der mit dem jetzt eingebrachten Gesetzentwurf vollzogen wird, deshalb nicht unterschätzt werden. Es ist eine Reform von großer Tragweite, wenn im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht festgelegt wird, daß die Kinder der sogenannten zweiten Ausländergeneration - das sind die in Deutschland geborenen Kinder ausländischer Eltern mit verfestigtem Aufenthaltsstatus - künftig mit Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Die in dem Gesetzentwurf vorgesehene Optionspflicht entspricht der Beibehaltung des Grundsatzes, daß Mehrstaatlichkeit nach Möglichkeit vermieden werden soll. Die verfassungsrechtlichen Probleme, die sich in diesem Zusammenhang stellen, erscheinen mir auf Grund der gutachterlichen Stellungnahmen, die wir eingeholt haben, lösbar. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie sich das Optionsmodell auf die Verwaltungspraxis auswirken wird. Leider - das sage ich ganz offen - müssen wir damit rechnen, daß bei seiner verwaltungsmäßigen Umsetzung einige Schwierigkeiten auftreten werden. Es wird unsere gemeinsame Aufgabe sein, die Schwierigkeiten so gering wie möglich zu halten. Immerhin - das sollte nicht übersehen werden - schaffen wir mit diesem Gesetzentwurf für die Einbürgerungsbehörden auch erhebliche Erleichterungen. Dazu gehört folgendes: Erstens. Die generelle Verpflichtung der Einbürgerungsbehörden, vor einer beabsichtigten Einbürgerung die Zustimmung des Bundesministeriums des Innern einzuholen, wird aufgehoben. Zugleich wird dem Bundesministerium des Innern das Recht übertragen, zur Ausführung des Staatsangehörigkeitsrechts allgemeine Verwaltungsvorschriften zu erlassen. In der Praxis ist für die weitaus meisten Fälle ohnehin die Zustimmung im Wege der Vorabzustimmung allgemein erteilt worden, so daß mit dieser Rechtsänderung im Ergebnis eine Anpassung an die Einbürgerungspraxis erfolgt. Zweitens. Ferner wird die Zuständigkeit für Staatsangehörigkeitsangelegenheiten von im Ausland lebenden Antragstellern beim Bundesverwaltungsamt konzentriert. Diese Fälle mit Auslandsberührung, in denen bei beabsichtigten Einbürgerungen derzeit noch relativ häufig eine Einzelfallbeteiligung des Bundesministeriums des Innern erfolgt, können dadurch leichter nach einheitlichen Kriterien behandelt werden. Drittens. Schließlich werden die Gebühren der Einwanderungsbehörden für die Anspruchseinbürgerung nach dem Ausländergesetz auf ein kostendeckendes Niveau angehoben, und zwar von bisher 100 DM auf grundsätzlich 500 DM; für die Einbürgerung Minderjähriger ohne eigenes Einkommen bleibt es bei einer Gebühr von 100 DM. Das sage ich an die Adresse von Herrn Minister Schäuble, der diese Verwaltungsangelegenheiten in seiner Rede angesprochen hat. Viertens. Die wichtigste Verwaltungsvereinfachung besteht darin, daß die Einwanderungsbehörden von den Verfahren zur Einbürgerung von Deutschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit - gemeint sind die sogenannten Statusdeutschen im Sinne des Art. 116 des Grundgesetzes; das sind Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler sowie ihre Familienangehörigen - entlastet werden. Die genannten Personengruppen erwerben die deutsche Staatsangehörigkeit künftig automatisch kraft Gesetzes. Das Verfahren einer Anspruchseinbürgerung in jedem Einzelfall - 1997 mußten immerhin zirka 195 000 Fälle bearbeitet werden - wird abgeschafft. Der Gesetzentwurf enthält auch für die erste Ausländergeneration im Rahmen der Anspruchseinbürgerung deutliche Verbesserungen. Die Frist für die Anspruchseinbürgerung wird von 15 auf 8 Jahre verkürzt, und die Ausnahmeregelungen in § 87 Ausländergesetz werden gegenüber dem geltenden Recht flexibler gestaltet. Herr Dr. Rüttgers, das ist nicht Mehrstaatlichkeit durch die Hintertür - Herr Kollege Westerwelle hat das schon richtig angesprochen -; im wesentlichen ist das geltendes Recht. Zum Teil haben wir aus den Einbürgerungsrichtlinien einiges in den Gesetzestext überführt. Wissen Sie, Herr Kollege Rüttgers, wir sind für Anregungen immer dankbar. Nun nehme ich Ihren Gesetzestext und finde darin auf Seite 13 eine Passage, in der es unter Ziffer 3 heißt, daß vom Ausscheiden aus der bisherigen Staatsangehörigkeit abgesehen werden kann, ({7}) wenn eine mindestens 35 Jahre alte antragstellende Person zwar die Verweigerung der Entlassung zu vertreten hat, sich aber seit 15 Jahren nicht mehr im Heimatstaat aufgehalten hat, sofern sie während dieser Zeit mindestens 5 Jahre rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte. Wissen Sie, das ist ein gute Anregung; die werden wir übernehmen, darüber kann man reden. ({8}) - Herr Westerwelle hat Bedenken. - Aber es ist immerhin interessant, daß Sie mit der Hinnahme der Mehrstaatlichkeit eine so weit gehende Regelung einführen wollen. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese Anregung, Herr Dr. Rüttgers. ({9}) Auch die in unserem Gesetzentwurf enthaltenen Einbürgerungserleichterungen sollten im Sinne einer umfassenden Integrationspolitik als Angebot zur gleichberechtigten Teilhabe an die erste Generation der bei uns lebenden Bürgerinnen und Bürger ausländischer Herkunft verstanden werden. Sicherlich kann ein umfassendes Integrationskonzept nicht allein auf die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts beschränkt werden. Aber die Staatsangehörigkeitsreform ist ein wesentliches Element einer umfassenden Integrationspolitik. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist sogar mehr als das: Sie ist der Kern eines umfassenden Integrationskonzeptes, weil Integration - davon bin ich fest überzeugt - nur gelingen kann, wenn den Bürgerinnen und Bürgern ausländischer Herkunft über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland ermöglicht wird. ({10}) Alles andere ist fauler Zauber, mit dem man davon ablenken will, daß diese gleichberechtigte Teilhabe nicht gewollt ist. Wer im übrigen beständig den vermeintlichen Integrationswillen beteuert, aber zugleich durch fragwürdige Aktionen Ausländerfeindlichkeit schürt und damit die Spaltung der Gesellschaft vertieft sowie seinen eigenen Worten zuwiderhandelt, sie quasi dementiert, kann in dieser Debatte nicht als glaubwürdig gelten. ({11}) Wer sich dem gesellschaftlichen Frieden verpflichtet weiß, muß daher die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes unterstützen. Wer die Bedeutung des gesellschaftlichen Friedens erkannt hat, muß sich um Verständnis und Ausgleich bemühen sowie von den alten Horrorbildern verabschieden. Ich habe noch die Worte des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber im Ohr, als er - leider - von der „homogenen, nicht durchraßten Gesellschaft“ gesprochen hat. Manches, was heute geäußert wurde, ist ein böser Widerhall dieser schlimmen Worte. ({12}) Wer nach Wegen sucht, den gesellschaftlichen Frieden zu festigen, muß sein Selbstverständnis überprüfen und den Gegebenheiten einer globalisierten Welt angleichen. Es ist seltsam, daß die CDU/CSU keine Probleme mit der Mehrstaatlichkeit eines Otto von Habsburg hat, jedoch einem Bürger türkischer Herkunft, der seit Jahrzehnten bei uns lebt, gute Arbeit leistet, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlt, ein rechtschaffenes Leben führt und unsere Gesellschaft auch in kultureller Hinsicht bereichert, die Beibehaltung seiner früheren Staatsangehörigkeit verweigert. ({13}) Mehrstaatlichkeit als Adelsprivileg scheint mir eine ziemlich veraltete und verquere Anschauungsweise zu sein. ({14}) Daß eine solche rückwärtsgewandte Politik so weit geht, daß ein CSU-Bewerber um ein bayerisches Oberbürgermeisteramt - ich zitiere wörtlich - „bis zum letzten Blutstropfen“ gegen ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht kämpfen will, hat dabei eine unfreiwillige Komik, die kaum noch zu überbieten ist. ({15}) Aber die Sache, um die es geht, ist überhaupt nicht komisch, sondern sehr ernst. Wenn es uns nicht gelingt, durch ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht und ein umfassendes Integrationskonzept die Ligaturen der Gesellschaft zu festigen, dann müssen wir damit rechnen, daß sich Konfliktpotentiale vergrößern, von denen wir in den zurückliegenden Jahren allenfalls eine Vorahnung hatten. Wir müssen uns auf die grundsätzlichen Fragen besinnen. In einem lesenswerten Aufsatz in der „Süddeutschen Zeitung“ hat Reinhard Kreissl diesen Gedanken vor wenigen Tagen so auf den Punkt gebracht: Die Auseinandersetzung um das neue Staatsangehörigkeitsrecht hat uns eine Debatte beschert, an der man vor allen Dingen eines lernen kann: Wir wissen nicht, wer zu uns gehört, oder, anders formuliert, wir wissen nicht, wer wir sind. Ich für meinen Teil habe auf beide Fragen eine einfache Antwort: Zu uns gehört, wer die Verfassung und deren Grundwerte achtet und unsere Gesetze einhält. Zu uns gehört, wer sprachfähig ist. Zu uns gehört, wer sich mit dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland auf seine eigene Weise ohne Leitkultur verbinden will. Wer wir sind, erkennen wir an der Würde jedes einzelnen Menschen, die zu achten und zu schützen uns durch Art. 1 des Grundgesetzes aufgegeben ist. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/533, 14/535, 14/532 und 14/534 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Bekämpfung des politischen Extremismus - Drucksache 14/295 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({0}) Rechtsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Manfred Grund.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eingangs aus dem Antrag der CDU/CSUBundestagsfraktion „Bekämpfung des politischen Extremismus“ zwei wesentliche Sätze vortragen: Politischer Extremismus ist eine Kampfansage an die Demokratie und an die verfassungsmäßige Ordnung. ... Gerade auf dem Weg der europäischen Nationen in ein geeintes Europa darf dem Extremismus in Deutschland als dem größten Mitgliedstaat keine Chance gegeben werden. Diesen Sätzen können sicherlich alle Parteien in diesem Hause zustimmen, und sie können sich sicherlich auch der Aufforderung anschließen, daß jeder einzelne Bürger für sich prüfen möge, wo er einen Beitrag zur Demokratie und zur Sicherung der Freiheit leisten kann. Wenn politischer Extremismus eine Kampfansage an unsere Demokratie und an die verfassungsmäßige Ordnung ist, dann brauchen wir erstens staatliche Anstrengungen zur Bekämpfung und Eindämmung des politischen Extremismus, und zweitens brauchen wir dringend eine aktive geistig-politische Auseinandersetzung der Bürgerinnen und Bürger mit allen Erscheinungsformen des Extremismus. Die Demokratie legitimiert sich letztlich aus der Identifizierung der Bürger mit dem Gemeinwesen, mit unserer Verfassungsordnung. Wir benötigen die Bereitschaft der Bürger, an der Bewahrung dieser Ordnung mitzuwirken. Dabei hat der Staat Orientierungshilfen zu leisten. Doch nicht nur der Staat allein ist zur Orientierung, zur Sinnstiftung aufgerufen. Es ist notwendig, daß sich Kirchen, Verbände und Gewerkschaften an dieser Diskussion beteiligen und daß Jugendlichen und Heranwachsenden insbesondere an den Schulen Werte vermittelt werden. In einer freien und offenen Gesellschaft wie der, in der wir leben, müssen politischen Extremen Werte wie Toleranz, Kreativität und konstruktive Leistungsbereitschaft entgegengestellt werden. Wenn über politischen Extremismus diskutiert wird, dann fängt die Sprachverwirrung bereits mit der Bezeichnung und mit der Abgrenzung an. Wo ist die Trennlinie zwischen „extrem“, „extremistisch“ und „radikal“? Allzuoft und allzu leichtfertig wird die Bezeichnung „politisch extrem“ als Kampfbegriff verwandt, und sie dient einer politischen Etikettierung. Ich will versuchen, politischen Extremismus zu definieren. Es handelt sich um die prinzipielle Bereitschaft, zur Durchsetzung eigener Wertvorstellungen Gewalt anzuwenden. Unter Demokraten sollte es unerheblich sein, ob es sich dabei um Gewalt gegen Personen oder „nur“ um Gewalt gegen Sachen handelt, wie zum Beispiel gegen Bahnanlagen. Extremistische Positionen sind durch einen Absolutheitsanspruch, durch den Glauben an eine finale Problemlösung, durch ein ausgeprägtes FreundFeind-Schema, durch kompromißloses Kämpfen und immer wieder durch ein antipluralistisches Politik- und Gesellschaftsverhältnis gekennzeichnet. Diese Merkmale finden sich sowohl beim Rechtswie beim Linksextremismus. Strategie, Taktik, ja Begriffe sind oft deckungsgleich und austauschbar. Dabei wechseln Aktivisten und Sympathisanten sogar die Lager. Wer in seiner Jugend als Linksextremer begonnen hat, beendet seinen Weg durch die politischen Instanzen oftmals als strammer Rechter. Links- und rechtsextremistische Parteien wie die KPD und die NSDAP haben aus unterschiedlichen Ausgangspositionen die verfassungsmäßige Ordnung der Weimarer Republik mit fast identischer Begründung, mit auswechselbaren Losungen, mit gleichen Mitteln legal und illegal bekämpft und letztlich auch zu Fall gebracht. Die bürgerlichen Parteien und das Bürgertum haben dem Treiben hilflos zugesehen und es zum Teil sogar geduldet. Uns bleibt die Erkenntnis: Extremismus ist nur aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu bekämpfen. Die politische Mitte muß zu den Rändern hin integrieren, sie darf aber nie mit Extremen paktieren. Wer über politischen Extremismus und über politisch motivierte Straftaten spricht, kommt um die jeweiligen Verfassungsschutzberichte bzw. die Berichte der Landeskriminalämter nicht herum. Deswegen folgen nun einige Ausführungen zum Rechtsextremismus, zum Linksextremismus und zur politisch motivierten Ausländerkriminalität. Zuerst das Erfreuliche: Sowohl bei den rechtsextremistischen wie auch bei den fremdenfeindlichen Gewalttaten gingen die Fallzahlen 1998 um 5 bzw. 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück. Aber im Bereich des Linksextremismus ist eine Zunahme um fast 4 Prozent zu verzeichnen. Bei der um fast 50 Prozent erhöhten politisch motivierten Ausländerkriminalität handelt es sich fast ausschließlich um eine Steigerung der Anzahl der Landfriedensbrüche und der Verstöße gegen das Versammlungs- und Vereinsgesetz. Dem Linksextremismus sind der linksextremistische Terrorismus, die Autonomen, die anarchistische Gewaltszene, aber auch das linksextremistische Parteien2320 spektrum zuzuordnen. Revolutionäre marxistische Parteien und sonstige Gruppierungen unter Einschluß marxistisch-leninistischer und trotzkistischer Organisationen haben sich in Erscheinungsbild und Zustand kaum verändert. Sie verfolgen weiterhin das Ziel, die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung zu beseitigen und an ihrer Stelle eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaft zu etablieren. Hier setzen sie nach wie vor auf Klassenkampf und Revolution. Eine herausragende Bedeutung behält die Partei des Demokratischen Sozialismus. Ihr Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie bleibt weiterhin unbestimmt und zweideutig. Nach wie vor hält die PDS den außerparlamentarischen Kampf für entscheidend. ({0}) Wenn von extremistischen Tendenzen innerhalb der PDS die Rede ist, dann muß die Kommunistische Plattform der PDS angesprochen werden. Die Kommunistische Plattform versteht sich als Zusammenschluß von Kommunistinnen und Kommunisten in der PDS, die für den Sozialismus als Ziel gesellschaftlicher Veränderungen eintreten. Dabei wird offen die Machtfrage gestellt, wobei parlamentarischer, aber vor allem außerparlamentarischer Widerstand notwendig sei. Aus diesem Umfeld einige Zitate: „Mit diesem System kann es keinen Frieden geben“, sagte Heinz Maron, einer der Sprecher der Kommunistischen Plattform. Weiter sagte Ellen Brombacher, daß die Dominanz des privatkapitalistischen Eigentums überwunden werden müsse. Bei einer Demonstration in Sachsen-Anhalt hat eine PDS-Sprecherin den Ausspruch getätigt: „Ob friedlich oder militant - wichtig ist der Widerstand.“ Bei soviel Militanz mutet es schon merkwürdig an, wenn der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringstorff, die Absicht äußert, die Kommunistische Plattform nicht mehr vom Verfassungsschutz überwachen zu lassen, obwohl sich die Innenministerkonferenz wenige Tage zuvor für eine weitere Beobachtung der PDS durch das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Länderbehörden ausgesprochen hatte. Bezeichnend für die unheilige Allianz in Mecklenburg-Vorpommern ist die Aussage des stellvertretenden Ministerpräsidenten Holter von der PDS, er bekenne sich zur „Systemopposition“, was wohl nur ein Bekenntnis gegen die Werteordnung des Grundgesetzes bedeuten kann. Seiner Zeit voraus war bereits Ende 1994 der Innenminister Dewes in Thüringen. Eine seiner ersten Amtshandlungen als SPD-Innenminister war die Auflösung des Referates „Geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus“. Diese Dienststelle war nach der Wende vom damaligen Staatssekretär des Innenministeriums, Michael Lippert, eingerichtet worden. Dem Referat oblag unter anderem die Bewertung der PDS. Innenminister und SPD-Landesvorsitzender Dewes hatte offensichtlich für sich eine eigene Bewertung der PDS vorgenommen. Er braucht die PDS, um in Thüringen Ministerpräsident zu werden. In diesem Zusammenhang paßt eine kritische Bewertung der PDS nicht in die Karriereplanung. Wenn wir heute hier über politischen Extremismus debattieren, müssen wir gerade angesichts der Aktionen militanter Kurden nach der Öcalan-Festnahme über Ausländerextremismus reden. So waren allein im Jahr 1997 der PKK insgesamt 965 Straftaten, drei versuchte Tötungsdelikte, 45 Körperverletzungen sowie 126 Raubund Erpressungsdelikte zuzurechnen. Bekannt sind Spendengelderpressungen, Entführungen Minderjähriger, Gewaltandrohung und Gewaltanwendungen. Wer die Büroräume in Berlin, Frankfurt und Hamburg nach den PKK-Besetzungen gesehen hat, hat ein Bild von der Militanz dieser Organisation. Dies wissend, haben der PDS-Bundestagsabgeordnete Carsten Hübner, der PDS-Landtagsabgeordnete Dittes und der PDS-Stadtvorstand von Erfurt zur Teilnahme an einer Demonstration der verbotenen Kurden-Partei PKK in Erfurt aufgerufen. Der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen hat gegenüber der „Südthüringer Zeitung“ gesagt, die Initiative für die Kundgebung sei von linksextremistischen Kreisen ausgegangen, und die Mitglieder der PDS wollten die Kurdenproteste für eigene ideologische Ziele nutzen. Die Ankündigung der Demonstration hat unter den Erfurter Bürgern Ängste und Befürchtungen ausgelöst, daß die Demonstration eskalieren könne. Dank umfangreicher Information und eines besonnenen Polizeieinsatzes eskalierte die Situation am 5. März aber nicht. Übrigens hat die PDS zu einer ähnlichen Kundgebung in Halle eingeladen. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbe zum Thema Extremismus noch vieles hinzuzufügen, insbesondere was die unterschiedliche Wahrnehmung von Extremismus in den neuen Bundesländern betrifft ({2}) oder was die Frage betrifft, wie gewaltbereite Jugendliche wieder in die Gesellschaft integriert werden können. Doch hierfür fehlt mir heute die Redezeit. Es bleibt festzuhalten: Die Bekämpfung des Extremismus hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn der Staat bereit ist, Extremisten und Gewalttätern von links und rechts gleichermaßen entschlossen entgegenzutreten. Unsere Mitglieder dürfen sich nicht auf die Ränge einer „Zuschauerdemokratie“ zurückziehen. Der mündige Bürger und die aktive Bürgergesellschaft müssen Extreme und Extremisten in die Schranken weisen. Dazu wollen wir von der CDU/CSU mit diesem Antrag einen Beitrag leisten. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion der SPD spricht jetzt die Kollegin Ute Vogt.

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offen gestanden, lieber Herr Kollege Grund, fällt es mir ziemlich schwer, auf der Grundlage Ihres vorgelegten Antrags eine Diskussion über dieses sehr wichtige und grundlegende Thema zu führen. Beim ersten Durchlesen Ihres Antrags habe ich mir gedacht, er hilft nicht und er schadet nicht, weil er nicht besonders viel enthält. Beim näheren Hinschauen bin ich aber ziemlich zornig geworden. Die Überschrift Ihres Antrags lautet zwar „Bekämpfung des politischen Extremismus“, aber Sie haben kein einziges Wort darüber verloren, wie man politischen Extremismus bekämpfen kann. Sie haben nur die Gelegenheit genutzt, sich über allgemeine Strömungen auszulassen, die Ihnen nicht passen. Sie haben keinen Ton zu dem gesagt, was wir uns zueigen machen müssen, ({0}) nämlich eine Antwort auf die Frage zu geben: Wie gehen wir damit um, daß extremistische Strömungen unsere Demokratie bedrohen? Jetzt zitiere ich einmal aus Ihrem Antrag. Sie schreiben, es geht darum, daß wir auch künftig in der Information über das parlamentarische Regierungssystem eine wichtige Aufgabe sehen. Wollen Sie mit solchen Plattheiten dem Extremismus den Boden entziehen? Das kann ich mir nun wirklich kaum vorstellen. Sie wollen die Bürgerinnen und Bürger ferner einladen, verstärkt an der Arbeit des Parlaments teilzunehmen. Dafür sind auch wir. Aber wie wollen Sie das machen? - Diese Anwort sind Sie schuldig geblieben. Es könnte etwa darum gehen: Wollen Sie mehr Fernsehübertragungen? Dafür sind wir tatsächlich auch. Aber einmal ganz ehrlich gesagt: So, wie es hier zuweilen, auch in der Auseinandersetzung, zugeht, weiß ich nicht, ob mehr Fernsehübertragungen und die Erhöhung der Zahl der Besuchergruppen dem Zweck dienen könnten, die Akzeptanz des Parlaments zu erhöhen. ({1}) Was ich mir in diesem Zusammenhang durchaus wünschen würde, ist, daß wir einmal eine Auseinandersetzung - ich meine das jetzt wirklich ernsthaft - über die Frage führen, wie hier debattiert wird, in welcher Weise man miteinander umgeht, ob Argumente zum Tragen kommen. Denn ich habe den Eindruck, in vielen unserer Debatten - das gilt nicht für alle - beschränken wir uns auf das Austauschen von Schlagworten. Das macht einen häufig ziemlich unzufrieden, und das ist sicher nicht nur auf eine Partei, sondern auf alle zu beziehen. Ich würde mich freuen, wenn wir das zum Anlaß nähmen, zu sagen: Wir überprüfen einmal, wie die Diskussionskultur bei uns ist, und überlegen, wie wir in dieser Beziehung etwas tun können. Damit wäre vielleicht eine erhöhte Akzeptanz zu erreichen. Aber wenn die Frage angesprochen wird, wie wir die Leute beteiligen können, wie wir die Arbeit des Parlaments so gestalten können, daß die Menschen mehr teilhaben können, wäre aus meiner Sicht etwas ganz anderes notwendig, zum Beispiel zu sagen: Wir eröffnen den Menschen auch die Möglichkeit zur direkten Beteiligung. Dabei hat sich die Fraktion der CDU/CSU bisher ganz massiv zurückgehalten. Sie sammeln Unterschriften; aber Sie sind nicht bereit, die Menschen wirklich abstimmen zu lassen. Wenn man eine Grundgesetzänderung in Richtung auf die Möglichkeit eines Volksentscheides oder der direkten Mitbestimmung durchführen würde, wäre das ein Beitrag, mit dem man die Absicht umsetzen könnte: Wir wollen wirklich, daß die Menschen Demokratie mitgestalten. Jedenfalls wäre das ein größerer Beitrag, als wenn man nur davon spricht, daß die Menschen verstärkt an der Arbeit des Parlaments teilnehmen sollen, weil sie das nach der jetzigen Verfassungslage, zumindest was die direkte Parlamentsarbeit angeht, nur als Zuschauer tun können. Sie schreiben weiter: Populistische Parolen extremistischer Gruppierungen und Parteien tragen nicht zur Lösung gegenwärtiger Probleme bei … Dazu muß ich Ihnen sagen: Das gilt nicht nur für Parolen extremistischer Parteien, sondern das gilt auch für Parolen der CDU/CSU, wie sie zum Beispiel in der vorangegangenen Debatte ausführlich zu hören waren. ({2}) Man kann Ihnen vielleicht unterstellen, daß Ihre Beweggründe für die Unterschriftenaktion nicht waren, solche Parolen loszutreten. ({3}) Sie hätten aber dann wenigstens im Laufe dieser Aktionen auf Grund der Reaktionen an den Infoständen, auf Grund dessen, was hochkam, auf Grund der Leserbriefe, die an die Zeitungen geschickt wurden - Dinge, die selbst konservative Zeitungen nicht mehr veröffentlichten, weil man gesagt hat, daß eine solche Hetze in einem solchen Maße nicht mehr zulässig ist -, Verantwortung übernehmen müssen und hätten sagen müssen: Wir unterbrechen unsere Aktion. ({4}) - Ich war in Städten an Infoständen, wo man mich nicht gekannt hat, und ich kann Ihnen sagen: Vielleicht ist es bei Ihnen im Land ganz gesittet abgelaufen, aber die baden-württembergische CDU hat dabei Reaktionen provoziert, ({5}) die genau dem entsprechen, was Sie hier verurteilen, nämlich populistische Parolen und einem brutalen „Ausländer raus“-Stimmungsgefühl. ({6}) Ute Vogt ({7}) Weiterhin formulieren Sie, daß nicht nur die Politik Verantwortung hat, sondern auch andere gesellschaftliche Gruppen. Sie sprechen davon, daß diese Verantwortung auch die Kraft zur Differenzierung umfaßt. Dazu muß ich Ihnen sagen: Ich kann nicht verstehen, wie Sie zum einen so etwas Läppisches - jetzt sage ich es einmal - zu diesem Thema einbringen können und wie Sie zum anderen auch noch die Stirn haben - nach dem, was heute morgen hier geäußert wurde -, über so etwas auch noch debattieren zu lassen. Sie sprechen von der Kraft zur Differenzierung und haben bewiesen, daß Sie selber nicht in der Lage sind, zu vielen wichtigen Themen, in denen sich das Problematische im Umgang mit der Öffentlichkeit widerspiegelt, die erforderlich machen, daß wir sehr differenziert argumentieren, und die den Extremismus in unserem Land geschürt haben, differenziert Stellung zu nehmen. ({8}) Ich kann Sie deshalb nur auffordern: Wenn Sie wollen, daß Politik Verantwortung übernimmt, vor allen Dingen aber, daß sich andere verantwortlich verhalten, dann müssen Sie diese Verantwortlichkeit vorleben. Da genügt nicht ein Satz in einem Antrag. Es muß praktisch agiert werden. Es ist nämlich viel entscheidender, wie man sich verhält. Jede Mutter und jeder Vater wissen, daß das eigene Vorbild wesentlich mehr bewirkt als das, was man den Leuten erzählt. ({9}) Daher bitte ich Sie, diese Dinge nicht nur in einem Satz einzufordern, sondern zu sagen: Mein eigenes Verhalten wird dazu beitragen, daß es differenzierte Diskussionen gibt. Das wäre die eigentliche Lösung für das Problem, um zu verhindern, daß extremistische Stimmungen populistisch verschärft werden. - Weil Sie am Schluß Ihres Antrags an jeden einzelnen appellieren, sich zu prüfen, möchte ich Sie bitten: Prüfen Sie sich in dieser Frage zuallererst selbst! Ich möchte Ihnen sagen, wie wir mit diesem Thema weiter verfahren sollten. Dieses Thema ist uns wichtig. Deswegen möchten wir es nicht - wie Sie - dabei belassen, lapidare Sätze niederzuschreiben. Wir würden gerne eine intensive Diskussion führen mit denen, die sich dafür interessieren und die zuhören. Wir möchten auch eine ausführliche Debatte im Bundestag vorbereiten. Wir könnten uns gut vorstellen, den Zeitpunkt des Umzugs nach Berlin zu nutzen, um zu Beginn unserer Arbeit dort, im September oder Oktober, ein entsprechendes Signal zu setzen. Wir werden seitens unserer Fraktion einen ausführlichen Antrag dazu vorlegen. Darin werden nicht nur Appelle enthalten sein, sondern vor allem ganz konkrete Maßnahmen benannt werden. Wir sollten uns darüber unterhalten: Aus welchem sozialen Umfeld kommen die Leute? Wie sollen wir das soziale Umfeld gestalten? Gelingt es uns, die Arbeitsplätze zu schaffen, die wir brauchen? Gelingt es uns, über Bildungspolitik Einfluß zu nehmen? Gelingt es uns über die Jugendarbeit? Wir sollten uns aber auch fragen: Gibt es rechtliche Maßnahmen, mit denen man zum Beispiel die organisierten Extremisten belegen kann? Gibt es auch für uns eine Möglichkeit, ein Bewußtsein für mehr Zivilcourage zu schaffen? Es gibt eine ganze Reihe von konkreten Themen, die man in diesem Zusammenhang in Angriff nehmen muß. Ich denke, wir sollten uns Zeit nehmen und nicht nur eine kleine Willenserklärung abgeben, sondern uns wirklich ernsthaft mit den Ursachen von Extremismus auseinandersetzen. Wir sollten eine tiefgehende Auseinandersetzung führen mit dem Ziel, gemeinsam ein starkes Signal zu setzen, mit dem Ziel, daß es der gesamte Bundestag nicht dabei beläßt, Links- und Rechtsextremismus gegeneinander auszuspielen, wie es Teile von Ihnen versucht haben, sondern deutlich macht: Wir stehen für die parlamentarische Demokratie. Wir stehen für eine lebendige Demokratie. Wir wollen, daß sich Bürgerinnen und Bürger einbringen; wir wollen sie einbeziehen. Wir setzen ein Signal, um gemeinsam gegen den Extremismus vorzugehen. Dazu müssen Sie allerdings diesen zusammengeschriebenen Antrag beiseite legen, sich einmal tiefergehende Gedanken machen und sich dann mit uns auseinandersetzen, um eine gemeinsame, starke Willenserklärung zustande zu bringen. Das hätte eine entsprechende öffentliche Wirkung; denn das wäre ein deutliches Signal. Im übrigen wäre dies dem Thema wesentlich angemessener als dieses kleinkarierte Hickhack, wie es meinem Eindruck nach in Teilen Ihrer Beiträge zum Ausdruck gekommen ist. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Max Stadler.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der liberale Rechtsstaat des Grundgesetzes ist eine wehrhafte Demokratie, wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt ausgesprochen hat. Deshalb zählt die Bekämpfung des politischen Extremismus zu den wichtigen Daueraufgaben der Innen- und Gesellschaftspolitik. Die Bedeutung des Themas ließe sich auch durch zahlreiche aktuelle Vorgänge belegen. So ist es schon ein bedenkliches Zeichen, wenn politische Veranstaltungen aus Angst vor extremistischer Gewalt nicht mehr durchgeführt werden können. ({0}) Genau dies ist zum Beispiel dem Landesverband Brandenburg der Jungen Liberalen am 6. März mit einer beabsichtigten Podiumsdiskussion zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts passiert. Ein so ernstes und bedeutsames Thema muß dann aber im Deutschen Bundestag auch auf angemessener Grundlage behandelt werden. Der vorliegende Antrag der CDU/CSU genügt diesem Anspruch leider nicht. ({1}) Ute Vogt ({2}) Er läßt jede klare Gedankenführung vermissen. Die schwierige Thematik wird allenfalls an der Oberfläche berührt. Einzelne richtige und weiterführende Gedanken mischen sich in bunter Reihe mit Binsenweisheiten. Insgesamt wirkt der Antrag so, als sei er rasch und lieblos zusammengeschustert worden. ({3}) Kurz gesagt - ich kann es Ihnen nicht ersparen -: Mit einem solch dürftigen Antragstext wird ein wichtiges Thema geradezu verschenkt. ({4}) Deshalb hat man sich natürlich gefragt - auch bei der Abfassung dieses Redemanuskriptes habe ich mich gefragt -, worin denn die Zielsetzung eines so formulierten Antrags liegen könnte. Ich habe schon befürchtet, daß er hauptsächlich den Zweck hat, die üblichen Diskussionsrituale in Gang zu bringen, die auf bestimmte Reizwörter wie Pawlowsche Reflexe folgen. ({5}) Es war vorherzusehen, daß Sie der SPD die PDS vorhalten. Es war vorherzusehen, daß mit der Unterschriftenaktion gekontert wird. Meine Damen und Herren, ich finde, all dies führt nicht sonderlich weiter. Dabei gäbe es vieles, was dringend aufgearbeitet werden müßte. ({6}) Ich nehme allein den Posteingang der letzten beiden Tage, um nur einige Beispiele auszuwählen. Darunter befindet sich etwa der Jahresbericht der Wehrbeauftragten mit einer wirklich lesenswerten Darstellung zu rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Fällen in der Bundeswehr im Jahre 1998. ({7}) Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat den Abgeordneten in dieser Woche seine Mitteilungen zur Migrationspolitik vom 1. März 1999 zukommen lassen. Dort lesen wir bedrückende Hinweise auf die Zunahme sogenannter national befreiter Zonen. Über die Verbreitung von Extremismus im Internet wäre zu reden ebenso wie selbstverständlich darüber, wie verhindert werden kann, daß sich politische Konflikte aus dem Ausland in der Bundesrepublik Deutschland gewaltsam entladen. Schließlich wäre Bilanz zu ziehen, welche Folgerungen denn die Politik aus den Erkenntnissen der von uns selbst eingesetzten Kommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gezogen hat. Was hat eigentlich das Europäische Jahr gegen Rassismus wirklich gebracht? Zu all dem findet sich in dem Antrag kein Wort. Auch die Lösungsansätze sind äußerst dünn skizziert. Richtig ist dabei, daß alle gesellschaftlichen Gruppen und jeder einzelne Verantwortung trägt. Die Rolle der politischen Institutionen bei der Bekämpfung der Ursachen von Extremismus kommt aber in dem Antrag nur unzureichend zum Ausdruck. Die Einladung an die Bürger, verstärkt an der Arbeit des Parlaments teilzunehmen, ist zwar in Ordnung, kann aber doch wohl nicht genügen. Wie steht es denn statt dessen mit verstärkten Mitwirkungsbefugnissen der Bürgerinnen und Bürger etwa durch eine vorsichtige Ausweitung plebiszitärer Elemente? ({8}) Auch das Thema des kommunalen Ausländerwahlrechts gehört in diesen Zusammenhang. Meine Damen und Herren, mir scheint ein Gedanke entscheidend. Der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm ({9}) hat kürzlich in einem Aufsatz dargelegt, daß die Achtung der Grundrechte den Verfassungspatriotismus ausmacht, der eine liberale und offene Gesellschaft zusammenhält. Dies bedeutet für die Politik, eine geistige Führung im Kampf gegen Extremismus wahrzunehmen, und zwar eine geistige Führung, die sich dadurch auszeichnet, daß sie sich auch nicht den geringsten Anschein von Anpassung an extreme Positionen leistet, nach dem bekannten Motto: Neben uns darf es keine extreme Partei geben. Dies ist ein sehr gefährliches Motto. Es birgt nämlich die Gefahr in sich, daß man politische Führung dahingehend versteht, durch Adaption oder Teiladaption extremistischer Positionen dafür zu sorgen, daß extremistische Parteien bei Wahlen den Einzug in das Parlament nicht schaffen. Aber die Aufgabe besteht gerade darin, den Wertekatalog der Grundrechte ohne jeden Abstrich offensiv zu vertreten, und zwar auch dann, wenn dies nicht allgemeinen Beifall erheischen kann. Gelegenheiten, bei der Verteidigung von Grundwerten Rückgrat zu beweisen, gibt es nur allzuoft. Wir werden zum Beispiel heute am späteren Nachmittag noch die Frage diskutieren, wie ernst wir es mit der Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention in einer bestimmten aktuellen politischen Frage nehmen, nämlich in bezug auf die Abschiebung von Kurden. Deswegen noch einmal mein Appell, meine Damen und Herren: Es ist leicht, sich auf die Grundwerte des Grundgesetzes zu berufen, wenn dies allgemeinen Beifall findet. Aber es wird schwierig, wenn man zu den Grundrechten und Grundwerten auch dann steht, wenn es dem Mainstream gerade nicht entspricht. Das aber ist die entscheidende Aufgabe im Kampf gegen den Extremismus. ({10}) Ein letzter Punkt. Ich meine, Radikalität bei der Bewahrung der Grundrechte zeichnet die Demokraten aus. Deswegen möchte ich an die Adresse der Union zu ihDr. Max Stadler rem Antrag noch eines anmerken: Von der Wurzel her, also radikal im Sinne des Wortes, zu denken ist oft genug geboten. Daß dies aber, wie in dem Antrag geschehen, in begrifflicher Ungenauigkeit mit Extremismus vermischt wird, der in der Tat zu bekämpfen ist, zeigt ein weiteres Mal, daß mit wesentlich größerer Präzision und Gedankentiefe an diese Problematik herangegangen werden muß, ({11}) als es die Verfasser des Unionsantrags getan haben. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Annelie Buntenbach.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Dem Zorn der Kollegin Vogt und auch dem Unverständnis, das der Kollege Stadler in bezug auf den vorliegenden Antrag gerade geäußert hat, kann ich mich nur anschließen. Herr Grund, Sie muten uns hier schon einiges im Namen Ihrer Fraktion zu, wenn Sie ein so zentrales Thema - das ist es ohne Zweifel; wir hatten schon in der letzten Legislaturperiode versucht, darüber eine vernünftige Debatte zu führen, was uns von der damaligen Mehrheit jedoch verweigert worden ist - in dieser Form zur Debatte stellen. Sie legen einen einseitigen Antrag vor und halten zugleich eine Rede, bei der Ihnen genau an dem Punkt, an dem Sie zum Thema etwas hätten sagen können, die Redezeit ausgeht. Das ist wirklich sehr bedauerlich, und darum werden wir hier über dieses Thema noch einmal vertiefter diskutieren müssen. Die Debatte, um die es hier eigentlich gehen müßte, hat nach Drucklegung Ihres Antrags eine traurige Aktualität erhalten. Am 13. Februar wurde in Guben der algerische Flüchtling Ben Noui von rechtsextremen Jugendlichen zu Tode gehetzt. Am 9. März wurde in Saarbrücken ein Sprengstoffanschlag auf die Ausstellung „Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“ verübt. Gerade deshalb ist es sehr schade, daß die Vorlage, die Sie hier abgeliefert haben, ein Paradebeispiel für Substanzlosigkeit darstellt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, als wollten Sie mit der Vorlage dieses Antrags die Verantwortungslosigkeit Ihrer Unterschriftenkampagne und den Schaden, den Sie damit in der Gesellschaft angerichtet haben, in einem Wasserfall von Floskeln ertränken. Das wird Ihnen aber nicht gelingen; vielmehr können Sie sich die praktischen Konsequenzen nicht ersparen. Eine erste praktische Konsequenz aus der heutigen Diskussion wäre, daß diese Unterschriftenkampagne sofort definitiv eingestellt wird. ({0}) Ich zitiere ein Beispiel für die Substanzlosigkeit des Antrags, den Sie hier vorgelegt haben: Pauschalverurteilungen helfen nicht bei der Problemlösung, können sie gar behindern. Dort, wo Probleme existieren, muß politisch gehandelt werden. Wie wahr! ({1}) Wollen Sie einen solchen Text ernsthaft in diesem Parlament zur Abstimmung stellen? Damit werden wir das Ansehen des Parlaments und der repräsentativen Demokratie nicht gerade erhöhen; denn dieser Text zeigt lediglich, wie man mit mehr oder minder gefälligen Formulierungen gar nichts oder zumindest doch nur sehr wenig sagt. Denn wenn Sie das Thema wirklich ernst nehmen würden - das hätte es verdient -, dann hätten Sie wenigstens einen konkreten Vorschlag gemacht und es nicht bei allgemeinen Appellen bewenden lassen. Aber wenn wir heute über dieses Thema diskutieren ich muß sagen, wir diskutieren viel zu selten über Rechtsextremismus -, dann will ich die Gelegenheit nutzen, zum Thema und nicht nur zu Ihren Anträgen einige inhaltliche Bemerkungen zu machen. Ich möchte als erstes bei der Betrachtung des Extremismus differenzieren. Das, was Sie Extremismus von links und rechts nennen, sind zwei ganz unterschiedliche Phänomene. Ich will hier keineswegs die Begehung von Straftaten beschönigen; jede Straftat muß mit der notwendigen Konsequenz verfolgt werden. Aber es besteht schon ein Unterschied, Kollege Grund, ob sich Gewalt in erster Linie gegen Menschen richtet und sich auf Ideologien stützt, die geradezu zu Gewalt und Vernichtung herausfordern, wie es im rechtsextremen Bereich der Fall ist, oder ob es sich weitgehend um Sachbeschädigungen oder Verstöße gegen das Versammlungsrecht handelt. Wenn zum Beispiel eine friedliche Demonstration gegen die Abschiebehaftanstalt in Büren in den letzten Verfassungsschutzberichten unter Linksextremismus aufgeführt wird, dann stellt sich schon die Frage, was da eigentlich unter Linksextremismus verstanden wird. Denn Kritik an der Ausländer- und Asylpolitik einer Regierung muß doch wohl erlaubt sein, ohne gleich als Extremismus diskriminiert zu werden. ({2}) Ich gehe davon aus, daß es in diesem Haus unbestritten ist, daß der Rechtsextremismus derzeit das gravierende Problem darstellt. Die rechtsextremen Gewalttaten sind keine Einzelfälle. Sie haben in weiten Teilen unseres Landes dazu geführt, daß sich diejenigen, die zu den Gruppen der Opfer des Rechtsextremismus gehören, nicht mehr angstfrei im öffentlichen Raum bewegen können. Es ist inzwischen so weit, daß Berliner Schulen keine Ausflüge mehr ins Brandenburger Umland machen können. Neonazis haben „ausländerfreie“ oder „national befreite Zonen“ ausgerufen und leider teilweise auch mit Gewalt durchgesetzt, so daß sich dort zum Beispiel in Stadtteilen oder Jugendzentren Menschen mit der falschen Hautfarbe zu bestimmten Zeiten, abends oder am Wochenende, nicht mehr frei bewegen können, ohne Kopf und Kragen zu riskieren. Diese mehr als bedrückende Tendenz wird zum Beispiel durch die NPD logistisch unterstützt. Andere wie die DVU flankieren diese Strategie durch gigantische Propagandafeldzüge mit ausländerfeindlichen und rassistischen Parolen. ({3}) Da reicht es dann nicht aus, in einem solchen Antrag mit gesetzten Worten niederzulegen, man wolle - ich zitiere erneut - „die Akzeptanz der repräsentativen Demokratie erhöhen“. Da ist auch von Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ein Bekenntnis zum Faktum der multikulturellen Gesellschaft notwendig und nicht die Fortsetzung einer diskriminierenden Unterschriftenkampagne. ({4}) Wir stehen als Politiker und Politikerinnen in einer besonderen Verantwortung, weil wir die öffentlichen Debatten sehr stark beeinflussen. Führen Sie sich doch einmal all die Energie vor Augen, die Sie in den letzten Jahren für die Heraufbeschwörung einer Kurdengefahr oder einer islamischen Gefahr verwandt haben, die Sie in die Durchsetzung von Kinderabschiebungen gesteckt haben! Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten diese Energie statt dessen darauf verwandt, die tatsächlichen Fluchtursachen von Menschen, die hier Schutz suchen, in die Gesellschaft hinein zu vermitteln! ({5}) Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten all die Energie, die Sie jetzt in Ihre diskriminierende Unterschriftenkampagne investiert haben und investieren, tatsächlich in die Vermittlung demokratischer Werte, von Toleranz und Solidarität gesteckt! Ich bin sicher, dann hätten wir jetzt ein öffentliches Klima, in dem Rechtsextremisten weit mehr Probleme hätten, so offen zu agieren. ({6}) Neben dieser politischen Verantwortung, die wir mit Sorgfalt wahrnehmen müssen, sind wir auch gefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um die gesellschaftlichen Widerstandskräfte gegen Rechtsextremismus zu stärken. Wir haben als grüne Bundestagsfraktion schon in der letzten Wahlperiode eine Reihe von konkreten Vorschlägen gemacht, die wir jetzt mit der neuen Bundesregierung auch praktisch umsetzen wollen. Ich will nur einige Beispiele nennen. Wir brauchen eine Verbesserung des Schutzes und eine Unterstützung der Opfer rechtsextremer Gewalt. Die meisten dieser Menschen werden auch von der Gesellschaft ausgegrenzt. Sie trauen sich häufig nicht, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Da ist es dringend nötig, durch Beratungs- und Unterstützungsangebote die Konfliktfähigkeit zu stärken. Wo Minderheiten an den Rand gedrängt werden, müssen wir sie offensiv in die Mitte der Gesellschaft zurückholen. Wir brauchen eine bessere Förderung demokratisch orientierter Jugendszenen und präventiver Jugendarbeit. Es geht nicht an, daß die knappen Mittel in immer höherem Maße rechtsextremen Problemgruppen zur Verfügung gestellt werden. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, daß Angebote der Jugendhilfe von organisierten Neonazis zur Stärkung ihrer Logistik genutzt werden. Damit muß Schluß gemacht werden. Gerade in Regionen, in denen rechtsextreme Szenen eine Dominanz erreicht haben, müssen die demokratisch orientierten Jugendszenen gefördert werden, um überhaupt eine Vielfalt des kulturellen Angebots sicherzustellen. Wir brauchen außerdem ein Verweigerungsrecht für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, damit diese nicht weiter gezwungen werden können, sich an der Produktion und Verbreitung von rechtsextremer Propaganda zu beteiligen. Diese Maßnahmen sollen vor allem die gesellschaftlichen Widerstandskräfte stärken. Die Maßnahmen sind in der vorigen Legislaturperiode an der CDU/CSU gescheitert, ohne daß Sie andere Vorschläge gemacht hätten. Auf diese anderen Vorschläge von Ihnen warte ich bis heute. Wir halten im Kampf gegen Rechtsextremismus wenig von Strafverschärfung und Einschränkungen der Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die letztlich immer einen Schritt in den autoritären Staat bedeuten. Unsere Politik zielt vielmehr darauf ab, die gesellschaftliche Auseinandersetzung zu stärken und den demokratisch eingestellten Menschen Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen, Zivilcourage und selbstverantwortliches Handeln zu stärken und zu unterstützen. Nicht weniger, sondern mehr Demokratie ist der richtige Weg zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die PDS-Fraktion hat der Kollege Roland Claus.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen Antragsteller, im Blick auf Sie von der CDU/CSU-Fraktion stelle ich zunächst einmal fest, daß Ihre antiextremistische Aktionsgruppe hier im Plenarsaal etwas klein ausfällt. Ihr Appell an den einzelnen, sich zu beteiligen - Sie haben ihn in Ihrem Text verankert -, hat im Moment zirka 5 Prozent Ihrer eigenen Fraktion erreicht. Da sehen Sie, wieviel Sie noch zu tun haben. ({0}) Ich stehe wie auch die anderen Rednerinnen und Redner natürlich vor der schwierigen Frage, worüber jetzt hier zu debattieren ist: über den uns vorgelegten Text, ({1}) darüber, was uns die geschätzten Kollegen mit dem Text möglicherweise sagen wollten, oder darüber, was sie meinen, hier schon gesagt zu haben oder noch sagen zu müssen? Dann stelle ich mir natürlich die Frage: Worüber hast du als Abgeordneter abzustimmen? Antwort: über den Text. So halte ich mich also an den Text. Ich will nur eines sagen: Das Thema, um das es hier geht, wäre in der Tat für eine sehr ernsthafte Debatte geeignet, und es wird bitter notwendig sein - da teile ich die Auffassungen, wie sie die Kollegin Vogt und der Kollege Stadler hier geäußert haben -, über dieses Thema ernsthaft zu reden. Das aber, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, gibt Ihr Text nicht her. ({2}) Deshalb muß ich diesen Text hinterfragen. Offenbar hat Sie bei der Abfassung des Antrages ein starkes Harmoniebedürfnis getrieben. Ich weiß zwar nicht, woher bei Ihnen dieser Hang kommt; bei uns kann ich mir das immer erklären, bei Ihnen nicht. Dennoch meine ich, die Unionsfraktion war wohl darum bemüht, partout einen Text vorzulegen, dem alle, aber auch wirklich alle im Bundestag zustimmen können. Dazu kann ich Ihnen sagen: Das ist Ihnen nur bedingt gelungen. Allerdings würden wir gern zustimmen, aber nur, sofern uns die Koalitionsfraktionen in dieser Frage nicht mit der CDU/CSU allein lassen. Diesen Eindruck habe ich im Moment allerdings. Trotzdem bleibt natürlich eine tiefe Nachdenklichkeit bei mir, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß die CDU/CSU wirklich nur eine Feindbildverzichtserklärung innerhalb des Bundestages im Sinn hätte. Auch das wäre nicht schlecht. So stellt sich die Frage: Hatten die Autorinnen und Autoren tatsächlich ein Ziel für ihre Kritik vor Augen? An welche Adresse geht denn die Botschaft? Da habe ich mich einmal durchgefragt. In der Regel kritisiert die Union hier die Regierung. Aber ich mag nicht glauben, daß die CDU/CSU in der Koalition oder in der Nähe der Koalition Extremisten ausgemacht hätte, es sei denn, man geht nach dem Prinzip vor: Man schlägt den Sack und meint den Kanzler. Hier kommen wir also nicht weiter. Irgendwann war ich kurz davor, bei den CDU/CSUKollegen vorstellig zu werden, um aus erster Hand und aus berufenem Munde zu erfahren, was denn der tiefe Sinne ihres Vorhabens sei. Doch kurz davor hielt ich inne. Was, wenn die geschätzten Kollegen den Antrag als ernstgemeinten Fingerzeig nach innen, an die eigene Adresse gemeint hätten? Da hätte meine Frage natürlich sehr gestört. Aber auch das ist natürlich nicht des Pudels Kern. Kein Mensch käme auf die Verdächtigung, dem CDUFraktionsvorsitzenden im Magdeburger Landtag eine Nähe zu Extremisten zu unterstellen, nur weil die DVUAbgeordneten nach Christoph Bergners Reden Landtagssitzung für Landtagssitzung Standing ovations abhalten. Oder kam der CDU womöglich in den Sinn, daß bei ihrem Straßenkampf um Unterschriften etwas aus dem Ruder gelaufen sein könnte? Erst ganz zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen, kam mir der Gedanke, die CDU/CSU könnte uns, die PDS, gemeint haben. Darüber habe ich lange nachgedacht. Aber auch nach längerem Grübeln fiel mir hierfür kein Anhaltspunkt ein. Auch die Rede des Kollegen Grund betrachte ich eher als Werbung für uns und nicht als einen ernsthaften Anhaltspunkt für meine letzte Vermutung. ({3}) So kam ich zu dem Schluß - dabei habe ich all meine Redlichkeit zusammengenommen -, daß die CDU/CSU diesen Antrag völlig frei von Hintergedanken und Verdächtigungen, also redlich vom Scheitel bis zur Sohle, stellt. Wenn man so will, ist dies ein Antrag wie das Schwert Karls des Großen: lang, breit, aber auch unheimlich flach. Deshalb schlage ich vor, diesen Antrag nicht erst zu überweisen, sondern sofort über ihn abzustimmen. Bei so viel Einigkeit könnten wir uns das Recht und die Freiheit nehmen, dem Antrag zuzustimmen oder ihn abzulehnen. Das Ergebnis wäre dasselbe. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUBundestagsfraktion gebe ich Herrn Dr. Hans-Peter Uhl das Wort. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es erübrigt sich, den Antrag vorzulesen. Ich nehme an, daß die Kollegen von der Fraktion der Grünen des Lesens fähig sind. ({0}) Ich möchte zu dem Antrag im Detail Stellung nehmen, und zwar in der Weise, in der wir es für richtig halten. ({1}) Wer den politischen Extremismus wirklich bekämpfen will, muß dies in beiden Richtungen tun. Das wurde mit Recht bereits betont. Die rechtsextremen Parteien sind in Deutschland derzeit - glücklicherweise - von eifersüchtigem Konkurrenzdenken geprägt. Deswegen ist es ihnen bisher nicht gelungen, eine einheitliche Sammlungsbewegung herzustellen, obwohl knapp 50 000 Personen dieses rechtsextremistische Potential bilden. Bei der vergangenen Bundestagswahl ist es den drei rechtsextremen Parteien, der DVU, den Republikanern und der NPD, trotz millionenschwerer WahlkampfkonRoland Claus zepte, Postwurfsendungen und Plakataktionen mit extremistischen Parolen nur gelungen, 3,3 Prozent der Zweitstimmen zu erreichen. In absoluten Zahlen sind das 1,6 Millionen Stimmen. ({2}) Das ist noch keine ernsthafte Bedrohung für die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch - um hier einen falschen Zungenschlag zu vermeiden - werden die Verfassungsschutzbehörden diese rechtsextremen Splitterparteien auch weiterhin sehr sorgfältig zu beobachten haben. Wir müssen diese schrecklichen Simplifikateure von rechts ebenso bekämpfen wie jene von links. ({3}) Wir müssen den demokratischen Grundkonsens der Gründerväter unseres Grundgesetzes wieder wachrufen. Ihnen war klar, daß es zwischen demokratischen Parteien einerseits und Extremisten andererseits Trennungslinien gibt. Der Rechtsextremist braucht den Linksextremisten und umgekehrt. Sie brauchen sich gegenseitig wie die Luft zum Atmen. Ich möchte das an einem konkreten Beispiel aus meiner Erfahrung aus München deutlich machen: Als die umstrittene Wehrmachtsausstellung in München stattfand - wie anschließend auch in anderen großen deutschen Städten -, kam es, wie Sie wissen, zu sehr kontroversen Debatten. Diese Situation nutzten die beiden extremen Lager, um ihre jeweiligen Anhänger bundesweit zu mobilisieren. Aus ganz Deutschland kamen sie mit Bussen angereist: die Neonazis, die Skinheads in Springerstiefeln, die Anarchisten und Chaoten. ({4}) - Jetzt meldet sich eine Abgeordnete der Grünen zu einer Zwischenfrage, die hinsichtlich dieses Themas offensichtlich ein anderes Wahrnehmungsvermögen hat.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Uhl, gestatten Sie zunächst eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ströbele?

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Anschluß an meine Ausführungen gerne, Herr Präsident. Ich möchte erst das Beispiel zu Ende führen. Anschließend können wir über Einzelheiten debattieren. Bei dieser Demonstration zeigte sich sehr deutlich, daß es dem gewaltbereiten Teil der linksextremen Szene darum ging, eine direkte körperliche Auseinandersetzung mit dem nicht minder gewaltbereiten Teil der rechtsextremen Szene zu suchen. Jeder Versuch der örtlichen Verlagerung der Rechtsextremen führte dazu, daß ihnen die Linksextremen auf dem Fuße folgten. Es war mehreren tausend Polizisten zu verdanken, daß es über Sachbeschädigungen und Körperverletzungen hinaus nicht zu weiteren Ausschreitungen und zu Straßenschlachten in München anläßlich dieser Ausstellung gekommen ist. Diese Erfahrung mit gewaltbereiten Demonstranten, die wir in anderen deutschen Großstädten noch sehr viel deutlicher gemacht haben, zeigt zumindest zweierlei -

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Uhl, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Bitte, Herr Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, sehen Sie einen Unterschied zu denen aus Gewerkschaftskreisen oder kirchlichen Kreisen, die im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung zu einer Gegendemonstration zur angekündigten Demonstration von Rechtsextremisten aufgerufen haben? Oder ist das für Sie das gleiche, wenn Mitglieder von Gewerkschaften, Mitglieder von kirchlichen Organisationen, Antifagruppen dazu aufrufen, gegen eine solche Meinungskundgabe von Rechtsextremisten auf die Straße zu gehen?

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich für die Frage, Herr Ströbele. Sie gibt mir Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß wir natürlich zwischen der Personengruppe, die Sie gerade geschildert haben, einerseits und den Links- und Rechtsextremisten andererseits differenzieren müssen. ({0}) Es gab - das können Sie nicht wissen, weil Sie, so nehme ich an, zu dem Zeitpunkt nicht in München zugegen waren; zumindest waren Sie nicht wie ich Leiter der Versammlungsbehörde - drei Versammlungen. Die dritte, von der Sie jetzt geredet haben, habe ich natürlich nicht gemeint. Dort waren die Gewerkschaften, die SPD, Teile der Grünen anwesend. Andere Teile der Grünen waren bei den Linksextremen. Das ist der Punkt, von dem ich rede, Herr Ströbele, nicht aber Sie. ({1}) Der Staat muß diesen Chaoten, von denen ich rede, mit massivem Polizeiaufgebot Grenzen aufzeigen. Es darf kein Zurückweichen der Staatsgewalt geben; es darf keine rechtsfreien Räume geben, weil sich diese Chaoten genau so stark fühlen, wie sie den Staat als schwach erleben. ({2}) Vieles deutet darauf hin, daß das Demonstrationsgeschehen in Deutschland leider radikaler und gewaltbereiter wird, ({3}) ausgelöst auch durch die importierten Konflikte des Ausländerextremismus. Wenn diese Prognose zutreffend ist, werden die Grenzen der Demonstrationsfreiheit klar zu ziehen sein. Es geht um die ganz praktische Frage - dieses Thema ist Ihnen, Herr Ströbele, als demonstrationserprobtem Parlamentarier bekannt -: Wie viele tausend Polizeibeamte müssen ihren Kopf hinhalten, um gewaltbereite Chaoten von links oder rechts daran zu hindern, aufeinander einzuschlagen? ({4}) Wenn Sie es, wie ich, erlebt haben, was es heißt, mit den Polizisten zwischen 4 000 Linksextremisten auf der einen Seite und einer gleich großen Zahl von Rechtsextremisten auf der anderen Seite - die nichts anderes vorhaben, als aufeinander einzuschlagen - zu stehen, wenn Flaschen, Steine und sonstige Gegenstände über ihren Kopf hinweg fliegen, dann kommt man sehr schnell zu der Auffassung, daß das mit dem Grundgedanken der Demonstrationsfreiheit, wie sie im Grundgesetz verankert ist, nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun hat. ({5}) Es geht um den Mut zu einem konsequenten Versammlungsverbot. Wenn zu einer öffentlich aufgeheizten Stimmung sowohl links- wie rechtsextreme gewaltbereite Berufsdemonstranten ({6}) bundesweit angereist kommen, muß es rechtlich möglich sein, örtlich, zeitlich und thematisch begrenzt ein Demonstrationsverbot für Extremisten beider Lager auszusprechen. ({7}) Dies kann man derzeit nur, wie Sie wissen, wenn die Polizei zuvor kapituliert hat, wenn sie den „polizeilichen Notstand“ erklärt hat. Über dieses Thema wird in nächster Zeit zu reden sein; ich möchte das nicht weiter ausführen. Das linksextremistische Potential besteht derzeit aus 34 000 Personen. Davon sind 6 000 genauer zu beachten, weil sie zum anarchistischen Spektrum, zur sogenannten autonomen Szene gehören. Dieser Kreis hat durch Gewaltbereitschaft, Brandanschläge, Sachbeschädigungen bundesweit auf sich aufmerksam gemacht. In ihren Wahnvorstellungen kämpfen diese Anarchisten gegen das kapitalistische System, für eine herrschaftsfreie Gesellschaft, gegen die von ihnen so genannte Atommafia. Der Antifaschismus, den sie bekämpfen wobei sie mit den Begriffen sehr locker umgehen; auch ich selber bin aus deren Sicht ein Anhänger des Faschismus -, drückt sich in Parolen aus wie: „dem staatlichen Terror entgegentreten“, dem „Polizeistaat verhindern“ - als wären wir auf dem Weg zu einem Polizeistaat -, „Feuer und Flamme für den Staat“, „Deutsche Polizisten schützen die Faschisten“ - wirre Gedanken, die wir eigentlich bekämpfen müssen; da müßten wir uns einig sein. Deswegen, Herr Ströbele, bin ich besonders empört darüber, daß auf allen drei Ebenen - Bundesebene, Landesebene und kommunale Ebene - Parlamentarier der Grünen ebenso wie der PDS klammheimlich Sympathie für diese autonome Szene haben. ({8}) Unter dem Oberbegriff des antiimperialistischen Widerstandes steht der deutsche Linksextremismus auf vielfältige Weise mit der kurdischen PKK und der baskischen ETA in Verbindung. Heute weiß jeder, daß es richtig war, die PKK in Deutschland zu verbieten. Heute weiß fast jeder - bis auf einige Unverbesserliche -, ({9}) daß es unverantwortlich war, daß diese verbotene PKK dennoch in einigen Bundesländern unter den Augen der Polizei Massenveranstaltungen durchführen durfte. In diesen Ländern ist versäumt worden, eine klare Trennlinie zwischen den militanten Anhängern der PKK und den vielen hier friedlich lebenden kurdischen Mitbürgern zu ziehen. Wir alle kennen den vielzitierten Ausspruch von

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

„Wer unser Gastrecht mißbraucht, fliegt raus, und zwar schnell“. So hat er getönt. Aber wer sich das Verhalten in Nordrhein-Westfalen und in anderen Bundesländern gegenüber der verbotenen PKK und ihren Massenveranstaltungen anschaut, muß doch zugeben, daß die bewußt geduldeten politischen Rechtsbrüche diesen Ausspruch von Schröder zu einem leeren Getöse machen. ({0}) Meine Damen und Herren, es wäre noch viel zu den Konsulatsbesetzungen und wie damit umgegangen wurde, zu sagen. Ich will mir das hier ersparen und zum Schluß kommen. Es gibt Bundesländer, die nach dem Motto handeln: Deeskalation durch Wegschauen. Nein: Hinschauen ist das Gebot der Stunde. ({1}) Das heißt, auch Bundesinnenminister Schily wird auf seine Kollegen Landesminister zugehen und sie anhalten müssen: PKK-Veranstaltungen, auch unter kulturellem Tarnmantel, müssen verboten werden. PKKVeranstaltungen, auch wenn sie mit Hilfe von Strohmännern angemeldet werden, müssen verboten werden. ({2}) Die Verwendung von PKK-Symbolen, die ich in München elf Jahre lang verboten habe, die in anderen Bundesländern elf Jahre lang permanent erlaubt war, muß endlich untersagt werden. ({3}) 31 000 Personen gehören zum islamischen Fundamentalistenkreis; über den wäre auch noch zu sprechen. Hier haben der Verfassungsschutz und der BundesnachDr. Hans-Peter Uhl richtendienst eine schwierige Aufgabe. Deswegen verdienen sie die Unterstützung aller Parteien, von links bis rechts. Die Bekämpfung des politischen Extremismus ist die Aufgabe des Staates, der demokratischen Parteien und jedes einzelnen. Die politische Ordnung in diesem Land ist vom Grundgesetz bewußt und aus bitterer Erfahrung als wehrhafte Demokratie angelegt. Es ist die Aufgabe des Staates, im Kampf gegen Rechtsextremismus und Linksextremismus das Recht durchzusetzen sowie Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. In dem Maße, wie dem Staat diese Aufgabe gelingt, wird er die Anerkennung seiner Bürger finden. Danke schön. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das war die erste Rede des Kollegen Hans-Peter Uhl. Ich darf ihm im Namen des Hauses dazu gratulieren. ({0}) Ich gebe nunmehr dem Kollegen Hans-Werner Bertl von der SPD-Fraktion das Wort.

Hans Werner Bertl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002628, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute morgen in der ersten Lesung einen Gesetzentwurf behandelt, der in den letzten Wochen viel in unserem Land verändert hat. Ich rede jetzt nicht von dem, was er für hier lebende Ausländer bewirkt, sondern davon, was sich in unserem Land getan hat und was in unmittelbarem Zusammenhang mit Ihrem Antrag gesehen werden muß. Ich gebe zu, ich war von diesem Antrag im ersten Moment angetan, weil ich dachte, es kommen noch ein paar Seiten. Sie haben wichtige Funktionen unseres Parlaments angesprochen, zum Beispiel, unsere Arbeit den Bürgern transparent zu machen. Natürlich ist es ein richtiges Anliegen und ein richtiger Auftrag, die „Akzeptanz der repräsentativen Demokratie zu erhöhen“. Das schließt natürlich den Kampf gegen Extremismus jeder Richtung ein. Auch der richtige Hinweis, daß populistische Parolen extremistischer Gruppierungen und Parteien nicht zur Lösung unserer Probleme beitragen, sondern sie erhöhen, ist richtig. Dann folgt der Appell an alle gesellschaftlichen Gruppen und an jeden einzelnen, aber auch an die Politik, Verantwortung wahrzunehmen. Ich hoffe, Sie haben sich bei diesem Appell nicht ausgenommen. Sie haben sogar festgestellt: „Pauschalverurteilungen helfen nicht“, und Sie appellieren an jeden einzelnen, zu prüfen, „wo ein Beitrag für Demokratie und die Sicherung der Freiheit geleistet werden kann“. Meine Damen und Herren, spätestens an dieser Stelle ist mir insbesondere im Zusammenhang mit der Diskussion heute morgen ein böser Verdacht gekommen. Dieser Antrag zu diesem Zeitpunkt mit dieser Diktion ist wie der Versuch einer schlechten Beichte und die Absicht, sich die Absolution billig zu erschleichen. Ist Ihnen eigentlich klar, was in unserem Land los ist? Ist Ihnen allen wirklich klar - ich sage Ihnen, meine Herren von der CDU/CSU, das jetzt sehr ernsthaft - in welch schlechte Gesellschaft Sie in den letzten Wochen und Monaten geraten sind? Sie haben ohne Wenn und Aber um der reinen Machtsicherung willen eine unselige Diskussion in diesem Land vom Zaun gebrochen und dabei entweder nicht gemerkt - was übrigens genauso schlimm ist -, zu welcher Polarisierung Sie beigetragen haben, oder Sie haben es bewußt in Kauf genommen. Es war Ihnen auch egal, wer Sie vereinnahmt hat. ({0}) Herr Uhl hat eben von Wahrnehmung gesprochen. Haben Sie wirklich wahrgenommen, was los ist? In unserem Land werden Fremde zu Tode gehetzt? Haben Sie registriert, daß laut BKA-Bericht in den ersten fünf Monaten des Jahres 1998 3029 rechtsextrem motivierte Straftaten begangen wurden, im zweiten Quartal 1998 164 Straftaten mit antisemitischer Motivation verübt wurden? Haben Sie zur Kenntnis genommen, daß Innensenator Werthebach am 18. Februar dieses Jahres gesagt hat, daß die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten im Jahr 1998 deutlich gestiegen ist? Haben Sie registriert, daß das BKA uns mitgeteilt hat, daß das gewaltbereite rechte Personenpotential - das linke gibt es auch - von 1996 mit 6400 auf jetzt 8000 gestiegen ist? Für uns im Parlament ist wichtig: Die Täter werden immer jünger. 60 Prozent von ihnen werden der Gruppe unter 21 Jahren zugerechnet. Ich erinnere an diesem Punkt nur daran, was Ihr Fraktionsvorsitzender Schäuble zu unserem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit gesagt hat: Wir würden sie ruhigstellen. ({1}) Hier gibt es vieles aufzuarbeiten, wenn wir diese Diskussion entsprechend Ihrem Antrag führen wollen. Haben Sie - es ist eben angesprochen worden - den Bericht der Wehrbeauftragten gelesen, der erst wenige Tage alt ist? Sie hat von 320 Vorfällen in der Bundeswehr im Jahr 1998 berichtet. Ich will jetzt gar nicht mehr auf die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses eingehen, der uns in der letzten Legislaturperiode wichtige Erkenntnisse über Tendenzen in unserer Gesellschaft und Bundeswehr vermittelt hat. Ich will vor allem denen in Ihrer Fraktion, die den Antrag - der sehr kurz greift - gestellt haben und ihn vielleicht ernst meinen, die sich in den letzten Wochen und möglicherweise auch heute morgen bei der Debatte sogar heimlich geschämt haben - viele waren gar nicht mehr hier -, deutlich machen, in welch schlechte Gesellschaft sie in der letzten Zeit geraten sind. Da bejammert Schönhuber in „Nation und Europa“, Ausgabe 2/99 - eine eindeutig rechtsextreme Publikation -, „daß CDU/CSU mit ihrer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ein weiteres Mal das Bröckeln des rechten Randes anstreben“. In der „Jungen Freiheit“ verbreitet sich in diesem Jahr Herr von Stetten, und in der Ausgabe 7/99 dieser rechtsextremen Zeitung gibt Ihr Fraktionskollege Martin Hohmann ein Interview und bekräftigt - jetzt OrigiDr. Hans-Peter Uhl nalton -, daß die nationale Karte bei der Hessen-Wahl gestochen und den Sieg gebracht habe. Und weiter Originalton - es wird jetzt ganz spannend -: „Die Moralkeule sauste nieder, aber siehe, sie tat gar nicht weh.“ Wie recht er übrigens hat, denn er beschreibt Ihre Resistenz gegen diejenigen, die Sie gebeten haben, eine solche Aktion zu unterlassen. Das waren die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, Sportvereine, Arbeitgeberverbände, Unternehmensverbände und viele Ihrer eigenen Kreisverbände. In der Ausgabe 4/99 der gleichen Publikation läßt sich Ihr Kollege Wolfgang Zeitlmann - wir haben ihn heute morgen hier erlebt - über „regierungsamtlichen Unsinn im Ausländerrecht“ aus. Ich habe noch viel mehr Fundstellen; ich nenne sie Ihnen alle. In der Ausgabe 45 vom letzten Jahr ist sogar der Justizminister aus Sachsen zu lesen, der sich - es ging um die Diskussion von Walser und Bubis - darüber verbreitet, daß Ignatz Bubis nicht nur sich selbst, sondern auch dem Ansehen der Juden in Deutschland geschadet habe. ({2}) Ich frage mich ganz ernsthaft: Wie können Sie, wenn Sie hier einen solchen Antrag einbringen, in solchen Publikationen, die gleichzeitig in wüsten Angriffen über die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, unsere Kollegin Frau Süssmuth, herfallen, Äußerungen verbreiten oder verbreiten lassen? Merken Sie das alles nicht? Nehmen Sie das nicht zur Kenntnis? Schauen Sie nur noch in eine Richtung? ({3}) Haben Sie einmal ins Internet gesehen, wie die Republikaner ihre Anhänger zur bedingungslosen Unterstützung Ihrer Unterschriftenaktion auffordern? Oder haben Sie einmal das „Nationale Infotelefon“ von Andre Goertz, einem bekannten Neonazi, abgehört? Ich zitiere einmal ein paar Originaltöne: „Nationale Parteien unterstützen die Unterschriftenaktion.“ - „Sowohl die Republikaner als auch NPD wollen die Aktion tatkräftig unterstützen und bieten Mitarbeit an.“ Der Republikaner-Chef Rolf Schlierer meint: „Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.“ Der NPD-Bundessprecher Beier sagt: „Wenn die Hauptzielrichtung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft bleibt, dann machen unsere Mitglieder bei der CSU/CDU-Aktion an vorderster Front mit.“ Das „Nationale und soziale Aktionsbündnis Norddeutschland“ verkündet: Wir „nehmen mit Genugtuung zur Kenntnis, daß auch CDU-Politiker den wirklichen politischen Kampf aufgenommen haben.“ Meine Damen und Herren, wir haben alle Internetanschluß; schauen Sie doch einmal in das Thule-Netz! In der Nacht der Bundestagswahl erschien dort der Aufruf zu Gewalt und Bürgerkrieg. Ich zitiere den Originaltext: Unter der SPD-Regie muß es schnell gehen - bevor die gewalttätigen Ausländer der 3. und 4. Generation ins Kampfalter kommen … Die Zeit für demokratische Spielregeln ist vorbei … Die politische Säuberung der Bunzwehr - das ist die Bundeswehr zeigt, wohin der Weg weist … Der Verfassungsschutz weist uns klar auf deutliche Radikalisierungstendenzen sowie auf die Zunahme von volksverhetzenden, antisemitischen und den Nationalsozialismus verherrlichenden Texten hin. Die Zahl der extremistischen Homepages hat sich in weniger als zwei Jahren verfünffacht: 1996 waren es in Deutschland 32, jetzt sind es 156; weltweit ist die Zahl von 5 im Jahre 1995 auf heute 448 angestiegen. Das ist der Grund, warum Ihr Antrag zu kurz greift. Er ist vordergründig; er ist nicht ehrlich. Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Natürlich muß aus unserem Parlament Widerspruch gegen jede Form von Extremismus kommen. Dabei brauchen wir keine Rechts-Links-Diskussion. ({4}) Wir brauchen von dieser Stelle aus den Widerspruch gegen Ausgrenzung und Gewalt gegen jeden Menschen und gegen jede Minderheit. Unsere Aufgabe ist es, eine stabile und an den Menschenrechten orientierte Republik für die Menschen in unserem Land als Wert erfahrbar zu machen. Es ist dabei notwendig, auch im Parlament Klartext zu reden - vielleicht auch einmal schonungslos. Denn es geht um unsere politische Hygiene. Kompromisse dürfen sich die politisch Verantwortlichen, also auch die Parlamentarier im Deutschen Bundestag, da nicht mehr erlauben. Meine Damen und Herren von der Union, Sie müssen sich darüber klar sein, daß Sie eine schlimme Spur durch unser Land gelegt haben. Ich bin sicher, Sie werden aus dieser Sache nicht mit sauberen Füßen herauskommen. Ihren Antrag kann man wirklich nur ablehnen. Aber ich möchte Ihnen ein sehr ehrliches Angebot machen: Wir sollten uns fraktionsübergreifend zusammensetzen und gemeinsam an dieser Problematik arbeiten, um dann ein glaubwürdigeres Signal als Ihren Antrag aus diesem Parlament heraus an die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zu senden. Danke schön. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort zu einer Erklärung zur Aussprache nach § 30 der Geschäftsordnung gebe ich dem PDS-Abgeordneten Carsten Hübner.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Kollege Grund, da Sie mich vorhin so freundlich angesprochen haben, erlauben Sie mir eine Erwiderung. Ich möchte Ihnen zuerst einmal mitteilen, in welchem Zusammenhang der von Ihnen erwähnte Artikel in der „Südthüringer Zeitung“ erschienen ist. Die Demonstration ist meines Wissens an einem Montagnachmittag angemeldet worden. Bereits am darauffolgenden Dienstag erschien darüber ein Artikel in dieser Zeitung, der wie ein Interview aufgemacht ist, das angeblich ein Journalist der „Südthüringer Zeitung“ mit dem Landesverfassungsschutzpräsidenten Roewer geführt hat. Welche Rückschlüsse man daraus ziehen kann, überlasse ich Ihnen selbst. Ich jedenfalls gehe davon aus, daß sowohl die Polemik als auch der Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels kein Zufall sind; vielmehr sollten damit bestimmte Stimmungen forciert und geschürt werden. Zum zweiten möchte ich Ihnen gerne mitteilen, daß die Koordinierungsgespräche zur Vorbereitung der Demonstration nach meinem Wissen sowohl mit dem Innenministerium als auch mit der Polizei, also mit den für den Ablauf der Veranstaltung zuständigen Behörden, völlig problemfrei verlaufen sind. Das hat unter anderem dazu geführt, daß die Demonstration - abgesehen von einem relativ großen Polizeiaufgebot - in keiner Weise mit Auflagen, die verlesen werden, belegt worden ist, zum Beispiel ähnlich den Auflagen für Gewerkschaftsdemonstrationen oder anderen Veranstaltungen. Ich bitte, auch das zur Kenntnis zu nehmen. Der dritte Punkt, auf den ich hinweisen möchte, ist, daß die Demonstration völlig gewaltfrei und friedlich verlaufen ist. Es gab weder Gewalttaten gegen Personen noch solche gegen Sachen. Der Einsatzleiter der Polizei vor Ort hat nach der Demonstration „dpa“ mitgeteilt, es habe ein „volksfestähnlicher Zustand“ auf der Veranstaltung geherrscht. - Soviel zu Ihrer Aussage, die Demonstration sei nur deshalb gewaltfrei verlaufen, weil ein massives Polizeiaufgebot am Rande der Demonstration dafür gesorgt habe. Die Veranstaltung selber ist friedlich gewesen. Deswegen möchte ich Ihnen wie Herrn Köckert, dem Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag, der in ähnlich ungehobelter Weise wie Sie sowohl gegen meine Person als auch gegen den Thüringer Landtagsabgeordneten Steffen Dittes Vorwürfe erhoben hat, mit einem Satz antworten: Kommen Sie wieder herunter! Danke. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort zu einer Erwiderung hat der Kollege Manfred Grund. ({0})

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich möchte zuerst kurz auf die Rede des Kollegen Bertl eingehen und feststellen, daß in der Aneinanderreihung von Zitaten auch ein hoher Desinformationsgehalt liegen kann. Während der gesamten Debatte ist die Unterschriftenaktion angesprochen worden. Nach meinem Dafürhalten - diese Einschätzung muß niemand teilen hat die Unterschriftenaktion in Hessen bewirkt, daß bei den dortigen Wahlen keine extremistische Partei in den Hessischen Landtag eingezogen ist. Wenn das allein durch die Unterschriftenaktion erreicht worden ist, ist das ein großer Erfolg. ({0}) Des weiteren möchte ich auf das eingehen, was der Kollege von der PDS gesagt hat. Den „volksfestähnlichen Zustand“ kann es durchaus gegeben haben. Nur, bei der Demonstration sind Kinder aufgetreten, die Schilder umhängen hatten, auf denen stand: In uns allen stecken kleine Öcalans. Ob das zu einem Volksfest mit dazugehört, wage ich zu bezweifeln. Insoweit habe ich nach wie vor Bedenken gegen eine Veranstaltung, wie sie im thüringischen Erfurt durchgeführt worden ist.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/295 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 sowie die Zusatzpunkte 7a und 7b auf: 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Joachim Tappe, Adelheid Tröscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({0}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reform der europäischen Entwicklungspolitik durch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft - Drucksache 14/538 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ralf Brauksiepe, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Europäische Entwicklungszusammenarbeit reformieren - Drucksache 14/537 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther, Gerhard Schüßler, Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Eigenverantwortlichkeit der AKP-Staaten fördern - Drucksache 14/531 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zunächst für das Bündnis 90/Die Grünen der Kollegin Angelika Köster-Loßack.

Dr. Angelika Köster-Loßack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002704, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich, daß in den vorgelegten Anträgen zur Reform der europäischen Entwicklungspolitik ein Konsens darüber besteht, die deutsche Ratspräsidentschaft und die Neuverhandlungen des LoméAbkommens für wirkliche Reformschritte zu nutzen. In der Frage, wie diese Reform erreicht werden kann, sehe ich jedoch in den von den Oppositionsfraktionen vorgelegten Anträgen einige Ungereimtheiten, auf die ich noch eingehen werde. Wir haben gemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen Antrag vorgelegt, mit dem die wichtigsten Schritte für eine zukunftsfähige Entwicklungspolitik dargestellt werden. Lassen Sie mich zu Beginn festhalten: Wir wünschen keine Renationalisierung der Entwicklungspolitik. Hierzu geben auch die jüngsten Entwicklungen in Brüssel keinen Anlaß. Den Rücktritt der Kommission sehe ich als Ausdruck eines demokratischen Prozesses in den Institutionen der EU. Wir sollten hierin auf keinen Fall einen neuen Anlaß sehen, die Entwicklungspolitik stärker in die Verantwortung der Mitgliedstaaten zurückzuführen. Das würde gerade die dringend benötigte bessere Abstimmung der europäischen Entwicklungspolitiken verhindern. Mir ist leider auch nicht deutlich geworden, worauf die Unionsfraktion in ihrem Antrag hinaus will, wenn einerseits ein Zuviel an Zentralisierung und an starrem Regelwerk beklagt wird und wenn andererseits im nächsten Satz die Zersplitterung der administrativen Zuständigkeiten angesprochen wird. Auch unter dem Deckmantel des Stichwortes „Subsidiarität“ halten wir eine Renationalisierung für nicht geeignet, den immensen entwicklungspolitischen Herausforderungen zu begegnen, insbesondere bei der Aufgabe der Krisenprävention. Was wir allerdings brauchen, ist eine bessere Koordination und eine bessere Komplementarität zwischen den Entwicklungspolitiken der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft. Es gibt einen Konsens darüber, daß die Verteilung der Entwicklungspolitik auf vier verschiedene Kommissare, drei Generaldirektionen und ECHO dringend reformbedürftig ist. Wir wollen, daß die Zuständigkeit für die europäische Entwicklungspolitik in der Hand einer Kommissarin oder eines Kommissars gebündelt wird. ({0}) Der Europäische Entwicklungsfonds sollte darüber hinaus einer starken Kontrolle durch das Europäische Parlament unterworfen werden. Wie sinnvoll und wie wirksam das Europäische Parlament seine Kontrollfunktionen ausüben kann, haben wir gerade erlebt. Für uns ist die Agrarpolitik der EU ein zentrales Thema, insbesondere die Frage der Exportsubventionen. Wir denken, daß die europäischen Exportsubventionen nicht allein aus Gründen der WTO-Konformität abgebaut werden müssen, sondern vor allem wegen der Ernährungssituation in den Entwicklungsländern und der Auswirkungen auf die dortigen Märkte. Wir kennen alle die Beispiele, daß durch die Subventionierung der europäischen Agrarprodukte lokale Märkte im Süden schwer geschädigt worden sind und weiterhin geschädigt werden. ({1}) Der Abbau der Agrarsubventionen wird nicht einfach durchzusetzen sein. Wir sind in diesen Tagen - nicht nur in Deutschland - Zeugen massiver Bauernproteste gegen die Agenda 2000 geworden. Aus entwicklungspolitischer Sicht kann es jedoch keine Rechtfertigung einer unveränderten Weiterführung von Exportsubventionen geben. Wir müssen mit einem schrittweisen Abbau beginnen. Damit die Entwicklungspolitik wirklich zur Verbesserung der Situation in den Ländern des Südens beitragen kann, müssen auch in den anderen Politikbereichen, die hier eine Rolle spielen, andere Prioritäten gesetzt werden. Ich denke vor allem an die Rüstungspolitik, nicht nur an die in Deutschland, sondern auch an die in den anderen Staaten der Europäischen Union. ({2}) Wir sehen nämlich die Krisenprävention als die zentrale Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit an. ({3}) Deshalb ist es wichtig, im Politikdialog nicht nur in Europa, sondern auch mit den Ländern des Südens ihre in Relation zu den Ausgaben für menschliche Entwicklung viel zu hohen Rüstungsausgaben zu thematisieren. ({4}) Damit ist auch eine Mahnung an unsere eigene Rüstungspolitik verbunden, insbesondere an unsere Rüstungsexportpolitik. ({5}) In Zukunft müssen deutlichere Anstrengungen auf europäischer Ebene gemacht werden. Der Code of Conduct für Rüstungsexporte, wie er innerhalb der EU verabschiedet worden ist, ist lange nicht ausreichend und fällt hinter unseren eigenen Standard zurück. Zur Verhandlungsrunde in Dakar ist zu sagen, daß dort in wesentlichen Bereichen sehr gute Ansätze formuliert worden sind. Jetzt kommt es auf die konkrete Umsetzung an. Ich möchte an dieser Stelle die Verantwortlichen in der Bundesregierung ganz herzlich darum bitten, dafür zu sorgen, daß angesichts der Krise, die sich jetzt in Brüssel ergeben hat, die Verhandlungen nicht ins Stocken geraten, sondern termingerecht weitergeführt werden. ({6}) Vizepräsident Rudolf Seiters Ich begrüße sehr, daß in Dakar dem politischen Dialog insbesondere über Menschenrechte und Demokratisierung sowie über das Einbinden der Zivilgesellschaft ein größeres Gewicht als bisher eingeräumt worden ist. Es ist auch ein wichtiger Schritt, daß das Kriterium der verantwortlichen Regierungsführung zukünftig der Zusammenarbeit zwischen der EU und den AKPLändern zugrunde gelegt werden soll. Ich denke, hier ist aus den Fehlschlägen der Vergangenheit wirklich der gute Schluß gezogen worden, daß man nicht mehr aus normalen diplomatischen Gepflogenheiten heraus über diese Fragen hinweggehen kann. Wenn es Defizite bei Good Governance gibt, muß das auch Folgen haben. Weiter ist besonders hervorzuheben, daß als allgemeine Zielsetzungen Armutsbekämpfung, nachhaltige und umweltschonende Entwicklung sowie die schrittweise Integration in die Weltwirtschaft klar formuliert worden sind. In unserem Antrag fordern wir außerdem die Einbeziehung der Nichtregierungsorganisationen nicht nur bei der konkreten Arbeit und bei der Umsetzung, sondern auch in den politischen Dialog. Auch die Vereinfachung und bessere Transparenz bei der Projektabwicklung im Rahmen der europäischen NRO-Kofinanzierung ist nicht zu unterschätzen; da werden noch viele Abstimmungen nötig sein. Im Rahmen der LoméFolgeverhandlungen müssen wir zu differenzierten Modellen für die EU-AKP-Zusammenarbeit kommen, da die Bedingungen in den verschiedenen Regionen im Rahmen dieses Abkommens sehr unterschiedlich sind. Die Weltmarktintegration dieser Staaten muß sehr behutsam vorgenommen werden, denn viele dieser Länder verfügen nicht über die entsprechenden Lieferpotentiale, um von einer Weltmarktintegration wirklich zu profitieren. Ihnen muß es durch eine angemessene Entwicklungszusammenarbeit erst ermöglicht werden, die notwendigen Strukturen und Produktangebote aufzubauen. ({7}) Erst dann wird die Liberalisierung in vielen Fällen nicht zu einer Belastung der jeweiligen Inlandsmärkte führen, sondern den Ländern helfen, ihre eigene Ausgangslage für eine nachhaltige Entwicklung zu verbessern. Den im Antrag der F.D.P. vorgeschlagenen Weg, ausschließlich auf die Liberalisierung des Weltmarktes zu setzen, halte ich für nicht ausreichend und mit Blick auf eine gewisse Übergangszeit sogar für falsch. ({8}) Ich halte es für wichtig, daß wir von europäischer Seite aus besonders die ärmsten Entwicklungsländer stärker als bisher darin unterstützen, Verhandlungen in der WTO überhaupt angemessen führen zu können. ({9}) Diesen Ländern fehlen bisher meist die personellen und auch die finanziellen Ressourcen, um gleichrangig Einfluß auf die Verhandlungen in der WTO nehmen zu können. Hier schlagen wir die Einrichtung eines gemeinsamen EU-AKP-Verbindungsbüros bei der WTO in Genf vor. Die positiven Ansätze der bisherigen Partnerschaft müssen in Zukunft verstärkt werden. Die aus der kolonialen Hypothek herrührenden Prioritätensetzungen in der EU-AKP-Partnerschaft müssen überwunden werden. Auch anderen Ländern muß eine engere Partnerschaft mit der EU ermöglicht werden. Das ist aber eine mittelbis langfristige Aufgabe und läßt sich nicht von heute auf morgen verwirklichen. Dazu gehört auch, den gleichberechtigten Dialog mit den Partnerländern institutionell so abzusichern und weiter auszubauen, daß es läuft. Die vielversprechendste politische Rahmenbedingung für diesen Dialog bildet die Umsetzung der Agenda 21, wie sie in Rio verabschiedet worden ist. Hier sind zunächst die Industrieländer aufgefordert, ihre Produktions- und Lebensweise zu verändern, um im Gespräch mit den Ländern des Südens glaubwürdig zu sein. Das gilt im übrigen auch für den Abbau der Korruption. Wir fordern von den Ländern des Südens Transparenz darüber, wie sie ihre finanziellen Ressourcen einsetzen; auch wir müssen in diesem Zusammenhang Transparenz beweisen. Das ist deswegen eine gemeinsame Aufgabe. ({10}) Vielen Dank. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die europäische Entwicklungszusammenarbeit ist reformbedürftig. Diese Feststellung wurde nicht nur in der Rede der Kollegin Köster-Loßack getroffen, sondern darüber hat - wie auch hinsichtlich der Grundzüge der europäischen Entwicklungszusammenarbeit selbst - in diesem Haus, soweit ich das beurteilen kann, weitgehend Konsens bestanden. Dieser Konsens hat sich im letzten Jahr in einem gemeinsamen Beschluß der Fraktionen niedergeschlagen. Uns war die Hoffnung gemeinsam, daß unter der deutschen Ratspräsidentschaft diese Reformen vorangetrieben werden. Nun ist uns allen aber - mindestens insgeheim - auch die Befürchtung gemeinsam, daß die notwendigen Reformen unter die Räder kommen, nachdem der Bundeskanzler viel zu lange und letztlich doch erfolglos an der jetzt zurückgetretenen Europäischen Kommission festgehalten hat. Damit hat er den Zeitraum für die Beschlüsse über die notwendigen Reformen unnötig verkürzt. ({0}) Wenn man über Reformen der Entwicklungszusammenarbeit redet, dann darf man natürlich nicht nur über Formalien, sondern muß auch über die Richtung, die solche Reformen auf europäischer wie nationaler Ebene einschlagen sollen, diskutieren. Die rotgrüne Bundesregierung hat bei vielen Organisationen und bei mit ihr sympathisierenden Gruppen zweifellos hohe Erwartungen im Hinblick auf eine Neuorientierung der Entwicklungspolitik geweckt. Sie, meine Damen und Herren, haben aber zur Erfüllung dieser Erwartungen bisher vorwiegend nur Überschriften produziert. Ich will Ihnen einige dieser Überschriften in Erinnerung rufen. So postulieren Sie unter anderem einen höheren Stellenwert der Entwicklungszusammenarbeit insgesamt. Wir können aber bisher nur feststellen, daß die Frau Ministerin nun ein paar zusätzliche Sitzungstermine, beispielsweise im Bundessicherheitsrat, hat. Ob sich daraus wirklich konkrete Verbesserungen für die Menschen in den Entwicklungsländern ergeben, bleibt erst einmal abzuwarten. Es darf nicht bei der Lieferung von U-Booten nach Südafrika bleiben, sondern in diesem Bereich muß schon ein bißchen mehr geschehen. ({1}) Eine weitere Überschrift - ich will darauf eingehen, obwohl sie schon einige Zeit zurückliegt - war die geforderte Steigerung des BMZ-Haushaltes. Auch in diesem Punkt hat längst Ernüchterung um sich gegriffen. Selbst die Regierungsfraktionen im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit haben vor zwei Tagen ihre Enttäuschung über die Entwicklung des BMZHaushaltes deutlich zum Ausdruck gebracht. Dabei waren Kürzungen, die wir auf Grund der Erfahrungen der letzten Jahre beim Europäischen Entwicklungsfonds gemeinsam beschlossen haben, noch gar nicht eingerechnet. Man kann also nicht mehr - wir haben zu dieser Thematik in den Haushaltsberatungen ausführlich Stellung genommen - von einer Steigerung des BMZHaushaltes reden. Mehr als eine Überschrift ist nicht übriggeblieben. ({2}) Sie, Frau Ministerin, haben eine weitere, für uns nicht ganz überraschende Überschrift produziert, als Sie sich heute vor einer Woche in der „Süddeutschen Zeitung“ mit den Worten vernehmen ließen: „Wir überprüfen unsere Politik gegenüber Kuba.“ Nun ist Nachdenken und Überprüfen an sich niemals schlecht. Aber aus unserer Sicht wäre es besser, wenn Herr Castro selber seine eigene Kuba-Politik überprüfen würde. Ich glaube, dies wird in weiten Teilen der Europäischen Union nicht anders gesehen. ({3}) Ich will noch zwei weitere Überschriften nennen. Sie sprechen von einem qualitativen Schuldenerlaß und von einer globalen Strukturpolitik. All dies hört sich sehr schön an, ist aber entweder nichts Neues oder nichts Greifbares. So hatte bereits die CDU/CSUgeführte Bundesregierung zahlreiche Initiativen zum Schuldenerlaß auf den Weg gebracht, natürlich nicht in Form eines pauschalen Schuldenerlasses. Was Sie nun „qualitativen Schuldenerlaß“ nennen, bedeutet letztlich doch nichts anderes als eine einzelfallgerechte Entschuldungsstrategie, für die auch wir uns aussprechen. Der Kollege Hedrich hat dieses Konzept vor Wochen also zu Recht als Mogelpackung bezeichnet. ({4}) Eine Erklärung darüber, was Sie unter globaler Strukturpolitik verstehen, sind Sie uns bisher schuldig geblieben. Für CDU und CSU geht es bei der Wirtschaftsordnung in den Entwicklungsländern um die Einführung und Festigung der sozialen Marktwirtschaft, eingebettet in andere entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen wie Rechtssicherheit, Beachtung der Menschenrechte und Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungen. Diese bekannten, von uns schon vor Jahren aufgestellten Kriterien haben nach unserer Überzeugung nichts an Aktualität verloren und können auch nicht durch eine - wie auch immer geartete - globale Strukturpolitik ersetzt werden. Ich denke, es ist an der Zeit, daß Sie einmal erklären, ob Sie unser Ordnungsmodell der sozialen Marktwirtschaft weiterhin als entwicklungsförderlich ansehen oder ob Sie es unter der Überschrift „globale Strukturpolitik“ durch etwas anderes ersetzen wollen. Mir ist das bisher nicht klargeworden. ({5}) Das Kernstück der europäischen Entwicklungszusammenarbeit ist ja zweifellos das Lomé-Abkommen, über dessen Weiterentwicklung zur Zeit diskutiert wird. Die Lomé-Kooperation war in der Vergangenheit durch Stärken wie auch durch Schwächen gekennzeichnet. Deshalb sind wir grundsätzlich für ein Festhalten an dieser Kooperation, aber als Konsequenz aus den erkennbaren Schwächen eben auch für eine Weiterentwicklung in konzeptioneller Hinsicht. Wenn ich mir diese in der Vergangenheit im Konsens festgestellte Position vor Augen führe, dann muß ich sagen, daß der Antrag der Regierungsfraktionen, den Sie heute vorlegen, schon sehr enttäuschend ist. Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, was Sie hier vorlegen - es tut mir persönlich leid für Leute wie Sie, Herr Schuster, die ja den Sachverstand besitzen, auch etwas anderes zu formulieren -, ist, positiv ausgedrückt, sehr staatstragend. Man könnte auch sagen: Es ist eigentlich nichtssagend, was in Ihrem Antrag steht. Denn trotz Ihres verbalen Bekenntnisses zum früheren Beschluß von CDU/CSU, F.D.P., SPD und Bündnis 90/Die Grünen, der in diesem Hause vor einem Jahr gefaßt wurde, gehen Sie deutlich hinter ihn zurück. Enttäuschend ist vor allem das, was in Ihrem Antrag nicht steht. Ich komme darauf gleich zurück. Sie sagen zum Beispiel: Alle Beteiligten sind sich grundsätzlich über die Reformbedürftigkeit des Vertragswerks einig … Das ist sehr staatstragend. Ich lasse es einmal dahingestellt sein, ob Sie uns das als wesentliche Aussage zum Lomé-Vertrag so hätten durchgehen lassen. Ich glaube, eher nicht. Ein bißchen konkreter hätten wir es dann schon gern. Sie werden immer da deutlich - jetzt komme ich auf den eben von Frau Kollegin Köster-Loßack angesprochenen Punkt -, wo es um formale Fragen geht, die weitgehend unstrittig sind. Deswegen kann ich Ihnen sagen: Wenn es um die Straffung der Kompetenzen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit geht, also darum, wegzukommen von einer Struktur, in der die Entwicklungszusammenarbeit auf vier Kommissare, drei Generaldirektionen etc. verteilt ist, dann haben Sie uns bei dieser Forderung auf Ihrer Seite. ({6}) - Ja. - Aber für uns gilt eben auch das Prinzip der Subsidiarität. Das heißt, wir wollen keine eigenen Durchführungsorganisationen auf europäischer Ebene, sondern wir sagen ganz deutlich - nicht nur vor dem Hintergrund der Erfahrungen und Berichte der letzten Tage -: Das können die nationalen Durchführungsorganisationen besser; dazu brauchen wir keinen zusätzlichen bürokratischen Apparat in Europa. ({7}) Nun müssen wir neben diesen formalen Fragen eben auch über die Inhalte der Entwicklungszusammenarbeit auch und gerade mit den AKP-Staaten reden. Unsere gemeinsame Feststellung vor einem Jahr lautete unter anderem - ich zitiere -: Die strukturkonservierend wirkenden STABEXund SYSMIN-Instrumente müssen zugunsten flexibler Elemente, die … die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen einschließen, umgewandelt werden. Davon findet sich in Ihrem Antrag leider nicht mehr sehr viel, außer der sehr wolkigen Überschrift eines Unterpunktes: „Politikkohärenz im Bereich der Außenhandelspolitik“. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, da ist ja sogar Ihre Ministerin noch vor zwei Tagen im Ausschuß weiter gegangen mit ihren Vorstellungen im Sinne dieses gemeinsamen Beschlusses zu Stabex und Sysmin, an dem wir festhalten. Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen, das unsere Enttäuschung über das verdeutlicht, was nicht in Ihrem Antrag steht. In dem gemeinsamen Beschluß ist vor einem Jahr formuliert worden - ich zitiere wiederum wörtlich -: Darüber hinaus sollte das Abkommen - gemeint ist das Lomé-Abkommen weiteren Least Developed Countries offenstehen. Ich halte dies für ein ganz zentrales Anliegen und frage mich: Wo ist das eigentlich in Ihrem Antrag konkret geblieben? Es kann doch wohl nicht sein, daß die früher einmal bestehenden kolonialen Strukturen weiterhin bestimmen, wer im Rahmen der EU-AKP-Zusammenarbeit eigentlich unser Vertragspartner ist. Nun ist es natürlich nicht ganz einfach, an dieser Struktur etwas zu ändern. Es handelt sich ja um Strukturen, die im Grundsatz schon seit den 70er Jahren bestehen. Auch damals gab es eine SPD-geführte Bundesregierung. Diejenigen, die heute regieren, waren damals noch nicht dabei; viele von ihnen waren damals noch auf den Barrikaden. Von daher kann ich noch einmal feststellen: Sie sind sehr staatstragend geworden. - Man ändert solche Strukturen ja nicht dadurch, daß man großspurig von der Vertretung deutscher Interessen redet, sondern indem man das konkret an einem Punkt festmacht oder indem man zumindest an diesem Ziel festhält. Deswegen sage ich: Statt - wie Sie es in Ihrem Papier fordern - ein neues EU-AKP-Verbindungsbüro und damit eine neue Bürokratie zu schaffen, sollten Sie dieses Geld lieber für die Entwicklungszusammenarbeit mit anderen, den ärmsten Ländern zur Verfügung stellen, bei denen es nur sachgerecht wäre, sie in dieses Programm aufzunehmen, und die Sie nicht dafür bestrafen sollten, daß sie nicht in die bisherigen, kolonial geprägten Strukturen der EU-AKP-Entwicklungszusammenarbeit passen. Jedenfalls für uns ist das bei der Reform ein Schwerpunkt, auf den wir Wert legen. ({8}) Meine Damen und Herren, CDU und CSU wollen unter Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität darauf legen wir Wert; dies haben wir auch in unserem Antrag zum Ausdruck gebracht - eine offene Diskussion über Ziele, Instrumente, Schwerpunkte und auch Vertragspartner der europäischen Entwicklungszusammenarbeit führen. Soweit wir dies im Konsens tun können, haben Sie uns auf Ihrer Seite. Wir werden Sie nicht an Ihren Überschriften, sondern an Ihren Taten messen im Interesse der Menschen, die Hilfe zur Selbsthilfe brauchen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich darf dem Kollegen Brauksiepe zu seiner ersten Rede in diesem Hause im Namen der anwesenden Kolleginnen und Kollegen gratulieren. ({0}) Nunmehr gebe ich für die SPD-Fraktion dem Kollegen Werner Schuster das Wort.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit einem Kompliment an die ganz linke Seite dieses Hauses beginnen. Es war Ihr Antrag vom Dezember 1998, der eine Art Initialzündung ausgelöst und die großen Fraktionen angeregt hat, selber aktiv zu werden. Ich finde auch den Inhalt sehr bemerkenswert. Deshalb bedaure ich immer wieder, daß in diesem Hause nicht entscheidend ist, was jemand sagt, sondern wer es sagt. ({0}) Das ist sicher ein großer Nachteil. Allerdings muß ich nach Vergleich der vier Anträge deutlich sagen, daß sich Ihr Antrag und auch der Antrag der F.D.P. vom Ansatz her ausschließlich auf Lomé beDr. Ralf Brauksiepe ziehen, während wir, die Regierungsfraktionen, und die CDU/CSU, wie ich glaube, zu Recht den Gesamtrahmen gesehen haben. Ich hoffe sehr - das wird es Herrn Kollegen Brauksiepe vielleicht verständlich machen, warum ich so staatstragend formuliere -, daß wir, zumindest die Regierungskoalition gemeinsam mit der großen Oppositionsfraktion, nach den Beratungen im Ausschuß zu einer gemeinsamen Beschlußempfehlung kommen. Wir haben uns nämlich in den letzten Jahren immer wieder gewünscht, wenigstens in der Entwicklungszusammenarbeit gegenüber Brüssel mit einer Stimme zu reden. Hier, Herr Hedrich, sollten wir uns davon unterscheiden, wie wir gestern die Diskussion zum Thema Agenda 2000 geführt haben. ({1}) Unserem Anliegen nützt es sehr, für Brüssel einen Konsens zu finden, aufeinander zuzugehen. Ich denke, wir werden in den Beratungen das eine oder andere von Ihnen übernehmen. Zweitens möchte ich mich im Gegensatz zu Ihnen ausdrücklich bei der Frau Ministerin bedanken und sie an dieser Stelle loben. ({2}) Frau Tröscher, Herr Dzembritzki und ich waren vor 14 Tagen in der berühmten DG VIII in Brüssel, bei Herrn Lowe. Wir waren überrascht, als er ungefragt zwei Dinge sagte. Er sagte, ihm habe imponiert, daß die neue deutsche Bundesregierung erklärt habe, die Entwicklungszusammenarbeit sei ein wesentlicher Teil der Friedenssicherung. Das hätten wir auch in den letzten vier Jahren gern einmal so deutlich gehört. ({3}) Zudem hat er gesagt, es habe Eindruck gemacht, daß nicht irgend jemand, sondern die Ministerin selbst im Europäischen Parlament gesprochen hat. Das hätten wir früher auch gern so gehabt. ({4}) Insofern ist verständlich, daß die DG VIII - da haben Sie recht, Herr Kollege Brauksiepe - große Erwartungen an die EU-Präsidentschaft hat. Ich will nur vorbeugen: Frau Ministerin, wir waren uns der Beschränkung auf diese sechs Monate bewußt. Wir wissen, daß Sie dies alles nicht in sechs Monaten lösen können. Wir hoffen aber, daß Sie entscheidende Impulse geben können bzw., wie ich immer flapsig sage, den Zug auf das richtige Gleis bringen. Das wäre schon ein Fortschritt gegenüber dem, Herr Hedrich, was wir in den letzten acht Jahren erlebt haben. ({5}) Wir wünschen Ihnen - da bin ich mit Ihnen, Herr Brauksiepe, und der CDU offensichtlich einer Meinung - bei diesem Unternehmen viel Erfolg. ({6}) Damit bin ich bei der Kritik an Brüssel. Sehr geehrter Herr Hedrich, ich habe manche Dinge nicht vergessen. Sie haben immer dafür votiert - im Detail waren wir beide uns immer einig -: Wer Kritik an Brüssel übt, muß sich zuerst an die eigene Nase fassen. Das fängt damit an, daß man bei den Entscheidungen persönlich anwesend ist. Zweitens muß man zum Beispiel dafür sorgen, daß in Brüssel deutsches Personal vorhanden ist. Wir zahlen ungefähr 25 Prozent. Der Anteil des deutschen Personals in den entsprechenden Generaldirektionen liegt unter 10 Prozent. Hier müssen wir unsere Haushälter überzeugen, daß wir jungen Beamten eine Karriere eröffnen, wenn sie unsere wohlverstandenen deutschen Interessen in Brüssel - übrigens auch bei der UNO - vertreten. ({7}) Meine Damen und Herren, ich wiederhole den Vorschlag, den ich schon in der letzten Wahlperiode gemacht habe - hier spreche ich auch unseren Ausschußvorsitzenden, Herrn Kraus, an -: Wir müssen dafür sorgen, daß wichtige Beschlüsse des Bundestages vor allem dann, wenn sie einstimmig gefaßt worden sind, auch in Brüssel gelesen werden. Das heißt, sie müssen hingeschickt und vorher, Frau Ministerin, möglichst ins Englische übersetzt werden. Dort wird eben nur Englisch oder Französisch gelesen. Wenn wir wollen, daß unsere Beschlüsse das Europäische Parlament und die Kommission beeinflussen, müssen wir unsere Ergebnisse entsprechend vorlegen. Das sollte doch wirklich möglich sein. Es ist ganz bezeichnend und im Vergleich zu den letzten acht Jahren ungewöhnlich, Herr Hedrich, daß die Frau Ministerin gemeinsam mit ihrer Kollegin Clare Short und mit Charles Josselin ein Positionspapier veröffentlicht hat. Das ist doch auch schon ein Schritt: Man darf nicht nur kritisieren, sondern muß zusehen, wie man in Brüssel Verbündete findet, um dann gemeinsam etwas zu bewirken. ({8}) Insofern bitte ich um Verständnis, Herr Kollege Brauksiepe, daß wir bewußt nicht wiederholt haben, was wir schon vor einem Jahr formuliert haben. Das haben wir inkorporiert. Wir sind uns da in vielen Grundsatzforderungen, wenn auch nicht in der Frage der Liberalisierung, einig. Das haben wir aber bewußt nicht wiederholt. ({9}) Uns hat die Kommission einen Gefallen getan, indem sie komplett zurückgetreten ist. Nach einem solchen Rücktritt gibt es ein neues Spiel. Diese Chance, meine Damen und Herren, sollten wir nutzen. ({10}) Das ist ein Neuanfang. Dabei geht es auch um institutionelle Reformen. Wir sind uns doch darin einig, daß es schwachsinnig ist, daß vier Kommissare, drei Generaldirektionen und ECHO unabhängig voneinander arbeiten. ({11}) Wir müssen endlich mit dem Unsinn aufräumen, die Töpfe nur deshalb, weil sie woanders herkommen, in der Durchführung getrennt zu sehen. Nothilfe ist nur dann sinnvoll, wenn sie einen kontinuierlichen Übergang zur Entwicklungszusammenarbeit zuläßt. Mein Kollege Tappe und ich haben im Sudan erlebt, daß aus ECHOMitteln wunderschöne Brunnenbohrungen im Rahmen der Nothilfe vorgenommen worden sind. Nachdem die Experten den Sudan verlassen hatten, ist alles kaputtgegangen, weil die Einrichtung eines Wasserkomitees nicht vorgesehen war; das ist nämlich Entwicklungshilfe. Das kann doch nicht wahr sein. Ein weiterer Punkt ist die Koordination innerhalb der Mitgliedstaaten. Rechnet man sämtliche Leistungen hoch, dann geht es um mehr als 35 Milliarden DM pro Jahr. Wir wollen nicht die Subsidiarität in Frage stellen; aber es wäre doch klug, wenn die 25 Milliarden DM der 15 Länder und die EU- und Lomé-Mittel in Höhe von 10 Milliarden DM in ein Gesamtkonzept eingebracht würden. Das geht aber nur mit gemeinsamen Länderkonzepten. In diesem Zusammenhang haben wir wieder gehört, Herr Hedrich, daß Brüssel Länderkonzepte liefert. Bloß wir liefern unsere nicht. Warum eigentlich? Das kann man ändern. Man kann auch die Kooperationsbereitschaft der anderen Mitgliedstaaten testen; dafür braucht man keine Gesetze. Ich bin davon überzeugt, daß wir auf diese Weise viele Synergieeffekte bekämen und dies auch die Koordination, die Kohärenz und die Einstimmigkeit gegenüber unseren Partnern erhöhte. Des weiteren müssen wir Kriterien für eine nachhaltige und menschenwürdige Entwicklung, unterschiedlich für das jeweilige Entwicklungsland, entwerfen. Dabei würde auch die Heuchelei deutlich. Aber dazu wird nachher mein Kollege Dzembritzki etwas sagen, was nachhaltige Entwicklung ohne Kohärenz bedeutet. Schließlich erleichterte es die Evaluation, wenn man sich auf solche Kriterien verständigte. Da hätte man ein gemeinsames Grundsystem und würde nicht mehr mit unterschiedlichen Maßstäben herangehen. Wir brauchen bilateral und multilateral dieselben Maßstäbe. Frau Köster-Loßack ist auf die Förderung der zivilgesellschaftlichen Strukturen eingegangen. Das möchte ich jetzt nicht alles wiederholen. Aber wichtig scheint mir, Frau Ministerin, der politische Dialog vor Ort. Ich sage es einmal ganz negativ: Es kann nicht angehen, daß die GTZ oder die politischen Stiftungen den Job tun, den eigentlich unsere Botschaften oder das BMZ tun müßten. ({12}) Das ist kein politischer Dialog. Er muß bitte schön von den Ministerien wahrgenommen werden. Auch das Thema Krisenprävention hatte die Kollegin Köster-Loßack schon angesprochen. Dazu möchte ich nur noch eines sagen: Für mich ist gerade in Afrika das zentrale Thema die Rüstungsexportkontrolle. Es ist schlicht Heuchelei, wenn wir über die Bürgerkriege jammern und zugleich zur Kenntnis nehmen, daß in so unverdächtigen Zeitungen wie „Observer“ oder „Herald Tribune“ nachgewiesen wird, wie Länder aus dem Westen an dem Waffengeschäft beteiligt sind, und zwar in der Regel nicht in Unkenntnis der Regierungen. Ich darf die Länder nennen: Ruanda, Burundi, Angola, Kongo Kabila -, Äthiopien, Eritrea und Sudan. Diese Heuchelei muß aufhören. Sonst brauchen wir unsere ganze Entwicklungszusammenarbeit nicht. Die Gelder können wir sonst einsparen. ({13}) Schließen möchte ich, bevor Sie mich mahnen, Herr Präsident, mit dem Hinweis auf ein kleines Buch, geschrieben von einer sehr engagierten Journalistin, Brigitte Kols von der „Frankfurter Rundschau“: „Tatort Afrika. Ein Kontinent zwischen Gewalt und Hoffnung“. Sie sagt am Schluß - ich stimme ihr zu -: Der Tatort Afrika ist vor allem ein Ort für die Taten der Afrikaner. - Richtig. Aber es liegt auch sehr an uns Europäern, ob dieser Kontinent in Zukunft ein Kontinent der Gewalt bleibt oder ein Kontinent der Hoffnung wird. In diesem Sinne bitte ich Sie alle gemeinsam, Afrikaner und Europäer, die Chance eines Neuanfanges der europäischen Entwicklungszusammenarbeit wirklich zu begreifen und in Taten umzusetzen. Danke schön. ({14})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Kollegen Gerhard Schüßler, F.D.P.-Fraktion.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die vorliegenden Anträge sorgfältig liest, dann kann man trotz aller Widersprüche und Unzulänglichkeiten feststellen, daß wir in vielen Punkten gemeinsame Meinungen vertreten. Wenn die Beratung dieser Anträge zu einem Konsens führt, kann das der Sache nur dienlich sein. Ich sage das deshalb, weil unsere Partner in Europa und in den Entwicklungsländern von uns erwarten, daß von der deutschen EU-Präsidentschaft entscheidende Impulse für die Erneuerung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit ausgehen. Nun muß man sagen: Bislang hat die Bundesregierung bei den laufenden Verhandlungen über die Erneuerung der Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staaten weder klare Schwerpunkte benannt noch ein Konzept zu der Gestaltung vorgelegt. Wie anders ist es möglich, daß die Koalitionsfraktionen mit einem Antrag vom 16. März die Bundesregierung auffordern, im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft eine Initiative zu ergreifen? Das ist schon ein Armutszeugnis für eine Bundesregierung: Sie muß von den Koalitionsfraktionen knapp ein halbes Jahr nach Verhandlungsbeginn und fast zur Halbzeit ihDr. R. Werner Schuster rer Präsidentschaft in einem Antrag aufgefordert werden, eine Initiative zu ergreifen. Das ist schon sehr ungewöhnlich. Meine Damen und Herren, die bisherige EU-AKPZusammenarbeit gilt zwar als erfolgreiches Modell interregionaler Entwicklungspartnerschaft; sie ist in ihrer gegenwärtigen Form jedoch nicht den Herausforderungen der Globalisierung gewachsen und muß daher vollständig überarbeitet werden. Strukturelle Defizite müssen beseitigt, neue Prioritäten gesetzt werden. Die Erfahrungen aus vier Entwicklungsdekaden, die durch schlechte Rahmenbedingungen für Selbsthilfe und unzureichende Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer gekennzeichnet waren, lehren, daß ein reiner Finanztransfer und neue Verteilungsmechanismen das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung eher behindern. Nur ein neues Konzept, das Eigenanstrengungen als unerläßliche Voraussetzung für wohlverstandene Solidarität und Partnerschaft definiert, kann langfristig erfolgreich sein. Dem von der Bundesregierung bei der EU-AKPMinisterkonferenz am 8. Februar in Dakar angekündigten neuen Schub für die Verhandlungen müssen nun dringend Taten folgen. Darum hat die F.D.P.Bundestagsfraktion einen Antrag, ein eigenes NeunPunkte-Konzept zur zukünftigen Gestaltung der EUAKP-Zusammenarbeit vorgelegt. - Frau Kollegin Köster-Loßack, es behandelt sicherlich nicht nur den marktwirtschaftlichen Teil; ich möchte Sie bitten, das sorgfältig zu lesen. - Dabei soll neben der Armutsbekämpfung die Stärkung der Eigeninitiative der AKPPartner absolute Priorität haben. Voraussetzung dafür sind rechtsstaatliche Rahmenbedingungen, entwicklungsorientiertes staatliches Handeln, Wettbewerb, Privatisierungen, Dezentralisierung, die wirksame Bekämpfung von Korruption, freie und faire Handelsbedingungen und regionale Zusammenarbeit. Verantwortungsvolle Staatsführung, Eigeninitiative und freier Handel sind die besten Voraussetzungen für nachhaltige Entwicklung. Dies alles finden Sie in den neun Punkten ausformuliert wieder. Eine Reform der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, die diesen Namen verdient, muß auch auf eine verbesserte Kohärenz der verschiedenen europäischen und nationalen Instrumente und Geberinstitutionen abzielen. ({0}) Zu viele Köche verderben, wie Sie wissen, den Brei, auch in der Entwicklungspolitik. ({1}) Die Europäische Union braucht eine Entwicklungspolitik aus einem Guß. Um bessere Kohärenz zu erreichen, müssen die sich teilweise überlappenden Zuständigkeiten verschiedener Generaldirektionen der Kommission klar abgegrenzt und die Aufgabenteilung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten transparenter gestaltet werden. Das wissen Sie auch alle. Die entwicklungspolitischen Aktivitäten der Mitgliedstaaten und der Kommission müssen gemäß dem in Maastricht festgelegten Subsidiaritätsprinzip zu einer kohärent vernetzten europäischen Entwicklungspolitik umgestaltet werden. Hierzu ist eine zwischen allen Beteiligten, einschließlich der Bundesländer und der Kommunen, abgestimmte Schwerpunktsetzung erforderlich. Die EU-Kommission sollte nur für solche Aufgaben zuständig sein, die besser und wirksamer auf europäischer Ebene durchgeführt werden können. Hierfür eignen sich insbesondere Handelsfragen, Strukturanpassungsmaßnahmen und die interregionale Zusammenarbeit. ({2}) Aus liberaler Sicht sollten insbesondere solche entwicklungspolitischen Maßnahmen unterstützt werden, die auf eine Stärkung des Privatsektors abzielen. Der Errichtung marktwirtschaftlicher Strukturen, der Unterstützung unternehmerischer Eigeninitiative und der Förderung eines günstigen Investitionsklimas in den Partnerländern sollte Vorrang eingeräumt werden. Eine besondere Rolle sollten in diesem Zusammenhang die bereits in der Praxis bewährten Modelle der sogenannten „private public partnerships“ übernehmen, in denen öffentliche Entwicklungsinstitutionen mit privaten Trägern bei der Verwirklichung von Entwicklungsprojekten intensiv zusammenarbeiten. Zu einer erfolgreichen Neustrukturierung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit gehört auch eine abgestimmte inhaltliche Schwerpunktsetzung, wobei sich die Bemühungen der Kommission in erster Linie auf die Integration der Entwicklungsländer in den freien Welthandel und auf Strukturanpassungsmaßnahmen sowie auf interregionale Zusammenarbeit beziehen sollten. ({3}) Die Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten muß spätestens nach Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam mit der gemeinsamen Außenpolitik der Europäischen Union zusammengeführt werden. Die Vorbereitungen dafür müssen jetzt beginnen. Zur politischen Komponente einer gemeinsamen Entwicklungspolitik gehört auch eine gemeinsame Politik der Konfliktvermeidung und Konfliktlösung. Dabei müßte es Aufgabe der Kommission sein, das Umfeld von Konfliktzonen, insbesondere in Afrika, durch Entwicklungspole abzusichern, landwirtschaftliche und handwerkliche Subsistenzwirtschaft zu ermöglichen und sich für ein Minimum an öffentlicher Sicherheit und Ordnung einzusetzen. All dies kann nur gelingen, wenn die europäische Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr neben den 15 bilateralen Gebern als 16. Geber steht, sondern unter größtmöglicher Einbeziehung ihrer Mitglieder zusammen mit den jeweiligen AKP-Partnern ein Gesamtkonzept der Reformen erarbeitet. Nur abgestimmte länder- und regionalspezifische Konzepte werden es ermöglichen, die Schwierigkeiten der Konfliktregionen anzugehen. Die gegenwärtige Praxis, daß die Entwicklungshilfe nur reihum die Löcher zu stopfen versucht, welche sie in der Vergangenheit selbst gerissen hat, ist nicht mehr zu verantworten. Es wird nicht möglich sein, alle AKPLänder auf den Pfad politischer Tugenden zurückzufühGerhard Schüßler ren. Es wird Länder geben, die sich den Reformen verweigern, deren staatliche Ordnung insgesamt zusammenbricht oder in denen bewaffnete Konflikte für lange Zeit andauern werden. Deshalb gehört ein langfristiges politisches Konzept der Konfliktprävention und lösung zur europäischen Entwicklungspolitik. Deutsche und europäische Entwicklungspolitik ist noch längst nicht erfolgreich, wenn jedes einzelne Entwicklungshilfeprojekt erfolgreich ist. Sie ist erfolgreich, wenn ein Beitrag zu einer dauerhaften, positiven Gesamtentwicklung in den Nehmerländern geleistet wird. Ein solcher dauerhafter Erfolg ist nur möglich, wenn dazu beigetragen wird, daß die Nehmerländer eine entsprechende kohärente Gesamtpolitik konzipieren und realisieren. Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesregierung auf, die derzeitige EU-Präsidentschaft zu nutzen, die Entwicklungspolitik zu einem Bereich gemeinsamer EU-Politik zu entwickeln. Nur dann können ausscherende nationale Interessen auch anderer EU-Staaten hinreichend unter Kontrolle gebracht werden. In diesem Sinne bitten wir im Hinblick auf die Beratungen unseres Antrags in den Ausschüssen um Ihre Zustimmung. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich möchte etwas Ungewöhnliches tun: Ich möchte einmal, da wir am heutigen Freitag um 14.20 Uhr noch voll besetzte Zuhörertribünen haben, unsere Gäste hier im Parlament recht herzlich begrüßen. ({0}) Gleichzeitig bitte ich unsere Besucher, keine falschen Rückschlüsse daraus zu ziehen, daß das Parlament nicht so stark besetzt ist wie bei anderen Debatten. Wir hatten eine lange Sitzungswoche mit vielen namentlichen Abstimmungen. Jetzt geht es hier um sogenannte erste Lesungen. Der Inhalt dieser Debatten ist allerdings nicht weniger wichtig. Ich hoffe, Sie haben trotzdem Interesse daran. Nun gebe ich das Wort an den Kollegen Carsten Hübner von der PDS.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach den zum Teil äußerst erhitzten Kontroversen des heutigen Tages empfinde ich es als ausgesprochen angenehm, daß wir in der jetzigen Debatte wieder zum sachlichen Diskurs zurückgekehrt sind und daß parteipolitische Motive in den Hintergrund getreten sind. ({0}) Ich hoffe, daß das die Grundlage dafür ist, daß wir in den Ausschüssen die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen und einen interfraktionellen Konsens zu erreichen versuchen. Dabei möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, daß diese Beratungen möglichst bald erfolgen müssen, wenn unsere parlamentarische Initiative die Bundesregierung noch rechtzeitig erreichen und während des besonderen Rahmens der deutschen Ratspräsidentschaft wirksam werden soll. Nun komme ich zu den Anträgen selbst. Dabei beschränke ich mich auf die derzeit strittigen Fragen des Lomé-Nachfolgeprozesses. Zunächst - das ist wohl die Kernfrage - zur Handelspolitik: In diesem Bereich gehen die Positionen erheblich auseinander. Die Anträge der F.D.P. und der PDS bilden die jeweiligen Pole. Das hat Herr Schüßler in seinem Beitrag soeben schon verdeutlicht. Während die F.D.P. auf eine verstärkte Liberalisierung der Handelsbeziehungen im wirtschaftlichen Sinne, also auf mehr deregulierten Markt und damit auf den weiteren Ausbau des Rechts des Stärkeren setzt, erklärt die PDS in ihrem Antrag einer völlig verfrühten und von den entwicklungspolitischen Folgen her unüberschaubaren Transformation des bisherigen Lomé-Vertragswerkes in Freihandelsabkommen eine deutliche Absage. Statt dessen sind Konzepte für eine zeitlich und ökonomisch angemessene und vertretbare Integration der AKP-Staaten gefragt - Konzepte, die dem Ansatz einer internationalen Strukturpolitik und einer gerechten Weltwirtschaftsordnung verpflichtet sein müssen, Konzepte, die nicht auch noch die ärmsten und am wenigsten entwickelten Länder - um diese geht es nämlich völlig schutzlos der turbokapitalistischen Megamaschine aussetzen ({1}) - das sind schöne Worte; wenn man sieht, was dies in diesen Regionen anrichtet, dann kann man auch einmal solche schönen Formulierungen wählen -, ({2}) die bekanntlich national wie international immer dann am reibungslosesten läuft, wenn soziale, bildungs- und kulturpolitische Standards abgebaut werden. Aus Sicht meiner Fraktion ist dies ein verheerender Trend, der nicht fortgeschrieben, sondern umgekehrt werden muß. Dies setzt voraus, daß sich die Bundesregierung, die EU und die AKP-Staaten gemeinsam in der WTO gegen diesen Trend stemmen und eine verantwortliche Politik erzwingen. Ein zweiter wesentlicher Punkt, meine Damen und Herren, ist der Aspekt der „good governance“. Sosehr ich den Ansatz teile, daß die Zusammenarbeit zwischen der EU und den AKP-Staaten und die Entwicklungszusammenarbeit allgemein an verbindliche rechtsstaatliche, menschenrechtliche, ökologische und demokratische Standards angebunden wird, so wichtig ist es aber auch, dafür zu sorgen, daß bei den AKP-Partnern nicht der Eindruck entsteht, diese Standards seien nur ein weiterer und ganz perfider Trick, um den weiteren Rückzug der Geberländer aus einer internationalen Strukturpolitik zu legitimieren und eigene strategische und ökonomische Interessen zu verschleiern. Diesen Eindruck kann man eben nur dadurch ausräumen, daß man mit gutem Beispiel vorangeht. Aber genau da gibt es, wie Sie wissen, auf EU-Ebene erhebliche Defizite - Defizite, die durch die mangelhafte demokratische Verfaßtheit der EU zumindest befördert werden und die auf strukturelle, nicht allein personelle Mängel schließen lassen. Gleichzeitig müssen wir uns aber dafür einsetzen, daß der entwicklungspolitische Etat - möglichst erhöht - in den regulären Haushalt der EU-Kommission eingestellt wird, was zumindest ein erster Schritt in Richtung eines höheren Stellenwerts der Entwicklungspolitik in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU sein könnte. Leider wurde dieser Schritt auch in der Bundesrepublik längst noch nicht vollzogen, wie die bisherigen Haushaltsberatungen gezeigt haben. Ich befürchte, das dicke Ende kommt erst noch. Meine Damen und Herren, ich denke, wir sind uns einig, daß Lomé keine reine Erfolgsgeschichte war, daß - dies ist mehrfach angesprochen worden - Reformen und Strukturveränderungen notwendig sind, wenn wir im europäischen Zusammenhang angemessen auf die Herausforderungen der nächsten Jahre reagieren wollen. Stabex und Sysmin müssen transformiert werden; den Frauen muß als einem wesentlichen Tragpfeiler von Entwicklungsprozessen vor Ort noch weitaus mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch eine bessere, eine strukturell effektivere und zielgenauere Koordinierung der multilateralen und bilateralen Entwicklungszusammenarbeit steht dringend auf der Tagesordnung. Ich bin mir sicher: In den Ausschußberatungen werden wir auf ebendiese Fragen zu sprechen kommen. Ich hoffe, daß wir uns nicht nur kritisch und sachorientiert auseinandersetzen werden, sondern daß wir auch zu einem gemeinsamen, einem interfraktionellen Ergebnis kommen. Dem Thema wäre es angemessen. Aber sicher bin ich mir, was das anbetrifft, natürlich nicht. Ich hoffe. Danke. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die neue Bundesregierung will in der Entwicklungspolitik mehr auf Europa und die internationalen Organisationen setzen. Herr Schuster hat noch einmal betont, daß Europa in der Entwicklungspolitik sozusagen erst jetzt richtig entdeckt werde, und auch die Frau Ministerin hat in der Presse erklärt, das sei der große Unterschied zu ihrem Vorgänger, Carl-Dieter Spranger. ({0}) Angesichts der Entwicklung in dieser Woche muß man auf dieses Thema antworten. Der durch die nicht mehr zu bestreitenden Skandale erzwungene Rücktritt der Kommission der Europäischen Union hat überdeutlich gezeigt, daß die Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit und der Kompetenz der europäischen Entwicklungszusammenarbeit in den vergangenen Jahren voll und ganz berechtigt war. ({1}) Die Kritik, wie sie zum Beispiel im Urteil des Rechnungshofes über die Arbeit des Europäischen Amtes für humanitäre Hilfe zum Ausdruck kommt, war schließlich mit ein Anlaß dafür, daß der Kommission im Parlament die Entlastung verweigert wurde und daß sie nach Bestätigung dieser Kritik durch den Rat der Weisen jetzt zurücktreten mußte. Auch wenn Frau Köster-Loßack das höflich als „Akt der Demokratie“ beschrieben hat, muß man doch sagen: Dieser lange, schmerzhafte Prozeß bis zum Rücktritt ist zunächst für all die eine Blamage, die sich bis zum Schluß hinter diese Kommission gestellt haben. Es war dringend notwendig, daß sie diesen Schritt endlich unternommen hat, nachdem im Parlament dafür leider keine Mehrheit zustande gekommen war. ({2}) Nun will ich bei aller berechtigten Kritik nicht bestreiten: Die Europäische Union hat eine Reihe komparativer Vorteile gegenüber rein nationalen Entwicklungspolitiken. Nur, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land sind zu Recht äußerst sensibel, ob die von ihnen für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung gestellten Gelder tatsächlich den Menschen in den ärmsten Ländern der Welt zugute kommen. Man muß heute feststellen, daß diese Kommission, die jetzt endlich zurückgetreten ist, einen riesigen Vertrauensverlust verursacht hat. Ich will es einfach noch einmal erwähnen: Da wurden Gelder, die für die humanitäre Hilfe oder die Entwicklungszusammenarbeit vorgesehen waren, zur Finanzierung von „U-Booten“ umgeleitet. Das sind in diesem Fall nicht die U-Boote, von denen Frau Köster-Loßack sprach, sondern damit sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeint, die außerhalb des Stellenplans eingesetzt wurden. Da läßt es sich nicht mehr feststellen, ob Nahrungsmittel und medizinische Hilfsgüter tatsächlich die vorgesehenen Empfänger erreicht haben, weil Überwachung und Kontrolle ungenügend waren. Da wursteln mehrere Organisationen und Institutionen im gleichen Entwicklungsland mit den gleichen EU-Mitteln nebeneinander her, ohne daß koordiniert und kooperiert wird. Deshalb hat das Europäische Parlament bekanntlich bereits im vergangenen Jahr Konsequenzen gefordert. Die Kommission hat diese rigoros abgelehnt. ({3}) Diese Arroganz der Kommission ist letztlich der Auslöser für ihren Sturz. Ich finde zu Recht: Hochmut kommt vor dem Fall. ({4}) Oftmals wird davon gesprochen - auch heute ein bißchen -, eine verbesserte europäische Entwicklungszusammenarbeit sei vor allem eine Frage von mehr Geld. ({5}) - Ich komme darauf. - Erst am 5. März dieses Jahres hat die neue Leitung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Kollegen Hedrich aus der CDU/CSU-Fraktion als - ich zitiere - „hochgradig unseriös“ bezeichnet, ({6}) weil er - so die Begründung in der Erklärung des Ministeriums - die geplante Erhöhung der deutschen Mittel für den europäischen Entwicklungsfonds kritisiert habe. Nun muß ich feststellen: Der Schock des Kommissionsrücktritts hat offensichtlich auch bei Sozialdemokraten und Grünen eine andere Politik ausgelöst; denn wir haben uns in dieser Woche gemeinsam darauf verständigt, die Mittel im Haushaltsansatz etwas zu senken. Eine Reform der europäischen Entwicklungszusammenarbeit muß bei Strukturen wie bei Inhalten erfolgen; ansonsten ist möglicherweise jeder zusätzliche Euro verschwendet. Für die Reform der Strukturen brauchen wir, wenn wir eine neue Kommission bilden - wir fordern den Bundeskanzler auf, dafür zu sorgen, daß das rasch erfolgt -, eine Zusammenführung der für die Entwicklungszusammenarbeit zuständigen Stellen; wir brauchen humanitäre Hilfe in einer Hand; wir müssen Schluß machen mit der Zersplitterung in eine Vielzahl von Kommissaren, Generaldirektionen und unterschiedlichen Dienststellen. ({7}) Herr Dr. Schuster hat es als eine großartige Sache erwähnt, die in Europa auf Beifall stoße, daß die Ministerin so gerne ihren politischen Lehrmeister zitiert und von Entwicklungspolitik als Friedenspolitik spricht. ({8}) Verehrte Frau Ministerin, ich denke, die entscheidende Frage wird sein, wie sich die Entwicklungszusammenarbeit dem neuen Instrument der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik des Amsterdamer Vertrages zuordnet. ({9}) Ich meine, daß die entwicklungspolitische Zusammenarbeit ein wesentlicher Bestandteil und gleichberechtigtes Element der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Union sein muß. ({10}) Ich sehe dabei weniger die Gefahr, daß die Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere die humanitäre Hilfe, instrumentalisiert werden könnte, als - auf Grund der Erfahrung der letzten Jahre - vielmehr die Gefahr, daß sich Eitelkeiten und Rivalitäten zwischen den Akteuren zum Schaden der Betroffenen auswirken. ({11}) Jetzt möchte ich die Zusammenarbeit mit den Kirchen und Nichtregierungsorganisationen ansprechen. Frau Ministerin, ich gehe davon aus, daß Sie uns am Schluß der Debatte noch einen Bericht über das Treffen mit den Nichtregierungsorganisationen in Berlin geben. Ich will schon vorher folgendes feststellen: Schöne Worte sind zuwenig. Für die Zusammenarbeit der Europäischen Kommission mit den Nichtregierungsorganisationen gibt es eigentlich nur ein Wort: Chaos. Sie brauchen nicht zu erschrecken: Ich meine jetzt nicht das Chaos in der rotgrünen Koalition, sondern ich meine das Chaos in Brüssel. Seit Jahren wird den Nichtregierungsorganisationen seitens der EU-Kommission das Leben eher schwergemacht: viel zu lange Wartezeiten für die Genehmigung wichtiger Projekte; man richtet Consulting-Büros in den einzelnen Mitgliedstaaten ein; man löst sie zum 30. Juni dieses Jahres vorzeitig auf; man will in Brüssel ein neues großes Büro einrichten, laut Ausschreibung doppelt so teuer wie das bisherige; zum 1. Januar 2000 sollen die Verträge im Rahmen der Kofinanzierung auf eine neue Basis gestellt werden. - Also: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Das ist keine verläßliche Politik, erst recht keine Partnerschaft mit Nichtregierungsorganisationen, wie wir sie verstehen. Im Bereich der humanitären Hilfe wird von der EUKommission über Jahre eine französische Hilfsorganisation einseitig bevorzugt. Der Direktor des Amtes kann unwidersprochen behaupten, humanitäre Hilfe im Rahmen der Europäischen Union sei grundsätzlich französisch. Verfolgt wird zudem ein rein interventionistischer Ansatz. Herr Dr. Schuster hat ein schönes Beispiel mit dem Brunnen aus dem Sudan genannt. Jede Nachhaltigkeit und Entwicklungsorientierung fehlt. Meine Damen und Herren, Nichtregierungsorganisationen müssen echte Partner in der Entwicklungszusammenarbeit und bei der humanitären Hilfe werden. Die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen selbst sollte sich meines Erachtens europäisieren. Da hätte auch die EU-Kommission eine Aufgabe, nämlich dazu beizutragen, daß transnationale Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen gefördert wird. Wir brauchen - auch das ist schon angesprochen worden - ein neues und besseres System der Evaluierung. Prüfberichte, in denen nur die eigenen Wunschvorstellungen bestätigt werden und keine kritische Bewertung stattfindet, sind wertlos. Auch das hat der EU-Rechnungshof zu Recht kritisiert. Notwendig sind mehr unabhängige Evaluierungen und keine Gefälligkeitsgutachten. Es gibt den schönen Spruch, eine Allerweltsweisheit: Jede Krise birgt in sich auch eine Chance. So ist der Rücktritt der Kommission in der Tat eine Peter Weiß ({12}) Chance für einen Neuanfang auch in der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, die wir gemeinsam nutzen sollten. Mein Wunsch ist: Von Europa sollte man zielgerichtetes entwicklungs- und partnerorientiertes Handeln und nicht Bürokratismus und Interventionismus lernen können. Vielen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Auch dem Kollegen Peter Weiß darf ich zu seiner ersten Rede hier im Hause gratulieren. ({0}) Nun gebe ich dem Kollegen Detlef Dzembritzki für die SPD-Fraktion das Wort.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Weiß, ich habe aufmerksam zugehört und bei Ihrer Rede an den von Herrn Dr. Schuster schon angesprochenen Besuch in Brüssel gedacht. Ich will Ihnen offen sagen: Ich war bei dem Besuch in Brüssel überrascht, daß, jedenfalls für mich, nachvollziehbare strategische Konzepte über Entwicklungspolitik nicht erkennbar waren. Eine Konsequenz daraus ist für mich, daß wir unseren Einfluß in Richtung Brüssel mit Sicherheit intensiv wahrnehmen müssen, wenn wir dort weiterhin eigene Vorstellungen realisieren wollen und wenn wir erreichen wollen, daß dort tatsächlich eine sinnvolle, vernünftige, nachvollziehbare Entwicklungspolitik gemacht wird. Nachdem Sie aber die Kommission und das Verhalten der jetzigen Bundesregierung in dieser Massivität kritisiert haben, kann ich eigentlich nur den Rückschluß ziehen, daß in den zurückliegenden Jahren von Ihrer Seite aus offensichtlich verhältnismäßig wenig Einfluß auf die Institutionen in Brüssel genommen wurde, um bestimmte Entwicklungen nicht in der Weise eintreten zu lassen, wie es geschehen ist. ({0}) Angesichts der zu bewältigenden Situation ist festzuhalten, daß trotz der knappen finanziellen Ressourcen nach wie vor Möglichkeiten vorhanden sind und - da stimme ich dem Kollegen der F.D.P.-Fraktion zu - daß der Einsatz lediglich von Finanzen die notwendigen Veränderungen nicht bringen wird. Kreativität, Engagement und gemeinsame Konzepte sind gefragt. Das große Verdienst der Bundesministerin Wieczorek-Zeul liegt gerade darin, daß sie sich dieser Herausforderung gestellt und diese Aufgabe angepackt hat. ({1}) Nach den Verhandlungen in Dakar sind wir auf dem richtigen Weg. Die für das Post-Lomé-Abkommen festgelegten Eckpunkte sind wirklich eine Chance, hier weiterzukommen, weil sie die Europäer zu mehr Zusammenarbeit mahnen. Es geht um die grundlegende Reform der Beziehungen zwischen EU und AKPStaaten. Ich finde es gut, daß hier im Hause Einigkeit darüber herrscht, daß die EU nicht quasi der 16. Staat in Europa sein und nicht als solcher agieren darf, sondern daß die EU vielmehr für die Bündelung und Koordination der EU-Entwicklungspolitik verantwortlich sein muß. ({2}) Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen wollen eine kohärente Gesamtpolitik. Dem Europäischen Parlament, der Kommission und allen 15 nationalen Parlamenten muß künftig eine Übersicht über die Gesamtmittel der europäischen Entwicklungszusammenarbeit vorgelegt werden. Eine effizientere Entwicklungszusammenarbeit setzt Transparenz voraus. Die Kommission wurde schon häufig genug gescholten; ich denke, daß wir alle ein Interesse daran haben, daß gerade auch die Betrugsvorwürfe im ECHO-Kommissariat bzw. in der Generaldirektion restlos aufgeklärt werden. Andererseits darf man wiederum nicht übersehen, wie wichtig es ist, die ideell und über Soforthilfen tätige ECHO-Generaldirektion als Instrument in diesen weltweiten Krisen- und Katastrophenbereichen zu haben. Die Ziele der Reform der europäischen Entwicklungspolitik unter unserer Ratspräsidentschaft sind Krisenprävention und Konfliktmanagement sowie Förderung der Handelsbeziehungen. Beides setzt Demokratisierung voraus. Was heißt das im einzelnen? Nach unserer Meinung muß Krisenprävention ein operativer Bestandteil der europäischen Entwicklungszusammenarbeit werden. Die EU-Mitgliedstaaten müssen sich auf ein gemeinsames Konzept einigen. Herr Kollege Weiß, ich muß das noch einmal sagen: In Ihrem Antrag fehlt diese Friedenspolitik als Hinweis und als wichtiges Moment; Sie können das noch einmal nachlesen. Wir hingegen fordern diese Friedenspolitik gerade angesichts der Bürgerkriege und Konflikte, wie wir sie zum Beispiel in Afrika oder jetzt in Indonesien erleben müssen. Solche Konflikte zerstören die Ergebnisse einer jahrelangen Förderung. Deshalb wollen wir die Ursachen der Krisen an der Wurzel bekämpfen. Da ich höre, daß in dieser Woche in Osttimor keine Chirurgen und keine ärztliche Versorgung zur Verfügung stehen, bitte ich die Bundesregierung - möglicherweise mit EU-Hilfe -, gute Dienste anzubieten. Denn wir wollen die Wurzel der Gewalt bekämpfen, und Hoffnungslosigkeit ist häufig eine dieser Wurzeln. Die Entwicklungs- und Wirtschaftspartnerschaft muß aber um die politische Dimension erweitert werden. Deshalb ist die Demokratisierung in den Entwicklungsländern der Dreh- und Angelpunkt. Der politische Dialog ist das Schlüsselwort und die Grundlage für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen EU und AKP-Staaten. Es geht uns nicht darum, dort ein Spiegelbild Europas zu schaffen. Vielmehr müssen traditionelle und demokratische Strukturen verzahnt werden. Die Entwicklungsländer sollen sich in der Zusammenarbeit wiederfinden. Unsere Forderungen nach Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der MenschenPeter Weiß ({3}) rechte sollen einen internationalen Mindeststandard garantieren. Bei Verletzung dieser Standards muß eine gemeinsam mit den AKP-Staaten vereinbarte Suspendierungsklausel greifen. Gelder können dann ausgesetzt oder gestoppt werden. Ein zweiter wesentlicher Punkt bei der Reform der europäischen Entwicklungszusammenarbeit sind die Handlungsbeziehungen. Die Armutsbekämpfung ist für uns zentral. Die Sicherung der Ernährung in den Entwicklungsländern selbst muß - auch als Wirtschaftsund Arbeitsmarktfaktor - Vorrang haben. Die Wirtschaftsinteressen der EU müssen das berücksichtigen. Übrigens fehlt auch dieser Aspekt in den Oppositionsanträgen. Wichtigstes Instrument ist für uns die Agrarund Fischereipolitik. Das bedeutet Abbau von Subventionen und Öffnung unserer Märkte. Es kann doch nicht sein, daß in Entwicklungsländern Viehwirte ihr Rindfleisch nicht verkaufen können, weil billigeres subventioniertes Fleisch aus den EU-Ländern importiert wird. Solange das so ist, leisten wir keine Hilfe. ({4}) Es sind Handelsregeln notwendig, die an das Entwicklungsniveau der einzelnen Länder flexibel anpaßbar sind. Wir wollen den Entwicklungsländern den Zugang zum Weltmarkt erleichtern. Unsere soziale Marktwirtschaft wird sich daran messen lassen, ob wir dazu bereit und in der Lage sind. Insofern können wir über Kriterien der sozialen Marktwirtschaft diskutieren. ({5}) Ich denke, daß es richtig ist, daß wir die kulturellen und sozialen, aber auch die technischen Besonderheiten im jeweiligen Land bei der Unterstützung berücksichtigen. Denn nur so werden wir Akzeptanz bekommen, und nur so werden wir erreichen, daß die Entwicklungsprojekte in den betroffenen Ländern auch tatsächlich nachhaltig sind. Außerdem ist zu überlegen, ob ein EU/AKP-Verbindungsbüro bei der WTO angesiedelt werden sollte und ob es nicht Sinn macht, Europa auch in der Weltbank eine eigene Stimme zu geben. Wir müssen auch darauf achten, daß in diesen Bereichen nicht nur Finanzgewaltige, sondern auch Entwicklungsexperten sitzen. Demokratie und wirtschaftliche Prosperität müssen Hand in Hand gehen. Deshalb wollen wir die demokratische Entwicklung und Wirtschaftskraft in den Entwicklungsländern gleichzeitig stärken und Planungssicherheit schaffen. Unter diesem Aspekt muß die Mittelvergabe an einen längeren Zeitraum gebunden sein. Gleichzeitig muß eine Fortschrittsevaluierung gesichert werden. Es geht nicht nur um die EU. Auch die Beziehungen der Entwicklungsländer untereinander müssen verbessert werden. Das Europa der Regionen ist ein Beispiel dafür, wie wichtig regionale Zusammenarbeit ist. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben von „good governance“ gesprochen. Mit der Politik der „good governance“ können wir die Zivilgesellschaft stärken. Aber „good governance“ gilt für alle beteiligten Seiten. Insbesondere sind die Entwicklungsländer vor Korruption von dritter Seite zu schützen. Es treibt einem die Schamröte ins Gesicht, wenn eine afrikanische Ministerin, die übrigens in ihrem Land für die Ölförderung zuständig ist, nach nur drei Wochen Amtszeit ein Angebot von europäischen Gönnern bekommt, sich in Genf ein Konto einrichten zu lassen. ({6}) Dazu fällt mir nur noch eine Aussage von Gustav Heinemann ein: Wer mit einem Finger auf andere zeigt, weist mit drei Fingern auf sich selbst zurück. Die Interessen beider Seiten müssen in einem gleichberechtigten Dialog berücksichtigt werden. Die Atmosphäre, die ich bei der Lomé-Konferenz in Dakar erlebt habe, stimmt mich optimistisch, daß dies möglich ist. Das ist auch ein Verdienst unserer Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Kompliment und Anerkennung! ({7}) Wir wollen aber auch lokale und regionale Gruppen in die politische Vorbereitung unserer Entwicklungshilfemaßnahmen stärker einbeziehen. Machen wir auch Mut für kommunale Partnerschaften zwischen Städten der EU und AKP-Staaten! Meine eigenen Erfahrungen aus meinem Wahlkreis, der zusammen mit einer französischen Partnerstadt und mit einer Region in Burkina Faso Entwicklungszusammenarbeit betreibt, sind überzeugend. Wer gesehen hat, wie junge Leute nach vier Wochen Aufenthalt in dieser afrikanischen Region verändert zurückkommen, nachdem sie in einem armen Land Gastfreundschaft, Herzlichkeit und eine andere Kultur erlebt haben, der stellt fest, daß es sich bei der Entwicklungszusammenarbeit auch um ein Geben und Nehmen handelt, nicht nur um ein Geben. Das muß auch eine der Grundlagen unserer Entwicklungspolitik sein. ({8}) Die europäischen Länder müssen ihre Konzepte austauschen. Sie müssen gemeinsam vor Ort zu einer abgestimmten Zusammenarbeit gelangen. Nicht die Addition, sondern die Vernetzung und Verzahnung von Entwicklungshilfe führt zu nachhaltigem Erfolg. Wichtig ist, daß wir dies in einer Partnerschaft betreiben. Lassen Sie mich zum Schluß meine zentralen Forderungen wiederholen: erstens Bündelung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, zweitens Reform der europäischen Entwicklungszusammenarbeit durch Einführung von Krisenprävention und Förderung der Handelsbeziehungen, drittens Förderung der Kohärenz der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, viertens Steigerung der Effektivität durch flexiblere Instrumente. Wenn wir hierbei Erfolg haben, arbeiten wir erfolgreich für die Demokratisierung, die wir alle wollen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Auch dem Kollegen Dzembritzki möchte ich zu seiner ersten Rede gratulieren. ({0}) Nun gebe ich der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul, das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine EURatspräsidentschaft dauert sechs Monate. Für eine EUEntwicklungspolitik - das wissen Sie alle, Herr Hedrich, und auch die, die vorher in diesem Bereich tätig waren braucht man jedoch lange Entwicklungslinien und auch einen langen Atem sowie Visionen, Perspektiven, aber auch Hartnäckigkeit und Zähigkeit gegenüber allen Widerständen und Widerwärtigkeiten, um die eigene Linie durchhalten zu können. Wir haben die deutsche Ratspräsidentschaft vorbereitet. Wir haben im November letzten Jahres beim ersten Ministerrat der Europäischen Union nach dem Bonner Regierungswechsel sozusagen im Vorfeld der Troika mitgearbeitet. Wir werden auch die finnische Ratspräsidentschaft begleiten, die ab Juli die Arbeit übernimmt. Wir haben selbstverständlich auch im Vorfeld der Formulierung der Anträge diese Positionen während unserer Ratspräsidentschaft seit Januar vertreten. Da ich im AwZ dazu immer Berichte abgebe, verzichte ich jetzt auf die Details in diesem Bereich. Sie wissen, daß wir in Dakar - das ist wichtig; ich bitte darum, das positiv zur Kenntnis zu nehmen - sehr viel weitergekommen sind, als man auf Grund des Ausgangsmandats der EU und auch der AKP-Staaten befürchten mußte. Ich möchte Sie, Herr Brauksiepe und alle Kolleginnen und Kollegen, die zu diesem Thema gesprochen haben, bitten, keine künstlichen Differenzen aufzubauen. Wir können uns über wirklich notwendige Sachen streiten. Aber zur Entschuldung der ärmsten Entwicklungsländer könnte ich auch sagen, daß das, was die vorherige Bundesregierung gemacht hat - ein Schuldenerlaß von 9 Milliarden DM -, noch aus dem UNCTADBeschluß von 1978 stammt, der in die Regierungszeit der sozialliberalen Koalition fällt. Meine Güte, was für diejenigen Kinder, die verhungern, oder für diejenigen Menschen, die in Armut leben, wichtig ist, ist, daß wir schnell einen Schuldendiensterlaß von 30 Milliarden DM auf den Weg bringen und die frei werdende Geldsumme in das Gesundheitswesen der entsprechenden Länder umorientieren. Das würde sieben Millionen Kindern das Leben retten. ({0}) Es ist in Ordnung, wenn Sie uns in der Entschuldungsstrategie gegenüber armen Entwicklungsländern unterstützen. Diesen Plan wollen wir auf dem G-7-Gipfel verwirklichen. In diesem Bereich gibt es interessante Unterstützung, zum Beispiel die von James Wolfensohn, dem Präsidenten der Weltbank, von vor wenigen Tagen in Berlin. Und der amerikanische Präsident hat gesagt, es bedürfe eines Schuldenerlasses im Umfang von 70 Milliarden DM. Wenn der G-7-Gipfel nur diesen einen Beschluß wirklich in Politik umsetzen würde, dann hätten wir in unserer Entwicklungspolitik etwas erreicht. Das wäre gut so. Darauf könnten alle stolz sein. ({1}) Werner Schuster hat vom Tatort Afrika gesprochen. Es geht auch hier um lange Linien, liebe Kolleginnen und Kollegen. Der Konvention gegen die Antipersonenminen, gegen Landminen ging ein ganz langer Kampf voraus. Wir haben es aber jetzt durchgesetzt, daß Landminen geächtet werden, daß kein Transfer, keine Produktion und keine Verlagerung in die entsprechenden Länder mehr stattfinden darf. Wir fordern alle Länder, die diese Konvention noch nicht unterschrieben haben - die USA, China und Rußland -, auf, sich dieser Konvention anzuschließen, damit wir in diesem Bereich vorankommen. ({2}) Ein weiterer Punkt ist mit dem vorherigen vergleichbar, wenn auch nicht identisch. Es geht darum, dafür zu sorgen, erst einmal in der EU und dann hoffentlich auch UN-weit eine Konvention zustande zu bringen, daß dem millionenfachen Transfer von Kleinwaffen - so werden sie verniedlichend genannt; es geht um Gewehre, Handfeuerwaffen und Pistolen - ein Ende gemacht wird. Das ist die Voraussetzung dafür, daß sich afrikanische Länder nicht länger gegenseitig niedermetzeln und Kindersoldaten nicht mehr mit Gewehren und Pistolen in Kriege gegeneinander gehetzt werden. Lassen Sie uns alle gemeinsam dazu beitragen, diesem Skandal und diesen Verbrechen ein Ende zu setzen. Wenn das geschieht, dann haben wir doch etwas erreicht! ({3}) Dieses Problem beschäftigt doch jeden von uns und kann doch niemanden gleichgültig lassen. Wir haben es hier mit europäischer Entwicklungspolitik zu tun; denn kein Land kann dabei allein vorangehen. Zu dem, was in der Ratspräsidentschaft unmittelbar ansteht, möchte ich sagen: Wir werden unsere Pläne umsetzen. Es geht vor allen Dingen darum, die Wirksamkeit der europäischen Entwicklungszusammenarbeit zu verstärken. Es liegen mittlerweile die Berichte zur Evaluierung der EU-Entwicklungspolitik vor. Ich möchte Ihnen drei wichtige Elemente nennen, die wir umsetzen werden. Das erste ist, daß die europäische Entwicklungszusammenarbeit im Vergleich zu anderen Gebern nicht ausreichend strategisch konzipiert ist. Das zweite ist - das wundert uns nicht, es ist aber wichtig, daß das jetzt gesagt wird -, daß die fehlende Abstimmung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten den Wettbewerb zwischen den Gebern erhöht und damit die Verwaltungen der Entwicklungsländer belastet. Das ist eine absurde Situation. Das dritte ist, daß eine Entwicklungszusammenarbeit aus einem Guß geschaffen werden muß. Sie muß zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten so abgestimmt werden, daß sie zu mehr entwicklungspolitischem Einfluß auf die jeweiligen Länderkonzepte führt. ({4}) - Darauf wollte ich gerade kommen, Herr Kollege. Das Ministerium hat vor, während der deutschen Ratspräsidentschaft diese Ergebnisse aus der Evaluierung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit auf die Tagesordnung des nächsten Ministerrates am 21. Mai zu setzen und daraus entsprechende Schlußfolgerungen für die Politik der Europäischen Union zu ziehen. Vor zwei Tagen hatten wir - einer der Kollegen hat darauf hingewiesen - ein informelles Treffen der EUEntwicklungsminister in Berlin, die auf meine Einladung hin dort waren. Es bestand Einvernehmen zwischen uns allen darüber, daß es jetzt, nachdem die EUKommission selber die Konsequenzen gezogen hat, an der Zeit ist, daß nur eine Person, Mann oder Frau, in der Europäischen Kommission für den Bereich der Entwicklungspolitik zuständig ist. Dafür sollten die Regierungen sorgen, damit es nicht durch die Zuständigkeit unterschiedlicher Stellen für diesen Bereich zu Verzettelungen kommt. Wir alle waren der Meinung, daß dieses notwendig ist. ({5}) Weiter haben alle EU-Entwicklungsminister gesagt, daß keine Zeitverzögerungen bei den Verhandlungen mit den AKP-Staaten eintreten dürfen. Das sage ich hier ausdrücklich noch einmal zu. Es bleibt bei dem entsprechenden Zeitplan. Zur Ratspräsidentschaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sind wahrscheinlich alle gleichermaßen darüber empört: Wir reden alle über Kohärenz und da ist es doch ein Skandal, daß die Unterzeichnung des Handelsabkommens mit Südafrika vor dem Ende der Amtszeit Mandelas daran zu scheitern droht, daß manche Mitgliedstaaten die Begriffe „Port“ und „Sherry“ für sich reserviert sehen wollen. Da ist ein Mann jahrzehntelang im Gefängnis und schafft es dann, die Demokratie in Südafrika voranzubringen und die Apartheid zu beseitigen, Präsident Mandela, und die Europäische Union soll nicht imstande sein, dieses Handelsabkommen mit Südafrika so rechtzeitig abzuschließen, daß dieses Ereignis noch in die Amtszeit von Präsident Mandela fällt? Ich fordere alle Regierungen auf, dazu beizutragen, daß dieses Handelsabkommen endlich beschlossen wird. ({6}) Vorhin wurde ich von Herrn Kollegen Weiß und anderen nach dem informellen Treffen gefragt: Alle waren davon begeistert, daß wir zum erstenmal auf der Ebene der EU - das wurde noch während keiner Ratspräsidentschaft praktiziert - ein Seminar mit den EU-Entwicklungsministern, von denen fast alle da waren, und Nicht-Regierungsorganisationen hatten. Zum einen wurden die bürokratischen Hemmnisse innerhalb der EU angesprochen. Wir werden dieses Problem anpacken und versuchen, sie auszuräumen. Zum anderen haben wir festgestellt, daß wir viele gemeinsame Ziele haben: Zum Beispiel ist unser gemeinsames Ziel im Verhältnis zu den AKP-Ländern, dort die Zivilgesellschaft auszubauen und in den Partnerländern dazu beizutragen, daß Menschenrechte gesichert werden, daß Demokratie und gute Regierungsführung verwirklicht werden und daß die Menschen in diesen Ländern an den Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt werden. ({7}) Eines ist doch sicher, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es wird keinen Frieden und keine Entwicklung geben, wenn nicht die breite Bevölkerung in diese Entwicklungen einbezogen wird. Deshalb muß die EU-Entwicklungspolitik die Beteiligung der Mitgliedsländer, der Entwicklungsländer und der NichtRegierungsorganisationen an diesen Prozessen voranbringen. Von unserer Seite aus werden wir das tun. Wir haben mit dem Seminar deutlich gemacht, daß wir uns ein gemeinsames Herangehen aller Beteiligten wünschen. Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen. ({8}) Ich möchte mich dafür entschuldigen, daß ich etwas länger gesprochen habe. Aber in dieser Debatte ging es um Probleme, die uns allen am Herzen liegen. Ich bitte um Nachsicht, daß meine Rede etwas länger als geplant war. Eine ausreichende Behandlung dieses Themas sind wir aber den Menschen, die ihre Hoffnung in uns setzen, schuldig. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Vizepräsident Seiters hat Ihnen die verlängerte Redezeit zu Recht ein- geräumt, Frau Ministerin, weil es eine wichtige Rede war. Ich schließe mich seiner Auffassung an. Damit ist die Aussprache beendet. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/538, 14/537 und 14/531 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/538 soll zu- nächst dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Re- aktorsicherheit überwiesen werden. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- sungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau und der Fraktion der PDS Sofortiger unbefristeter Abschiebestop für Flüchtlinge in die Türkei - Drucksache 14/331 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({0}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi Lippmann-Kasten, Dr. Dietmar Bartsch, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Einleitung eines internationalen Friedensprozesses zur Situation der Kurdinnen und Kurden in der Türkei - Drucksache 14/470 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({1}) Verteidigungsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Wir beginnen die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor allem viele Anfragen von Asyl- und Flüchtlingsorganisationen und von Personen aus dem Bereich des Kirchenasyls und die große Anzahl der Petitionen haben uns vor einigen Wochen dazu bewogen, einen Antrag hinsichtlich eines sofortigen Abschiebestopps in die Türkei zu stellen. Wir wissen alle, daß es inzwischen eine erhebliche Zuspitzung der Situation in der Türkei insbesondere durch die Verschleppung von Abdullah Öcalan gegeben hat. Ich möchte meinen Beitrag mit einem Zitat aus einem Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom Februar 1999 beginnen: Angesichts der zur Zeit hochemotionalisierten Atmosphäre im Zusammenhang mit der Inhaftierung Öcalans ist jedoch zu bedenken, daß ein erhöhtes Risiko einer besonderen Gefährdung für abzuschiebende Türken kurdischer Volkszugehörigkeit besteht. Wer es also ernst mit seiner Sorge um die Lage der Menschenrechte in der Türkei meint, müßte schon allein auf Grund dieses Satzes einen sofortigen Abschiebestopp fordern. Ich möchte ganz kurz wenige Fakten zur aktuellen Lage nennen: In der Zeit vom 16. bis 24. Februar, also in der Zeit unmittelbar nach der Verhaftung von Öcalan, hat es allein in der Westtürkei rund 3 370 Verhaftungen gegeben. In der Türkei findet gegenwärtig eine Hetzkampagne unvorstellbaren Ausmaßes gegen die kurdische Bevölkerung statt. Kurdinnen und Kurden werden verhaftet; Razzien finden statt; Kurdinnen und Kurden werden in der Haft Repressionen ausgesetzt; Folter und weitere Verfolgung stehen auf der Tagesordnung. Wenn wir heute über Abschiebung sprechen, dann möchte ich mich nicht nur auf die aktuelle Situation beziehen, sondern ich möchte Sie daran erinnern, daß Amnesty International erst vor kurzem darauf hingewiesen hat, daß es in der Westtürkei eben nicht die Fluchtalternative in Richtung Westen gibt. Ich zitiere aus dem entsprechenden Bericht: Immer weniger ist dabei ein konkreter Tatverdacht gegen die Betroffenen ausschlaggebend. - Gemeint sind die Kurden. Immer wieder werden von Kurden bewohnte Stadtteile abgeriegelt und kurdische Versammlungen und Feste gestört und willkürlich Personen festgenommen. Die Festgenommenen sind während der Polizeihaft sehr häufig Mißhandlungen und Folter ausgesetzt. Die kurdischen Provinzen sind von der türkischen Regierung zu „verbotenen Orten“ erklärt worden. Das heißt, gegenwärtig kann niemand nach Kurdistan reisen. Delegationen, die dies in den vergangenen Tagen und Wochen versucht haben, wurden direkt am Flughafen in Diyarbakir abgefangen und per Flugzeug nach Ankara und Istanbul zurückgebracht. Unsere Einschätzung ist eindeutig: Mit den Verschärfungen bei der Einreise will man derzeit verhindern, daß es Zeugen des Krieges in Kurdistan gibt. Deswegen werden auch türkische Journalisten nicht ins Land gelassen. Der Ausnahmezustand wird in einem Ausmaß durchgesetzt, daß es unmöglich ist, gesicherte Informationen zu erhalten. Ich möchte hier aber auch in aller Kürze darauf hinweisen, daß Bündnis 90/Die Grünen eine Dokumentation über abgeschobene Flüchtlinge herausgegeben haben, die nach der Abschiebung in der Türkei festgenommen, verfolgt und gefoltert wurden. Auch Fernsehreporter wie Michael Enger - ich kann leider nicht alle aufführen - haben deutlich gemacht und durch Materialien bewiesen, daß Menschen, die aus Deutschland abgeschoben wurden, Verfolgung erlitten haben. Ich zitiere: Alle, die wir gefunden haben, sind direkt nach der Ankunft in der Türkei inhaftiert und gefoltert worden. Ich kann das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen hier im einzelnen nicht beschreiben, dazu fehlt mir die Zeit. Ich möchte Sie daran erinnern, wie viele Menschen Jahr für Jahr in der Türkei verschwinden. Denken Sie an die Aktionen der „Samstagsmütter“, die inzwischen keine Chance mehr haben, ihre Aktionen ganz normal in Istanbul oder Ankara durchzuführen, da sie permanent von Übergriffen betroffen sind. Vizepräsidentin Anke Fuchs In dieser Situation - das wissen wir alle - hat es Ausschreitungen und Anschläge gegeben. Sicher wird das niemand gutheißen. Dennoch bin ich der Meinung, daß der Innenminister seine Position aufgeben muß, die Kanthersche Linie fortzusetzen, die da hieß, daß man allein einer Versicherung, einer Garantie der türkischen Regierung, Abgeschobenen würde nichts passieren, traut, der Garantie eines Staates, der - das wissen wir ganz genau - Menschenrechtsverletzungen begeht, der keine rechtsstaatliche Behandlung Menschen kurdischer Herkunft kennt. Deswegen darf es nicht die Politik von Herrn Schily sein, diese Politik fortzusetzen, wie es jedenfalls im Moment geplant ist. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Kommen Sie zum Schluß, Frau Kollegin.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja. - Ich möchte zum Schluß noch zwei Sätze zu unserem Antrag, der die friedliche Lösung betrifft, sagen. Sie alle wissen, daß die Bundesrepublik Deutschland seit langem eine Politik betreibt, die zu Ursachen von Flucht führt. Ich nenne hier die Waffenexporte. Ich möchte Sie daran erinnern, daß erst jüngst eine Anfrage der PDS genauso beantwortet wurde, wie von der alten Bundesregierung: Man habe keine Erkenntnisse, daß deutsche Waffen in Kurdistan eingesetzt werden. Ich brauche Ihnen - so glaube ich - nicht zu sagen, wie viele Beweise es dafür gibt und wie viele Beweise noch vorgelegt werden können.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluß kommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, ich komme zum Schluß. Ich bin der Meinung, daß es nur dann eine friedliche Lösung geben kann, wenn sich dieses Haus im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft dafür einsetzt, endlich eine internationale Friedenskonferenz durchzuführen. Außerdem muß der Waffenexport gestoppt werden. Und, meine Damen und Herren: Reden Sie nicht nur von der Rechtsstaatlichkeit des Prozesses gegen Abdullah Öcalan, sondern überprüfen Sie, was dort passiert. Danke. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Rüdiger Veit, SPD-Fraktion.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Während Frau Zapf zum außenpolitischen Teil des heutigen Themas reden wird, will ich mich dem innenpolitischen Teil zuwenden. Ich sage das Ergebnis vorweg: Die SPD-Fraktion schlägt Ihnen vor, den Antrag der PDS an die zuständigen Ausschüsse zu überweisen. Ich tue das, obwohl ich Ihnen den auf etwas Unmögliches gerichteten Antrag sehr leicht sofort zur Ablehnung empfehlen könnte; denn die Bundesregierung und ihr Innenminister sind für die Anordnung eines wie auch immer gearteten Abschiebestopps im Sinne des § 54 des Ausländergesetzes schlicht nicht zuständig. Die Initiative liegt bei den obersten Landesbehörden, das heißt, bei den Innenministern der Länder. Diese bedürfen der Zustimmung des Bundesministers des Innern nur dann und insoweit, als sie einen von ihnen angeordneten Abschiebestopp über sechs Monate hinaus verlängern wollen. Unter welchen Voraussetzungen, nämlich einstimmiges Wollen der Länderinnenminister - wie Herr Kanther meinte -, Zweidrittelmehrheit Länderinnenminister - wie die Innenministerkonferenz politisch festgelegt hat - oder lediglich ein entsprechender Vorstoß von einigen Bundesländern oder sogar nur einem Bundesland, dies dann zu geschehen hat, will ich heute mit Ihnen nicht juristisch ausdiskutieren. Das können wir hier und heute auch nicht. Eine politische Bewertung dieses Hauses und ein darauf gestütztes Signal des Bundesinnenministers aber würde zumindest dazu führen, daß sich die Länderinnenminister in ihrer humanitären Verantwortung nicht mehr voreinander und auch nicht mehr hinter dem Bundesinnenminister verstecken können. Deswegen will ich das in Ihrem Antrag sich verbergende Anliegen nicht mit einem formalen Hinweis abbügeln, zumal der politische Schutt von Unglaubwürdigkeiten und Widersprüchen im außen- wie innenpolitischen Handeln den Türken und den Flüchtlingen gegenüber, den uns die Vorgängerregierung und die sie tragende Mehrheit hinterlassen hat, endlich abgeräumt und eine neue, glaubwürdige Position erst wieder aufgebaut werden muß. ({0}) Schließlich muß man es schon fast zynisch nennen, daß einige Innenminister, insbesondere von B-Ländern, kurdische Flüchtlinge unter zum Teil heftigem Zuspruch des früheren Bundesinnenministers nach Kräften in die Türkei abgeschoben haben, die sich tragischerweise gerade in ihrer alten Heimat mit ebenfalls aus Deutschland stammenden Waffen, zum Beispiel aus ehemaligen NVA-Beständen, konfrontiert sahen. ({1}) - Eben. - Die frühere Bundestagsmehrheit und die Regierung folgten eher der Einschätzung des NATOPartners, Europa- und OSZE-Mitglieds und EUAspiranten Türkei, die Problematik der Unterdrückung des kurdischen Volkes reduziere sich auf bloße Terrorismusbekämpfung. Dies hat allerdings mittlerweile mehr als 40 000 Menschenleben gekostet. In diesem Kontext unterscheidet sich auch der letzte Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. September 1998 praktisch durch nichts von früheren. Die darin fast inflationär gebrauchten Beruhigungsformeln stanUlla Jelpke den nicht selten im krassen Gegensatz zu dem, was Betroffene, Menschenrechtsorganisationen oder Reisende aus der Türkei an Einschätzungen berichtet haben. ({2}) Wohl aber - das ist richtig, Frau Jelpke - enthält der Adhoc-Lagebericht vom 25. Februar 1999 in Kurzfassung er umfaßt eine Seite - neue Gesichtspunkte. Daher ist jetzt eine differenzierte Betrachtung des durch den Antrag der PDS angesprochenen Problems angesagt. Dazu gehört vorab der Hinweis, daß es sich natürlich nicht um einen sofortigen und unbefristeten Abschiebestopp für sämtliche Flüchtlinge aus der Türkei handeln kann. Es geht vielmehr um die friedlich bei uns lebenden Türken, die keinen rechtlich gesicherten Aufenthaltsstatus haben, genauer gesagt: um die zirka 70 bis 80 Prozent aller in die Türkei abgeschobenen bzw. noch abzuschiebenden Flüchtlinge kurdischer Volkszugehörigkeit. Für sie ist im Lichte einer aktuellen Einschätzung des Auswärtigen Amtes die Frage nach der Rechtfertigung eines Abschiebestopps - wohlgemerkt: zu initiieren durch die Länder - genauestens zu prüfen. Ich hoffe im übrigen sehr, daß die herrschende Verwaltungsrechtsprechung ihre Auffassung von der angeblich sicheren Fluchtalternative in der Westtürkei als Grund für die Nichtgewährung des Asylrechtes ebenfalls neu bewertet. ({3}) Die SPD-Bundestagsfraktion geht zum einen davon aus, daß diese Koalition und ihr Bundesinnenminister zu dem Thema Abschiebestopp zweifelsfrei andere Vorstellungen haben als die Vorgängerregierung. Allein deswegen bedarf es einer inhaltlichen Befassung. Zum anderen erwarten wir von einem grünen Außenminister einer rotgrünen Koalition, daß die von ihm weiterzugebende Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes ohne Rücksicht auf die Interessen der Rüstungsindustrie und ohne Rücksicht auf außenpolitische Interessen Dritter die Menschenrechtslage in der Türkei ungeschminkt und so realitätsnah wie möglich darlegt. Zum dritten und letzten ist seit der Festsetzung des PKK-Führers Abdullah Öcalan, wie wir alle fast täglich den Nachrichten entnehmen können, eine beklagenswerte, von allen Seiten zu verantwortende Verschärfung der Menschenrechts- und Sicherheitslage eingetreten. Mit diesen gebotenen Differenzierungen sollten wir nach der Bewertung eines neuen Lageberichtes aus dem Auswärtigen Amt, der dem Vernehmen nach zur Zeit auf der Leitungsebene behandelt wird und womöglich schon unterschrieben ist, in den Ausschüssen beraten. Die Koalitionsfraktionen behalten sich vor, alsdann eine eigene parlamentarische Initiative zu diesem Thema einzubringen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das war Ihre erste Rede, Herr Kollege Veit. Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses. ({0}) Ich erteile der Kollegin Sylvia Bonitz, CDU/CSUFraktion, das Wort.

Sylvia Bonitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die PDS schlägt vor, einen sofortigen, unbefristeten und bedingungslosen Abschiebestopp für Flüchtlinge in die Türkei zu erlassen. Sie fordert daneben die Einleitung eines internationalen Friedensprozesses zur Kurdensituation in der Türkei. Doch die Lösung dieses außenpolitischen Problemes ist längst zu einem innenpolitischen Brandherd in Deutschland geworden. Die PDS ignoriert diese Brisanz. ({0}) Sie ignoriert diese Brisanz in einer Zeit, in der die Bilder der gewaltsamen Kurdenproteste und ihrer Opfer noch allgegenwärtig sind, in der die Anhänger der verbotenen PKK die Demonstrationsfreiheit für ihre Angriffe gegen Menschen, Einrichtungen und die freiheitliche Grundordnung unseres Landes mißbrauchen ({1}) und in der unsere volle Solidarität unseren Polizeibeamten gilt, die in diesem schwierigen Einsatzfeld Dienst tun. ({2}) Kein normaler Bürger auf der Straße kann mehr verstehen, warum die Gewalttäter weiterhin in Deutschland bleiben und unser Gastrecht mißbrauchen dürfen. Schlimmer noch: Wir sehen mittlerweile hilflos zu, wie sich einige kurdische Fanatiker, die sich durch eine besonders hohe kriminelle Energie auszeichnen, erst durch ihre Gewalttaten überhaupt das Recht verschaffen, trotz Ausweisung in Deutschland bleiben zu dürfen, und dies mit der abenteuerlichen Begründung, ihre Gewalttaten seien als besonderes Engagement für die PKK nun auch dem türkischen Geheimdienst aufgefallen, so daß diese „armen Menschen“ bei ihrer Rückkehr in die Türkei nicht mehr vor Folter oder Tod sicher sein könnten. ({3}) Weil das so ist, wird selbst der Bundeskanzler unschwer erkennen können, daß markige Sprüche, wie sie zum Teil auch von Ihnen hier gekommen sind, allein noch zu keiner Ausweisung und anschließenden Abschiebung geführt haben. ({4}) Weil das so ist, hätte die rotgrüne Bundesregierung wesentlich wirkungsvoller für eine menschenwürdige Behandlung der Kurden in der Türkei auftreten müssen, als sie noch das Druckmittel des Auslieferungsersuchens im Fall Öcalan in der Hand hatte. ({5}) Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Beseitigung von Abschiebungshindernissen. Aber vermutlich fällt es Herrn Minister Schily schwer, das Konsultationsverfahren als erfolgversprechenden Ansatz, den noch der frühere Innenminister Manfred Kanther geliefert hat, aufzunehmen und gerichtsfest fortzuentwickeln. ({6}) Angesichts der mit äußerster Brutalität ausgeführten gewalttätigen Aktionen fanatischer Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK ist ein genereller Abschiebestopp von Kurden in die Türkei ein Signal in die falsche Richtung. Es könnte fatale Folgen haben, zumal im Falle einer Verurteilung Öcalans mit weiteren massiven Protesten zu rechnen ist.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Sylvia Bonitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte im Zusammenhang vortragen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Danke schön.

Sylvia Bonitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die in § 53 Ausländergesetz festgelegten Abschiebungshindernisse verlangen zudem, daß für einen zur Abschiebung anstehenden Ausländer die konkrete Gefahr - ich wiederhole: die konkrete Gefahr - der Folter oder Todesstrafe besteht. Für die Verhängung eines sofortigen generellen Abschiebestopps bleibt daher schon aus diesem Grunde kein Raum. Die PDS mißachtet nicht nur den Anspruch unserer Bevölkerung, vor solchen Gewalttätern geschützt zu werden. Nein, sie schlägt mit ihren Anträgen vielmehr all denjenigen Flüchtlingen ins Gesicht, die vor dem Hintergrund teilweise erschütternder Einzelschicksale Zuflucht in unserem Land gesucht haben, um sich hier in unsere Ordnung einzufügen und die Spielregeln unseres Landes zu respektieren. Diese Menschen wie auch wir von der CDU/CSU-Fraktion blicken mit Unverständnis, Sorge und Entsetzen auf die wenig friedlichen Gäste in unserem Land; denn wir gewähren ihnen Schutz vor politischer Verfolgung und Flüchtlingselend und lassen sie an den Wohltaten unserer umfassenden staatlichen Sozialfürsorge teilhaben. ({0}) Aber wir können und wir wollen nicht hinnehmen, daß diejenigen, die durch besondere Gewalttätigkeit aufgefallen sind, nun auch noch mit einem generellen Abschiebungsstopp belohnt werden sollen. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin Bonitz, das war Ihre erste Rede im Parlament. Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses. ({0}) Jetzt liegen mir zwei Bitten um Zwischenbemerkungen vor. Ich will sie gerne zulassen. Ich gucke nur alle an, die zu ihrem Zug wollen, und frage mich, ob wir uns dadurch Sympathie einhandeln. ({1}) Zur ersten Zwischenbemerkung der Kollege Veit, bitte.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich möchte es kurz machen. Ich habe dies nicht in die Form einer Zwischenfrage gekleidet, weil Sie heute ebenso wie ich Ihre erste Rede gehalten haben; aber ich will Ihnen schon noch einmal sagen: Von denjenigen, die auf Grund ihrer zum Teil kriminellen PKK-Aktivitäten hier in Deutschland aufgefallen sind, kann nach Flüchtlingskonvention und Europäischer Menschenrechtskonvention sowieso niemand abgeschoben werden. Das sollten Sie bitte wissen. Um sie geht es nicht in dem Antrag, und um sie ging es auch nicht in meinem Redebeitrag. Ich will Sie davon in Kenntnis setzen, daß das Verfahren, das der frühere Bundesinnenminister mit seinem früheren türkischen Kollegen verabredet hat, seit anderthalb Jahren, nicht erst seit September, deswegen nicht mehr funktioniert, weil die türkische Regierung den deutschen Abschiebebehörden überwiegend nicht mehr antwortet. Schon deswegen geht das ins Leere. Das ist keine Möglichkeit für die Zukunft. Ich bitte um Nachsicht dafür, das hier noch einmal sagen zu müssen. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, Sie können nachher auf alle drei Zwischenbemerkungen antworten. Jetzt hat der Kollege Ströbele das Wort zu einer Zwischenbemerkung.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bitte Sie, wenn Sie diese Ihre Thesen hier vortragen, doch einmal klar und deutlich dem deutschen Volk und der deutschen Öffentlichkeit zu sagen, daß jemand, der in Deutschland beispielsweise an einer verbotenen Demonstration teilgenommen hat oder auch andere Delikte begangen hat, nach Ihrer und der CDU Auffassung in die Türkei abgeschoben werden soll, auch wenn er dort gefoltert wird, indem ihm Elektroschocks versetzt werden, indem ihm die Hoden geklemmt werden, indem er in anderer Weise malträtiert wird. Das möchte ich dann auch einmal so hören und nicht immer nur ein Drumherumgerede. Jeder soll sich vorstellen können, was Sie für richtig halten und was nicht. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat die Kollegin Heidi Lippmann das Wort zu einer Zwischenbemerkung. Bitte sehr.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin, Sie sind noch sehr jung. Deswegen möchte ich sagen: Sie haben vielleicht die Gnade der späten Geburt in Anspruch genommen. 16 Jahre lang ist von seiten der Bundesregierung Sie gehören einer der sie damals tragenden Parteien an eine ganz massive freundschaftliche Politik betrieben worden. Im Rahmen eines bilateralen Abkommens zwischen der Bundesregierung und der türkischen Republik und seit 1995 auch im Rahmen der NATO sind massiv Waffen geliefert worden; das ist hier zum Teil schon ausgeführt worden. Es hat eine massive finanzielle Unterstützung der türkischen Regierung gegeben, egal welche Partei dort an der Regierung war, womit diese in dem Krieg in Kurdistan, der in den östlichen Provinzen herrscht, einseitig unterstützt wurde. Das bedeutet: Die CDU/CSU hat einseitig eine der Kriegsparteien unterstützt und jahrelang nicht die Verantwortung dafür übernommen. Sie ist anscheinend bis heute nicht bereit Ihre Ausführungen haben das gezeigt -, die Verantwortung hierfür zu übernehmen. Von den Ausschreitungen, die es in den vergangenen Wochen nach der Verschleppung Abdullah Öcalans in die Türkei gegeben hat, hat sich die PKK häufig distanziert. Es sind einzelne fanatische Leute gewesen, die zu Unfrieden beigetragen haben. ({0}) Aber Sie müssen das als Reaktion auf die Politik des Schweigens und des Verharrens der Bundesrepublik Deutschland sehen. Sagen Sie doch hier und heute einmal ganz klar, was die PKK von der UCK unterscheidet, ({1}) die im Moment als Verhandlungspartner in Rambouillet mit am Tisch sitzt. Im Kosovo wird mit allen politischen und militärischen Mitteln versucht zu intervenieren. Weshalb gibt es keinerlei Bemühungen, Friedensmaßnahmen in der Türkei einzuleiten und den dringend erforderlichen Abschiebestopp damit in Verbindung zu bringen? Ich möchte Sie bitten, einmal in die Türkei zu fahren und sich vor Ort zu informieren, gerade angesichts der aktuellen Situation. Dann sprechen Sie vielleicht in ein, zwei Jahren anders, als Sie es hier heute getan haben. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, möchten Sie antworten? - Bitte sehr.

Sylvia Bonitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte gerne auf einiges eingehen, weil ich meine, daß das nicht so im Raum stehenbleiben kann. Ich habe sehr deutlich ausgeführt, daß eine Abschiebung nur als Konsequenz einer Ausweisungsverfügung erfolgen kann, und zwar unter den Voraussetzungen, die in § 53 Abs. 1 des Ausländergesetzes dargelegt sind. Dort steht, daß eine ganz konkrete Gefahr, wie möglicherweise bevorstehende Folter oder Tod, bestehen muß. Das heißt, es geht nicht um ein generelles Abschiebungsverbot. Was Sie von der PDS heute verlangen, ist ein Abschiebestopp, der generellen Charakter haben soll, der den Einzelfall nicht mehr berücksichtigt und auch, wie Herr Kollege Ströbele es hier ausgeführt hat, bei Ausländern anzuwenden wäre, die hier in Deutschland Delikte begangen haben. ({0}) - Liebe Kollegin, ich habe Sie aussprechen lassen. Seien Sie bitte so freundlich, auch mich aussprechen zu lassen. In den Fällen, in denen als Voraussetzung der Abschiebung eine Ausweisungsverfügung erlassen wird, muß ein ganzes Register von Straftaten zugrunde liegen, das unter Umständen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren führt. Das sind wirklich keine Delikte, sondern schwere Straftaten. Es geht nicht um Folter. Ich habe Ihnen gesagt, daß es um die Einzelfallprüfung geht und nicht um einen generellen Abschiebestopp, der den Einzelfall nicht mehr sieht. Ich möchte auch noch kurz auf den Kollegen Veit eingehen. Es wird deutlich, daß Herr Schily als neuer Innenminister hier im Grunde genommen eine Chance vertan hat, zusammen mit seinem Kollegen im Bereich des Auswärtigen. Denn die Bundesregierung hatte im Fall Öcalan das Druckmittel des Auslieferungsersuchens in der Hand. Wir hatten einen internationalen Haftbefehl. In dem Moment, als wir ihn noch hatten und damit die Chance, diesen Auslieferungsantrag zu stellen - das war bis zum Dezember letzten Jahres der Fall -, hätten wir sehr wohl ein Druckmittel gehabt - wenn Sie nicht fahrlässigerweise darauf verzichtet hätten -, um die Türkei zu Verhandlungen zu bringen. Die Verhandlungsbereitschaft jetzt, da Öcalan in den Händen der Türkei ist, geht natürlich tendenziell gegen null. Insofern kann ich durchaus verstehen, daß Herr Schily überhaupt keine Notwendigkeit sieht, wie er das auch über die Medien verkündet hat, mit der Türkei in neue Verhandlungen einzutreten. Das ist das Jämmerliche: daß alles unterbleibt, was getan werden könnte, um die Abschiebungshindernisse, nämlich die Gefahr von Folter und Tod, im entsprechenden Land zu vermeiden. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es um Menschenrechte, um verantwortliche Politik, um Mitverantwortung und um Glaubwürdigkeit, aber auch um Doppelbödigkeit von Politik. Diese wichtige Debatte, die wir heute beginnen, aber keinesfalls heute abschließen, richtet sich an die Türkei, aber auch an uns selber, an die Bundesrepublik Deutschland. Ich glaube, daß die zentrale Frage, die wir uns gemeinsam stellen müssen, ist: Wie kann deutsche Politik und wie kann die Politik der Europäischen Union zum Schutz der Menschenrechte in der Türkei und damit auch zur Demokratisierung der Türkei beitragen? Die Debatte ist notwendig und richtig, weil wir vor einer neuen Situation stehen. Erstens gibt es eine neue Bundesregierung, die sich vorgenommen hat, Menschenrechte zum Leitmotiv ihrer Politik zu machen. ({0}) Daran wird sich auch eine neue Türkeipolitik orientieren müssen. Zweitens stehen wir deshalb vor einer neuen Situation - darauf haben einige Vorrednerinnen und Vorredner schon hingewiesen -, weil es im Zusammenhang mit der Verhaftung von Abdullah Öcalan eine dramatische Verschlechterung und Zuspitzung der Menschenrechtslage in der Türkei gibt. Türkische Medien und Regierende haben einen Chauvinismus geschürt, der zu einer Pogromstimmung gegen kurdische Organisationen, wie zum Beispiel gegenüber der HADEP, geführt hat und der sich gegen Personen richtet, die sich für eine friedliche, für eine politische Lösung der Kurdenfrage einsetzen. Die türkische Regierung diffamiert in diesen Wochen die gesamte kurdische Bewegung als terroristisch. Büros der HADEP sind gestürmt worden, Hunderte, Tausende von Mitgliedern sind verhaftet worden. Jetzt wird auch mit dem Parteiverbot gedroht. Anwälte und Anwältinnen werden bedroht; Maßnahmen zu ihrem Schutz werden abgelehnt. Ich erinnere daran: Unmittelbar nach der Verhaftung von Abdullah Öcalan ist das türkische Militär völkerrechtswidrig in den Nordirak einmarschiert. Voraussetzung für die Demokratisierung der Türkei und untrennbar damit verbunden sind die politische Lösung der kurdischen Frage und das Ende des schmutzigen Krieges, in dem über 3 000 Dörfer zerstört worden sind, 30 000 Menschen getötet worden sind und Hunderttausende von Menschen auf der Flucht sind. Dieser schmutzige Krieg muß aufhören. Denn die militärische Lösung ist keine Lösung. Niemand kann bei einer militärischen Lösung gewinnen. Die Zivilbevölkerung hat schon lange verloren. ({1}) Wir Grünen haben uns schon immer gegen die Behauptung gewehrt, daß dieser Konflikt eine rein innerstaatliche Auseinandersetzung sei. Mein Vorredner von der SPD hat schon darauf hingewiesen: Dieser Krieg wurde und wird noch immer auch mit deutschen Waffen geführt. Die Rüstungsexportpolitik der früheren Regierung war in hohem Maße doppelbödig. ({2}) Sie war heuchlerisch. Denn es ist doppelbödig - Herr Lamers, das wissen Sie ganz genau -, wenn auf der einen Seite die Einhaltung der Menschenrechte eingefordert wird, auf der anderen Seite aber Waffen geliefert oder sogar verschenkt werden, die genau diese Menschenrechtsverletzungen möglich machen. ({3}) Ich war sehr oft in kurdischen Gebieten. Ich habe mich dabei geschämt. Denn ich kam mir bisweilen vor, als sei ich auf einem deutschen Truppenübungsplatz. ({4}) Die neue Regierung muß ihre Rüstungsexportpolitik auch im Hinblick auf die Türkei an den Folgen ausrichten, die diese Politik für die Einhaltung der Menschenrechte hat. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lippmann von der PDS?

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich möchte meine Rede zunächst beenden; vielleicht hinterher. War es denn wirklich - Herr Lamers, Sie wissen, wovon wir jetzt sprechen - ein Freundschaftsdienst der früheren Regierung gegenüber der Türkei, Frau Çiller als Repräsentantin für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu präsentieren? Wäre es nicht richtiger und notwendiger gewesen, diejenigen Organisationen zu unterstützen, die für Demokratie und Menschenrechte eintreten, oder laut und deutlich die Freilassung der kurdischen Abgeordneten Leyla Zana zu fordern, die nichts anderes getan hat als das, wozu sie gewählt wurde, nämlich für die Rechte der Kurden in der Türkei einzutreten? War denn das bereits angesprochene Konsultationsverfahren, der Kanther-Mentese-Briefwechsel, wirklich ein Freundschaftsdienst im Sinne der Demokratisierung der Türkei, in dessen Folge es zu Abschiebungen gekommen ist und in dessen Folge Menschen gefoltert worden sind, verschwunden sind und verhaftet worden sind? Die neue Bundesregierung wird sich auch in diesem Punkt an der Unteilbarkeit der Menschenrechte ori2352 entieren. Sie wird sich an diesbezüglichen Erfolgen prüfen lassen müssen. Deswegen appelliere ich mit Nachdruck an die verantwortlichen Innenminister der Länder, ihre Flüchtlingspolitik am Prinzip der Schutzgewährung auszurichten, wie es zum Beispiel in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgeschrieben wird, und gerade angesichts der aktuellen Situation, die vom Auswärtigen Amt als Situation mit einem erhöhten Risiko vor allem für abzuschiebende Türken kurdischer Volkszugehörigkeit eingeschätzt wird, nicht abzuschieben. Wir haben uns im Rahmen der EU immer für eine glaubwürdige Türkeipolitik ausgesprochen. Daran ändert sich nichts dadurch, daß wir jetzt in der Regierungsverantwortung stehen. Daran darf sich nichts ändern, wenn wir selber glaubwürdig bleiben wollen. Deswegen gehe ich davon aus, daß die jetzige Regierung bald eine neue Initiative hinsichtlich einer internationalen Konferenz zur Lösung dieser Problematik in die Wege leiten wird, daß sie im Rahmen der UNO, im Rahmen der OSZE und in bezug auf die USA eine aktive Demokratisierungsinitiative unterstützen wird und daß sie sich für eine wirkliche Perspektive der Türkei, in die Europäische Union integriert zu werden, einsetzen wird. - Herr Lamers, warum schlagen Sie eigentlich die Augen so auf, wenn Sie mich anschauen? Das ist schön, Herr Lamers. ({0}) Dies muß eine Initiative sein, die die Demokratisierung der Türkei mobilisiert. Man sollte aber nicht darüber nachdenken, ob die Türkei in der Europäischen Union tatsächlich Platz hat. Dies geschieht ohnehin nicht aus Zweifeln an der Einhaltung von Menschenrechten und Demokratie, sondern deshalb, weil die Menschen in der Türkei Moslems und nicht Christen sind.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluß.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein letzter Satz. - In den nächsten Tagen wird das kurdische Newroz-Fest gefeiert. Ich hoffe aus ganzem Herzen, daß es ein wirkliches Fest wird und die Gewalt nicht weiter eskaliert, nicht in der Türkei und nicht bei uns. Ich hoffe, daß diese Aufforderung zur Deeskalation bei allen ankommt: auf seiten der Türkei, aber auch auf seiten der PKK. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für eine Zwischenfrage ist jetzt kein Raum mehr. Ich lasse, wenn Sie das gestatten, meine Damen und Herren, keine Kurzinterventionen mehr zu, weil wir sehr in zeitliche Bedrängnis gekommen sind. Jetzt hat das Wort der Kollege Max Stadler, F.D.P.Fraktion. Bitte sehr.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Roth, ich glaube, es zeichnet einen lebendigen Parlamentarismus aus, wenn aus den Fraktionen, die die Regierung tragen, durchaus andere Forderungen formuliert werden, als wir sie im Regierungshandeln erkennen können. ({0}) Wir sind auf Grund Ihres Redebeitrages neugierig, wann das, was Sie heute gesagt haben, und das, was die Regierung in diesem Bereich bisher tut, in Einklang stehen wird. Meine Damen und Herren, der Antrag, die Bundesregierung solle einen Abschiebestopp erlassen, ist schon aus Rechtsgründen abzulehnen. Das hat Herr Kollege Veit ausführlich dargelegt, so daß ich mich darauf beziehen kann. Die Länder wären dafür zuständig; sie haben aber von ihrer Möglichkeit nach § 54 Ausländergesetz bisher keinen Gebrauch gemacht. Unabhängig von dieser Kompetenzregelung gibt der Antrag von Frau Kollegin Jelpke Gelegenheit, gerade nach den Vorfällen der letzten Wochen noch einmal einige grundsätzliche Bemerkungen zu Abschiebungen von Kurden zu machen. Nach der Verhaftung Öcalans hat es in Deutschland schwere Ausschreitungen gegeben. Dies können wir nicht dulden, egal, welche politischen Motive zu diesen Taten geführt haben. ({1}) Der Staat hat selbstverständlich das Recht und die Pflicht, alle strafrechtlichen und ausländerrechtlichen Bestimmungen anzuwenden, zu denen auch Ausweisung und Abschiebung gehören. Aber es gilt dabei wieder einmal die Devise Herbert Wehners, die er seinerzeit im Zusammenhang mit den Ostverträgen formuliert hat: „Voll anwenden, strikt einhalten!“ Dazu gehört der Abschiebeschutz gemäß § 51 Ausländergesetz, wonach ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 53 Ausländergesetz besteht, wenn dem Ausländer in dem Staat der Abschiebung konkret die Folter oder die Todesstrafe droht oder wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Vorschriften müssen nicht nur voll angewendet, sondern, wie ich zitiert habe, strikt eingehalten werden. Dazu finden sich deutliche Worte in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ - ich zitiere -: Wer will, daß wir uns über diese äußerste Grenze hinwegsetzen und trotzdem abschieben, soll es deutlich und ohne Beschönigung sagen. ({2}) Wer diese Grenze überschreitet, ist schamlos. Er paktiert mit den Häschern. Er beschädigt uns und den Rechtsstaat, den wir auf den Trümmern einer Tyrannei aufgebaut haben. ({3}) Claudia Roth ({4}) Dies sagte zu Recht der ehemalige Vizepräsident dieses Hohen Hauses, Burkhard Hirsch. Was heißt dies praktisch? Es ist nicht zu bestreiten, daß Türken kurdischer Herkunft, die aktiv für die Rechte der kurdischen Bevölkerung in der Türkei eintreten, dort Repressalien ausgesetzt sind. ({5}) Eine Abschiebung ist daher keinesfalls zulässig, solange keine verbindlichen und nachprüfbaren Vereinbarungen mit der Türkei über die rechtsstaatliche Behandlung Abgeschobener vorliegen und die Einhaltung solcher Vereinbarungen nicht gesichert ist. Wenn sie denn zustande kommen, müssen sie noch im Lichte damit in der Vergangenheit gemachter Erfahrungen bewertet werden. ({6}) Ob die Bundesregierung Vereinbarungen, die diesen Kriterien genügen, zustande bringt, bleibt mit Skepsis abzuwarten, zumal das US State Department in seinem Menschenrechtsbericht vom 26. Februar dieses Jahres der Türkei schwere Menschenrechtsverletzungen vorwirft. Meine Damen und Herren, zum außenpolitischen Aspekt der Debatte kann ich aus Zeitgründen nur noch einige wenige Punkte anführen. Erstens. Allgemein besteht Einigkeit darüber, daß das Kurdenproblem nicht mit militärischen, sondern nur mit politischen Mitteln gelöst werden kann. Zweitens. Wir beobachten mit großer Sorge eine zunehmende Verhärtung der Haltung der türkischen Regierung in der Kurdenfrage, insbesondere zunehmende Diskriminierungen der HADEP. Drittens. Wir fordern die Bundesregierung auf, im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft auf die türkische Regierung einzuwirken, gemeinsam mit den Vertretern der weit überwiegenden Mehrheit der Kurden, die sich für eine friedliche Beilegung des Konfliktes einsetzen, in einen konstruktiven Dialog mit dem Ziel einer weitgehenden kulturellen Autonomie für die Kurden einzutreten. Viertens. Die friedliche Beilegung des Konflikts und die uneingeschränkte Gewährleistung von Menschenund Minderheitsrechten in der Türkei sind entscheidende Voraussetzungen für die erstrebte Annäherung der Türkei an die Europäische Union. Fünftens. Ebenso unmißverständlich muß der kurdischen Seite verdeutlicht werden, daß nur ein gewaltfreier Weg zum Ziel führt. Dies betrifft auch die jüngsten Androhungen von Terroranschlägen gegen Urlaubsziele. Gewalttaten führen nur dazu, die bei weiten Teilen der deutschen Bevölkerung durchaus vorhandene Sympathie für die kurdische Sache zu zerstören. Vielen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Uta Zapf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Schlagabtausch in den Interventionen hat gezeigt, daß wir dringend lernen müssen, wie man mit Konflikten umgeht. Ich glaube, daß der richtige Ansatz von der einen wie der anderen Seite noch nicht gefunden worden ist. Insbesondere die junge Kollegin von der CDU/CSU sollte sich mit der Natur des Konfliktes einmal etwas vertrauter machen. ({0}) Meine Damen und Herren, der Friedensprozeß, der in dem Antrag der PDS eingeklagt wird, ist in der Tat dringend erforderlich. Nach der Verhaftung von Öcalan hat es in der Türkei eine Eskalation von Gewalt und Repression - im übrigen von beiden Seiten - gegeben. Die Ängste, daß eine solche Eskalation außer Kontrolle gerät, sind, glaube ich, durchaus begründet. Es gab Bombenanschläge; es gab Feuer in einem Einkaufszentrum. Da waren viele Tote und Verletzte zu beklagen. Auf der anderen Seite steht der türkische Generalstab, der die völlige Vernichtung der PKK ankündigt und keinerlei Bereitschaft zur Deeskalation zeigt. Festzustellen ist auch die Weigerung der Regierung und des Generalstabes, überhaupt ein Kurdenproblem anzuerkennen und den Kurden kulturelle Rechte zuzugestehen. Es gibt also eine zunehmende Verhärtung in dieser Frage. Das Verbot der HADEP ist hier schon erwähnt worden. Das Verfassungsgericht hat noch eine andere Partei verboten, die DKP, die Demokratische Volkspartei, und zwar mit einer bemerkenswerten Begründung: Weil sie sich für die kurdische Sprache und Identität einsetze, sei die Einheit der türkischen Nation und die territoriale Einheit der Türkei gefährdet. Auch das hat in diesem Konflikt zu Verhärtungen geführt. Ich denke, wir müssen hier ganz deutlich sagen: Wir wollen die territoriale Einheit der Türkei in keiner Weise gefährden. Wir wollen vielmehr zu einer friedlichen politischen Lösung dieses Konfliktes beitragen. Wir müssen uns in der Tat überlegen, mit welchen Instrumenten wir das schaffen. ({1}) Wir haben in diesem Hohen Hause schon einmal den Beschluß gefaßt, den Sie jetzt wieder aufgreifen, eine internationale Konferenz einzufordern. Aber, ich denke, man kann auch klüger werden. Wir haben in den letzten Jahren eine Menge gelernt, unter anderem auch, daß eine solche internationale Konferenz möglicherweise dazu dient, sich gegenseitig an den Pranger zu stellen, aber nicht zu einer Konfliktlösung führt, für die sich beide Teile näherkommen müssen. Wir müssen die Spirale der Gewalt durchbrechen. Wir fordern, daß die Türkei das Verfahren gegen Öcalan wirklich transparent und menschenwürdig durchführt, daß sie Beobachter zuläßt - wir unterstützen die Initiative des Europarates an dieser Stelle ausdrücklich: Es muß eine internationale Beobachtung geben - und daß die Türkei keine Todesstrafe verhängt. Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt, zumal die Türkei schon zugesichert hat, die Todesstrafe ganz aufzuheben. Auch ich weiß von dem Moratorium. Nur kann man in der Kürze der Zeit nicht alles ausführlich darstellen. Ich habe im übrigen noch ein paar Vorschläge zu machen: Wir müssen durch bilaterale Politik und durch eine gemeinsame europäische Politik dazu beitragen, daß eine politische Lösung gefunden wird. Da werden wir im Zusammenhang mit den Menschenrechten eine ganze Menge an Einwirkung auf die türkische Regierung zu besorgen haben. Wir müssen gleichzeitig die PKK auffordern, die Gewaltanwendung einzustellen. Auch die PKK hat einen totalen Krieg gegenüber der Türkei erklärt und gesagt, sie werde die militärischen Aktionen auf die gesamte Türkei, insbesondere auf die touristischen Gebiete, ausweiten. Dort liegt eine ganze Menge an Aufgaben vor uns. Ich weiß, daß diese Bundesregierung, auch wenn es nicht spektakulär nach außen dringt, sehr bemüht ist, Initiativen zu befördern, die einer solchen Konfliktlösung näherkommen. Aber es wird wahrscheinlich erst nach den Wahlen in der Türkei überhaupt möglich sein, wieder miteinander sprachfähig zu werden. Dieses Parlament ist sich darin einig, daß es einen solchen Befriedungsprozeß geben muß. Warum muß es ihn geben? Weil die Türkei zu Europa gehört, das wissen wir alle. Es liegt innen- wie außenpolitisch in unserem eigenen deutschen Interesse, daß die Türkei stabil ist. Es liegt in unserem Interesse, daß die Kurden und die Türken in der Bundesrepublik mit uns friedlich zusammenleben können. Die Krawalle auf unseren Straßen sind doch Ausfluß des Problems in der Türkei. Dieses Problem muß in der Türkei mit Kurden und mit Türken gemeinsam gelöst werden. Lassen Sie uns mit einer deutschen Initiative, mit bilateralen Initiativen und europäischen Initiativen gemeinsam dazu beitragen, daß der Friedensprozeß in der Türkei in Gang gebracht wird. Dies ist nicht nur eine humanitäre Forderung, sondern dies ist auch eine Forderung in unser aller Interesse. Ich danke Ihnen. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als letzter in dieser Aussprache hat nun der Kollege Ruprecht Polenz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben uns in dieser Woche im Auswärtigen Ausschuß mit der Türkei-Politik der Bundesregierung befaßt. Es war, glaube ich, nicht nur mein Eindruck, Herr Staatsminister, daß das eigentlich eine enttäuschende Beratung war. Wenn Frau Kollegin Zapf gerade davon sprach, die Regierung sei mit ihren Initiativen sehr bemüht, so wissen auch Sie, was das in der Zeugnissprache bedeutet. Ich stelle das deshalb fest, weil ich mir schon darüber im klaren bin, wie schwierig es ist, gerade im Bereich der Türkei-Politik Fortschritte zu erzielen. Aber das wußten Sie auch, als Sie die vollmundigen Ankündigungen einer neuen Türkei-Politik in die Welt gesetzt haben. Sie haben bewußt gesagt: Das ist das Politikfeld, auf dem wir es mit der außenpolitischen Kontinuität anders sehen, da wollen wir neue Wege gehen, da wollen wir besonders erfolgreich sein. Sie haben, als der italienische Ministerpräsident D’Alema bei Schröder war, eine deutsch-italienische Initiative in Sachen Türkeipolitik angekündigt. Ich habe Sie schon einmal gefragt: Was ist daraus geworden? ({0}) Sie haben bei der Festnahme Öcalans wichtige Chancen für politische Initiativen verpaßt, die seinerzeit auch Außenminister Fischer gesehen hat. Aber es sind keine ergriffen worden. Auch haben Sie die deutsche Ratspräsidentschaft, gemeinsame EU-Initiativen angekündigt. Bis heute ist davon nichts erkennbar, wenngleich es aber wahrscheinlich redliches Bemühen gibt, Frau Kollegin. Wir werden sehen, was bis zum Abschlußgipfel unserer Präsidentschaft noch passiert. Bisher aber - außer der üblichen Kritik an der Vorgängerregierung -: weitgehend Fehlanzeige. Seit Anfang November - das müssen wir feststellen - ist hier nichts passiert. ({1}) Die PDS fordert nun in ihrem Antrag, zu dem ich mich äußern möchte, die Einleitung eines internationalen Friedensprozesses. Seite 3 Ihrer Begründung macht allerdings deutlich, daß Sie als PDS jegliche kritische Distanz zur PKK vermissen lassen. Ich möchte Ihnen sagen: Mit diesem Ansatz wird man dem Kurdenproblem nicht gerecht. Denn die PKK und ihre Methoden tragen dazu bei, daß die Lösung dieses Konfliktes so schwierig ist. Die PKK ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Wenn wir überhaupt weiterkommen wollen, ist es erforderlich, daß alle, die Einfluß nehmen wollen, eine klare Distanzierung von Gewaltanwendung und damit eine klare Distanzierung von der PKK zum Ausdruck bringen. ({2}) - Weil Sie jetzt gerade diesen Zwischenruf machen und weil Sie auch vorhin schon gewollt haben, daß man Ihnen den Unterschied zwischen UCK und PKK erklärt, sage ich folgendes: Mir ist nicht bekannt, daß die UCK in belebten Einkaufsstraßen oder Einkaufszentren Bomben geworfen hätte. Mir ist nicht bekannt, daß die UCK in Touristenzentren Gewalt anwenden will und dabei den Tod von Touristen in Kauf nimmt. Mir ist nicht bekannt, daß die UCK ihre Organisationsstrukturen in einer stalinistischen Weise aufbaut, wie die PKK das tut. Mir ist nicht bekannt, daß die UCK gegen ihre Mitglieder mit den Methoden des Terrorrismus bis hin zum Mord - auch das war ja Hintergrund des Haftbefehls gegen Öcalan - vorgeht. Bitte tun Sie der UCK nicht dadurch Unrecht, daß Sie sie mit der PKK in einen Topf werden! ({3}) Meine Damen und Herren, die PKK fordert die umgehende Einberufung einer internationalen Friedenskonferenz. - Aus Zeitgründen kann ich nur noch zu diesem Punkt etwas sagen. - Wir halten das nicht für das geeignete Mittel, denn die Ausgangsbasis eines jeglichen Lösungsansatzes muß die Erkenntnis sein, daß eine Lösung des Kurdenproblems nicht gegen die Türkei möglich ist. Wir müssen erst einmal zur Kenntnis nehmen, daß es bei den türkischen Eliten - insbesondere bei der Justiz, beim Militär und bei der staatlichen Bürokratie - die Überzeugung gibt, daß die Türkei ein Einheitsstaat mit einer einheitlichen nationalen Identität ist. Das kommt in der Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft in dem Verbotsverfahren gegen die HADEP jetzt noch einmal wie in einem Brennglas zum Ausdruck. Ich zitiere aus dem Briefing Nr. 1228 vom 1. Februar 1999: Es gibt nur eine Identität in der Türkei, und das ist die türkische Identität. Forderungen nach Anerkennung einer kurdischen Identität sind nur ein erster Schritt in einem hinterhältigen Versuch, das Land zu teilen. Das ist die Position der kemalistischen Hardliner. Aber nicht nur von denen: Diese Position wird bis hin zum Staatspräsidenten Demirel offiziell von der Türkei vertreten. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Wir halten diese Position nicht für richtig. Wenn wir die Türkei aber bewegen wollen, eine andere Sicht des Problems zu gewinnen, dann müssen wir dort anknüpfen, wo die Türkei jetzt steht, und nicht dort, wo wir sie uns gerne hinmalen würden. Eine internationale Friedenskonferenz, wie sie jetzt gefordert wird, würde aus Sichtweise der Türkei als Vorwand der Europäer gesehen, nun das zu erreichen, was man 1920 im Vertrag von Sèvres nicht geschafft hat, nämlich die Türkei zu zerschlagen. Aus Zeitgründen - weil ich für die Anmerkungen zu PKK und UCK etwas mehr Zeit gebraucht habe - nur noch ein Hinweis, in welche Richtung man nach Lösungen suchen muß. Herr Staatsminister, Deutschland alleine wird das nicht können; auch die EU wird das nicht alleine können. Im Zweifel wird die EU wegen der griechisch-türkischen Spannungen sogar paralysiert sein, als Gemeinschaft zu handeln. Es wird deshalb vor allem darauf ankommen, daß es uns gelingt, die USA in eine koordinierte Türkeipolitik einzubeziehen, gemeinsam auf die Türkei einzuwirken und dort die zivilgesellschaftlichen Kräfte zu stärken. Diese Kräfte gibt es vor allen Dingen in der Wirtschaft der Türkei. Daran muß man anknüpfen. Dann kann man - hoffentlich - Schritt für Schritt weiterkommen. Ich will nicht so weit gehen, daß man von der Bundesregierung die Lösung des Kurdenproblems erwarten sollte. Das ist Sache der Türkei selbst. Aber dann nehmen Sie, Herr Staatsminister, in dieser Frage bitte den Mund in Zukunft nicht mehr so voll! ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/331 und 14/470 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zu den u. a. durch die ökologische Steuerreform bedingten Tariferhöhungen der Deutschen Bahn AG unter besonderer Berücksichtigung der zusätzlichen Belastungen in den neuen Bundesländern Ich eröffne die Aussprache. Sind Sie damit einverstanden, daß wir die Reden der Kollegen Norbert Otto, Peter Letzgus und Dr. Michael Meister zu Protokoll nehmen? - Das ist der Fall. Dann gebe ich jetzt dem Kollegen Gerhard Jüttemann, PDS, das Wort.

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist natürlich traurig, wenn man zu einem solchen aktuellen Thema, das eigentlich alle Bürger in Deutschland betrifft und zu dem eine Aktuelle Stunde einberufen worden ist, vor einem so leeren Haus sprechen muß. Vielleicht sollte sich die Bundesregierung einmal überlegen, solche Aktuellen Stunden zu anderen Zeiten als Freitag nachmittags, zum Beispiel zu guten Fernsehzeiten, auf die Tagesordnung zu setzen. Wir wollen hier heute über die angekündigten Fahrpreiserhöhungen bei der Deutschen Bahn AG reden. Ab April kostet der Fernverkehr bundesweit 1,5 Prozent mehr, der Nahverkehr in den alten Bundesländern ebenfalls 1,5 Prozent mehr, in Ostdeutschland durchschnittlich 5,2 Prozent mehr. Die Preise für Schülermonatskarten im Osten steigen sogar - das muß ich so deutlich sagen - um unanständige 9,9 Prozent. Ansonsten kommt es nicht so oft vor, daß die höheren Zahlen für den Osten gelten. Aber wenn es um Preise geht, spielt das offenbar keine Rolle. Angleichung der Fahrpreise nennt man das bei der Deutschen Bahn AG. Die Angleichung der Löhne und der Arbeitslosenquote ist unterdessen noch einmal auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Die Deutsche Bahn AG geht mit ihrer Preispolitik konsequent weiter auf dem seit der Privatisierung eingeschlagenen Weg. Sie entfernt sich damit immer weiter von ihrer ursprünglichen Aufgabe, nämlich der Befriedigung des gesellschaftlichen Interesses an Mobilität. Schnell, sicher, bequem, preiswert und umweltfreundlich - an diesen fünf Kriterien muß sich die Bahn messen lassen. Die ersten vier Kriterien werden seit Jahren immer mehr vernachlässigt, und zwar in einem Tempo, daß den Bahnfahrern Hören und Sehen vergeht und immer mehr von ihnen auf die eigenen vier Räder ausweichen müssen. Die Deutsche Bahn AG reduziert ihr Personal jährlich in unverantwortlicher Weise um 15 000 bis 20 000 Beschäftigte. Auch in den kommenden vier Jahren sollen mindestens 60 000 Stellen bei der Bahn verschwinden. Viele Experten und Eisenbahngewerkschafter führen die Unfallserie bei der Deutschen Bahn AG in den vergangenen Wochen und Monaten auch auf den immer größer werdenden Personalmangel und die damit verbundene Demotivation des verbleibenden Personals zurück. Bei der Bahn scheinen in allen Bereichen statt Fachleuten zunehmend die Kaufleute zu bestimmen. Deswegen gibt es massive Streckenstillegungen im Nahverkehr. Auch der Interregio-Bereich schrumpft immer mehr. Von den heute noch täglich verkehrenden 434 Interregio-Zügen sollen in diesem Frühjahr weitere 30 gestrichen werden. Gleichzeitig sinken die Erlöse im Fernverkehr. In diesem Bereich fehlen 1998 370 Millionen DM an erwarteten Einnahmen. Damit werden die Gesamterlöse im Fernverkehr um 100 Millionen DM unter denen des Vorjahres liegen. Die kundenfeindliche Entwicklung bei der Bahn ist natürlich nicht zufällig. Sie ist das Ergebnis der von der Politik im Interesse mächtiger Wirtschaftsgruppen im Laufe der vergangenen Jahrzehnte geschaffenen Rahmenbedingungen, inklusive der Privatisierung der Bahn. Von Rotgrün durfte man erwarten, daß dieser verheerenden Entwicklung endlich einmal entgegengesteuert wird. Wenigstens verbal geschah das tatsächlich. Zum Beispiel wurde eine Ökosteuer verabschiedet, was sozial und erst recht ökologisch klingt. Aber in Wirklichkeit wird die umweltfreundliche Bahn durch die Ökosteuer mit 172 Millionen DM zusätzlich belastet. Diese Mehrbelastung reicht sie natürlich an ihre Kunden weiter. Das heißt, auf all die genannten Preiserhöhungen werden noch einmal 1,5 Prozent Ökosteuer aufgeschlagen. ({0}) Was bedeutet das anderes, als daß die neue Regierung die autofreundliche und bahnfeindliche Politik der alten Regierung nahtlos fortsetzt? Die Wirkung der Ökosteuer ist unökologisch, unsozial und verkehrspolitisch sowieso unsinnig. Sie belastet wegen der ohnehin stärkeren Preissteigerungen im Osten die neuen Bundesländer in besonderem Maße. Die Spirale dreht sich immer schneller und immer weiter: Höhere Bahnpreise führen zu weniger Bahnkunden; weitere Streckenstillegungen bedeuten zunehmenden Autoverkehr; das führt wiederum zu weniger Bahnkunden und damit zu höheren Bahnpreisen. Wenn Sie diesen Kreislauf nicht durchbrechen oder wenn Sie ihn noch nicht einmal durchbrechen wollen, dann heißt das, daß Ihre Ansprüche weder sozial noch ökologisch sind. Das wird, auf längere Zeiträume bezogen, eine unvergleichlich höhere Rechnung als diejenige ergeben, die uns schon jetzt als Ergebnis Ihrer Politik von der Deutschen Bahn AG präsentiert wird. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Mertens, SPD-Fraktion.

Angelika Mertens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002734, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zum zweitenmal innerhalb weniger Wochen beschäftigt uns die PDS mit einem Thema zur Bahn. Ich kann nur sagen: Sie liefern hier eine richtig „gute“ Performance ab. Sie beklagen, daß so wenig Leute im Plenum anwesend sind. Ich habe einmal geschaut: Ihre Fraktion hat 36 Mitglieder, von denen jetzt wohl sechs anwesend sind. Ich beschreibe das einmal so: Dr. Wolf und die sechs Geißlein sitzen hier. ({0}) Wie beim letztenmal ist auch diese Aktuelle Stunde ziemlich sinnlos. Haltung der Bundesregierung zu den u. a. durch die ökologische Steuerreform bedingten Tariferhöhungen der Deutschen Bahn AG unter besonderer Berücksichtigung der zusätzlichen Belastungen in den neuen Bundesländern. So lautet das genaue Thema dieser Aktuellen Stunde. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, daß es derzeit eine einzige durch die ökologische Steuerreform bedingte Tariferhöhung bei der Deutschen Bahn AG gibt. Die Deutsche Bahn AG beabsichtigt, ihre Tarife zum 1. April um 1,5 Prozent zu erhöhen. Soweit diese Tariferhöhungen den Schienenpersonennahverkehr betreffen, liegt eine Genehmigung der Länder vor. Ein darüber hinausgehender Antrag, eventuelle Kostenerhöhungen wegen der Ökosteuer auf die Nahverkehrstarife umzulegen, ist bisher bei den Ländern nicht gestellt worden. Wenn Sie dazu etwas wissen wollen, dann sollten Sie nicht nur die richtige Frage stellen; vielmehr sollten Sie sich auch an den richtigen Adressaten wenden. Das sind die jeweiligen Landesregierungen. Wenn Sie etwas zur ökologischen Steuerreform wissen wollen, dann muß ich Ihnen sagen, daß Sie dazu in den letzten Wochen wirklich genügend Gelegenheiten hatten. Wir haben zu fast allen Tageszeiten dazu etwas geboten. Aber ich kann es gerne wiederholen: Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen halten die Ökosteuer für richtig und für wichtig, weil sie erstens den Faktor Arbeit entlastet und zweitens dazu auffordern soll, mit Energie bewußter und damit auch sparsamer umzugehen. Außerdem ist es uns angesichts der Bedeutung des Schienenverkehrs gelungen, für den Stromverbrauch der Deutschen Bahn AG den halben Regelsteuersatz durchzusetzen. Genauer gesagt, der Regelsteuersatz der Stromsteuer von 2 Pfennig pro Kilowattstunde ist für den Fahrbetrieb der Schienenbahn sowie der Oberleitungsbusse um 50 Prozent auf 1 Pfennig pro Kilowattstunde ermäßigt worden. Damit diese ganze Veranstaltung hier noch einen Nutzen hat, will ich zumindest den Versuch machen, die PDS ein bißchen schlauer zu machen. Vielleicht erspart das uns in Zukunft Zeitverschwendung. Erstens. Nach der Bahnreform bestimmt die Deutsche Bahn AG die Preise ihrer Dienstleistungen grundsätzlich eigenverantwortlich. Zweitens. Die Deutsche Bahn AG ist deshalb gegenüber der Bundesregierung nicht zur Information bei Tariferhöhungen verpflichtet. Daraus resultiert drittens, daß sie auch nicht zur Einholung einer Genehmigung bei der Bundesregierung verpflichtet ist. Zum Schluß möchte ich zwei Bemerkungen machen. Erstens. Wir können getrost davon ausgehen, daß die Länder konkrete Anträge auf Tariferhöhungen im SPNV, mit welcher Begründung auch immer, spitz nachrechnen werden, zumal die Energiepreise - mein Kollege Schmidt wird noch darauf eingehen - in den letzten Jahren trotz massiver Steuererhöhungen durch die alte Bundesregierung insgesamt gesunken sind. Zweitens. Die Attraktivität, besonders die des SPNV und die des ÖPNV, macht sich nicht nur am Preis fest; vielmehr hat sie sehr viel damit zu tun, wie attraktiv diese Verkehrsmittel sind: Pünktlichkeit, Vernetzung, objektive und subjektive Sicherheit, Bequemlichkeit und Schnelligkeit sind einige Kriterien, die über Erfolg und Mißerfolg entscheiden. In diesem Sinne wünsche ich der Deutschen Bahn AG sehr ernsthaft und sehr ehrlich viel Erfolg beim weiteren Nachdenken über die Steigerung ihrer Attraktivität. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion. ({0})

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Hinblick auf die generelle Betrachtung der Bahn kann ich mich den Worten der Kollegin Mertens anschließen. Ich will nur noch hinzufügen: Diejenige Partei, die uns die Deutsche Reichsbahn im schrottreifen Zustand übergeben hat, sollte vielleicht einmal nachdenken, an welchem Punkt sie den Zeigefinger hebt. ({0}) Ich möchte mich auf den Punkt Preiserhöhungen wegen der ökologischen Steuerreform bei der Bahn konzentrieren. Da läuft ja tatsächlich das Stück ab: Haltet den Dieb! Erst legt Rotgrün in einem chaotischen Gesetzgebungsverfahren ein Gesetz zu einer sogenannten ökologischen Steuerreform vor, von dem überraschenderweise auch der bisher von den Grünen fast als heilige Kuh behandelte öffentliche Personennahverkehr betroffen ist. Dann gibt es Proteststürme. Verkehrsminister Franz Müntefering erklärt: Es gibt keine Ausnahme für den öffentlichen Personennahverkehr; alle müssen zahlen. Dann gibt es offensichtlich doch genügend Druck. Nachdem die Gesetzesberatungen im Finanzausschuß bereits abgeschlossen sind, erreicht die mitberatenden Ausschüsse ein staunenswerter Brief der Vorsitzenden, Kollegin Scheel, in dem steht: Ich darf Sie darüber informieren, daß das vom Finanzausschuß bereits abgeschlossene Gesetz zum Einstieg in die ökologische Steuerreform noch einmal geändert werden soll. Die Änderungsanträge werden voraussichtlich am … frühen Vormittag vorliegen. Sie werden Ihnen zum frühestmöglichen Zeitpunkt per Fax zugeleitet werden. Weiter heißt es sinngemäß: Ich will Sie nur darüber informieren, daß davon der Personennahverkehr sowie die Deutsche Bahn AG betroffen sein werden. ({1}) Das ist dann also das geordnete Gesetzgebungsverfahren! Die F.D.P. hat im Vorfeld darauf hingewiesen, daß nach dem von Kollegin Mertens richtigerweise festgestellten Prinzip Preiserhöhungen, egal aus welchem Grund, im Nahverkehr folgende Konsequenzen haben: Entweder muß eingespart werden, oder der Fahrpreis muß erhöht werden, oder die im Nahverkehr tätigen Aufgabenträger müssen die Erhöhung des Defizitausgleiches zugestehen. Nun kann man ja verniedlichend sagen: Das ist alles nur halb so schlimm, der Strompreis ist ja statt um 2 Pfennig nur um 1 Pfennig erhöht worden. Gegenüber dem Zeitraum vor Inkrafttreten der Ökosteuerreform ist es eine Kostenerhöhung, die offensichtlich durch die gleichzeitig eingeführte Senkung der Lohnnebenkosten nicht in vollem Umfang ausgeglichen wird. Das heißt, es bleibt auch für die Bahn eine Kostenerhöhung übrig. Nun beginnt der zweite Akt der Komödie. Ausgerechnet die, die für die Kostenerhöhungen verantwortlich sind, heben moralisierend den Zeigefinger und sagen: Das gilt aber nicht, Bahn, was du da machst; das ist unfair; das darfst du nicht. - An vorderster Front steht leider auch der Kollege Schmidt, ({2}) der ja nun - das ist eine seiner Nebentätigkeiten - im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG sitzt. Es wäre vielleicht an der Zeit, Herr Kollege Schmidt, daß Sie einmal Ihre Rolle klären: Entweder sprechen Sie als Aufsichtsrat der Bahn in der Öffentlichkeit - dann sind Sie dafür verantwortlich, daß die Bahn ein positives Wirtschaftsergebnis erzielt -, oder Sie melden sich als verkehrspolitischer Sprecher. ({3}) Dann sollten Sie zu den Erhöhungen auf Grund der Kostensituation stehen und sollten die Bahn nicht mit dem Zeigefinger darauf hinweisen, daß sie gefälligst Tariferhöhungen unterlassen soll. ({4}) Nein, meine Damen und Herren, der Versuch, die Bahn hier als Sündenbock abzustempeln, ist ein ganz billiger Versuch von Rotgrün, sich aus der mißlungenen Ökosteuerreform zu verabschieden, die, um mit den Worten meines Kollegen Thiele zu sprechen, weder öko noch logisch ist, ({5}) sondern schlicht und ergreifend ein weiteres Konzept zum Geldkassieren. Leider Gottes ist sie wahrscheinlich heute durch den Bundesrat gegangen. Dieser Freitag wird als schwarzer Freitag der Steuergesetzgebung in die Geschichte eingehen. ({6}) Wir lehnen dieses Verfahren und auch dieses Gesetz strikt ab. Ich will nicht verschweigen, daß es mit Sicherheit viele Gründe gibt, um die Bahn zu kritisieren. Es gibt auch viele Anlässe dazu. Aber man sollte als Vertreter derjenigen, die dafür gesorgt haben, daß die Bahn über Preiserhöhungen nachdenken muß, nicht mit dem Finger auf die zeigen, die das tatsächlich umsetzen müssen, weil die Wirtschaft bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt. In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit, Frau Präsidentin, und wäre dankbar, wenn Sie dem nächsten Redner erst dann das Wort erteilen, wenn ich mich hingesetzt habe, damit im Protokoll steht: Beifall bei der F.D.P. Ich danke Ihnen. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Der Beifall ist meistens so brausend, daß die Zeit für Sie reicht, um Platz zu nehmen, Herr Kollege. - Nun ist das im Protokoll verzeichnet. ({0}) Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Titel der heutigen Aktuellen Stunde enthält eine falsche Behauptung. Dort ist die Rede von Fahrpreiserhöhungen bei der Bahn, die unter anderem durch die Ökosteuer bedingt seien. Da wird seitens der PDS und mit Unterstützung der F.D.P., wie ich gerade festgestellt habe, an einer Legende gestrickt, die dadurch nicht wahrer wird, daß man sie als Thema einer Aktuellen Stunde in die Tagesordnung setzt. In Wahrheit kann die ökologisch-soziale Steuerreform in gar keiner Weise als Begründung dafür herhalten, daß wieder an der Fahrpreisschraube gedreht werden muß. Im Gegenteil: Die öffentlichen Verkehrsbetriebe insgesamt sind die Nettoprofiteure auf dem Verkehrsmarkt. ({0}) - Hören Sie einmal zu! Ich habe Ihnen auch in aller Ruhe zugehört. - Die Ökosteuer verbessert nämlich die relativen Marktchancen der umweltfreundlichen öffentlichen Verkehrssysteme, insbesondere die Chancen der Schiene gegenüber dem Straßenverkehr. Dies zeigt eine einfache Rechnung, die jeder Viertklässler durchführen kann: Eine Autofahrt über 100 Kilometer verteuert sich durch die Ökosteuer im Durchschnitt um etwa 50 Pfennige. Eine Zugfahrt über dieselbe Strecke würde sich durch die Einführung der Ökosteuer um etwa 10 Pfennige verteuern, wenn die Ökosteuer voll auf den Fahrpreis umgelegt werden würde. Also selbst unter dieser Annahme kann man sagen, daß sich die relative Marktchance der öffentlichen Verkehrsträger verbessert. Herr Kollege Friedrich, meine Haltung zu dieser Frage hat mit meiner Funktion überhaupt nichts zu tun. Meinem Vorgänger im Aufsichtsrat, dem Kollegen Kohn von der F.D.P., haben Sie nie vorgehalten, daß er gleichzeitig Abgeordneter und Aufsichtsratsmitglied war. Das ist sehr komisch. ({1}) - Das stimmt. Ich habe nie etwas von ihm gelesen oder gehört. Der entscheidende Punkt ist aber, daß es zu einer Fahrpreiserhöhung, insbesondere zu der im Schienennahverkehr, überhaupt keinen Grund gibt. Warum ist dies so? Ich will Ihnen drei Gründe nennen. Erstens. Die Strompreise weisen eine sinkende Tendenz auf. Im Wege des europäischen Strombinnenmarktes wird sich diese Tendenz verstärken. Das heißt, man kann heute gerade als Großkunde günstiger Strom einkaufen. Davon wird auch die Bahn verstärkt profitieren. Zweitens. Der Mineralölpreis, der im Hinblick auf die Diesellokomotiven durchaus von Bedeutung ist, ist in den letzten Monaten in einer Größenordnung gefallen, was durch die Einführung der Ökosteuer nicht annähernd ausgeglichen wird. Der Dieselpreis pro Liter liegt heute um mehr als 10 Pfennige unter dem Vorjahrespreis. Wenn man die Energiekosten immer gleich auf den Fahrpreis umrechnen würde, müßte logischerweise die Frage aufkommen: Wo bleibt die Fahrpreissenkung? ({2}) Horst Friedrich ({3}) Drittens. Darüber hinaus haben wir Bündnisgrüne in der Koalition durchgesetzt, daß für die Eisenbahnen, die U-Bahnen, die Straßenbahnen und die S-Bahnen nur der halbe Stromsteuersatz gilt, weil wir den ökologischen Lenkungseffekt, der im ersten Schritt dieser Energiekostenbelastung nach unserer Meinung sehr bescheiden ausfällt, verstärken wollen. ({4}) Eine derart maßvolle Einbeziehung in die Ökosteuer schadet den öffentlichen Verkehrsbetrieben nicht nur nicht, im Gegenteil - ich wiederhole diesen Punkt -: Sie liefert den notwendigen Anreiz, auch im Bereich der Schiene und im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs für einen sparsamen und effizienten Energieeinsatz zu sorgen. Dies steht in Übereinstimmung mit dem von der Deutschen Bahn AG selbst aufgelegten „Energieeinsparprogramm 2005“, das vorsieht, bis zum Jahr 2005 den Stromverbrauch um satte 25 Prozent zu reduzieren. Ich habe mir einmal die bisherige Entwicklung angeschaut. Seit 1990 hat sich der Stromverbrauch bei der Deutschen Bahn um 16 Prozent, von 52 Gigawattstunden auf 44 Gigawattstunden, reduziert. Das heißt, diese Tendenz zur Energieeinsparung durch höhere Effizienz und durch bessere Logistik wird durch die Ökosteuer nicht nur beschleunigt und verbessert, sondern sie sorgt dafür, daß der Energieeinkaufspreis für die Bahn trotz Ökosteuer summa summarum sinken wird. Die Legende von einer Fahrpreiserhöhung, die durch die Ökosteuer notwendig würde, ist durch die Sachlage überhaupt nicht gerechtfertigt. Diese Auffassung werde ich auch in Zukunft vertreten. Sie, Herr Kollege Friedrich, als Vertreter einer Partei, die viel mit Wirtschaftspolitik zu tun hatte, sollten wissen, daß es ein einfaches kaufmännisches Gesetz gibt: Wenn es in einem Betrieb an einer Stelle Kostenerhöhungen und an einer anderen Stelle Kostensenkungen gibt, dann wird man diese Kosten zunächst gegeneinander aufrechnen, bevor man auf den Markt geht, auf dem man eigentlich erfolgreich sein will, und sagt: man müsse den Verkaufspreis seiner Ware erhöhen. Das ist meine Auffassung vom unternehmerischen Handeln. Infolgedessen sehen wir das sehr gelassen. Auch der zweite und dritte Schritt der Ökosteuerreform werden die Wettbewerbsposition der öffentlichen Verkehrssysteme weiter verbessern. Das ist von uns durchaus so gewollt. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zum Abschluß erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Winfried Wolf, PDS-Fraktion.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Da es der Wahrheitsfindung dient, habe ich ein Lederjackett angezogen. Ich möchte zunächst auf Frau Mertens eingehen: Nicht die PDS beschäftigt uns hier mit dem Thema Bahn. Vielmehr beschäftigt die Bahn die Öffentlichkeit mit Preiserhöhungen, mit schlechter Qualität und mit neuen Unfällen. Mich wundert, wo der Kollege Schmidt und wo die Kollegin Mertens real leben. Ich lese - wie Sie auch - Zeitung, und habe vor mir einige Schlagzeilen. „Stern“: Ärger auf Rädern; „Süddeutsche Zeitung“: Die Bahn droht endgültig, aufs Abstellgleis zu fahren; ({0}) „Express“: Spart sich die Bahn in die Katastrophe?; ({1}) „Berliner Tagesspiegel“: Das Gespenst der Schrumpfbahn kehrt zurück; „Express“: Der tägliche Bahnhorror; „FAZ“ - Lieblingslektüre von Abgeordneten einiger anderer Parteien -: Bei der Bahn nehmen die schlechten Nachrichten kein Ende; „Frankfurter Rundschau“: Auch die Treuesten verzweifeln jetzt an der Bahn. Last, not least noch eine Zeitschrift für junge Frauen, „Lisa“, die schreibt: Verspätungen, überhöhte Preise, mangelnde Sicherheit - das Chaosunternehmen „Deutsche Bahn“ steht im Kreuzfeuer der Kritik. ({2}) Wenn Sie völlig an der Öffentlichkeit vorbeireden wollen, Herr Schmidt, dann reden Sie weiter so, wie Sie geredet haben. Das gilt auch für Sie, Frau Mertens. Aber wenn Sie sich ein bißchen in Ihrem Wahlkreis umschauen, ein bißchen Zeitung lesen und ein bißchen mit Kolleginnen und Kollegen reden, ({3}) - Ich rede genau zum Thema, Herr Schmidt -, ({4}) dann wissen Sie, daß Sie darauf eingehen müssen. ({5}) Zur Ökosteuer hat der Kollege Friedrich das Richtige gesagt. Es ist einfach Tatsache, daß, wenn Sie das ökologischste Verkehrsunternehmen mit einer zusätzlichen Steuer belasten und es ankündigt, ({6}) deswegen die Tarife zu erhöhen, Herr Aufsichtsrat Schmidt, man das zur Kenntnis nehmen und darüber diskutieren muß. Ich bin der Meinung, daß es nicht nur zu einer direkten Tariferhöhung kommt, sondern - das hat Herr Albert Schmidt ({7}) Schmidt in der Presse gesagt, ob als Aufsichtsrat oder verkehrspolitischer Sprecher, ist egal - zu einer doppelten Preiserhöhung. Dazu ein Zitat aus der „Süddeutschen Zeitung“: Zu der normalen Tariferhöhung kommt noch - das ist jetzt ein Zitat von Herrn Schmidt - die Preiserhöhung auf kaltem Wege dadurch, daß weitere 200 Fernverkehrsverbindungen eingestellt werden und die Leute gezwungen werden, von bisherigen Interregiozügen und D-Zügen auf IC- oder sogar ICE-Züge umzusteigen und noch einmal höhere Preise zu zahlen. ({8}) Es kommt hinzu, daß in besonderem Maße die neuen Bundesländer betroffen sind, und zwar auf verschiedene Art und Weise: zum Beispiel durch die schlechte Qualität, die bei der Bahn im Osten angeboten wird, und durch das Streckensterben, das es in den neuen Bundesländern viel stärker gibt als anderswo. Zur PDS und ihrer Verantwortung möchte ich nur soviel sagen: Ich halte es für einen schweren verkehrspolitischen Fehler, daß die SED in ihrer 40jährigen Regierungszeit versucht hat, beides, sowohl Straßen als auch Schienenwege, zu bauen. Beides hat sie halb schlecht oder halb gut gemacht. Sie hat 40 Jahre die Chance gehabt, eine Wende im Bereich des Verkehrs herbeizuführen - sie hat es nicht geschafft. Das rechtfertigt aber in keiner Weise, daß im Jahre 10 nach der deutschen Einheit dieser Zustand im Osten weiterhin anhält. Man findet solch absurde Zustände, daß man mit dem ICE von Berlin nach München schneller über Magdeburg und Hannover kommt als auf dem direkten Weg über Leipzig. So fallen entsprechend mehr Tarifkilometer bei der Bahn an. ({9}) Zum Schluß möchte ich Sie darauf hinweisen, daß die Bahn momentan eine Philosophie verfolgt - gerade Sie müssen das zur Kenntnis nehmen -, die dem absolut entgegengesetzt ist, was sie behauptet. Ich zitiere aus der „Deutschen Verkehrs-Zeitung“, in der sich Herr Sinnekker aus dem Frachtbereich so äußert: Das Warten auf den Kunden bei der Bahn gehört jetzt endgültig der Vergangenheit an. - Das ist die Philosophie der heutigen Bahn, nämlich keine Rücksicht auf die Kunden und auf die Belange eines ökologischen Verkehrs zu nehmen. Sie macht im Grunde Politik gegen den Markt und gegen die Kunden und hat so die absurde Teufelsspirale in Gang gesetzt: neue Tariferhöhungen, ein höherer Fahrgastverlust, neue Tariferhöhungen usw. Damit fährt sie auf das Abstellgleis. Danke schön. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. März 1999, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.