Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, will ich Geburtstagsglückwünsche
nachholen. Der Kollege Detlef Parr feierte am 8. September und der Kollege Volker Neumann ({0})
feierte am 10. September jeweils den 60. Geburtstag. Ich
gratuliere den Kollegen nachträglich sehr herzlich.
({1})
Wir beginnen die Haushaltsberatungen mit den Ge-
schäftsbereichen des Bundesministeriums der Finanzen
und der Bundesministerien für Arbeit und Sozialordnung,
für Wirtschaft und Technologie sowie für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen. Außerdem rufe ich in Verbindung
mit den Einzelplänen 08, 11, 09 und 12 die Tagesord-
nungspunkte 2 a und b sowie 3 a bis d auf:
2.a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung steuerrechtlicher Vorschriften
und zur Errichtung eines Fonds „Aufbauhilfe“
({2})
- Drucksache 14/9894 ({3})
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Ausgleich der von der Hochwasserkatastrophe im August 2002 verursachten Eigentumsschäden
({4})
- Drucksache 14/9895 ({5})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({6})
- Drucksache 14/9934 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Heinz Seiffert
bb) Berichte des Haushaltsausschusses ({7}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksachen 14/9935, 14/9936 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({8})
- zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Schnelle Hilfe für die Flutopfer
- zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Stärkere Beteiligung von Großunternehmen
an der Bewältigung von Hochwasserschäden
durch Körperschaftsteuer auf Veräußerungs-
gewinne
- zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Stärkere Beteiligung von Kapitalgesellschaf-
ten an der Bewältigung von Hochwasserschä-
den durch Erhöhung der Körperschaftsteuer-
sätze
- zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Bewältigung der Flutkatastrophe gerecht fi-
nanzieren - Vermögensabgabe erheben
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Dr. Günter Rexrodt, Dr. Hermann Otto Solms,
Bundesminister Hans Eichel
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch den Bundeskanzler
Den Opfern helfen - Gemeinsinn stärken:
Maßnahmen zur Bewältigung der Hoch-
wasserkatastrophe
- Drucksachen 14/9905, 14/9899, 14/9900,
14/9901, 14/9908, 14/9934 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Heinz Seiffert
3.a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Irmgard Schwaetzer, Rainer Brüderle, Dirk
Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Handeln für mehr Arbeit - sinnvolle Reform-
vorschläge der Hartz-Kommission jetzt bera-
ten und umsetzen
- Drucksache 14/9891 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brandner, Franz Thönnes, Doris Barnett, weiterer
Abgeordnter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Ekin Deligöz,
Kerstin Müller ({9}), Rezzo Schlauch und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Beschäftigung - schnelle Vermittlung -
erstklassiger Service
Reformvorschläge der Hartz-Kommission un-
verzüglich umsetzen
- Drucksache 14/9946 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Seehofer, Peter Rauen, Günter Nooke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Zeit für Taten - Offensive für mehr Beschäfti-
gung
- Drucksache 14/9944 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland
Claus, Dr. Christa Luft, Dr. Klaus Grehn, Ursula
Lötzer und der Fraktion der PDS
Neue Arbeitsplätze statt Druck auf Arbeitslose - Beschäftigungspolitik mit sozialem Augenmaß tut Not
- Drucksache 14/9940 Zum Entwurf eines Flutopfersolidaritätsgesetzes liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Man muss vermutlich in den Protokollen des Deutschen Bundestages lange zurückblättern,
um eine Rede eines Bundesfinanzministers anlässlich der
Einbringung des zukünftigen Haushalts zu finden, die
mehr als zur Hälfte aus Beschimpfung und Kritik an der
Opposition im Deutschen Bundestag bestanden hat.
({0})
Herr Eichel, was Sie heute Morgen abgeliefert haben, war
nicht die Einbringungsrede eines Finanzministers, der
voller Tatendrang auf die nächsten vier Jahre blickt, sondern es war die Bewerbungsrede des zukünftigen Oppositionsführers.
({1})
Lassen Sie mich zu Beginn einige Bemerkungen zu
dem machen, was Sie zur wirtschaftlichen Lage und auch
zu einzelnen Ländern gesagt haben. Sie haben hier wiederholt über den Reformstau gesprochen, den Sie nach der
Bundestagswahl 1998 auflösen mussten.
({2})
Nach vier Jahren Rot-Grün reicht Ihnen zur Erklärung der
eigenen Probleme immer noch der Rückgriff auf diese
16 Jahre.
({3})
Herr Bundesfinanzminister und Herr Bundeskanzler, es
war zwar nicht alles gut und es ist nicht alles gelungen,
insbesondere am Ende dieser 16-jährigen Amtszeit von
Helmut Kohl und seiner unionsgeführten Bundesregierung. - Diese Regierung war übrigens nicht einfach so
16 Jahre im Amt, sondern sie wurde gegen fünf Kanzlerkandidaten der SPD viermal wiedergewählt.
({4})
Aber eines muss ich Ihnen auf der Regierungsbank schon
sagen: Diese 16 Jahre waren im Großen und Ganzen nicht
nur gute, sondern außergewöhnlich glückliche Jahre für
Deutschland. Jedes dieser 16 Jahre war besser als die vier
Jahre Rot-Grün, die wir Gott sei Dank bald hinter uns haben.
({5})
Vielleicht fehlt Ihnen das Erinnerungsvermögen insbesondere an die erste Halbzeit dieser 16 Jahre. In den Jahren zwischen 1983 und 1990 hat es in Deutschland einen
Beschäftigungsaufbau gegeben, von dem Sie doch nur
träumen können. In diesen Jahren hat es über 2 Millionen
echte neue Arbeitsplätze gegeben
({6})
und nicht neue Arbeitsplätze, die nur dadurch entstanden
sind, dass aus sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnissen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gemacht wurden. Das ist nämlich der Weg,
den Sie gegangen sind, Herr Eichel.
({7})
Präsident Wolfgang Thierse
Ich muss Ihnen nun etwas zu Bayern und zum Arbeitsmarkt sagen - zur Bildungspolitik komme ich später noch -:
Herr Eichel, in Bayern beträgt die Arbeitslosigkeit
5,9 Prozent. Das sind zwar 5,9 Prozent zu viel. Aber wenn
Sie in ganz Deutschland 5,9 Prozent hätten, dann hätten
Sie nicht 4 Millionen Arbeitslose, dann hätten Sie nicht
3 Millionen Arbeitslose, sondern dann hätten Sie 2,5 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Der Bundeskanzler der
Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder, würde
sich heute mit einer Sänfte in den Saal tragen lassen, wenn
er eine solche Bilanz wie die Bayerische Staatsregierung
vorlegen könnte.
({8})
Die tatsächliche Lage auf dem Arbeitsmarkt und in
der Wirtschaft in Deutschland nach vier Jahren Rot-Grün
haben Sie mit kaum einem Wort wirklich erwähnt. Wir haben 4 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Das spielt in
Ihrer Rede keine Rolle.
({9})
Wir haben 40 000 Unternehmenskonkurse in diesem
Jahr - ein einsamer Pleitenrekord in der Nachkriegsgeschichte.
Meine Damen und Herren, heute Morgen geht die Meldung durch die Nachrichten, dass sich das Unternehmen
Mobilcom beim Bundeskanzler gemeldet hat. Vermutlich
spricht er gerade auch darüber mit dem Generalsekretär
der SPD. Es meldet sich ein Unternehmen bei Politikern,
dessen Inhaber sich über Jahre die Taschen voll gestopft
hat und jetzt im Bundeskanzleramt um Hilfe ruft. Ich vermute und bin mir ziemlich sicher, diese Hilfe wird ihm in
diesen Stunden auch angeboten.
Herr Finanzminister, in Deutschland gehen jede Stunde
vier Unternehmen in Konkurs; alle 15 Minuten macht ein
Unternehmen Pleite.
({10})
In der Zeit, in der Sie hier geredet haben - knapp eine
Stunde -, hat es demnach vier Konkurse gegeben.
({11})
Diese Konkurse betreffen Unternehmen, deren Namen
Sie nicht kennen, deren Namen in Berlin nicht ankommen, getreu dem Motto: Wenn der Große Pleite geht,
kommt der Bundeskanzler, wenn der Kleine Pleite geht,
kommt der Konkursverwalter. Das ist die Wirtschaftspolitik nach vier Jahren Rot-Grün.
({12})
Sie haben davon gesprochen, dass wir angeblich eine
zunehmende Zahl von Arbeitsplätzen in Deutschland haben. Herr Bundesfinanzminister, im Jahresvergleich
- selbst ohne Ihre sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, die früher einmal geringfügige
waren - hat die Beschäftigung in Deutschland zwischen
2001 und 2002 um über 200 000 abgenommen. Wir haben
eine abnehmende Beschäftigung, eine zunehmende Arbeitslosigkeit, eine in erheblichem Umfang zunehmende
Zahl an Sozialhilfeempfängern in Deutschland. Das ist
die wahre Bilanz nach vier Jahren Rot-Grün. Deutschland
ist Schlusslicht in der Europäischen Union beim Wachstum, Deutschland ist Schlusslicht in der Europäischen
Union bei der Bewältigung der hohen Arbeitslosigkeit.
Sie sind allerdings, wie auch im letzten Jahr, Spitzenreiter bei der Neuverschuldung. Sie werden das im Jahr
2002 noch einmal toppen. Herr Bundesfinanzminister,
die Grundsatzabteilung, die Sie in Ihrem Hause haben,
müsste während Ihrer Rede in hellen Scharen das Haus
verlassen haben und schnell wieder auf die andere
Straßenseite wechseln, weil das, was Sie hier gesagt haben, mit der Wirklichkeit dieses Landes nichts zu tun
hat.
({13})
Wir wollen diejenigen, die uns hier heute zuhören,
nicht mit zu vielen Zahlen belasten.
({14})
Als Sie die Regierung übernommen haben, betrug das
Defizit 2,2 Prozent. Im letzten Jahr waren es 2,7 Prozent.
Es ist doch nicht die Opposition, sondern es ist der haushaltspolitische Sprecher der Fraktion der Grünen - der
hier heute seine Abschiedsrede halten wird -, der gestern
in einem Interview gesagt hat: Jawohl, wir werden 3 Prozent deutlich überschreiten. - Ihre Mitarbeiter sagen Ihnen das seit Wochen. Das Statistische Bundesamt hat das
bereits für das erste Halbjahr festgestellt. Deutschland
wird Spitzenreiter bei der Defizitüberschreitung sein.
({15})
Hören Sie doch auf, uns, die Opposition, die CDU/CSUBundestagsfraktion, zu kritisieren. Das Problem, das Europa hat, hat einen Namen. Der Name ist Hans Eichel und
seine Finanzpolitik. Sie gefährden den Stabilitäts- und
Wachstumspakt!
({16})
Hören Sie doch auch bitte auf, weiter das Märchen zu
verbreiten, dass wir in Deutschland wirklich auf dem Weg
der Reduzierung der Neuverschuldung vorangekommen wären und dass Sie die Zinsausgaben wirklich gesenkt hätten. Herr Bundesfinanzminister, es gab ein Jahr
in Ihrer vierjährigen Amtszeit, in dem die Zinsausgaben
wirklich einmal zurückgegangen sind: Das war das Jahr
2001. Das war das Jahr, in dem Sie über 50 Milliarden
Euro UMTS-Lizenzerlöse eingenommen haben. Dieser
Betrag war der Umsatz einer ganzen Branche, die sich
heute in einer sehr schwierigen Situation befindet.
({17})
Sie werden in diesem Jahr 1,2 Milliarden Euro mehr Zinsen aus dem Bundeshaushalt zahlen als im letzten Jahr.
Die so genannte Zins-Steuer-Quote hat sich praktisch
nicht verändert. Wenn sie kleiner geworden ist, liegt das
nur daran, dass die Steuereinnahmen gestiegen sind, und
nicht etwa daran, dass die Zinsausgaben gesunken sind.
Das ist die Wahrheit nach vier Jahren. Sie machen sich
selbst und der deutschen Öffentlichkeit etwas vor. Sie
operieren hier mit falschen Zahlen. Das hält einer ÜberFriedrich Merz
prüfung nicht stand. Ihre Grundsatzabteilung weiß das,
Herr Bundesfinanzminister.
({18})
Lassen Sie uns eine kurze Betrachtung der Lage der
Sozialversicherung in Deutschland vornehmen. Sie haben eben die Zahlen genannt, wie hoch jetzt der Bundeszuschuss für die Rentenversicherung ist. Dieser Bundeszuschuss ist doch Ausweis der ungelösten Probleme in
der Rentenversicherung. Herr Bundesfinanzminister, eine
beitragsfinanzierte Rentenversicherung, die sich mittlerweile zu mehr als einem Drittel aus Steuereinnahmen finanziert, bietet keine beitragsfinanzierte und leistungsorientierte Rente mehr. Vielmehr geht man damit den Weg in
die Staatsrente und eine Staatsrente ist in der Tat
manipulationsanfällig. Das haben Sie in den letzten zweieinhalb Jahren mehrfach unter Beweis gestellt.
({19})
Es kommt noch schlimmer: Die Rentenversicherungsbeiträge werden aufgrund der Ökosteuer nicht etwa sinken - so haben Sie es zugesagt -, sondern jetzt tritt beides
ein: Sie wollen die fünfte Stufe der Ökosteuer in Kraft setzen und gleichzeitig steigen die Rentenversicherungsbeiträge, wenn Ihre Politik fortgesetzt wird. Der Streit, der
darüber ausgetragen wird, geht nur noch um die Höhe der
Steigerung und nicht mehr darum, ob die Beiträge wenigstens so bleiben, wie sie im Moment sind. Wir müssen
mit Ihnen darüber streiten, ob sie von heute 19,1 Prozent
auf 19,3 Prozent, 19,5 Prozent oder - so ist mittlerweile
von den Schätzern Ihres Hauses, Herr Riester, zu hören auf bis zu 20 Prozentpunkte ansteigen werden. Das ist die
tatsächliche Lage in der Rentenversicherung, die Sie verschleiern, weil Sie sich über den Wahltag retten wollen.
Danach wird es ein böses Erwachen für die Rentnerinnen
und Rentner und die Beitragszahler in Deutschland geben.
({20})
- Ich werde Ihnen gleich einiges dazu sagen.
Meine Damen und Herren, wir haben gerade über Erblasten gesprochen, daher frage ich: Was ist mit der Krankenversicherung? - Sie haben in der Krankenversicherung einen Überschuss in Höhe von 800 Millionen
übernommen. Im ersten Halbjahr 2002 lag das Defizit der
gesetzlichen Krankenversicherung bei 2,4 Milliarden
Euro. Wir stehen vor massiven Beitragssatzerhöhungen in
der Krankenversicherung zum 1. Januar 2003. Sie haben
dazu kein Wort in dieser Debatte gesagt, weil Sie sich über
den Wahltag am übernächsten Sonntag hinwegretten wollen. Danach gibt es für alle Beteiligten ein böses Erwachen.
Was ist mit der Arbeitslosenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit? Dazu gab es kein Wort in Ihrer
Rede. Sie haben in den laufenden Haushalt einen Zuschuss in Höhe von 2 Milliarden eingestellt. Die Bundesanstalt für Arbeit hat jetzt schon ein Defizit - Herr Riester
weiß das - in Höhe von über 4 Milliarden Euro. Der Zuschussbedarf wird wahrscheinlich dreimal so hoch sein
wie der, den Sie in den laufenden Haushalt eingestellt haben.
Die Lage der Arbeitslosenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit ist doch schier katastrophal und Sie
sagen hier, dass es mit der Neuorganisation der Bundesanstalt für Arbeit kräftig aufwärts geht. Es ist unglaublich,
was Sie uns hier vormachen!
({21})
Dabei spekulieren Sie offensichtlich nur auf die Vergesslichkeit oder das kurze Gedächtnis der Menschen.
({22})
Herr Bundeskanzler, Sie haben im Frühjahr einen neuen
Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit ins
Amt eingeführt - er ist ein enger Freund von Ihnen, ein
Wegbegleiter, ein früherer Sozialminister in RheinlandPfalz -, den Sie als Wunderwaffe bezeichnet haben. Es
hieß: Jetzt geht es mit der Neuorganisation der Bundesanstalt für Arbeit los, die Arbeitslosigkeit wird gesenkt und
der Personalbestand der Bundesanstalt für Arbeit drastisch reduziert. Wenn ich es richtig im Kopf habe, war sogar von einer Halbierung des Personalbestandes die Rede.
Was ist in den letzten sechs Monaten mit der Bundesanstalt für Arbeit passiert? - Nichts ist passiert. Nur das
Gehalt des Vorstandsvorsitzenden wurde verdoppelt und
die Gewerkschaften fordern eine Aufstockung des Personals. Das ist ein unglaublicher Vorgang.
({23})
Jetzt wollen Sie uns allen Ernstes sagen, dass die Probleme in Deutschland mit den Vorschlägen der HartzKommission gelöst werden. Natürlich ist das eine oder
andere, das von ihr geschrieben wurde, richtig. Es wurde
ja von Vorschlägen, die wir in dieser Wahlperiode mehrfach gemacht haben und die Sie immer wieder abgelehnt
haben, abgeschrieben.
({24})
In Wahrheit sind die 13 Module der Hartz-Kommission
eine schallende Ohrfeige für die Politik der rot-grünen Bundesregierung; denn das, was Sie uns jetzt als große Zukunftshoffnung vermitteln wollen, ist zum Teil das glatte
Gegenteil von dem, was Sie vier Jahre lang gemacht haben.
({25})
Meine Damen und Herren, über die Pflegeversicherung haben wir in den letzten Wochen selten und heute
noch gar nicht gesprochen. Was ist in der Pflegeversicherung, der vierten Säule unserer Sozialversicherung, los?
Dort werden in rapidem Tempo die Reserven aufgezehrt.
Spätestens zur Mitte der nächsten Legislaturperiode stehen massive Beitragssatzerhöhungen oder massive Leistungskürzungen bevor. Auch darüber wollen Sie vor der
Wahl nicht reden, weil Sie sich über den nächsten Sonntag hinwegretten wollen. Danach gibt es für die Betroffenen ein böses Erwachen.
Sie reden über die Investitionsquote in den öffentlichen
Haushalten. Herr Bundesfinanzminister, ich weiß nicht, ob
Sie noch die Wirklichkeit in diesem Land wahrnehmen,
({26})
ob Sie manchmal durch Städte und Gemeinden gehen, um
zu sehen, was dort investiert - oder besser: was nicht investiert - wird. Es gibt leer stehende Ladenlokale, es gibt
die größte Pleitewelle im Mittelstand. Es handelt sich um
die größte Krise im Einzelhandel seit 1949. Das sind nicht
meine Worte, sondern das sagen die Geschäftsinhaber
aller Branchen. Wir haben einen Investitionsstau in den
Gemeinden. Dort können die vorhandenen Infrastrukturen kaum noch erhalten werden, geschweige denn neue
errichtet werden. Gerade auf der kommunalen Ebene haben wir einen Investitionsstau, wie wir ihn in Deutschland
noch nie gehabt haben.
Weil Sie dies alles genau wissen, Sie aber kein Interesse daran haben, dass im Wahlkampf über diese Themen
diskutiert wird, versuchen Sie jetzt durch andere Themen
davon abzulenken und an anderer Stelle schöne Fernsehbilder zu machen.
Ich will in aller Ruhe und Deutlichkeit sagen: Wir
sind uns mit Ihnen darin einig, dass wir den Opfern der
Flutkatastrophe helfen müssen. Dies darf auch nicht
Gegenstand einer Wahlkampfauseinandersetzung werden.
({27})
- Wie bitte? Meine Damen und Herren, ich habe gerade
gesagt, dass wir uns mit Ihnen darin einig sind, dass wir
helfen wollen. Wir werden aber Sie, Herr Bundeskanzler,
vor der Wahl und auch nach der Wahl nicht aus Ihren Versprechen entlassen, die Sie dort gemacht haben. Bei der
Ministerpräsidentenkonferenz in Magdeburg haben Sie
({28})
- nein, nein - dem zukünftigen Oppositionsführer Hans
Eichel
({29})
- wer auch immer dies wird, wahrscheinlich wird es
Fischer - und den Menschen dort Versprechungen gemacht, die nicht zu halten sind. Dies wissen Sie auch. Wir
werden Ihnen dies bis zur Wahl jeden Tag sagen. Ihr Generalsekretär hat versucht, Ihre Worte etwas zu relativieren, aber Sie haben wörtlich gesagt: Niemand soll nach
der Flut schlechter dastehen als vor der Flut.
Herr Bundeskanzler, Sie wissen, dass diese Zusage
nicht einzuhalten ist. Sie wissen, dass Sie Versprechungen
machen, die Sie schon jetzt nicht halten, weil Sie auch den
Betrieben diese Garantie nicht geben können. So entsteht
in Deutschland Politikverdruss,
({30})
wenn Versprechungen gemacht werden, die von Anfang
an nicht einzuhalten sind.
({31})
Herr Bundeskanzler, ich will auch an die Debatte erinnern, die wir genau vor einem Jahr, am 12. September
2001, in diesem Hause geführt haben. Wir haben heute
Morgen und gestern völlig zu Recht der Opfer der Terroranschläge von Washington und New York gedacht.
Herr Bundeskanzler, Sie haben vor genau einem Jahr von
dieser Stelle aus eine Regierungserklärung abgegeben,
haben uneingeschränkte Solidarität mit Amerika zugesagt
und haben in dieser Regierungserklärung - ich habe mir
das Protokoll noch einmal angesehen - wörtlich weiter
ausgeführt:
Der gestrige terroristische Angriff hat uns noch einmal vor Augen geführt: Sicherheit ist in unserer Welt
nicht teilbar. Sie ist nur zu erreichen, wenn wir noch
enger für unsere Werte zusammenstehen und bei ihrer Durchsetzung zusammenarbeiten.
- Ende des Zitats.
Herr Bundeskanzler, was hat sich daran in den letzten
Wochen eigentlich geändert? Warum ist aus uneingeschränkter Solidarität erst prinzipielle Solidarität und jetzt
ein deutscher Weg geworden? Da Sie morgen sprechen
werden, Herr Bundeskanzler, möchte ich gerne an Sie die
Frage richten, ob Sie wenigstens das teilen, was der französische Staatspräsident heute in der UNO als Initiative
vorträgt, dass nämlich ein Ultimatum an den Diktator des
Iraks gerichtet wird, wenigstens die Inspektoren wieder in
das Land zu lassen,
({32})
und ob diese Haltung von der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland weiter geteilt wird.
Herr Bundeskanzler, Sie setzen sich nicht ohne Grund
dem Verdacht aus, dass Sie die Auseinandersetzung mit
diesem Thema instrumentalisieren, es zu einem innenpolitischen Thema machen.
({33})
Ich sage Ihnen: Mein Eindruck ist, dass Sie innerlich
keine Grenze haben, von der an das Staatsinteresse unseres Landes wichtiger ist als das Machterhaltungsinteresse
Ihrer Partei.
({34})
Im Übrigen, Herr Bundeskanzler: Ich sehe den Kollegen Klose heute Morgen bei dieser Debatte nicht. Ich
hätte mir schon gewünscht, dass Sie Ihren Regierungssprecher angesichts einer unglaublichen Äußerung, die er
gestern gemacht hat, in die Schranken weisen.
({35})
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages hat gestern auf einer großen Veranstaltung gesagt, notwendig sei eine Drohkulisse. Das ist
auch unsere Auffassung. Er sagte zu Ihrer Regierungspolitik: Da sträuben sich einem als Außenpolitiker die
Nackenhaare.
({36})
Der Kommentar Ihres Regierungssprechers über den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen
Bundestages lautete wörtlich, Klose sei nicht ernst zu nehmen.
({37})
Herr Bundeskanzler, wenn Sie bei so etwas feixend auf
der Regierungsbank sitzen, dann sage ich Ihnen: Das, was
Sie sich leisten, ist eine Unverschämtheit dem gesamten
Deutschen Bundestag gegenüber.
({38})
Herr Bundeskanzler, dies ist ein auch von uns hoch geschätzter Kollege, mit dem wir bei weitem nicht immer
einer Meinung sind.
({39})
Aber so ein Umgang mit dem Parlament ist nicht in Ordnung. Wir erwarten, dass Sie das morgen hier von dieser
Stelle aus richtig stellen.
({40})
Diese Bundesregierung geht den notwendigen Veränderungen und Reformen in Deutschland aus dem Weg.
Deswegen will ich Ihnen in sechs kurzen Punkten sagen,
welche Anstrengungen in Deutschland notwendig sind,
damit wir aus der Wachstums- und Beschäftigungskrise
unseres Landes wieder herauskommen:
Erstens. Wir müssen den Arbeitsmarkt in Deutschland wieder in Ordnung bringen. Das heißt im Klartext:
Wir müssen die starren Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes und des Tarifvertragsgesetzes, wenn nötig
auch gegen den erbitterten Widerstand der Tarifvertragsparteien, so ändern, dass betriebliche Bündnisse für Arbeit in Deutschland möglich sind. Wir werden das tun.
({41})
Mein zweiter Punkt betrifft auch den Arbeitsmarkt. Die
Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen
darf nicht weiterhin die Regel sein, sondern muss in Zukunft wieder Ausnahme werden.
Bund, Länder und Gemeinden müssen in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und in der Finanzierung ihres
öffentlichen Dienstes ein wesentlich höheres Maß an Unabhängigkeit voneinander aufweisen.
({42})
Für die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger und Leistungsempfänger muss wieder der Grundsatz gelten, dass
derjenige, der arbeitet, mehr Geld verdient als derjenige,
der nicht arbeitet. Mit unserer Reform wird kein Sozialhilfeempfänger, der arbeiten kann, mehr eine Leistung
ohne Gegenleistung bekommen.
({43})
Drittens. Wir müssen hinsichtlich der zweiten Phase
des Aufbaus Ost eine große Kraftanstrengung unternehmen. Herr Bundeskanzler, nachdem Sie den Aufbau Ost
zur Chefsache erklärt hatten, haben Sie vorgestern auch
noch den gesamten Arbeitsmarkt zur Chefsache erklärt.
Das kann man vor dem Hintergrund der Lage im Osten
nur als blanke Drohung an alle Arbeitslosen in Deutschland empfinden; denn nachdem Sie den Aufbau Ost zur
Chefsache erklärt haben, haben wir im Osten die höchste
Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung. Das ist übrigens ein Sachverhalt, der in der Rede des Finanzministers
zur Einbringung des Haushalts mit keinem Wort erwähnt
worden ist. Das Thema Ostdeutschland und das Thema
Aufbau Ost finden in Ihren Köpfen keinen Platz.
({44})
Ja, wenn aber schöne Fernsehbilder zu stellen sind,
dann sind Sie da.
({45})
Natürlich, diese Gelegenheit lässt sich keiner von Ihnen
entgehen. Die Schecks werden mittlerweile ja schon einzeln durch eine Regierungsdelegation nach Sachsen und
nach Sachsen Anhalt gebracht. Wahrscheinlich tauchen
Sie dort nächste Woche auch noch im Wetterbericht auf
und versprechen das Blaue vom Himmel.
Meine Damen und Herren, für den Osten ist etwas anderes notwendig: Die ostdeutschen Bundesländer müssen
eine Ermächtigung bekommen, in Landesgesetzen von
Regelungen abzuweichen, die in Bundesgesetzen gelten.
Wir werden das ändern, damit sich diese Länder ein Stück
weit von der Bürokratie befreien können, die wie Mehltau
über diesem Lande liegt.
({46})
Viertens. Wir werden nach dem Regierungswechsel
das rot-grüne Zuwanderungsgesetz nicht in Kraft treten
lassen. Unabhängig davon, wie die Entscheidung vor dem
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ausgeht, lautet
unsere Antwort klar und deutlich: Wir brauchen angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt bei 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland nicht noch mehr Zuwanderung
aus nicht europäischen Ländern auf den deutschen Arbeitsmarkt. Dieses Gesetz tritt mit einer unionsgeführten
Regierung nicht in Kraft.
({47})
In diesem Zusammenhang möchte ich, Herr Bundesinnenminister, erwähnen, dass das Ganze auch ein Aspekt der
inneren Sicherheit in unserem Land ist. Sie wissen doch
so gut wie Ihre Innenministerkollegen in den Ländern, dass
ein wesentlicher Teil der Bedrohung der inneren Sicherheit in Deutschland durch die gewaltbereiten, zum Teil
terroristischen Islamisten ausgeht. Deswegen wird es mit
uns eine Änderung auch der Gesetze, die die Sicherheit
betreffen, geben. Wir werden dafür sorgen, dass biometrische Daten, dass Fingerabdrücke in die Pässe aufgenommen werden.
({48})
Herr Bundeskanzler, da haben Sie am Sonntagabend in
der Fernsehdebatte schlicht die Unwahrheit gesagt, als Sie
behauptet haben, Fingerabdrücke dürften nur dann in Pässen oder in Visa aufgenommen werden, wenn es dazu eine
europäische Regelung gibt. Das ist falsch, Herr Bundeskanzler. Diese Regelung scheitert nicht an Europa, sondern an Rot-Grün in Deutschland. Sie wollen das nicht,
wir werden das machen.
({49})
Wir werden in diesem Zusammenhang auch das machen, was Sie bis jetzt immer abgelehnt haben, nämlich
die Verdachtsausweisung derjenigen, die terroristischen
oder kriminellen Vereinigungen angehören. Wir werden
nicht darauf warten, dass erst eine rechtskräftige Verurteilung zu mehreren Jahren Freiheitsstrafe ausgesprochen
wird. Die Verdachtsausweisung wird mit einer unionsgeführten Bundesregierung schnell umgesetzt.
Fünftens. Das Entscheidende für den Arbeitsmarkt ist,
dass wir sowohl das Steuersystem als auch die sozialen
Sicherungssysteme grundlegend reformieren. Für das
Steuersystem sage ich: Die Spielräume in den öffentlichen Haushalten sind nach vier Jahren Rot-Grün sehr
klein geworden.
({50})
Vor zwei Jahren wäre das noch anders gewesen.
({51})
Hätten wir heute nur ein Drittel des Körperschaftsteueraufkommens des Jahres 2000, dann würden wir uns über
die Finanzierung der Folgen der Flutkatastrophe nicht in
diesem Umfang streiten müssen, wie wir das gegenwärtig
tun. Es ist unglaublich, was Sie hier hinterlassen haben.
({52})
Hätten wir noch ein weiteres Drittel des Körperschaftsteueraufkommens, dann wären wir auch in der
Lage, den Mittelstand in Deutschland wesentlich mehr zu
entlasten, als dies heute möglich ist. Ich sage Ihnen: Die
Finanzierung der Folgen der Flutkatastrophe - um auf
dieses Thema noch einmal zu sprechen zu kommen müsste ein leistungsstarkes Land wie Deutschland eigentlich ohne Steuererhöhungen und ohne die Streckung der
Schuldentilgung bewältigen können.
({53})
Sie aber haben es so in den Abgrund gewirtschaftet,
({54})
dass Sie, Herr Bundesfinanzminister, bereits zum zweiten
Mal innerhalb eines einzigen Jahres zur Bewältigung eines unvorhergesehenen Problems zu Steuererhöhungen
greifen.
({55})
Nach dem 11. September 2001 war Deutschland das
einzige Land auf der Welt, das zur Finanzierung der Antiterrorpakete die Steuern erhöht hat. Jetzt ist Deutschland
wieder in einer schwierigen Lage. Die einzige Antwort,
die Ihnen in diesem Zusammenhang einfällt, sind Steuererhöhungen.
({56})
Angesichts der Lage unserer Volkswirtschaft, der Lage
auf dem Arbeitsmarkt und der Lage der kleinen und mittleren Betriebe in Deutschland sind Steuererhöhungen das
absolut falsche Mittel. Sie lösen damit kein Problem, verschärfen aber ein anderes, vorhandenes Problem in unverantwortlicher Weise.
({57})
Zu den notwendigen Reformen gehören Reformen der
sozialen Sicherungssysteme, nicht nur der Rentenversicherung, sondern auch der Krankenversicherung. Ich
sage an die Adresse der SPD: Wir haben Vorschläge gemacht. Sie sind nicht sehr spektakulär und vielleicht auch
nicht populär, sondern anspruchsvoll und schwierig.
({58})
Sie fordern die Menschen ein Stück heraus. Ihre Antwort
darauf ist, das sei der Weg in die Zweiklassenmedizin.
({59})
Wer das behauptet, übersieht, dass wir seit der Regierungsübernahme von Rot-Grün mitten in der Zweiklassenmedizin sind. Das ist die Wahrheit.
({60})
Wie lange wollen Sie eigentlich den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland erklären, dass sie
für ständig steigende Beiträge immer schlechtere Leistungen bekommen und dass Sozialhilfeempfänger, die
nicht krankenversichert sind und keine Beiträge zahlen,
das volle Spektrum des Leistungsumfangs unseres Gesundheitssystems erhalten?
({61})
Dieser Auseinandersetzung können Sie nicht aus dem
Wege gehen.
({62})
Sechstens. Wir müssen und werden in der Bildungspolitik große Anstrengungen unternehmen. Übrigens
auch hierzu ein offenes und klares Wort: Die Menschen in
Deutschland müssen wissen, dass aus den öffentlichen
Haushalten für Bildung, Alters- und Gesundheitsvorsorge
in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nicht weniger,
sondern mehr Geld zur Verfügung gestellt werden muss.
Das betrifft auch die privaten Haushalte.
Herr Bundesfinanzminister, da Sie mit Abiturquoten
argumentiert haben, möchte ich Ihnen darauf eine deutliche Antwort geben. Wir wollen Bildungs- und Leistungseliten, nicht Geld- und Herkunftseliten. Es gehört
in diesem Land auch derjenige zur Bildungs- und Leistungselite, der eine Lehre oder eine Berufsausbildung
macht, eine Meisterschule besucht, einen Betrieb gründet oder übernimmt und anschließend Arbeitsplätze
schafft.
({63})
Der Mensch fängt nicht erst beim Abiturienten an. Er erfährt nicht erst als Akademiker seine Vollendung - auch
dann nicht, wenn er Lehrer in Kassel geworden ist.
({64})
Wer eine erfolgreiche Berufsausbildung gemacht hat,
gehört mindestens genauso zur Bildungselite wie derjenige, der Abitur gemacht hat und anschließend 20 Semester Philosophie studiert.
({65})
Deswegen lassen wir Ihnen auch nicht durchgehen, Herr
Bundeskanzler, was Sie zu dem Problem unserer Bildungslandschaft gesagt haben. Das ist doch kein Problem
der föderalen Ordnung, wie Sie es an dieser Stelle dargestellt haben. Die Probleme, die in Deutschland - insbesondere in den SPD-geführten Ländern: in Niedersachsen,
Nordrhein-Westfalen, früher in Hessen und Bremen - bestehen, sind vielmehr die Ergebnisse der 30-jährigen
Experimentierkolchosen der Sozialdemokraten. Diese
Antwort werden wir Ihnen geben.
({66})
Lassen Sie mich abschließend feststellen: Eine neue
Bundesregierung wird dafür sorgen, dass Deutschland
wieder ein verlässlicher Partner in Europa und in der Welt
wird. So ramponiert wie unter Ihrer Führung, Herr Bundeskanzler, ist das Ansehen unseres Landes in der Außenund in der Europapolitik noch nie gewesen.
({67})
Sie teilen nur noch Fußtritte gegen unsere Partner in der
Europäischen Union aus, kritisieren an der EU-Kommission herum und üben Kritik an den amerikanischen Partnern. - Wenn Sie schon lesen wollen, Herr Bundeskanzler: Ich glaube, Sie halten das Blatt verkehrt herum.
({68})
Zum Ernst des Themas zurück:
({69})
Wenn Ihnen mitten im Wahlkampf die Zeit bleibt, für eine
fünfminütige Rede auf der Weltklimakonferenz nach
Johannesburg zu fahren, dann hätten wir von Ihnen erwartet, dass Sie in der schwierigen Lage, in der wir uns
befinden, auch wenigstens fünf Minuten Zeit finden, um
mit unseren Partnern in der Europäischen Union zu sprechen und vielleicht sogar mit dem amerikanischen Präsidenten zu telefonieren. So, wie Sie mit unseren Partnern
und wichtigsten Verbündeten umgehen, geht es nicht.
({70})
Wir stehen in Deutschland vor einer Chance, aus der
Krise herauszukommen. Das wird ein sehr schwieriger
Weg. Dabei werden auch Besitzstände infrage zu stellen
sein und Widerstände überwunden werden müssen. Das
wird nicht einfach. Aber die Mehrheit der Bevölkerung in
Deutschland traut Ihrer Regierungsmannschaft, Herr
Bundeskanzler,
({71})
den Trittins, den Künasts, den Müllers, den Riesters, den
Bodewigs und den Schmidts, die hier auf der Regierungsbank sitzen und die dieses Land so heruntergewirtschaftet
haben, die Lösung der Probleme dieses Landes nicht mehr
zu. Wir haben aber die Chance, am 22. September eine
bessere Regierung für dieses Land zu bekommen. Das
Land hat es verdient.
Herzlichen Dank.
({72})
Ich erteile dem Kollegen Joachim Poß von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Es sagt viel über den Zustand der CDU/CSU
aus, wenn eine solch billige Wahlkampfpolemik einen
solchen Beifall erhält.
({0})
Das ist ein Hinweis darauf, dass Sie nervös geworden sind
und wild um sich schlagen.
Wollte man im Übrigen auf alle Fakten eingehen, dann
käme man zu dem Ergebnis, dass Herr Merz schneller die
Unwahrheit sagt, als ein Rennpferd laufen kann.
({1})
Deswegen kann man nur beispielhaft auf einige Punkte
eingehen, was ich auch tun werde.
Herr Merz ist zudem der lebende Beweis dafür, dass
ein Schnellredner nicht unbedingt auch ein Schnelldenker
sein muss.
({2})
Aber das, was mir bei seinem Auftritt besonders aufgestoßen ist, ist Folgendes: Wenn jemand den Karren so in
den Dreck gefahren hat wie CDU/CSU und FDP, verbietet es sich eigentlich, hier so aufzutreten, wie Sie es heute
Morgen getan haben.
({3})
So jemand sollte sich vor solchen Auftritten eigentlich hüten. Wir müssen doch seit vier Jahren jeden Tag den
Schutt wegräumen, den Sie hinterlassen haben, meine Damen und Herren von der Opposition.
({4})
Es wurde beklagt, dass wir den Bundeszuschuss zur
Rentenversicherung erhöht haben. Warum haben wir ihn
erhöht? - Wir haben ihn erhöht, weil wir damals, als wir
an die Regierung gekommen sind, versicherungsfremde
Leistungen in Höhe von 25 Milliarden DM übernommen
haben. Auch die Erhöhung des Bundeszuschusses war
also eine notwendige Reparaturmaßnahme.
({5})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch an Folgendes: Der Beitragssatz zur Rentenversicherung lag in der
Amtszeit von Minister Blüm bei 20,3 Prozent. Es bestand
sogar die Gefahr, dass er auf 21 Prozent erhöht werden
muss. Nur mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer haben
wir das gemeinsam abwenden können.
Ich stelle also fest: Immer dann, wenn man die konkreten Beispiele von Herrn Merz genau untersucht, wird
deutlich, wie falsch gewickelt er ist und mit welch billiger
Polemik die CDU/CSU derzeit die Wählerinnen und
Wähler einzufangen versucht.
({6})
Wenn wir über die Bundesanstalt für Arbeit sprechen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass von Stingl bis
Jagoda nur CDU/CSU-Leute an der Spitze dieser Bundesanstalt waren. Das ändert natürlich nichts daran, dass
dort kräftig aufgeräumt werden muss. Das ist ja nicht zu
leugnen. Aber man darf nicht aus den Augen verlieren,
wer in der Vergangenheit Verantwortung bei der Bundesanstalt für Arbeit getragen hat. Die ökonomischen und die
gesellschaftlichen Fehlentwicklungen, die Sie zu verantworten haben, korrigieren wir Schritt für Schritt in die
richtige Richtung. Das können wir Punkt für Punkt belegen.
({7})
Ich finde es zynisch, wenn Herr Merz die Flutkatastrophe zum Anlass für Bemerkungen über Scheckübergaben
und anderes mehr nimmt. Wenn Herr Müller und andere
keine Schecks übergeben hätten, dann wäre bis jetzt noch
keine Hilfe vor Ort! Das Problem ist doch, dass andere aus
Unfähigkeit oder taktischen Gründen nicht so zügig arbeiten, wie es erforderlich wäre, um den Betroffenen vor
Ort zu helfen.
({8})
Die Rede von Herrn Merz hat deutlich gemacht, dass
das Rezept der Union aus unfinanzierbaren Versprechungen besteht sowie massives Schuldenmachen, massiven
Sozialabbau - das ist besonders deutlich geworden - und
das Beschneiden der Arbeitnehmerrechte vorsieht. Das
hat Herr Merz heute Morgen angekündigt. Dazu sagen
wir: Wer es mit unserer Gesellschaft gut meint und den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewahren will, der muss
jetzt die Sozialdemokratie unterstützen; denn dieser Zusammenhalt soll - so hat es Herr Merz heute Morgen angekündigt - von den Schwarzen zerstört werden.
({9})
Wir lassen jedenfalls keine gesellschaftliche Spaltung zu.
Wer jetzt Mängel beim Aufbau Ost beklagt, der sollte
nicht verschweigen, wer damals als Erster zum Bundesverfassungsgericht gelaufen ist, weil angeblich zu viel für
den Aufbau Ost gezahlt wird. Das war nämlich Edmund
Stoiber.
({10})
Wer sich von dem Katastrophengerede der Union nicht
beeindrucken lässt, der wird feststellen, dass die Bundesregierung unter Gerhard Schröder und die sie tragenden
Koalitionsfraktionen genau das machen, was für eine dauerhaft gesunde Ökonomie in Deutschland richtig und
wichtig ist, nämlich verlässliche wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen zu schaffen sowie stetig und
dauerhaft die Wachstumskräfte zu stärken. Zu dieser Politik - das hat die Rede von Herrn Merz deutlich gemacht gibt es keine ernst zu nehmenden Alternativen.
({11})
Es stehen sich zwei klar unterscheidbare Konzepte gegenüber, über die am 22. September entschieden wird:
Auf der einen Seite gibt es realistische Maßnahmen und
Weichenstellungen auf der Grundlage detaillierter Planungen und Festlegungen der Bundesregierung. Auf der
anderen Seite gibt es ein Sammelsurium von vollmundigen Ankündigungen und politischen Versprechungen der
Opposition, wobei bereits alles vom bayerischen Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten der Union unter
einem generellen Finanzierungsvorbehalt wieder eingesammelt worden ist. Bei der Diskussion über die Konzepte zur Finanzierung der Behebung der Flutschäden ist
außerdem deutlich geworden, dass die Union in ihr altes
Politikmuster zurückgefallen ist, das darin besteht, die öffentlichen Haushalte durch höhere Schulden zu finanzieren. Sie knüpft an die alten Rezepte an. Zur Bewältigung
der Zukunftsaufgaben brauchen wir aber moderne Konzepte, nicht die alten kohlschen Konzepte.
({12})
Wir haben erschwerte Bedingungen. Der wirtschaftliche Abschwung seit dem Frühjahr 2001 ist nicht zu leugnen. Aber wir halten auch bei besonderen Problemlagen,
wie sie sich etwa durch die Hochwasserkatastrophe ergeben haben, Kurs. Bis heute bleibt unklar, warum die
Union den von uns vorgestellten Finanzierungsweg für
die Flutschadenshilfen akzeptiert, obwohl sie diesen Weg
öffentlich ständig verdammt. In diesem Zusammenhang
will ich nicht unerwähnt lassen - ich spreche hier auch zu
dem Gesetzentwurf -, dass die FDP es noch nicht einmal
für nötig gehalten hat, an den Ausschussberatungen zum
Flutopfersolidaritätsgesetz teilzunehmen.
({13})
Das zeigt meines Erachtens die beispiellose Gleichgültigkeit dieser Partei gegenüber den Sorgen und Problemen
der betroffenen Menschen und Regionen.
({14})
Zehn Tage vor der Wahl bekommt die Wahlkampfinszenierung der Union Risse. Die Wahlkampagne der
Union entpuppt sich zusehends als eine systematische Abfolge von Wählertäuschungen und erstaunlichen Realitätsverzerrungen; der Finanzminister hat dafür Belege
beigebracht. Die stärkste Realitätsverweigerung findet
dabei statt, wenn Sie Deutschland als Armenhaus und
Schlusslicht verunglimpfen - eine Behauptung, die im
Mittelpunkt des Wahlkampfs von Union und FDP steht.
Meine Damen und Herren von der Opposition, glauben
Sie wirklich, den Menschen in Deutschland ginge es
schlechter als den Menschen in Frankreich, England, Portugal oder Italien? Derartige Behauptungen sind nicht nur
lächerlich, sie sind auch verantwortungslos.
({15})
Aus purer Wahltaktik nehmen Sie in Kauf, durch Ihre
systematische Schlechtrederei die im Konjunkturaufschwung nötige Zuversicht von Investoren und Konsumenten zu zerstören. Ich wiederhole: Das ist verantwortungslos.
({16})
Die Menschen in diesem Land brauchen keine und
wollen keine Schlechtredner und Katastrophenapostel; sie
wissen selbst genau, wie die Lage ist. Die Menschen wollen aber wissen, wem sie vertrauen können und was die
Parteien und Kandidaten zur Lösung der Probleme ganz
konkret und glaubhaft tun wollen. Das ist offensichtlich
der Grund dafür, dass der Zuspruch zu Gerhard Schröder
und zur SPD täglich zunimmt. Die Menschen verstehen
zunehmend, dass die oppositionellen Parteien in weiten
Bereichen gar keine Alternativen zur Politik der Regierungskoalition anbieten. Die Menschen haben erkannt,
dass Union, FDP, auch PDS ständig nur Versprechungen
machen, ohne zu sagen, wie sie diese realisieren wollen.
({17})
Das sieht man beim Thema Umweltschutz und Klimapolitik: Da ist es zu hektischen Ergänzungen des Sofortprogramms der Union gekommen. Das sieht man bei der
wirtschafts- und finanzpolitischen Kompetenz: Was ist
denn von der wirtschafts- und finanzpolitischen Kompetenz einer Partei zu halten, die, wie die Union, für die
höchste Steuer- und Abgabenbelastung, für die höchste
öffentliche Verschuldung und auch für die höchste Arbeitslosigkeit der letzten 20 Jahre verantwortlich ist?
({18})
Auch nach dem Wechsel in der Parteiführung von Kohl
über Schäuble zu Merkel werden, wie der Wahlkampf
deutlich zeigt, wieder nur die alten Rezepte von Sozialabbau, massivem Schuldenmachen und platter Deregulierung - wir haben es gehört - angeboten. Deswegen ist die
Union 1998 abgewählt worden.
({19})
Ist das alles schon vergessen worden?
Im Mittelpunkt der steuerpolitischen Programmatik
der Union steht, wie gehabt, die Absenkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer. Es heißt jetzt „unter 40 Prozent“. Auf ihrem Parteitag hat die CDU sogar
„höchstens 35 Prozent“ beschlossen - höchstens 35 Prozent! Da können sich Stoiber und Merz, da kann sich die
CDU/CSU insgesamt noch so sehr zieren und noch so
viele Nebelkerzen werfen: Zur Finanzierung dieses Steuervorteils für Spitzenverdiener soll unter anderem die teilweise Steuerfreiheit für Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit gestrichen werden. Das ist unter
Berufung auf die Petersberger Beschlüsse immer wieder
von Ihnen bestätigt worden. Die Petersberger Beschlüsse
waren und sind fester Bestandteil all Ihrer steuerpolitischen Überlegungen.
Sie verweisen in diesem Zusammenhang immer wieder auf die angebliche Blockierung Ihrer Steuerreform
von 1997 durch die Sozialdemokraten. Lassen Sie mich
einmal auflisten, was Ihr Steuerreformkonzept unter anderem enthielt: die erhöhte Besteuerung der Lohnersatzleistungen, beispielsweise von Arbeitslosen- und Krankengeld; die Streichung der Kilometerpauschale für die
ersten 15 Kilometer; die Absenkung des Arbeitnehmerpauschbetrages für Werbungskosten und eben auch die
Streichung der teilweisen Steuerfreiheit für die Zuschläge
bei Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit.
Die Steuerreform von 1997 hat die gesamte Union hier
im Bundestag beschlossen. Auch der bayerische Ministerpräsident Stoiber hat ihr im Bundesrat mit voller Überzeugung zugestimmt. Das alles soll heute nicht mehr gelten? Kurz vor der Wahl wird das alles in Abrede gestellt?
Herr Merz, Herr Stoiber, erklären Sie doch einmal verbindlich und ohne die bekannten Hintertürchen, dass all
das heute nicht mehr zur Finanzierung der von Ihnen vorgesehenen Senkung des Spitzensteuersatzes herangezogen werden soll. Ihre Steuerreform von 1997 wurde von
der Mehrheit des Bundesrates zu Recht verhindert, da sie
im Endeffekt eine massive Umverteilung von unten nach
oben mit sich gebracht hätte.
Im Übrigen: Bis zum 25. August 2002 hat die Union
unter Berufung auf die Petersberger Beschlüsse im Internet für diese Vorschläge geworben. Dies zeigt, dass Sie
eine massive steuerliche Zusatzbelastung vor allem für
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen immer wollten und
immer noch wollen, um Ihre Klientel bedienen zu können.
({20})
Ich habe dies bewusst so ausführlich dargestellt, um
deutlich zu machen, wie unglaubwürdig Herr Stoiber und
die gesamte Union sind, wenn sie dem Bundeskanzler und
der SPD eine unsoziale Steuerpolitik vorwerfen. Wir,
SPD und Grüne, haben eine bedeutsame steuerpolitische
Trendwende eingeleitet.
({21})
Millionen von Arbeitnehmern, Familien mit Kindern und
Mittelständler wurden von uns steuerlich massiv entlastet.
Bei Ihnen jedoch waren sie die Lastesel der Nation.
({22})
Das macht den Unterschied zwischen uns aus: Wir stellen
schrittweise mehr Steuergerechtigkeit her. Das geht
nicht von heute auf morgen. Wir stellen schrittweise mehr
soziale Gerechtigkeit her.
({23})
Sie dagegen kündigen an, all das wieder einreißen zu wollen. Unter unserer Verantwortung zahlen Einkommensmillionäre wieder Einkommensteuer. Das war zwischen 1994
und 1998 nur selten der Fall. Auch das unterscheidet uns.
({24})
Wenn es konkret wurde, haben Sie heute Morgen immer gekniffen. Herr Merz hat viele elegante Kurven gemacht, um bestimmte Themen überhaupt nicht anpacken
zu müssen. Er hat nicht gesagt, wie er das Aussetzen der
letzten Stufe der sozial-ökologischen Steuerreform, das
Familiengeld und die Aufstockung des Bundeswehretats
finanzieren will. Hier wird nur mit Floskeln gearbeitet.
Das lassen wir Ihnen heute Morgen nicht durchgehen.
({25})
Sie müssen heute Morgen hier für die Union und für die
FDP erklären, wie Sie Ihre Vorstellungen realistischerweise umsetzen wollen. Es kann doch nicht hingenommen
werden, dass Sie vor der Wahl nur täuschen und tricksen.
Wo sie unsicher sind, setzt sich Herr Stoiber die Tarnkappe
auf, um nicht konkret werden zu müssen. Die Wählerinnen
und Wähler haben es aber verdient, dass Sie Ihre Absichten ungeschminkt darstellen, damit sie eine echte Alternative haben. Dazu fordern wir Sie heute Morgen auf.
({26})
Ich hoffe, dass Sie wenigstens so viel Glaubwürdigkeit
gegenüber den Wählerinnen und Wählern aufbringen.
Meine Damen und Herren, wir freuen uns auf die Auseinandersetzung in den nächsten beiden Tagen. Sie ist die
letzte Gelegenheit, den Wählerinnen und Wählern in der
Bundesrepublik Deutschland klar zu machen, bei wem sie
gut aufgehoben sind. Wir nutzen diese Gelegenheit, insbesondere den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Familien mit Kindern deutlich zu machen, dass
wir in den letzten vier Jahren für sie Politik gemacht haben, die wir fortsetzen wollen.
({27})
Ich erteile Kollege
Günter Rexrodt das Wort, dem ich zu seinem heutigen Geburtstag herzlich gratuliere.
({0})
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herzlichen Dank, Herr Präsident, für
Ihre guten Wünsche. Mit der Finanzpolitik von Herrn
Eichel kann ich heute dennoch nicht nachsichtiger umgehen, denn dieser Bundesfinanzminister hatte sich am Anfang der Legislaturperiode viel vorgenommen.
({0})
Er hatte sich die schrittweise Rückführung der Nettoneuverschuldung zum Ziel gesetzt; im Jahr 2004 wollten Sie
einen nahezu ausgeglichenen Haushalt vorlegen, Herr
Eichel.
Ich habe hier im Bundestag anfangs übrigens durchaus
anerkennend wiederholt gesagt: Es war gar nicht selbstverständlich, dass ein sozialdemokratischer Finanzminister ein solches Ziel proklamiert, hat sich doch sozialdemokratische Politik über Jahre und Jahrzehnte dadurch
ausgezeichnet, dass immer dann, wenn ein ausgabenwirksames Programm in diesem Hause zu beschließen
war, von Ihrer Seite eher draufgesattelt worden ist. Die
Grundlinie Ihrer Politik - so habe ich damals gesagt - ist
durchaus richtig; das war nicht selbstverständlich.
Heute aber, Herr Bundesfinanzminister, ist nicht die
Stunde der Zielvorgabe, sondern die Stunde der Wahrheit.
Sie müssen sich an dem messen lassen, was Ihr Anspruch
war und was Realität ist.
({1})
Bei der Bestandsaufnahme müssen wir mit Ihrem Highlight beginnen, dem finanzpolitischen Globalziel, die
Nettoneuverschuldung zu reduzieren. Herr Eichel, was
sind Sie durch die Lande gezogen, was haben Sie lamentiert, die alte Regierung habe Ihnen einen finanziellen
Scherbenhaufen hinterlassen! Dabei haben Sie wohlweislich immer die Wiedervereinigung verschwiegen, dieses
säkulare Ereignis, um dessen Finanzierung Sie sich schon
als hessischer Ministerpräsident gedrückt hatten. Immer
waren Sie dabei derjenige, der darauf geachtet hat, dass
der Beitrag der Länder - insbesondere Ihres Landes möglichst minimal angesetzt wird.
Herr Eichel, Sie tun so, als ob es in der politischen und
der wirtschaftlichen Entwicklung dieses Landes in den
16 Jahren unserer Regierung kontinuierlich bergab gegangen sei: Wir haben in den 80er-Jahren die Bürger und
die Unternehmer enorm entlastet. Wir haben die Staatsquote von 49 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. In den 90erJahren war es aufgrund dieses säkularen Ereignisses
natürlich nicht zu umgehen, dass die Schulden stiegen,
dass ein Solidarzuschlag eingeführt werden musste.
Aber dies nun nebeneinander zu stellen und als eine
Politik der Verschuldung des Staates zu kennzeichnen ist
einfach nicht fair. Sie haben jetzt vier Jahre Zeit gehabt,
die Dinge in Ordnung zu bringen. Angekündigt hatten Sie
vier Jahre des Erfolges und der Bereinigung. Tatsächlich
ist Deutschland heute das Land mit dem geringsten wirtschaftlichen Wachstum in Europa. Sie zeigen sich hier
stolz auf 0,4 Prozent Wachstum.
In den letzten Jahrzehnten gab es in Deutschland immer wieder Perioden, in denen es in wirtschaftlicher Hinsicht schnell und solche, in denen es weniger schnell aufwärts ging. Deutschland schnitt aber im Vergleich zu
seinen Nachbarn immer günstiger ab. Heute sind wir
Schlusslicht in der wirtschaftlichen Entwicklung. Die
Gründe dafür liegen nicht in den schlechten weltwirtschaftlichen Bedingungen, sondern sind hausgemacht.
Sie liegen in Ihrer Finanz- und Wirtschaftspolitik.
({2})
Was Ihre Ankündigung angeht, im Jahr 2004 einen ausgeglichenen Haushalt vorweisen zu können: Momentan
sieht es so aus, als könne Deutschland nicht einmal die
Kriterien von Maastricht einhalten. In diesem Zusammenhang führen Sie die Flutkatastrophe an, die viel Geld
kostet, für den Bund in den nächsten zwei Jahren möglicherweise 5 Milliarden. Dieser Betrag ist hoch, aber gemessen am Gesamtvolumen des Haushaltes eine Marginalie. Wegen der Gefahr der Verletzung der Kriterien
von Maastricht sind Ihre Beamten offensichtlich gehalten,
die entsprechenden Zahlen nicht nach Brüssel zu melden mit dem einzigen Ziel, den blauen Brief vor dem
22. September zu vermeiden.
({3})
Herr Bundesfinanzminister, in der Wirtschaft würde man
das als Konkursverschleppung bezeichnen.
Das Verdienst rot-grüner Finanzpolitik bleibt die Formulierung eines ehrgeizigen Zieles, eines Anspruchs.
Dass Sie das Ziel nicht erreichen, liegt nicht an der Flut,
dem Hochwasser, sondern an drei gewichtigen anderen
Ursachen:
Die erste Ursache ist das massive Versagen bei der
Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({4})
Die zweite Ursache ist eine den Mittelstand verunsichernde Steuerpolitik.
({5})
Die dritte Ursache ist Ihr Unvermögen,
({6})
die strukturellen Probleme unseres Haushalts - strukturelle Probleme auf der Ausgabenseite, eine katastrophale
Ausweitung der konsumtiven Ausgaben und eine stetige
Minimierung der Investitionsausgaben - anzupacken und
sie dauerhaft zu beseitigen.
Herr Bundesfinanzminister, in Ihrer Rede sind Sie auf
die eine oder andere Haushaltsposition eingegangen, bei
der Sie gespart haben oder bei der Sie, politisch bedingt
und erforderlich, oben draufgelegt haben. Niemand will
Ihnen solche Korrekturen und Erfolge - wir führen eine
faire Diskussion - im Detail absprechen. Das ist aber
finanzpolitische Routinearbeit. Solche Erfolge hat jeder
Finanzminister in jeder Legislaturperiode vorzuweisen.
Am Ende zählt die Gesamtbilanz.
Ich komme zum Komplex Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zurück. In der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik stehen wir vor einem Scherbenhaufen, und
zwar nicht, weil es der Weltwirtschaft schlecht geht - unsere Exportquote ist hoch -, sondern weil wir entscheidende Reformen entweder versiebt oder versäumt haben.
({7})
Wir stehen in erster Linie so schlecht da, weil Sie das
Dickicht der Arbeitsmarktvorschriften nicht gelichtet
haben. Im Gegenteil: Vor allem im Interesse der Gewerkschaften haben Sie bei der Funktionärsmitbestimmung
draufgesattelt und im Kündigungsrecht die Schwellenwerte so verändert, dass dieses Recht eine Einstellungsbarriere darstellt. Bei der Förderung der Selbstständigkeit
haben Sie versagt. Sie haben diejenigen ins Gesicht geschlagen, die etwas dazuverdienen wollten.
({8})
Ich komme zum zweiten Komplex, der Steuerpolitik.
Nach Hunderten von Begegnungen mit mittelständischen
Unternehmern und Gewerbetreibenden - auch jetzt im
Wahlkampf - kann ich nur immer wieder sagen: Herr
Eichel, viele Menschen, die parteipolitisch nicht gebunden sind und die auch keine Vorurteile gegenüber der einen oder anderen Partei haben, sind verbittert, enttäuscht
und verärgert.
({9})
Sie sind über die Tatsache verärgert, dass es in Ihrer Steuerreform eine so massive Ungerechtigkeit zwischen der
Besteuerung der Großunternehmen, der Körperschaften,
und jener der mittelständischen Unternehmen gibt.
Sie unterstellen uns, unsere Politik im Zusammenhang
mit der Flutkatastrophe sei unglaubwürdig, weil wir uns
gegen die Verschiebung der Steuerreform ausgesprochen
haben. Wer von unserer Seite hat denn je gesagt, dass wir
eine Entlastung des Mittelstandes nicht für richtig halten?
Wir haben immer nur gesagt, dass sie unzulänglich ist.
Selbst diese unzulängliche Entlastung wird nun noch dadurch verschärft, dass Sie mit Blick auf die Flutkatastrophe
eine falsche Maßnahme ansetzen, nämlich die Verschiebung der Entlastung des Mittelstandes, also der kleinen und
mittleren Unternehmen. Dies ist eine falsche Politik.
({10})
Die Mittleren und Kleinen investieren nicht mehr; sie
wollen nicht mehr. Mehltau hat sich über dieses Land gelegt.
({11})
Meine Damen und Herren, wer ehrlich ist, sagt, dass er
das überall und immer wieder feststellt. Die pessimistische Stimmung setzt sich im Übrigen bei der Konsumneigung fort und zeigt sich in einer katastrophalen Situation
im Einzelhandel.
({12})
Dieser Haushalt enthält enorm viele Risiken. Die Tilgungsleistungen beim Fonds „Deutsche Einheit“ werden
nochmals um 200 Millionen Euro gesenkt. Verglichen mit
dem Jahr 2001 bedeutet das eine Verringerung um 1 Milliarde Euro. Das ist mit einer Verschiebung der Lasten auf
spätere Generationen gleichzusetzen.
Niemand kann letztlich übersehen, dass Ihre Sparanstrengungen nur deshalb überhaupt erwähnenswert geworden sind, weil Sie die Lasten zu großen Teilen auf die
Kommunen und auf die Länder verschoben haben.
Für den Haushalt sind Steuermindereinnahmen von
4 Milliarden Euro zu erwarten. Die Bundesanstalt für Arbeit braucht mindestens weitere 1,5 bis 2 Milliarden Euro.
Die Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe werden um mindestens 2 Milliarden Euro steigen. Die Rentenversicherung braucht zusätzlich 0,5 Milliarden Euro. Um dies aufzufangen, bedarf es eines neuen Sparpakets; anderenfalls
ist die Verfassungsmäßigkeit des Haushalts nicht mehr
gegeben.
({13})
Herr Bundesfinanzminister, Ihre Finanzpolitik - einst
ein Asset der Politik der rot-grünen Regierung; herausgestellt, gefeiert, was auch für Sie persönlich gilt - ist gescheitert. Die Blase ist geplatzt. Wir haben von der Hand
in den Mund gelebt. Das Land ächzt unter den Belastungen durch die Ausgaben für den Arbeitsmarkt. Die Steuereinnahmen bleiben aus, weil der Mittelstand verdrossen
und verärgert ist. In Ihrem Zahlenwerk gibt es ein fundamentales Ungleichgewicht. Die Bestätigung dafür werden
wir in Kürze erhalten, und zwar in Form eines blauen
Briefes aus Brüssel. Der einzige Trost, Herr Eichel, besteht darin, dass Sie nicht mehr der Empfänger dieses
Briefes sein werden.
({14})
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Oswald Metzger für die Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehn Tage vor
der Bundestagswahl befindet man sich in einer Situation,
in der man holzschnittartig argumentiert. Auch ich werde
das in einem Teil meiner Rede tun. Neben dem Pflichtteil - so etwas gibt es für einen Parlamentarier - wird
meine Rede einen Kürteil enthalten, in dem ich versuche,
die Strukturreformen darzustellen, die in dieser Gesellschaft auf allen Ebenen nötig sind, um die öffentlichen
Haushalte in Ordnung zu bringen, eine Überlastung der
Steuerpflichtigen, also der Bürger und der Wirtschaft in
diesem Land, zu verhindern und mehr Beschäftigung und
Wachstum zu generieren. Das ist eine Herkulesarbeit, die
wir in den vergangenen vier Jahren angegangen sind,
während die Union sie in den 16 Jahren ihrer Regierungszeit und die FDP in den 29 Jahren ihrer Regierungszeit
sträflich vernachlässigt haben. Das will ich jetzt belegen.
({0})
Schauen wir uns doch die harten Fakten an: Im Jahr
1969 - die FDP trat damals in eine sozialliberale Regierung ein - lag die Nettokreditaufnahme bei 1 Million DM
im Jahr. Die höchste Neuverschuldung dieser Republik in
einem Jahr gab es unter einer schwarz-gelben Regierung,
nämlich im Jahr 1996, und zwar mit 78,172 Milliarden DM.
Eine Partei, die sich aufspielt und sagt: „Wir sind“- das
steht im Wiesbadener Parteiprogramm - „gegen Neuverschuldung“, obwohl sie ständig das Gegenteil getan hat,
kommt mir wie der Versicherungsvertreter eines Großkonzerns vor, der mit Renditeversprechungen Lebensversicherungen an Frau und Mann bringt, obwohl die
Ablaufleistungen, deren Höhe man beispielsweise in „Finanztest“ nachlesen kann, statt mit den versprochenen
6 Prozent oder 7 Prozent Rendite mit 3 Prozent oder noch
viel weniger errechnet werden. So geht auch die FDP vor.
({1})
Das Gleiche gilt für den Bereich der Sozialversicherungen. Ständig wird die Höhe der Lohnnebenkosten von
den Liberalen und von der Union kritisiert. Schauen Sie
sich doch einmal an: In den 29 Jahren, in denen die FDP
ununterbrochen an der Regierung war, und in den 16 Jahren, in denen CDU und CSU ununterbrochen an der Regierung waren, sind die Beiträge ständig gestiegen. In den
29 Jahren, in denen die FDP ununterbrochen an der Regierung war, sind sie um sage und schreibe 16,7 Prozent
gestiegen.
In der Regierungszeit der Union, die kürzer war, sind sie,
obwohl es zwischenzeitlich ein paar Jahre gab, in denen
der Rentenversicherungsbeitrag sank, um sage und
schreibe 9 Prozent gestiegen. Allein von 1993 bis 1998 ist
dieser Beitrag um 4,8 Prozent gestiegen. Trotzdem kritisieren Sie uns. Aber wir haben unter dem Strich, zumindest bei der Rente, bis heute eine Absenkung der Beiträge
um 1,2 Prozent erreicht, und zwar mit dem gleichen Finanzierungsinstrument der Mehrwertsteuer, das Ihre Koalition noch im Jahre 1998 beschlossen hatte. Auch die
Mehrwertsteuer ist eine Verbrauchsteuer, nur trifft sie alle
und hat keine ökologische Lenkungswirkung.
({2})
Denn wenn man einkauft, zahlt man Steuern. Wenn
man aber Energie verbraucht, kann man die Kosten durch
effiziente Nutzung individuell steuern. Wir haben die
Beiträge in unserer Regierungszeit gesenkt. Selbst der
Anstieg der Krankenversicherungsbeiträge kompensiert
nicht den Erfolg dieser Legislaturperiode, dass nämlich
die Sozialversicherungsbeiträge zum ersten Mal in der
Geschichte dieses Landes in vier Jahren nicht gestiegen
sind.
({3})
Der gleiche Befund zeigt sich nach 29 Jahren liberaler Politik bei der Staatsverschuldung bzw. beim Schuldenstand. Im Jahre 1969 betrug er 59 Milliarden DM. Nach
29 Jahren FDP-Regierungsbeteiligung war der Betrag
25-mal höher. Er betrug nämlich sage und schreibe 1,5
Billionen DM. Diese FDP ist die Partei, die Sicherheit
verspricht, die Steuern senken will und der egal ist, was
die Zukunft bringt und wie die Steuersätze sich entwickeln, wenn man schuldenfinanziert staatliche Finanzpolitik betreibt. Ich sage nur: Die Wählerinnen und
Wähler werden übernächsten Sonntag klug genug sein,
diese Heilsversprechungen nicht zu glauben; auch den
Liberalen nicht. Denn Manna fällt nicht vom Himmel,
sondern die Steuerzahler in dieser Republik bezahlen die
öffentlichen Leistungen.
({4})
Wie sieht es bei der Deregulierung aus? Natürlich beschreibt dieses Wort den Streit um Besitzstände. Ich bin
durchaus der Meinung, wie es auch heute im gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen geschrieben steht dieser Satz hat mich persönlich gefreut -: „Flexible Arbeitsmärkte und soziale Gerechtigkeit müssen kein Gegensatz sein.“ Mehr Flexibilität in den Arbeitsmärkten
kann mehr Beschäftigung schaffen. Das ist gut für die Arbeitslosen. Wir dürfen nämlich Arbeitsmarktpolitik nicht
nur aus der Sicht der Arbeitsplatzbesitzer machen. Aber
die Regulierungen der Vergangenheit sind doch in Zeiten
geboren worden, in denen Liberale 29 Jahre lang in Regierungsverantwortung waren. Wollen Sie dem deutschen
Volk klar machen, dass Rot-Grün in vier Jahren praktisch
eine Fortsetzung dieser Politik betrieben hat, obwohl wir
in wichtigen Bereichen mit einer Veränderung begonnen
haben?
Ich meine beispielsweise die Nettokreditaufnahme, die
wir seit 1998 - das Jahr 1999 war unser erstes eigenes Jahr tatsächlich Jahr für Jahr zurückgeführt haben, und zwar
in den Ist-Zahlen und nicht in den beabsichtigten Zahlen.
Ich spreche auch von der Herkulesarbeit, die 100 Milliarden DM UMTS-Versteigerungserlöse - gegen die Versuchungen der deutschen Öffentlichkeit und auch der
Opposition - wirklich zur Tilgung zu verwenden und mit
den ersparten Zinsausgaben Investitionen zu finanzieren.
({5})
Allein im Verkehrsbereich haben wir die Investitionsausgaben um 32 Prozent erhöht, für die Schiene - das sage
ich an meine Fraktion gerichtet - um sage und schreibe 70
Prozent. Denn die alte Koalition hat nie das Versprechen,
das sie der Bahn AG gegeben hatte, eingehalten, nach der
formalen Privatisierung, der Ausgliederung und der Gründung einer Aktiengesellschaft die gleichen Investitionen
zur Verfügung zu stellen wie für die Straße. So sieht die
Wirklichkeit in diesem Land aus. Man darf hier kein Zerrbild zeichnen.
Stichwort „Steuerquote“. Die volkswirtschaftliche
Steuerquote hat der Finanzminister angesprochen. Sie hat
über lange Zeit bei 23 bzw. 24 Prozent gelegen. Heute ist
sie niedriger. Das freut zwar nicht alle Finanzminister,
übrigens auch nicht den bayerischen, aber es ist ein Faktum. Noch viel wichtiger ist Folgendes - das sage ich an
die Steuersenkungsparteien auf der Oppositionsseite -:
Sie hatten 16 Jahre bzw. 29 Jahre lang die Gelegenheit, die
Steuern zu senken. Herr Brüderle, während der 29 Jahre,
in denen die FDP an der Regierung beteiligt war, lag der
Spitzensteuersatz, der Ihnen ja sehr am Herzen liegt,
zunächst bei 53 Prozent.
({6})
Das war in den Jahren 1969 bis 1975. Dann stieg er bis
1989 auf 56 Prozent. Danach sank er auf 53 Prozent. Auf
diesem Niveau haben wir ihn übernommen. Heute zahlen
die Steuerpflichtigen bei einer etwas reduzierten Proportionalzone 48,5 Prozent. Jetzt kommt der entscheidende
Punkt: Wir haben Steuern gesenkt, und zwar nicht nur den
Spitzensteuersatz. Der Eingangssteuersatz wurde um 6
Prozent gesenkt. Der Grundfreibetrag und auch die sozialen Leistungen für Familien wurden angehoben.
({7})
Damit haben wir unter Beweis gestellt, dass wir die Bürgerinnen und Bürger, obwohl wir konsolidieren, an dieser
Konsolidierungsrendite beteiligen wollen, aber bitte nicht
zulasten schuldenfinanzierter Steuernachlässe, sondern
im Einklang mit dem Erfordernis der Konsolidierung der
öffentlichen Haushalte.
({8})
Aus diesem Grunde rate ich allen Wählerinnen und
Wählern: Messt die Parteien an ihren Taten! Wir haben
eine zweite Chance mehr als verdient, weil wir positive
Weichenstellungen vorgenommen haben,
({9})
und zwar nicht nur im Bereich der Finanz- und Steuerpolitik, sondern auch bei der Rente. Wo bitte hat da die alte
Koalition etwas gemacht, die ständig bei Veranstaltungen
von Arbeitgeberverbänden herumgeturnt ist und gesagt
hat: Natürlich wissen wir alle, dass ein umlagefinanziertes Rentensystem angesichts der demographischen Entwicklung nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Klar: Gewusst haben Sie es, aber gemacht haben Sie nichts. Sie
haben im letzten Jahr Ihrer Regierungszeit die Einführung
eines demographischen Faktors beschlossen, der erst
1999 wirksam geworden wäre, weil Sie im Wahljahr
Schiss hatten, dass eine geringere Rentenerhöhung Probleme machen könnte.
Wir aber haben die Rente reformiert und auf neue Füße
gestellt. Wir haben in der Rentenformel nicht nur die Alterung der Bevölkerung mit einer neuen, generationengerechten Lastenverteilung zwischen Jung und Alt abgebildet, sondern wir haben auch die Kapitaldeckung
eingeführt. Das ist eine Riesenleistung, für die uns heute
Ökonomen und Leute aus der Wirtschaft loben, wenn sie
nicht gerade bei FDP-Veranstaltungen als Referenten auftreten. So sieht es in diesem Land doch aus.
({10})
Deshalb: Mit vollen Hosen ist gut stinken bzw. zu unken und schlechte Stimmung zu verbreiten. Klopfen Sie
sich deshalb bitte selber an die Brust und überlegen Sie
sich, welche Bilanz Sie tatsächlich für die Zeit vorzuweisen haben, in der Sie regierten. Ich rede deshalb aus
Überzeugung von einer zweiten Chance und spüre auch
als jemand, der nicht mehr so wie die Kollegen, die sich
um einen Platz im nächsten Parlament bemühen, im
Wahlkampf steht, dass die Bevölkerung in der Endphase
dieses Wahlkampfes genau diese zweite Chance zu geben
bereit ist und entsprechend wählen wird. Auch ist Ihnen
von der Opposition der Mut ein wenig abhanden gekommen. Vor einem halben Jahr haben Sie hier anders geklappert, allerdings mit anderen Umfrageergebnissen im
Hintergrund; auch das ist keine Frage.
({11})
Zu dem, was Sie, Union wie FDP, in Ihren Sofortprogrammen ankündigen - der Finanzminister hat es doch
deutlich gemacht -, kann ich nur sagen: Als grüner Politiker brauche ich mich nicht von Ihnen als Kronzeuge
missbrauchen zu lassen, dass wir bei der Defizitquote die
3 Prozent schrammen oder gar darüber liegen könnten.
Wenn es schlecht läuft, liegen wir darüber; das ist keine
Frage, so ehrlich bin ich. Aber wenn wir das tun, was Sie
wollen, dann liegen wir bei einer Defizitquote von 5 Prozent und nicht von 3 Prozent. So sieht doch die Wirklichkeit aus!
({12})
Können wir dann tatsächlich ernsthaft und glaubwürdig
für die Einhaltung des europäischen Stabilitätspaktes
streiten?
Ich bin heute noch froh, dass der ehemalige Bundesfinanzminister Waigel und die damalige Regierung diesen
Pakt den Partnern aufs Auge gedrückt haben. Für einen
Finanzpolitiker ist das nämlich die einzige relativ objektive Benchmark für die haushaltspolitische Solidität der
Mitgliedstaaten. Wenn wir nicht so Angst gehabt hätten,
dass die eigene Bevölkerung den Euro ablehnt, weil sie
befürchtete, dass der Euro zu einer weichen Währung
wird, hätte man, Herr Waigel, das damals wohl auch nicht
im deutschen Parlament durchgebracht. Nun bin ich aber
froh, dass es ihn gibt und wir als Deutsche sollten alles
tun, um diesen Stabilitätspakt tatsächlich einzuhalten.
Jede Aufweichung hieße, ihn zu beerdigen.
({13})
Nun ein paar Sätze zum Thema Glaubwürdigkeit:
Herr Merz, Sie haben in Ihrer dem Wahlkampf gemäß polemischen Rede beispielsweise gesagt,
({14})
wir hätten die Zinsausgaben in unserer Regierungszeit
erhöht. Das ist falsch.
({15})
Wir haben die Zinsausgaben - Rechnungsergebnis Ende
2001 gegenüber Rechnungsergebnis 1998 - um 1,6 oder
1,7 Milliarden Euro gesenkt. Das ist klar die Folge der
Sondertilgung aufgrund der UMTS-Erlöse; auch das zu
sagen gehört zur Wahrhaftigkeit. Die Zinsausgaben des
Staates hängen natürlich mehr vom Kapitalmarktniveau
ab - Herr Merz, das wissen Sie selber - als von der absoluten Schuldenhöhe; denn eine Erhöhung des Kapitalmarktzinses um 1 Prozent macht bei einer Gesamtverschuldung
von bald 800 Milliarden Euro für die Refinanzierung des
Staates schon einmal 8 Milliarden Euro mehr Zinsausgaben aus. Wenn ich ganz ehrlich vorgehe, muss ich natürlich nur die Bruttoneuverschuldung berücksichtigen,
dann sind es aber trotzdem noch 2 bis 2,5 Milliarden Euro.
Trotzdem können Sie nicht behaupten, die Zinsausgaben
seien gestiegen; sie sind gesunken.
Zum Abschluss - ich sehe auf der Uhr, dass ich noch
sieben Minuten habe - so etwas wie einen Kürteil.
({16})
- Ich will weitermachen, Kollege Austermann, aus gutem
Grund. - Das ist der Part, den man in Wahlkampfzeiten
normalerweise nicht bringt, nämlich der nachdenkliche
Teil. Ich bin überzeugt, dass wir alle, die wir hier sitzen,
egal aus welchem politischen Lager, gut genug wissen,
dass die Kosten der sozialen Sicherungssysteme aus demographischen Gründen überdurchschnittlich steigen;
die Wachstumsrate ist weit höher als das, was wir an
volkswirtschaftlichem Wachstum generieren können.
Deshalb werden wir Strukturreformen brauchen,
nicht nur beim Arbeitsmarkt, sondern auch bei der Gesundheit. Wir brauchen mehr Kostentransparenz, auch für
die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung.
Ebenso benötigen wir Wahltarife und mehr Eigenverantwortung bei der Gesundheit, wie wir es bei der Rente mit
dem Einstieg in die Kapitaldeckung erreicht haben. Darüber hinaus müssen wir in der gesetzlichen Krankenversicherung einen Kapitaldeckungsanteil einführen, der
auch die zunehmende Alterung der Gesellschaft abbildet,
die zu mehr Ausgaben führen wird.
Daran werden alle Industriegesellschaften zu nagen
haben. Diesen Umsteuerungsprozess wirklich seriös zu
gestalten, nicht nur in Wahlkampfzeiten, sondern auch
dann, wenn Politik konkret wird, wird eine Herkulesarbeit, weil man gegen viele Besitzstände angehen muss.
Die Leute, die auf der einen Seite nichts hergeben wollen,
beklagen sich auf der anderen Seite, wenn sie die Rechnung in Form von schuldenfinanzierter sozialer Transferleistung präsentiert bekommen, die sie dann wieder über
Steuererhöhungen bezahlen müssen.
Der demographische Wandel stellt für alle Industriegesellschaften auf diesem Globus ein Grundproblem dar,
das noch nirgends wirklich überzeugend angegangen
worden ist; denn das würde einerseits bedeuten, der Bevölkerung sagen zu müssen, dass sie vorsorgesparen statt
konsumieren müsse.
({17})
Andererseits hoffen wir als Politiker immer noch auf mehr
ökonomisches Wachstum, damit die Mehrausgaben über
höhere Einnahmen abgedeckt werden können und wir
keine grundsätzliche Strukturänderung brauchen. Hier
besteht ein Zusammenhang. Für dieses Problem gibt es
keine einfache Lösung. Die Lösung kann auch nicht
heißen, dass wir ansparen und in den produktiveren Entwicklungsvolkswirtschaften auf diesem Globus WachsOswald Metzger
tumsraten generiert werden, die dazu führen, dass wir im
Alter von an fremder Stelle mit unserem Kapitaleinsatz
erwirtschaftetem Einkommen leben können.
Das ist eine Grundfrage, über die wir nachdenken müssen. Diese Frage können Sie heute in diesem Land Gott
sei Dank auch in Wahlveranstaltungen stellen, weil in
Deutschland der bequemste Weg, den wir lange gehen
konnten, nämlich die Verschuldung, inzwischen diskreditiert ist. Dieses Verdienst hat Hans Eichel.
({18})
Deshalb bin ich froh, dass dieser Bundesfinanzminister
sein Amt ausgefüllt hat. Ich hoffe, dass er auch nach dem
22. September Bundesfinanzminister bleibt.
({19})
Neben dem demographischen Problem noch ein Stichwort zum Thema Arbeitsmarkt, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe. Herr Merz, Sie haben in diesem Bereich - jetzt
lassen wir einmal den Wahlkampf und die Positionierung
außen vor - durchaus den Finger in Wunden gelegt. Wenn
man das Ganze nicht nur holzschnittartig diskutiert, weiß
jeder von uns, auch die Sozialdemokraten und wir Grüne,
dass man ohne Veränderungen, beispielsweise bei der Arbeitslosenhilfe - deshalb gibt es eine Gemeindefinanzreformkommission - mit der ganz klaren Absicht, sie längerfristig in etwa auf Sozialhilfeniveau zu bringen, indem
die beiden Systeme zusammengelegt werden, keine Synergieeffekte und keine Einsparung erzielen kann.
Das ist klar. Warum? Schauen Sie sich den Finanzplan
dieser Regierung an. Von 2004 bis 2006 steht im Plan von
Walter Riester eine globale Minderausgabe mit 3 Milliarden Euro. Das zeigt, dass wir den Handlungsbedarf, dort
durch Strukturmaßnahmen im konsumtiven Bereich Einsparungen zu erzielen, durchaus sehen. Das werden die
Koalitionsparteien aus meiner Sicht nach der Wahl schultern müssen, gemeinsam mit dem Bundesrat und vor allem mit den Kommunen, denen wir einen Ersatz anbieten
müssen, damit sie keine Angst haben müssen, dass aus der
jetzt bundesfinanzierten Arbeitslosenhilfe Lasten der Gemeinden und Landkreise durch Sozialhilfeausgaben werden. Nicht alles, was an Regulierung des Arbeitsmarktes
im Arbeitsrecht verankert ist, und nicht alles, was Arbeitsrichter in diesem Land an Recht sprechen - auch das
Richterrecht kann sich oft beschäftigungshemmend auswirken -, wird in dieser Gesellschaft Bestand haben. Darauf wette ich meinen Kopf, mit dem ich normalerweise
vorsichtig umgehe.
({20})
Eine letzte Bemerkung. Ich war acht Jahre im Parlament und war acht Jahre Haushaltssprecher meiner Fraktion. Ich war gerne im Haushaltsausschuss und habe viele
Kollegen der SPD, der Union, der FDP, der PDS und meiner eigenen Fraktion kennen und schätzen gelernt. In diesem Parlament habe ich viel gelernt. Ich wünsche mir
auch in der neuen Legislaturperiode aufrechte Parlamentarier.
Vielen Dank.
({21})
Herr Kollege Metzger, Ihre Fraktion hat mich darauf hingewiesen,
dass dies Ihre letzte Rede im Parlament war, jedenfalls für
die nächsten vier Jahre. Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit
und wünsche Ihnen persönlich im Namen des Hauses alles Gute für die Zukunft.
({0})
Nun gebe ich der Kollegin Dr. Christa Luft das Wort für
die Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit scheint völlig sicher zu sein - so sicher wie das
Amen in der Kirche -, dass von dem Zahlenwerk, das die
Bundesregierung für 2003 präsentiert, kaum etwas Bestand haben wird. Das liegt nicht nur an den Folgen der
unvorhergesehenen, verheerenden Flutkatastrophe, die
schnell - auch wir haben uns zu einer schnellen Hilfe bekannt - bewältigt werden müssen. Das liegt auch vor allem an dem Prinzip Hoffnung, auf dem der Haushaltsentwurf von Hans Eichel beruht. Mit Wahrheit und Klarheit
hat dieser jedenfalls nichts zu tun.
Von 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum im kommenden Jahr gehen nicht einmal unverbesserliche Optimisten
aus. Beschäftigungsimpulse von dort wird es also nicht
geben. Die veranschlagten Steuereinnahmen stehen in
den Sternen.
Eine schwere Hypothek hinterläßt das laufende Jahr.
Die Arbeitslosigkeit verharrt auf deprimierend hohem
Niveau. Im zwölften Jahr der deutschen Einheit haben wir
in den neuen Ländern eine offizielle Arbeitslosenquote
von 17,6 Prozent. Was wollen wir diesen Menschen mit
dem jetzt vorliegenden Haushalt vermitteln?
Die Bundesanstalt für Arbeit wird 2002 mindestens
doppelt so viel Zuschuss benötigen wie geplant. Wer daran glaubt, dass man im Jahr 2003 ohne Zuschuss auskommen könne, der muss auf einem anderen Stern leben;
denn vor allen Dingen die Großunternehmen kündigen
pausenlos Stellenabbau an. Auf der anderen Seite erreichen die Unternehmensinsolvenzen einen neuen Rekordstand. Herr Minister, was die Unternehmensinsolvenzen
anbetrifft, haben wir in diesem Lande in der Tat einen
Wachstumspfad beschritten. Aber das kann ja wohl niemand wollen.
({0})
Über 130 000 junge Leute suchen zurzeit noch eine
Lehrstelle trotz kostspieliger staatlicher Programme. Wie
allerdings Herr Merz erreichen will, dass die Wirtschaft
ihrer Verpflichtung endlich nachkommt, mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, damit es alle jungen Menschen, die es möchten, schaffen, zur Leistungsund Bildungselite zu gehören, hat er hier leider nicht gesagt.
Die Kluft zwischen Ost und West nimmt zu. Der Kanzler wird es hoffentlich noch dementieren, dass dies das
Ergebnis seiner Chefsache Ost gewesen ist. Herr Bundesfinanzminister, der Verweis darauf, dass es einen Solidarpakt II gibt, der ab dem Jahr 2005 greift, und dass nun
eine gesicherte Perspektive für die Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse der neuen Länder an die der alten Länder gegeben sei, klingt so, als wenn man einem Ertrinkenden zurufen würde, dass in zwei Stunden Hilfe
käme. Das kann wohl nicht der Ausweg sein.
({1})
Ein Ruhmesblatt ist das, was ich hier an wenigen Fakten benennen konnte, nicht.
Nun sollen die panikartig vorgelegten, unausgegorenen
Vorschläge der Hartz-Kommission den Durchbruch bei
Beschäftigung und Ausbildung bringen. Ich finde, dass die
Ideen zur Bekämpfung gesellschaftlicher Missstände immer abenteuerlicher werden. Nach „Tanken für die Rente“
und „Rauchen für die Sicherheit“ heißt es nun „Arbeitsplätze auf Kredit“ und „Lehrstellen per Scheck von Oma
und Opa“. Wo soll das eigentlich noch hinführen?
({2})
Nach meinen Erfahrungen stellen Unternehmen zusätzliches Personal nur dann ein, wenn sie Aufträge haben.
Dafür aber wäre gerade die Ausweitung öffentlicher Investitionen und die Stärkung der Binnenkaufkraft notwendig.
({3})
Davon steht allerdings im Hartz-Papier kein Wort. Der
Kanzler will das Papier aber 1:1 umsetzen.
Verfeinerte Vermittlungstechniken soll es geben. Ich
frage mich, wo die im Osten irgendetwas bewirken sollen.
Auch in strukturschwachen Gebieten der alten Länder
werden sie nichts bewirken, weil es dort zu wenige Unternehmen gibt, die Arbeitsplätze anbieten. Familiär ungebundene Arbeitslose sollen zu einer Art Nomadendasein verpflichtet werden. Sie sollen dorthin gehen, wo sie
- auch unter ungünstigen Konditionen - Arbeit finden. So
etwas wird unsere Zustimmung nicht finden.
({4})
Wir glauben, dass wir aus dem Tal der Beschäftigung
- auch was die Ausbildungsplätze angeht - nicht herauskommen, wenn nicht endlich öffentliche Investitionen
aufgestockt werden und insbesondere auch Kommunen
größere finanzielle Spielräume bekommen.
({5})
Eine empfindliche Lücke klafft zwischen dem SPDWahlprogramm und dem Haushaltsentwurf. Von
der mittelfristig versprochenen Kindergelderhöhung auf
200 Euro ist keine Rede mehr. Statt der angekündigten
1 Milliarde Euro jährlich für Ganztagbetreuung in Schulen finden sich in dem wichtigen Startjahr 2003 ganze
300 Millionen Euro. Der Beitrag zur Rentenversicherung
wird trotz öffentlicher Stabilitätsbeteuerung bereits mit
19,3 Prozent, also 0,2 Prozent mehr als bisher, eingeplant.
Bis 2007, so ist im Wahlprogramm der SPD zu lesen, sollen Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst der neuen
Länder an die in den alten Ländern angeglichen sein. Wir
haben dazu natürlich keinen Widerspruch. Im Haushalt
widerspiegelt sich das aber nicht. Ich frage: Was nützen
verbale Bekundungen, wenn sie keine entsprechende finanzielle Flankierung erfahren?
({6})
Der Haushaltsentwurf 2003 reflektiert, wie auch schon
die drei vorangegangenen, meiner Meinung nach falsche
Weichenstellungen rot-grüner Finanz- und Haushaltspolitik. Ich erinnere mich sehr gut: Die heutigen Koalitionsparteien haben zu ihren Oppositionszeiten die damaligen
Regierungsparteien, Union und FDP, zu Recht hart dafür
kritisiert, dass diese die deutsche Einheit kredit-, also
schulden- statt steuerfinanziert hätten und daher große
Verantwortung für den aufgehäuften Schuldenberg trügen. Völlig unverständlich war und ist aber, dass RotGrün nach Übernahme der Regierungsverantwortung nun
diejenigen nicht in besonderer Weise zur Schuldentilgung
herangezogen hat, die über lukrativste Steuerabschreibungsmodelle und großzügige Fördermittelvergabe am
staatlichen Schuldenmachen privat massiv verdient haben. Stattdessen war eine der ersten Handlungen von
Rot-Grün, für hohe Einkommensbezieher den Spitzensteuersatz zu senken, für Kapitalgesellschaften den Körperschaftsteuersatz zu reduzieren und die Wiedererhebung der Vermögensteuer von der Tagesordnung zu
nehmen.
Die PDS hat das von Anfang an für falsch gehalten.
Das ist auch heute unsere Position; denn das Ergebnis sind
empfindliche Löcher in den Bundes-, Länder- und kommunalen Kassen, mit fatalen Folgen für die Investitionstätigkeit und die Finanzierung öffentlicher Daseinsvorsorge. Zugleich müssen zur Aufbringung der Zinsen
für die aufgenommenen Schulden die Lohn- und Einkommensteuerzahler anteilig am meisten beitragen. Diese
von Schwarz-Gelb verursachte Schieflage hat Rot-Grün
verstärkt. Deshalb fordern wir heute noch einmal: Setzen
Sie die zweite Stufe der Steuerreform nicht nur nicht aus,
sondern nutzen Sie die Gelegenheit, um sozial gerechte
Korrekturen an dieser Steuerreform vorzunehmen!
({7})
Das, Herr Poß, gehört im Übrigen zu den Finanzierungsvorschlägen, die die PDS für die Projekte, die sie gern
umsetzen möchte, gemacht hat.
Allzu lang sind die neuen Koalitionsfraktionen der Losung der Union und der FDP „Steuersenkungen für Unternehmen sind das Hauptmittel, um die Konjunktur anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen“ auf den Leim
gegangen. Praktische Beweise für die Richtigkeit dieser
Losung kann niemand vorlegen. Auch die FDP tut sich damit schwer. Ganz im Gegenteil: Die großen Unternehmen
haben die Vorteile der Steuerreform kassiert, die Regierung aber im Regen stehen lassen. Die Regierung hat zugeschaut, wie sich die Großen von der Ausbildung junger
Menschen mehr und mehr verabschieden und die Kosten
dafür der Allgemeinheit aufbürden. Es ist höchste Zeit,
dass sich die Politik wieder gegenüber der Wirtschaft
emanzipiert.
({8})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dies war meine
letzte Rede vor dem Deutschen Bundestag. Ich möchte
allen, die an der weiteren Beratung des Haushalts 2003
beteiligt sein werden, ein gutes Augenmaß bei den anstehenden Entscheidungen wünschen, sodass sie sozial gerecht ausfallen. Bei all jenen, mit denen ich acht Jahre
lang in der eigenen Fraktion und vor allem im Haushaltsausschuss zusammenarbeiten konnte, bedanke ich mich
herzlich.
Vielen Dank.
({9})
Frau Kollegin Luft, auch bei Ihnen möchte ich nicht versäumen, Ihnen im Namen des Hauses unsere guten Wünsche für Ihr
weiteres nicht parlamentarisches Leben auszusprechen.
({0})
Ich gebe nun für die SPD-Fraktion dem Kollegen Hans
Georg Wagner das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich möchte ein
Wort des Dankes voranstellen. Ich möchte Oswald
Metzger danken, der mit mir zusammen die Hauptlast der
Arbeit am Haushaltsplan getragen hat. Die Zusammenarbeit hat hervorragend funktioniert. Wir konnten dem Bundesfinanzminister immer wieder melden, dass wir den
Konsolidierungskurs mit ihm zusammen fortführen und
die Nettoneuverschuldung herabgesetzt wird. Das hat bis
zum Haushaltsentwurf 2003 funktioniert. Ich bin dankbar,
dass ich in Oswald Metzger einen sachverständigen Partner hatte, der geholfen hat, diese Ziele zu erreichen.
({0})
Auch Christa Luft möchte ich ein Wort des Dankes sagen. Sie war zwar in der Opposition, aber es gab trotzdem
eine angenehme Zusammenarbeit im Haushaltsausschuss
des Deutschen Bundestages. Auch dich, liebe Christa, werden wir vermissen. Wir werden dich aber hoffentlich nicht
aus den Augen verlieren. Dir wie Oswald Metzger, der gerade in den Saal hineinkommt, ein herzliches Dankeschön.
({1})
Zurück zur Debatte. Ich habe zu der Rede von Herrn
Merz das eine oder andere anzumerken. Ich habe zum
Beispiel nicht verstanden, warum er hier scheinheilig gesagt hat, der Bundeskanzler möge bitte den Regierungssprecher rügen, weil er Herrn Klose angegriffen habe,
während er gleichzeitig kein Wort darüber verloren hat,
dass der ehemalige Bundeskanzler Kohl den amtierenden
Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse mit einem der
schlimmsten Verbrecher der deutschen Geschichte verglichen hat. Dazu hatte ich ein Wort der Entschuldigung des
Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU erwartet.
({2})
Ich möchte jetzt zur Flutkatastrophe und der Finanzierung ihrer Folgen kommen. Warum - das frage ich den
Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU - bleibt die sächsische Staatsregierung auf dem Geld sitzen und zahlt es
nicht an die Betroffenen aus?
({3})
Alle anderen Länder haben das gemacht. Es ist eine Unverschämtheit, auf dem Rücken der Opfer in Sachsen
Zinsersparnisse aus dem Geld herauszuwirtschaften, das
der Bund längstens überwiesen hat.
({4})
Dies ist nicht einzusehen und ist eine Unverschämtheit
den Menschen in diesem Land gegenüber!
({5})
Herr Merz hat zwar das Sofortprogramm der Union nicht
verkündet - wahrscheinlich hat er sich nicht getraut -, aber
ich hätte gerne gehört, was er den Wählerinnen und
Wählern versprochen hätte. Dann hätte ich gefragt: Wie
ist die konkrete Finanzierung Ihres Programms? Ich sage:
Es geht - ich will es über den Daumen peilen - um eine
Mehrwertsteuererhöhung auf 17 bis 20 Prozent. Das bedeutete die Umsetzung des Programms der Union; aber es
wird ja nicht zum Tragen kommen, weil die Wählerinnen
und Wähler schlau genug sind, das Desaster, das sich damit andeutet, zu verhindern.
Herr Merz hat gesagt, die Zinsen seien gestiegen. Ich
weiß nicht, welche Berechnungsbeispiele man ihm an die
Hand gegeben hat oder er sich selbst vorgenommen hat.
1999 hatten wir 44,1 Milliarden Euro an Zinsen zu zahlen, im Jahre 2002 sind dies 41,5 Milliarden Euro. Nach
meiner Rechnung sind dies 2,6 Milliarden Euro weniger
als 1999 und nicht mehr, wie er behauptet hat. Vielleicht
hat er sich auf meinen Nachredner, den Kollegen
Austermann, verlassen. Dann wäre er in der Tat verlassen.
Von Herrn Rexrodt ist gesagt worden, die Bundesrepublik Deutschland sei Schlusslicht in Europa. Dies ist absolut falsch. In den Jahren, in denen Sie, Herr Kollege
Rexrodt, auch persönlich an der Regierung beteiligt waren, lag Deutschland immer auf dem 14. oder 15. Platz.
Dies ist nachweisbar. Diese Aussage basiert nicht auf unseren Berechnungen; dies haben ganz andere zu berechnen.
Im Gegenteil haben wir jetzt erreicht, dass etwa die
Exporte der deutschen Wirtschaft seit 1998 um 30,5 Prozent auf 637 Milliarden Euro gestiegen sind. Ausländische Direktinvestitionen in Deutschland, Herr Rexrodt,
beliefen sich im Jahre 1998 - dies war während Ihrer Regierungszeit - auf 31 Milliarden Euro. Im Jahre 2001 waren dies 321 Milliarden Euro. Diese enorme Steigerung
zeigt das Vertrauen, welches das Ausland in Investitionen
in Deutschland hat. Dies ist ein Erfolg dieser Bundesregierung und dieser Koalition.
({6})
Jetzt betteln Sie schon wieder öffentlich um den so genannten blauen Brief aus Brüssel. Vor einem halben Jahr
haben Sie schon einmal darum gebettelt, aber er kam
nicht. Ich weiß nicht, warum Sie die Bettelei jetzt schon
wieder aufnehmen, denn der zuständige Kommissar und
die Haushaltskommissarin haben beide versichert, er
stehe nicht bevor. Deutschland sei kein Anwärter auf einen blauen Brief.
({7})
Jetzt können Sie ihn vielleicht noch herbeibeten, aber herbeireden können Sie ihn nicht.
({8})
Dass Sie ein Problem mit den Spitzensteuersätzen haben, Herr Kollege Rexrodt, ist mir klar. Wenn man in
15 Aufsichtsräten sitzt und die Tantiemen versteuert werden müssen, ist es schon unangenehm, wenn der Spitzensteuersatz oben bleibt.
({9})
Darauf können wir aber keine Rücksicht nehmen und die
Steuersätze so anheben oder absenken, wie Sie das gerne
hätten.
({10})
Herr Stoiber hat neulich gesagt, es sei besser, Zinsen
zu zahlen, als Steuern nicht zu senken. Diese Aussage
muss man genau untersuchen. Es geht dabei um die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder. Der Betrag, den
wir in diesem Jahr für Zinsen aufbringen müssen, fehlt
diesen bei ihrer Zukunftsgestaltung. Kein vernünftiger
Mensch kann wollen, dass wir permanent durch die Erhöhung der Verschuldung, wie sie die Union derzeit vorschlägt, unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder
und Enkelkinder belasten.
({11})
Voraussetzungen für die Gestaltung der Umwelt unserer Kinder und Kindeskinder sind eine solide Haushaltspolitik und die Zurückführung der Schulden. Das machen
wir. Wir haben für das Jahr 2003 eine Nettokreditaufnahme in Höhe von 15,5 Milliarden Euro vorgesehen.
Dies ist die geringste seit Jahrzehnten in Deutschland. Sie
haben Erhöhungen der Nettokreditaufnahme um bis zu
80 Milliarden DM beschlossen.
({12})
Wir haben diese durch unseren Konsolidierungskurs abgesenkt.
Wir wissen natürlich - das ist heute berichtet worden -,
dass unser Haushalt Risiken birgt. Die Ölpreise ziehen
an. Das ist aber nicht die Schuld dieser Bundesregierung.
Schuld ist das Gerede eines Mannes, der sagt: Den Irak
müssen wir überfallen - Der Irak hat die Preise erhöht.
Der Chefvolkswirt Michael Hüther von der Deka-Bank
hat heute erklärt: Wenn es zu einem Überfall auf den Irak
kommt, stürzen wir in die Rezession. Die deutsche Wirtschaft ist zu labil. Einen weiteren Schock kann sie nicht
verkraften. Er sagte weiter: Ein Angriff Amerikas hätte
schlimmere Folgen als der Golfkrieg Anfang der 90erJahre. Diese Aussagen müssen wir ernst nehmen, weil sie
von Ökonomen aus unserem Land kommen, die die Lage
genau und richtig beurteilen können.
Noch etwas anderes, was dieser Tage passiert ist, hat
mich gewundert: Der wirtschaftskompetente Mensch im
Kompetenzteam hat plötzlich von dem Verkauf der Telekom-Aktien gesprochen, und zwar sofort.
({13})
Dies hat erst einmal einen Kurssturz bewirkt. Darüber hinaus ist das gegen die Interessen aller Kleinaktionäre gerichtet; denn der Aktienkurs würde noch weiter heruntergehen, wenn man die Aktien, die der Bund oder die KfW
hält, auf den Markt bringen würde. Das ist also völlig kontraproduktiv und im Gegensatz zu dem, was eigentlich gemacht werden müsste.
Ich möchte nun einige Anmerkungen zu Bildung und
Forschung machen. Nach einer Untersuchung der OECD
belegte die Bundesrepublik Deutschland 1992 mit
8,5 Prozent für diesen Bereich den letzten Platz aller untersuchten Staaten. Von 1993 bis 1998 haben Sie den Forschungshaushalt um 360 Millionen Euro gekürzt. 2002
umfasste der Forschungsetat 8,8 Milliarden Euro. Das ist
der größte Forschungsetat, seit es das Forschungsministerium in Deutschland gibt. Darauf sind wir stolz, Herr
Minister Eichel.
({14})
Im Vergleich zu 1998 sind die Ausgaben um 28 Prozent
gestiegen. Wenn Sie einen Zeugen dafür brauchen, dann
verweise ich Sie auf Ihren forschungspolitischen Antrag
vom 25. Juni 2002. Dort heißt es:
Der Zuwachs bei den Ausgaben im Haushalt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von ca.
20 Prozent in vier Jahren ist durchaus beachtlich ...
Das stellt die CDU/CSU fest. Ich danke den Forschungspolitikern Ihrer Partei, die offenbar erkannt haben, dass
hier der richtige Weg beschritten worden ist.
Erfreulich ist auch, dass die Wirtschaft mitgezogen hat.
Sie hat die Anteile die Forschung betreffend ebenfalls gesteigert, und zwar um 21 Prozent; wir liegen bei 28 Prozent.
Ich komme auf die neuen Länder zu sprechen. Die Spitzenforschung ist allein in den neuen Ländern mit 1,5 Milliarden Euro bedient worden. Jede vierte Fördermark für Biotechnologie geht in die neuen Länder. Es ist also erkennbar,
dass wir den Aufbau Ost auch in diesem Bereich ernst nehmen und in Zukunft weiter fortsetzen wollen.
({15})
Ich hätte noch gerne gewusst, wie der Kandidat auf
eine Anzeige in der „Süddeutschen Zeitung“ von heute
reagiert, in der steht, dass durch die Abschaffung des
Dosenpfands 250 000 Arbeitsplätze gefährdet werden. Ich
erwarte morgen auch darauf eine Antwort; denn es ist unvorstellbar, dass mit einer einzigen Aktion 250 000 Arbeitsplätze vernichtet werden. Dies ist nicht hinzunehmen und
mit uns auch nicht zu machen.
({16})
Ich bin dankbar, dass Dirk Fischer ehrlich gesagt hat,
was Sie mit dem öffentlichen Personennahverkehr in
Deutschland vorhaben: Sie wollen ihn radikal vernichten.
Nach dem Papier, das uns vorliegt, haben Sie mit dem öffentlichen Personennahverkehr nichts mehr im Sinn. Deshalb ist die Bevölkerung gut beraten, Ihnen nicht auf den
Leim zu gehen, sondern eine klare Position zu beziehen
und dieser Koalition das Weiterregieren zu ermöglichen.
Schönen Dank.
({17})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dietrich
Austermann.
({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Kollege Wagner hat in seiner letzten Rede im Bundestag die Dinge wie üblich verdreht. Das will ich an dem Beispiel der Fluthilfe in Sachsen deutlich machen. Herr Kollege Wagner, Sie haben
heute hier gesagt, in Sachsen kämen die Flutgeschädigten
deshalb nicht rechtzeitig zu ihrem Geld, weil die Staatsregierung nicht in der Lage sei, das Bundesgeld auszugeben.
({0})
Das ist erwiesenermaßen falsch. Als Sie das Gleiche heute
Morgen um 8 Uhr in der Sitzung des Haushaltsausschusses behauptet haben, hat Ihnen der zuständige Staatssekretär der Bundesregierung, Herr Gerlach, die Situation
ganz klar beschrieben. Ich fordere Sie auf, nachher hier zu
sagen, dass Sie etwas Falsches behauptet haben. Das
Ganze habe ich noch durch eine Aussage des zuständigen
Staatssekretärs aus dem sächsischen Finanzministerium
verifiziert. Danach sind Infrastrukturmittel des Bundes
bisher nicht eingegangen. Sachsen hat gestern 203 Millionen Euro Barmittel und Verpflichtungsermächtigungen
in Höhe von 237 Millionen Euro für Infrastruktur freigegeben. Herr Wagner, Sie haben die Unwahrheit gesagt und
versuchen, den Menschen in den neuen Bundesländern,
die besonders geschädigt sind, damit Sand in die Augen
zu streuen. Das ist unanständig.
({1})
Das ist auch deshalb unanständig, weil auf der Basis
dessen, was als Haushaltsentwurf heute vorliegt, ganz
klar ist: In den nächsten vier Jahre haben die Menschen in
den neuen Bundesländern von Ihnen nichts zu erwarten.
Die Leistungen sind dramatisch verschlechtert worden,
sogar bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen haben Sie
in den neuen Bundesländern gespart. Sie haben die Mittel
für Forschungsförderung, für den Mittelstand wie auch
für viele andere Bereiche gekürzt. Jetzt habe ich von der
Kollegin Jaffke erfahren, dass die geschädigten Landwirte durch höhere Pacht ihren eigenen Flutschaden bezahlen sollen. Ich glaube, das setzt dem Fass die Krone
auf. So kann man mit den Geschädigten, mit den Opfern
nicht umgehen.
({2})
- Herr Thönnes, haben Sie das nicht verstanden? Ja, das
setzt dem Fass die Krone auf. Herr Thönnes, haben Sie es
jetzt verstanden?
({3})
Jawohl, Kronenbier, Herr Thönnes, Kronenbier!
Ein Weiteres: Die ganzen Leistungen, die Sie bisher im
Haushalt für das kommende Jahr vorgesehen haben, lassen ganz eindeutig erkennen, dass die für die neuen Bundesländer und die Fluthilfe vorgesehenen Mittel in den
nächsten Tagen versickern werden. Bisher basieren sie
auf 400 Millionen Euro außerplanmäßige Ausgaben. Das
erste frische Geld kommt erst im Januar nächsten Jahres.
Um diesen Zeitraum zu überbrücken, brauchen Sie Milliarden, die nicht bereitstehen. Deswegen sage ich: Der
Knall kommt nach der Wahl, wenn feststeht, dass der Bund
den Mund zu voll genommen hat und das Geld nicht da ist.
Ich möchte etwas zu den Daten dieses Haushalts sagen. Dieser Haushalt ist reine Makulatur; denn die Basis
ist falsch. Wirtschaftswachstum, Steuereinnahmen, Arbeitsmarktausgaben, Privatisierungserlöse - nichts stimmt
mehr. Die Investitionen werden gedrosselt. Die Konsumausgaben des Bundes steigen. Deshalb muss man sich
über die Situation nicht wundern.
Sie haben das Jahr 1998 als Messlatte genommen. Ich
erinnere daran, dass Schröder im Mai 1998 sagte, dies sei
sein Aufschwung, die Leute freuten sich auf den Regierungswechsel. Im Jahre 1998 gab es einen Rückgang der
Arbeitslosigkeit um 400 000. In diesem Jahr gibt es im
vergleichbaren Zeitraum eine Zunahme der Arbeitslosigkeit um 250 000. Damit ist ziemlich klar, dass eine Perspektive fehlt. Damit ist aber auch klar, dass der Haushalt
durch zusätzliche Belastungen in den kommenden Jahren
in Form von Mehrausgaben beim Arbeitsmarkt und Mindereinnahmen bei den Steuern auf schwankendem Boden
steht.
Statt Wachstum wie im Jahre 1998 herrscht heute
Stagnation oder allenfalls Kümmerwachstum. Das wirkt
sich in Form von Firmenpleiten aus. Das wird verstärkt,
weil Sie glauben, in diesem Jahr die Steuern erhöhen zu
müssen. Eine Steuererhöhungspolitik mitten im Aufschwung ist genau das falsche Mittel. Am 1. Januar sollen
die Steuern noch einmal um 12 Milliarden Euro erhöht
werden. Eine weitere Stufe der Ökosteuer tritt in Kraft.
Die nächste Stufe der Steuerreform wird verschoben.
Hinzu kommt die LKW-Maut. All das ist kontraproduktiv.
Herr Kollege Wagner, Sie haben die Energiepolitik angesprochen. Es hat noch nie so hohe Spritpreise wie zurzeit gegeben.
({4})
1 Liter Sprit kostet 30 Cent mehr als im Jahre 1998. Ich multipliziere diese Zahl mit dem Verbrauch in Deutschland.
Damit wird klar, weshalb die Taxifahrer in Berlin heute
auf die Straße gegangen sind. Damit wird klar, weshalb
die Menschen für den Konsum kein Geld mehr in der Tasche haben. Das Geld wird ihnen durch eine falsche Energiepolitik - mindestens die Hälfte dieser steigenden Ausgaben beruht auf der Ökosteuer - aus der Tasche gezogen.
({5})
Man soll Politik an den Ergebnissen messen. In diesem
Fall sind das die Arbeitslosenzahlen. Ich habe die Vergleichszahl für 1998 genannt. Ich möchte unterstreichen,
weshalb die Politik, die Sie gemacht haben, unsozial und
ungerecht ist. Das, glaube ich, trifft Sozialdemokraten besonders stark. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer
betrugen im ersten Halbjahr 1998 9,7 Milliarden Euro. In
diesem Jahr liegen sie bei minus 1,3 Milliarden Euro. Die
Einnahmen aus der Lohnsteuer von 1998 sind genauso
hoch wie in diesem Jahr. Dabei ist die Zahl der Lohnsteuerzahler in diesem Jahr etwas geringer geworden. Das
heißt, die etwa gleiche Zahl von Lohnsteuerzahlern zahlt
heute mehr Steuern als vorher, die großen Körperschaften
bekommen Geld vom Staat zurück. Das Finanzamt ist zur
Auszahlungsstelle geworden. Das kennzeichnet, mit welchem unbegründeten sozialen Anspruch Sie heute auftreten.
({6})
Ich könnte auch die Besteuerung des Mittelstandes anführen. Ich könnte die Besteuerung der Alleinerziehenden
erwähnen. Ich könnte die Abfindungen der Arbeitnehmer
nehmen, die nach einem Sozialplan aus dem Unternehmen ausscheiden. Sie werden nämlich steuerlich schlechter behandelt. Andere Beispiele sind die Stellung der Witwen in der Rentenreform und die Kürzung bei Altersbeiträgen. Was ich vor allem für wichtig halte, ist die Situation der Gemeinden. An vielen Stellen kreist über den
Gemeinden der Pleitegeier. Das hat Auswirkungen auf die
Jugendarbeit, die Arbeit von Volkshochschulen und die
freiwilligen Leistungen insgesamt. Bei dieser Entwicklung müssen wir uns nicht wundern, wenn wir in absehbarer Zeit die Scherben dieser falschen, gemeindelastigen
Politik werden aufsammeln müssen.
({7})
Statt Entlastung haben wir steigende Abgaben. Deswegen will ich noch einmal das Thema Maastricht ansprechen. 1998 lag das gesamtstaatliche Defizit bei 1,7 Prozent. In diesem Jahr liegt es bei etwa 3,5 Prozent. So viel
zum Thema blauer Brief. Dass Frau Schreyer von den
Grünen sagt, ein blauer Brief stehe noch nicht im Raum,
sagt überhaupt nichts aus. Tatsache ist: Die finanzielle Situation bei der Rentenversicherung, der Krankenversicherung, der Pflegeversicherung, in den Gemeinden und
in den Ländern stellt sich, ergänzt um das Defizit des Bundes, so dar, dass ein Milliardendefizit von weit über
60 Milliarden Euro zusammenkommt, womit das 3-Prozent-Kriterium überschritten wird.
Lassen Sie mich mit einem Beispiel belegen, warum
man feststellen muss, dass dies offensichtlich überall dort
der Fall war, wo die Sozialisten die Regierung gestellt haben. In Portugal hat die Regierung gewechselt, die Sozialisten wurden abgewählt. Die neue Regierung hat einen
Kassensturz gemacht und festgestellt, dass die Sozis nicht
mit Geld umgehen können; wahrscheinlich ist ein blauer
Brief fällig.
({8})
In Frankreich war der Sachverhalt der gleiche: Die Regierung hat gewechselt und die neue Regierung sagt jetzt,
man müsse über Stabilitätskriterien nachdenken. Die
Situation in Deutschland ist die gleiche, Herr Thönnes: Die
Sozis werden abgewählt und wir werden hinterher den
blauen Brief für Ihre Versäumnisse bekommen. Ich meine,
es ist klar: Der Wähler wird entsprechend entscheiden.
({9})
Sie haben eine Wachstumsschwäche verursacht und
dafür gesorgt, dass die Investitionen in Deutschland
zurückgehen. Wenn man sich die verschwiegenen Risiken
im Haushalt, die ich beschrieben habe, ansieht, werden
Sie nicht bestreiten können, dass das, was für das kommende Jahr angekündigt wird, um eine Nettokreditaufnahme in einem zweistelligen Milliardenbetrag ergänzt
werden muss.
Wie Sie vorgehen, kann man an dem Beispiel AntiStau-Programm deutlich machen. Sie haben mit großem
Brimborium verkündet, dass zusätzliche Mittel für den
Straßenbau bereitstehen. Ein Blick in den vorliegenden
Haushaltsplanentwurf aber zeigt, dass Sie genau an der
Stelle gestrichen haben, an der Sie zusätzliche Mittel einstellen wollten. Das bedeutet, dass netto die Investitionsausgaben im kommenden Jahr zurückgehen. Die Maut ist
ebenso wie die Ökosteuer ein reines Abkassiermodell.
Ich möchte als weiteren Punkt die Privatisierungserlöse ansprechen, weil das Thema Mobilcom bereits eine
Rolle gespielt hat. Das, was Herr Eichel bzw. die Bundesregierung im Bereich Telekommunikationsunternehmen
durch Privatisierung mit der Brechstange gemacht haben,
hat zu einer gewaltigen Geldvernichtung bei Kleinaktionären geführt. Es hat dazu geführt, dass viele Menschen, die für ihre Alterssicherung Aktien erworben haben, heute Verluste verbuchen müssen, weil sich der Bund
bei Telekommunikationsunternehmen durch UMTS-Lizenzen bereichert hat. Zurzeit stellt sich die Situation so
dar, dass zwar mit den 51 Milliarden Euro vielleicht ein
Haushaltsloch für eine Weile gestopft worden ist, aber die
Unternehmen vor großen Schwierigkeiten stehen.
({10})
Das Problem, das bei der Mobilcom in Schleswig-Holstein zurzeit besteht, hat die Telekom in gleicher Weise.
So kann Privatisierungspolitik nicht betrieben werden.
Ich weise darauf hin, dass auch die Bundesdruckerei
eine solche Form der Privatisierung durchlaufen ist und
jetzt für 1 Euro verkauft worden ist. Dass ein solches Unternehmen, das für Pässe bzw. für Ausweise verantwortlich ist, für 1 Euro verkauft worden ist, sagt doch alles.
Ich könnte das Gleiche zum Verteidigungsetat ausführen. Dort stehen wir vor einer Fülle von BeschafDietrich Austermann
fungsruinen und Scheinprivatisierungen. Ich könnte Gleiches auch zu dem Thema feststellen, dass die neuen Länder an den Rand gedrückt werden.
Das entscheidende Thema bei den Haushaltsberatungen aber scheint mir zu sein: Jeder Haushalt soll mit der
mittelfristigen Finanzplanung eine Perspektive liefern.
Dieser Haushalt, das heißt auch diese Regierung, beinhaltet aber keine Perspektive. Sie weisen in die falsche Richtung. Sie weisen in Richtung weniger Beschäftigung und
mehr Arbeitslosigkeit bei steigenden Steuereinnahmen.
Deswegen stelle ich fest: Diese Regierung und dieser
Haushalt gehören in den Orkus.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile
der Kollegin Antje Hermenau für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich von
Dresden nach Berlin fahren will, dann geht das zwar wieder mit der Bahn, aber nur gerade so. Das ist der kleine
Radius, den ich in Sachsen mit der Bahn von Dresden aus
noch habe: Ich kann nach Polen oder nach Berlin fahren,
aber ich komme nicht mehr nach Chemnitz, München,
Frankfurt am Main oder Leipzig. Ich komme auch nicht
nach Prag, jedenfalls nicht mit der Bahn.
Damit Sie eine Vorstellung von den Schäden bekommen - ich könnte Zahlen und Kilometerstrecken nennen -, stellen Sie sich doch einmal vor, was es für eine
Landeshauptstadt bedeutet, wenn sie per Bahn nur noch
einen solch eingeschränkten Verkehrsradius hat. Damit
sind wir schon bei dem eigentlichen Problem angelangt.
Im Erzgebirge sieht es noch schlimmer aus. Wir reden
davon, dass Pendler nicht zu ihren Arbeitsplätzen gekommen sind, und zwar tage- und wochenlang. Wir reden davon, dass ein Gebiet, das sehr stark vom Tourismus lebt,
keine Gäste mehr empfangen kann, wenn sie nicht irgendwelche abgelegenen Waldwege finden, über die sie
mit dem Bus in das Gebiet gelangen können. Das Problem
aber ist: So schnell man auch versucht, diese Strukturschäden zu beheben, damit alle Ortschaften wieder auf vernünftigen Wegen erreichbar werden, es hat sich herumgesprochen, dass man nach Sachsen verkehrstechnisch nicht
durchkommt. Die Buchungen bleiben aus und der Schaden
wird noch vergrößert. Neben dem Flutschaden entsteht
nun der Ausfallschaden, gerade im Tourismus.
In Sachsen sind über 10 000 Unternehmen von der Flut
betroffen. In der Innenstadt von Döbeln ist jedes Geschäft - ich betone: jedes - zerstört. Nur noch die Bäckereien, die auf einem Berg liegen, funktionieren. Wenn
man sieht, dass mindestens die Hälfte aller Sachsen direkt
in ihren Wohnorten, dass 15 von 21 sächsischen Landkreisen und dass auch die Landeshauptstadt in massiver
Weise von dem betroffen sind, was uns Anfang August
heimsuchte, dann muss man feststellen, dass das für Sachsen ein Desaster und für Deutschland eine nationale Aufgabe ist. Darüber reden wir heute.
({0})
Ich habe den Zeitfaktor bereits angesprochen. Es geht
natürlich darum, alles Notwendige sehr schnell auf den
Weg zu bringen. Das hat auch etwas mit unbürokratischem Vorgehen zu tun. Ich halte aber die Behauptung,
dass die Gelder nicht schnell genug abflössen, weil der
Bund auf ihnen sitze, für Wahlkampfgetöse, für eine
Nickeligkeit und für den Ausdruck von Nervosität; denn
diese Behauptung ist nicht wahr. Wenn man Gespräche
mit Vertretern der Sächsischen Wiederaufbaubank führt,
dann stellt man fest, dass dort Buchungswege genutzt
werden, die erst nach drei Tagen über Städte in BadenWürttemberg und Leipzig nach Sachsen führen, weil man
die Dienste der Tochtergesellschaft einer Westbank in Anspruch nehmen möchte.
Ein weiteres Problem ist, dass jede Verwaltung, auch
wenn sie zwölf Jahre lang nach westlichem Vorbild aufgebaut worden ist, bei der Bewältigung eines solchen nationalen Desasters wie in Sachsen, dessen Dimensionen
ich skizziert habe, überfordert ist. Hier muss Verwaltungshilfe geleistet werden. Genau diese leistet der Bund. Wir
haben am letzten Montag eine Verwaltungsvereinbarung
mit Sachsen abgeschlossen. Es wird zum Beispiel dadurch geholfen, dass so einfache Sachen wie die richtige
Software zur Verfügung gestellt werden. Tätige Verwaltungshilfe findet also statt.
({1})
Herr Austermann, Ihre Behauptung, der Bund rücke
die Mäuse nicht heraus, finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich
frech.
({2})
Denn es ist doch klar geworden, wo die Probleme liegen.
Ich halte nichts davon, sich hier gegenseitig Nickeligkeiten vorzuwerfen. Ich wette mit Ihnen, dass nach dem
22. September kein Mensch mehr solche Vorwürfe erheben wird, weil sie für den Wahlkampf nichts mehr bringen.
Was haben wir Sachsen in den letzten Wochen gemerkt? - Wir haben gemerkt, dass die Bundesrepublik
Deutschland ein handlungsfähiger Staat ist. Der Bund war
in der Lage, innerhalb von sieben Tagen ein solides
Finanzierungskonzept vorzulegen. Der Freistaat Sachsen, der übrigens schwarz regiert wird, wagt es sogar,
große Summen im Vorgriff auf das nächste Haushaltsjahr
vorzuziehen, weil er sich auf das Finanzkonzept der Bundesregierung verlässt und dem Bund zutraut, dieses Konzept solide finanziert zu haben.
({3})
Das ist es auch. Alles ist fix und fertig beschlossen. Nichts
wird nebulös vertagt oder wird in Zukunft im Streit mit
irgendwelchen Länderfürsten auszuhandeln sein. Es besteht Vertrauen. Der Aufbauwille der Bevölkerung ist angenommen worden und wird auch in der Arbeit des Bundes reflektiert. Es gibt ganz klare Ankündigungen. Besser
kann man gar nicht regieren.
({4})
Die Handlungsfähigkeit des Bundes - Sie haben in
der heutigen Debatte versucht, das in Abrede zu stellen rührt daher, dass wir seit Jahren konsequent dieselbe Politik verfolgen, und zwar nicht nur im Finanzbereich, sondern auch in anderen Politikbereichen. Dazu sage ich Ihnen
nachher noch mehr. Die Finanzpolitik ist, wie gesagt, einer
klaren Linie gefolgt. Sie hat auch in stürmischen Zeiten
bzw. dann, wenn es Schicksalsschläge gab, standgehalten.
Ich bin sehr stolz darauf, dass die Koalition diesen Weg
nicht nur beschritten, sondern auch durchgehalten hat.
({5})
Die Opposition fährt dagegen einen Zickzackkurs. Sie
wollen nicht nur die alten Sünder wieder in die Regierungsverantwortung bringen, sondern versuchen auch,
ganz alte Themen aufzuwärmen. Herr Stoiber hat vor drei
Wochen das 3-Prozent-Kriterium für nicht so wichtig erklärt, obwohl er sich ein paar Tage länger Zeit gelassen hat
als die Bundesregierung. Er wollte lieber die Bundesbankgewinne verfrühstücken, die wir brauchen, um die
Schulden zu tilgen.
({6})
Sie wissen genau, dass die Schulden die Steuern von morgen sind. Sie wollen bei der Finanzierung der Beseitigung
der Hochwasserschäden genau das Konzept anwenden,
das sie schon früher beim Aufbau Ost ausprobiert haben.
Das würde genauso fehlschlagen wie damals. Jetzt kommen Sie mit Ihren ollen Kamellen wieder. Der einzige Unterschied zu früher ist, dass Sie jetzt Herrn Waigel nicht
als Finanzminister ins Auge gefasst haben.
({7})
Die FDP, diese ökonomischen Fundis der Besserverdienenden,
({8})
macht Vorschläge für riesengroße Einsparungen im Haushalt. Das hört sich für mich nach Grundrente und Senkung
der Sozialbeiträge an. Das alles kennen wir bereits. Ich
sage Ihnen eines: Sie von der FDP hätten 1997 - damals
hat noch Schwarz-Gelb regiert; es war ein richtig schweres Jahr - zeigen können, wie Sie im Bundeshaushalt ganz
locker mehrere Milliarden Euro einsparen. Das hätte ich
mir gerne angesehen. Stattdessen haben Sie damals den
Haushalt an die Wand gefahren.
({9})
Sie fordern des Weiteren, dass die Subventionen abgebaut werden müssen. Nun ist Herr Lambsdorff nicht mehr
Mitglied Ihrer Fraktion. Trotzdem stelle ich die Frage:
Welcher Bursche hat denn damals die Kohlesubventionen
aus der Taufe gehoben? - Das war der damalige Wirtschaftsminister Lambsdorff. Wer hat 1997 - da hat noch
Schwarz-Gelb regiert - den Kohlekompromiss ausgehandelt? - Rexrodt, Schäuble und Herr Clement, ein Länderfürst; das sei konzediert. Sie haben das alles ausgekaspert
und Sie wissen ganz genau, dass der Vertrag bis 2005 gilt.
Sie wollen Subventionen kürzen oder ganz streichen, die
im nächsten Jahr gar nicht disponibel sind.
Sie haben keine solide Gegenfinanzierung für die Maßnahmen zur Bekämpfung der Schäden der Hochwasserkatastrophe. Keine solide Gegenfinanzierung!
({10})
Sie wollen noch Erlöse erzielen. Wollen Sie TelekomAktien verkaufen? Die haben gerade einen mächtig guten
Kurs. Prima, eine Superlösung!
({11})
Auf so etwas kann sich niemand verlassen. Die Leute
brauchen in ihrer Not jetzt klare Ansagen und die haben
sie von uns bekommen. Sie vertreten hier nebulöse Konzepte und halten das sogar noch für Finanzpolitik. Da
kann ich ja nur lachen.
Jetzt stehen Sie im Wahlkampf und tun so, als hätten
Sie etwas dazugelernt. Der Kanzlerkandidat Stoiber hat
vor ein paar Wochen im Bundestag gesagt - ich fasse es
einmal zusammen -: Ich bin ein Grüner. - Wir alle sind
ganz erschrocken gewesen. Nun einmal ernsthaft: Wenn
Sie eine solche Politik machen wollen - dass sie notwendig ist, haben sogar Sie begriffen; sonst hätten Sie das
Thema im Wahlkampf nicht aufgegriffen -, dann müssen
Sie sie jahrelang verfolgen. Das kann Ihnen nicht von
heute auf morgen mal eben einfallen. Nach der Wahl vergessen Sie es wahrscheinlich wieder. Eine solche Politik
muss man jahrelang konsequent betreiben.
Damit sind wir beim neuen Aufbau Ost. Zumindest
der Freistaat Sachsen hat in dieser tiefen Krise, in dem
Desaster, das uns getroffen hat, eine Chance. Der Freistaat
Sachsen kann den Wiederaufbau Ost auch als Chance betrachten, nämlich als eine Chance zu einem zweiten Aufbau Ost in Sachsen, der besser gemacht wird, weil die rotgrüne Regierung in den letzten vier Jahren in vielen
Politikbereichen Rahmenbedingungen gesetzt hat, die einen modernen Aufbau möglich machen. Das wird kein
muffeliger Nachbau West alt.
({12})
Wir haben jetzt die Möglichkeit, in Sachsen neue Wege
zu beschreiten.
({13})
- Nun meckern Sie doch nicht so herum! - Das geht beim
Verkehr los. Wir werden uns sehr genau ansehen, welche
Bahnstrecken wieder aufgebaut werden. Wenn es nach
uns geht, alle. Das hat mit Tourismus und auch mit Pendlern zu tun.
({14})
- Sie können hier ruhig herumbrüllen!
Zum Thema Energie. Ihr FDP-Bürgermeister im Erzgebirge ist der Ansicht, dass er dezentrale Energielösungen braucht und nicht irgendwelche Netze, bei denen die
Kabel bei der nächsten Flut wieder weggespült werden.
Das heißt, wir reden über Kavernenkraftwerke, wir reden
über Windkraft, wir reden über Solarenergie. Es wird sich
herausstellen, dass die Leute einfach praktisch danach entscheiden werden, wo die Rahmenbedingungen für die Zukunft gut gesetzt werden. Und das ist bei Rot-Grün der Fall.
({15})
Für die
FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Rainer Brüderle.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der Bundeshaushalt von Grün-Rot ist nicht das
Papier wert, auf dem er gedruckt ist.
({0})
Verheerender kann die Schlussbilanz einer Regierung
nicht ausfallen.
({1})
Den blauen Brief haben Sie bis nach der Bundestagswahl
weggedrückt. Der Meldepflicht kommen Sie nicht nach,
um diesen Brief zu vermeiden. Sie haben auch nicht den
Mumm, Ihr Versagen öffentlich zu bekennen. Sie haben
den Haushalt an die Wand gefahren.
({2})
Das Kernproblem ist, dass Sie die Wirtschaft behindert
haben und nicht in Gang gebracht haben. Die Massenarbeitslosigkeit besteht unverändert fort. Wenn Sie mir
nicht glauben, zitiere ich Helmut Schmidt, sozialdemokratischer Bundeskanzler der Vergangenheit.
({3})
- Sie schreien hier ohne Grund angesichts Ihrer schlechten Politik. Sie sollten täglich schreien, aber machen Sie
es bei sich zu Hause; da fällt es nicht so sehr auf. Sie sollten im Parlament noch ein bisschen Kultur wahren und
sich nicht so verhalten, als seien Sie hier auf dem Abtritt.
({4})
Wenn Sie sich zu Hause so benehmen, ist das ihr Bier,
aber hier sollten Sie es lassen.
({5})
Helmut Schmidt sagte wörtlich: „Die Arbeitslosigkeit
hat nichts mit Globalisierung zu tun. Sie ist vollständig
hausgemacht.“
({6})
Ich habe den Artikel dabei. Ich lese nur die Überschriften
vor. Helmut Schmidt: „Der Flächentarif muss fallen.“ „Die Vorschläge der Hartz-Kommission sind für den Arbeitsmarkt unzulänglich.“ Das alles können Sie in der
„Zeit“ nachlesen. Helmut Schmidt ist vielleicht noch jemand, dem Sie ein bisschen Respekt entgegenbringen und
den Sie nicht als jemanden bezeichnen, der völlig unfähig
ist oder nur Unsinn erzählt.
Damit ist der Kernpunkt angesprochen: Sie haben dem
Arbeitsmarkt keinen Spielraum gegeben.
({7})
Die Hartz-Kommission ist ein Beleg dafür, dass Sie vier
Jahre lang alles à la Riester, also falsch gemacht haben.
Jetzt versprechen Sie kurz vor der Wahl, es à la Hartz zu
machen, um davon abzulenken, dass Sie die Dinge verschlechtert haben.
({8})
Sie haben Handlungsspielräume weggenommen und
keine Freiräume eröffnet. Sie haben das genaue Gegenteil
dessen gemacht, was Helmut Schmidt in der „Zeit“ zu
Recht herausstellt.
Sie müssen den Arbeitslosen eine Chance geben. In
Deutschland haben die Arbeitslosen keine Lobby, weil die
Gewerkschaften mit starren Regeln die Chancen für
mehr Beschäftigung in Deutschland verhindern. Sie müssen mehr Spielräume erlauben. Die Betriebe müssen eigene Regelungen treffen können. Wir brauchen mehr
Mitarbeitermitbestimmung im Betrieb und weniger
Fremdbestimmung durch Funktionäre, die nicht mehr
wissen, wie Arbeitsplätze entstehen.
({9})
Dass der DGB in jedem Jahr 400 000 bis 500 000 Mitglieder verliert, ist ein Beleg dafür, dass die Menschen an
der Basis sagen, die Funktionäre wüssten nicht mehr, wie
die Realität aussieht. Dann wird fusioniert: ÖTV, HBV,
DAG zu Verdi, im nächsten Jahr vielleicht Verdi mit der
IG Metall zu Puccini und die dann mit dem Rest zuToskana.
({10})
Weil die Gewerkschaften nicht mehr wissen, wie die Realität in den Betrieben aussieht, und das Gegenteil von dem
machen, was notwendig ist, wird mit den Füßen abgestimmt. Die Opfer dieses Prozesses sind diejenigen, die
draußen stehen und auch die Hoffnung haben, ein Stück
vom Kuchen abzubekommen.
({11})
Dasselbe gilt allerdings auch für weite Teile der Arbeitgeberverbände. Im Osten sind 80 Prozent der Unternehmen aus den Arbeitgeberverbänden ausgetreten, weil
sie genauso starr sind.
Die beiden Kartellbrüder können es nicht und deswegen muss das Kartell ein Stück geöffnet werden, damit andere Lösungen möglich werden. Das können Sie bei jedem Wirtschaftsforschungsinstitut, bei der Bundesbank,
bei der OECD und bei der Europäischen Union nachlesen.
Nur wir machen bei uns das Gegenteil: Sie haben die Mitbestimmung verschärft; der deutsche Mittelstand muss
noch mehr DGB-Funktionäre durchfüttern. Sie haben die
Zwangsteilzeit zulasten der Arbeitsmarktchancen von
Frauen eingeführt. Sie haben die 630-Mark-Verträge für
haushaltsnahe Dienstleistungen abgeschafft. Jetzt schlägt
die Hartz-Kommission 500-Euro-Verträge vor. Als wir
seinerzeit sagten, es sei nicht unanständig, Menschen eine
Chance zu geben, bei einem älteren Ehepaar oder bei Behinderten mitzuhelfen, haben Sie das als Dienstmädchenprivileg diffamiert. Jetzt kostümieren Sie das über die
Hartz-Kommission, weil Sie erkannt haben, dass Sie einen Irrweg eingeschlagen haben.
({12})
Genauso ist es mit dem Scheinselbstständigengesetz.
Nun kommen Sie mit der Ich-AG, statt zuzugeben, dass
die früheren Entscheidungen Quatsch waren. Auch hier ist
es wieder schön kostümiert. Jetzt können die Menschen
50 000 DM bei einer 10-prozentigen Pauschalbesteuerung
verdienen. Oder der Jobfloater: Es ist doch eine Witznummer, zu glauben, es werde jemand eingestellt, weil
der einstellende Betrieb Kredite bekommt. Er stellt jemanden ein, wenn er Aufträge hat und etwas verkaufen
kann, wenn er Absatzchancen hat. Sie aber bieten den Betrieben im Osten, die bis zur Dachkante verschuldet sind,
für den Fall, dass sie Leute einstellen, weitere Verschuldungsmöglichkeiten an. Das ist nicht die Lösung.
Sie müssen die Wirtschaft in Gang bringen. Die Leute
wollen etwas verkaufen, sie wollen Geld verdienen.
({13})
Arbeitsplätze entstehen in einer sozialen Marktwirtschaft,
indem Frauen und Männer Geld in die Hand nehmen, etwas unternehmen und dazu andere Frauen und Männer
brauchen, nicht aber durch Parolen und durch Konzepte,
die Sie dann propagieren, wenn Sie sie nicht mehr umsetzen können.
({14})
Nun zur Steuerpolitik. Warum ist die Arbeitslosigkeit
in Großbritannien, Holland und Schweden halb so hoch
wie in Deutschland? - Weil man dort den Mut hatte, einen
anderen Kurs einzuschlagen und Steuern zu senken. Sie
sagen, wir könnten uns Steuersenkungen nicht leisten.
Ich sage Ihnen: Wir können es uns nicht leisten, Steuersenkungen nicht vorzunehmen, weil wir anders die Wirtschaft nicht in Gang bekommen.
({15})
Wir müssen den Menschen die Möglichkeit geben zu konsumieren und zu investieren. Sie haben die Haushaltsmisere, weil Sie nichts für das Wachstum getan haben und
folglich hohe Sozialausgaben haben. Sie haben die
schlechten Steuereinnahmen, weil Sie der Wirtschaft nicht
die Chance gegeben haben, etwas umsetzen zu können.
Ihr Einwand, das alles sei nicht finanzierbar, ist ein Märchen. Es ist natürlich dann nicht finanzierbar, wenn Sie eine
Angsthasen- und Weicheipolitik machen. 48,5 Prozent
Staatsanteil! Wir haben Ihnen konkret vorgerechnet, wie
Sie ein Steuersystem mit Steuersätzen von 15, 25 und
35 Prozent einführen können. Sie bekommen die Wirtschaft nur mit einem großen Befreiungsschlag in Gang,
wie es auch die anderen getan haben. Mit einem Heftpflaster hier und Schräubchendrehen dort bekommen Sie
sie nicht in Gang.
({16})
Wir sind in Deutschland doch trotz Grün-Rot nicht blöder oder fauler als früher. Wir sind falsch aufgestellt. Deshalb kommt die Wirtschaft nicht in Gang.
({17})
Helmut Schmidt hat Recht: Das ist hausgemacht. Es ist
das Ergebnis Ihrer verfehlten Politik, dass heute die Arbeitslosen draußen stehen, dass die Haushalte an die
Wand gefahren sind, dass Sie keine Möglichkeiten haben,
die Wirtschaft richtig in Gang zu setzen.
Inzwischen lachen die Ausländer über Deutschland.
Der „Economist“ schreibt in einer großen Analyse der
Wirtschaft Europas über Deutschland, es sei die Schlafmütze Europas. Das resultiert daraus, dass Sie keine
Flexibilität geschaffen und keine Spielräume gegeben haben, sondern den Arbeitsmarkt weiter „verriestert“ haben
und die Deutschen daran hindern, ihre Fähigkeiten und
ihre Einsatzbereitschaft umzusetzen.
Sie drangsalieren den Mittelstand mit tausend Handschellen, obwohl er der Hoffnungsträger ist. Bei den
großen Konzernen bekommen Sie nicht mehr Arbeitsplätze.
Herr Kollege Brüderle, es ist schwer, Sie zu unterbrechen, aber Sie
müssen jetzt zum Schluss kommen. Sie haben weit überzogen.
({0})
Ich komme zum letzten Satz. Bei den großen Konzernen werden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen; dort werden sie im Gegenteil durch den
Einsatz von Robotern und durch Automatisierung weiter
abgebaut. Neue Arbeitsplätze können Sie nur vom Mittelstand bekommen, den Sie bis zum Letzten drangsalieren.
Aber der Mittelstand wird auch Sie überleben. Er ist der
eigentliche Hoffnungsträger.
Herr Kollege Brüderle, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Am 22. September ist Freiheitstag; an diesem Tag kann man eine bessere Politik
wählen.
({0})
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Roland Claus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einen Monat nach der Flutkatastrophe müssen sich nun die Regierenden fragen lassen, was aus ihren Versprechen geworden ist.
({0})
Um nicht missverstanden zu werden: Alles, was wirklich hilft, ist willkommen. Deshalb wird die PDS-Fraktion
auch dem Gesetzentwurf der Koalition zur Beseitigung
der Hochwasserschäden zustimmen. Ein besseres Gesetz
wäre aber möglich gewesen. Statt kleine und mittlere Unternehmen zu belasten, hätten Sie eine Vermögensabgabe
auf große Vermögen als Einmalabgabe einführen können.
({1})
Sie hätten bei Berücksichtigung des PDS-Gesetzentwurfs die Gelegenheit gehabt, eine exzellente Ausführungsgrundlage für die tatsächliche Hilfe und Entschädigung einzuführen. Sie hätten die Chance gehabt, in
dieser Situation, wie es unsere österreichischen und tschechischen Nachbarn getan haben, auf die Anschaffung teuren Rüstungsgeräts teilweise zu verzichten, um die dafür
vorgesehenen Mittel für die Hilfe an Hochwassergeschädigte zu verwenden.
({2})
Wer wie der Kanzler militärische Abenteuer nicht will,
der braucht auch nicht das Gerät dafür.
Wir alle hatten zahlreiche Kontakte mit Menschen, die
von der Flut betroffen sind. Ob in Wittenberg, Bitterfeld,
Dresden, Grimma oder in Passau, inzwischen ist eine
große Unsicherheit zu spüren, was wirklich verfügbar
sein wird. Dabei ist leider eines festzustellen: Die Bürokratie nach der Flut ist nicht geringer als die Bürokratie
vor der Flut. Bekanntlich hat der Kanzler in Magdeburg
gesagt, keinem solle es nach der Flut schlechter gehen als
vorher. Das bedeutet volle Zeitwertentschädigung. Wir
haben sehr darauf geachtet; diese Äußerung wurde hier im
Bundestag wiederholt, aber die Ankündigung wurde nicht
umgesetzt.
Nach der Wasserflut kam die Flut der Versprechungen.
Deshalb muss die Befürchtung ernst genommen werden,
dass es zu einer Flut der Empörung führt, wenn die Versprechungen jetzt nicht eingehalten werden. Daher finden
wir es wirklich unredlich von Ihnen, den Gesetzentwurf
der PDS zur vollen Zeitwertentschädigung nicht zumindest insoweit gewürdigt zu haben, als er mit Ihrem Gesetz
hätte verbunden werden können.
Wir haben uns die Mühe einer Überprüfung gemacht
und festgestellt: Wenn wir die Versicherungen einbeziehen, die die Betroffenen ja haben, dann gibt es auch Regelungsmöglichkeiten, um die Schadensfälle schnell zu
regulieren. Wenn wir über die Kreditanstalt für Wiederaufbau eine schnellere als die sonst übliche Finanzierung
einleiten, wird den Leuten wirklich geholfen. Ich sage
jenseits aller Rechthaberei: Alle konkreten Informationen, die ich jetzt aus dem vom Hochwasser betroffenen
Gebiet erhalte, bestätigen, dass das PDS-Gesetz zur Entschädigung die Lösung gewesen wäre. Ich nenne es engstirnig, dass Sie dieses Gesetz von vornherein nur deshalb
überhaupt nicht ernsthaft in Erwägung gezogen haben,
weil es von der PDS kommt.
({3})
Jetzt ist die Hochwasserhilfe so ähnlich wie der übliche
Förderdschungel organisiert. Die Leute mit guten Beziehungen zur Verwaltung werden die Nase vorn haben. Im
Übrigen ermuntern Sie Trittbrettfahrer; das muss ich leider auch sagen.
Eines sei hier deutlich gesagt: Es kann nicht hingenommen werden, dass sich die großen Banken - die Sparkassen einmal ausgenommen - inzwischen aus ihrer Verantwortung zurückziehen. Den betroffenen Handwerkern
helfen jetzt keine Zusagen für neue Kredite; sie brauchen
einen Schuldenerlass und die Aussetzung von Tilgungen.
({4})
Meine Damen und Herren, auch angesichts der Flut
gilt: Wer Stoiber nicht will und Schröder nicht traut, dem
bleibt nur, die PDS zu wählen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich erteile
nunmehr das Wort dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Riester.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Der Einzelplan 11, also der Haushaltsplan
des Bundesministerium für Arbeit und Soziales, umfasst
insgesamt 93,4 Milliarden Euro, die wir in die Sicherung
unserer Sozialsysteme und den Arbeitsmarkt investieren.
Wenn wir über die Sozialsysteme reden und die aktuelle Diskussion richtig einordnen wollen, kommen wir allerdings nicht umhin, aufzuzeigen, welche Bilanz wir vorgefunden haben.
({1})
In den 16 Jahren der alten Regierung
({2})
haben sich die Sozialversicherungsbeiträge von 34 auf
42,4 Prozent hochgeschaukelt. Ein Punkt, warum Sie abgewählt wurden, waren zusätzliche Sozialausgaben in
Höhe von 8 Prozent.
Ich wundere mich schon, dass sich Herr Brüderle hier
echauffiert und über Steuersenkungen spricht. Herr
Brüderle, als Ihre Partei nach 29 Jahren abgetreten ist, hatten wir die höchsten Steuersätze, die es in Deutschland
jemals gegeben hat.
({3})
Selbst in Wahlkampfzeiten gehört schon viel Chuzpe
dazu, anzunehmen, dass das alles vergessen ist.
Schauen wir in der Sozialpolitik und bei den sozialen
Kosten aber nach vorne. Was erwartet uns? Ich denke,
wenn die Ankündigungen der Union Wirklichkeit würden, ginge es erneut und im gleichen Schritt mit steigenden Sozialausgaben weiter. Es wird angekündigt, die
letzte Stufe der Ökosteuer rückgängig zu machen. Was
würde das bedeuten? Das würde zu einem 3-MilliardenLoch in der Rentenkasse führen. Die Rentenversicherungsbeiträge müssten sofort angehoben werden.
({4})
- Herr Seehofer hat noch etwas ganz anderes angekündigt. Er hat angekündigt, es gebe einen Seehofer-Nachschlag für die Rentenzahlungen des Jahres 2000 - nachdem Stoiber ihn gebremst hatte, schränkte er ein -, wenn
es sich finanzieren lasse und rechtlich gehe. Herr
Seehofer, wir haben es einmal durchgerechnet. Sie müssten 2,5 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen.
({5})
Er hat nicht gesagt, woher er sie nimmt. Wenn das durch
eine zusätzliche Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge finanziert werden soll, wären wir schon bei einer
Erhöhung von 0,6 Prozent.
({6})
Als Nächstes kündigen Sie an, dass die Regelungen für
Minijobs auf Nebentätigkeiten ausgeweitet werden. Man
muss dann nicht nur dem Facharbeiter sagen, warum er
für die Überstunden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen muss, sondern auch zur Kenntnis nehmen,
dass damit fast 3 Milliarden Sozialversicherungsbeiträge
wegfallen. Die Verwirklichung allein dieser Vorhaben
hätte zur Folge, dass der Rentenversicherungsbeitrag
selbst unter Berücksichtigung all der positiven Effekte unserer Reformen steil nach oben ginge.
Herr Seehofer, deswegen wundert es mich nicht, dass
eine ihrer ersten Ankündigungen lautete, dass die Rentenversicherungsbeiträge wieder steigen werden. Herr Stoiber
hat Sie dann etwas zurückgepfiffen. Gleichzeitig haben Sie
gesagt, am Anstieg werde sich auch nichts ändern, wenn
Sie gewählt würden. Ich frage mich, wer Sie wählen soll.
({7})
Das kann ich nicht erkennen. Die Umsetzung dieser Vorschläge würde uns erneut in den alten Zustand zurückfallen lassen, dass Beiträge steigen und Leistungen sinken.
Ich kann Ihnen sagen: Die jetzige Regierung steht davor;
das wird nicht passieren.
({8})
Wir werden stattdessen weiterhin auf die Stabilisierung
der Alterssicherung setzen.
({9})
Wir werden wie bisher den Weg weitergehen, wonach alle
versicherungsfremden Leistungen steuerfinanziert werden. Das haben wir getan; die Dinge sind bereinigt. Wir
werden es nicht mehr zurückdrehen lassen. Diese Belastungen dürfen nicht auf den Betrieben und den Beitragszahlern liegen, sondern sie müssen steuerfinanziert werden. Die Sozialkassen dürfen nicht laufend genutzt
werden, um zum Beispiel den Aufbau Ost und Ihre Wahlgeschenke zu finanzieren. Wir brauchen eine klare und
saubere Grundlage. Diese ist jetzt geschaffen worden und
wir werden sie erhalten.
({10})
Wir haben mit der Grundsicherung, die es ab dem
1. Januar nächsten Jahres geben wird, dafür gesorgt, dass
die Bezieher von Minirenten - das sind insbesondere
Frauen und dauerhaft Erwerbsunfähige; sie waren bisher
häufig auf Sozialhilfe angewiesen - den Weg zum Sozialamt nicht mehr antreten müssen. Ich halte es für eine unwürdige Politik, im Stillen darauf zu spekulieren, dass
Menschen aufgrund sozialer Scham nicht zum Sozialamt
gehen. Es sind insbesondere über 250 000 alte Frauen, denen wir diesen unwürdigen Gang ersparen. Dennoch erklärt die Union: Diese Regelung wird sofort gestrichen.
Ich halte das für unanständig gegenüber diesen Frauen,
die in ihrem Leben viel geleistet haben.
({11})
Diese Frauen haben den Aufbau vorangetrieben und Kinder erzogen. Sie geben vor, für diese Frauen einzutreten;
doch Sie würden sie in schändlicher Weise erneut in die
Sozialämter treiben. Nicht mit uns!
({12})
Auch was den Arbeitsmarkt, den zweiten großen
Block, angeht, ist es wichtig, aufzuzeigen, was war und
was wir daraus gemacht haben. Auf Wahlkampfplakaten
der CDU steht: „4 Millionen Arbeitslose - ein Armutszeugnis für die SPD“. Das finde ich schon pikant. Sie tun
so, als wären Sie die letzten 20 Jahre gar nicht da gewesen.
({13})
Sie tun so, als wären Sie 1998, als es 4,8 Millionen Arbeitslose gab,
({14})
gar nicht da gewesen. Sie verschweigen, wie viele Menschen auf dem öffentlich geförderten Arbeitsmarkt Stichwort ABM - beschäftigt waren. Das hat Sie natürlich
nicht daran gehindert, anschließend über ABM zu schimpfen.
({15})
Rund 525 000 Menschen waren im Herbst 1998 in ABM
und SAM. Damit haben Sie in einer einzigartigen Weise
die Statistik frisiert.
({16})
Nein, diesen Weg gehen wir nicht.
({17})
Wir gehen mit den Zahlen offen um; wir stehen zu ihnen.
Außerdem tun wir etwas dafür, dass mehr Menschen einen Job bekommen.
({18})
Steuerreform, Haushaltskonsolidierung und Rentenreform
waren die Basis dafür, dass bis 2000 - damals war die
weltwirtschaftliche Situation noch ordentlich - 1,2 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden sind.
({19})
Trotz der weltwirtschaftlichen Verwerfungen, die durch
das radikale Einbrechen des US-Marktes entstanden sind,
haben wir 1,1 Millionen dieser zusätzlichen Arbeitsplätze
halten können.
({20})
Das ist die Bilanz.
({21})
Es gibt Menschen, sogar ganze Gruppen, denen Wirtschaftswachstum allein keinen Arbeitsplatz verschafft. Ich
denke beispielsweise an schwerbehinderte Menschen.
Es ist ein Erfolg der rot-grünen Arbeitsmarktpolitik, dass
die Arbeitslosigkeit unter den Schwerbehinderten um
21 Prozent gesunken ist.
({22})
Über das JUMP-Programm haben wir 451 000 jungen
Menschen - als Sie regierten, hatten viele Jugendliche
keine Chance auf einen Ausbildungsplatz und blieben auf
der Straße - die Chance auf einen Arbeitsplatz eröffnet.
70 Prozent von ihnen befanden sich anschließend in Ausbildung, in Weiterbildung oder in einem festen Arbeitsverhältnis. Das ist ein Ergebnis der rot-grünen Arbeitsmarktpolitik. Sie haben diese Leute vergessen!
({23})
Dass es unter den Schwerbehinderten und unter den
Langzeitarbeitslosen, die am schwierigsten zu vermitteln
sind, 280 000 weniger Arbeitslose als 1998 gibt, ist ebenfalls
ein Erfolg sozialdemokratisch-grüner Arbeitsmarktpolitik.
({24})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Seifert?
({0})
Entschuldigung, Herr Seifert, jetzt nicht. Jedes
Mal, wenn ich spreche, möchten Sie eine Zwischenfrage
stellen. Ich möchte jetzt gerne in meiner Rede fortfahren.
Wir haben also, auch mit dem Job-AQTIV-Gesetz,
wichtige Schritte unternommen. Dies führen wir jetzt konsequent weiter. Die Regierung hat schon jetzt beschlossen,
dass wir - als Schnellvermittlung - folgenden Schritt gehen werden: Wir werden den Vermittlungsprozess noch
während der Zeit des Ausspruchs der Kündigung und vor
der Beendigung des Arbeitsverhältnisses - im Regelfall
sind dies drei bis vier Monate - beginnen lassen.
({0})
- Doch, bei Ihnen gab es das nicht. - Damit besteht die
Chance, ein Drittel der Fluktuationsarbeitslosigkeit noch
während der Arbeitszeit zu bereinigen. Das sind Vorschläge, mit denen wir an den Kern der Sache gehen.
Meine Damen und Herren, was mich an der Reaktion
einiger - auch heute habe ich das schon wieder gehört etwas entsetzt, ist Folgendes: Das Programm „Kapital
für Arbeit“, das heisst, das Vorhaben, die Eigenkapitalausstattung gerade des Mittelstandes zu fördern, Finanzmittel, die ja häufig nur mit sehr hohen Zinsen zu bekommen sind, dann zu geben, wenn Beschäftigung aufgebaut
wird, wird jetzt von Ihnen kritisiert.
({1})
Das, was der Mittelstand dringend braucht, um investieren zu können, wird jetzt diskreditiert.
({2})
Wir werden jährlich ein Kreditvolumen von bis zu
10 Milliarden Euro für eine bessere Finanzausstattung
und bessere Investitionstätigkeiten einsetzen. Aber, Herr
Fuchtel, das Neue ist: Wir werden dies mit Beschäftigungsaufbau verbinden und nicht mit der leichten Hand
des Schuldenmachens. Das ist entscheidend.
({3})
Nun höre ich das Wort Schwarzarbeit. Ja, es gibt
weite Bereiche der Schwarzarbeit. Aber die sind nicht neu
entstanden. Im Haushaltsbereich gibt es wahrscheinlich
rund 3 Millionen Arbeitsverhältnisse - zumindest sind sie
nicht angemeldet -, die „schwarz“ sind.
({4})
Wir werden sie aus dieser Situation herauslösen. Deswegen nehmen wir den Vorschlag der Hartz-Kommission
auf, Minijobs in diesem Bereich brutto für netto auszuzahlen, um die Schwarzarbeit zu beseitigen.
({5})
Hier nehmen wir die Vorschläge auf.
({6})
In diesem Bereich haben Sie in den letzten 16 Jahren
nichts gemacht.
({7})
Meine Damen und Herren, vom Fraktionsvorsitzenden
der Union sind zwei Aussagen gemacht worden, die ich
nicht unwidersprochen stehen lassen möchte. Die erste
zeigt, dass er von Tarifpolitik offensichtlich nichts versteht. Er hat hier erklärt: Er möchte, wenn er - was nicht
geschehen wird - das Mandat bekommt, wieder einführen, dass die Tarifverträge lediglich Tarifverträge,
nicht aber allgemein verbindliche sind. Dazu nenne ich
Ihnen zwei Zahlen. Es gibt 54 940 gültige Tarifverträge.
Davon sind 535, also rund 1 Prozent, allgemein verbindlich. Nun kann ich nur annehmen: Entweder weiss er es
nicht
({8})
oder er sagt bewusst das Unwahre.
Nun komme ich zum zweiten Punkt. Herr Merz erklärt
hier, aus meinem Hause sei ihm vermittelt worden, dass der
Rentenversicherungsbeitrag auf 20 Prozent steigen werde.
({9})
Ich habe mich erkundigt. Es gibt niemanden, der das bestätigt. Solange Herr Merz hier nicht Ross und Reiter
nennt, muss er es sich gefallen lassen, dass man ihm unterstellt, dass er bewusst das Parlament belogen hat. Deswegen möchte ich, dass er Ross und Reiter nennt.
({10})
Denn das sind die Touren, mit denen, ohne etwas zu belegen, Stimmung gemacht wird. Das ist mit uns nicht zu
machen.
({11})
Wir stehen für die Politik, dass wir die Erneuerung der
Sozialsysteme mit den Menschen durchführen. Wir stehen für die Politik, dass wir Beschäftigung aufbauen und
Arbeitslosigkeit, auch unter schwierigen Bedingungen,
abbauen.
Weiterhin stehen wir für die Politik der Erneuerung. Aber
wir stehen nicht für eine Politik, die die Menschen belügt.
Herzlichen Dank.
({12})
Ich erteile
nunmehr das Wort dem Ministerpräsidenten des Landes
Sachsen-Anhalt, Herrn Professor Dr. Wolfgang Böhmer.
Dr. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Da Sie die zweite Lesung zum Flutopfersolidaritätsgesetz mitten in eine vorhersehbar hochkontroverse Haushaltsdebatte gelegt haben, muss ich es jetzt
riskieren, dass ich unter Ihnen wie ein Fremdkörper
wirke. Ich bitte einfach um Verständnis dafür, dass es aus
der Sicht eines betroffenen Landes in diesem Zusammenhang auch noch einige andere Aspekte zu benennen
gibt als die Kontroversen, die Sie verständlicherweise
vorgetragen haben.
({1})
Obwohl das Hochwasser von Elbe und Mulde abgeflossen ist, haben wir - das müssen wir bekennen - immer
noch keinen abschließenden Überblick über die Höhe der
Schäden. Nur eines wissen wir: Sowohl in Sachsen als
auch bei uns werden sie wesentlich größer sein, als dass
wir selbst in der Lage wären, sie zu beheben oder entsprechende Entschädigungen zu zahlen. Deswegen sind
wir - das ist häufig genug gesagt worden - auf Hilfe angewiesen.
Herr Poß, da ich heute von Ihnen den - mir bisher nicht
erklärlichen - Satz gehört habe, dass wir möglicherweise
aus taktischen Gründen Fördermittelbescheide nicht vergeben würden,
({2})
lassen Sie mich bitte ganz schlicht und einfach eines sagen: Länderminister verteilen genauso gerne Fördermittelbescheide, wie ich es jetzt von Bundesministern erlebe.
Das ist so unter uns.
({3})
Ich will auch sagen, dass wir in beeindruckender Weise
Solidarität und Hilfe erfahren haben. In diesen Tagen hat
es einen spontanen und von niemandem geplanten Solidarpakt der Menschen in Deutschland gegeben, der uns
alle überrascht hat und für den wir dankbar sind.
({4})
Der vielleicht schon ein wenig abgegriffene Satz „Wir
sind ein Volk“ hat an den durchnässten Deichen von Elbe
und Mulde und in den überfluteten Gebieten eine völlig
neue Bedeutung bekommen; das konnten wir alle erleben.
Sowohl für mein Land als auch für das sicher noch
mehr betroffene Land, den Freistaat Sachsen, darf ich sagen, dass wir dankbar für eine schnelle und zügige Beratung und Verabschiedung dieses Gesetzes und auch für die
Soforthilfe sind, die - das ist ganz unzweideutig - auch in
Sachsen bereits ausgezahlt wird. Wenn es an der einen
oder anderen Stelle von dem einen oder anderen Bürgermeister Kritik geben sollte - ich habe das ja auch gelesen -,
will ich dazu nur eines sagen: Ich habe noch nie einen
Finanzminister erlebt, der alle Kommunen gleichzeitig
glücklich machen konnte. Das ist angesichts des komplizierten Verwaltungsgeschehens auch anders nicht zu erwarten.
Ich möchte Sie gerne auf einen Umstand hinweisen:
Das Gesetz regelt in nur allgemeiner Formulierung die
Zweckbindung der Mittel und dafür ausführlicher die
Refinanzierung. Dass es darüber zwischen den Parteien
Streit gibt, wissen wir ja. Deswegen will ich ganz besonders jenen danken, die zwar andere Vorstellungen von
einer richtigen Refinanzierung haben, aber trotzdem im Interesse der Betroffenen das Gesetz nicht aufhalten werden.
({5})
Ich sage ganz deutlich: Diejenigen Bürger, die durch das
Hochwasser alles oder fast alles verloren haben, hätten
auch kein Verständnis dafür, wenn am Ende alle helfen
wollten, aber die Hilfe blockiert würde, weil man sich nur
über diesen Teil der Refinanzierung uneinig ist.
({6})
Es steht mir sicher nicht zu, dazu ausführlich etwas zu
sagen. Aber eines bitte ich doch in aller Offenheit zu bedenken: Alle Aussagen zur Notwendigkeit der zweiten
Stufe der Steuerreform und zu den sich daraus ergebenden Impulsen für die wirtschaftliche Entwicklung waren vor der Flut und der Hochwasserkatastrophe richtig
und sind dadurch mit Sicherheit nicht falsch geworden.
({7})
Die Erklärung, dass die jetzt ausgeschütteten Finanzmittel ja sofort in den Wirtschaftskreislauf kommen und Aufträge auslösen, träfe auf jede Finanzsumme zu, aus welchem Topf sie auch immer kommt. Wenn sich dann diese
unterschiedlichen Wirtschaftsimpulse noch überschneiden würden, wäre das für die betroffenen Bundesländer,
die sich jetzt in einer besonderen Bredouille befinden,
sicherlich günstig und nötig.
Ich will auf ein weiteres Thema hinweisen, das mir
wichtig erscheint: Für die Umsetzung des Gesetzes wichtige Fragen werden nicht im Gesetz selbst geregelt, sondern es heißt dort, dass sie in einer Rechtsverordnung
geregelt werden sollen, auf deren Grundlage dann Verwaltungsabkommen abgeschlossen werden. Darüber wird
schon jetzt verhandelt. Das ist auch nicht falsch, denn wir
sind alle daran interessiert, dass das Geld so schnell wie
möglich fließt. Aber dabei werden - das erschwert die
Verhandlungen und zögert sie hinaus - Probleme deutlich,
auf die ich schon im Gesetzgebungsverfahren hinweisen
möchte.
Ziel des Gesetzes sind - so heißt es im Gesetz - die Beseitigung von Schäden und der Wiederaufbau zerstörter
Infrastruktur. Inwieweit die kommunalen und staatlichen
Infrastrukturmaßnahmen einbezogen werden, ist offensichtlich nicht zu Ende diskutiert und unter uns auf den
verschiedenen Ebenen noch strittig. Für die Gemeinden
wäre es überlebenswichtig, dass Maßnahmen zur Schadensabwehr und zur Schadensminimierung mit abgegolten werden können, weil sie zur Wiederherstellung einer
normalen Infrastruktur gehören. Viele Gemeinden sagen,
wenn sie dies jetzt alles begleichen müssten, wären sie
pleite; dann bräuchten sie gar nicht mehr zu rechnen; das
würde weit über das hinausgehen, wozu sie selbst in der
Lage seien.
Das heißt, für die Umsetzung des Gesetzes und für das
am Ende notwendige Finanzvolumen ist außerordentlich
wichtig, wie wir den Schadensbegriff definieren. Dies ist
noch unklar.
Der Bundeskanzler selbst hat hohe Maßstäbe gesetzt.
Ich saß neben ihm, als er auf der Pressekonferenz in Magdeburg erklärt hat, dass „nach der Flut niemand materiell
schlechter gestellt sein darf als vor der Flut“. Ich habe ihm
schon damals gesagt, dass das aus meiner Sicht eine sehr
mutige Erklärung ist. Widersprochen habe ich ihm nicht;
ich fand das gut.
({8})
Aber es war eine sehr mutige Erklärung. Zwei Tage später hat uns die Presseabteilung des Bundeskanzleramtes
mitgeteilt, dass diese Äußerung nur auf Unternehmen bezogen zu verstehen sei und nicht verallgemeinert werden
könne. Das haben wir schriftlich bekommen.
({9})
Aber wenige Tage später hat der Bundeskanzler in Dresden erklärt, dass seine Erklärung selbstverständlich in
gleicher Weise für die Privaten gelte und dass sie sich darauf verlassen könnten.
({10})
Ich sage das nur deswegen, weil die Betroffenen jetzt
natürlich von uns als den auf der Landesebene Zuständigen erwarten, dass wir für die Erfüllung dieser Verheißung eintreten. Wir tun es gern, wenn uns die Mittel
dafür zur Verfügung gestellt werden. Das ist außer jeder
Diskussion.
Aber für die Begriffsdefinition in der Rechtsverordnung
bedeutet das, dass außer den unmittelbaren Schäden auch
die häufig noch größeren mittelbaren Schäden berücksichtigt werden müssen. Wo wir dort eine definitorische Grenze
finden werden, das weiß zurzeit noch niemand endgültig.
Das wird noch lange diskutiert werden müssen.
({11})
Ein überfluteter Betrieb mit direktem Wasserschaden
und dadurch bedingtem Strom- und Produktionsausfall ist
als Schadensfall relativ eindeutig; da wird es keine Diskussionen geben. Aber bei einem unmittelbar benachbarten
Betrieb, der vielleicht das Glück hatte, dass das Wasser nur
bis zur Schwelle reichte, und der keinen direkten Wasserschaden hatte, aber auch Strom- und Produktionsausfall
usw. hinnehmen musste, wird es schon schwieriger werden.
Es gibt Bereiche - Sie haben das Tourismusgewerbe genannt -, bei denen die Abgrenzung zu dem, was mit dem
Begriff „allgemeines unternehmerisches Risiko“ weggedrückt werden soll, ausgesprochen schwierig werden wird.
Ich will auf ein weiteres Problem hinweisen. Jeder von
Ihnen weiß, dass schnelle Hilfe doppelte Hilfe ist. Wir
Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer ({12})
haben das immer gesagt und geben uns da gegenseitig
Recht. Alle Sofortprogramme sind von uns mit Dankbarkeit aufgenommen worden; es sind zurzeit etwa 18.
An diesen kann man schon erleben, wie schwierig die
Umsetzung ist und dass man Computerprogramme
braucht, um zu sehen, welches Programm für welchen Betroffenen zutrifft. Wenn wir aber eine Flut von Insolvenzen vermeiden wollen, müssen jetzt rasch Wiederaufbauprogramme folgen.
({13})
Obwohl der Bund - da kommt ein Problem auf uns zu, auf
das ich hinweisen möchte - die Gelder nach der bisherigen Refinanzierungsabsicht selbst erst im Laufe des
nächsten Jahres einnehmen wird, ist uns eine rasche
Vorfinanzierung durch den Bund versprochen worden.
Das ist ein erhebliches Problem.
({14})
Wir werden dazu allein nicht in der Lage sein.
Ich höre von den Kollegen in Sachsen, dass sie, wenn
der Zufluss der Bundesmittel zu lange dauert, versuchen
werden, wenigstens partiell mit einer Vorfinanzierung zu
beginnen. Ich muss für mein Land bekennen, dass wir dies
nicht schaffen werden. In Sachsen-Anhalt ist in den letzten Jahren eine Finanzpolitik gemacht worden, die uns zusätzliche Spielräume völlig verwehrt.
({15})
Deshalb ist es wichtig, dass wir möglichst rasch diese
Rechtsverordnung bekommen und dass wir uns gemeinsam auf eine Definition des Schadensbegriffes einigen,
damit wir Rechtssicherheit bei der Anwendung der Begriffe haben und damit wir mit dem Aushandeln der Verwaltungsvorschriften und der Verwaltungsvereinbarungen weiterkommen. Ich will Ihnen an dieser Stelle ganz
deutlich sagen: Von dem Erfolg unserer Bemühungen
wird es abhängen, ob der jetzt geplante Fonds ausreicht
oder nicht.
Zur Wiederherstellung der Infrastruktur in Sachsen-Anhalt gehört eben nicht nur die Reparatur von
35 Deichbruchstellen, sondern auch die Sanierung völlig
aufgeweichter Deiche an Elbe und Mulde mit einer Länge
von mehreren Hundert Kilometern. Bevor ich heute früh
nach Berlin gefahren bin, war ich in Dessau-Waldersee.
Die Menschen dort demonstrieren jetzt, weil sie es satt haben, tatenlos zuzusehen, bis das nächste Hochwasser die
Häuser wieder unter Wasser setzt. Wir stehen da in einer
Pflicht, der wir uns nicht entziehen wollen. Diese Probleme werden wir aber nur mit einer raschen Vorfinanzierung lösen können.
({16})
Da das nächste Frühjahrshochwasser mit Sicherheit
kommt, haben wir - das wissen wir alle - nicht mehr allzu
lange Zeit.
Es gibt noch andere Probleme. Die Schäden bei den unterspülten Straßen werden wir erst nach dem nächsten
Frost erkennen. Aber diese Schäden sind jetzt schon vorhersehbar. Wir brauchen also eine Definition, die im
Grunde genommen keinen Schlussstrich zieht, sondern
die das Einbeziehen von Schäden, die erst später erkennbar sind, wenigstens nicht ausschließt.
Ich bitte ganz herzlich um Verständnis für folgenden
Punkt: Wenn sich Hilfe jetzt nur auf die Wiederherstellung des Anlagevermögens konzentrieren würde, bestünde die Gefahr, dass es bald viele Betriebe gibt, die
zwar restauriert, aber in der Zwischenzeit betriebswirtschaftlich ruiniert sind. Dies müssen wir vermeiden; denn
dann würde es tatsächlich so sein, wie es Pessimisten vorhergesagt haben, nämlich dass die Hochwasserflut die
bisherigen Erfolge beim Aufbau Ost einfach hinweggespült hätte.
Wer dies verhindern will - ich denke, das wollen wir
alle -, der darf den Schadensbegriff eben nicht unverhältnismäßig einengen, sondern muss die mittelbaren Schäden und die Absicherung der betriebswirtschaftlichen
Stabilität in einer solchen Krisenzeit mit erfassen, damit
wir den Betrieben entsprechend helfen können. Bis jetzt,
so denke ich, sind wir da auf einem guten Weg. Die Umsetzung dieses Gesetzes und die Interpretation der noch
offenen Begriffe werden darüber entscheiden, ob die
Hochwasserflut den von uns gemeinsam getragenen Aufbau Ost nur gestört oder tatsächlich entscheidend unterbrochen hat.
Wir in Sachsen-Anhalt - ich bin sicher, dass dies auch
für Sachsen und die anderen betroffenen Bundesländer
gilt - haben uns bisher nicht entmutigen lassen. Wir glauben fest daran, mithilfe vieler auch die Folgeprobleme
dieser Hochwasserkatastrophe lösen zu können. Auf die
Solidarität des Bundes und der anderen Bundesländer
werden wir nun allerdings länger angewiesen sein, als es
bisher vorauszusehen war.
Der Wille, mit dem erlittenen Schicksal fertig zu werden, ist groß. Die erlebte Solidarität hat Mut gemacht. Mit
der Verabschiedung dieses Gesetzes können Sie für alle ein
Zeichen dafür setzen, dass es sich lohnt, weiterzumachen.
Vielen Dank.
({17})
Bevor ich
dem nächsten Redner das Wort erteile, gestatten Sie mir
ein kurzes persönliches Wort. Wenn gleich der Wechsel
im Vorsitz erfolgen wird, dann war es das letzte Mal, dass
ich die Ehre hatte, eine Sitzung des Deutschen Bundestages zu leiten.
Ich bin dankbar, dass ich diesem Hause 33 Jahre angehören durfte, einem Parlament, das einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung unseres Landes hin zu einer
so stabilen, verlässlichen, freiheitlichen, rechtsstaatlichen
und sozial orientierten Demokratie geleistet hat. Ich habe
in diesen vielen Jahren, insbesondere auch in dieser Legislaturperiode als Vizepräsident des Bundestages, in
vielfacher Weise eine gute Zusammenarbeit mit den Fraktionen und viele freundschaftliche Begegnungen erlebt.
Ministerpräsident Dr. Wolfgang Böhmer ({0})
Ich wünsche den Kolleginnen und Kollegen - denen,
die mit mir ausscheiden, und denen, die wiederkommen alles Gute.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir Gelegenheit gegeben haben, zum Abschluss meiner parlamentarischen Arbeit dieses kurze Wort des Abschieds an Sie zu richten.
({1})
- Vielen Dank.
Ich gebe nunmehr das Wort dem Bundesminister für
Wirtschaft und Technologie, Werner Müller.
Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie ({2}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Lieber Herr Seiters, den Glückwünschen schließe ich
mich an. Es ist nun ein Zufall, dass die letzte Rede, die Sie
hören, von jemandem gehalten wird, der im Emsland zur
Schule gegangen ist und auch bei Ihrem Bruder Unterricht
genossen hat.
({3})
Vielleicht ist das ja noch ein Vergnügen für Sie.
Meine Damen und Herren, ich sitze jetzt seit 10 Uhr
hier und ich kann immer wieder feststellen: Der Wahlkampf treibt manchen Redner zu merkwürdigen Formeln.
Es wird der Eindruck erweckt, in diesem Lande sei alles
unheimlich schlecht,
({4})
die Regierung habe überhaupt keinen wirtschaftspolitischen Sachverstand. Wir haben hier vor 14 Tagen - wenn
Sie sich vielleicht erinnern wollen - einmal demonstriert
bekommen, was denn wirtschaftspolitischer Sachverstand in Wahrheit ist. Ich darf eine zentrale Aussage von
Herrn Stoiber in Erinnerung rufen: Höhere Zinsen sind allemal besser als Steuern.
({5})
Wenn das der wirtschaftliche Sachverstand ist, der dann
künftig regieren soll - nach dem Motto: besser Schulden
auftürmen als Steuern zahlen -, dann wird mir, ehrlich gesagt, ein bisschen Angst.
({6})
Insofern ist es auch sachlogisch völlig richtig, dass sich
der Kanzlerkandidat der Opposition von vornherein im
Lande umgesehen hat, wo denn wirtschaftspolitischer
Sachverstand gefunden werden könnte, Späth hat er einen
gefunden. Seit dem Frühjahr ist also mein Herausforderer
mit Namen bekannt. Ich hatte mich schon auf mehrere andere eingestellt; Herr Schäuble war auch schon einmal in
der Rolle. Nun frage ich mich: Bekommen wir jetzt
irgendwie wirtschaftspolitischen Sachverstand zu hören?
Herr Stoiber hat ja gesagt: Flutschäden durch Schuldenfinanzierung. Eine Woche später hat Herr Späth gesagt,
das wäre allerdings nicht richtig. Da hat er Recht. Er hat
dann vorgeschlagen, wir sollten zur Finanzierung der
Flutschäden beispielsweise sofort alle Telekomaktien verkaufen, aber natürlich nicht zum heutigen Kurs.
({7})
Da weiß ich nun auch nicht, wie das gehen soll; denn ich
muss Ihnen ehrlich sagen: Ich kenne kaum jemanden, der
Papiere teurer kauft, als sie an der Börse notiert sind;
allenfalls vielleicht die eine oder andere betriebliche Rentenkasse, aber das ist ein anderes Thema.
Ich will einmal grundsätzlich sagen: Den Satz „In
Deutschland geht es heute überall schlechter als vor vier
Jahren“ kann man eigentlich nur
({8})
satirisch nehmen;
({9})
denn ich weiß: Wir haben in unserem Land ganz erhebliche „Rückschritte“ erzielt. Überlegen Sie einmal, welcher Rückschritt dahinter steht, dass 1 Million mehr
Menschen beschäftigt sind. Oder der Rückschritt, dass
wir 13 Milliarden Euro mehr für Familienförderung ausgeben! Der vielleicht größte Rückschritt ist, dass gegenüber 1998 jede Familie 2 000 Euro netto mehr hat. Das
sind Rückschritte, die man als solche kennzeichnen
muss.
({10})
Ich frage mich: Aus welcher Denke heraus kommt denn
die Klassifizierung als Rückschritt? Ich will Ihnen noch
ein paar dieser komischen Rückschritte nennen: Wir haben die Körperschaftsteuer auf 25 Prozent gesenkt,
({11})
den Eingangsteuersatz von 26 auf 19,9 Prozent gesenkt,
wir haben den Spitzensteuersatz von 53 auf 48,5 Prozent
gesenkt
({12})
und - wahrscheinlich der größte Rückschritt - wir haben
die Gewerbesteuerbelastung abgeschafft. Ich will auch
deutlich sagen, wo diese Klassifizierung als Rückschritt
herkommt: Wer 16 Jahre lang nur Steuern erhöht hat, für
den sind Steuersenkungen ein Rückschritt. So erklärt sich
das für mich.
({13})
„In unserem Land ist alles schlechter geworden.“
({14})
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
- Ach, unwürdig!
({15})
- Ich wundere mich, dass Sie über meine Würde urteilen
können. Das überlassen Sie mal mir.
({16})
Ich bin dabei, das wörtlich zu nehmen, was ich heute
Morgen von Herrn Merz gehört habe. Er sagte: Alles ist
schlechter geworden. Also ist es doch wohl auch ein
Rückschritt, wenn wir 300 000 Menschen aus dem zweiten Arbeitsmarkt in den ersten transferiert haben. Dann ist
es natürlich auch ein Rückschritt, dass das Kindergeld in
diesen vier Jahren um 47 Prozent erhöht wurde. Rückschritt ist auch, dass 320 000 neue Teilzeitarbeitsplätze
entstanden sind. Rückschritt ist, dass wir die installierte
Windkraftleistung vervierfacht haben und sie jetzt bei ungefähr 10 000 MW liegt.
({17})
Rückschritt ist, dass wir bei der Nutzung der Sonnenenergie über 100 000 neue Arbeitsplätze im handwerklichen
Bereich geschaffen haben.
({18})
Jetzt will ich Ihnen noch einen ganz fulminanten Rückschritt nennen: In den letzten vier Jahren - stellen Sie sich
diese Katastrophe vor! - sind die Rechnungen für Strom
und Telefon um 25 Milliarden Euro gesunken. Das ist also
ein Rückschritt in wirklich eklatantem Ausmaß.
({19})
Es geht noch weiter: Wir werden demnächst das erste Mal
seit 51 Jahren die Postporti um annähernd 5 Prozent senken.
({20})
Wenn Ihnen die Zahl der Rückschritte in diesem Land
noch nicht genügt, dann will ich Ihnen noch ein paar
Rückschritte nennen: In den letzten vier Jahren haben wir
all Ihren Unkenrufen zum Trotz die Zahl der Selbstständigen um über 120 000 auf 760 000 erhöhen können, und
zwar weil es sich ja nicht lohnt, in diesem Land zu arbeiten.
({21})
Wir haben die Garantiezeit für Produkte per Gesetz auf
zwei Jahre verlängert. Auch das ist ein Rückschritt.
({22})
Wir haben das BAföG und das Meister-BAföG mit dem
Ergebnis neu gestaltet, dass sich inzwischen die Zahl derjenigen, die Meister werden wollen, verdoppelt hat.
({23})
Für die Juristen gibt es noch einen ganz besonders
merkwürdigen Rückschritt. Stellen Sie sich vor: Wir haben die digitale Signatur verrechtlicht. Das ist eine Katastrophe! Wir haben daneben das Rabattgesetz und die Zugabenverordnung abgeschafft, damit Händler und
Kunden wieder mehr Freiheit haben. Das ist natürlich ein
Rückschritt, wenn man weiß, dass das 30 Jahre währende
liberale Politik verhindert hat.
({24})
Wir haben es durch eine ganz konsequente Förderung
des Exportes - durch Abschluss von Hermesbürgschaften,
durch Investitionenschutzverträge mit vielen Ländern und
durch gewaltige politische Flankierungen - tatsächlich
geschafft, dass der Export von 1998 bis heute um über
30 Prozent auf 640 Milliarden Euro gestiegen ist. Das
heißt nichts anderes, als dass unser angeblich so marodes
Land in den letzten vier Jahren die gesamte internationale
Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen hat, die es vorher
verloren hatte.
({25})
Zum Schluss muss ich mich fragen: Ist es bescheuert,
dass Sie unser Land - von mir aus wegen des Wahlkampfes, trotzdem muss man es deutlich sagen - so schlechtreden, oder nicht? Sind diejenigen bescheuert, die in unserem Land sage und schreibe über 350 Milliarden Euro in
den letzten vier Jahren investiert haben?
({26})
Wir wissen, wer in diesem Land sein Geld anlegt, wird
wahrscheinlich diesen Standort im Wettbewerb der
Standorte der Welt ausgesucht haben. Deswegen will ich
ganz ehrlich sagen: Ich glaube nicht, dass diejenigen, die
in den letzten vier Jahren achtmal mehr in Deutschland investiert haben als in den 90er-Jahren unter Ihrer Regierung, alle bescheuert sind. Bescheuert ist Ihre Beschreibung dieses Landes!
({27})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schauerte?
({0})
Herr Schauerte, ich weiß ehrlich gesagt
nicht, was die Perspektive des Sauerlandes damit zu tun
hat, wenn ich über internationale Investoren rede.
({0})
- Ich gebe zu, dass das, was ich sage, aus Ihrer Sicht
clownhaft klingt, aber ich will doch nur das, was Sie gesagt haben, wörtlich nehmen.
({1})
Zurück zum Text: Die internationalen Investoren investieren in unserem Land in ungeahntem Ausmaß. Sie haben
nämlich Vertrauen in die Wirtschafts- und Finanzpolitik
dieses Landes wiedergewonnen.
({2})
Mein Haushalt beispielsweise trägt entscheidend zur
Solidität der Finanzpolitik bei, weil ich konsequent jedes
Jahr Subventionen in der Größenordnung von vorher
1 Milliarde DM und jetzt einer halben Milliarde Euro aus
dem Haushalt gestrichen habe. Mein Haushalt ist - wie
gesagt - vom Subventionsabbau gekennzeichnet.
({3})
Von diesem Subventionsabbau entfällt gut die Hälfte auf
die Kohle und etwas weniger als die Hälfte auf die sonstigen Subventionen für die Wirtschaft.
Dennoch wird der Haushalt den notwendigen Zukunftsaufgaben gerecht. Einen Schwerpunkt haben wir
beispielsweise bei der Förderung des Exportes gesetzt.
Ich kann nicht alle Einzelheiten darstellen, möchte aber
einen Punkt herausgreifen: Wir haben ein neues Exportförderprogramm zur Förderung des Exportes regenerativer Energien mit 20 Millionen Euro dotiert.
({4})
Wir werden zusammen mit dem Entwicklungsministerium eine große Konferenz über die Nutzung regenerativer Energien in den Entwicklungsländern veranstalten.
Dies hat zunächst einmal einen klimatologischen Hintergrund, soll zum Schluss aber auch der deutschen Exportwirtschaft nützen.
Wir werden die Probleme hinsichtlich Basel II ernst
nehmen. Wir haben im Haushalt einen Kleingründerkredit stehen. Wir werden uns auch konsequent dem Bürokratieabbau zuwenden. Eine der größten bürokratischen
Belastungen
({5})
betrifft die Statistikbelastung der Unternehmen. Diese
Statistikbelastung der Unternehmen werde ich in den
nächsten vier Jahren relativ einfach halbieren,
({6})
indem wir die Erhebungszeiträume verlängern, indem wir
die Stichprobenerhebungen ausdehnen und die eine oder
andere Statistik schlicht streichen.
({7})
Ich werde dies machen, auch wenn der BDI bereits Protest dagegen erhoben hat, dass wir die Statistikbelastung
der Wirtschaft reduzieren wollen; ausgerechnet der BDI.
({8})
Da wir beim Thema Bürokratie sind, möchte ich auf
die Rede von Herrn Böhmer eingehen, die sehr angenehm
anzuhören war.
({9})
Ich frage mich, wieso die Auszahlung der Fluthilfe nur
in einem Bundesland so bürokratisch abläuft, dass die Betroffenen schier verzweifeln. Ich will ganz deutlich sagen:
Mir fällt auf, dass ich mit Herrn Rehberger bestens zusammenarbeite. Ich glaube, ich habe keinen einzigen
Klagebrief aus Sachsen-Anhalt bekommen. Ich habe aber
Hunderte aus Sachsen bekommen.
({10})
- ja, das ist schon merkwürdig, denn auch Sachsen-Anhalt
hat 2 000 bis 3 000 geschädigte Betriebe. Dies ist keine
kleine Zahl.
Damit gar kein Verdacht aufkommt, will ich deutlich
machen: Ich habe schon vor 14 Tagen, am 29. August
2002, an dieser Stelle gesagt: Die Gelder stehen ab jetzt
oder ab Freitag Vormittag vor 14 Tagen definitiv zur Verfügung. Dies gilt für alle Gelder, die für die Schadensregulierung der Unternehmen vorgesehen sind. Der Kollege
Bodewig hat am 30. August 2002 ein Rundschreiben des
Inhalts erlassen, dass beispielsweise im Wege des so
genannten HKR-Verfahrens alle Länder sofort Zugriff
haben, und diese Gelder stehen ab dem 2. September,
7.15 Uhr, allen Ländern zur Verfügung.
({11})
An der Auszahlung oder am Zugriff auf die Gelder kann
es also nicht liegen.
({12})
Ich möchte einen weiteren Punkt kritisch anmerken.
Wir haben das Geld nicht auf die Landeskonten überwiesen, damit es sich dort verzinsen soll,
({13})
sondern damit es als Soforthilfe unmittelbar an die Opfer
ausgezahlt wird.
({14})
Diese Spielerei mit der angeblich fehlenden Verwaltungsvereinbarung soll nur vertuschen, dass die Auszahlung
- warum auch immer ({15})
nicht funktioniert.
({16})
Ich will dem Land Sachsen eines ernsthaft zu bedenken
geben: Das Land Sachsen möge bitte vermeiden, dass der
Verdacht entsteht, man würde Schäden bis zum 22. September deshalb nicht bezahlen, um den Ärger auf die Bundesregierung zu lenken.
({17})
Eines ist klar: Die Gelder stehen zur Verfügung und
sollen benutzt werden, um die Schäden zu regulieren.
Ein Satz zu den Unternehmen. Es wird - dafür stehe
ich gerade - durch die Schäden keinem Unternehmen
nach dem Wiederanfang - auch wenn das einen völligen
Neuanfang bedeutet - finanziell schlechter gehen als vorher. Das ist die Richtschnur dafür, wie reguliert wird.
({18})
Es ist auch klar, dass wir uns dem Thema „mittelbare
Schäden“ annehmen müssen. Darüber bin ich mit Herrn
Rehberger im Gespräch; wir haben schon vor einer Woche darüber gesprochen. Es gibt beispielsweise Betriebe,
die evakuiert worden sind oder die von behördlicher
Seite geschlossen worden sind. Auch dadurch sind Schäden entstanden, die, wie ich denke, reguliert werden müssen.
Alles in allem lassen Sie mich sagen: Herr Böhmer, Sie
brauchen nichts vorzufinanzieren. Seien Sie dessen versichert! Die Behauptung, dass dies nicht so ist, ist ein Ammenmärchen. Ich weiß nicht, woher Sie das haben. Es
wird Ihnen das, was in den Ländern zur Schadensregulierung ausgegeben werden muss, zur Verfügung stehen. Insgesamt kann ich nur sagen: Mit dem Land Sachsen-Anhalt
habe ich noch nie Probleme gehabt.
({19})
Ich will nun meine Rede beenden. Ich bitte um Nachsicht, wenn Sie von der Opposition sie als clownhaft und
satirisch empfunden haben. Ich wollte nichts anderes, als
Ihnen das Empfinden eines Bürgers vorführen, da Sie ja
immer sagen, in diesem Land sei in den letzten Jahren alles schlechter geworden. Wissen Sie, was schlechter geworden ist? - Ihre Oppositionsarbeit.
({20})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Hartmut
Schauerte das Wort.
Herr Minister
Müller, wie Sie als Minister ohne Abgeordnetenmandat
eine fair vorgetragene Bitte um eine Zwischenfrage mit
der Diskriminierung einer ganzen Region beantworten
können, ist unter Niveau.
({0})
Das ist so sehr unter Niveau, dass ich überlegt habe, ob ich
Sie mit „Herr Minister Müller“ ansprechen soll oder - das
habe ich mir für die Zukunft vorgenommen - nur noch mit
„Herr Müller“.
({1})
Es hat wirklich keinen Zweck.
Ich darf Sie daran erinnern, dass in meinem Wahlkreis, der in Nordrhein-Westfalen bzw. im Sauerland
liegt, die geringste Arbeitslosigkeit herrscht, dass die
sauerländischen Arbeitnehmer und Unternehmer ausgesprochen erfolgreich sind, und das trotz Ihrer miserablen
Wirtschaftspolitik.
({2})
Ich habe mich aber eigentlich gemeldet, um Sie Folgendes zu fragen: Halten Sie es für einen Fortschritt - ich
gehe dies einmal auf diese Weise an; außerdem bin ich der
Meinung, die Lage in Deutschland ist so ernst, dass sie für
die Satire eines Bundesministers, der seit vier Jahren Verantwortung trägt, keinen Platz lässt -,
({3})
dass Sie aus seinerzeit 5 Millionen 630-Mark-Jobs 1 Million haben werden lassen, die Sie nun als Erfolg der Steigerung der Zahl von Arbeitsplätzen in Deutschland darstellen? Das sind nämlich 1 Million 630-Mark-Jobs, die
Sie nun versicherungspflichtig gemacht haben.
({4})
Ich will Sie fragen, ob Sie es für einen Erfolg halten,
dass aus der viel zu hohen Zahl von 27 000 Konkursen,
die wir im letzten Jahr der Regierung Kohl hatten, nun
40 000 Konkurse geworden sind?
({5})
Ist das ein Fortschritt, den man hier loben kann, auf den
man stolz sein kann? Das könnte man annehmen, so wie
Sie sich hier hingestellt haben.
({6})
Ich darf bei dieser Gelegenheit betonen, dass diese 40 000
Konkurse in Deutschland zweieinhalbmal so viel kosten
- auch an Arbeitsplätzen - wie die Beseitigung der Schäden der Flutkatastrophe. Das ist eine weitere nationale
Katastrophe, die Sie selber herbeigeführt haben.
({7})
Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie das Wirtschaftswachstum auf nahezu null gedrückt haben, dass Sie dafür
gesorgt haben, dass Deutschland beim Wirtschaftswachstum auf dem letzten Platz in Europa liegt. Nennen Sie das
Fortschritt?
({8})
Und ich frage Sie zum Schluss: Sie sprechen davon
- so weit ist Ihre Propaganda verkommen -, dass Sie bei
der Bekämpfung der Verschuldung des Staates Fortschritte erreicht hätten. Die nackten Fakten sind aber folgende - ich darf aus der „Wirtschaftswoche“ dieser Woche zitieren -: Im letzten Jahr der Regierung Kohl/Waigel
lag das Staatsdefizit bei 42,8 Milliarden Euro. Im letzten
Jahr der Regierung Schröder/Müller/Eichel liegt es bei
65 Milliarden Euro. - Das ist eine Steigerung um mehr als
50 Prozent. Nennen Sie das einen verantwortbaren Fortschritt? Das ist nahe an der Katastrophe, Herr Müller.
({9})
Herr Minister, Sie haben das Wort zur Erwiderung.
Herr Schauerte, wenn ich bei Ihnen den
Eindruck erweckt haben sollte, das Sauerland beleidigt zu
haben, dann tut mir das Leid. Ich wollte gewiss nicht alle
Sauerländer beleidigen. Ich hatte nur einen im Auge.
({0})
Ich will zu dem kommen, was Sie so erregt vorgetragen haben. Sie haben gesagt, unter der Regierung Kohl
habe es nie 40 000 Konkurse gegeben. Ich weiß nicht auf
Anhieb, ob das stimmt.
({1})
Was im Moment gemeldet wird, sind Insolvenzzahlen. In
diesen Insolvenzzahlen ist auch das enthalten, was zwar
schon die Regierung Kohl veranlasst hatte, nämlich die
Erfassung privater Insolvenzen, was aber mangels sinniger Durchführung praktisch nie wahrgenommen werden
konnte. Sie müssen also erst einmal die 10 000 privaten
Insolvenzen herausrechnen.
({2})
Im Übrigen sage ich Ihnen: Das neue Insolvenzrecht
haben Sie gemacht, damit es nicht als allerletztes Mittel,
ehe das Unternehmen völlig kaputt ist, wahrgenommen
wird. Das Insolvenzrecht - das war der Zweck - soll die
Zahl der Insolvenzanmeldungen erhöhen. Wissen Sie,
was für den Wirtschaftsminister wichtig ist? Dass jedes
Jahr einige 10 000 Unternehmen mehr gegründet werden
als sterben.
({3})
Diese 40 000 Insolvenzen sind nicht das, was am Markt
verschwindet. Am Markt sterben - ich muss sagen: leider - jedes Jahr 450 000 bis 460 000 Unternehmen. Das
war in dieser Größenordnung schon immer so. Wichtig
ist, dass unverändert 530 000 bis 540 000 Unternehmen
neu gegründet werden. Ich habe Ihnen vorher dargestellt,
dass sich zum Beispiel die Zahl der Freiberuflichen in unserer Regierungszeit kräftig erhöht hat.
Jetzt kommt Ihr altes Wachstumsmärchen. Das ist der
Grund, warum ich Zwischenfragen von Ihnen so ungern
annehme. Sie verbreiten jedes Mal dieselben Unwahrheiten.
({4})
Sie wissen haargenau, dass das Wachstum von 1992 bis
1998, also unter der Regierung Kohl, im Durchschnitt
1,3 Prozent betragen hat. Das ist die geringste Durchschnittsrate aller EU-Länder. Unser Land ist seit 1993/94
beim Wachstum das Schlusslicht der EU.
({5})
- Warum schreien Sie „falsch“? Ich habe Ihrem Fraktionsvorsitzenden einmal einen Brief geschrieben und
ihm zu allem, was er in diesem Zusammenhang gesagt
hat, die entsprechenden Zahlen geliefert. Ich habe niemals
eine Antwort bekommen.
({6})
Noch einmal: In diesen vier Jahren, in denen wir regiert
haben - damit Sie das richtig verstehen: das sind die ersten vier Jahre der Regierung Schröder -,
({7})
lag das durchschnittliche Wachstum bei etwa 1,6 Prozent.
Das ist nicht sehr viel mehr, aber etwas mehr. Dieses
höhere Wachstum erzielten wir, obwohl in den letzten vier
Jahren, im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit in den 90erJahren, eine Baukrise herrschte. Hinzu kam eine ganz einmalige Entwertung der Kapitalien an der Börse. Ich erinnere auch an die Ereignisse vom 11. September 2001, über
dessen mittel- und langfristige Verunsicherungswirkung
auf Wachstum und Investoren wir noch gar nicht Bescheid
wissen.
({8})
Trotz all dieser Faktoren und trotz der Tatsache, dass in
diesem Lande alles so schlecht ist, wie Sie sagen, haben
wir eine höheres Wachstum erzielt. Aber ich sage deutlich: Es war nicht das Wachstum, das ich erzielen wollte,
als ich als Wirtschaftsminister angetreten bin. Deswegen
werde ich daran weiterarbeiten.
({9})
Nun erteile ich dem
Kollegen Franz Thönnes für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem der Wirtschaftsminister der Opposition noch einmal erklärt hat,
welche Fortschritte sie als Rückschritt sieht, muss auch
einmal deutlich gemacht werden, was ein wirklicher
Rückschritt in diesem Land wäre. Ein wirklicher Rückschritt wäre nämlich, wenn die Opposition mit ihrer finanziellen Konzeptionslosigkeit und ihrer Uneinigkeit
wieder an der Stelle anknüpfen könnte, an der sie 1998
aufhören musste. Das wird am 22. September nicht geschehen.
({0})
Wir haben vor einigen Wochen schon einmal über die
Vorschläge der Hartz-Kommission diskutiert. Seinerzeit
gab es in den Reihen der Opposition, ähnlich wie beim
Rennhunderennen, ein Hecheln in den Boxen und jeder
wollte als Erster auf die Startbahn kommen. Heute fällt Ihnen nichts Besseres ein, als die Konzeption der Kommission zu zerreden und sie schlecht zu machen. Die Regierungskoalition macht aber mit ihrem heute vorliegenden
Antrag deutlich, dass sie auf die breite Allianz der Vernunft setzt, die im Hartz-Bericht in dem einstimmigen Votum der Vertreterinnen und Vertreter von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gewerkschaften zum Ausdruck
kommt. Für uns sind flexible Arbeitsmärkte und soziale
Gerechtigkeit keine Gegensätze, sondern zwei Seiten ein
und derselben Medaille.
({1})
Wir lassen uns unsere Arbeit nicht von Ihnen schlechtreden. Es ist schon mehrfach festgestellt worden und wir
bleiben dabei: Der Aufwuchs von 1,1 Millionen Beschäftigten ist ein gutes Ergebnis. Wir hätten uns gern mehr gewünscht. Aber die Behauptung, dies seien alles geringfügige Beschäftigungsverhältnisse, ist schlichtweg falsch.
Darunter sind 800 000 neue Vollzeitjobs. Das ist die
Wahrheit und das ist ein Fortschritt.
({2})
Hören Sie auf, das Land schlechtzureden! Wir brauchen keine Miesmacher und Schlechtredner, sondern
Menschen wie Peter Hartz und die Mitglieder seiner
Kommission, die Vorschläge erarbeiten, die wir als
Chance begreifen, gemeinsam die Verantwortung
wahrzunehmen und die Arbeitslosigkeit in den kommenden Jahren deutlich zu senken. Wer das als „Gequatsche“ abqualifiziert, wie es Ihr Kanzlerkandidat tut,
auf den fällt der Vorwurf des Gequatsches selbst zurück.
Wir packen das jetzt an, anstatt dieses Land schlechtzureden.
({3})
Monat für Monat bis zum Mai des letzten Jahres ist die
Arbeitslosigkeit in diesem Land gesunken. In Ihrer
Amtszeit von 1994 bis 1998 stiegen die Arbeitslosenzahlen - teilweise sogar bei einer besseren amerikanischen
Konjunktur - um 700 000. Wenn wir heute abrechnen,
liegen wir um 100 000 Arbeitslose unter der Zahl, die wir
von Ihnen übernommen haben. Wenn wir Ihre Trickserei
und Täuscherei mit dem Aufwuchs an Beschäftigung
durch ABM und SAM noch hinzurechnen, würden wir eigentlich um 400 000 darunter liegen. Das ist die Wahrheit.
({4})
Deswegen geht es jetzt darum, Schnelligkeit und Dynamik in den Arbeitsmarkt zu bringen. Wir haben nach der
Einführung des guten Job-AQTIV-Gesetzes feststellen
müssen, dass die Vermittlung in den Arbeitsämtern nicht
so schnell vorangeht, wie wir das wollen. Wir haben festgestellt, dass arbeitslose Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer häufig nicht über die Qualifikation verfügen, die
in den Betrieben nachgefragt wird. Trotz des Engagements der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit stellen wir fest, dass nicht genügend
Spielraum vorhanden ist, damit ihre Arbeit auch wirklich
erfolgreich ist. Deswegen ist es gut, dass mit dem Entwurf
der Hartz-Kommission nun Vorschläge zu einer neuen
Ordnung auf dem Arbeitsmarkt vorgelegt werden.
({5})
Das Prinzip, das wir mit dem Job-AQTIV-Gesetz eingeführt haben, nämlich zu fördern und zu fordern, entspricht der Grundlinie der Vorschläge dieser Kommission.
An dieser Stelle muss einmal deutlich gesagt werden, dass
einer der Vorschläge, der die Situation unserer Sozialhilfeempfänger wirklich radikal verändern wird, darin besteht, dass jeder erwerbsfähige Arbeitslose zukünftig auch
Anspruch auf die Leistungen der Arbeitsförderung hat.
Dies gilt insbesondere für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger. Dabei handelt es sich um eine qualitative Besserstellung, die Sie nie zustande bekommen haben.
({6})
Die Einführung von Jobcentern wird dazu führen, dass
den Menschen endlich Hilfe aus einer Hand gewährt wird,
dass endlich Schluss ist mit dem Verschiebebahnhof bzw.
mit dem Rennen von Pontius zu Pilatus. Es wird ein Serviceangebot für diejenigen entstehen, die Arbeit suchen,
und diejenigen, die Arbeit zu bieten haben, für Mittelstand
und Handwerk.
Die Personal-Service-Agenturen werden den hohen
sozialen Anspruch, den wir in diesem Land eigentlich
haben, verwirklichen, nämlich Arbeitslosigkeit zu verhindern, das heißt, Menschen die Möglichkeit zu geben,
entweder im Rahmen eines Leiharbeitsverhältnisses zu
arbeiten oder sich für eine neue Arbeit qualifizieren zu
lassen. Die soziale Ausgewogenheit der Vorschläge von
Peter Hartz und seiner Kommission wird dadurch deutlich, dass neue Formen der Beschäftigung mit neuen Formen sozialer Sicherheit einhergehen, dass endlich Tarifverträge den Bereich der Leiharbeit regeln und damit eine
verlässliche Grundlage für die Arbeitgeber und für die
Arbeitnehmer sind.
({7})
Ebenso wichtig ist der Einstieg in neue Formen der
Selbstständigkeit, mit deren Hilfe man gleichzeitig versucht, die Schwarzarbeit abzubauen. Genau dies wird passieren, wenn wir die Beschäftigungspotenziale nutzen,
die es bei den hauswirtschaftlichen Dienstleistungen gibt.
Wir wollen den Menschen die Chance geben, neue Formen der Selbstständigkeit auszuprobieren. Im Rahmen
eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses soll gewährleistet werden, dass man bis zu
einem Einkommen von 500 Euro im Bereich der Privathaushalte arbeiten kann. Das soll mit einer Steuerabzugsmöglichkeit oder mit einer steuerfinanzierten Zulage für
die Arbeitgeber gefördert werden. Auch das wird ein sozialpolitischer Fortschritt sein.
Wenn man sich die Vorschläge anschaut, die wir im
Bereich der Verzahnung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe aufgreifen, dann stellt man fest, dass es zukünftig ein
Fördergeld für alle erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger
geben wird, das heißt, dass diese Menschen nicht länger
diskriminiert werden. Sie erhalten in den Beschäftigungsförderungsgesellschaften und den Personal-Service-Agenturen Angebote. Damit wird endlich der Satz eingelöst,
dass Solidarität keine Einbahnstraße sein muss. Die Menschen erhalten eine Beschäftigungsperspektive und werden auf keinen Fall unter Ihren Vorschlägen leiden müssen, wonach die Arbeitslosenhilfe auf das Niveau der
Sozialhilfe gekürzt werden soll. Ihnen ist schlichtweg
nichts anderes als Kappen und Kürzen eingefallen. Das
wird es mit dieser Regierung nicht geben.
({8})
Wie verhält sich nun die Arbeitgeberseite? - Wenn
über Drückebergerei in diesem Land geredet wird, dann
möchte ich an dieser Stelle auch ganz deutlich sagen, dass
die Arbeitgeber jetzt aufgefordert sind, den privaten Vermittlern und der Arbeitsverwaltung alle offenen Stellen zu
melden. Sie sind des Weiteren aufgefordert, endlich die
1,7 Milliarden Überstunden schrittweise in neue Arbeitsplätze umzuwandeln. Mit dieser Drückebergerei in unserem Land muss endlich Schluss sein!
({9})
Nun möchte ich auf das Verhalten der Opposition zu
sprechen kommen. Stoiber hat am 11. August in Celle zu
den Vorschlägen der Hartz-Kommission gesagt: All das
Hartz-Gequatsche nützt uns nichts. Herr Späth hat gesagt:
Das Papier stellt keine Basis dar, auf der wir aufbauen
können. Frau Merkel hat einen Tag später gesagt: Es ist
doch ganz unstrittig, dass alles, was der Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit dient - und das sagte sie für die gesamte
Union -, natürlich von uns übernommen wird. Der „Süddeutschen Zeitung“ fällt dazu nichts anderes als Folgendes ein - ich denke, sie hat völlig Recht -:
Das Hartz-Konzept enthüllt trotz mancher Schwächen
vor allem eines: Der Union fällt noch weniger gegen
Arbeitslosigkeit ein.
Der „Tagesspiegel“ setzt noch einen drauf: Statt dass
die Union über Lösungen debattiert, „statt Unterschiede
aufzuzeigen, wo es sie gibt, und Gemeinsamkeiten gelten
zu lassen, spielt sie“ - das haben auch wir heute erlebt „in Klamauk. Und das sollen nun die ernsten Leute für die
ernsten Zeiten sein?“ Ich sage: Das waren 1998 die
falschen Leute! Und das sind auch 2002 die falschen
Leute!
({10})
Mit Ihrem Oppositionsprogramm - schlechtreden statt
anpacken, Finanzierung auf Pump, Abbau sozialer Leistungen und Attacken auf die Arbeitnehmerrechte - würden wir in die Zeit der Regierung Kohl zurückgehen. Das
wäre ein wahrer Rückschritt. Das, was in Ihrem Programm steht, bedeutet Kappen und Kürzen sowie Demagogie und Druck. Sie stellen den Flächentarifvertrag und
den Kündigungsschutz infrage.
({11})
Sie wollen unsere Reformen des Betriebsverfassungsgesetzes zurückdrehen. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis:
Auch für die Wirtschaft in Deutschland wird gelten, dass
die Demokratie nicht vor den Betriebstoren Halt macht.
({12})
Sie können ganz sicher sein, dass die Demokratie am
22. September eine klare Entscheidung treffen wird. Der
Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen
Handwerks, Hanns-Eberhard Schleyer, hat zu Ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Hartz-Vorschlägen - er
ist Mitglied dieser Kommission - deutlich gesagt: Die
Union sollte aufpassen. Sie sollte nicht in altes Schubladendenken verfallen. Ich denke, er hat Recht.
Bleiben Sie in Ihrer Schublade! Richten Sie sich dort gut
ein! Auf dem Schild, das nach dem 22. September auf Ihrer
Schublade sein wird, wird „Opposition“ stehen. Damit wird
ganz deutlich: Die Täter von gestern taugen nicht als Sanitäter für morgen, wenn es darum geht, dieses Land zu modernisieren und dabei soziales Augenmaß walten zu lassen.
({13})
Ich erteile dem Kollegen Singhammer das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Kollege
Thönnes, Sie können so laut und so schnell reden, wie Sie
wollen; eines können Sie nicht wegreden, nämlich dass
Sie im zentralen Politikbereich der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gescheitert sind.
({0})
All Ihre Versprechungen in Bezug auf die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit und die Schaffung von mehr Beschäftigung haben Sie nicht eingelöst. Die Schlussbilanz
Ihrer rot-grünen Bundesregierung ist ein dramatischer
Verlust an Beschäftigung.
({1})
Weil immer weniger in Arbeit und Brot sind, entgleiten
Ihnen die Sozialversicherungssysteme, die Renten-, die
Kranken-, die Pflege- und die Arbeitslosenversicherung.
Entscheidend ist: Sie sind in einem zentralen Punkt gescheitert. Der Minister für Arbeit, Herr Riester, muss nach
dieser Bilanz den Titel „Minister für Arbeitslosigkeit“
tragen.
({2})
Herr Kollege
Thönnes, Sie können antworten. - Bitte sehr.
Werter Kollege Singhammer,
es war klar, dass Sie das Wort zu einer Kurzintervention
ergreifen mussten. Denn es ist Ihnen nicht gelungen, auf
die Rednerliste Ihrer Partei zu kommen.
Ich will Ihnen noch einmal deutlich sagen: Angesichts
von 1,2 Millionen mehr Beschäftigten, der höchsten Beschäftigtenzahl seit der deutschen Wiedervereinigung,
nämlich im Jahr 2001, angesichts eines Abbaus der Arbeitslosenzahlen bei den älteren Arbeitnehmern um gut
400 000, einer Reduzierung der Arbeitslosenzahlen bei
den Schwerbehinderten um gut 36 000 und der Schaffung
einer neuen Perspektive für junge Menschen, die sonst
keine Ausbildung bekommen hätten - wir haben ihnen
mit dem JUMP-Programm geholfen, Arbeit und Ausbildung zu finden; das betrifft gut 451 000 -, brauchen wir
uns Ihre Unwahrheiten, Ihre Demagogie und Ihr Schlechtreden in diesem Parlament nicht gefallen zu lassen.
({0})
Es ist auch überhaupt kein Fehler, wenn wir sagen: Wir
haben uns mehr vorgenommen. Schauen Sie sich einmal
die Prognosen all der Wirtschaftsinstitute an, die Anfang
2001 Prognosen abgegeben haben! Alles war darauf ausgerichtet, dass es mit guten Wachstumsraten weitergeht.
Das ist so nicht eingetreten. Wir könnten heute ja einmal
darüber streiten, warum die Arbeitslosenrate rund um
München rapide ansteigt, und darüber, ob das etwas mit
der Staatsregierung in Bayern zu tun hat, ob das etwas mit
der Bundesregierung zu tun hat oder ob das auch etwas
mit weltwirtschaftlichen Einflüssen auf den neuen Markt
und an den Börsen zu tun hat.
Eines ist aber klar: Wer in Bayern mit 1,2 Milliarden
Euro an der Kirch-Pleite beteiligt ist, der sollte hier
schweigen; denn er sollte eigentlich etwas für seine strukturschwachen Regionen in Franken, vor allem in Oberfranken, und in anderen Gegenden tun. Dort hat Ihr Kandidat versagt. Dort haben Sie als weiß-blaue Partei
versagt. Es gäbe noch genügend andere Beispiele, die wir
hier anbringen könnten.
Ich sage Ihnen abschließend noch einmal: Die Täter
von gestern taugen nicht als Sanitäter für morgen.
({1})
Bevor wir die Haushaltsberatungen fortsetzen, kommen wir zu einer Reihe
von Abstimmungen. Ich bitte vor allem die Geschäftsführer um Aufmerksamkeit, damit wir alles richtig machen.
Tagesordnungspunkt 2 a. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines
Flutopfersolidaritätsgesetzes auf Drucksache 14/9894.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9934, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der
FDP bei Stimmenthaltungen ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von FDP und bei Enthaltung der CDU/CSU ist der
Gesetzentwurf angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9941. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Der
Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Abstimmung über den Entwurf eines Hochwasserschaden-Ausgleichsgesetzes der Fraktion der PDS auf
Drucksache 14/9895. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9934, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 2 b: Unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9934 empfiehlt der Finanzausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/9905 mit dem Titel „Schnelle Hilfe für die
Flutopfer“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU
bei Enthaltung der FDP angenommen.
Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/9934 empfiehlt der Finanzausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9899 mit dem Titel „Stärkere Beteiligung von
Großunternehmen an der Bewältigung von Hochwasserschäden durch Körperschaftsteuer auf Veräußerungsgewinne“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Die Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist gegen
die Stimmen der PDS angenommen.
Unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/9934 empfiehlt der Finanzausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9900 mit dem Titel „Stärkere Beteiligung von
Kapitalgesellschaften an der Bewältigung von HochwasJohannes Singhammer
serschäden durch Erhöhung der Körperschaftsteuersätze“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Unter Buchstabe f seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/9934 empfiehlt der Finanzausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9901 mit dem Titel „Bewältigung der Flutkatastrophe gerecht finanzieren - Vermögensabgabe erheben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen
die Stimmen der PDS angenommen.
Unter Buchstabe g seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/9934 empfiehlt der Finanzausschuss die
Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion der
FDP auf Drucksache 14/9908 zu der Regierungserklärung
des Bundeskanzlers zu den Maßnahmen zur Bewältigung
der Hochwasserkatastrophe. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der FDP bei Stimmenthaltung der CDU/CSU
angenommen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 3 a: Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 14/9891 mit dem Titel „Handeln für mehr Arbeit - sinnvolle Reformvorschläge der Hartz-Kommission jetzt beraten und umsetzen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die
Stimmen der FDP ist der Antrag abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 14/9946 mit dem Titel „Neue Beschäftigung schnelle Vermittlung - erstklassiger Service - Reformvorschläge der Hartz-Kommission unverzüglich umsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von PDS,
CDU/CSU und FDP ist der Antrag angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/9944 mit dem Titel „Zeit
für Taten - Offensive für mehr Beschäftigung“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Bei Enthaltung der FDP ist der Antrag
gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS auf
Drucksache 14/9940 mit dem Titel „Neue Arbeitsplätze
statt Druck auf Arbeitslose - Beschäftigungspolitik mit
sozialem Augenmaß tut Not“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Fünften Gesetz
zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes
({1})
- Drucksachen 14/8448, 14/8911, 14/9535,
14/9795, 14/9888, 14/9937 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek
Mir wurde mitgeteilt, dass eine Berichterstattung zu
diesem sowie zu den folgenden Vermittlungsergebnissen
nicht gewünscht wird. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 14/9937? - Wer stimmt dagegen? - Alle
stimmen zu. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes
- Drucksachen 14/9194, 14/9237, 14/9711,
14/9793, 14/9889, 14/9938 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek
Herr Dr. Wieczorek wünscht nicht das Wort zur Berichterstattung. - Ich sehe auch keine Wortmeldungen zu
Erklärungen. Wir können somit abstimmen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/9938? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen der
PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({3}) zu dem Gesetz zur Einrichtung
eines Registers über unzuverlässige Unternehmen
- Drucksachen 14/9356, 14/9710, 14/9794, 14/9798,
14/9939 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Wieczorek
Auch hierzu wird weder zur Berichterstattung noch zu
Erklärungen das Wort gewünscht. Deswegen kommen wir
zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß
§ 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen,
dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/9939? - Wer stimmt
dagegen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung
zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 7 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({4})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Reform durch Verfassung: Für eine demokratische, solidarische und handlungsfähige
Europäische Union
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze,
Christian Schmidt ({5}), Michael Stübgen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Notwendige Reformen für die zukünftige EU:
Forderungen an den Konvent
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Ina Albowitz,
Hildebrecht Braun ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Zukunft Europas liegt in den Händen des
Konvents
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Hiksch,
Dr. Klaus Grehn, Roland Claus und der Fraktion
der PDS
Ein anderes Europa ist möglich - Im Konvent
die Weichen für eine demokratische, solidarische und zivile Europäische Union stellen
- Drucksachen 14/9047, 14/8489, 14/9044,
14/9046, 14/9500 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({7})
Peter Hintze
Christian Sterzing
Dr. Helmut Haussmann
Uwe Hiksch
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/9047 mit dem Titel „Reform durch Verfassung:
Für eine demokratische, solidarische und handlungsfähige Europäische Union“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und
FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/8489 mit dem Titel „Notwendige Reformen für die
zukünftige EU: Forderungen an den Konvent“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der FDP ist
die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der CDU/
CSU angenommen.
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der FDP auf Drucksache 14/9044 mit dem Titel
„Die Zukunft Europas liegt in den Händen des Konvents“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der
CDU/CSU ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9500 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9046 mit dem Titel „Ein anderes Europa ist möglich - Im Konvent die Weichen für eine demokratische,
solidarische und zivile Europäische Union stellen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist die Beschlussempfehlung gegen die
Stimmen der PDS angenommen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 7 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({8})
Übersicht 13 a
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/9932 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Alle haben dafür gestimmt; damit ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 412 zu Petitionen
- Drucksache 14/9915 Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 14/9947 vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU? Wer stimmt dagegen? - Damit ist der Änderungsantrag
abgelehnt.
Wer stimmt für die Sammelübersicht 412 auf Drucksache 14/9915? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ist die Sammelübersicht angenommen.
Wir setzen die Haushaltsberatungen mit der Beratung
über die Einzelpläne der Geschäftsbereiche des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, des Bundesministeriums für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft und des Bundesministeriums für Gesundheit fort. Außerdem rufe ich Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Seehofer, Karl-Josef Laumann, Wolfgang
Lohmann ({10}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Klarheit über finanzielle Situation in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung
vor der Bundestagswahl schaffen
- Drucksache 14/9945 Wir beginnen nun mit der Debatte.
({11})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
- Das Thema ist interessant genug, Sie dürfen gerne hier
bleiben.
({12})
Wer hier bleibt, möge sich hinsetzen.
Nun hat der Bundesumweltminister, Herr Trittin, das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Umwelt- und Naturschutzverbände dieses Landes haben sich im Vorfeld der Bundestagswahl mit den Alternativen, die zur Wahl stehen,
beschäftigt.
({0})
Sie haben eine klare Bilanz gezogen. Der Naturschutzbund Deutschland sagt wörtlich:
Die vergangenen vier Jahre waren für die Umweltund Klimaschutzpolitik die erfolgreichste Legislaturperiode überhaupt.
({1})
In all diesen Jahren müssen Sie von der Opposition in einem anderen Land gelebt haben, weil Sie - ausweislich
Ihrer blauen Plakate - jetzt die Zeit für Taten gekommen
sehen.
({2})
Bei der ökologischen Modernisierung Deutschlands
hat es in den vergangenen vier Jahren keinen Reformstau
gegeben. Klimaschutz, Energiewende, Naturschutz - wir
haben unsere Ziele durchgesetzt. Die einzigen, die in
dieser Zeit versucht haben, solche Reformen zu stauen,
sind die gleichen, die nach wie vor daran festhalten,
Donau und Elbe stauen zu wollen, nämlich die Union
von Edmund Stoiber und die Neoliberalen von Guido
Westerwelle.
({3})
Diese umweltpolitische Ignoranz verwundert natürlich
nicht. Seit Helmut Kohl den letzten namhaften Umweltpolitiker ins damalige Umzugsministerium strafversetzt
hat, klafft bei den Schwarzen in der Umweltpolitik ein
großes schwarzes Loch. So brauchten Laurenz Meyer und
Wolfgang Schäuble drei Tage Klausur - es hat von Mittwoch bis Freitag gedauert -, um noch eine umweltpolitische Forderung in das Sofortprogramm der Regierung
hineinzubekommen. Ein bahnbrechender Vorschlag ist
dabei herausgekommen: Sie wollen das Dosenpfand abschaffen.
({4})
Die kleinen und mittelständischen Brauereien, die
Brunnen, der Getränkeeinzelhandel und die 250 000 Beschäftigten in dieser Branche haben Ihnen heute die Antwort auf diesen Vorschlag gegeben. In Anzeigen und Aktionen in fast allen größeren Zeitungen fordern sie Sie auf,
das Dosenpfand für den Schutz ihrer Investitionen, für
den Schutz ihrer Arbeitsplätze und für den Schutz der
Landschaft endlich einzuführen und von diesem Kurs abzukehren.
({5})
Stattdessen habe ich lesen müssen, dass CDU/CSU und
FDP der Auffassung sind, das Verwaltungsgericht Düsseldorf habe ein kluges Urteil gefällt, als es gesagt habe,
dass es an der Rechtsgrundlage für die Verordnungsermächtigung fehle. Meine Damen und Herren von der
rechten Opposition, Sie haben sich ein wenig zu früh gefreut. Was kritisiert nämlich das Verwaltungsgericht Düsseldorf? Es kritisiert CDU/CSU und FDP. CDU/CSU und
FDP haben Anfang der 90er-Jahre die Verpackungsverordnung beschlossen, CDU/CSU und FDP haben Anfang
der 90er-Jahre das Kreislaufwirtschaftsgesetz beschlossen und CDU/CSU und FDP haben noch 1998 die Rechtsgrundlage vom Töpfer-Pfand zum Merkel-Pfand umgewandelt.
In einem Punkt kann ich Sie beruhigen: Der grüne Bundesumweltminister wird das von Ihnen geschaffene Recht
auch gegen die Dosenlobby aus Warstein und Bitburg und
gegen die Aldis und Metros verteidigen. Er hat dabei gute
Karten; denn er hat eine große Zahl der Gerichtsentscheidungen auf seiner Seite.
({6})
An diesem Punkt setzen wir auf eine schnelle Entscheidung, weil wir der Auffassung sind, dass der Vormarsch von Plastik und Dosen zulasten der Umwelt und
des Mittelstandes ein Ende haben muss. Vor allem aber
haben wir bei dieser Politik die übergroße Mehrheit der
Bevölkerung auf unserer Seite; sie erwartet von uns nämlich, endlich Maßnahmen gegen die zunehmende Vermüllung unserer Parks und Landschaften durch Plastikflaschen und Dosen zu ergreifen.
({7})
„Zeit für Taten“, dieses Motto haben wir schon ernst
genommen, bevor Sie ein Plakat mit der entsprechenden
Aufschrift entworfen hatten.
({8})
Wir haben die Reduktion von Treibhausgasen in vier Jahren von 15 auf über 19 Prozent erhöht. Jetzt trennen uns
noch 2 Prozent von dem Ziel, das wir 2012 erreichen sollen. Wir waren gerade in den Sektionen sehr erfolgreich,
in denen unter Ihrer Regierung nie etwas passiert ist. Als
Sie regierten, sanken in diesen Sektionen die Emissionen
nicht, sondern stiegen. Wir haben dafür gesorgt, dass die
Treibhausgasemissionen im Verkehr erstmals zurückgegangen sind: 2000 um einen Prozentpunkt, 2001 um eineinhalb Prozentpunkte.
({9})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Wir haben in den vergangenen vier Jahren dafür gesorgt, dass die Treibhausgasemissionen der privaten
Haushalte sogar um 18 Prozentpunkte gesunken sind. Das
wäre ohne die Ökosteuer nicht möglich gewesen. Das
wäre auch ohne massive Investitionen nicht möglich gewesen. Wir haben allein 1 Milliarde Euro in die energetische Gebäudesanierung investiert. Als wir von Ihnen die
Regierung übernahmen, war da eine große schwarze Null.
Wir haben in den vergangenen vier Jahren den Anteil der
erneuerbaren Energien von 4,5 auf 8 Prozent gesteigert.
Wir haben die Mittel des Marktanreizprogramms für
erneuerbare Energien von 48 Millionen Euro auf
540 Millionen Euro aufgestockt.
Das alles sind Taten. Die Ergebnisse können Sie heute
sehen. Die installierte Solarkollektorfläche haben wir in
vier Jahren verdreifacht. Sie haben im Schnitt pro Jahr
300 000 Quadratmeter neue Fläche zustande gebracht.
Wir werden allein in diesem Jahr 1 100 000 Quadratmeter Fläche verlegen. Anders gesagt: Das, wofür Sie vier
Jahre gebraucht haben, haben wir in einem Jahr geschafft.
Wir haben den Umfang der Neuinstallierung bei der Photovoltaik verfünffacht und die Leistung der Windkraft
verdreifacht. Das sind Taten.
Im gleichen Zeitraum ist der Primärenergieverbrauch
zurückgegangen. Sie, also auch Herr Stoiber, schreiben in
Ihrem Sofortprogramm:
Wir werden das Erneuerbare-Energien-Gesetz verbessern.
Fragen Sie einmal in der Branche der erneuerbaren Energien herum! Da wird diese Ankündigung als Drohung aufgefasst.
({10})
Was die erneuerbaren Energien angeht, weiß man, dass
Bayern Schlusslicht bei der Nutzung der Windenergie
ist. Man weiß, dass sich Frau Merkel offensiv gegen die
Einspeisevergütung bei der Windenergie ausgesprochen
hat. In dieser Branche weiß man auch, was in Dänemark
passiert ist, nachdem eine Koalition von Konservativen
und Rechtspopulisten die Regierung übernommen
hatte.
({11})
Dänemark, das auf dem Gebiet der Windenergie ein Vorreiter war, hinkt nun nach. Die Windenergiebranche, die
dort einstmals boomte, ist völlig zusammengebrochen.
Unsere Politik war an dieser Stelle nicht nur für die
Umwelt, sondern auch für die Unternehmen und den Arbeitsmarkt gut. Allein der Umsatz der Photovoltaik hat
sich versiebenfacht. Allein die Zahl der Arbeitsplätze
im Bereich der Windenergie hat sich verdreifacht. Wir
haben mit der Energiewende 60 000 neue Arbeitsplätze
allein auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien geschaffen, wobei der Schwerpunkt in Ostdeutschland
lag.
({12})
Diese Erfolge sind in Gefahr, wenn Sie darangehen, das
Erneuerbare-Energien-Gesetz rückgängig zu machen; Sie
haben es „verbessern“ genannt.
({13})
Das DIW prognostiziert 250 000 neue Arbeitsplätze
allein durch die ökologische Steuerreform bis 2003. Sie
wollen auch da nicht mitmachen. Prognos rechnet mit
knapp 200 000 neuen Arbeitsplätzen, wenn wir bis 2040
die CO2-Emissionen um 40 Prozent senken. Dieses
40-Prozent-Ziel, meine Damen und Herren von der
Union, würde Ihr Wahlprogramm wirklich schmücken.
({14})
Wir haben gezeigt, dass man mit einer energiepolitischen Wende tatsächlich Arbeit schaffen kann. Wir haben
allein auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien mehr
Arbeitsplätze geschaffen, als es im Bereich der von Ihnen
so gehätschelten Atomindustrie je gegeben hat. Es geht
am 22. September auch darum, ob die ältesten
Reaktoren in Stade, Obrigheim und Neckarwestheim endlich vom Netz gehen oder ob, wie es die CDU in BadenWürttenberg fordert, ihre Laufzeiten verlängert werden.
({15})
Auch geht es darum, ob in Zukunft wieder Steuermilliarden verschwendet werden, um Ihre Fiktion vom Bau von
50 bis 70 neuen Atomkraftwerken hier in Deutschland offen zu halten.
({16})
Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zu einem weiteren Punkt machen, bei dem wir etwas getan haben,
woran Sie gescheitert sind. Wir haben die Fläche der Naturschutzgebiete in den neuen Ländern verdoppelt und
mit dem neuen Bundesnaturschutzgesetz eine Regelung
für einen modernen Naturschutz geschaffen. Sie wissen,
dass der von mir geschätzte Klaus Töpfer daran gescheitert ist, weil Sie von der CDU/CSU ihn daran gehindert
haben.
({17})
Sie haben auch dieses neue Gesetz bekämpft. Sie haben angekündigt, es rückgängig zu machen. Aber was
zeigte sich während der Flut? War es etwa nicht richtig,
dass wir auf der Basis dieses Gesetzes darangegangen
sind, Deiche rückzuverlegen, zum Beispiel an der Saale,
der Elbe in der Prignitz mehr Raum zu geben?
({18})
War und ist es nicht vernünftig, durch einen Biotopverbund Auwälder wiederherzustellen, damit das Wasser in
den Auwäldern bleibt, anstatt in Passau oder Dresden in
die Keller zu fließen?
({19})
Ich habe noch das Gejohle in den Ohren,
({20})
als ich hier davon gesprochen habe, dass in das Bundesnaturschutzgesetz eine Regelung für die gute, fachliche
Praxis der Landwirtschaft gehört. Schauen Sie sich einmal die untere Havel an! Ist es nicht etwa wahr, dass der
Tod von 10 Millionen Fischen dieser Tage hätte verhindert werden können, wenn in den Überschwemmungspoldern nicht Mais angebaut worden wäre? Wo wird das
für die Zukunft untersagt? Im neuen Bundesnaturschutzgesetz. Auf Überschwemmungsflächen betreibt man keinen Ackerbau, sondern Grünland. Das ist gute fachliche
Praxis. Das haben wir im Gesetz festgeschrieben.
({21})
Meine Damen und Herren, heute weiß jeder: Guter Naturschutz ist die beste Vorsorge gegen Hochwasser. Nein,
das stimmt nicht: Nicht jeder weiß das. Ich habe mich gefragt, warum der Möchtegern-Kanzlerkandidat von der
Spaßpartei sich nie auf den Deichen hat sehen lassen. War
die Zeit dafür nicht reif, liebe Kolleginnen und Kollegen?
Oder hat der Autopilot vom „Guidomobil“ versagt?
({22})
- Herr Koppelin, bevor Sie sich aufregen, sage ich Ihnen:
Ich weiß jetzt, warum Sie nicht dort waren. Ich habe nämlich nachgesehen. Die Erklärung findet sich in etwas, von
dem viele glauben, dass es die FDP nicht hat, nämlich im
Wahlprogramm
({23})
In diesem Wahlprogramm lautet die zentrale umweltpolitische Forderung:
In der Schifffahrt müssen Maßnahmen gegen den
niedrigen Wasserstand auf den Bundeswasserstraßen
ergriffen werden.
({24})
Mit diesem Programm hätte ich mich an Guidos Stelle
auch nicht an der Bundeswasserstraße Elbe blicken lassen, während dort Sandsäcke gefüllt worden sind.
({25})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Nein.
({0})
Wissen Sie, Herr Koppelin: Diese Politik erinnert mich
ein bisschen an den Manta-Fahrer, der im Krankenhaus
aufwacht, nachdem er gegen eine Mauer gefahren ist, und
der vom Arzt gefragt wird: Haben Sie denn die Mauer
nicht gesehen? Er sagt: Klar, habe ich sie gesehen. Ich
habe sogar gehupt.
({1})
Meine Damen und Herren, am 22. September geht es
auch um die Alternative zwischen solcher umweltpolitischer Ignoranz, die noch im Angesicht des Hochwassers
dafür plädiert hat, neue Staustufen an die Elbe und an die
Saale zu bauen, und einer Politik der ökologischen Modernisierung. Umweltschutz - das haben wir bewiesen schafft Arbeitsplätze und sichert Exportchancen. Umweltschutz ist ein Garant für Wettbewerbsfähigkeit. Wir schaffen dadurch Gerechtigkeit zwischen gesellschaftlichen
Gruppen. Umweltschutz, ernsthaft betrieben, schützt auch
vorbeugend vor Katastrophen.
Ökologische Modernisierung wird es nur mit dieser
Koalition geben. Das wissen die Bürgerinnen und Bürger
im Lande. Deswegen wird der heutige Haushalt nicht der
letzte sein, den wir einbringen, und schon gar nicht der
letzte, den wir hier verabschieden werden.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Homburger.
({0})
- Diese männliche Reaktion auf die Worterteilung an eine
Kollegin finde ich nicht ganz in Ordnung.
({1})
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an
dieser Stelle eines festhalten, Herr Trittin: Sie lesen ja
Wahlprogramme anderer Parteien sehr kursorisch und
behaupten alles Mögliche, zum Beispiel, dass wir regenerative Energien nicht mehr fördern wollten. Sie sagen
natürlich nicht, dass wir ein anderes Fördermodell und
andere Dinge vorgeschlagen haben. Wir haben in der Tat
gesagt, dass wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz so
nicht wollen, aber wir haben einen Vorschlag für ein
marktwirtschaftliches Fördermodell gemacht. Ich
würde das an Ihrer Stelle einfach einmal zur Kenntnis
nehmen.
({0})
Dann würde mich interessieren, warum Sie, Herr Kollege Trittin, wenn die Klimapolitik der Bundesregierung
so wunderbar ist, wie Sie sie beschrieben haben, eigentlich
die ganze Zeit nur noch von europäischen Klimaschutzzielen bis 2012, nämlich minus 21 Prozent reden. Warum
reden Sie eigentlich nicht mehr vom nationalen Ziel, bis
2005 eine Reduzierung von 25 Prozent zu schaffen?
({1})
Die letzte Bemerkung an Herrn Trittin bezieht sich auf
den Vorwurf, dass der Bundesvorsitzende der FDP nicht
in Hochwassergebieten gewesen wäre. Das trifft die Tatsache nicht. Herr Westerwelle war da, aber er war ohne
Pressetross da und hat sich ein entsprechendes Bild gemacht. In einer solch außergewöhnlichen Situation, Herr
Trittin, ist es sicherlich richtig, dass der Bundeskanzler,
der Bundespräsident und der Ministerpräsident vor Ort
sind. Aber dass da alle möglichen Minister mit Pressetross
anreisen und nur verursachen, dass diejenigen, die vor Ort
helfen wollen, teilweise von den Hilfsmaßnahmen abgezogen werden müssen, um aufzupassen, dass Sie nicht ins
Wasser fallen, ist nicht die Art von Solidarität, die wir
brauchen.
({2})
Herr Minister, ich erteile Ihnen das Wort zu einer Erwiderung.
Liebe Frau Homburger, Sie
müssen einen Küstenbewohner nicht davor bewahren, ins
Wasser zu fallen. Ich habe schon auf Deichen gestanden,
da waren Sie vielleicht noch gar nicht geboren. Insofern
bedarf es dieser Fürsorge nicht. Ich muss allerdings auf
zwei Dinge nachdrücklich hinweisen:
Erstens. Ich habe nicht selektiv zitiert, sondern - ich
lese Ihnen gerne den Auszug aus dem Internet vor - im
Programm der FDP steht:
In der Schifffahrt müssen Maßnahmen gegen den
niedrigen Wasserstand auf den Bundeswasserstraßen
ergriffen werden.
Ich habe darauf hingewiesen und mich in Kenntnis der
Pressemitteilung Ihres Spaßkandidaten, dass er nicht an
die Deiche fahren wolle, gefragt, warum er sich nicht dort
hat blicken lassen. Diese Begründung leuchtet mir unmittelbar ein; Sie haben sie noch einmal bestätigt. Wenn Sie
jetzt sagen, er sei dennoch gefahren, dann habe ich keinen
Anlass, das infrage zu stellen. Ich als für Hochwasser zuständiger Bundesminister jedenfalls musste mir natürlich
vor Ort ein Bild machen.
Ich habe aber auch zur Kenntnis genommen, gnädige
Frau, dass wir zu der Stunde, als wir die Pressemitteilung
Ihres Vorsitzenden bekamen, dass er nicht an die Deiche
fahren wolle, und wir gerade an den Deichen angekommen waren, eine Kollegin von Ihnen getroffen haben,
nämlich die Fraktionsvorsitzende im Landtag von
Sachsen-Anhalt, Frau Pieper.
({0})
Alles, was Sie eben von diesen Menschen gesagt haben,
beziehen Sie bitte auch auf Frau Pieper.
({1})
- Ich habe da doch gar nichts kritisiert. Ich weiß gar nicht,
warum Sie sich so aufregen. Sie sind ganz schrecklich
aufgeregt, nur weil ich Ihnen vorhalte, dass sich Frau
Pieper nicht so verhält, wie Ihr Spaßkanzlerkandidat öffentlich in Pressemitteilungen verkündet, wie sich die
FDP verhalten würde.
({2})
- Darf ich ausreden, Herr Koppelin? Für diejenigen, die
es offensichtlich nötig haben, hier ihre Nervosität und
Aufgeregtheit zu demonstrieren, sind Sie außerordentlich
ruhig.
Bleiben wir bei folgender Feststellung:
({3})
Die FDP - Frau Pieper vorneweg - hat angesichts des
Hochwassers erklärt, sie wolle zusätzliche Staustufen an
der Saale und der Elbe. Genau das ist der politische Konflikt. Deswegen sage ich Ihnen: Diese Ignoranz angesichts des Hochwassers ist schwer erträglich. Den umweltpolitischen Offenbarungseid wollte ich Ihnen hier
nicht ersparen.
({4})
Für die CDU/CSUFraktion hat jetzt der Kollege Austermann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das letzte Mal, dass ich
im Zusammenhang mit dem Thema Flut an Herrn Trittin
gedacht habe, war im Jahre 1981. Da war ich Stadtdirektor in Göttingen und wir mussten ihm mit dem Wasserwerfer Rechtsstaat beibringen. Da gab es eine ordentliche,
kräftige Wasserflut.
({0})
Herr Trittin, Sie haben heute hier die Leistungen der
Regierung bei dem Thema erneuerbare Energien gelobt.
Wir haben schon Windmühlen an der Küste gebaut, als
Sie politisch noch Hemd und Hose aus einem Stück anhatten.
({1})
Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel. Deutschland war
1998 Weltmeister bei der Windenergie und bei der Solarzellenproduktion.
({2})
Bei einer Windparkeinweihung vor wenigen Tagen habe
ich festgestellt: Die Genehmigung für diesen Windpark,
der jetzt in Betrieb genommen wurde, wurde 1997 beantragt. Sicher war der grüne Umweltminister Müller daran
beteiligt, dass das Ganze nicht schneller umgesetzt wurde.
Umweltpolitik und das Thema erneuerbare Energien
sind in den letzten Legislaturperioden ganz entscheidend
angegangen worden.
({3})
Der Unterschied ist, dass wir uns bemüht haben, im
Jahre 1990 beim Einspeisegesetz Grüne und andere mit
einzubeziehen, während Sie sich im Jahre 2000, als das
EEG verabschiedet werden sollte, ganz einseitig in eine
bestimmte Richtung begeben haben. Wir haben gesagt:
Wir warnen vor dem Gesetz - nicht vor der Vergütungshöhe, aber vor der Tatsache, dass der Mittelstand dabei
unter die Räder kommt, weil die großen Energieversorgungsunternehmen eine bedeutendere Rolle spielen.
Es muss auch Ihnen, wenn Sie heute von Umweltschutz reden, klar sein, dass dieser mit Verordnungen zum
CO2-Ausstoß und zu Großfeuerungsanlagen sowie der
Einführung des Katalysators und des grünen Benzins und
vielen anderen Dingen mehr, die in den 16 Jahren unserer Regierungszeit geschaffen worden sind, begonnen
hat. Es ist töricht, jetzt die Behauptung aufzustellen, unsere Energiepolitiker hätten gesagt, wir wollten 40 oder
50 neue Kernkraftwerke bauen. Davon steht in unserem
Programm nichts, wie Sie feststellen können, wenn Sie es
sich anschauen.
Ich sage Ihnen aber etwas über die Wirkung unserer
Politik. Dabei beziehe ich mich auf befreundete Organisationen und Gutachter. Das DIW hat vor kurzem Folgendes festgestellt: Beim Ausstoß von CO2 hat es in den
Jahren bis 1998 eine Reduktion um 15 Prozent gegeben.
Gemessen daran - so hat das DIW, das ich politisch eher
der SPD zuordnen würde, mit Sicherheit nicht der Union,
festgestellt - ist die Schadstoffreduktion in der Zeit von
1998 bis 2002 kümmerlich gewesen; etwas Vergleichbares habe es nicht gegeben.
Nun können Sie sagen, das liegt an der Rezession; es
wird weniger Schadstoff ausgestoßen und weniger Energie verbraucht. Sie können auch sagen, es lag am milden
Winter. Aber Faktum ist: Es ist mehr CO2 ausgestoßen
worden und dem Ziel, eine Reduktion um 25 Prozent zu
erreichen - eine Vorgabe aus unserer Regierungszeit -,
sind Sie nicht näher gekommen.
({4})
Ich will Ihnen ein Letztes zum Thema erneuerbare
Energien in Schleswig-Holstein sagen. Natürlich gibt es
in Bayern mehr Wasserkraft als Windmühlen und an der
Nordseeküste mehr Windmühlen. Das ist ganz klar, das
hängt auch mit der Landschaft zusammen. Aber unterhalten Sie sich bitte einmal mit Ihrem Umweltminister und
mit der Landwirtschaftsministerin in Schleswig-Holstein
über die Vorbedingungen, die Sie jetzt für Offshorewindparks geschaffen haben! Wir unterstützen Offshore, Repowering, erneuerbare Energien und wegen der CO2-Wirkung auch Kernenergie, was aber nicht heißt, dass wir den
Bau neuer Kraftwerke wollen. Bevor Sie sich jedoch nicht
über die Bedingungen für neue Offshoreanlagen unterhalten haben, brauchen Sie hier in Sachen erneuerbare Energien oder Umweltschutz die Backen nicht aufzublasen.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Michael Müller.
Michael Müller ({0}) ({1}) ({2}): Meine
Damen und Herren! Der Umweltschutz ist nicht nur deswegen wichtig, weil wir eine Verantwortung für die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen haben. Er ist
auch deshalb wichtig, weil die ökologische Modernisierung mit der Globalisierung einen sehr viel weitergehenden Stellenwert bekommen hat.
Wenn man die Arbeit der Regierung der letzten vier
Jahre bewertet, dann liegt der zentrale Unterschied zwischen der Regierung und der Opposition darin, dass die
eine Seite die ökologische Modernisierung vorantreibt
und die andere Seite sie bremst. Auf diesem Unterschied
basiert die Auseinandersetzung, die wir erleben.
({3})
Schauen Sie sich beispielsweise die 18 klimaschutzrelevanten Maßnahmen seit 1998 an. Die Opposition hat gegen alle diese Maßnahmen gestimmt. Nicht bei einer
Maßnahme hat sie weitergehende Forderungen gestellt.
Realität ist, dass Sie gebremst haben. Das ist eine völlig
andere Situation als in früheren Legislaturperioden, in
denen Sie an der Regierung waren und von der Opposition getrieben wurden, weitergehende Positionen durchzusetzen. In den letzten vier Jahren haben Sie nur gebremst oder versucht zu verhindern. Darin liegt der
entscheidende Unterschied. Trotz Ihres Widerstandes haben wir viel erreicht, auf das wir stolz sein können.
({4})
Weil sich aufgrund der Globalisierung die Perspektive
für eine ökologische Modernisierung erweitert hat, müssen wir versuchen, die beiden großen Herausforderungen
der Zukunft, nämlich die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit einerseits und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen andererseits, in einer Politik zusammenzuführen und diese Politik sozial verträglich zu
gestalten. Das ist die Richtungsentscheidung, um die es
geht, und das ist auch die Aufgabe, für deren Bewältigung
wir in den nächsten vier Jahren wieder werben werden.
Eine Politik der ökologischen Modernisierung ist kein
Luxus. Es handelt sich auch nicht um eine Politik, die man
nur macht, wenn es einem gut geht oder wenn eine Katastrophe vor der Tür steht. In dieser Politik liegt vielmehr die
große Chance, die Zukunftsaufgaben zu bewältigen; denn
jede Maßnahme zur Verbesserung der Öko-Produktivität
und damit zur Senkung des Energie- und Ressourcenverbrauchs bedeutet in der Konsequenz, neue Märkte zu erschließen, die Umwelt zu schützen, mehr Arbeitsplätze zu
schaffen und einen wesentlichen Beitrag für die Entwicklung der Welt zu leisten. Wir wissen doch: Nach dem heutigen Modell des Energie- und Ressourcenverbrauchs darf
sich die Welt nicht entwickeln, weil das in den Kollaps
führen würde.
({5})
Die Wahrheit ist, dass Sie dieses Thema verdrängt haben, weil es Ihnen unbequem ist und weil Sie bei diesem
Thema nicht viel zu bieten haben. Das Hochwasser hat Sie
bei diesem Defizit offen gelegt. Um es auf den Punkt zu
bringen: Das Hochwasser hat deutlich gemacht, dass Sie
in der Ökologie einen blinden Fleck haben, der jetzt zur
Chefsache geworden ist. Aber das ändert nichts. Denn wo
keine Kompetenz ist, kann man auch nichts ändern.
Der Satz, dass die Attraktivität der Politik der ökologischen Modernisierung zurückgeht, wenn die Flut zurückgeht, darf sich deshalb nicht bewahrheiten.
({6})
Überall in der Welt nehmen nämlich die Alarmsignale zu.
Wir hatten beispielsweise in Australien in diesem Jahr die
längste Dürreperiode seit 200 Jahren. Seit Anfang der
60er-Jahre schreitet die Wüstenbildung Jahr für Jahr
voran. Wir erkennen, dass in immer zahlreicheren Meeresregionen die kritische Temperatur von 27 Grad - dies
ist der Kumulationspunkt für Sturmfluten - in den Deckschichten überschritten wird. Es gibt Hinweise, dass Ende
des Jahres wieder der El Niño auftreten wird.
Es geht jetzt um konkrete Hilfe in unserem Land. Das
Problem, um das es geht, hat aber Auswirkungen weit
über unser Land hinaus. Die Frage, die sich uns stellt, ist,
ob moderne Industriegesellschaften fähig sind, Ökonomie und Ökologie zu versöhnen. Wir müssen unsere Politik weiter verfolgen, weil wir auf diesem Feld ein Vorreiter sind und ein Vorreiter bleiben wollen.
({7})
Wir wollen nicht, dass die Umweltpolitik durch kurze
Zyklen bestimmt wird.
Die Vorschläge der Opposition zur Umweltpolitik sind
aus meiner Sicht mit drei Begriffen zu charakterisieren:
unklar, widersprüchlich und rückwärts gewandt. Ich will
zu allen dreien etwas sagen.
Herr Stoiber kündigt an, dass er einen Umweltpakt
ankündigen will. Was ist das für eine Umweltpolitik? Er
kündigt an, dass er einen ankündigen will. Als er, nachdem er das groß in der Zeitung verkündet hatte, das auf einer Konferenz hätte tun können, hat er gesagt, er wird ihn
ankündigen. Das ist Versagen vor einem Zukunftsthema.
Anders kann man das nicht nennen.
({8})
Stichwort Energiepolitik: Frau Merkel und auch andere haben gesagt, sie wollten die Option Atomenergie
offen halten. Wir fragen uns natürlich, warum die
CDU/CSU in der Enquete-Kommission Spielchen betreibt,
wie beispielsweise die Forderung nach 50 bis 70 neuen
Atomkraftwerken aufzustellen. Ich frage Sie: Machen Sie
das als rein theoretisches Spiel oder was steht dahinter?
({9})
- Ich weiß, Sie haben da einen Fehler gemacht. Dadurch
ist deutlich geworden, was bei Ihnen dahinter steht.
({10})
Ich sage Ihnen: Selbst die Option auf Atomenergie ist Unsinn; denn Sie haben nicht begriffen, dass die Frage der
Energieträger und die Frage der Effizienz einen unmittelbaren Zusammenhang bilden. Sie werden mit Atomenergie keine Effizienz und keine Solarstrukturen aufbauen
können. Das ist technologisch und organisatorisch nicht
zu vereinbaren. Es geht nicht um den Austausch von
Energieträgern, es geht vielmehr um ein System, bei dem
so wenig Energie wie möglich verbraucht wird. Das ist ein
völlig anderer Ansatz.
({11})
Folgerichtigerweise haben Sie auch das Kraft-WärmeKopplungsgesetz abgelehnt. Es enthält nämlich eine andere
Energiephilosophie, eine, die besagt: Vor dem Hintergrund
der begrenzten Ressourcen und auch der unzureichenden
Tragfähigkeit der Ökosysteme besteht moderne Energiepolitik darin, so wenig Energie wie möglich einzusetzen und
nicht einfach nur die Energieträger auszutauschen. Das ist
genau der Ansatz, den wir vertreten.
({12})
Sie wollen zurück in Dinosauriertechnologien. Wir sagen:
Nur eine dezentrale effiziente und die solare Energieversorgung kann sich die Welt leisten. Oder wollen Sie beispielsweise die alten Großtechnologien in der Dritten
Welt aufbauen? Wer soll die eigentlich bezahlen? Wir
brauchen intelligente, dezentrale Systeme.
Zweitens. Ihre Umweltpolitik ist widersprüchlich.
Herr Stoiber sagte am 18. September 1997 in Sorge über
die Zunahme der Getränkedosen, die seinem Verständnis
von Umweltschutz entgegensteht - ich zitiere -:
Wir drängen die Bundesumweltministerin,
- sprich: Angela Merkel das Instrumentarium der Verpackungsverordnung
- sprich: Dosenpfand konsequent anzuwenden.
Das ist gerade fünf Jahre her. Seitdem hat sich die Quote
zulasten von Mehrweg noch verschlechtert. Welchen
Grund sollte es geben, das von Herrn Töpfer eingeführte
Instrumentarium heute nicht einzusetzen?
({13})
Michael Müller ({14})
Das kann doch nur Opportunismus sein, nichts anderes.
({15})
Der neue Weg sieht so aus, dass Sie eine Quote vorschlagen, die weit unter der heutigen Mehrwegquote liegt und
damit das Instrument auch ökonomisch völlig uninteressant macht. Das wissen Sie doch ganz genau. Ist das denn
eine verlässliche Politik gegenüber dem Mittelstand, der
im Vertrauen auf dieses Gesetz investiert hat? Wie kann
man auf der einen Seite behaupten, man sei die Mittelstandspartei, und auf der anderen Seite so eklatant die Interessen des Mittelstandes verletzen? Das geht nicht zusammen, meine Damen und Herren.
({16})
Ich will mit der Rückwärtsgewandtheit Ihrer Politik einen dritten Punkt nennen. Die Novelle des Naturschutzgesetzes ist gegen Sie durchgesetzt worden. Sie waren
nicht für den Stopp des Baus der Staustufen an der Donau.
Sie haben das KWK-Gesetz verhindert. Auch in der Verbraucherpolitik ist von Ihnen nichts außer den alten Klamotten zu hören. Wir brauchen doch eine moderne Verbraucherpolitik, die nicht nur ökologisch orientiert ist,
sondern die vor allem auch den Verbraucher stärkt. Mit einer modernen Verbraucher- und Landwirtschaftspolitik kann man auch in der globalisierten Welt deutlich
machen, dass man mit einem anderen Umgang mit der
Natur die Ernährungsprobleme lösen und gleichzeitig die
natürlichen Lebensgrundlagen schützen kann. Der Verlust
von jährlich 5 bis 6 Millionen Hektar landwirtschaftlicher
Fläche ist ein dramatisches Alarmzeichen, das auch hinsichtlich bestimmter Anbaumethoden, die in der Welt
praktiziert werden, gesehen werden muss. Ökologische
Modernisierung bedeutet auch eine neue Landwirtschaftspolitik. Diese andere Landwirtschaftspolitik liegt
auch im Interesse der Landwirtschaft.
({17})
Diese drei Kriterien zeigen, dass hier zentrale Unterschiede zwischen Opposition und Regierungsparteien liegen.
Wie geht es aus unserer Sicht bei der ökologischen
Modernisierung weiter? Wir wollen in der nächsten Legislaturperiode drei große Aufgaben vorantreiben. Die
erste Aufgabe ist: Wir wollen Arbeit und Umwelt mehr
miteinander verbinden. Mit einer Reduktion des Materialund Energieeinsatzes in unserer Volkswirtschaft können
nicht nur die Importkosten für die Ressourcen und damit
die entsprechenden Kostenbelastung bei den Unternehmen
in einer Größenordnung von etwa 80 Milliarden Euro gesenkt, sondern gleichzeitig zwischen 500 000 und 800 000
neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Das sind die Erfahrungen, die wir mit dem Energiesparen gemacht haben.
Dies ist der richtige Weg, um Arbeit und Umwelt miteinander zu verbinden. Das ist der Weg, den wir weitergehen werden.
({18})
Die zweite Aufgabe ist: Wir wollen die ökologische
Modernisierung zum Markenzeichen der Entwicklung
der Europäischen Union machen. Zum Profil der Europäischen Union in der Globalisierung muss die ökologische Modernisierung werden. Das ist die große Chance,
die sie gegen die Spekulationsblasen, die es überall in der
Welt gibt, hat. Damit kann es gelingen, Produktivität, Arbeit und globale Friedenspolitik miteinander zu verbinden.
({19})
Hier tragen wir Verantwortung und dieser Verantwortung können wir nur nachkommen, wenn die Bundesrepublik weiter Vorreiter bei der ökologischen Modernisierung bleibt.
({20})
Mein letzter Punkt: Wir müssen mehr Partnerschaft
für die Eine Welt praktizieren. Ökologie heißt, ein anderes Verständnis von der Einen Welt zu haben.
Deshalb lassen Sie mich zusammenfassen: Politik
muss vor allem die langen Ketten beachten; in der Beachtung der langen Ketten liegt der fundamentale Unterschied zwischen Regierung und Opposition.
({21})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin BullingSchröter.
Kollege Müller hat hier
geäußert, die Opposition habe 18 sozialökologischen Projekten die Zustimmung verweigert. Die PDS zählt sich
auch zur Opposition, zur linken Opposition. Um einigen
Legenden vorzubeugen, möchte ich klarstellen: Die PDSFraktion im Bundestag hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz unterstützt. Wir haben den Atomkonsens allerdings
nicht unterstützt, weil wir nach wie vor für einen sofortigen Atomausstieg sind.
Wir haben einen eigenen Antrag zur Erhöhung des Anteils der Kraft-Wärme-Kopplung eingebracht. Wir haben
eine eigene Novelle des Naturschutzgesetzes eingebracht.
Der Antrag zum sanften Donauausbau war von uns,
während die CDU/CSU etwas anderes vorhatte. Sie haben
unseren Antrag abgelehnt, während wir Ihrem zugestimmt haben.
Wir möchten, dass die Ökosteuer umgewidmet und das
ganze Ökosteueraufkommen in den ökologischen Umbau
gesteckt wird. Wir haben Anträge eingebracht, um den
Rückzug der Bahn aus der Fläche zu verhindern. Wir haben ferner den Antrag eingebracht, die ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt-Berlin nicht so auszubauen, dass ökologische Substanz zerstört wird.
Schließlich haben Sie von der Partnerschaft mit der
Dritten Welt gesprochen. Nach wie vor steht die Forderung
im Raum, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe aufzuwenden. Ein diesbezüglicher Antrag
Michael Müller ({0})
ist von uns eingebracht worden; er wurde von Ihrer Seite
abgelehnt.
({1})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer für die FDPFraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem Ausflug
in die Umweltpolitik, der zweifellos sehr interessant war,
möchte ich nun zur Sozialpolitik zurückkehren.
({0})
In der vorigen Debatte haben wir die Sozialpolitik abgeschlossen. Deshalb möchte ich mit dem Thema Gesundheit wieder in die Debatte einsteigen.
Die „Süddeutsche Zeitung“ titelt heute: „Debatte über
ein Phantom“. Sie meint damit das, was sich in diesen beiden Tagen hier im Plenarsaal abspielt. Recht hat sie. Es
handelt sich in der Tat um die Debatte über ein Phantom;
denn dieser Haushalt - das wurde schon mehrfach ausgeführt - ist das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt ist.
Er ist Makulatur.
({1})
Dass Sie aber, um zu vertuschen und zu verschönern,
vor nichts zurückscheuen, hat der Kollege Franz Thönnes
in seiner Rede noch einmal deutlich gemacht. Herr
Thönnes hat mit großer Emphase behauptet, 1998, als
Rot-Grün die Regierung übernommen hat, habe es
4,8 Millionen Arbeitslose gegeben. Herr Thönnes weiß,
dass das falsch ist. Dies ist die Unwahrheit, die auch durch
ständige Wiederholung nicht richtiger wird.
Im September 1998 war die Zahl der Arbeitslosen
schon niedriger als heute. Im Oktober 1998 war sie noch
einmal um 200 000 niedriger, das heißt, sie war deutlich
niedriger als heute.
({2})
Dies macht deutlich, worum es Ihnen, meine Damen
und Herren, geht: Sie wollen verschleiern, dass es in der
Reformpolitik in den vergangenen vier Jahren Stillstand
gegeben hat, dass diese Jahre ein Rückschritt waren und
wir im Grunde ganz von vorne anfangen müssen.
({3})
Das „Handelsblatt“ schreibt heute: Das größte Problem, vor dem wir stehen, ist der Reformstau. Man muss
die Augen wirklich schon sehr fest vor der Wirklichkeit
verschlossen haben, wenn man sich wie Herr Riester
heute Morgen hier hinstellt und sagt: Wir haben unser Reformprogramm abgearbeitet.
({4})
Diese Bundesregierung hat wirklich nichts erreicht. Sie
haben Bewegung gemacht, damit sich ja nichts verändert.
Dies ist genau der falsche Weg.
({5})
Bevor ich eine Bemerkung zur Krankenversicherung
mache, möchte ich noch etwas zu einigen anderen Punkten ausführen: Die Beitragssätze in der Rentenversicherung stehen heute bei 19,1 Prozent. Es ist völlig klar, dass
dies nicht ausreicht. Herr Riester sagte dazu in seiner
Rede kein Wort. Es stellt sich nur noch die Frage, ob der
Beitragssatz auf 19,5 Prozent oder noch darüber steigt.
({6})
In der Krankenversicherung sind die Beiträge gerade
überall auf im Schnitt circa 14 Prozent angehoben worden. Trotzdem liegt das Defizit der gesetzlichen Krankenkassen im zweiten Halbjahr 2002 schon wieder bei
2,4 Milliarden Euro. Das bedeutet, dass zum Ende des
Jahres die Beitragssätze schon wieder angehoben werden
müssen.
Was aber sagt diese Bundesregierung dazu? Die Ministerin hat dazu noch die Chance, aber bisher hat die
Bundesregierung in dieser Debatte versucht, sich über all
diese Probleme hinwegzumogeln, um die Wähler möglichst hinter die Fichte zu führen. Wir werden nicht zulassen, dass Sie damit Erfolg haben.
({7})
Wenn ich diese beiden Dinge zusammennehme und die
Abgabenquote ausrechne - Sie waren ja so stolz darauf, die
Abgabenquote durch die Einführung der Ökosteuer gesenkt zu haben -, also das, was unausweichlich vor uns
liegt, zusammenrechne, komme ich auf eine Abgabenquote
von 42,2 Prozent. Diese ist höher als diejenige am 31. Dezember 1998, als Sie die Regierung übernommen haben,
({8})
und dies, obwohl Sie mit der Ökosteuer eine falsche Abgabenquotensenkung von 0,8 Prozent dort hineingemogelt haben. Sie sind mit allem, was Sie sich vorgenommen
haben, gescheitert.
({9})
Mindestens genauso schlimm sind die unsozialen Auswirkungen dieser Politik.
({10})
Jeder Arbeitnehmer wird durch diese erhöhten Beitragssätze im nächsten Jahr mit circa 50 Euro im Monat zusätzlich zur Kasse gebeten.
({11})
Wenn man all dies zusammennimmt - verschobene Steuerreform, eine zusätzliche Stufe der Ökosteuer und die
steigenden Beiträge in der Renten- und Krankenversicherung -, zeichnet sich jetzt schon ab, dass alle Bürger im
nächsten Jahr netto deutlich weniger im Portemonnaie
haben werden. Sie aber hatten ihnen genau das Gegenteil
versprochen.
({12})
Genau das Gegenteil ist aber auch notwendig. Die Bürger brauchen mehr Geld, damit sie mehr konsumieren
können. Dies bekommt man aber nur, wenn man eine andere als Ihre verfehlte Politik macht.
({13})
Sie dürfen nicht weiter in der Verantwortung bleiben.
({14})
Die Situation in der Krankenversicherung ist in der Tat
katastrophal. Trotz steigender Beiträge werden Operationen verschoben. Kassenpatienten müssen notwendige Arzneimittel selbst bezahlen, weil im Budget nichts mehr ist.
({15})
Dies bedeutet Zweiklassenmedizin. Sie sind die Unsozialen, die den Bürgern zusätzliche Dinge aufbürden.
({16})
Insofern ist es auch kein Wunder, dass deutlich mehr als
die Hälfte der Bürger sagt, die rot-grüne Gesundheitspolitik wollen sie nicht haben, weil sie verfehlt ist.
({17})
Bisher habe ich von der Ministerin weder zu den kurzfristigen noch zu den langfristigen Problemen wirklich
konkrete Vorschläge gehört, mit denen die Misere behoben werden könnte. Heute Morgen in der Ausschusssitzung wusste sie sich offensichtlich nicht anders zu helfen,
um den Fragebedarf der Opposition abzuwehren, als
lange Zahlenkolonnen vorzutragen, denen man wirklich
nichts entnehmen kann. Es war ein Bild der Hilflosigkeit,
weil sie sich nicht getraut hat, Antworten auf die konkreten Fragen zu geben, die uns beschäftigen.
({18})
Wir haben nichts von ihr darüber gehört, was sie tun will,
um die Beitragsmindereinnahmen in den ostdeutschen
Bundesländern, die durch das Flutereignis entstanden
sind, aufzufangen. Wir haben nichts von ihr gehört, wie
man in den ostdeutschen Bundesländern, wo bald ganze
Landstriche ohne ärztliche Versorgung dastehen, zu einer
Verbesserung der Situation kommen kann. Diese Entwicklung haben Sie durch Ihre unselige Budgetierung zu
verantworten.
({19})
Deswegen ist es dringend notwendig, dass diese abgeschafft wird.
({20})
Wir brauchen eine Neuausrichtung des Gesundheitswesens.
({21})
Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt kurz ansprechen. Ich möchte nachfragen: Frau Ministerin, ist es
eigentlich richtig, dass in den vergangenen Wochen in
Ihrem Ministerium über 30 Stellen angehoben worden
sind, und zwar Stellen, die im Wesentlichen, nicht überall,
aktive Sozialdemokraten innehaben?
({22})
Frau Ministerin, ist es richtig, dass Sie im Gegenzug aus
den Mitteln für Prävention und Aufklärung bei Aids und
Drogenkrankheiten 1 Milliarde DM abgezogen haben
bzw. noch abziehen wollen?
({23})
Dies dient angeblich den Flutopfern, hat ganz sicher aber
den bereits genannten Hintergrund, da eine andere Möglichkeit der Finanzierung dieser Stellenanhebungen nicht
gegeben ist.
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesundheitspolitik
braucht eine neue Ausrichtung, ohne Bürokratie, ohne
Zwang, mit mehr Vertrauen für die Patienten und für diejenigen, die ihre Leistungen erbringen. Das werden wir
tun.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die PDS-Fraktion
hat jetzt die Kollegin Dr. Ruth Fuchs das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ob man
diese Debatte wirklich ernst nehmen kann, würde ich infrage stellen;
({0})
denn die Politikfelder Umwelt, Verbraucherschutz und
Gesundheit werden hier in einer Debatte von einer Stunde
Dauer abgehandelt. Dabei sind alle diese drei Politikfelder problembeladen. Darum hätte auch jedes einzelne
Feld eine eigene Diskussion verdient.
({1})
Ich habe nur fünf Minuten Redezeit. Deswegen halte
ich es so wie meine Vorrednerin und konzentriere mich
auf die Gesundheitspolitik. Es werden ja noch zwei hervorragende Redner nach mir sprechen.
Meine Damen und Herren, wenn es wirklich stimmt,
dass Haushalt in Zahlen gegossene Politik ist, dann sieht
es für den Einzelplan 15 wahrlich nicht rosig aus. Die
Bundesausgaben für pflegerische Zwecke werden gegenüber den Vorjahren weiter gekürzt. So geschehen ist dies
bei den Geldern des Bundes für Modellmaßnahmen zur
besseren Versorgung Pflegebedürftiger, und zwar von
19,6 Millionen Euro auf 13,6 Millionen Euro. Ebenso
werden die Zuschüsse für die Errichtungs- und Ausstattungskosten für Modellpflegeeinrichtungen von 16 Millionen Euro auf 10 Millionen Euro gesenkt.
Frau Ministerin, wenn im Pflegebereich in unserem
Land wirklich alles in Ordnung wäre, dann könnte man
diese Kürzungen irgendwie noch rechtfertigen; denn Förderungen für Modellprojekte sind meistens - das wissen
wir alle - zeitbezogen. Genau das Gegenteil ist aber der
Fall. Niemand, der die täglich größer werdenden Probleme im Pflegebereich aus der Praxis kennt, kann diese
Vorgehensweise nachvollziehen und schon gar nicht mittragen,
({2})
vor allem deswegen nicht, weil die Einführung der Fallpauschalen im Krankenhaus zukünftig einen Mehrbedarf
an pflegerischen Leistungen bedeutet, auf den der ambulante Sektor überhaupt nicht vorbereitet ist.
Auch die großen Finanzschwierigkeiten in der gesetzlichen Krankenversicherung halten an. Im ersten
Halbjahr ist ein Defizit von 2,4 Milliarden Euro aufgetreten. Auch wenn erfahrungsgemäß damit zu rechnen ist,
dass sich das Defizit im zweiten Halbjahr etwas verringert, sind und bleiben die wiederkehrenden Defizite Ausdruck vieler ungelöster Probleme. Richtig ist, meine Damen und Herren von der Union - ich glaube, Herr
Seehofer wird das nachher wiederholen -: Die Politik der
letzten vier Jahre ist der Lösung der Probleme nicht viel
näher gekommen. Aber auch Ihr heutiger Antrag wird es
nicht richten. Er ist blanker Wahlpopulismus; denn außer
dem Loblied auf Ihre vergangene Regierungszeit enthält
er keinen einzigen zukunftsweisenden Vorschlag.
({3})
In Ihrem Wahlprogramm machen Sie Vorschläge - das
sind alles alte Hüte -, die in der Praxis schon gescheitert
waren. Sie locken wieder einmal mit freiwilliger Abwahl
bzw. Zuwahl von Leistungen. Sie versprechen Beitragsermäßigungen bzw. Selbstbehalte nach dem Kaskoprinzip.
Meine Damen und Herren von der Union, wenn Sie in
Ihrem Programm immer noch davon reden, den solidarischen Ausgleich als tragendes Element erhalten zu wollen, dann sind Sie es und kein anderer, der den Wählern
Sand in die Augen streut. Die Wahrheit ist: Ihr Wahlfreiheitskonzept setzt das Solidarsystem Schritt für Schritt
außer Kraft.
({4})
Die FDP mit Herrn Möllemann an der Spitze ist da ehrlicher, aber deshalb nicht besser. Heute hat zwar Frau
Schwaetzer und nicht Herr Möllemann gesprochen, aber
einen großen Unterschied habe ich nicht gemerkt. Sie reden gemeinsam offen über die Abschaffung der so genannten Zwangsmitgliedschaft in der GKV und fordern
den Abbau des Solidarsystems zugunsten der Marktwirtschaft. Ein klein bisschen Soziales lässt die FDP noch
übrig.
({5})
- Ich habe sehr genau gelesen, Frau Schwaetzer. Lesen
kann ich noch, auch wenn ich aus dem Osten komme.
Für einkommensschwache Menschen soll der Staat für
die dringendsten medizinischen Grundleistungen sorgen.
Dazu sage ich Ihnen, Frau Schwaetzer: Ihr Programm ist
gesundheitliche Versorgung nach dem Sozialhilfeprinzip.
Das hat mit sozialer Marktwirtschaft, so wie sie im
Grundgesetz steht, überhaupt nichts zu tun.
({6})
Ich will auf die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung, die niemand kleinreden will, zu sprechen
kommen: Wir alle wissen, dass dem Ausgabenproblem
seit Jahren ein noch größeres Einnahmenproblem gegenübersteht, das mit zunehmender Arbeitslosigkeit immer größer wird. Wer auf diese Einsicht nicht mit praktischen Politikvorschlägen antwortet, wird auch in der
Zukunft mit seiner Gesundheitspolitik scheitern.
Folgendes gehört dazu, wenn wir über die Finanzsituation reden: Es waren die sozialpolitischen Verschiebebahnhöfe, die die Situation der Kassen erst richtig verschärft haben. Leider - ich betone das - hat sich nach der
Kohl-Regierung auch Rot-Grün an dieser Politik beteiligt.
Ich sage es ehrlich und offen: Es ist zu befürchten, dass es
im neuen Bundestag zu Mehrheiten kommen kann, die einen weiteren Privatisierungsschub bei den Krankheitskosten wollen und je nach Konstellation vorantreiben werden.
Wir als PDS sagen: Unabhängig von der Zusammensetzung der neuen Regierung wird entscheidend sein, in
welchem Umfang und mit welchem Gewicht sich außerparlamentarische Kräfte formieren und das Solidarsystem verteidigen werden. Wir als PDS werden dem zunehmenden Druck in Richtung Entsolidarisierung und
Ökonomisierung immer Widerstand entgegensetzen und
diesen außerparlamentarischen Widerstand auch hier im
Plenum vertreten. Auch wenn die Umfrageergebnisse ein
anderes Ergebnis nahe legen, müssen Sie sich damit abfinden, dass wir wieder in den Bundestag hineinkommen.
Wir werden uns mit Ihnen auseinander setzen. Wir werden verhindern, dass es zu dieser Entsolidarisierung
kommt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile das Wort
der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Schwaetzer, ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass
Sie über eine Ausschusssitzung berichten, an der Sie selber nicht teilgenommen haben.
({0})
Ich darf Ihnen sagen: Mich haben Ihre Kollegen aus der
FDP aufgefordert, etwas zur Finanzentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung zu sagen. Finanzen haben immer etwas mit Zahlen zu tun. Sie müssen sich diese
Zahlen dann schon anhören und sich mit unseren Vorschlägen auseinander setzen. Wir wollen strukturell verändern, indem wir die Qualität der Versorgung verbessern. Wir haben das Ziel, mehr Gesundheit für das gleiche
Geld zu erreichen.
({1})
- Es geht nicht um Gesundbeten.
({2})
Noch ein Wort zu dem, was Sie zu den Mitarbeitern
und Mitarbeiterinnen meines Hauses gesagt haben. Wenn
Sie schon nicht das lesen, was wir schreiben, wenn Sie
nicht zuhören, wenn wir hier über Gesundheitspolitik reden, wenn Sie die Reformen, die wir auf den Weg gebracht haben, nicht zur Kenntnis nehmen, halte ich es für
unwürdig, auf Kosten von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die schon lange vor meiner Zeit und vor 1998 im
Bundesgesundheitsministerium beschäftigt waren
({3})
und ein Anrecht auf Regelbeförderungen und Höhergruppierungen haben, so zu tun, als hätten diese Menschen die
Höhergruppierungen nicht aufgrund der Leistungen, die
sie erbringen, sondern aufgrund des Parteibuches erhalten. Ich verstehe Demokratie so - auch in meiner Leitung
des Ministeriums -, dass es für mich völlig uninteressant
ist, welches Parteibuch der Einzelne mitbringt.
({4})
Vielmehr achte ich darauf, welche Leistungen erbracht
werden. Ich habe engste Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
von Herrn Seehofer, von Frau Bergmann-Pohl und auch
einige von Herrn Blüm übernommen, die sich in genau
denselben Funktionen befinden wie zuvor.
({5})
Ich halte Ihr Lachen für ungebührlich im Hinblick auf die
Menschen, die in diesem Ministerium arbeiten.
({6})
Etwas Respekt vor den Leistungen der Frauen und Männer in dem Ministerium hätte ich mir schon gewünscht.
Lassen Sie uns jetzt zur Gesundheitspolitik kommen.
Die CDU/CSU hat heute einen Antrag vorgelegt, in dem
sie Vorschläge dazu fordert, wie die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung stabilisiert
werden kann und gleichzeitig eine qualitativ hoch stehende Versorgung garantiert wird. Die Vorschläge liegen vor. Die Vorschläge, die wir unterbreitet haben, setzen bei der Qualität an, und zwar bei der Qualität der
Leistungserbringung. Dabei gehen wir vor allen Dingen davon aus, dass wir uns auf Dauer kein System erlauben können, in dem Leistungen nicht aufeinander abgestimmt werden, in dem weiterhin eine strikte
Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung besteht
({7})
und in dem Parallelbehandlungen erfolgen, ohne dass eine
Beratung erfolgt, jemand die Fäden in der Hand hält und
prüft, ob die Behandlungen zueinander passen. Wir können uns auf Dauer auch kein System leisten, in dem bei
der Behandlung der großen Volkskrankheiten - dies hat
im Übrigen auch der Sachverständigenrat festgestellt, der
zu Beginn dieser Legislaturperiode entsprechende Untersuchungen durchgeführt hat - nur die Hälfte aller chronisch kranken Menschen in diesem Land nach den neuesten internationalen Standards behandelt werden. Darauf
haben wir mit den Programmen zur besseren Versorgung
chronisch kranker Menschen reagiert, die derzeit aus politischen Gründen blockiert werden. Immer dann, wenn es
darum geht, die Qualität der Leistungserbringung zu heben und die Gesundheit der Patientinnen und Patienten in
den Mittelpunkt zu stellen, reden Sie alles schlecht und
reagieren Sie mit einer Blockade. Das ist doch Ihre Politik.
({8})
Sie wollen mit Ihrer Politik genau an der Stelle weitermachen, wo Sie 1998 aufgehört haben.
Wenn Sie von Beitragssatzsteigerungen reden, so ist
festzustellen: In vier Jahren rot-grüner Bundesregierung
sind die Beiträge um 0,35 Prozentpunkte angehoben worden, auf nunmehr 13,99 Prozent. In Ihrer letzten Legislaturperiode waren es 0,5 Prozentpunkte.
({9})
In den Jahren 1991 bis 1998 unter Seehofer betrugen die
Beitragssatzsteigerungen 1,34 Prozentpunkte. Unter Ihrer
Politik wurde es für die Menschen immer teurer, ihre Gesundheit zu erhalten, weil die Zuzahlungen für Arzneimittel verdreifacht und immer mehr Leistungen ausgeschlossen wurden. Der heute vorgelegte CDU/CSU-Antrag zeigt,
dass Sie genau dahin wieder zurück wollen. Das ist die
Politik, die die Menschen nach dem 22. September von
Ihnen zu erwarten haben. Jeder ist gut beraten, dann ein
dickes Portemonnaie mitzubringen, wenn er zum Arzt
oder ins Krankenhaus geht. Denn das ist die Politik der
CDU/CSU.
({10})
Zur FDP will ich mich nicht weiter äußern. Mir wurde
gesagt, dass es in einzelnen Regionen schon zu Hamsterkäufen in den Apotheken gekommen ist, ausgelöst allein
durch die Ankündigung, dass Möllemann Gesundheitsminister werden will -,
({11})
Die CDU/CSU fordert ein Ende der einnahmenorientierten Ausgabenpolitik. Sie meint, dass alle Budgets aufgehoben werden müssten; dies löse alle Probleme. Sie hat
aber noch nicht angegeben, wie das bei stabilen Beiträgen
funktionieren soll. Ich sage Ihnen: Das wird nur funktionieren, wenn die Menschen privat immer mehr zuzahlen.
In Ihrem Antrag werfen Sie uns vor, dass die Koalition
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Erhöhung der
Beitragssätze verursacht habe, indem sie im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform 2000 ausgabensteigernde Maßnahmen beschlossen habe. Wie sahen denn
diese von Ihnen so bezeichneten Maßnahmen aus? Wir
haben chronisch kranke Menschen bei der Zuzahlung zu
Arzneimitteln entlastet, die sie regelmäßig erhalten müssen.
({12})
Wir haben das getan, weil wir der Meinung sind: Wer
chronisch krank ist, darf nicht auch noch finanziell überfordert werden. Wir haben des Weiteren die Regelung
zurückgenommen, wonach ein „Eintrittsgeld“ von 10 DM
pro Stunde gezahlt werden musste, wenn man eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nahm. Wir
haben die Zuzahlungen insgesamt gekürzt.
({13})
Wir haben außerdem Maßnahmen, die der Prävention und
der Gesundheitsvorsorge dienen - diese Begriffe führen
Sie heute immer im Mund -, wieder zu Kassenleistungen
gemacht.
({14})
Wir haben auch dafür gesorgt, dass Mutter-Kind-Kuren
zu Regelleistungen der Kassen wurden und voll bezahlt
werden müssen.
Das alles bezeichnen Sie als ausgabensteigernde Maßnahmen. Ich sage Ihnen Folgendes dazu: Alles, was wir
gemacht haben, dient dem Erhalt der Grundlage der solidarischen Krankenversicherung. Alles, was die FDP offen
fordert - Herr Seehofer wird uns heute sicherlich wieder
nicht sagen, was Sie von der CDU/CSU machen wollen -,
hat dagegen nur eines zum Ziel: Sie wollen die solidarische Krankenversicherung in der Form, in der sie sich seit
Jahrzehnten in unserem Land bewährt hat, Schritt für
Schritt aushöhlen. Sie sprechen nicht die Frage an, wie die
Mittel effizienter und effektiver eingesetzt werden können. Sie reden einzig und allein über die Frage, wie die Arbeitgeber entlastet werden können. Es geht aber um die
paritätische Finanzierung der Gesundheitskosten, damit kein Mensch in diesem Land zum Beispiel einen Arztbesuch oder einen Krankenhausaufenthalt nicht machen
kann, weil ihm das notwendige Geld oder die notwendige
Versicherung fehlt.
({15})
Weil Sie, Herr Seehofer, nie offen sagen, was die Menschen von Ihnen wirklich zu erwarten haben, scheuen Sie
nicht davor zurück, sich auf Kosten der Sozialhilfeempfänger zu profilieren. Einmal geht es um Grund- und Wahlleistungen; dann wiederum reden Sie von Abwahl- und Zusatzleistungen; einmal handelt es sich um das Programm
der CDU, ein anderes Mal um ein Papier, das Sie mit Herrn
Stoiber ausgearbeitet haben; es gibt viele Varianten.
({16})
Ich sage Ihnen eines: 80 Prozent aller Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen sind krankenversichert. Die restlichen 20 Prozent sind nicht krankenversichert, weil es keine Einigung mit den Kommunen über die
Höhe der Beiträge und deren Finanzierung gab. Im Gesetz
steht, dass kein Arzt und keine Ärztin einem Sozialhilfeempfänger oder einer Sozialhilfeempfängerin mehr zukommen lassen darf als den Versicherten der gesetzlichen
Krankenversicherung. Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, die ja nicht unbedingt zu den
Wahlhelfern der SPD gehört, sagt, die Behauptung, die
von Ihnen immer wieder zulasten der Schwächeren in dieser Gesellschaft aufgestellt wird, sei schlichtweg falsch.
Ich zitiere den KBV-Vorsitzenden:
Mit solchen Klischees werden Sozialhilfeempfänger, die ohnehin schon gestraft sind, in eine Ecke gedrängt, in die sie nicht gehören.
Ich sage Ihnen - Wahlkampf hin oder her -: Hören Sie auf,
Politik zulasten derjenigen zu machen, die sich nicht wehren können! Diskutieren Sie stattdessen über die Inhalte,
um die es wirklich geht!
({17})
Am 22. September entscheiden die Bürger in diesem
Land auch über die Frage - es wird eine Richtungswahl
sein -, ob weiterhin jeder Versicherte der gesetzlichen
Krankenversicherung ohne Ansehen der Person, der
Vorerkrankungen und der Höhe der geleisteten Beiträge
den gleichen Anspruch auf gesundheitliche Leistungen
hat oder ob der Arzt oder die Ärztin erst fragen muss, welches Paket der Patient in der gesetzlichen Krankenversicherung gewählt hat, ob er zusatzversichert ist oder nicht,
und ob Menschen gesundheitliche Leistungen vorenthalten werden, weil sie nicht das richtige Versicherungspaket
haben. Ich sage Ihnen: Wir wollen das nicht.
({18})
Wir werden durch eine Hebung der Qualität und eine Verbesserung der Abstimmung der Leistungen dafür sorgen,
dass jeder das bekommt, was er braucht, wenn er krank ist
oder wenn seine Schmerzen gelindert werden müssen.
Anders als Sie wollen wir nicht, dass es vom Geldbeutel
abhängt, ob jemand eine vernünftige gesundheitliche
Leistung erhält oder nicht. Die Politik machen wir nicht.
Das werden die Bürger und Bürgerinnen bei ihrer Entscheidung zu bedenken wissen.
Vielen Dank.
({19})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Parr das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Zu der heutigen Sondersitzung des Gesundheitsausschusses, die die FDP-Fraktion beantragt hatte,
möchte ich ein paar Bemerkungen machen.
Frau Ministerin, als Sie noch stellvertretende Fraktionsvorsitzende waren, haben Sie ständig über Ausschusssitzungen geredet, an denen Sie nicht teilgenommen haben. Insofern sollten Sie der Kollegin Schwaetzer diesen
Vorwurf nicht machen.
({0})
Die FDP hatte beantragt, heute über die Auswirkungen
der Defizite der Krankenkassen in Höhe von mehr als
2 Milliarden Euro informiert zu werden und Ihre konkreten
Maßnahmen gegen diese desaströse Entwicklung kennen
zu lernen. Stattdessen haben Sie seitenlang Zahlenkolonnen aus Presseerklärungen vorgetragen, die wir bereits
14 Tage kannten und über die wir bestens informiert waren.
({1})
Der Ausschuss ist daran gehindert worden, Fragen zu stellen. Das war ein unmögliches Verhalten, das wir hier kritisieren wollen.
({2})
Sie haben zum Beispiel keine Antwort auf die Frage
gegeben, wie Sie die Einnahmeverluste kompensieren
wollen, die aus der Flutkatastrophe entstanden sind, weil
Beiträge gestundet werden, weil es Kurzarbeit gibt usw.
Sie haben auf die Probleme im Osten hingewiesen, aber
Sie haben keine Antwort auf die Frage gegeben, wie Sie
dem wachsenden Ärztemangel, der im Osten besonders
schmerzhaft spürbar ist - es gibt nicht genug Nachfolger
für Praxen; Praxen drohen leer zu stehen -, begegnen wollen, wie Sie den jungen Medizinern wieder solche Arbeitsbedingungen geben wollen, dass nicht ein Drittel derer, die ihr Studium absolviert haben, davon absieht, in
den Arztberuf zu gehen. Diese Angelegenheiten sind zu
diskutieren. Darüber muss es Aufschluss geben. Alle, wir
im Parlament und die Wählerinnen und Wähler draußen,
wollen hören, wie Sie diese Probleme lösen wollen.
Zu den angeblichen Hamsterkäufen in Apotheken
möchte ich nur Folgendes sagen: Frau Ministerin, Sie haben angekündigt, die Versicherungspflichtgrenze anzuheben und damit den Zugang zur privaten Krankenversicherung zu erschweren. Ergebnis: Scharenweise verlassen
die Menschen die gesetzliche Krankenversicherung.
Herzlichen Glückwunsch zu einer Gesundheitspolitik, die
sich ständig ins eigene Knie schießt!
({3})
Frau Ministerin, Sie
können darauf antworten. Bitte sehr.
Vielen Dank. - Herr Kollege Parr, ich habe sehr große Achtung vor dem Parlament. Wenn Sie als FDP beantragen,
dass ich in der Ausschusssitzung etwas zur Finanzentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung vortrage, dann tue ich das selbstverständlich. Dazu gehört
auch die Auseinandersetzung mit den Zahlen.
Wir haben heute Morgen aber noch über mehr gesprochen. Ich habe Ihnen gesagt, welches die Hauptsektoren
sind, die die Ausgaben verursachen.
({0})
Ich habe Ihnen erstens dargelegt, dass wir entgegen dem,
was Frau Kollegin Schwaetzer eben gesagt hat, das Arzneimittelbudget aufgehoben und gleichzeitig mit dem
Arzneimittelsparpaket der Bundesregierung steuernd eingegriffen haben. Dieses Paket befasst sich vor allem mit
den strukturellen Problemen in der Arzneimittelversorgung. Wir haben einen Weg gefunden: Die Arzneimittelhersteller senken ihre Preise, damit sie bei der Regelung
für das untere Preisdrittel dabei sind. Ich habe Ihnen aber
auch gesagt: Das reicht nicht. In Deutschland werden zu
viele hochpreisige Arzneimittel verschrieben, ohne dass
deren medizinischer Zusatznutzen nachgewiesen ist. Um
diese Probleme wirklich in den Griff zu bekommen, brauchen wir eine Regelung, die sicherstellt, dass Arzneimittel
nur dann wirklich als Innovation gelten, wenn der erhöhte
therapeutische Nutzen sichergestellt ist. Den derzeitigen
Zustand, null Prozent mehr Nutzen, aber 300 Prozent
Preissteigerung, kann sich auf Dauer kein Gesundheitssystem erlauben.
({1})
Zweitens. Die Programme zur besseren Versorgung
chronisch kranker Menschen werden dazu führen, dass
zum Beispiel Frauen mit Brustkrebs in diesem Lande endlich die Behandlung erhalten, die nach internationalen
Standards und Leitlinien notwendig ist, um die Therapieerfolge zu verbessern, die Zahl der Brustamputationen zu
verringern und, sofern es notwendig ist, zu mehr brusterhaltenden Operationen zu kommen sowie sicherzustellen, dass nur die besten Operateurinnen und Operateure
die Operationen und die anschließende Behandlung vornehmen. Die Tatsache, dass 4 000 Frauen in Deutschland
mehr an Brustkrebs sterben, als es nach dem neuesten
Stand der medizinischen Kenntnisse notwendig ist, wird
uns nicht ruhen lassen, diese Programme voranzubringen.
({2})
Ergebnis wird sein: geringere Mortalitätsrate, weniger Folgeerkrankungen und die Vermeidung überflüssiger Brustamputationen. Wir werden zeigen, dass eine höhere Qualität und mehr Gesundheit für dasselbe Geld möglich sind.
({3})
Dasselbe gilt für die Krankenhausreform und die Einführung der Gesundheitskarte.
Drittens. Wir haben die Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte verändert und dafür gesorgt, dass die
Ärztin bzw. der Arzt im Praktikum abgeschafft werden
kann.
({4})
Wir haben auch dafür gesorgt, dass in den Krankenhäusern Geld zur Verfügung steht, damit dort ein neues
Arbeitszeit- und Arbeitsorganisationskonzept auf den
Weg gebracht werden kann. Das zusätzliche Geld wird
benötigt, um Ärztinnen und Ärzte einstellen zu können.
Viertens. Was die von Ihnen angesprochene Situation
in den neuen Bundesländern angeht, bin ich sehr dafür,
dass wir uns darüber Gedanken machen, wie es gelingt,
dass nicht jeder Arzt in die Verschuldung gerät. Die jungen Ärzte und Ärztinnen würden sehr viel lieber in Gesundheitszentren arbeiten, wie sie in Brandenburg bestehen.
({5})
Dort haben sie ihre Praxis und zahlen für die Infrastruktur
eine Art Leasinggebühr, sodass sie sich nicht selbst bis
über beide Ohren verschulden müssen und dann das Gefühl haben, die Investitionen vielleicht nicht wieder hereinholen zu können, weil nicht genügend kranke Menschen zu ihnen kommen.
({6})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Horst Seehofer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren!
({0})
Von der Ministerin haben wir gerade den Satz „Mehr
Gesundheit für dasselbe Geld“ gehört. Er beweist, dass
der Realitätsverlust bei der Gesundheitsministerin zwischenzeitlich vollkommen ist.
({1})
Noch nie in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung haben die Menschen in Deutschland so hohe
Beiträge wie zurzeit bezahlt und noch nie gab es so viele
Versorgungsmängel für chronisch kranke Menschen.
({2})
Wir haben jetzt einen durchschnittlichen Krankenversicherungsbeitrag von 14 Prozent mit weiter steigender
Tendenz. Vor acht Tagen hat die Ministerin erklärt, das
alles werde sich im zweiten Halbjahr ausgleichen. Sie
glaubte tatsächlich, dass sich alles, was die Regierung versäumt hat, im Oktober und November egalisieren werde.
({3})
Heute erreichte uns die Nachricht, dass im Juli, also
schon im zweiten Halbjahr, die Arzneimittelausgaben in
Deutschland um sage und schreibe 8,2 Prozent gestiegen
sind. Eine Sicherheit gibt es im Gesundheitswesen: Keine
Prognose von Frau Schmidt hält länger als 24 Stunden.
({4})
Meine Damen und Herren, die Beitragssteigerungen
sind schon schlimm genug, weil den Menschen dadurch
immer mehr Geld aus der Tasche gezogen wird. Für mich
noch viel schlimmer ist aber, dass sich in den vier Jahren
der rot-grünen Regierung die medizinische Versorgung
der Menschen in Deutschland rapide verschlechtert hat.
Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({5})
Das beginnt mit den chronisch Kranken.
({6})
Sie selbst bestreiten mittlerweile nicht mehr, Frau Ministerin, dass die chronisch Kranken in Deutschland gerade
noch zu 10, 20 bzw. 25 Prozent eine innovative Medizin,
eine medizinische Versorgung nach dem heutigen Standard bekommen. Alle anderen chronisch kranken Menschen fallen durch den Rost und werden lediglich durchschnittlich oder unterdurchschnittlich versorgt.
Ganze 4 Prozent der Osteoporosekranken in Deutschland bekommen die innovativste medizinische Behandlung. Sie haben eine Situation herbeigeführt, dass man
sich in Deutschland als Osteoporosekranker erst die Knochen brechen muss, um wieder die modernste Medizin zu
bekommen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({7})
Obgleich Ihre Staatssekretärin Vizepräsidentin der
Deutschen Rheuma-Liga ist, wird jetzt von den Krankenkassen das Funktionstraining für die Rheumakranken gestrichen - eine Behandlung, die für sie im Hinblick auf die
Schmerzlinderung und auf die Erleichterung der Krankheitsfolgen ein Segen ist. Die an Alzheimer Erkrankten erBundesministerin Ulla Schmidt
halten im Moment nicht einmal zu 10 Prozent die notwendige medizinische Versorgung.
({8})
Es geht aber nicht nur um die chronisch Kranken,
sondern auch um die Pflegebedürftigen. Sie haben die
Behandlungspflege zunehmend aus der Krankenversicherung herausgenommen und zum Bestandteil der Pflegeversicherung gemacht.
({9})
Weil Sie dort aber genauso in den roten Zahlen sind, muten Sie den Menschen zu, dass sie notwendige Behandlungen aus ihrem Pflegegeld bezahlen. Ergebnis ist, dass sie
immer weniger von der Pflegeversicherung bekommen.
({10})
Gehen Sie doch einmal jetzt im Wahlkampf in die
Fußgängerzonen! Da kommen die Leute und beklagen
sich, dass sie die Stützstrümpfe jetzt selber bezahlen müssen. Sie erzählen, dass Dekubituskranke so lange keine
Versorgung als Pflegebedürftige erhalten, wie sie nicht
wirklich großflächig am ganzen Körper wundgelegen
sind. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
({11})
- Das, was ich hier beschreibe, ist die Realität.
Selbst die Kinder sind Opfer Ihrer Budgetierung.
({12})
Ein Vertreter der Ludwig-Maximilians-Universität München hat in der „Süddeutschen Zeitung“ erklärt: Wenn Ihr
Preissystem für die Krankenhäuser in Kraft tritt - Sie
wollen die Behandlung von schwerkranken Menschen
unabhängig von der Dauer des Krankenhausaufenthaltes
vergüten, also nur eine Pauschale zahlen -, wird beispielsweise für ein leukämiekrankes Kind, das eine Knochenmarkstransplantation erhalten hat, ein Pflegesatz von
130 000 Euro statt bisher 230 000 Euro fällig, also 40 Prozent weniger.
({13})
Meine Damen und Herren, es geht doch nicht an, dass
flächendeckend in Deutschland Aktionen zur Typisierung
des Blutes sowie Spendenaktionen der Menschen zur Finanzierung der Transplantation bei leukämiekranken Kindern stattfinden
({14})
und Sie die Zuzahlung über die Krankenkasse um 40 Prozent kürzen. Es ist schäbig, wenn Sie eine solche Gesundheitspolitik für die Kinder betreiben.
({15})
Was haben Sie alles im Hinblick auf den Zahnersatz
angekündigt, obwohl der Zahnersatz für Jugendliche eine
absolute Ausnahme ist und wir gesagt haben, bei Krankheit
und bei Unfall soll der Zahnersatz weiter bezahlt werden!
({16})
Sie hingegen haben bei der Kieferregulierung, einem Regelfall der medizinischen Versorgung, in den von Ihnen
genehmigten kieferorthopädischen Richtlinien festgelegt,
dass die Eltern und die Kinder bei bestimmten Indikationen 1 500 Euro für diese Zahnregulierung zu bezahlen
haben. Das kennzeichnet die soziale Schieflage in der Gesundheitspolitik: Gerade die schwerkranken Menschen
müssen mehr bezahlen und bekommen immer weniger.
({17})
Die chronisch Kranken, die Kinder, die Pflegebedürftigen
sind Opfer Ihrer Politik.
({18})
Wie Sie hier immer wieder die Unwahrheit über die
Vergangenheit sagen:
({19})
Ich bin mit einem Defizit von 10 Milliarden DM angetreten. Dann haben wir in diesem Hause parteienübergreifend eine Gesundheitsreform verabschiedet.
({20})
Sie trat am 1. Januar 1993 in Kraft; zu diesem Zeitpunkt betrug der Beitragssatz 13,5 Prozent. Als ich mein
Amt abgab, betrug der Beitragssatz immer noch 13,5 Prozent, gab es jährliche Überschüsse von 1 Milliarde DM
und beliefen sich die Rücklagen in der Krankenversicherung auf über 8 Milliarden DM.
({21})
Diese Rücklagen haben Sie verschustert; Sie stecken tief
in den Defiziten. Sagen Sie den Menschen vor der Wahl
die Wahrheit: Wenn Sie es könnten, müssten Sie die Beitragssätze nach der Wahl erneut erhöhen. Das ist die
Wahrheit über Ihre Gesundheitspolitik.
Ich sage Ihnen noch einmal: Sie haben den Menschen
immer mehr Geld aus der Tasche gezogen und Sie haben
die Versorgung der chronisch Kranken verschlechtert.
Trotzdem stellen Sie sich hier hin und sagen, das alles sei
eine soziale Politik.
Sie führen Brustkrebs und Diabetes an. Ich halte Ihnen entgegen, dass alle medizinischen Fachgesellschaften
- ohne Ausnahme - öffentlich erklärt haben: Wenn diese
Behandlungsprogramme Realität werden, wird die Behandlung der chronisch Kranken in Deutschland hinter
den jetzigen Standard zurückfallen
({22})
und werden zum Beispiel chronisch kranke Diabetiker
mehr Risiken für Nierenkrankheiten, Amputationen und
Erblindungen haben. Das ist das Ergebnis der schmidtschen Gesundheitspolitik. Frau Schmidt, Sie haben auf
der ganzen Linie versagt.
({23})
Dafür ist eine ganze Kette von Fehlern verantwortlich.
Ich beginne damit, dass Sie der Krankenversicherung
durch politische Maßnahmen Geld entzogen haben. Erstens haben Sie beschlossen, dass Arbeitslosenhilfebezieher geringere Beiträge an die Krankenversicherung leisten müssen. Das hat den Krankenversicherungen einige
Hundert Millionen entzogen. Zweitens haben Sie - das
haben Sie wahrscheinlich schon wieder vergessen - die
Renten den Inflationsraten und nicht den Löhnen angepasst. Das hat den Krankenversicherungen eine weitere
Milliarde entzogen.
Ihre miserable Wirtschafts- und Sozialpolitik mit immer mehr Arbeitslosen hat drittens dazu geführt, dass
die Einnahmen der Krankenversicherungen praktisch
stagnieren.
({24})
Ich bin schon lange im Bundestag, aber erst jetzt habe ich
folgende Welturaufführung erlebt: Die Regierung hat am
Ende ihrer Wahlperiode ein Dokument aufgelegt - Stichwort: Hartz-Kommission -, aus dem sich amtlich ergibt,
was sie in den vier Jahren vorher falsch gemacht hat.
({25})
Übrigens: Der Bericht der Hartz-Kommission ist der
beste Beweis gegen die These, das sei alles weltwirtschaftlich bedingt. Der Vorsitzende der Kommission
- Mitglieder Ihrer Regierung haben diese Argumentation
übernommen - sagt, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland in den nächsten drei Jahren halbiert wird, wenn seine
Vorschläge zum Arbeitsmarkt jetzt realisiert werden.
({26})
In dem Bericht stehen ausschließlich Maßnahmen, die wir
national realisieren können und die mit der Weltwirtschaft
so viel zu tun haben wie eine Schildkröte mit dem Stabhochsprung.
Meine Damen und Herren, der Vorsitzende der Kommission spricht von der Halbierung der Arbeitslosigkeit.
Ich bewerte nicht, ob das zutrifft oder ob das nicht eher einem Märchen zuzuordnen ist. Er verspricht eine massive
Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Das ist der beste Beleg
dafür, dass die Schutzargumente der Regierung, die immer vom 11. September und von internationalen Herausforderungen spricht, falsch sind. Sie haben die Misere der
Sozialsysteme selbst verschuldet, indem Sie Ihre Hausaufgaben in den Sozialreformen nicht erledigt haben. Darauf ist es zurückzuführen.
({27})
Ich nenne Ihnen zwei Blöcke: Die Arzneimittelausgaben in Deutschland sind in drei Jahren um 25 Prozent
oder um 8,5 Milliarden gestiegen. Die Verwaltungskosten
in der Krankenversicherung sind in ebenfalls drei Jahren
um 10 Prozent oder um 1,5 Milliarden gestiegen. Der Zuwachs bei den Arzneimittelausgaben in Höhe von 8,5 Milliarden DM gründete sich übrigens nicht darauf, dass die
Ärzte mehr verordnet haben, sondern darauf, dass die Patienten auf die Fehler der Regierung reagiert haben;
({28})
ich nenne nur die Stichworte Arzneimittelbudget und Struktur der Arzneimittel. Insgesamt kommt man für diese zwei
Ausgabenblöcke aufgrund kardinaler politischer Fehler
- Sie haben durch immer mehr Paragraphen, Richtlinien
und Gesetze Bürokratie veranlasst und das Arzneimittelbudget aufgehoben, ohne eine anständige Gesundheitsreform zu machen - auf 10 Milliarden in drei Jahren.
({29})
Deshalb brauchen wir jetzt gar nicht groß über Dinge
in zehn oder 20 Jahren zu reden. Das Wichtigste ist, dass
die Wirtschaft wieder flott wird; denn dann sprudeln die
Einnahmen für die Krankenversicherungen wieder. Das
geschieht nur mit unserer Politik.
({30})
Darüber hinaus muss die Bürokratie, die Sie den Krankenversicherungen auferlegt haben und die uns Milliarden kostet, beseitigt werden.
({31})
Mehr Geld für die kranken Menschen und nicht mehr
Geld für die Bürokratie, das ist unser Gegenentwurf zu Ihrer Gesundheitspolitik.
({32})
Denken Sie bitte an
Ihre Redezeit, Herr Kollege!
Als Letztes möchte ich
Folgendes sagen: Frau Kollegin Schmidt, auch Sie sind
mittlerweile auf die Idee gekommen, dass es populär sein
könnte, die Patienten in die politischen Entscheidungen
einzubeziehen. Vor 48 Stunden hat die Ministerin den
Vorschlag gemacht, dass es in Deutschland künftig einen
Patientenberater gibt.
({0})
Frau Schmidt, die Patienten wollen nicht als Bittsteller
auftreten, sondern sie wollen, dass die Patientenverbände
künftig in die Entscheidungen der Krankenkassen und
der Gesundheitspolitik einbezogen werden, wie wir es
vorhaben.
({1})
Die Patienten sollen nicht als Bittsteller, sondern als Beitragszahler auftreten. Kranke Menschen müssen künftig
in die Entscheidungen der Gesundheitspolitik einbezogen
werden. Da unterscheiden wir uns diametral:
Herr Kollege, ich
möchte Sie bitten, zum Ende zu kommen.
Sie wollen mit der Ministerialbürokratie und mit Paragraphen Politik machen,
während unsere Politik auf die kranken Menschen ausgerichtet ist.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Martin Pfaff das
Wort.
Herr Kollege Seehofer, diejenigen, die erwartet haben - ich gehöre zu ihnen -, dass Sie
nach persönlichen Erlebnissen - auch ich hatte solche Erlebnisse - heute mehr Distanz, mehr Sachlichkeit und weniger Verklärtheit an den Tag legen, sind schwer enttäuscht. Was wir heute erlebt haben, war ein Musterstück
an blanker Demagogie.
({0})
Lieber Herr Kollege Seehofer, Ihr Fehler ist, dass Sie
die Menschen unterschätzen. Die Mütter mit Brustkrebs
wissen sehr wohl, dass die Leitlinien, die umgesetzt werden, zusammen mit den Fachgesellschaften entwickelt
wurden. Auch die Mütter mit Kindern wissen, dass ihre
Versorgung in jüngerer Zeit nicht gelitten hat, weil keine
der von uns getroffenen Maßnahmen ihre Lage verschlechtert hat. Die chronisch Kranken wissen sehr wohl,
dass sie von Zuzahlungen befreit worden sind. Sie, Herr
Kollege Seehofer, täuschen etwas in der Erwartung vor,
dass die Menschen das nicht durchschauen.
({1})
Was Sie über den Zahnersatz gesagt haben, das schlägt
dem Fass wirklich den Boden aus. Sie waren derjenige,
der den Zahnersatz für bestimmte Altersgruppen vollständig privatisiert hat, und zwar für immer und nicht nur einmal. Sie wollten Prävention und Ähnliches als Regelleistungen abschaffen.
({2})
Sie haben Verschiebebahnhöfe in einem viel größeren
Umfang zu verantworten. Ich muss schon sagen: Ich persönlich bin etwas enttäuscht; denn reine Demagogie, wie
Sie sie hier offensichtlich vorgetragen haben, ist kein Ersatz für die Qualität der Argumente.
({3})
Lieber Herr Kollege Seehofer, im Hinblick auf das,
was Sie zu den Beitragssätzen gesagt haben, empfehle
ich, einmal nachzulesen, was Herr Rebscher, der Chef der
Ersatzkassenverbände, gesagt hat. Alle Fachleute wissen,
dass die Mitte des Jahres ausgewiesenen Defizite nur ein
Artefakt, also ein Kunstprodukt, sind, weil sie schlicht
und einfach nur auf Schätzungen beruhen, die wahrscheinlich nicht zutreffen, weil die Defizite im Laufe des
Jahres wieder ausgeglichen werden. Das sollten gerade
Sie wissen. Herr Rebscher sagt: Wenn man eine betriebswirtschaftlich korrekte Berechnung durchführte, dann
käme man zu dem Ergebnis, dass ein Überschuss von
38 Millionen Euro entstanden ist. Das sollten gerade Sie
den Menschen sagen.
Zum Abschluss möchte ich darauf hinweisen, Herr
Kollege Seehofer, dass es mich am meisten enttäuscht hat,
dass Sie das Solidarprinzip so gering schätzen. Sie sprechen zwar vom Solidarprinzip, aber Sie wollen Regelund Wahlleistungen einführen, auch wenn Sie das, was
Sie vorhaben, so nicht nennen.
({4})
Im Endeffekt läuft es darauf hinaus, dass Sie die Politik
der Privatisierung - Sie haben sie nach Lahnstein leider
begonnen; damit haben Sie den gemeinsamen Weg verlassen - fortsetzen wollen, was bedeutet, dass Sie die
Menschen mit einem Teil ihrer Probleme allein lassen. Sie
verlassen damit den Weg einer sozialen Krankenversicherung, die - das sollten eigentlich alle erkannt haben - sowohl kosteneffektiver als auch verteilungsgerechter ist.
Das werfe ich Ihnen am Ende meines letzten Redebeitrags
in diesem Hohen Hause vor.
({5})
Sie haben auf
die Sekunde genau die Ihnen zur Verfügung stehende Redezeit von drei Minuten ausgeschöpft. Da zeigt sich die
Übung.
Herr Kollege Seehofer, Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.
Herr Professor Pfaff,
was die Zuzahlungen betrifft, gegen die Sie immer polemisieren: Unter dieser Regierung - sie ist mittlerweile fast
vier Jahre im Amt - gelten die Zuzahlungen weiterhin;
beim Zahnersatz liegen sie bei 40 bis 50 Prozent der Kosten, bei Krankenhausaufenthalten liegen sie bei 9 Euro.
Während Ihrer Regierungszeit haben Sie für die Menschen
in den neuen Bundesländern die Zuzahlung bei Krankenhausaufenthalten sogar erhöht. Sie gilt für die physikalische Therapie - hier sind es unverändert 15 Prozent -,
({0})
für die Kuren und für die Arzneimittel. Am Beginn Ihrer
Regierungszeit haben Sie ja 1 Euro bzw. 50 Cent erlassen.
Man kann doch nicht in der Öffentlichkeit gegen die
Zuzahlung polemisieren und sie in der politischen Verantwortung kassieren, weil man sie braucht. Sie haben die
Zuzahlung beibehalten. Deshalb sollten Sie, auch in einem Wahlkampf, dazu stehen.
({1})
Mein zweiter Punkt: die Regel- und Wahlleistungen.
Die Schweiz ist für die Einführung von Regel- und
Wahlleistungen mit dem „Deutschen Gesundheitspreis
2000“ ausgezeichnet worden. In der Begründung hieß es,
es sei an der Zeit, den Menschen im 21. Jahrhundert mehr
Mitbestimmungsmöglichkeit bei der Gestaltung ihres
Leistungskatalogs zu geben.
({2})
Herr Professor Pfaff, jetzt nenne ich Ihnen das einstimmige Votum der SPD - damals gehörte noch Herr
Dreßler der Kommission an - und des Bundesgesundheitsministeriums zu den Regel- und Wahlleistungen und
zum Gesundheitspreis für die Schweiz:
Das Schweizer Krankenversicherungsgesetz ist beispielhaft für eine Gesetzesinitiative, die Rahmenbedingungen für hohe soziale Sicherheit und gleichzeitig regulierten Wettbewerb im Gesundheitswesen
herzustellen versucht. Die erhöhten Wahlmöglichkeiten für die Versicherten entsprechen den gestiegenen Ansprüchen nach individueller Angebotserstellung im digitalen Zeitalter.
({3})
Es stellt somit einen ausgezeichneten Weg dar, um
herausragende Ergebnisse im Umfeld eines sozialverträglichen Wettbewerbs zu erreichen.
({4})
So lautete das Urteil des Bundesgesundheitsministeriums
und der SPD in dieser Kommission, die, auch mit meiner
Stimme, einstimmig entschieden hat, dass die Schweiz
den „Deutschen Gesundheitspreis 2000“ für die Einführung von Regel- und Wahlleistungen erhält.
Herr Professor Pfaff, als SPD bzw. als Bundesgesundheitsministerium das Ausland auszuzeichnen und im Inland mit ungeheurer Polemik gegen diejenigen zu Felde
zu ziehen, die im Inland das einführen wollen, was im
Ausland prämiert worden ist, ist heuchlerisch. Das muss
ich leider so sagen.
({5})
Mein dritter Punkt. Weil Sie mein Patientendasein angesprochen haben und die Erwartung geäußert haben,
dass ich meine politische Tätigkeit einstellen werde, sage
ich Ihnen: Nein, ich habe aber die Überzeugung gewonnen, dass zwischen dem, worüber die Gesundheitspolitiker und Gesundheitsfunktionäre diskutieren, dem, was
aktuell an Gesundheitspolitik betrieben wird, und den Bedürfnissen der kranken Menschen in der Ambulanz und in
Krankenhäusern Lichtjahre liegen. Von Frau Schmidt
wird eine theoriebesessene Gesundheitspolitik betrieben,
({6})
die keine Rücksicht auf das nimmt, was die kranken Menschen und diejenigen, die die kranken Menschen betreuen,
als Ansprüche an dieses Gesundheitswesen anmelden.
Herr Kollege
Seehofer, ihre drei Minuten sind jetzt überschritten.
Deshalb bin ich so
emotional. Denn ich möchte endlich Schluss mit dieser
theoriebehafteten Politik machen und die praxisbezogene
Gesundheitspolitik, die Rücksicht auf Ärzte, Therapeuten
und Patienten nimmt, in Deutschland realisieren.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin Renate Künast.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Abgeordnete! Ich finde, die bisherige Debatte in diesem Themenblock war sehr erhellend.
Ich habe zwei Dinge gelernt. Der erste Punkt ist: Die CDU
hat immer noch keinen Redner für das Thema Umwelt.
({0})
Das ist ja nicht unwichtig.
({1})
Sie haben immer gesagt: Umweltpolitik ist Chefsache.
Ich habe hier aber weder den Chef reden hören - diese
Möglichkeit hätte es ja gegeben - noch habe ich - auch
diese Möglichkeit hätte es gegeben - Frau Merkel, die
frühere Bundesumweltministerin, reden hören. Stattdessen hat uns Herr Austermann hier beglückt. Seine Rede
war zeitlich knapp, aber gut. Aber Herr Austermann ist ja
in Wahrheit derjenige, der noch im letzten Jahr sagte: „Die
Regierung wirft mit vollen Händen Geld zum Fenster hinaus - das ist pure Verschwendung.“ Dies ist ein Originalzitat von Herrn Austermann zum Thema Photovoltaik. So viel zum Thema Umwelt in Ihrer Fraktion und Ihren
Parteien.
({2})
Der zweite Punkt, den ich hier gelernt habe, ist, dass
Herr Seehofer immer noch in der Lage ist, sehr engagierte
und sehr echauffierte Redebeiträge zu leisten.
({3})
Ich muss Ihnen aber der Ehrlichkeit halber sagen, dass ich
diese Debatte hier und heute eigentlich zu schade dafür
finde, dass von Ihnen unionsinterne Machtkämpfe ausgetragen werden. Ihr Operieren mit falschen Zahlen, Herr
Seehofer, und Ihren Populismus an dieser Stelle kann man
sich nur damit erklären, dass Sie immer noch die Abgrenzung zu Späth betreiben, also dazu, wer für Arbeitsmarkt
und anderes zuständig ist. Ansonsten lässt sich das nicht
erklären.
({4})
Auch wie Sie in Ihrer Kurzintervention mit falschen
Zahlen operiert haben, ist aufschlussreich. Sie haben die
Schweiz genannt. Sollen wir jetzt daraus schließen, dass
Sie die beitragsfreie Mitversicherung, wie wir sie in
Deutschland haben, aufgeben wollen und wie in der
Schweiz Kinder zu eigenen Versicherungsbeiträgen zwingen wollen?
({5})
Die Leute draußen werden mit Interesse gehört haben,
was Sie gerade ausgeführt haben.
({6})
Vielleicht können wir auch einmal wieder versuchen,
zum Thema dieser Debatte zu reden
({7})
und ein paar Zahlen, die stimmen, zu nennen. Ich will einmal mit der Flutkatastrophe und dem, was da zu tun ist,
anfangen, weil dieses Problem im Augenblick die Landwirtschaft und den ländlichen Raum akut beschäftigt. Es
kommt an dieser Stelle darauf an, dass wir den Menschen
sofort und schnell helfen. Ich meine, dass die rot-grüne
Bundesregierung mit dem Modell, das sie ihnen angeboten hat, die wirksamste Methode gefunden hat, um den
Wirtschaftsbetrieben wieder auf die Beine zu helfen.
({8})
Wir haben an dieser Stelle klar gesagt: Jetzt wird nicht
lange herumgezappelt und überlegt, wo man etwas streichen könnte, sondern wir stellen die Summen zur Verfügung, die einen Neuanfang wieder möglich machen.
Wir haben Soforthilfen für existenzgefährdete Betriebe vorgesehen und darüber hinaus ein Sofortprogramm für die Landwirtschaft aufgelegt, das für hohe
Schadenssummen bei zerstörten Geräten und Gebäuden,
die aber zur weiteren Arbeit nötig sind, aufkommt. Wir
haben da, wo selbst das für einzelne Betriebe nicht ausreichen sollte, damit angefangen, betriebsbezogene runde
Tische zusammen mit den Bundesländern und den Banken einzurichten, weil wir sehen, dass die Betriebsinhaber
nicht monatelang Zeit haben, von Pontius zu Pilatus - von
Behörde zur Bank und zurück zur Behörde - zu laufen,
sondern tatsächlich konkrete Hilfe brauchen. Das heißt
für uns, dass wir uns nicht nur bei denen melden, sondern
dorthin fahren und dafür sorgen, dass diese runden Tische
wirklich auf den Höfen stattfinden. Das bringt positive Ergebnisse; das geht jedenfalls aus den Reaktionen hervor.
({9})
Wir haben darüber hinaus ganz aktuell Mittel zur
Deichsanierung zur Verfügung gestellt. Das heißt, wir
wollen auf das Winterhochwasser vorbereitet sein. Das
THW und die Bundeswehr haben bisher geholfen. Jetzt
hat die Regierung mit der Bereitstellung von 50 Millionen
Euro die Möglichkeit eröffnet, bis zu 4 000 arbeitslose
Menschen mit unterschiedlichsten beruflichen Qualifikationen, auch aus dem Bereich Statik, nicht nur für Hilfsarbeiten, sondern auch zur Sanierung der Deiche in den
Bundesländern einzusetzen. Damit sind wir auf kommende Ereignisse gut vorbereitet; denn die Deiche wurden ziemlich stark belastet.
Wir haben - das ist der vierte Punkt - für den ländlichen Raum im nächsten Jahr eine Aufbauhilfe von
320 Millionen Euro vom Bund, hinzu kommen 200 Millionen von den Ländern, durch die Verschiebung der Steuersenkung um ein Jahr zur Verfügung stellen können. Damit ist klar - ich denke, das Geld wird reichen -, dass wir
die Schäden, die eingetreten sind, beseitigen können. Das
heißt, wir geben damit das klare Signal: Wir helfen euch
beim Neuanfang und wackeln nicht lange hin und her und
diskutieren nach dem 22. September nicht wieder neu.
Wir packen also alle Kraft zusammen, um die Schlammund Wassermassen zu beseitigen und mit dem Neuaufbau
zu beginnen.
({10})
Neben dieser konkreten und akuten Hilfe geht es auch
darum - das ist klar -, wie wir das Ganze weiterentwickeln können und was weiter für die Zukunft zu tun ist.
Da freue ich mich darüber, Ihnen sagen zu können, dass
wir auf der Agrarministerkonferenz in einem ganz anderen Stil diskutiert haben, als wir das jetzt hier und heute
tun. Wir haben uns auf der Agrarministerkonferenz letzte
Woche zum Beispiel gemeinsam, also A- und B-Länder,
für den naturnahen Gewässerausbau entschieden. Damit ist klar, dass es in Zukunft einen anderen Deichbau geben soll: Nur noch in Ausnahmefällen sollen Deiche erhöht werden, ansonsten sollen Deiche verlegt und
Überschwemmungsflächen geschaffen werden. Auch der
Umgang der Landwirtschaft mit dem Boden, der auch darüber entscheidet, wie viel Wasserhaltekapazität vorhanden ist, soll verbessert werden.
An dieser Stelle kann man eines festhalten: Es gibt ein
gemeinsames Arbeiten für die Menschen auf dem Lande,
für die Bäuerinnen und Bauern, auch im Bereich Hochwasserschutz.
Das heißt ganz klar, dass jetzt Schluss ist mit der
Scheu, wenn es darum geht, immer mehr Grünflächen
entlang der Flussbetten in Ackerland umzuwandeln. Ich
weiß, dass der bayerische Ministerpräsident das neue
Bundesnaturschutzgesetz streichen möchte. Das würde
zum Beispiel dazu führen, dass diese Umwandlung weiter möglich wäre. Es würden immer mehr Maisfelder entstehen und damit wäre der Boden schutzlos jeder Erosion
durch Wasser ausgeliefert. Ich freue mich, dass die A- und
B-Länder dem jetzt einen Riegel vorschieben.
({11})
Ich muss ehrlich sagen, dass mich nicht nur die Nichthaltung der FDP zu diesem Thema verwundert,
({12})
sondern mir auch die Sprache wegbleibt angesichts dessen, was ich an verschiedenen Stellen von der CDU/CSU
höre. Ich kann Ihnen ein Zitat nicht ersparen. Einer von
Ihnen, Herr Gauweiler, der im Bereich Umweltschutz
wohl einer der kompetenten Personen aus der CDU/CSU
ist, hat sich vor circa einer Woche dazu herabgelassen, im
Zusammenhang mit der Frage der Versiegelung von Böden und dem Schutz vor Hochwasser zu sagen, dass das
Problem der Versiegelung in Deutschland schlicht und
einfach darin liege, dass einige in Deutschland dieses
Land zu einem Dauereinwanderungsland machen wollten. Er meinte tatsächlich, das Problem der zunehmenden
Versiegelung liege darin, dass pro 100 000 Einwanderer
der Flächenbedarf der Stadt Würzburg benötigt werde,
und kritisierte das. Auf eine solche Idee muss man erst
einmal kommen.
({13})
Stellen Sie sich doch einmal den Aufgaben, die im Bereich Landwirtschaft vor uns liegen! Die Aufgabe heißt
meines Erachtens nicht nur Schadensbeseitigung, die wir
jetzt auf den Weg gebracht haben und, wie ich denke, auch
erreichen werden, sondern im Übrigen auch Planungssicherheit. Jetzt ist natürlich die Frage: Was ist Planungssicherheit?
({14})
Planungssicherheit heißt nicht, mit alten so genannten
Kompetenzteams alte Konzepte, die schon gescheitert
sind, durchzusetzen, sondern Planungssicherheit heißt,
dass man sich gemeinsam mit der Landwirtschaft überlegt: Wo geht die Reise hin? Was werden die Bedingungen
sein, die durch die WTO und die Erweiterung der Europäischen Union geschaffen werden? Das ist entscheidend,
wenn man Planungssicherheit herstellen will. Man darf
nicht an alten, falschen Auslaufmodellen festhalten, sondern muss mit den jungen Landwirtinnen und Landwirten
überlegen, wo es langgeht, und für sie in Berlin und in
Brüssel die Fördertatbestände schaffen, die ihnen helfen,
ihre Betriebe frühzeitig auf neue Bedingungen einzustellen.
({15})
Wir haben gemeinsam mit den Bundesländern neue
Prioritäten in der Gemeinschaftsaufgabe geschaffen. Wir
haben Vorschläge für Brüssel gemacht. Siehe da: Sie finden dort sogar ihren Niederschlag. Das gilt zum Beispiel
für die Vorschläge zur Entkoppelung der Prämienzahlung
von der Produktion, die Direktzahlungen an Landwirte
überhaupt WTO-kompatibel macht,
({16})
sonst würden sie nämlich in drei, vier Jahren der gesamten Streichung anheim fallen, weil sie dann nicht mehr in
die so genannte Greenbox passen würden.
Ich weiß natürlich, dass manche von Ihnen in der Vergangenheit gesagt haben: Die Künast hat immer so komische Modelle; gut, dass es den Kommissar Fischler gibt.
Ich sage Ihnen zwei Dinge ganz klar. Sie haben Fischler
immer gelobt und von mir abgegrenzt. Ich wundere mich,
wo Sie und auch der Deutsche Bauernverband geblieben
sind, als Fischler im Sommer dieses Jahres genau die Vorschläge gemacht hat, die auch die rot-grüne Bundesregierung gemacht hat.
({17})
Was sagte der Bauernverband? „Wir sind überrascht“ mehr nicht.
Sie haben immer gesagt, Fischler sei ein sehr erfahrener Agrarier. Dann stimmen Sie doch bitte den FischlerVorschlägen zu! Er hat genau darauf geachtet, wie die internationalen Bedingungen sein werden und wie das Geld
bei der Landwirtschaft, sozusagen für eine multifunktionale Landwirtschaft, für unterschiedliche Einkommensquellen in der Landwirtschaft, gehalten werden kann.
Ich freue mich darüber, dass wir auf der Agrarministerkonferenz in der letzten Woche in diesem Zusammenhang ein sehr interessantes Papier hatten. Der einzige Unterschied zu mir, den ich noch sehe, betrifft die Frage, ob
das Ganze 2004 oder 2006 beginnen soll. Ansonsten ist
das ein exzellentes Papier.
Ich sage insbesondere den Kolleginnen und Kollegen
von den Koalitionsfraktionen: Das Papier enthält an zwei
Stellen den Originaltext unseres Kabinettsbeschlusses aus
dem Juli dieses Jahres, den wir als Stellungnahme zu den
Fischler-Vorschlägen gefasst haben. Das Papier ist so gut,
dass selbst Bayern zugestimmt hat.
({18})
Man sieht also: Wir stehen auf der richtigen Seite. Wir
sagen, dass Grünland nicht mehr wie in der Vergangenheit
diskriminiert werden darf. Auf der anderen Seite sagen
wir, dass die Kappungsgrenze, die Fischler vorgeschlagen
hat, mit uns nicht zu machen ist, weil für uns das Kriterium Arbeitsplätze immer eine Rolle spielen wird und
weil wir nicht wollen, dass Arbeitsplätze verloren gehen.
({19})
Wir wollen eine gute Produkt- und Prozessqualität in
Deutschland. Unsere Landwirte und die Lebensmittelindustrie, die viele Arbeitsplätze schaffen, können diese
guten Produkte in Deutschland, auf dem europäischen
Binnenmarkt und international vermarkten.
Hinsichtlich Tierschutz und Umweltschutz sage ich
Ihnen: Es muss Behörden geben, die den Tierschutz und
den Umweltschutz sicherstellen. Deshalb haben wir
zwei neue Institute eingerichtet: das Bundesinstitut für
Risikobewertung und das Bundesamt für Verbraucherschutz. Ich sage Ihnen auch ganz deutlich: Ab dem
23. September geht das Verbraucherinformationsgesetz in
die nächste Runde. Dann kommt Butter bei die Fische,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({20})
Sie haben sich gedrückt. Im Bundesrat haben einige
B-Länder gesagt, das Gesetz gehe zu weit. Andere haben
gesagt, es gehe nicht weit genug. Die Position der B-LänBundesministerin Renate Künast
der ging also in zwei entgegengesetzte Richtungen. Als
wir konkrete Vorschläge von Ihnen eingefordert haben,
haben Sie geantwortet, dass Sie noch einige Monate brauchen werden. Dann koppeln Sie sich eben ab. Ich weiß
jetzt, was ich von Aussagen über Demokratie, wie sie Herr
Seehofer vorhin getroffen hat, zu halten habe: Sie meinen
es damit nicht ernst.
Verbraucherinnen und Verbraucher wollen informiert
werden und wollen wissen, was in den Produkten enthalten ist. Wir brauchen eine umfangreiche Kennzeichnung
auch der Lebensmittel, damit der Verbraucher die Freiheit
der Entscheidung hat.
Lieber Herr Seehofer - er ist anscheinend schon weg -,
ich hätte mir fast gewünscht, dass Sie zum Thema Verbraucherschutz und Landwirtschaft reden. Ich will Ihnen
auch sagen, warum. Sie haben zwar viel über Prävention
geredet. Aber Sie müssen sich auch zu den Fragen äußern,
wie wir beispielsweise mit Pflanzenschutzmitteln umgehen und wie wir es schaffen, unsere Produkte und die Produkte, die nach Deutschland eingeführt werden, noch
gesünder zu machen.
Das ist, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
nicht nur eine Kontrollaufgabe der Bundesländer, sondern
es ist auch eine Bundesaufgabe, an dieser Stelle dafür zu
sorgen, dass möglichst wenig Rückstände in den Lebensmitteln enthalten sind. Dabei ist es unerheblich, ob es
sich um Pflanzenschutzmittel oder um bestimmte Produkte der Lebensmittelindustrie wie Convenience-Produkte handelt, die immer mehr Fett enthalten und die zu
chronischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu Diabetes
und zu Erkrankungen des Bewegungsapparates führen
können. Wenn wir die Krankenkassen entlasten wollen,
dann dürfen wir nicht nur in den Kategorien des Gesundheitsressorts denken. Dazu müssen wir eine gute Landwirtschaftspolitik machen und vernünftige Rahmenbedingungen für die Lebensmittelindustrie in der Republik
schaffen.
({21})
An dieser Stelle fängt Prävention an. Aber dazu gibt es
kein einziges Wort von Ihnen.
({22})
Ich freue mich, dass sich die Lebensmittelindustrie an
dieser Debatte schon längst beteiligt. Ich freue mich auch
darüber, dass die „FAZ“ zu den Fischler-Vorschlägen vor
kurzem gesagt hat, das sei die Brüsseler Agrarwende. Sie
sehen also, Berlin und Brüssel haben ein gemeinsames
Ziel. Deshalb kann unsere Politik nicht so falsch sein.
Am 22. September geht es darum, ob es die Agrarwende nach vorne oder die Rolle rückwärts in die Traumwelt der Lobbyisten gibt. Ich weiß aber, dass 82 Millionen
Verbraucherinnen und Verbraucher in der Republik schon
wissen, was sie wollen.
({23})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Carstensen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Künast, angesichts der Tatsache, dass
Sie von Respekt in der Debatte sprechen, hätte ich erwartet, dass Sie sich während der Rede von Horst
Seehofer ordentlich benommen und nicht die ganze Zeit
mit Ihren Ministerkollegen demonstrativ gequasselt hätten.
({0})
Wenn Sie sagen, dass Sie bei der Flutkatastrophe
schnelle Hilfe gegeben haben, dann darf ich Sie daran erinnern, dass die schnelle Hilfe, von der Sie gesprochen
haben, sich in den letzten Wochen häufig verändert hat
und dass andere Sie zum Jagen tragen mussten. Zum Beispiel musste der Minister Backhaus Sie auffordern, sich
endlich um die Flutopfer zu kümmern, Frau Ministerin
Künast.
({1})
Vielleicht hätten Sie auch einmal etwas zu denjenigen
Bauern sagen sollen, die auch Flutopfer geworden sind
und nicht unter das Gesetz fallen, weil sie nämlich ihre
Schäden im Juli und nicht im August gehabt haben. Wenn
Sie nach Niedersachsen gehen - zum Teil betrifft das auch
Mecklenburg und Schleswig-Holstein -, dann werden Sie
feststellen, dass dort Existenzen bedroht sind, um die Sie
sich überhaupt nicht kümmern, Frau Künast.
({2})
Wenn Sie hier dann auch noch falsche Behauptungen
aufstellen und sagen, wir würden das Bundesnaturschutzgesetz streichen wollen, dann muss ich Sie fragen:
Wie kommen Sie eigentlich auf einen solchen Unsinn?
Wir werden uns das Bundesnaturschutzgesetz vornehmen, weil Sie nämlich mit diesem Gesetz dafür gesorgt
haben, dass die Bauern keine Lust mehr auf Umweltschutz haben. Sie haben nicht einmal den Vertragsnaturschutz mit in das Gesetz aufgenommen. Die gute fachliche Praxis hat in Ihrem Gesetz keinen Stellenwert mehr.
Daher ist es doch notwendig, dass wir die Leute wieder
für den Naturschutz begeistern und ihnen auch die Möglichkeit geben, wieder an einem Bundesnaturschutzgesetz
mitzuarbeiten.
({3})
Sie haben die Planungssicherheit angesprochen. Ich
glaube, die Ministerin weiß gar nicht, dass 40 Prozent
der landwirtschaftlichen Betriebe, 40 Prozent der Bauern im Moment keine Lust haben zu investieren. Sie haben keine Lust zu investieren, weil sie von Ihnen eben
nicht Planungssicherheit bekommen, weil sie nicht wissen, wohin die Reise geht.
({4})
- Die hoffen, dass wir drankommen, genauso ist es.
({5})
- Ich habe Sie schon richtig verstanden. - Die hoffen, dass
wir drankommen. Wenn Sie zu einer Bauernversammlung
gehen und denen nur zwei Sätze sagen, dann bekommen
Sie einen Riesenapplaus, und zwar wenn Sie sagen: Weniger Bürokratie und die Künast muss weg. Was meinen
Sie, was dann bei den Bauern los ist!
({6})
Die hoffen, dass wir drankommen, weil sie wieder eine
ordentliche Agrarpolitik haben wollen.
Das Eigenartige, lieber Herr Kollege, ist - das haben
Sie doch bei dem Applaus Ihrer Fraktion bei der Rede von
Frau Künast gemerkt -, dass Ähnliches auch von Ihren sozialdemokratischen Politikern draußen gesagt wird. Die
sagen: Wir sind nicht mehr in der Lage, noch einmal vier
Jahre lang Künast zu halten.
({7})
Kolleginnen und Kollegen von Ihnen halten Vorträge und
sagen dort: Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht. Jawohl, die Grenzen der Belastbarkeit mit Frau Künast
sind wirklich erreicht.
({8})
Auch Ihre Aussage, dass Bluebox-Maßnahmen nicht
möglich und nicht kompatibel mit der WTO seien, ist
falsch. Bluebox-Maßnahmen unterliegen nicht der Friedenspflicht nach Marrakesch. Bluebox-Maßnahmen werden sicherlich in die Diskussion mit hereinkommen; das
gebe ich Ihnen gerne zu. Aber zu sagen, dass es nicht möglich wäre, mit Bluebox-Maßnahmen zu arbeiten, ist
falsch. Ich will Ihnen auch sagen, Frau Künast: Wenn Sie
schon davon sprechen, sagen Sie bitte den Bauern in Ostdeutschland, in welcher Art und Weise Sie eine Kappungsgrenze anerkennen würden. Sie haben gesagt: So,
wie die Kappungsgrenze im Moment dort steht, wird sie
von uns nicht anerkannt. Sagen Sie uns bitte, in welcher
Art und Weise Sie das machen wollen.
Wenn Sie den Unterschied zu uns kennen lernen wollen: Der besteht darin, dass wir uns vorstellen und wissen,
dass die bäuerlichen Betriebe bei uns in Deutschland
Wirtschaftsbetriebe sind, die Rahmenbedingungen brauchen, um wirtschaften zu können, um Eigenkapital zu bilden und um Investitionen zu tätigen. Sie sind nicht bereit,
diese Rahmenbedingungen den wirtschaftenden Betrieben bei uns zu geben.
({9})
Wenn Sie von Verbraucherschutz sprechen, frage ich
mich: Was hat es eigentlich mit Verbraucherschutz zu tun,
dass sich bei uns die Importe von Nahrungsmitteln - auch
von Weizen, zum Beispiel aus der Ukraine und aus Russland - in den letzten Jahren verzehnfacht haben? Was haben die jetzigen Weizenpreise und Milchpreise mit Verbraucherschutz zu tun? Sie haben in der Debatte zum
Agrarbericht immer davon gesprochen, die guten Preise
aus dem letzten Jahr wären der Künast-Effekt. Meine Damen und Herren, 8,50 Euro für den Doppelzentner Weizen
sind der Künast-Effekt. Die schlechten Preise bei der Milch
sind der Künast-Effekt. Wenn sich Frau Künast dann auch
noch hier hinstellt und für 5 bis 6 Millionen Tonnen Importweizen aus der Ukraine wirbt, dann muss ich sagen:
Das hat mit Verbraucherschutz überhaupt nichts zu tun.
({10})
Es hat nichts mit Verbraucherschutz zu tun, wenn wir
die Ansprüche höher schrauben und Importe wie Erdbeeren aus Spanien und Argentinien oder Putenfleisch aus
Brasilien und Thailand diese unterlaufen. Verbraucherschutz ist unteilbar.
Hier könnten Sie klatschen. Das ist das, was Uwe
Bartels, SPD-Landwirtschaftsminister in Niedersachsen,
vorgestern auf dem Bauerntag in Münster gesagt hat. Ich
finde, er hat Recht.
({11})
Er hat hinzugefügt: Zu keiner Zeit waren die Qualität und
die Sicherheit von Lebensmitteln so hoch wie heute bei
uns. Auch darin hat er Recht, auch dazu könnten Sie,
meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen,
Applaus spenden.
({12})
Wir werden die Agrarpolitik wieder in vernünftige
Bahnen lenken
({13})
und wollen dafür sorgen, dass diejenigen, die Agrarpolitik betreiben, auch etwas davon verstehen.
({14})
Seitdem Sie, Frau Künast, das Ministerium führen, bin ich
zutiefst davon überzeugt, dass ein wenig Sachverstand
nicht schaden würde.
({15})
Deswegen wollen wir zur Erhaltung der flächendeckenden Landwirtschaft dafür sorgen, dass unsere Betriebe wieder Perspektiven erhalten. Wir wollen den Stellenwert der Agrarpolitik wieder erhöhen. Das hat nicht nur
damit zu tun, dass wir im Landwirtschaftsministerium das Ministerium wurde von der SPD aufgegeben - etwas
tun wollen, sondern wir wollen auch die Rückendeckung
des Bundeskanzlers. Diese ist jetzt nicht vorhanden.
({16})
Wenn ein Bundeskanzler sagt: „Warum sollen wir uns um
euch kümmern, ihr wählt uns ja doch nicht“, dann nimmt
er die Aufgaben, die er als Bundeskanzler hat, nicht wahr.
({17})
Peter H. Carstensen ({18})
Wir werden dafür sorgen, dass Ihre unsinnigen Modulationsvorstellungen - in Rheinland-Pfalz führen sie dazu,
dass 800 000 DM in die Kasse des Landes kommen, aber
1,3 Millionen DM für Verwaltungsaufwand verbraucht
werden, und in Bayern kommen 8 Millionen in die Kasse,
wobei Bayern schon 800 Millionen DM für den Naturschutz im landwirtschaftlichen Bereich ausgegeben hat nicht fortgeführt werden.
Herr Kollege
Carstensen, achten Sie bitte auf die Redezeit, Sie haben
sie schon um eine Minute überschritten.
Ich
könnte noch lange reden, aber ich will mich daran halten,
Frau Präsidentin.
Das tun Sie dann
auf Kosten Ihrer Kollegen aus der eigenen Fraktion.
Ich
könnte das insbesondere deswegen, weil Sie zu denjenigen gehören, Frau Präsidentin, die früher einmal im
Agrarausschuss gewesen sind und sicherlich ein Interesse
an diesem Thema haben.
Ich bitte Sie,
mich nicht zu bestechen. Ich muss bei der Redezeit korrekt bleiben.
Wir
wollen dafür sorgen, dass die Agrarpolitik wieder den
richtigen Stellenwert in der Politik bekommt. Wir wollen
den Bauern eine Zukunftsperspektive geben. Das kann
mit Frau Künast nicht laufen.
Herzlichen Dank.
({0})
Wir sind damit
am Schluss dieses Debattenabschnitts und kommen zur
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU
auf Drucksache 14/9945 mit dem Titel „Klarheit über
finanzielle Situation in der gesetzlichen Renten- und
Krankenversicherung vor der Bundestagswahl schaffen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP abgelehnt worden.
Wir setzen die Haushaltsberatungen mit den Geschäftsbereichen des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fort. Das Wort hat
zunächst die Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Herren und Damen! Bildung und Forschung
spielen die wichtigste Rolle für unsere Zukunft. Wir sind
1998 angetreten, um den heillosen Rückstand und die
Mittelkürzungen wieder wettzumachen, die Sie, meine
Damen und Herren von der Opposition, in 16 Jahren verursacht hatten.
({0})
Bei Ihnen, meine Herren und Damen von der Union
und der FDP, ist der Schlingerkurs aus der Vergangenheit
nach wie vor Programm. Wo diese Bundesregierung entschlossen handelt, gehen Sie weiterhin einen Schritt nach
vorn und sofort wieder zwei Schritte zurück. Mit genau
dieser Gangart haben Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit in der Bildungs- und Forschungspolitik jeden
Fortschritt verhindert. Sie haben viel von Zukunft geredet, gleichzeitig aber mit Ihrer Politik die Zukunft unseres Landes gefährdet.
({1})
Sie haben Innovationen angekündigt, stattdessen aber einen gewaltigen Reformstau verursacht. Sie haben Investitionen versprochen, stattdessen aber den Etat für Bildung
und Forschung wirklich in Grund und Boden gestampft.
Damit aber haben wir seit 1998 endlich Schluss gemacht.
({2})
Diese rot-grüne Bundesregierung hat mit einem beispiellosen Kraftakt den Etat für Bildung und Forschung Jahr
für Jahr erhöht. Allein im kommenden Jahr werden
9,3 Milliarden Euro für Bildung und Forschung zur Verfügung stehen.
({3})
Seit dem Regierungswechsel haben wir die Ausgaben um
fast 30 Prozent erhöht. Dies sind mehr als 2 Milliarden
Euro zusätzlich. Dies ist eine zukunftsorientierte Politik.
Dies ist eine Politik, die sich dadurch auszeichnet, dass
nicht nur geredet, sondern wirklich gehandelt wird.
({4})
Nachhaltigkeit ist für uns ein Leitfaden für alle Politikbereiche. Es geht eben nicht, dass wir auf Kosten unserer Kinder leben. Deshalb haben wir den Marsch in den
Schuldenstaat gestoppt, gleichzeitig in Bildung und Forschung investiert
({5})
und damit diesen Politikbereich endlich wieder in das
Zentrum der Politik gerückt. Wir haben mit einer Politik
Schluss gemacht, in der Bildung und Forschung unter
„ferner liefen“ gelandet waren. Dies war bei Ihnen leider
der Fall. Dies hat sich seit 1998 endlich wieder geändert.
({6})
Frau Flach, auch die FDP hat 16 Jahre lang bei der Politik mitgemacht,
({7})
Bildung und Forschung unter „ferner liefen“ zu behandeln,
({8})
Peter H. Carstensen ({9})
diesen Etat systematisch zu kürzen und in Grund und Boden zu fahren. Dafür tragen Sie genauso wie die CDU Verantwortung. Sie haben mitgemacht.
({10})
Wer morgen Innovationen will, der muss heute für das
kreative Potenzial der Menschen sorgen, der muss dafür
sorgen, dass dieses kreative Potenzial wirklich geweckt
wird, der muss vor allen Dingen für mehr Menschen bessere Bildungschancen schaffen, und zwar gerade auch
für junge Menschen aus ganz normalen Arbeiter- und Angestelltenfamilien. Für unser Land sind gut ausgebildete
Menschen so wichtig wie die Luft zum Atmen.
({11})
Wir haben dies verstanden und deshalb 1998 eine Politik
begonnen, die die Voraussetzungen dafür schafft, dass die
Menschen in unserem Land endlich eine gute, eine bessere Bildung und Ausbildung erhalten. Dies gilt - das sage
ich ganz klar - für eine Berufsausbildung genauso wie für
eine akademische Ausbildung.
({12})
Der Mensch beginnt nicht erst beim Abitur. Hier zählen
aber nicht nur Worte, sondern auch Taten. Deshalb haben
wir mit dem JUMP-Programm und dem Ausbildungskonsens die Jugendlichen von der Straße geholt, die in den
Jahren Ihrer Regierungsverantwortung keine Chance auf
berufliche Ausbildung hatten.
({13})
Ich habe nicht vergessen, dass wir 1998 1,3 Millionen
junge Menschen ohne Ausbildung hatten, die keine Zukunft, die keine Chance hatten.
({14})
Wir haben diesen Jugendlichen wieder eine Chance gegeben. Ich finde, das war richtig. Die jungen Leute haben sie
auch genutzt. Über 450 000 junge Leute haben diese
Chance genutzt.
({15})
Wenn ich von der CSU höre, Frau Flach, dass Herr
Stoiber sagt, das sei Aktionismus, dann kann ich dazu nur
sagen: Einem Menschen, dem es egal ist, ob diese jungen
Leute im Abseits stehen oder nicht, will ich meine Zukunft nicht in die Hand legen. Ich bin davon überzeugt,
dass dies auch viele andere Menschen in unserem Land
nicht wollen.
({16})
Wir schaffen die Berufe von morgen. Eine gute Berufsausbildung nutzt beiden Seiten: Sie nutzt den jungen
Menschen, für die eine gute Berufsausbildung einen erfolgreichen Start ins Berufsleben darstellt, und sie nutzt
den Unternehmen, weil sie nur über eine gute Berufsausbildung an die Fachkräfte kommen, die sie benötigen.
({17})
Deshalb haben wir in den letzten vier Jahren 56 Ausbildungsordnungen modernisiert und 18 neue Berufe in wachsenden Beschäftigungsfeldern geschaffen. 70 000 neue
Ausbildungsplätze allein in IT-Berufen zeigen, dass diese
Politik greift.
({18})
Wir haben es in den Jahren 2000 und 2001 geschafft,
dass alle Jugendlichen in Deutschland einen Ausbildungsplatz erhalten haben. Das muss uns auch in diesem
Jahr wieder gelingen.
({19})
Dazu darf man sich aber nicht einfach hier hinstellen, so
wie Sie das jetzt wieder tun, und fragen, wo die Ausbildungsplätze denn sind. Ich gehe in die Betriebe und fordere sie auf, dass sie Ausbildungsplätze bereitstellen. Ich
frage nicht nur, wo die Ausbildungsplätze sind, sondern
gehe auch in die Betriebe. Ich erwarte von jedem einzelnen Kollegen hier in diesem Parlament, nicht nur Fragen
zu stellen, sondern zu handeln.
({20})
Auch beim neuen Meister-BAföG verstehe ich nicht,
meine sehr geehrten Herren und Damen von der Opposition, warum Sie hier nur meckern und mosern.
({21})
Sie haben in der ersten Hälfte der 90er-Jahre das MeisterBAföG abgeschafft. Weil das Land Niedersachsen und
andere Länder gegen die Abschaffung protestiert haben,
haben Sie ein Flickwerk verabschiedet, das zu dem Ergebnis geführt hat, dass die Leistungen nicht in Anspruch
genommen wurden. Wir haben dieses Gesetz endlich wieder auf gesunde Füße gestellt - mit Erfolg. Denn die Zahl
derjenigen, die dieses Gesetz in Anspruch nehmen wollen, die Nachfrage nach diesem neuen, echten MeisterBaföG, ist allein im ersten Halbjahr 2002 im Vergleich
zum Vorjahreszeitraum um 145 Prozent gestiegen. Das
zeigt: Diese Reform ist ein Erfolg.
({22})
Meine sehr geehrten Herren und Damen, ein exportorientiertes Hightechland wie Deutschland braucht aber
nicht nur gut ausgebildete Fachkräfte, sondern auch mehr
und besser ausgebildete Hochschulabsolventen. Heute
können wieder alle begabten jungen Menschen studieren,
auch wenn ihnen keine goldene Kreditkarte in die Wiege
gelegt wurde.
({23})
Dafür haben wir mit der BAföG-Reform, mit der Einführung von Bildungskrediten und dem Verbot von StuBundesministerin Edelgard Bulmahn
diengebühren für das Erststudium gesorgt. Das war dringend notwendig, nachdem Sie, meine Herren und Damen
von der Opposition, über Jahre hinweg das BAföG in
Grund und Boden gewirtschaftet haben.
({24})
Wir haben es mit diesem BAföG geschafft, dass heute
wieder rund 150 000 Schülerinnen und Schüler sowie
Studierende BAföG erhalten und dass die Studierendenquote in vier Jahren um 5 Prozent gestiegen ist. Das müssen Sie erst einmal nachmachen. Dazu werden Sie aber
die Chance nicht bekommen, weil wir unsere Arbeit fortsetzen werden. Das ist auch die Erfolgsgarantie.
({25})
Wer heute die Einführung von Studiengebühren fordert, so wie das die CDU tut, der schreckt nicht nur junge
Leute vom Studium ab, sondern der will auch keine breite
Bildungselite. Der will eben keine Leistungselite, sondern
eine elitäre Bildung für Wenige.
({26})
Mit uns wird es deshalb keine Studiengebühren für das
Erststudium geben. Das ist im Gesetz so festgeschrieben.
Mit uns bleibt das auch so.
({27})
Nach Jahren des Stillstands bewegt sich an unseren
Hochschulen endlich wieder etwas. Das ist wirklich zu
spüren. Wir haben den Innovationsstau beim Hochschulbau aufgelöst. Mehr als 1 500 Bachelor- und Masterstudiengänge machen Deutschland heute wieder zu einem
weltweit attraktiven Studienstandort. Wir haben die Mittel für den wissenschaftlichen Nachwuchs um mehr als
35 Prozent aufgestockt. Auf neu eingerichteten Juniorprofessuren können junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jetzt auch in Deutschland endlich selbstständig lehren und forschen, das was sie in anderen Ländern
schon seit langem konnten. Unsere Hochschullehrerinnen
und -lehrer werden endlich nach Leistung bezahlt. Wem
zu all dem nichts anderes einfällt, außer zu sagen, er wolle
Studiengebühren und die Habilitation wieder einführen,
dem muss ich sagen: Er hat nicht begriffen, worum es an
unseren Hochschulen eigentlich geht.
({28})
Der schert im Übrigen nicht nur aus der internationalen
Gemeinschaft aus, der will auch noch zurück ins vorletzte
Jahrhundert. Das ist mit uns nicht zu machen.
({29})
Um die Zukunft unseres Landes geht es bei der Neuausrichtung der Forschungspolitik. Forschung für den
Menschen, Forschung für Innovation und Wachstum, Forschung für wirtschaftliche Stärke und für zukunftssichere
Arbeitsplätze, das sind die Ziele dieser Bundesregierung.
Deshalb stärken wir die kleinen und mittleren Unternehmen. Allein die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen, die durch mein Ministerium gefördert werden, ist
von 1998 bis 2002 von 55 auf 65 Prozent gestiegen. Die
Fördersumme, die diese Unternehmen erhalten, ist sogar
um 35 Prozent gestiegen. Auch da ist klar: Wir handeln,
Sie reden.
({30})
Die Mittel für die Gesundheitsforschung und Krankheitsbekämpfung durch Genomforschung haben wir verdoppelt. Vor allen Dingen haben wir dafür gesorgt, dass
neue Forschungsergebnisse schneller in die Arztpraxen und
zu den Patienten kommen. Es war die rot-grüne Bundesregierung, die dafür gesorgt hat, dass Deutschland in der
Biotechnologie heute zur Weltspitze gehört und in Europa
führend ist. Letztes Jahr überstieg der Umsatz der deutschen Biotechnologieunternehmen erstmals die 1-Milliarde-Euro-Marke.
({31})
Das Wachstum lag bei über 35 Prozent. Hören Sie endlich
auf, den Standort Deutschland schlecht zu reden.
({32})
Deutschland ist ein innovationsfreudiges Land. Das soll
es auch bleiben.
Das gilt im Übrigen auch für die Umwelttechnologie,
einen Bereich, den Sie in Ihrer Regierungszeit immer vernachlässigt haben. Heute sind wir in Deutschland bei Forschung und Entwicklung der Vorreiter.
({33})
Hier haben wir richtig geklotzt und die Mittel für umweltgerechte nachhaltige Entwicklung seit 1998 um fast
30 Prozent erhöht.
({34})
Die Hochwasserkatastrophe hat uns noch einmal sehr
deutlich gezeigt, wie wichtig gerade dieses Forschungsfeld ist.
Wir konzentrieren uns darauf, die Innovationskraft gerade und besonders in den neuen Ländern zu stärken. Unsere Forschungsoffensive Ost ist ein ganz wichtiger Impulsgeber für Wirtschaftskraft und neue Arbeitsplätze. Sie
sorgt nicht nur dafür, dass neue Unternehmen entstehen,
sondern auch dafür, dass kleine Unternehmen wachsen
können. Mit dieser Forschungsoffensive Ost haben wir in
den letzten vier Jahren längst das erreicht, was die
CDU/CSU in ihrem Programm noch immer ankündigt.
Alleine für Inno-Regio haben wir die Mittel für 2003 gegenüber diesem Jahr mehr als verdoppelt. Wir reden also
nicht nur vom Aufbau Ost, wir tun auch etwas dafür.
({35})
Aus meinem Haushalt werden knapp 2 Milliarden Euro in
den neuen Bundesländern investiert,
({36})
also das Doppelte dessen, was Sie fordern. Dazu kann ich
nur sagen: Jeder weiß nun, wie er sich entscheiden muss.
({37})
An dieser Stelle möchte ich auf einen Punkt zu sprechen kommen, der mir besonders am Herzen liegt. Wenn
wir unser Land noch weiter nach vorne bringen wollen,
dann brauchen wir auch eine umfassende Reform unseres
Schulsystems. Die Ergebnisse der PISA-Studie zeigen,
dass wir nicht so weitermachen können wie bisher.
({38})
Wir brauchen eine neue Schulkultur. Wir brauchen
Schulen, die mitten im Leben stehen.
({39})
Man kommt dabei nicht mit Kirchturmspolitik weiter. Vor
allen Dingen kommt man nicht weiter, wenn man sich
selbstgefällig auf die Schulter klopft.
({40})
Kein einziges Bundesland hat Grund, sich selbstgefällig
auf die Schulter zu klopfen. Wer das noch immer tut, Herr
Rachel, der hat den Ernst der Lage wirklich nicht begriffen.
({41})
Unser Ziel ist es, dass wir die bestmögliche Bildung für
alle Kinder in unserem Land erreichen. Wir wollen, dass
alle Kinder in allen Bundesländern die gleichen Bildungschancen bekommen. Deshalb brauchen wir eine nationale
Kraftanstrengung, so wie ich das seit Monaten und Jahren
immer wieder fordere. Wir brauchen keine sächsische
oder niedersächsische Mathematik, sondern wir brauchen
bundesweite Leistungs- und Bildungsstandards,
({42})
die für alle Bundesländer gleichermaßen gelten und verbindlich sind. Wer sich hier verweigert, der schadet nicht
nur unserem Land, sondern der verbaut auch unseren Kindern die Chance auf eine gute Zukunft.
Die Bundesregierung stellt für die Einrichtung von
Ganztagsschulen 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Damit
geben wir eine wichtige und wirksame Antwort auf die entscheidenden Schwächen unseres Schulsystems, nämlich
die zu geringe individuelle, frühe Förderung von Kindern.
Genau das können wir mit Ganztagsschulen besser leisten.
({43})
Genau deshalb handeln wir so. Deshalb haben wir beschlossen, nicht über Zuständigkeiten zu diskutieren, sondern wir packen an. Deshalb haben wir angekündigt, dass
wir - obwohl es eine riesige Kraftanstrengung ist - 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, und wir können im
nächsten Jahr beginnen.
({44})
Ich sage aber auch deutlich: Mehr Ganztagsschulen wird
es nur mit uns geben,
({45})
weil die CDU wieder nicht weiß, was sie will. Der eine
sagt Ja, der andere Nein. Das ist wieder das typische Hü
und Hott.
Meine sehr geehrten Herren und Damen, Deutschland
steht am Scheideweg. Am 22. September wird entschieden: Wollen wir die alten Rezepte und die alten Männer,
die 16 Jahre lang nicht funktioniert haben, wieder ausgraben oder wollen wir, dass der Reformmotor weiter läuft?
Wollen wir das ergebnislose Hickhack in der Schulpolitik
fortsetzen oder wollen wir unseren Kindern wirklich die
bestmögliche Bildungspolitik bieten?
({46})
Wollen wir zulassen, dass Innovation und Kreativität in
unserem Land wieder kaputtgespart werden
({47})
oder wollen wir weiter in die Zukunft investieren?
Diese Bundesregierung steht für Investitionen in Bildung und Forschung.
({48})
Sie steht für eine exzellente Forschung und sie steht auch
dafür, dass alle Menschen in unserem Land eine hervorragende, wenn nicht die beste Chance auf eine gute Bildung haben.
({49})
Vielen Dank.
({50})
Das Wort hat
jetzt die Frau Ministerin für Wissenschaft, Forschung und
Kunst des Landes Thüringen, Frau Professor Schipanski.
Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin ({0}) ({1}): Meine sehr verehrte
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Haushaltsdebatten werden gemeinhin als Sternstunden des Parlaments bezeichnet. Deshalb habe ich eben mit
viel Interesse diese Sternstunde für die deutsche Bildungsforschung bzw. für die Bildung und Forschung verfolgt.
({2})
Die Bundesregierung hat die Bedeutung dieser Bereiche immer wieder betont - das ist richtig -, aber ich
meine, dass die Ergebnisse doch ein wenig anders aussehen, als sie uns dargestellt worden sind.
({3})
Beginnen wir mit dem Hickhack der Bildungspolitik,
das eben angeführt worden ist.
({4})
Die Ergebnisse der PISA-Studie sind uns allen wohl bekannt. Sie waren ein heilsamer Schock für Deutschland,
wie ich feststellen konnte, und haben die Bildungspolitik
in den Fokus der Öffentlichkeit gebracht, was ich außerordentlich begrüße. Ich meine, die Ergebnisse dieser Studie haben den Ruck ausgelöst, den Roman Herzog seinerzeit in seiner Rede gefordert hat.
({5})
Aber jetzt kommt es darauf an, konkrete Schritte zu unternehmen.
({6})
Immer neue Studien und Gremien, die gefordert werden,
führen uns nicht weiter. Denn wir haben in Deutschland
keinen Erkenntnisstau, sondern einen Entscheidungsstau
gehabt.
({7})
Diesen Entscheidungsstau haben die Kultusminister der
Länder sofort erkannt
({8})
und sie haben Bildungsstandards beschlossen. Die unionsgeführten Länder haben Bildungsstandards vorgelegt,
nämlich die Bildungsstandards, die Sie eben wieder gefordert haben, Frau Bulmahn. Sie werden zurzeit bearbeitet und es gibt einen Plan, wann sie in den nächsten Jahren in den einzelnen Ländern eingeführt werden.
({9})
Hinzu kommt, dass Sie eben gesagt haben, Sie gäben
uns 4 Milliarden Euro zum Ausbau von Ganztagsschulen.
({10})
Das sind Wahlgeschenke, die von Ihrer verfehlten Finanzund Steuerpolitik ablenken sollen.
({11})
Wir fordern die Bundesregierung auf, Länder und
Kommunen finanziell so auszustatten, dass diese ihre ureigenen Aufgaben im Schul- und Kulturbereich erfüllen
können und nicht in den Ruin getrieben werden.
({12})
Selbstverständlich werden wir mit der Bundesregierung
über die 4 Milliarden Euro reden,
({13})
aber entscheidend ist nicht die Ganztagsschule in ihrer
Struktur, sondern der Inhalt, der dort gelehrt wird.
({14})
Den ganzen Tag in einer schlechten Schule - da lernt man
sehr viel! Wir müssen zuerst die Qualität verändern. Das
werden wir mit unseren Bildungsstandards auch tun.
Dazu brauchen wir weder die Aufforderung der Bundesregierung noch eine Kopplung der Bundesregierung oder
ein neues Institut.
({15})
Ich möchte Sie nur an die Ergebnisse der PISA-Studie
erinnern. Bei dieser Studie haben Bayern, BadenWürttemberg, Sachsen und Thüringen gut abgeschnitten.
Die Schlusslichter bilden Mecklenburg-Vorpommern,
Bremen und Brandenburg. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen Punkt besonders hinweisen: Die
neuen Bundesländer haben in den letzten zehn Jahren
durch Umstrukturierung ein neues Schulsystem geschaffen. Wie sieht es heute aus? Selbst nach zehn Jahren der
Umstrukturierung merken Sie deutlich, dass die unionsgeführten Länder vorne stehen und dass die SPD-geführten und die unter PDS-Beteiligung regierten Länder die
Schlusslichter in der Rangliste sind.
({16})
Zwischen den Schülern, die in Bayern lernen - der Freistaat ist Spitzenreiter unter den deutschen Bundesländern -, und den Schülern, die in Bremen lernen, besteht ein
Bildungsunterschied, der sich in anderthalb bis zwei
Schuljahren ausdrücken lässt. Das können wir nicht akzeptieren. So geht es nicht. Tatsache ist aber, dass die
unionsgeführten Länder eine konsequente Politik in den
letzten Jahren gemacht haben.
({17})
Diese Politik zeichnete sich durch klare Werte und Überzeugungen aus. Wir von der Union betonen immer Leistung und Leistungsbereitschaft. Unsere Bildungspolitik
fordert nicht nur die Leistungsstärkeren, sondern fördert
auch die Leistungsschwächeren angemessen. Das Ergebnis unserer Politik hat sich in der PISA-Studie gezeigt.
({18})
Im Wahlprogramm 1998 hatte die SPD die Verdopplung der Investitionen in Bildung und Forschung angekündigt. Fakt ist: Der Plafond des BMBF wurde nur um
rund 20 Prozent erhöht.
({19})
Das ist durchaus ein positiver Ansatz, Frau Bulmahn.
Aber er bleibt deutlich hinter den Ankündigungen zurück
und weist nach wie vor gravierende Mängel auf. Zum Ersten wurde die Mittelsteigerung nur mithilfe einer verdeckten Kreditaufnahme erreicht. So werden die BAföGDarlehen inzwischen von der Deutschen Ausgleichsbank
gezahlt.
({20})
Zum Zweiten wäre dieses Ergebnis ohne die Erlöse aus
dem Verkauf der UMTS-Lizenzen nie erreicht worden; das
wissen wir alle. Die Bundesregierung hat sich aber bei diesem Verkauf auf Kosten der Länder profiliert; denn durch
die Abschreibungsmöglichkeiten der Telekommunikationsfirmen ist das Steueraufkommen der Länder dramatisch gesunken. Darunter leiden die Länder ganz besonders.
({21})
Ministerin Dr. Dagmar Schipanski ({22})
Was ist mit den UMTS-Erlösen gemacht worden? Befristet auf drei Jahre standen der Bundesbildungsministerin jährlich 300 Millionen zusätzlich zur Verfügung.
Diese Mittel wurden nahezu ausschließlich in große, prestigeträchtige Forschungsvorhaben investiert, die uns
eben vorgestellt worden sind. Auf der Strecke geblieben
ist dabei die Grundlagenforschung in denjenigen Bereichen, mit denen weniger Publicity erzielt werden kann als
mit Forschungsvorhaben in der Bio- und Gentechnologie
sowie mit der Umweltschutzforschung. Dabei wissen wir
alle, dass eine breite, fundierte Forschung in allen Bereichen Grundlage für einen modernen und innovationsfähigen Staat ist.
({23})
Schwerpunkte dürfen nicht so einseitig gesetzt werden,
wie Sie es getan haben.
({24})
Was nutzen 65 Millionen Euro für einige wenige Spitzenforscher aus dem Ausland, wenn die Anschlussbedingungen von den Ländern finanziert werden müssen? Es wäre
viel besser, wenn wir strukturelle Voraussetzungen in
Deutschland schaffen würden, damit unsere Wissenschaftler dauerhafte Stellen vorfinden.
({25})
Herr Kollege
Tauss!
Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin ({0}):
Das war eben ein Beispiel, Herr Tauss. Offenbar haben
Sie nicht zugehört.
Der Faktenbericht zum Bundesbericht Forschung 2002
belegt, dass die Ausgaben für andere richtungsweisende
Forschungsfelder wie die Weltraumforschung, die Fusionsforschung und die Kernenergieforschung gekürzt oder eingefroren und damit real gesenkt wurden. Das Einschränken
der Forschung über die Strahlungssicherheit, meine sehr
verehrten Damen und Herren von den Koalitionfraktionen,
ist eine Unterlassungssünde gegenüber den kommenden
Generationen. Wir wollen nicht mehr wissen, wie wir besser entsorgen können und was wir in diesem Bereich anders
machen sollen. Es gibt ganz neue Forschungsfelder, in den
Werkstoffwissenschaften zum Beispiel. Dort könnten wir
eine Verbindung zur Kernforschung herstellen. Das sind
neue Möglichkeiten, über die man gar nicht nachgedacht
hat. Man hat die Mittel abgesenkt.
({1})
Der von der Bundesregierung beschlossene Ausstieg
aus der Kernenergie führt dazu, dass Deutschland seinen
großen technologischen Vorsprung auf diesem Gebiet
über kurz oder lang verlieren wird.
({2})
Die sichersten Kernkraftwerke der Welt werden abgeschaltet, während wir von unzuverlässigen Kraftwerken
umgeben sind. Wir leben in einer globalisierten Wirtschaft und Wissenschaft. Eine Bundesregierung, die immer wieder betont, wie modern sie ist - wir sehen es jetzt
jeden Tag an den Straßen -, müsste wissen, dass man in
einer globalisierten Welt keine Alleingänge unternehmen
kann.
({3})
Gerade in den letzten Monaten ist das Ansehen rotgrüner Forschungspolitik rapide gesunken;
({4})
denn schließlich hat die Bundesregierung der deutschen
Wissenschaft nicht nur ab und zu mehr Geld, sondern
auch eine Flut neuer Vorschriften beschert, die die Freiheit von Wissenschaft einengt.
({5})
Der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft
stellte dazu in einer Überschrift in der „Zeit“ fest: „Wir
verjagen unsere Forscher.“ Sein Nachfolger stellte bei
der Amtsübergabe nüchtern fest: „Wir haben im internationalen Vergleich viel zu restriktive Gesetze.“ Nahezu
gleichlautend äußerte sich der Präsident der Deutschen
Forschungsgemeinschaft: Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Forschung in Deutschland seien verschlechtert worden.
({6})
Eine solche Politik verpasst nicht nur viele Zukunftschancen, sie beschädigt auch das Ansehen und die Anziehungskraft Deutschlands in der internationalen Wissenschaftlergemeinschaft.
({7})
Lassen Sie mich zum Haushalt zurückkommen. Die
Differenz zwischen Wahlversprechen und Wirklichkeit
fällt noch größer aus, wenn man berücksichtigt, dass im
Haushalt des BMBF nur rund zwei Drittel der Forschungsmittel des Bundes veranschlagt sind. In anderen
Bereichen, in denen Forschung vom Bund finanziert wird,
im Technologiesektor zum Beispiel, ist fast unbemerkt
gekürzt worden. Der Bund hat in dieser Legislaturperiode
die Ausgaben für Forschung und Entwicklung mal gerade
um magere 10 Prozent erhöht, eigentlich also nur die
Geldentwertung ausgeglichen. Von einer Verdoppelung
der Mittel keine Spur.
({8})
Noch eines, meine Damen und Herren Abgeordnete:
Frau Bulmahn hat eben so hervorgehoben, was sie für die
neuen Länder getan hat. Die neuen Länder sollten Chefsache des Bundeskanzlers sein. Gemerkt haben wir davon
nichts.
({9})
Die Schere zwischen Ost und West geht weit auseinander.
({10})
Ministerin Dr. Dagmar Schipanski ({11})
Dies ist natürlich zuerst ein ökonomisches Problem. Es ist
aber auch ein psychologisches Problem; denn ohne rasche
Angleichung der Lebensverhältnisse werden wir die innere Einheit Deutschlands eben nicht vollenden können.
Ministerpräsident Bernhard Vogel hat schon vor einem
Jahr ein Sofortprogramm für die neuen Länder im Umfang von rund 20 Milliarden Euro für die nächsten Jahre
gefordert und wir haben auch Deckungsvorschläge dazu
gemacht.
({12})
Wir haben fünf konkrete Projekte ausgearbeitet, mit denen die Infrastruktur in den neuen Ländern ausgebaut
werden sollte. Wir haben unter anderem die Bildung von
Kompetenz- und Innovationszentren für die Forschung
vorgeschlagen. Nach wie vor, Frau Bulmahn, verfügen
die neuen Länder über zu wenig Großforschungseinrichtungen und über zu wenig Institute, die vom Bund anteilig finanziert werden.
({13})
Die Forschungsabteilungen der großen Unternehmen
befinden sich überwiegend in den alten Ländern. Die
Bundesregierung hat durch Kürzungen und Haushaltssperren im Bereich des Wirtschaftsministeriums die aus
den Forschungsabteilungen der DDR-Kombinate hervorgegangenen Forschungs-GmbHs nachhaltig geschwächt.
Das ist durch die Förderung, die Sie jetzt für die KMUs
geben, nicht aufzuholen. Wir brauchen überhaupt erst einmal kleine und mittelständische Betriebe, die gefördert
werden können. Jetzt sind unsere kleinen und mittelständischen Betriebe von Insolvenzen bedroht. Da nützt Ihre
Förderung nichts mehr.
({14})
Was nützt es uns in den neuen Bundesländern, wenn
ein Teil der UMTS-Erlöse zur Förderung von Forschung
und Technologie eingesetzt wurde, die Voraussetzungen
zur Teilnahme an diesem DFG-Schwerpunktprogramm
aber so hoch angesetzt worden sind, dass am Ende keines
dieser hoch dotierten Projekte in die neuen Länder ging?
Im Übrigen ist bis heute noch nicht festgelegt, ob diese
Projekte weitergeführt werden können. Das heißt, wir
brauchen in den neuen Bundesländern nicht nur eine Projektförderung, sondern vor allem strukturelle Hilfen.
({15})
Außerdem brauchen wir Unterstützung, damit unsere jungen Nachwuchswissenschaftler bei uns bleiben. Wir brauchen diese Innovationszentren, damit sie bei uns Arbeitsplätze finden und nicht in die alten Bundesländer oder ins
Ausland gehen müssen. Dauerhafte Arbeitsplätze müssen
wir schaffen, nicht nur vorübergehende Arbeitsmöglichkeiten im Rahmen von Projekten.
({16})
Frau Ministerin,
ich darf Sie zwar nicht unterbrechen, aber ich möchte Sie
darauf hinweisen, dass Sie jetzt schon vier Minuten im
Regime Ihrer nächsten Rednerin sind.
Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin ({0}):
Dann komme ich zum Ende.
Meine Damen und Herren, Bildung, Wissenschaft und
Forschung sind die Voraussetzungen für ein modernes,
wirtschaftlich stabiles und innovationsfähiges Deutschland.
({1})
Die Bundesregierung hat es verpasst, dafür dauerhafte
Voraussetzungen zu schaffen. Die Union hat in ihrem Regierungsprogramm klare Alternativen aufgezeigt. Wir
sind verlässliche Partner für Wissenschaft und Forschung.
Das werden wir Ihnen beweisen.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Der Haushalt, den uns Ministerin Bulmahn
vorlegt, sieht eine Steigerung von 2,6 Prozent vor. Wenn
Sie die Zahlen zusammen mit denen des Wirtschaftsministeriums ein bisschen schönrechnen,
({0})
kommen Sie über die vier Jahre auf ein Plus von 28 Prozent. Meine Stärke war nie die Mathematik, aber 100 Prozent sind es nun wirklich nicht, Frau Bulmahn. Das heißt,
wir müssen am Ende Ihrer Regierungszeit konstatieren,
dass Sie 100 Prozent versprochen, aber nur 28 Prozent gehalten haben. Das ist entschieden zu wenig.
({1})
In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch international vergleichen. Bei den Bildungsausgaben liegen
wir nach wie vor deutlich unter dem OECD-Durchschnitt; bei den Bruttoinlandsausgaben für Forschung
und Entwicklung werden die Abstände zu den USA und
Japan sogar von Tag zu Tag größer.
({2})
Bei uns sind es 2,4 Prozent, bei den Amerikanern 2,6 Prozent und in Japan 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Dabei sind für uns als stark exportabhängige Nation Forschung
und Entwicklung natürlich von besonderer Bedeutung.
({3})
Bei uns ist jeder dritte Arbeitsplatz vom Export abhängig,
in Japan nur jeder siebte. Wir müssten also international
bei Forschung und Entwicklung mindestens gleichziehen;
Ministerin Dr. Dagmar Schipanski ({4})
dies gilt gerade vor dem Hintergrund der derzeit stark einbrechenden Exportzahlen.
({5})
Frau Bulmahn, Sie haben beim Etat etwas dazugelegt.
({6})
Aber auch hier gilt: Geld allein macht, wie wir alle wissen, nicht glücklich. Es muss effizient und mit einem
Konzept eingesetzt werden. Daran mangelte es bei Ihnen
in den gesamten vier Jahren.
({7})
Lassen Sie mich kurz auf das BAföG eingehen. Ich
habe noch gut in Erinnerung, Frau Bulmahn, wie Sie hier
angetreten sind und uns ein elternunabhängiges BAföG
versprochen haben.
({8})
Wir haben heute aber nur ein Plus von 40 Euro in der
Spitze. Wo sind da die Vergleichsmaßstäbe und wie kommen die Erfolgsmeldungen zustande, die Sie hier gerade
verbreitet haben?
({9})
Zur Frage eines effizienten Mitteleinsatzes nehme ich
ein Beispiel aus dem Hochschulbereich. Sie finanzieren aus
UMTS-Geldern Transferstellen zur Vermarktung von Entwicklungen der Hochschulen, ohne dass dafür - das sage
ich ganz deutlich - ein durchdachtes Konzept vorliegt.
({10})
Es reicht eben nicht aus, liebe Frau Bulmahn - gehen Sie
doch einmal in die Unis -, dass Büroräume und ein PC
vorhanden sind und dann eine Person dort sitzt, die wartet, bis jemand mit einem vermarktungsfähigen Produkt
hereinkommt.
({11})
- Genau das läuft derzeit in den Transferstellen ab. Das ist
nicht das, was wir unter offensivem Transfer verstehen.
Vielmehr bezeichnen wir diesen Einsatz deutscher Forschungsgelder als Gießkannenpolitik.
({12})
Das zweite Beispiel betrifft den Bereich Schule. Sie
wollen 4 Milliarden Euro für Ganztagsangebote ausgeben. Darin stimmen Ihnen die Liberalen natürlich zu, auch
wenn Sie gerade eben das Gegenteil behauptet haben.
Aber wo ist denn das pädagogische Konzept? Wie stellen
Sie sicher, dass sich die Länder nicht erst einmal bedienen, bevor sie Mittel weitergeben, zum Beispiel das Land
Nordrhein-Westfalen, das zurzeit an seinem Not leidenden Etat sozusagen zusammenbricht?
Genau dieser Punkt betrifft zurzeit die Not leidenden
Gemeinden, denen Sie nicht durch eine begleitende Gemeindefinanzreform die Luft geben, das Geld so einzusetzen, wie es sein müsste. Sie haben ihnen außerdem ein
Geschenk gemacht, das anschließend zusätzliche Kosten
in Höhe von 30 Prozent dieses Geschenkes verursachen
wird. Woher soll dieses Geld für die Ganztagsschulen
kommen?
({13})
Einen solchen Schritt hätte zwingend eine Gemeindefinanzreform begleiten müssen. Frau Bulmahn, es war ein
grober Fehler, dies zu unterlassen.
({14})
Wirkliche Qualitätsverbesserungen in der Bildung können nicht durch Geldsegen per Gießkanne erreicht werden,
sondern nur durch ein durchdachtes Konzept, das vor Ort
dauerhaft wirkt und langfristig finanziell gesichert ist.
({15})
Lassen Sie mich kurz nach links gucken und an die
Adresse von Frau Schipanski sagen - sie ist zwar gerade
in ein Gespräch mit Frau Professor Schuchardt vertieft -:
Leistungsstandards wollen wir natürlich alle. Sie äußerten
schon zum zweiten Mal hier im Deutschen Bundestag die
Meinung, die KMK habe in diesem Punkt schnell reagiert.
Bei aller Liebe, es ist für mich keine schnelle Reaktion,
bis 2004 bundeseinheitliche Qualitätsstandards für unsere
Schulen zu erreichen.
({16})
Damit sich der Bund stärker engagieren, damit er
Innovationen anstoßen und begleiten kann, haben wir, die
Liberalen, eine Bundesstiftung Bildung vorgeschlagen,
deren Modell sich an dem der Bundesstiftung Umwelt
orientiert. Das Stiftungskapital soll aus Privatisierungserlösen aufgebracht werden; aus den Zinserträgen sollen
Bildungsprojekte gefördert werden, zum Beispiel bei der
vorschulischen Bildung.
Ich sage es ganz explizit und deutlich: Die FDP will
Kindergärten und Kindertagesstätten zu Orten mit einem
ersten Bildungsauftrag aufwerten und Ganztagsschulen
ausbauen.
({17})
Damit streben wir selbstverständlich auch das Ziel an, die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern.
Die Erwerbsquote von Frauen ist bei uns im internationalen Vergleich zu gering, auch deshalb, weil wir dieser seit
Jahrzehnten am besten ausgebildeten Frauengeneration
nicht die Möglichkeit geben, ihren Beruf auszuüben und
gleichzeitig ihre Kinder in qualitativ hochwertigen Einrichtungen unterzubringen.
({18})
Zu diesem Thema gehört aber auch die Reform der Ausund Fortbildung. Da erwarte ich natürlich mehr als nur gute
Worte; dafür sind keinerlei Bundesmittel angekommen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch kurz
etwas zum JUMP-Programm sagen.
({19})
Das geht immer wunderschön durch die Medien, aber nicht
in dem Sinne, Frau Bulmahn, wie Sie das gerade wieder
dargestellt haben. Sehen Sie sich das an: „Deutlich mehr
Jugendliche auf Arbeitsuche“. Die durchschnittliche Zahl
jugendlicher Arbeitsloser ist höher als 1999. Das heißt, Sie
haben hier ein Programm auf die Schiene gesetzt, in dessen
Rahmen Sie ganz offensichtlich Menschen lediglich in
Qualifizierungsmaßnahmen hineinschubsen, ihnen aber
nicht den Weg zum ersten Arbeitsmarkt eröffnen.
({20})
Die FDP ist ja leider in ihrer Redezeit etwas beschränkt.
({21})
- Ich weiß, dass Sie das nicht bedauern, Herr Tauss. Spätestens nach PISA haben die Menschen erkannt, dass es in
Deutschland mit der Bildung nicht zum Besten steht. Die
Schuld hierfür - darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu muss natürlich in erster Linie bei den Ländern gesucht
werden. Aber selbstverständlich können Sie als Bund
auch Flagge zeigen. Das haben wir bei Ihnen in dieser Legislaturperiode vermisst.
({22})
Sie haben sich bei der härtesten Debatte dieser Wahlperiode, die sich mit der Stammzellforschung befasste,
bedeckt gehalten. Sie haben die Chance vertan, Bildung
als das Megathema dieses Jahrhunderts nach vorn zu bringen. Das BMBF ist bei Ihnen nach wie vor reiner Verwaltungsapparat. Wir Liberalen wollen ein Innovationsministerium; dafür werden wir kämpfen.
({23})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einzelplan 30 soll weiter anwachsen.
({0})
Ich erkenne an, dass Rot-Grün mit der jahrelangen Plünderung der Bildungs- und Forschungsausgaben unter der
Verantwortung von CDU/CSU und FDP tatsächlich
Schluss gemacht hat.
({1})
Im Jahre 2004 soll dieser aber um 2,8 Prozent gekürzt
werden.
({2})
Ich finde es unredlich, heute wahlkampfwirksam eine
weitere Steigerung des BMBF-Etats für 2003 zu präsentieren, die Pläne für massive Einschnitte ab 2004 aber
längst in der Schublade zu haben.
Frau Ministerin Bulmahn, vor vier Jahren sprachen Sie
noch von einer Verdoppelung der Bildungs- und Forschungsausgaben. Sie möchten unter dem Eindruck des
PISA-Schocks punkten. Das kann ich ja verstehen. Sie
haben die Hoffnung, dass niemand genauer hinsieht,
wofür das Geld ausgegeben wird. Ich habe genau hingesehen: Der Löwenanteil entfällt nach wie vor auf die Forschungs- und Technologieförderung. Allein über 7 Millionen Euro werden im Weltraum verpulvert. Die
Förderung umstrittener Vorhaben in der Genforschung
wird massiv aufgestockt. Die Ausgaben für die berufliche Bildung und für die Weiterbildung werden aber um
15 Prozent gekürzt. Das Sonderprogramm zur Schaffung
zusätzlicher Ausbildungsplätze in den neuen Ländern soll
innerhalb von vier Jahren auf weniger als die Hälfte
zurückgefahren werden, ohne dass sich die Ausbildungsplatzsituation in Ostdeutschland wirklich verbessert hätte.
Das halte ich für einen Skandal.
({3})
Ich habe ebenfalls kein Verständnis dafür, dass die
Bundesregierung die Ausgaben für den Hochschulbau
einfrieren möchte. Der Bund investiert bereits jetzt eine
viertel Milliarde Euro zu wenig in den Aus- und Neubau
von Hochschulen. Damit aber nicht genug. Mit den knappen Mitteln sollen in Zukunft auch noch Privathochschulen finanziert werden. Bund und Länder müssen der
Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau endlich den Stellenwert geben, den sie braucht.
Die PDS wurde für den Vorschlag, ein Bund-LänderSonderprogramm „Schuloffensive 2003 - 2006“ aufzulegen, mit Verweisen auf die Zuständigkeit der Länder
belächelt. Inzwischen macht der Bundeskanzler persönlich mit einem Bundesprogramm zur Finanzierung von
Ganztagsschulen Wahlkampf.
({4})
Persönlich erfüllt es mich ja mit etwas Genugtuung, dass
sich die Bundesregierung als beweglich erwiesen hat.
({5})
Schade nur, Herr Tauss, dass Wahlkampfversprechen und
politische Wirklichkeit etwas auseinander klaffen.
({6})
Statt der versprochenen Milliarden sind im Bundeshaushalt 2003 erst 300 Millionen Euro zu finden. Wie der
Kanzler damit 10 000 zusätzliche Ganztagsschulen finanzieren will, bleibt offensichtlich sein persönliches Geheimnis.
({7})
Meine Damen und Herren, bei den öffentlichen Investitionen in Bildung hat Deutschland im Vergleich zu anderen Industrieländern einen erheblichen Nachholbedarf.
Wenn wir die Finanzierung der Zukunftsaufgabe Bildung
nicht endlich sichern, wird Deutschland bei der nächsten
Studie auf dem letzten Platz landen. Es kann nur hilfreich
sein, den Entscheidungsstau in der Kultusministerkonferenz endlich aufzubrechen. Hier gebe ich meiner
Kollegin Frau Flach Recht. Ich hätte mir schon gewünscht, dass das nach so langer Zeit ein wenig schneller
geht und dass es nicht erst im Jahre 2004 beginnen soll.
({8})
Das Wort hat
jetzt Frau Bundesministerin Christine Bergmann.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Die letzten vier Jahre waren für die Familien in unserem
Land gute Jahre.
({0})
Wir haben Deutschland kinder- und auch familienfreundlicher gemacht. Wir haben gehandelt und den Reformstau
aufgelöst. Das kann man ziemlich gut belegen.
Wir haben die finanziellen Leistungen für Familien erhöht.
({1})
Im Jahre 2002 sind es 13 Milliarden Euro mehr als 1998.
Mit den Karlsruher Beschlüssen haben wir die Quittung
für Ihr Nichthandeln bekommen. Das wollen wir hier
auch einmal festhalten.
({2})
Wir haben das Kindergeld dreimal erhöht. Die Familien
profitieren von der Steuerreform, vom BAföG und von
der Wohngeldreform. Überall wurden familienfreundliche Maßnahmen eingeleitet.
Mit der Elternzeit und dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit haben wir aber auch die Rahmenbedingungen
für Familien deutlich verbessert. Von der CDU/CSU haben wir schon gehört, dass sie diesen Rechtsanspruch
überhaupt nicht will.
Mit der Schaffung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung haben wir nachweisbar dafür gesorgt, dass der Umfang der Gewalt in den Familien zurückgegangen ist.
({3})
Ich bedanke mich bei allen, die zum Zustandekommen
dieses Gesetzes beigetragen haben.
Sie, die Abgeordneten der CDU und der CSU, wollten
dieses Gesetz nicht. Sie haben gesagt: Das hat ja alles keinen Sinn. Vielleicht wollten Sie das elterliche Züchtigungsrecht noch ein bisschen aufrechterhalten. Bei der
von uns gestarteten Aktion haben viele mitgemacht. Ich
bin wirklich sehr froh, sagen zu können, dass die Begleituntersuchung zeigt: Was wir wollten, ist in der Gesellschaft angekommen; es zahlt sich aus, wenn die Politik
ganz massiv versucht, ein gesellschaftliches Leitbild zu
verändern. Das hilft den Kindern und verbessert das ganze
Klima in unserem Land.
({4})
Wie gesagt, Sie haben immer blockiert. Sie wollen das
Teilzeitgesetz abschaffen usw. Sie werden keine Zeit für
Untaten bekommen. Dafür werden wir sorgen.
({5})
Wir werden unsere moderne, zeitgemäße Familienpolitik fortsetzen. Unsere Familienpolitik orientiert sich
an den Lebenswünschen der Menschen. Sie schreibt ihnen
nicht vor, wie sie leben sollen.
({6})
Nach unseren Vorstellungen haben Frauen das gleiche
Recht auf Erwerbsarbeit wie Männer. Wir unterstützen
Väter, die sich der Erziehungsarbeit stärker widmen wollen. Wir helfen jungen Menschen, Frauen und Männern,
dabei, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen.
({7})
Das wird akzeptiert. Nicht umsonst haben wir, was die
Einschätzung der Kompetenz angeht, in der Familienpolitik einen großen Vorsprung vor allen anderen in diesem Haus.
({8})
Zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehört für
uns eine gute, familienfreundliche Infrastruktur, damit Eltern wirklich Wahlfreiheit haben.
Frau Reiche, Ihnen ganz persönlich herzlichen Glückwunsch zum Nachwuchs!
({9})
Ich wünsche, dass er gut gedeiht. Das ist immer wichtig.
Frau Reiche, Sie kommen aus einem Bundesland, in
dem man Familie und Beruf gut vereinbaren kann. In
Brandenburg gibt es nämlich ein Kitagesetz. Dieses Gesetz enthält einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertagesstätte von der Geburt bis zur
sechsten Klasse. Der Anteil der Krippenplätze liegt bei
knapp unter 50 Prozent. Die Situation dort ist also wunderbar.
Wir wissen aber, dass der Alltag in Deutschland anders
aussieht. Beispielsweise kann eine Mutter in Bayern, die
in Ihrer Situation ist, nur auf ein wesentlich schlechteres
Krippenplatzangebot zurückgreifen. In Bayern liegt der
Anteil der Krippenplätze bei 1,3 Prozent. Wenn diese
Mutter einen Ganztagsplatz in einer Kita sucht, dann stellt
sie fest: Es ist äußerst schwierig. Der Anteil der Kitas mit
Ganztagsbetreuung liegt nämlich nur bei 20 Prozent. Auf
das Thema Ganztagsschule komme ich später zu sprechen. So sieht die Wirklichkeit in unserem Land aus. Die
Kompetenz auf diesem Gebiet liegt bei uns und wir werden unsere Politik fortsetzen.
({10})
Wir brauchen den Ausbau der Ganztagsangebote.
Das Zukunftsprogramm „Bildung und Betreuung“, in
das viel Geld fließt, trägt dem Rechnung. Bekanntlich
heißt es: An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Es heißt
nicht: An ihren Sprüchen über ihre Taten sollt ihr sie erkennen.
({11})
In dieses Programm fließen 4 Milliarden Euro. Wir wollen erreichen, dass ein zusätzliches Angebot zur Verfügung steht. Dahinter steckt natürlich ein pädagogisches
Konzept. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sich andere auf diesem Gebiet zurückhalten können. Kommunen
und Länder, Wohlfahrtsverbände und Unternehmen, sie
alle haben das Ihre zu tun, damit auch das Angebot in den
anderen Bereichen verstärkt wird. Frau Lenke, dafür
brauchen wir natürlich den Betreuungsgipfel.
({12})
Wir werden ihn veranstalten, um zu verbindlichen Zusagen zu kommen.
({13})
Wir wissen: 70 Prozent der Mütter in den alten Bundesländern, die ein Kind oder Kinder unter zwölf Jahren
haben und derzeit nicht erwerbstätig sind, wünschen eine
Erwerbsarbeit.
({14})
Sie können ihren Wunsch allerdings nicht realisieren, weil
die Betreuung ihres Nachwuchses nicht gewährleistet ist.
Ungefähr 50 Prozent dieser Mütter möchten ihre Arbeitszeit zwar ausdehnen, können es aber nicht, weil ihnen
keine Ganztagsbetreuungsangebote zur Verfügung stehen.
Natürlich geht es uns nicht nur um die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf, sondern auch um die Chancengleichheit, um Bildungsangebote für Kinder. PISA hat
uns auch gelehrt - da sind wir uns ja einig -, dass wir sehr
viel mehr auf die frühkindliche Bildung und Erziehung
setzen müssen.
({15})
Bildung beginnt nicht erst im Schulalter. Deswegen haben
wir schon Vorarbeiten geleistet, um in der nächsten Legislaturperiode mit einem nationalen Bildungsplan für
den vorschulischen Bereich, die Kindertagesstätten, anzufangen.
({16})
- Die Eltern gehören dazu. Das ist selbstverständlich und
gar nicht das Thema. Darüber müssen wir uns nicht streiten.
({17})
Wir haben eine nationale Qualitätsinitiative gegründet,
die für uns schon viele Vorarbeiten geleistet hat. Hier können wir einsteigen und dazu beitragen, dass wirklich für
alle Kinder, nicht nur für die Kinder der Begüterten, Chancengleichheit in unserer Gesellschaft umgesetzt wird.
({18})
In diesem Zusammenhang möchte ich auch etwas zu
den Vorschlägen der Hartz-Kommission sagen, die ich
sehr begrüße. Zu Herrn Seehofer - er ist leider nicht mehr
anwesend - kann man nur sagen: Offensichtlich hat er
vieles von dem, was in dieser Legislaturperiode getan
wurde, nicht mitbekommen. Ich meine zum Beispiel das
Job-AQTIV-Gesetz, das genau in die Richtung der Vorschläge zielt, die die Hartz-Kommission vorgelegt hat.
({19})
Die Punkte, die die Hartz-Kommission von uns übernommen hat, zum Beispiel die Zusammenführung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe, hilft gerade Frauen, die
jetzt als nicht vermittelbar gelten und Sozialhilfe beziehen,
von Vermittlungs- bzw. Arbeitsmarktangeboten Gebrauch
zu machen. Berufstätige Mütter werden vorrangig vermittelt. Außerdem haben wir - darauf werde ich noch zurückkommen - die Zusage, dass wir auch im kommunalen Bereich mit den Mitteln, die jetzt die Bundesanstalt ausgibt,
im individuellen Fall Betreuungsangebote ausbauen können. Das ist wunderbar. Ich begrüße die Vorschläge sehr.
({20})
Meine Damen und Herren, die Flutkatastrophe hat uns
gezeigt, dass wir nicht in einer Egogesellschaft leben und
dass es viel Solidarität gibt. Ich möchte nur auf die Solidarität und die Hilfe der Jugendlichen eingehen. Wir haben gesehen, wie Jugendliche, die ja sehr gerne verdammt
werden, als ob sie sich nur um ihr Vergnügen kümmern
würden, hier zugepackt haben. Auch jetzt kommen immer
noch Jugendliche zu uns und fragen: Was können wir tun?
Wir haben sehr schnell gehandelt. Neben den großen
Milliardenprojekten, die zur Unterstützung dieser Regionen zur Verfügung gestellt wurden, haben wir das Programm „Jugend hilft“ aufgelegt. Zusätzlich haben wir die
Möglichkeit geschaffen, in den betroffenen Regionen
1 000 zusätzliche Freiwilligenplätze für ein sozialökologisches Jahr einzurichten. Die Träger vor Ort wissen das.
({21})
Wir können dort bis zu 3 000 Zivildienstplätze realisieren.
({22})
Es gibt bereits Nachfragen. Das finde ich toll. Die Jugendlichen fragen ja schon, ob sie dort arbeiten können. Wir haben in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundesjugendring bis zu 3 000 Plätze geschaffen, um jungen
Leuten die Möglichkeit zu geben, eine Woche oder
14 Tage - je nachdem, wie viel Zeit von ihrem Urlaub sie
darauf verwenden möchten - aufzubringen, um vor Ort
mitzuhelfen und mit aufzubauen. Das ist doch toll.
({23})
Da es um Engagement geht, möchte ich noch Folgendes sagen: Wir haben mit unserer Beteiligungsbewegung
viele Möglichkeiten erschlossen, auch solche zu experimentieren. Es gibt hervorragende Vor-Ort-Aktionen, bei
denen Jugendliche bzw. Kinder in der Kommune beteiligt
werden. Ich kann Sie nur ermuntern, das vor Ort mit zu
unterstützen.
Was mich in den letzten beiden Jahren aber am meisten
überzeugt hat, war das Engagement der Jugendlichen in
unserem Programm „Jugend für Demokratie und Toleranz“.
({24})
In diesem Rahmen haben wir über 2 500 Projekte gefördert. Es ist schon sehr beeindruckend zu sehen, wie die
Jugendlichen vor Ort auch einmal die Älteren, die ein solches Projekt vielleicht nicht besonders wichtig finden,
überzeugen, mitzumachen. Dieses Programm ist auch im
Haushalt 2003 mit einem Betrag von 45 Millionen Euro
eingeplant.
({25})
Meine Damen und Herren, zum Schluss möchte ich
noch einige Sätze sagen. Zurzeit findet im Auswärtigen
Amt eine große internationale Tagung statt. Dabei handelt
es sich um eine UNECE-Ministerkonferenz, bei der es um
das Thema demographischer Wandel geht. Wir wollen
den Weltaltenplan, der im April dieses Jahres in Madrid
beschlossen worden ist, umsetzen und implementieren.
Wir haben sehr dafür gekämpft - die entsprechenden Abgeordneten wissen das -, um diese Tagung hier stattfinden
zu lassen, um das Thema in den Vordergrund zu rücken
und um uns auf diesen demographischen Wandel, bei
dem es um das Bild der Älteren in der Gesellschaft und
um ihre bessere Einbeziehung geht, vorzubereiten.
Dazu möchte ich zwei Punkte nennen. Zunächst zur
Einbeziehung in den Arbeitsmarkt. Nur 35 Prozent der
Menschen, die über 55 Jahre alt sind, sind noch im Arbeitsmarkt. Hier hat das Bündnis für Arbeit Weichen gestellt. Hier finden Sie auch in den Vorschlägen der HartzKommission genau die richtigen Wege, Menschen nicht
so früh aus dem Arbeitsmarkt auszusondern, sondern sie
dort zu belassen, weil wir sie brauchen.
Ich muss noch einen Satz sagen, weil Herr Seehofer
hier vorhin ziemlichen Unsinn geredet hat.
({26})
- Ich kann es gleich belegen. - Es muss auch gesagt werden, was mit Menschen geschieht, die pflegebedürftig
sind. Irgendwo muss Ihnen entgangen sein, dass wir in
dieser Legislaturperiode einen riesigen Reformstau abgebaut haben, um die Qualität der Pflege zu verbessern:
({27})
Heimgesetz, Pflege-Qualitätssicherungsgesetz und Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz, durch das insbesondere
bei Demenzerkrankungen Angehörige und Betroffene
Hilfe bekommen.
Nun sage ich noch etwas, wo Sie eigentlich aufschreien
müssten: Die bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung,
die so notwendig ist, um Pflegequalität zu sichern und zu
verbessern,
({28})
wird meines Wissens von Bayern vor dem Bundesverfassungsgesetz seit einem Jahr blockiert.
({29})
Herr Seehofer hätte das ja zurückziehen können; es ist
nämlich nur Bayern, das hier blockiert.
Bayern hat aber auch ganz erhebliche Probleme mit
der Pflege, denn man zieht durch die neuen Bundesländer und wirbt dort Altenpflegerinnen ab. So kann man
seine Probleme auch lösen, aber das ist nicht gerade sehr
fair.
Wenn wir schon bei dem Thema sind
Frau Ministerin,
Sie hatten gesagt: nur noch drei Sätze.
- ja, ich sage den
letzten Satz -, darf dann der Kandidat gleich die Klage
gegen den Risikostrukturausgleich der Krankenkassen - das sage ich an die Adresse von Frau Schipanski zurückziehen. Eine Änderung desselben würde nämlich
die neuen Bundesländer unwahrscheinlich belasten.
({0})
Ich denke, wir wollen eine Gesellschaft, in der die
Menschen solidarisch miteinander umgehen, in der Chancengleichheit für Kinder besteht, in der Frauen und Männer ihr Leben selbstbestimmt gestalten können, in der generationenübergreifende Solidarität bewahrt wird und alle
die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Das wollen wir.
Die Menschen wissen, dass wir die entsprechende Kompetenz haben. Deshalb arbeiten wir daran nach dem 22. September auch weiter.
Danke schön.
({1})
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt die Kollegin Lenke das Wort.
({0})
Also, Frau Bergmann, ich möchte
Aussagen von Ihnen zitieren: Wir haben den Reformstau
aufgelöst,
({0})
bei uns haben Frauen das gleiche Recht auf Erwerbstätigkeit, Familie und Beruf. Was aber haben Sie gemacht?
Nichts! Sie haben in den vier Jahren keinen einzigen Kindergartenplatz geschaffen.
({1})
1998 - daran möchte ich Sie erinnern - hat Herr Schröder
in seiner Regierungserklärung gesagt, wir brauchen mehr
Ganztagsbetreuung für Kinder. Sie aber haben nichts
gemacht. Erst als die Legislaturperiode zu Ende ging, fingen Sie mit dem Betreuungsgipfel an. Dieser Betreuungsgipfel, Frau Bergmann, hat erstens in dieser Legislaturperiode nicht stattgefunden und zweitens bringt er in dieser
Legislaturperiode keinen Betreuungsplatz. Wenn Sie,
liebe Frau Bergmann, sagen, 70 Prozent der Frauen mit
Kindern wollen arbeiten gehen, warum haben Sie denn
dann 1998 nach der Regierungserklärung nicht entsprechende Möglichkeiten geschaffen? Sie haben nichts gemacht.
({2})
Wenn dann Frau Bulmahn sagt, für Bildung in der
Schule werden 4 Milliarden Euro ausgegeben,
({3})
möchte ich einmal wissen, Frau Bergmann: Werden von
den 4 Milliarden Euro auch die Bildungskosten für Kinder in Kindergärten bezahlt? Wird davon auch mehr Betreuung subventioniert? Ich habe das Gefühl, hierbei handelt es sich nur um einen Verschiebebahnhof. Sie sagen:
Wir wollen das Geld für die Betreuung von Kindern in
Kindergärten. Frau Bulmahn sagt: Wir brauchen das Geld
in der Schule. Ich habe an Sie eine schriftliche Anfrage
gerichtet; die wird von Ihnen noch in dieser Legislaturperiode schriftlich beantwortet werden müssen.
Dann möchte ich noch etwas zu anderen Verschiebebahnhöfen sagen: Um 30 DM mehr Kindergeld zu ermöglichen,
({4})
haben Sie den Alleinerziehenden den Haushaltsfreibetrag
gestrichen.
({5})
- Da können Sie sich aufregen, aber das steht in Ihrem
zweiten Familienfördergesetz. Sie haben die Steuererleichterungen für haushaltsnahe Dienstleistungen, die
Haushaltshilfen, gestrichen. Sie haben den steuerlichen
Freibetrag für Eltern, deren Kinder auswärts studieren, zusammengestrichen. Dann aber kommt Frau Bulmahn hierher und sagt, es gebe mehr BAföG. - Da frage ich mich: Ist
das denn kein Verschiebebahnhof? Als Opposition müssen
wir hier wesentlich mehr aufklären, was für Verschiebebahnhöfe Sie während Ihrer Regierungszeit - in die eine
Tasche bei den Familien hinein und aus der anderen Tasche
bei den Familien wieder heraus - errichtet haben.
({6})
Sie waren auch überhaupt nicht hilfreich, was Tagesmütter und Aupairmädchen anbelangt. Sie hätten die Aupairmädchen fast vom Markt verschwinden lassen,
({7})
wenn Herr Niebel nicht aus der Opposition heraus dafür
gesorgt hätte, dass für Aupairmädchen keine Renten- und
Krankenversicherungsbeiträge gezahlt werden müssen.
Wenn Sie ein schlechtes Gedächtnis haben - meines ist
sehr gut.
({8})
Frau Kollegin
Lenke, die Zeit für eine Kurzintervention beträgt drei Minuten.
Frau Ministerin, auch Sie haben drei Minuten.
Ich antworte gerne,
Frau Lenke, weil ich denke, dass auch Ihnen klar ist, dass
die Aufgabe, Kinderbetreuungseinrichtungen zu finanzieren und vorzuhalten, primär Sache der Länder und
Kommunen ist.
({0})
- Ja, natürlich, das ist so. - Wir haben den Ländern und
Kommunen nicht erst jetzt, sondern schon früher dafür
mit dem Zweiten Gesetz zur Familienförderung Geld zur
Verfügung gestellt. Nehmen Sie das doch einmal zur
Kenntnis!
({1})
Als es beim Zweiten Gesetz zur Familienförderung um
das Kindergeld ging, kam der eine oder andere Ministerpräsident und sagte: Das können wir gar nicht bezahlen,
wir müssen Kinderbetreuungseinrichtungen ausbauen.
Darauf haben wir geantwortet: Na schön, baut die Einrichtungen aus, wir übernehmen dafür einen Teil eures
Anteils am Kindergeld. Das waren 2 Milliarden DM, die
beim Zweiten Gesetz zur Familienförderung an die Länder
gegangen sind. Hier haben wir Geld umgelenkt und das
muss Ihnen klar sein.
Jetzt geben wir noch einmal 4 Milliarden Euro aus,
weil wir wollen, dass es schneller geht.
({2})
Das ist auf die Jahre verteilt und muss erst einmal abfließen. Wenn mehr benötigt wird, werden wir auch dafür
eine Möglichkeit finden; davon bin ich überzeugt.
Deswegen ist der Betreuungsgipfel so wichtig; denn es
kann natürlich nicht sein, dass der Bund alle Lücken
schließt.
({3})
- Ich war immer gut in Mathematik, keine Sorge. - Wir
müssen alle anderen mit am Tisch haben. Natürlich dürfen die Kommunen nicht sparen, wenn es jetzt nicht so
viele Drei- bis Sechsjährige gibt, sondern sie müssen das
Geld für die Zweijährigen einsetzen oder in die Ganztagsschule oder Ähnliches investieren.
({4})
Das Geld dafür fällt ja nicht vom Himmel. Auch die Wirtschaft darf sich daran beteiligen. Wenn wir jetzt noch
Partner bei den Arbeitsämtern haben, ist das wunderbar.
Zu dem zweiten Punkt, den wir hier ebenfalls schon
hundertmal rauf- und runterdiskutiert haben, dem Haushaltsfreibetrag. Sie wissen, dass wir einen Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts haben,
({5})
der uns aufgegeben hat, die Ungleichbehandlung zu beseitigen.
({6})
Da niemand 25 Milliarden hinlegen kann, um mit der anderen Seite gleichzuziehen, blieb uns gar nichts anderes
übrig. Wir haben als Ausgleich die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten. Aber das wissen Sie ja
alles; ich wollte es hier nur noch einmal sagen.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katherina Reiche.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Zunächst, Frau Ministerin, bedanke ich mich für die Glückwünsche, die ich unabhängig vom Wahlkampf gut gebrauchen kann.
({0})
„Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch
endlich Taten sehn“, schrieb ein großer Klassiker. Taten
möchten auch die Familien endlich sehen. Allein das ist
ein Grund für einen Regierungswechsel.
({1})
Während die SPD bekundet, dass sie die Partei der
Familie sei, zeigt der Haushaltsentwurf ganz deutlich,
dass die Familienministerin 2003 weniger Geld zur Verfügung hat. Ihr Haushalt schrumpft. Das zeigt Ihre
Schwäche.
({2})
Das verwundert aber nicht weiter. Dem Ministerium
für - da zitiere ich Bundeskanzler Schröder - „Frauen und
Gedöns“
({3})
- Sie können es nicht mehr hören, er hat es aber gesagt wurde in den vergangenen vier Jahren nicht viel Beachtung geschenkt. Erst nachdem eine breite gesellschaftspolitische Debatte zur Bedeutung von Familien und Frauen
in Deutschland aufbrach, hat die Regierung diese Bedeutung erkannt. Man erklärte das Feld flugs zur Chefsache
und schon musste die Ministerin beiseite treten.
Die familienpolitische Bilanz von Rot-Grün steht in
krassem Widerspruch zu Ihren Ankündigungen und zu
dem, was Sie eben gesagt haben. Sie erhöhen auf der einen Seite das Kindergeld, auf der anderen Seite aber kommen die Ökosteuer und gestiegene Verbrauchsteuern
hinzu und belasten die Familien.
({4})
Haushaltsbezogene Dienstleistungen sind seit der
Steuerreform gestrichen. Das Bundesverfassungsgericht
hat nicht gefordert - wie eben gesagt wurde -, den Betreuungsbetrag für Alleinerziehende zu streichen. Es ging
vielmehr um eine Gleichstellung. Aber Ihnen fehlte die
politische Fantasie und der Gestaltungswille, um zu einer
vernünftigen Lösung zu kommen.
({5})
Die Union war schon immer Familienpartei. Es war
nämlich die Union, die die wesentlichen familienpolitischen Leistungen wie Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub,
den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz oder
auch die Anerkennung von Kindererziehungszeiten bei
der Rente - zum Teil gegen Ihren Widerstand - durchgesetzt hat. Keine dieser Maßnahmen wurde von der SPD
angestoßen.
({6})
Auch die vollmundig angekündigte Kindergelderhöhung
ist seit dem letzten Wochenende vom Tisch. Dies ist ein
weiteres gebrochenes Versprechen von Rot-Grün.
({7})
Sie glauben offensichtlich nicht einmal mehr Ihrem eigenen Wahlprogramm. Passen Sie Ihr Programm an die
wahren Absichten an! Sonst wäre es schon jetzt ein dokumentierter Wahlbetrug.
({8})
Es geht hier um mehr als nur um einen Rückzieher; es
geht um unterschiedliche Konzepte. Sie setzen auf VerBundesministerin Dr. Christine Bergmann
staatlichung der Erziehung; wir setzen mit dem Familiengeld auf eine echte Wahlfreiheit.
({9})
Eltern sollen entscheiden können, ob und in welchem
Umfang sie sich der Betreuung ihrer Kinder widmen oder
ob sie Betreuung außer Haus möchten. Diesen familienpolitischen Wünschen stehen wir allemal näher als Sie, da
90 Prozent der jungen Paare in den ersten drei Jahren ihre
Kinder selbst betreuen wollen.
({10})
Aus Mangel an Konzepten versuchen Sie zudem noch,
die unterschiedlichen Lebensentwürfe der Frauen gegeneinander auszuspielen.
({11})
In der Welt von Rot-Grün existiert halt nur die halbtagsbeschäftigte Mutter als gesellschaftspolitisches Ideal.
({12})
Wir schreiben den Menschen nicht vor, wie sie zu leben
haben.
({13})
Sie diffamieren das Familiengeld als Gebärprämie. Sie
tun damit Frauen Unrecht, die Familienarbeit leisten, und
preisen stattdessen die Ganztagsschule als Allheilmittel.
Auch hier zeigt sich Ihr ideologischer Tunnelblick, nach
dem Motto: Der Staat wird es schon irgendwie richten.
({14})
Wir vertrauen den Menschen unser Familiengeld an.
Wir holen damit nicht nur 1 Million Kinder aus der Sozialhilfe. Wir entlasten damit auch die Länder und Kommunen. Es war Ihre Steuerreform, die die Kommunen finanziell ausbluten ließ, sodass sie momentan keine
finanziellen Spielräume haben, Betreuungsmöglichkeiten
anzubieten.
({15})
Zur Wahlfreiheit zählen natürlich auch ein flexibles
und qualitativ hochwertiges Betreuungsangebot und eine
familienfreundliche Arbeitswelt. Aber Sie haben versagt.
Sie brauchen nicht den Betreuungsgrad von angeblich
1,3 Prozent für unter 3-Jährige in Bayern zu nennen.
Falsche Zahlen werden nicht richtiger, wenn man sie öfter zitiert. Es sind nämlich 3,5 Prozent. In RheinlandPfalz sind es nur 1,4 Prozent. Hier zeigen sich schon Unterschiede. In den neuen Bundesländern sind es Sachsen
und Thüringen, die die höchsten Betreuungsraten aufweisen.
Wir brauchen natürlich mehr Betreuungsangebote gerade in den alten Ländern. Das ist völlig unbestritten. Aber
es geht nicht nur um Quantität. Es geht vor allem um Qualität, zum Beispiel auch um eine verlässliche Grundschule
mit Unterrichtsgarantie.
({16})
Sie denken an Ganztagsschulen. Aber den Kindern ist mit
Zwangsverschulung nicht gedient.
({17})
Wir wollen ein vielfältiges Angebot schaffen, das den
Bedürfnissen der Kinder entspricht.
({18})
Betreuung schließt eben auch Erziehung und Wertevermittlung ein. Der Begriff Wertevermittlung kam bei
Ihnen überhaupt nicht vor. Nur ein wertegebundenes Betreuungsangebot, das gemeinsam mit den Eltern den Mut
zur Erziehung beweist, wird Kindern helfen, zu verantwortungsbewussten und selbstständigen Persönlichkeiten
zu werden.
({19})
Die vergangenen vier Jahre waren zudem verlorene
Jahre für die Schaffung einer familienfreundlichen Arbeitswelt. Es gab Regulierungswut und Zementierung des
Arbeitsmarktes. Wir sind nicht gegen einen Teilzeitanspruch für Frauen oder für Personen, die Familienangehörige pflegen. Wir sind nur gegen einen generellen
Teilzeitanspruch.
({20})
Es ist schon ein Unterschied, ob sich jemand um sein Kind
kümmert oder ob er sein persönliches Freizeitkonto aufmöbeln möchte.
({21})
Ich halte den Weg der Kooperation mit den Betrieben für
den einzig richtigen. Es geht nur mit einem partnerschaftlichen Miteinander.
Was nützt übrigens der Anspruch auf Teilzeit, wenn
Frauen keinen Arbeitsplatz finden? Das ist das eigentliche
Problem in diesem Land. Bei der Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit haben Sie versagt. Im Vergleich zum
Monat Juli ist die Arbeitslosigkeit von Frauen nämlich um
2 Prozent gestiegen.
({22})
Jede zehnte Frau in Deutschland, die arbeiten möchte,
kann nicht arbeiten. In Ostdeutschland ist es sogar jede
fünfte Frau.
({23})
Die Arbeitslosigkeit ist eine Geißel - das wissen Sie für Familien, für Frauen, für Alleinerziehende und für
junge Menschen. Seit 1998 gibt es 56 000 jugendliche
Arbeitslose mehr in Deutschland. Die Abwanderungsbewegung von Ost nach West hat dramatische Ausmaße
angenommen. Jährlich wandert eine Kleinstadt, nämlich
44 000 junge Menschen, von Ost nach West ab. Sie tun
nichts dagegen.
({24})
Das Vorzeigeprojekt JUMP war wenig effektiv. Von
770 000 Teilnehmern hat nicht einmal jeder Zweite eine
reguläre Ausbildung bekommen. JUMP war für viele Jugendliche der Sprung ins Leere, ja der Sprung ins Abseits.
Was liest man auf den Internetseiten von JUMP: Es würden momentan keine Zahlen über das Sofortprogramm
veröffentlicht.
({25})
Wenn die Wirklichkeit also nicht so ist, wie Sie sie haben
wollen, dann stellen Sie das eben anders dar.
Familienpolitik in Deutschland muss zur Familienvorrangpolitik werden. Die Zukunft der Familie ist eine
Frage der Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Die demographische Entwicklung ist eine tickende Zeitbombe.
Ohne Kinder sind wir ein Land ohne Zukunft und ohne
Kreativität. Wir haben ein Gesamtkonzept für Familienpolitik vorgelegt. Es ist eine Wirtschafts-, Steuer-, Sozialund Gesellschaftspolitik aus einem Guss. Wir brauchen
vor allem einen gesellschaftlichen Mentalitätswechsel.
Der geht alle an, Tarifpartner und Kommunen, Eltern und
Kinderlose, Bildungseinrichtungen und -institutionen,
Verbände und Kirchen. Eine familienfreundliche Gesellschaft zu schaffen ist auch Aufgabe der Politik. Das wollen wir mit einer neuen Regierung nach dem 22. September erreichen.
({26})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Ekin Deligöz
das Wort.
Liebe
Frau Reiche, liebe Katherina, auch ich wünsche dir - von
Mutter zu Mutter sozusagen - alles Gute zum Kind. Ich
möchte aber gleichzeitig ein paar Punkte anmerken, die
jetzt im Wahlkampf gesagt wurden und die anscheinend
bei Ihnen noch nicht angekommen sind.
Ich komme aus Bayern und bereise natürlich gerade in
dieser Zeit des Wahlkampfes viel das Land und habe dabei sehr viel zu tun mit Elterninitiativen, Kindergärten
und Kinderläden. Ich bekomme immer wieder eines zu
hören. Ich war zum Beispiel bei dem Projekt „Mini
MAXI“ in Lindau, wo sich Eltern aus Eigeninitiative eine
Kinderkrippe geschaffen haben, in der die Kinder unter
drei Jahren für zwei oder drei Stunden zusammenfinden
können, und zwar nicht aus dem Rabenmuttergedanken
heraus, sondern aus dem Gedanken der sozialen Kompetenz heraus: Mein Kind soll so früh wie möglich mit anderen Kindern zusammenkommen.
({0})
Diese Elterngruppe hat aus Eigenmitteln das ganze Haus
renoviert, hat wahnsinnig viel investiert, bezahlt qualifizierte Kräfte selber. Sie hat um Zuschüsse der bayerischen
Landesregierung gebeten und hat schriftlich die Antwort
bekommen: Es ist ja schön und gut, dass Sie so etwas machen; es wird politisch von uns aber nicht unterstützt.
({1})
Das war die Begründung der bayerischen Landesregierung,
({2})
weshalb es keinen Pfennig Zuschuss für diese Initiative
gab. Das nenne ich Ehrenamt fördern auf bayerisch.
Punkt Zwei: JUMP - viel kritisiert, nicht gemocht von
der Opposition. Ich weiß auch, warum: Weil JUMP
schlichtweg ein Erfolgsmodell ist.
({3})
JUMP hat 400 000 Jugendliche erreicht und zur Arbeit gebracht. Das waren übrigens die Jugendlichen, die vor vier
Jahren noch auf der Straße waren.
({4})
Das waren die Jugendlichen, die ignoriert wurden. Das
waren die Jugendlichen, die nicht ernst genommen wurden. Wir nehmen die Jugendlichen ernst. Daran gibt es
nichts zu kritisieren.
Ein letzter Punkt: das Modellprojekt mit 300 Euro Kindergeld. Das ist in der Rede ein bisschen zu kurz gekommen, deshalb muss ich Ihnen schon noch einmal die
Wahrheit ins Gesicht sagen. Vor kurzem gab es hier eine
Debatte zur Familienpolitik. Dort hat Friedrich Merz gesagt - ich zitiere das ganz gerne, ich habe mir diesen
Spruch gemerkt -: Wir fassen Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen, sparen 20 Milliarden Euro - das
wären die gesamten Kosten in diesem Bereich - ein und
investieren das in die Familienpolitik; das ist unsere Antwort auf die Arbeitslosigkeit, dann können Frauen endlich
einmal zu Hause bleiben. - Das nenne ich eine „Zuhausebleibprämie“ und nichts anderes. Das ist keine politische
Antwort, sondern das ist frauenfeindlich.
({5})
Frau Deligöz, es gibt
in Bayern das Netz für Kinder, das von der bayerischen
Landesregierung gefördert wird und genau solche Initiativen unterstützt. Zudem hat die bayerische Landesregierung 300 Millionen Euro bis 2006 zur Verfügung gestellt:
für Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren und
Ganztagsbetreuung.
Ich möchte jetzt etwas zur so genannten Gebärprämie
sagen: Wenn sich 90 Prozent der Eltern wünschen, in den
ersten Lebensjahren des Kindes das Kind selbst zu beKatherina Reiche
treuen, dann sollten wir den Wunsch respektieren und ihnen das Geld in die Hand geben.
({0})
Ich möchte nicht, dass mir der Staat vorschreibt, wohin
mein Kind zu gehen hat. Ich möchte selber entscheiden,
ob ich es in einen Elternladen, zu einer Elterninitiative, in
einen Kindergarten, in eine Krabbelgruppe, in einen Miniklub oder in einen konfessionell gebundenen Kindergarten, einen Montessori- oder Waldorfkindergarten gebe.
Ich möchte mir das nicht vom Staat vorschreiben lassen.
({1})
- Doch, genau das wollen Sie. Sie wollen durch staatliche Lenkung vorschreiben, welches Betreuungsangebot
infrage kommt. Das ist Verstaatlichung der Erziehung.
Ich habe das bereits ausgeführt. Das ist nicht unser Modell.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Frau Kollegin Petra Bläss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die größten politischen Herausforderungen in der Familienpolitik, vor denen wir nach wie vor
stehen, sind, die Bedingungen für die Vereinbarkeit von
Berufstätigkeit und Familie zu verbessern, die wachsende
Verarmung von Kindern zu verhindern und die geringe
Beteiligung von Vätern an der Alltagsbetreuung ihrer
Kinder zu ändern.
({0})
Das sind drei zentrale Probleme, die die PDS konsequent
angegangen ist und auch weiterhin angehen wird.
Erstens. Es besteht kein Zweifel mehr: Um Beruf und
Familie vereinbaren zu können, bedarf es in erster Linie
einer qualitativ hochwertigen, flexiblen, flächendeckenden und langfristig auch kostenfreien Kinderbetreuung
bis zum 14. Lebensjahr des Kindes, und zwar mit Rechtsanspruch.
({1})
Davon - das wissen wir alle aus der Praxis - sind wir
hierzulande noch weit entfernt. Die PDS hat deshalb
schon vor geraumer Zeit ein Modell zum Ausbau eines bedarfsgerechten und öffentlich geförderten Betreuungsund Freizeitangebots für Kinder bis zum 14. Lebensjahr
vorgeschlagen.
Frau Bergmann hat die Zahlen bereits genannt. 70 Prozent der nicht erwerbstätigen Mütter im Westen und
90 Prozent derer im Osten wünschen eine Erwerbsarbeit,
aber es mangelt im Westen an Betreuungsmöglichkeiten
und im Osten bekanntlich an Arbeitsplätzen. Frau Kollegin Reiche, das hat nichts mit Vorschriften zu tun, sondern
mit Bedingungen für Wahlfreiheit, die so noch nicht
existieren.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange das öffentliche Kinderbetreuungsangebot für Kinder unter bis zu drei
Jahren bundesweit nur 5,5 Prozent beträgt und 80 Prozent
aller Kindergartenplätze im Westen nur Teilzeitplätze
ohne Über-Mittag-Betreuung sind, kann von Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt keine Rede sein.
({3})
Im Übrigen: Das hiesige Defizit an Kinderbetreuungsplätzen ist auch vor dem Hintergrund internationaler Studien nicht mehr nachvollziehbar. Diese belegen, dass
Kinderbetreuung nicht nur bezahlbar ist, sondern sich
für Kommunen und Staat sogar lohnt, da die Gelder in
Form von Steuereinnahmen und nicht zu zahlender Sozialhilfe an den Staat zurückfließen, und das mindestens
im Verhältnis 1 : 4.
Zweitens. Die traurige Bilanz des Armutsberichts der
Bundesregierung lautete: Über 1 Million Kinder leben
von Sozialhilfe. Damit verbunden sind Chancenungleichheiten und psychosoziale Belastungen. Wir sagen: Kein
Kind darf mehr in Armut aufwachsen.
({4})
Um Kinderarmut abzuschaffen, fordert die PDS eine finanzielle Grundsicherung für alle Kinder. Wir haben
diesbezüglich ein Modell unter dem Motto „Gerechte
Chancen am Start - Kinderarmut bekämpfen“ vorgelegt.
Drittens. Damit sich Väter mehr an der Alltagsversorgung ihrer eigenen Kinder beteiligen - ich sage: können -,
ist eine andere Weichenstellung für die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie vonnöten. Da Männer im Schnitt immer noch ein Viertel mehr als ihre Partnerinnen verdienen, können Familien meist nicht auf das Einkommen des
Besserverdienenden verzichten. Der Hauptgrund für den
Missstand, dass Männer nur zu 2 Prozent Kinderpause
und das im Schnitt auch nur für zweieinhalb Jahre machen, ist, dass es keine Lohnersatzleistung bei der Elternzeit gibt. Deshalb fordert die PDS Elternzeit mit Lohnausgleich. Wir haben unseren Antrag zur Vereinbarkeit
von Beruf und Kinderbetreuung für Frauen und Männer
vorgelegt. Dieser Antrag sieht zwölf Monate Freistellung
mit Lohnersatzleistungen und sechs Monate mit einer
Grundsicherung vor.
({5})
Die PDS steht für konsequent kinder- und geschlechtergerechte Familienpolitik. Dabei setzen wir auf die Anerkennung und Gleichstellung aller Familienformen und
Lebensweisen, auf Kinderförderung statt Eheförderung
ebenso wie auf den Ausbau des Solidarprinzips und die eigenständige ökonomische Existenz von Frauen.
Am 22. September 2002 haben die Wählerinnen und
Wähler in der Tat eine familienpolitische Weichenstellung
vorzunehmen. Sie können sicher sein: Die PDS wird sich
all den genannten Herausforderungen auch in Zukunft offensiv stellen.
Danke.
({6})
Danke schön.
Weitere Wortmeldungen zu diesen Einzelplänen liegen
nicht vor.
Wir kommen nun zu den Geschäftsbereichen des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums der Justiz.
Das Wort hat zunächst der Herr Bundesminister Otto
Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Deutschland
ist im internationalen Vergleich - ich glaube, das kann jeder bestätigen - eines der sichersten Länder der Welt. Dies
verdanken wir zuallererst der guten Arbeit der Polizeibeamtinnen und -beamten in Bund und Ländern.
Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.
({0})
Ich glaube, das ist auch der guten Zusammenarbeit
zwischen dem Bundesministerium des Innern - dies sage
ich ausdrücklich in Anwesenheit des Kollegen Beckstein,
der nach mir das Wort ergreifen wird - und den Ländern
zu verdanken. In den vergangenen Jahrzehnten - dies betone ich besonders - hat sich bewährt, dass wir in der
Konferenz der Innenminister der Länder, bei der auch der
Bundesminister zugegen ist, immer im Konsens entscheiden. Wir sollten diesen Konsens im Kernbereich der
inneren Sicherheit nach Möglichkeit wahren. Über Einzelheiten können wir dann immer noch streiten.
Ich meine, dass man an den Zahlen der Haushaltsentwicklung in meinem Ressort sehr deutlich ablesen kann,
dass die Gewährleistung der inneren Sicherheit für die
Bundesregierung einen sehr hohen Rang einnimmt.
({1})
Wir haben ungeachtet der Tatsache, dass auch wir uns
selbstverständlich an der Haushaltskonsolidierung beteiligen mussten, die Haushaltspositionen für die Sicherheitsinstitutionen ständig erhöht. Die Steigerungsrate beim
Bundesgrenzschutz liegt bei 11 Prozent, die beim Bundeskriminalamt liegt bei 36 Prozent, die beim Bundesamt
für Verfassungsschutz liegt bei 34 Prozent und die Steigerungsrate beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik liegt sogar bei 56 Prozent.
({2})
Das sind Zahlen, an denen man hervorragend ablesen
kann, wie ernst wir es mit der inneren Sicherheit meinen.
Bei diesem Punkt muss ich doch meine Bitte und meinen Appell an die Opposition richten: Wenn Ihre Programme ernst genommen würden,
({3})
würde dies zu einer Verarmung der Staatsfinanzen führen,
die dramatische Ausmaße annehmen würde. Die Möglichkeiten, die notwendigen Mittel für die Gewährleistung
der inneren Sicherheit bereitzustellen, würden dadurch
eingeschränkt. Ihr Vorschlag mit einer Staatsquote in
Höhe von 40 Prozent würde zu Ausfällen in Höhe von
170 Milliarden Euro bei Bund, Ländern und Gemeinden
führen. Die vorgeschlagene Senkung des Spitzensteuersatzes auf unter 40 Prozent würde zu Einnahmeausfällen
in Höhe von 29 Milliarden Euro führen.
({4})
Ihre Vorschläge - aber Sie haben ja heute die Möglichkeit,
sie zurückzunehmen - sind mit der Gewährleistung der
inneren Sicherheit nicht zu vereinbaren.
({5})
Eine solche Programmatik ist in der Tat eine Gefahr für
die innere Sicherheit. Dies wollen Sie doch sicherlich
nicht auf sich sitzen lassen. Deshalb sollten Sie hier Klarheit schaffen. Diese Bitte ist heute Vormittag schon einmal an Sie gerichtet worden. Sagen Sie uns in der ersten
Lesung zum Bundeshaushalt 2003 doch einmal, an welchen Stellen Sie die Positionen auf der Ausgabenseite erhöhen bzw. reduzieren wollen und wie die Positionen auf
der Einnahmenseite aussehen! Nennen Sie uns dazu aber
bitte konkrete Zahlen; machen Sie keine wolkigen Aussagen! Sagen Sie uns, wie Sie es mit der Verschuldung halten wollen. Dann können wir uns auseinander setzen.
Kommen Sie hier aber nicht mit irgendwelchen allgemeinen globalen Zahlen!
({6})
Meine Damen und Herren, die gute finanzielle Ausstattung des Bundesgrenzschutzes hat uns in die Lage
versetzt, die Sollstärke um 1 450 Beamtinnen und Beamte
zu erhöhen, um auch die neu hinzugekommenen Aufgaben des Bundesgrenzschutzes wahrzunehmen. Hierzu
zählen sehr wichtige Bereiche, die wir angesichts der Bedrohung durch den weltweiten islamistischen Terrorismus
neu haben schaffen müssen: den der Flugsicherheitsbegleiter und der Entschärfergruppen. Zusätzliche Aufgaben
ergeben sich bei den Schutzmaßnahmen für Bundesorgane und Botschaften. Nicht zu vergessen ist, welche weiteren Aufgaben wir im internationalen Bereich leisten
müssen. Hierzu zählen - das sage ich noch einmal - allgemeine Luftsicherheitsaufgaben sowie im Bereich der
internationalen Zusammenarbeit der Einsatz von Verbindungsbeamten in zahlreichen Ländern.
Ich möchte mich besonders bei dem ehemaligen Inspekteur des Bundesgrenzschutzes, Herrn Sperner, bedanken, der sich freundlicherweise bereit erklärt hat, nach
Eintreten in den Ruhestand als Berater in Rumänien - das
Land zählt ja zu den Beitrittskandidaten - für die Verbesserung beim dortigen Aufbau des Grenzschutzes zu sorgen. Daran sieht man: Qualitative Arbeit, die in Deutschland gemacht wird, ist auch im Ausland gefragt.
({7})
Deshalb war es, wie ich glaube, auch richtig, dass wir
dafür gesorgt haben, dass sich die Beförderungssituation
im Bundesgrenzschutz erheblich verbessert hat. Wir haben inzwischen erreicht, dass bis Ende 2002, also bis
Ende dieses Jahres, jede zweite Beamtin bzw. jeder zweite
Beamte befördert werden kann. Das hat natürlich zu einem Motivationsschub innerhalb des Bundesgrenzschutzes geführt.
({8})
Es freut mich im Übrigen, dass wir mit fast allen Bundesländern eine Kooperationsvereinbarung zwischen
Bundesgrenzschutz und den Länderpolizeien zustande
gebracht haben. Ich bin ganz sicher, Herr Kollege
Beckstein, dass wir zu einer solchen Vereinbarung auch
mit dem Freistaat Bayern - das ist das einzige Land, das
noch fehlt - kommen werden. Damit hier kein falscher
Eindruck entsteht, möchte ich betonen, dass auch zwischen der Länderpolizei Bayerns und dem Bundesgrenzschutz eine hervorragende Zusammenarbeit, insbesondere in der Landeshauptstadt München, besteht.
Das Bundeskriminalamt hat ebenfalls mehr Mittel erhalten. Ich glaube, dass gerade angesichts der terroristischen Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus
Verständnis dafür besteht, dass wir diesen Aufwuchs vollziehen mussten. Ähnliches gilt für andere Sicherheitsinstitutionen wie das Bundesamt für Verfassungsschutz und
das schon erwähnte Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik.
Wir sollten uns nicht in einen Wettbewerb darüber begeben, ob die Gefahr durch den islamistischen Terrorismus von der einen oder der anderen Seite etwas sachter
oder etwas schärfer beurteilt wird. Ich glaube, dass beide
Seiten - ich beziehe die Opposition selbstverständlich mit
ein - diese sehr reale anhaltende Gefahr erkennen und
wissen, dass wir ihr begegnen müssen.
Man kann sich, wie gesagt, über einzelne Details streiten. Ich bitte jedoch, darauf hinweisen zu dürfen, dass wir
nach dem 11. September 2001, aber auch schon davor,
eine Reihe von Maßnahmen in die Wege geleitet haben,
die uns in die Lage versetzen, diese Erscheinungsform des
Terrorismus besser zu bekämpfen, als es vorher der Fall
war, und zwar schon im Vorfeld. Ich erinnere daran, dass
es uns gelungen ist, das so genannte Religionsprivileg im
Vereinsrecht zu streichen, was keine ganz einfache Aufgabe war. Aber immerhin ist es uns gelungen.
({9})
Sie, Herr Kollege Beckstein, haben sich schon früher darum bemüht, haben sogar den einen oder anderen Brief
geschrieben; das will ich nicht verkennen. Aber in der alten Regierung, Herr Marschewski, haben Sie das nicht erreicht. Vielmehr haben wir das durchgesetzt. Sie wissen ja
auch, wo zuerst die Widerstände waren. Ich bin froh darüber, dass wir das geschafft haben und auf diese Weise
den Kalifatstaat verbieten konnten.
({10})
Ich will nicht alles erwähnen - dazu habe ich gar nicht
die Zeit -, welche erweiterten Befugnisse für unsere Sicherheitsinstitutionen wir im Sicherheitspaket haben unterbringen können. Das war und ist wichtig, damit unsere
Institutionen besser in der Lage sind, Frühaufklärung zu
betreiben und terroristische Strukturen früher zu erkennen.
Nun freue ich mich darüber, welch beträchtlichen Ehrgeiz Sie an den Tag legen, um mich dabei zu unterstützen,
wie man biometrische Merkmale auch bei der Identifizierung besser verwenden kann. Dafür bin ich Ihnen
dankbar, Herr Kollege Beckstein. Wir müssen aber auf der
anderen Seite sehen, dass wir uns richtig verhalten; denn
einiges können wir nur im europäischen Verbund tun,
({11})
zum Beispiel die Implementierung von biometrischen
Merkmalen über das Lichtbild hinaus. Das können wir in
der Tat nur durch eine europäische Entscheidung erreichen.
Das, was wir im europäischen Verbund schon jetzt machen können, das leisten wir bereits heute. Das sieht dann
so aus, dass wir in der Visamarke das Lichtbild integrieren. Dadurch ist ein gewisser Fortschritt erzielt worden.
Wir werden eines der ersten Länder sein, das dies erreicht.
Übrigens sind wir auch bei der Fälschungssicherheit von
Dokumenten weit fortgeschritten. Ich habe hier einen
Pass neuer Machart, wie wir ihn in der Bundesdruckerei
herstellen. Sie können hier sehen, wie diese Folie, die
erste Passseite, aussieht. Dieser Pass ist nahezu hundertprozentig fälschungssicher; denn wenn man diese Folie
auflöst, dann zerstört sie sich von selber.
Wir sollten die Institutionen einmal dafür loben, was
sie zustande gebracht haben.
({12})
Man kann das eine oder andere beklagen und Verbesserungen fordern. Aber ich denke, es ist gut, dass wir auch
einmal Lobenswertes hervorheben.
Im Übrigen werden wir - auch das haben Sie eingefordert, Herr Kollege Beckstein - im nächsten Jahr damit beginnen, bei so genannten Problemstaaten, inklusive der
von Ihnen namentlich genannten Staaten Sudan und Jemen, Fingerabdrücke außerhalb der Visamarke - das können wir nach nationalem Recht so handhaben - zu nehmen. Auf längere Frist werden wir uns darauf einstellen
müssen - das haben wir gesetzlich schon ermöglicht -,
biometrische Merkmale in Pässe, in Ausweise zu integrieren.
In diesem Zusammenhang bin ich allerdings der Meinung, dass wir das im internationalen Verbund gestalten
müssen. Es hat keinen Zweck, dass wir Insellösungen
schaffen, die nachher mit anderen Lösungen nicht zusammenpassen. Ich habe zusammen mit den US-Amerikanern
- ich habe mich mehrfach mit dem Governor Tom Ridge
getroffen, um unsere Bemühungen abzustimmen - eine
Arbeitsgruppe gebildet, damit wir ähnliche Verfahren haben, die auch kompatibel bleiben. Ähnliches machen wir
in der EU oder auch mit Russland. In diesem Zusammenhang habe ich mich bereits mit meinem Kollegen
Gryslow, dem russischen Innenminister, getroffen.
Herr Kollege Beckstein, Sie haben ferner in jüngster
Zeit beanstandet, dass wir bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und Extremismus - damit muss
man sich auseinander setzen - die Aufmerksamkeit stärker
auf die Möglichkeit, entweder die Einreise zu verweigern
oder den Aufenthalt zu beenden, richten müssten. Es ist
dem Grundsatz nach nicht zu beanstanden, wenn Sie das
fordern. Ich finde nur, Sie müssten von den vorhandenen
Möglichkeiten, so wie sie im Gesetz stehen, Gebrauch machen. In den §§ 8 und 45 des Ausländergesetzes steht:
Wenn jemand eine Gefahr für die innere Sicherheit und
Ordnung darstellt, dann kann er gemäß § 45 entweder ausgewiesen werden oder es kann ihm gemäß § 8 die Einreise
bzw. ein Aufenthaltstitel verweigert werden. Das muss
man dann umsetzen.
Wenn Sie der Meinung sind, dass sich diese Möglichkeiten in der Anwendungspraxis noch nicht herumgesprochen haben, dann lasse ich mit mir darüber reden, ob
wir die Ausführungsvorschriften verändern müssen. Ich
jedenfalls bin der Meinung, dass jemand, der Terrorismus
im Sinne von Bin Laden propagiert, eine Gefahr für die
innere Sicherheit und Ordnung ist und nicht in unserem
Land bleiben sollte. In diesem Fall müssen wir also von
dem Gesetz, das wir schon haben, Gebrauch machen.
Deshalb schlage ich vor, sich an dieser Stelle darüber zu
verständigen, wie wir den Gesetzesvollzug besser gestalten, ehe wir zu neuen Gesetzen kommen, die nach meiner
Meinung überflüssig sind.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sylvia Bonitz?
Ich habe nur
noch sehr wenig Zeit. Aber ich kann Ihnen das einfach
nicht abschlagen.
Also doch?
Frau Bonitz,
Sie haben immer so intelligente Zwischenfragen.
({0})
Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr
Minister. - Sie haben ausgeführt, dass dieses Gesetz konsequent angewendet werden soll. Sie gehen doch sicherlich mit gutem Beispiel voran, wenn ich an Metin Kaplan
erinnern darf. Nachdem die Türkei nun entschieden hat,
die Todesstrafe abzuschaffen, entfällt ein Abschiebehemmnis. Werden Sie jetzt dem Auslieferungsersuchen,
das die Türkei jüngst an die Bundesrepublik Deutschland
gerichtet hat, nachkommen und Herrn Kaplan, der ein gefährlicher Mensch ist, abschieben?
Sie haben
richtig erkannt, dass das Auslieferungsgesuch der Türkei
und die Frage der Ausweisung bzw. der Vollzug der Ausweisung durch Abschiebung zwei verschiedene Dinge
sind. Nach unserem Recht geht das Auslieferungsgesuch
vor. Deshalb muss darüber entschieden werden. Ich
meine, dass sich die Voraussetzungen, das Auslieferungsgesuch positiv zu bescheiden, durch diese Entscheidung
deutlich verbessert haben. Bekanntlich sind aber in der
Türkei noch Bemühungen in Gange, diesen Parlamentsbeschluss wieder aufheben zu lassen. Dann ergäbe sich
eine andere Lage.
Ich hatte versucht, noch in den nächsten Tagen in die
Türkei zu reisen. Das hat sich aber nicht mehr einrichten
lassen. Ich werde jedoch demnächst in die Türkei reisen
und die Lage dort erkunden. Das Auslieferungsverfahren
liegt bei den Justizbehörden und wird auch gerichtlich
überprüft werden. Meine - optimistische - Erwartung ist
aber, dass wir die Voraussetzungen schaffen können, dass
Herr Kaplan in die Türkei zurückkehrt. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Todesstrafe nicht vollstreckt wird.
Das ist durch diesen Parlamentsbeschluss ermöglicht
worden.
({0})
Ich möchte einen weiteren Punkt erwähnen, der auch
noch zur Debatte steht. Dabei handelt es sich um die Regelanfrage bei den Verfassungsschutzbehörden. Diese wird inzwischen von allen Ländern praktiziert. Meiner Meinung
nach bedarf es dafür keines zusätzlichen Gesetzes.
Wir sollten noch einen Punkt herausstellen, nämlich
dass wir auch die Infrastrukturen verbessert und im Bereich der Katastrophenschutzhilfe - dafür sind allerdings
nicht wir originär zuständig, sondern die Länder - die
Hilfsmaßnahmen sehr erfolgreich gestaltet haben. Bei der
Flutkatastrophe waren mehr als 70 000 Kräfte vonseiten
des Bundes - Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Technisches Hilfswerk - eingesetzt. Ich will diese Debatte
nicht vorübergehen lassen, ohne besonders den Menschen, die zu meinem Ressort zählen, nämlich dem Bundesgrenzschutz und dem Technischen Hilfswerk, meine
Bewunderung für das, was sie geleistet haben, auszusprechen.
({1})
Aufgrund der Tatsache, dass der Bundesgrenzschutz
mehr als 2 000 Menschen im Rahmen sehr schwieriger
Hubschraubereinsätze aus unmittelbarer Not befreit und
das Technische Hilfswerk vorbildliche Arbeit geleistet
hat - in der Kürze der Zeit kann ich nicht alles im Einzelnen aufführen -, war es richtig, dass wir den Finanzmitteleinsatz an diesen Stellen verstärkt haben.
Wir werden uns - das kann ich aus Zeitgründen allerdings nur noch kurz ansprechen - aber auch darum kümmern müssen, einige Konsequenzen aus den gemachten
Erfahrungen zu ziehen. Bei allem Respekt, allem Dank
und aller Anerkennung für das, was geleistet worden ist,
werden wir uns mit Bund und Ländern in der Rahmenkonzeption, die wir schon beschlossen haben, auch darüber zu verständigen haben, wie wir diese Zusammenarbeit
künftig gestalten werden. Dafür haben wir gute Ansätze
gewählt. Wir müssen den Informationsfluss, die Warnsysteme, die Ausbildung usw. verbessern. Wir müssen auch
das Ressourcenmanagement besser gestalten. Ich meine,
dass wir auf der Basis dessen, was in bewundernswerter
Weise geleistet worden ist, zu guten Schlussfolgerungen
kommen werden. In diesem Sinne können wir sicherlich
die erforderliche Arbeit leisten.
Lassen Sie mich zum Schluss anmerken: Durchaus zu
meiner Überraschung bin ich nach knapp vier Jahren
Amtszeit der dienstälteste Innenminister der Europäischen Union und ich arbeite daran, es auch zu bleiben.
({2})
Das Wort hat der
Staatsminister des Inneren des Freistaates Bayern,
Dr. Günther Beckstein.
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}) ({1}): Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Schily, ich bestätige Ihnen gerne, dass Sie nicht nur der
dienstälteste, sondern auch der älteste Innenminister in
Europa sind.
({2})
Trotzdem sind Sie nach meiner Meinung - ich habe Ihnen
das schon anlässlich Ihres 70. Geburtstags geschrieben das am jüngsten wirkende Mitglied der Bundesregierung.
Alle anderen Mitglieder wirken im Vergleich zu Ihnen
noch viel älter.
({3})
Herr Kollege Schily hat in seiner Rede hervorgehoben, dass die Forderung der Union „3 mal 40“ die innere
Sicherheit gefährde. Ich bin der Meinung - das möchte
ich mit aller Deutlichkeit sagen -, dass Sie selber, Herr
Kollege Schily, dies nicht ernsthaft argumentativ vortragen wollten. Wir wollen - Sie wissen, dass das für uns
ein zentraler Punkt ist - wirtschaftliches Wachstum
schaffen und die Arbeitslosigkeit reduzieren. Wenn wir
das tun, verfügen wir auch über die notwendigen Ressourcen, um den Standort Deutschland vernünftig zu gestalten.
({4})
Hätte der Kanzler sein Versprechen, dafür zu sorgen,
dass es nur noch 3,5 Millionen Arbeitslose in Deutschland
geben wird, tatsächlich gehalten und nicht gebrochen
- Sie alle wissen, dass 500 000 Arbeitslose mindestens
10 Milliarden Euro kosten -, dann würde nicht nur die Beseitigung der Flutschäden, sondern auch die Umsetzung
dessen, was wir fordern, ohne jede Schwierigkeit zu finanzieren sein.
({5})
Ich möchte jetzt einen Punkt aus der Innenpolitik ansprechen, den Sie leider nicht erwähnt haben und der auch
sonst nie in Ihren Überlegungen auftaucht, der aber nach
meiner Meinung neben den Fragen der inneren Sicherheit
eine zentrale Aufgabe auch für den Bundesinnenminister
ist. Er muss dafür sorgen, dass die Kommunen funktionsfähig bleiben.
({6})
Der Bundesinnenminister sollte sowohl im Bund als auch
gegenüber den Ländern als Anwalt der Kommunen auftreten. In dieser Beziehung - ich muss das so deutlich sagen - haben Sie total versagt.
({7})
Die Kommunen befinden sich in der tiefsten Finanzkrise. Das, was 1998 in der Koalitionsvereinbarung festgelegt worden ist, nämlich die kommunalen Finanzen auf
eine sichere Grundlage zu stellen, ist nicht umgesetzt worden. Stattdessen sind die kommunalen Finanzen durch die
Steuerreform 2002 ruiniert worden. Die Einnahmen der
Kommunen sind weggebrochen.
({8})
- Sie können nicht zuhören, weil Ihnen das, was ich sage,
wehtut. Aber Sie können durch Ihr Geplärre meine Argumente nicht übertönen.
({9})
Tatsache ist jedenfalls, dass Rot-Grün, insbesondere
Schröder und Eichel, die tiefste Krise der kommunalen Finanzen seit dem Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat.
Ich möchte in diesem Zusammenhang den SPD-Oberbürgermeister Ude zitieren, der gesagt hat, dass unter Ihrer
Regierungsverantwortung Deutschland, insbesondere die
Kommunen und die Großstädte, zu einer Steueroase für
die internationalen Konzerne geworden sei, während
gleichzeitig der Mittelstand und die kleinen Leute stärker
in Anspruch genommen würden.
({10})
Wenn wir an die Regierung kommen, werden wir einen
anderen Umgang mit den Kommunen pflegen. Wir werden sie nicht über alle Maßen ausnehmen. Wir werden
dafür sorgen, dass der Begriff der kommunalen Selbstverwaltung nicht zu einer hohlen Hülse verkommt, wie es
unter Ihrer Regierungsverantwortung geschehen ist.
({11})
Auch im Bereich der inneren Sicherheit ist eine solche
Selbstgerechtigkeit, wie Sie, Herr Kollege Schily, sie
- heute in moderater und gestern in unverschämter Form an den Tag gelegt haben, nicht am Platz. Ich möchte auf
Folgendes deutlich hinweisen: Wer weiß, wie die Fahrzeuge des THW aussehen, der wird nicht behaupten, dass
alles in Ordnung sei. Viele Fahrzeuge des THW und der
Katastropheneinrichtungen der Länder sind nämlich in einem desolaten Zustand.
({12})
Es ist natürlich erfreulich, dass Sie dort, wo Sie Wahlkampf machen, ein Bundesfahrzeug übergeben.
({13})
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Sie in viel mehr
deutschen Gemeinden - das gilt auch für Bayern - Wahlkampf machen. Ich muss auch feststellen, dass in diesem
Bereich schon früher viel zu wenig getan worden ist.
({14})
Aber in der laufenden Legislaturperiode sind die Anstrengungen noch einmal drastisch reduziert worden.
({15})
Erst nach dem 11. September 2001 hat man wieder begonnen, hier etwas zu unternehmen.
Was den Bereich der Zuwanderung angeht, so hat die
Bundesregierung - das haben Sie nicht erwähnt - Mitte
August mit einer Kampagne, die mehr als 2,5 Millionen
Euro gekostet hat,
({16})
in einer, wie ich meine, schamlosen Weise Steuergelder
veruntreut,
({17})
um damit Wahlkampf zu machen.
({18})
Meine Juristen sagen mir, ein ernsthafter Zweifel daran,
dass die vom Bundesverfassungsgericht beschriebenen
Grenzen zur Informationstätigkeit im Wahlkampf überschritten worden sind, sei nicht möglich.
({19})
- Die können es mit Ihnen allemal aufnehmen.
({20})
Deswegen sage ich auch hier vor dem Parlament: Das
ist politische Veruntreuung von Steuergeldern und
({21})
- das müssen Sie sich sagen lassen - politische Veruntreuung.
({22})
Sie müssen sich auch sagen lassen, dass es nicht nur eine
rechtswidrige Ausgabe war, sondern dass es darüber hinaus eine bewusste Desinformationskampagne ist. Dies
sind Lügenkampagnen auf Steuerzahlers Kosten.
({23})
Darin wird dargestellt, dass das Ziel ist, die Zuwanderung zu reduzieren. Dazu muss ich aus der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfes zitieren. In der amtlichen
Begründung heißt es:
Zu den öffentlichen Interessen gehören im Gegensatz
zum geltenden Ausländergesetz nicht länger eine
übergeordnete ausländerpolitische einseitige Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung oder der
Anwerbestopp.
({24})
Es ist also völlig eindeutig, dass es darum geht, Zuwanderung zu erweitern. Wir aber wollen Zuwanderung reduzieren, und zwar auf ein sozialverträgliches Maß.
({25})
Ein zweiter Punkt, Herr Kollege Schily. Sie sind so
stolz auf das, was an Integrationsleistungen erbracht
wird. Ich weise darauf hin, dass Integrationsleistungen für
die Hunderttausende, die nicht integriert sind, obwohl sie
hier leben, leider nicht finanziert werden und auch keine
Ansprüche darauf bestehen.
({26})
Wir wollen aber nicht die Zuwanderung erweitern, um
dann die zukünftig Einwandernden nur mäßig mit Kursen
zu versorgen und auch sonst für die Integration zu wenig
zu tun,
({27})
sondern wir wollen dafür sorgen, dass diejenigen, die hier
leben, aber noch nicht angekommen sind, besser integriert
werden. Dafür wird zu wenig getan.
({28})
Ich will deutlich darauf hinweisen, dass von allen Innenministern der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, auch der SPD-Länder, mehrere Beschlüsse gefasst
worden sind, nach denen ein Rückführungskonzept für afghanische Flüchtlinge zu erstellen ist. Der UN-Beauftragte hat in den Niederlanden erklärt, dass 80 Prozent der
afghanischen Flüchtlinge aus den Niederlanden bzw. aus
Europa zurückkehren könnten. Alle Innenminister der
Länder haben Sie mehrfach beauftragt, Rückkehrkonzepte zu entwickeln, wie es sie früher für Bosnien und das
Kosovo gegeben hat. Dazu ist nichts getan worden. Sie
wollen offensichtlich den Grünen nicht allzu sehr auf die
Füße treten.
({29})
Jetzt will ich noch etwas zu den Fragen des Sicherheitspakets sagen. Ich behaupte nicht, dass da Falsches
gemacht worden ist.
({30})
Ich habe die Sicherheitspakete I und II immer begrüßt.
Weil sie unserer Meinung entsprachen, haben wir diesen
Paketen in Bundestag und Bundesrat auch zugestimmt.
Aber ich sage Ihnen: Sie sind nur halbherzig umgesetzt
worden.
({31})
Herr Kollege Schily, Sie haben in der Frage der Biometrie Behauptungen aufgestellt und einen schönen Pass
gezeigt. Ich will Ihnen ein Ausweispapier zeigen, das ich
mir mit Datum vom 29. August habe ausstellen lassen und
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({32})
für das Sie keine internationale Vorschrift haben verändern müssen, nämlich den Personalausweis. Dieser Personalausweis ist präzise in derselben Form ausgestellt
worden, wie er vor 15 Jahren ausgestellt worden ist. Da
besteht kein Anlass zu Selbstgerechtigkeit. Ich bleibe bei
meiner Behauptung: Nicht einmal in der Frage der eindeutigen Identifizierung der Personen, die aus Gefährderstaaten kommen, ist etwas getan worden.
({33})
Heute haben Sie die Erklärung des Bundeskanzlers vom
Sonntagabend schon wieder zur Hälfte zurückgenommen.
Schröder hat erklärt, ab 1. Januar 2003 werde die Biometrie für die Identifizierung der Besucher aus den Gefährderstaaten eingesetzt. Sie haben heute gesagt, es werde im
Laufe des nächsten Jahres erfolgen. Wir glauben nicht,
dass dies in dieser Zügigkeit erfolgt, weil man hier bisher
in erheblichem Umfange geschludert hat und nicht
schnell genug vorgegangen ist, obwohl es von zentraler
Bedeutung ist.
({34})
Ich bleibe dabei, dass England und Italien in diesen Bereichen weiter sind. Über Italien wurde gestern in den Zeitungen detailliert berichtet; die Zeit reicht nicht aus, es
darzustellen.
({35})
Eines lasse ich mir nicht gefallen, auch wenn Sie heute
sehr moderat waren: dass Sie Unwahrheiten darstellen
und auch heute wieder dargestellt haben.
({36})
Sie behaupten, Herr Schily, dass die Regelanfrage in allen Ländern durchgeführt werde. Das ist falsch. Die Regelanfrage wird - ({37})
Eine Regelanfrage bedeutet - ich nehme an, dass nicht
alle dies wissen; aber Herr Kollege Schily weiß es -, dass
die Anfrage beim Verfassungsschutz in allen Fällen erfolgt. So lautete auch die Empfehlung des Bundesrates. In
Schleswig-Holstein wird die Regelanfrage von der Zustimmung des Betroffenen abhängig gemacht.
({38})
In Nordrhein-Westfalen ist die Regelanfrage auf die Gefährderstaaten beschränkt. Seit dem Vorfall in Heidelberg
wissen wir, dass auch die Türkei unter allen Umständen
erfasst werden muss.
({39})
In Berlin bezieht sich die Regelanfrage nur auf einen Katalog von Straftaten. Ich fordere Sie auf, sich hier öffentlich zu entschuldigen, dass Sie mir gestern vorgeworfen
haben, in diesem Punkt die Unwahrheit zu sagen,
({40})
während Sie selber mit Unkenntnis bzw. mit der Unwahrheit arbeiten.
({41})
Das gilt auch für einen weiteren Fall: Ich klage an, dass
diese Regierung und diese Koalition
({42})
die bloße Sympathiewerbung für terroristische Organisationen straflos gestellt haben.
({43})
Wer mit einem Schild „Lang lebe Osama Bin Laden!“
durch Deutschland läuft, kann dank Rot-Grün nicht mehr
bestraft werden. Ich halte dies für einen Skandal.
({44})
In diesem Zusammenhang haben wir einen Streit hinsichtlich eines Gewaltvideos.
({45})
- Ja, das ist richtig. Ich habe es an die „Bild“-Zeitung
geschickt. Das ist auch in Ordnung.
({46})
Ich kann Ihnen nur sagen: Entgegen der Behauptung von
Herrn Schily - ich weise seine anders lautende Darstellung
hier dezidiert als unwahr zurück - hat am 23. August ein
mir namentlich bekannter Mitarbeiter meines Hauses den
Abteilungsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz
angerufen und am selben Tag hierüber eine Aktennotiz erstellt. Am 28. August hat darüber ein weiteres Gespräch
stattgefunden, dessen Inhalt dezidiert dargestellt worden
ist. Der Abteilungsleiter hat darauf hingewiesen, dass das
Bundesamt schon mehrere ähnliche Videos selbst in Besitz
hat. Die Videos wurden dann ausgetauscht.
Ich lasse es nicht zu, dass Sie sich hier moderat geben
und zugleich außerhalb dieses Saales mit Unwahrheiten
arbeiten.
({47})
Herr Kollege Schily, ich muss Ihnen sagen, dieser Fall erinnert mich an den Fall der NPD, bei dem Ihre Mitarbeiter offensichtlich auch nicht den Mut hatten, mit Ihnen
ehrlich zu reden, weil Sie mit ihnen genau so umgehen,
wie Sie mit mir gestern auf der Pressekonferenz umgegangen sind.
({48})
- Das müssen Sie sich schon anhören. - Sicherheit ist
Teamarbeit. Deswegen muss man auch mit Kolleginnen
und Kollegen der Polizei teamfähig sein und darf sie nicht
in einer Art und Weise behandeln, dass sie sich nicht einmal mehr trauen, dem Chef die Wahrheit zu sagen, sondern lieber mit irgendwelchen Ausflüchten kommen.
({49})
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({50})
Meine Damen und Herren, ich schließe mit einem Dank
an Polizei, BGS und Hilfsorganisationen, die in der Tat
Großartiges leisten. Sie haben nicht nur bloße Worte verdient, sondern es ist Zeit für Taten. Diese Taten werden wir
vollbringen, wenn uns der Wähler den Auftrag dazu gibt.
({51})
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für
die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Hier im Bundestag diskutieren wir zu
Recht sehr kontrovers über die Innenpolitik, gerade auch
über die Gesetzespakete, die in den letzten zwölf Monaten beschlossen wurden. Die FDP hat zu ihnen auch klar
Position bezogen. Bisher haben wir hier aber noch keine
Debatte darüber geführt, die in erster Linie aus Vorwürfen
bestand, es seien Lügen und Unwahrheiten geäußert worden. Deshalb erlaube ich mir, jetzt wieder zu den Sachverhalten zurückzukehren.
({0})
Die Haushalte des Bundesministeriums des Innern und
der Justiz weisen ebenso wie im vergangenen Jahr einen
Anstieg auf. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Institutionen in Deutschland, die sich mit der Anwendung der Gesetze zu befassen haben, gestärkt werden. Dies unterstützen wir, denn wir treten dafür ein, dass die Kernaufgaben
des Staates von dessen Verwaltungen und Einrichtungen
effizient wahrgenommen werden.
({1})
Deshalb sagen wir auch klar: Das dafür erforderliche Geld
muss vorhanden sein. Wir stehen allerdings als Einzige
dazu, dass infolgedessen an anderen Stellen gespart werden muss. Das ist keine angenehme Mitteilung, sondern
bittere Medizin, aber wir sagen dies den Bürgerinnen und
Bürgern schon vor dem 22. September deutlich.
({2})
In der nächsten Legislaturperiode muss es darum gehen, die Effizienz der Verwaltung zu stärken, den Gesetzesdschungel zu lichten, die Bürokratie an den Stellen
so weit wie möglich zu verringern, an denen wir sie in dieser Form nicht brauchen, und Zuständigkeitsüberschneidungen wie zum Beispiel zwischen Zollfahndung und
Bundeskriminalamt abzubauen.
Die FDP wird sich jedoch an einen weiteren Wettlauf
um die Verschärfung bestehender Gesetze zum Schutz der
inneren Sicherheit und um die immer weitere Ausdehnung der Kompetenzen nicht beteiligen.
({3})
In diesem Punkt halten wir es mit dem Vorsitzenden der
Europäischen Gewerkschaft der Polizei Hermann Lutz,
der gestern unmissverständlich erklärt hat, wir hätten in
Deutschland zu viele Gesetze, die die Exekutive schon
nicht mehr bewältigen könne; er kennt die Situation sehr
gut aus seiner früheren Tätigkeit als Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in Deutschland. Er hat sich auch
klar zur Aufnahme biometrischer Merkmale in Ausweispapiere geäußert, indem er gesagt hat, dies allein trage
nicht zu mehr Sicherheit in Deutschland bei.
({4})
Herr Bundesinnenminister, ich begrüße, dass Sie der
gleichen Meinung sind. Als wir diese Bedenken bei den
Beratungen im letzten Jahr angemeldet haben, haben Sie
uns vorgeworfen, wir leisteten damit dem Terrorismus
Vorschub. In diesem Bereich brauchen wir eine internationale Sicherheitsarchitektur, die mit den europäischen
Partnern abgestimmt ist.
({5})
Dazu bedarf es noch intensiver Überzeugungsarbeit, gerade
gegenüber den Franzosen. Für die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet muss das deutsch-französische Verhältnis nach
dem 22. September wieder besser funktionieren. In diesem
Zusammenhang kommt es auch uns in den nächsten Monaten darauf an, dass die Bedingungen für die Erteilung von
Visa und für die Feststellung der Identität von Visaantragstellern aus Problemstaaten im Schengen-Raum einheitlich
gestaltet werden. Anderenfalls zeitigt dies nicht die erwarteten Erfolge, denn wir alle wissen: Wenn man über ein
Schengen-Land einreist, dann hat man die Möglichkeit, sich
in diesem Raum frei zu bewegen.
Die FDP hat sich immer der Verantwortung gestellt, die
Maßnahmen gegen Kriminalität und Terrorismus zu ergreifen, die geeignet, notwendig und mit dem Wertefundament
unserer Gesellschaft, also mit den Grundrechten in unserer
Verfassung, vereinbar sind. Vor diesem Hintergrund hat die
FDP im letzten Jahr der Abschaffung des Religionsprivilegs im ersten Sicherheitspaket zugestimmt.
Insofern haben wir darüber durchaus diskutiert, Herr
Beckstein. Es ist nicht leicht, eine solche Entscheidung zu
treffen; sie bedarf intensiver Diskussion mit den Kirchen.
Das ist in dieser Situation erfolgt. Deshalb waren die daraufhin eingeleiteten Maßnahmen und Entscheidungen
gegenüber dem Kalifatsstaat richtig.
({6})
Diese Regelungen sind auch wirkungsvoll, wenn es um
andere Organisationen geht, beispielsweise um Hamas
und Hisbollah. Wenn es Anhaltspunkte in Form konkreter
Tatsachen gibt, dass extremistische Bestrebungen im
Gange sind, dann kann mit dem geltenden Recht dagegen
vorgegangen werden.
({7})
Ich sage hier klar für die FDP: Vage Verdachtsmomente
reichen für uns nicht aus, um Verbote von Vereinigungen
und Ausweisungen von Ausländern vorzunehmen.
({8})
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({9})
Diese Anforderungen an rechtsstaatliche Garantien dürfen und wollen wir Liberale in unserer Demokratie nicht
abschaffen.
({10})
Lassen Sie mich auch ein Wort zur Zuwanderung sagen: Zuwanderung liegt im Interesse unseres Landes.
Deshalb wollen wir, dass sie gesteuert und die Integration
gefördert wird. Wir halten nichts von einem generellen
Anwerbestopp oder von dem diskriminierenden Zuwanderungsausschluss von Menschen aus bestimmten Regionen, zum Beispiel aus dem asiatischen oder arabischen
Raum. Die gesteuerte Zuwanderung für einen Arbeitsplatz, der nach intensiver Prüfung eben nicht von inländischen Arbeitskräften besetzt werden kann, ist geboten.
Deshalb brauchen wir Regelungen zur Steuerung und dürfen nicht dahin zurückfallen, dass wir anfangen, darüber
zu diskutieren, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland ist oder nicht.
({11})
Wir müssen auch verstärkte Anstrengungen bei der
Integration unternehmen. Ein Schwachpunkt im Einwanderungsgesetz ist, dass es die eingetragenen Ansprüche auf den Sprachunterricht zwar für zukünftige Migrantinnen und Migranten gibt, aber nicht für die hier
lebenden Menschen aus anderen Ländern. Eines ist uns
doch ganz klar: Wenn wir das friedliche Miteinander wollen, müssen wir auch mehr in die Menschen investieren,
die schon hier leben und bei denen Integration in diesem
Umfang bisher nicht erfolgt ist.
({12})
- Mich interessiert nicht, wer was wann versäumt hat. Das
bringt den Menschen überhaupt nichts.
({13})
Deshalb sage ich, was wir in der nächsten Legislaturperiode in diesem Bereich tun wollen und auch tun werden.
({14})
Natürlich gehört für uns der interreligiöse und interkulturelle Dialog dazu, der gerade nach dem 11. September intensiviert werden musste. Dieser wird von den Kirchen intensiv geführt und von der Politik insgesamt unterstützt
und gefördert.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat in der Rechtspolitik
einige positive Ansätze der Bundesregierung unterstützt
und ihre eigenen Änderungsvorschläge eingebracht. Dort,
wo wir sie durchsetzen konnten, haben wir ein gutes Ergebnis erzielt; ich denke zum Beispiel an das Urhebervertragsrecht. Wir sehen aber auch eine Notwendigkeit
zur Korrektur. Ich habe leider nicht genug Zeit, das im
Einzelnen auszuführen. An erster Stelle nenne ich das
Mietrecht, in dem wir wieder ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Mieterinteressen und den Interessen der
Investoren und Eigentümer brauchen.
({15})
Natürlich gibt es auch ungelöste Fragen im Urheberrecht,
im Wirtschaftsrecht, beim Sanktionensystem, im Strafrecht und bezüglich der trotz Ankündigung noch nicht
umgesetzten Neugestaltung der Rechtsanwaltsvergütung.
({16})
In der Rechts- und Innenpolitik gelten für die FDP in
der nächsten Legislaturperiode folgende Maximen:
Klasse statt Masse, Analyse vor Aktionismus, Bürger- und
Freiheitsrechte verteidigen sowie die wirkungsvolle Anwendung von Gesetzen verbessern.
Vielen Dank.
({17})
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Dietmar Bartsch für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich würde hier auch gerne den Stil
von Frau Leutheusser-Schnarrenberger, nämlich einen etwas sachlicheren, zum Vortrag bringen. Zu den letzten
vier Wünschen kann ich für die PDS-Fraktion beinahe Ja
sagen.
({0})
- Das war sehr allgemein gehalten, weswegen ich Ja sagen kann; Sie ja vielleicht auch.
Ich will mich in der Debatte auf den Haushalt für die
öffentliche Sicherheit konzentrieren. Das ist nach dem
gestrigen 11. September wahrscheinlich auch verständlich. Zu Beginn will ich zwei Dinge feststellen, die das
ganze Haus wahrscheinlich einen:
Erstens. Wir fühlen mit denjenigen, die nach dem
11. September Angst haben, denen die schrecklichen Bilder noch vor Augen stehen und die die Traumatisierungen
noch nicht überwunden haben oder bei denen sie wieder
aufbrechen können.
Meine zweite Feststellung: Ja, der Staat hat die Aufgabe, die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten.
Dafür hat er das Gewaltmonopol. Ich freue mich darüber,
dass selbst die FDP mehr Staat fordert.
So weit zur Einigkeit. Danach beginnen aber die Unterschiede. Die Bundesregierung und die konservative Opposition verfolgen weiterhin die traditionelle Politik der
inneren Sicherheit, die reine Gefahrenabwehr und die Aufrüstung von Polizei und Geheimdiensten zulasten der Bürgerrechte. Die PDS tritt dagegen für öffentliche Sicherheit
in einer offenen Gesellschaft, für inneren Frieden, für gesellschaftlichen Ausgleich und für soziale Gerechtigkeit,
aber nicht für den Abbau von Freiheit und Selbstbestimmung ein.
({1})
Öffentliche Sicherheit bedeutet, Demokratie und Freiheitsrechte zu stärken, sie nicht zu reduzieren. Menschen
verschiedener Herkunft und Kultur müssen als gleichwertig anerkannt werden. Der interkulturelle Dialog, die
interkulturelle Bildung sind auf allen Ebenen zu stärken.
Zur öffentlichen Sicherheit gehört auch, dass man die
Ursachen dafür, dass sich Menschen in dieser Gesellschaft von ihr abwenden und Straftaten begehen, begreift
und bekämpft. Öffentliche Sicherheit setzt entsprechende
Bedingungen im Wohnumfeld und an vielen Stellen voraus. Öffentliche Sicherheit ist also eine gesellschaftspolitische Aufgabe und keine Aufgabe von Polizei und Geheimdienst.
Es sei erlaubt, hier den Bundesinnenminister als Kronzeugen zu zitieren. Otto Schily hat in einem Interview mit
der „Frankfurter Rundschau“ gesagt:
Man muss beim Schutz der offenen Gesellschaft aufpassen, dass der Schutz nicht darin besteht, die offene Gesellschaft aufzugeben.
Doch mit seinen Sicherheitspaketen wird genau das Gegenteil getan. Die offene und freiheitliche Gesellschaft
wird Stück für Stück demontiert, Bürgerrechte werden beschnitten. Nehmen Sie als Beispiel das Sicherheitsüberprüfungsgesetz mit seinen Nebenbestimmungen! Jeder,
der vor zehn Jahren einmal ein Flugblatt mit falschen Informationen verteilt hat - das kann auch für manchen der
hier Anwesenden gelten - und nun in einem sicherheitssensiblen Bereich arbeitet, ist in der Gefahr, seinen Arbeitsplatz zu verlieren; denn er kann für unzuverlässig erklärt werden. Die Gründe dafür braucht man nicht
mitzuteilen. Das heißt, dieser Mensch kann sich nicht
wehren, obwohl er seinen Job verliert. Heribert Prantl hat
dazu in der „Süddeutschen Zeitung“ gesagt, die Sicherheitsgesetze „operieren mit einem Generalverdacht und
sie geben einer rechtsstaatlichen Kontrolle der neuen Befugnisse wenig Raum“.
({2})
Die Sicherheit wird immer mehr in die Hände der Geheimdienste gegeben. Doch da wird der Bock zum Gärtner gemacht. Wir brauchen uns nur die V-Leute-Skandale
der letzten Monate anzuschauen, um zu erkennen, was
sich für finstere Gestalten, denen man nicht über den Weg
trauen mag, bei den Geheimdiensten herumtreiben. Selbst
den Grünen ist das mittlerweile unheimlich geworden;
heute wollen sie zu diesem Thema gar nicht reden. Sie fordern eine bessere Kontrolle der Geheimdienste. Die
34 Prozent mehr an Mitteln für den Verfassungsschutz
sind kein Ruhmesblatt. Man könnte einmal die Frage stellen, wie viel davon direkt an die NPD geht.
({3})
Im Übrigen zeigt das Beispiel Heidelberg sehr schön,
dass manches anders funktioniert. Dort war es ganz normale polizeiliche Arbeit, die Schlimmes verhütet hat.
Kein Verfassungsschutz und kein Nachrichtendienst waren dazu nötig.
Die eigentlichen Hausaufgaben hat die Bundesregierung nicht gemacht. Maßnahmen, die zu mehr Sicherheit
führen können, sind unterblieben. Wichtige Schritte, zum
Beispiel bei der Flughafensicherung, sind bis heute nicht
gemacht worden. Auf diesem Gebiet erwarten die Menschen zu Recht eine Verstärkung der Sicherheit. Was aber
ist geschehen? Die Privatisierung der Sicherheitsaufgaben
in Flughäfen - die Tendenz geht zu Billiglohnfirmen geht unverändert weiter. Bei der Auftragsvergabe an solche Firmen wird nach Gewerkschaftsangaben weder auf
die Einhaltung von Tarifverträgen geachtet noch gibt es
ein einheitliches Ausbildungsniveau. Entsprechend ist die
Motivation dieser Beschäftigten. Auf diesem Gebiet liegen die eigentlichen Aufgaben, nicht in einem noch weiteren Aufbau der Wasserköpfe in den Geheimdiensten.
Da meine Redezeit bald abgelaufen ist, bitte ich Sie,
mir unbedingt zu gestatten, auf einen Punkt einzugehen,
der mit dem Haushalt direkt zu tun hat. Der Bundeskanzler hat - das steht sogar im SPD-Wahlprogramm - von der
Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten und im
Westen gesprochen. Außerdem ist ein Zeitplan für das
Vorgehen bis 2007 vorgeschlagen worden. Die Forderung, einen solchen Zeitplan vorzulegen, erhebt die PDS
seit vielen Jahren. Bis 2007 soll also eine hundertprozentige Lohn- und Gehaltsangleichung erreicht sein.
Wie ist die Realität des Haushalts? Kein einziger Cent
ist dafür eingestellt. Es ist offensichtlich so wie bei der
Chefsache Ost: Erst einmal wird etwas verkündet und in
der Praxis passiert dann nichts. Es kann nicht sein, dass in
dieser Angelegenheit in der Realität nichts passiert. Dazu
kommt, dass in den Ländern und Kommunen wirklich
keine finanziellen Handlungsspielräume mehr vorhanden
sind. Dieser Punkt ist absolut zu kritisieren.
Auf dem Gebiet der inneren Sicherheit hat es in den
letzten vier Jahren einen Wettlauf von Herrn Schily und
Herrn Beckstein gegeben. Gewonnen hat keiner; verloren
haben wir alle.
({4})
An einigen Punkten ist die Verfassung demontiert worden.
Danke schön.
({5})
Jetzt spricht die Bundesministerin der Justiz, Dr. Herta Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will nicht nur zur Rechtspolitik der letzten vier Jahre,
sondern auch zum Haushalt 2003, der diese Rechtspolitik
unterstreicht, Stellung nehmen. Alles, was ich sage, stelle
ich unter den Obersatz: Die Rechtspolitik der letzten vier
Jahre war durch einen klaren Reformkurs geprägt. Der
Haushaltsentwurf 2003 ist die Grundlage für dessen konsequente Fortsetzung.
({0})
Der Reformkurs unserer Rechtspolitik beruht auf drei
Schwerpunkten: zum Ersten auf der Hilfe und Unterstützung für Schwächere durch Recht, zum Zweiten auf der
Modernisierung von Recht und Justiz und zum Dritten
- dieser Bereich wird ja, wie wir wissen, immer wichtiger auf der Verbesserung der europäischen und der darüber
hinaus reichenden internationalen Kooperation zur Stärkung der Grund- und Menschenrechte, zur Stärkung der
Stärke des Rechts, also der Rule of Law - das ist gerade
jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts und im Zuge der beginnenden Globalisierung, weltweit eine ganz wichtige
Forderung und Aufgabe -, zur Verbesserung im Kampf
gegen Verbrechen sowie zur Herstellung eines einheitlichen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
Lassen Sie mich mit dem ersten Schwerpunkt beginnen. Viele von Ihnen, die sich für diese Fragen interessieren - ich sehe, auf der Bundesratsbank sind nicht mehr
viele anwesend -,
({1})
werden wissen, dass schon die römische Zwölftafel-Gesetzgebung 450 vor Christus den Satz kannte: Recht dient
dem Schutz der Schwachen.
({2})
Recht ist der Schutz der Schwachen. Dieses Verständnis
beruht auf alter europäischer Tradition. Wenn man
- das ist meine einzige Kritik an Ihrer Rede, verehrte Frau
Leutheusser-Schnarrenberger - die wirtschaftlich Privilegierten so einseitig in den Vordergrund stellt, sollte man
darüber, glaube ich, ein bisschen nachdenken.
({3})
Hilfe und Unterstützung für Schwächere durch Recht
brauchen wir auf vielen Gebieten. Wir haben dies in den
vergangenen vier Jahren in den Vordergrund gestellt. Im
Bereich der Kinder, die dies in besonderer Weise brauchen, haben wir bei der Ächtung von Gewalt in der Erziehung eine Menge erreicht - leider Gottes nicht mit Zustimmung der Opposition.
({4})
Aber die FDP hat zugestimmt. Das möchte ich der Objektivität halber sagen.
Es ging auch um den zusätzlichen Schutz der Kinder
vor sexuellem Missbrauch.
({5})
Hier haben wir viel erneuert. Heute sind die Durchführung und der Vollzug, durch Gerichte und in den Ländern, noch ein großes Problem. Unsere Initiativen aber
schlagen sich positiv nieder: Die Straftaten gerade in diesem Bereich konnten zurückgedrängt werden, obwohl wir
wissen, dass das Anzeigeverhalten bei sexuellem Missbrauch im unmittelbaren Nahbereich - das ist ja leider der
Hauptbereich - zunimmt.
Gewalt zurückzudrängen war auch in diesem Bereich
eine wichtige Aufgabe. Wir haben es geschultert,
während andere vor uns darüber geredet, aber nichts getan haben.
({6})
Als Stichwort nenne ich das Gewaltschutzgesetz, das pro
Jahr 44 000 Frauen nützt, die vor ihren prügelnden Männern von zu Hause in ein Frauenhaus fliehen mussten und
von denen zwei Drittel Kinder haben.
({7})
Es geht doch nicht an, dass in einer Gesellschaft, die auf
ihre Rechtsstaatlichkeit stolz ist, geduldet wird, dass
sich Gewalt durch einen Stärkeren noch lohnt - dadurch, dass er die gemeinsame Wohnung und das Umfeld behalten kann -, während die Schwächere und Geschlagene mit den Kindern in ein Frauenhaus gehen
muss.
({8})
Meine Damen und Herren, wir haben dieses Gesetz beschlossen. Ich weiß, das war Neuland. Aber es ist wirklich
ärgerlich, dass beispielsweise Hessen, Sachsen oder Sachsen-Anhalt ihre geänderten Landespolizeigesetze immer
noch nicht in Kraft gesetzt haben, mit denen dieser erste
Abschnitt des Wegweisungsrechtes und der Wegweisungsmöglichkeiten im polizeilichen Vorabvollzug
tatsächlich gewährleistet werden kann.
({9})
Meine Bitte geht dahin, dass dies endlich einmal passiert.
({10})
Es ist außerordentlich wichtig, dass wir hier den Vollzug anmahnen und dass wir da, wo wir Einfluss haben
- in einigen dieser Länder haben Sie Einfluss, verehrte
Kollegen von der CDU/CSU; deswegen habe ich mich,
auch wenn jetzt niemand mehr da ist, vorher an den
Bundesrat gewandt -, dafür sorgen, dass dies getan
wird.
Ein weiterer Bereich betrifft die Opfer von Straftaten.
Hier sind zum Beispiel die Verstärkung des Täter-OpferAusgleichs und die Verbesserung des Strafvollzuges, und
zwar durch die Stärkung der Resozialisierung als vorbeugenden Opferschutz, zu nennen, auch der Fonds für die
Opfer von rechtsextremistischen Gewalttaten und die
schnelle Hilfe für die Opfer des Terrorismus bei dem entsetzlichen Anschlag auf die jüdische Synagoge auf Djerba
oder in New York. Hier hat die Bundesregierung, übrigens
genauso wie bei der Fluthilfe, verlässlich, mit Augenmaß
und sehr schnell gehandelt und geholfen.
Das meinen wir, wenn wir von Hilfe und Unterstützung
für Schwächere sprechen. Danach haben wir uns in den
vergangenen vier Jahren gerichtet. Das war richtig. Diesen Kurs werden wir mit der Reform des Sanktionensystems und einer Abführung von 10 Prozent der
Geldstrafen für Zwecke der Opferhilfe, durch Verfahrensänderungen und Stärkung der Opferrechte im Rahmen der
Strafprozessreform und durch eine Veränderung des
Adhäsionsverfahrens, das bisher einfach nicht praktikabel
ist, fortsetzen. Wir wollen mit Letzterem erreichen, dass
für durch Straftaten geschädigte Opfer nur ein Verfahren
({11})
und eben nicht zwei Verfahren nötig sind. Ich glaube, da
wäre es ganz gut, wenn auch die Teile der Opposition, die
im nächsten Bundestag vertreten sein werden, ihren bisherigen ablehnenden Standpunkt überdenken.
({12})
Aber den Grundsatz, dass das Recht die Stärke der
Schwächeren ist oder ihnen helfen soll, haben wir auch in
vielen anderen Bereichen verwirklicht. Ich möchte hier
einige Stichworte nennen: die Integration von Behinderten, die Hilfen für Verbraucher und Immobiliengeschädigte, die Stärkung der Verbraucherrechte durch die
Schuldrechtsmodernisierung. Lassen Sie mich auch auf
die Reform des Urhebervertragsrechtes hinweisen. Ich
habe mich sehr gefreut, dass letztendlich auch aus den
Reihen der Union und der FDP Zustimmung gekommen
ist, weil der Grundsatz, dass einzelne Freiberufliche jetzt
durch einen Zusammenschluss auf gleicher Augenhöhe
mit den Verbänden der wirtschaftlichen Partner die Vergütungen aushandeln können, richtig ist. Auch er entspricht unserer europäischen Rechtstradition. Deswegen
werden wir auch hier weiterarbeiten.
Meine Damen und Herren, zum zweiten Schwerpunkt,
nämlich der Modernisierung von Recht und Justiz, will
ich Ihnen einige Stichworte nennen, die Sie sehr wohl
kennen. Man glaubt es nicht, aber es war Rot-Grün - Sie
haben es ja vorher nicht gemacht -, die die rechtlichen
Grundlagen für die Verwendung der Informations- und
Kommunikationstechnologien im Rechts- und Geschäftsverkehr geschaffen haben. Wir haben das Mietrecht ausgewogen reformiert und modernisiert. Das war seit Mitte
der 70er-Jahre eine Forderung des Deutschen Bundestages. Die Forderung nach einer Modernisierung des
Schuldrechts bestand seit Anfang der 80er-Jahre. Die Verfahrensreform, die wir mit der ZPO begonnen haben, werden wir ebenfalls weiterführen.
({13})
Lassen Sie mich noch einen fünften Punkt erwähnen: Über
die Juristenausbildung haben wir in diesem Haus und gerade unter Fachleuten x-mal geredet. Nach langem Stillstand und - das ist, wie ich glaube, ganz wichtig zu sagen nach guter Vorbereitung haben wir sie endlich reformiert.
({14})
Ich bin übrigens sehr zufrieden, dass es gelungen ist
- dafür habe ich letztendlich ja auch die Unterstützung des
ganzen Hauses bekommen -, das Deutsche Patent- und
Markenamt durch Einführung von moderner EDV und
Schaffung zusätzlicher Stellen zu modernisieren. Patente
sind nun einmal Ausweis für die Leistungsfähigkeit eines
Landes und die steigt bei uns. Für die Bearbeitung der Patentanträge brauchen wir auch adäquate Verfahren.
Meine Damen und Herren, zur internationalen Zusammenarbeit: Hier geht es in der Tat darum, die Rule of
Law durchzusetzen, also Rechtsstaatlichkeit, Bürgerfreiheiten und Bekämpfung von Kriminalität, auch von organisierter Kriminalität, und Terrorismus. Es gibt sehr viele
und Gott sei Dank gute Beispiele, dass dies in Europa
mehr als früher gelungen ist: vom europäischen Haftbefehl bis zur gemeinsamen Bekämpfung des Terrorismus in
Europa. Wir stehen - lassen Sie mich das an diesem Tage
noch einmal sagen - auf der Seite der Vereinigten Staaten,
wenn es um die Bekämpfung des Terrorismus geht.
({15})
Die Zusammenarbeit ist gut. Ich freue mich sehr, dass
zum Beispiel der amerikanische Justizminister dieses ausdrücklich auch in persönlichen Schreiben immer wieder
anerkennt. Das BMJ hat eine Oberstaatsanwältin vom
Generalbundesanwalt ständig nach Washington geschickt. Ihnen allen ist bekannt, dass Rechtshilfe und Auslieferung natürlich umso besser funktionieren, je selbstverständlicher die bisher von beiden Seiten praktizierten
anerkannten Grundsätze und rechtsstaatlichen Prinzipien
- das werden die europäischen Justizminister mit U.S. Attorney General Ashcroft am Samstag besprechen - eingehalten werden, und das bedeutet, dass die Dokumente, die
wir übergeben, weder zur Androhung noch zur Verhängung von Todesstrafen, noch zur Exekution genutzt werden dürfen.
({16})
Ich freue mich sehr, dass der Internationale Strafgerichtshof, unterstützt von allen Seiten des Hauses - ich
darf das ausdrücklich sagen -, trotz Schwierigkeiten mit
den USA seine Arbeit aufnehmen konnte und dass im
kommenden Frühjahr die ersten Fälle behandelt werden
sollen. Auch die Arbeit des Menschenrechtsinstituts, die
Verstetigung der Arbeit des Instituts für internationale
Rechtszusammenarbeit - das jetzt auf ständigen Haushaltsbeschlüssen des Deutschen Bundestags aufbaut sind hervorragend und weiterführend. Die Arbeit der IRZ
zeigt, dass unsere rechtspolitsche Arbeit gerade in den
letzten vier Jahren zu einem Exportschlager geworden ist.
Die wollen und werden wir fortführen.
({17})
Der Haushaltsplan 2003 ist darauf ausgerichtet. Er
weist mithilfe des Gutachtentitels auch aus, dass und wo
wir eine Menge vorhaben. Das reicht von der Charta der
Patientenrechte über die Reform des Versicherungsvertragsgesetzes, die Fortführung der Erweiterung der
Transparenz in Unternehmen und des Schutzes der Anleger in Verbindung mit der Kodexkommission bis zur Reform des Betreuungsrechtes und der einheitlichen Gestaltung der Unterhaltsprinzipien.
Lassen Sie mich noch hinzufügen: Ich denke, wir sollten uns für die kommenden vier Jahre auch gemeinsam
die Rechtsbereinigung vornehmen. Das habe ich vor. Ich
freue mich auf den konstruktiven Streit mit Ihnen von der
Opposition, allerdings auch auf Ihre Unterstützung dabei
in den nächsten vier Jahren.
Herzlichen Dank.
({18})
Der letzte Redner des
heutigen Tages ist der Kollege Wolfgang Bosbach für die
Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich möchte nur zu zwei Themen etwas sagen, weil sie in den vergangenen Jahren von
großer Bedeutung waren und wir gemeinsam der Überzeugung sind, dass sie auch in der Zukunft von Bedeutung
sein werden: Zuwanderung und innere Sicherheit.
({0})
Minister Beckstein hat die Bundesregierung meines
Erachtens noch zu milde behandelt, zu wenig kritisiert;
({1})
denn das, was vor wenigen Wochen geschehen ist, ist in
jeder Hinsicht unbegreiflich. Genau in den Tagen, in denen die gesamte Nation aufgefordert worden ist, für die
Flutopfer zu spenden und den Menschen zu helfen, greift
die Bundesregierung in die Kasse, nimmt das Geld des
deutschen Steuerzahlers, 2,6 Millionen Euro, und zwar
nicht etwa um die Bevölkerung über das neue Zuwanderungsgesetz zu informieren,
({2})
sondern um die Bevölkerung über den Inhalt dieses Gesetzes zu täuschen.
({3})
Das ist nicht nur wegen der kurzen Zeit bis zur Bundestagswahl verfassungswidrig,
({4})
das ist vor allen Dingen in hohem Maße unanständig.
({5})
Dieses ganze Pamphlet ist ein Sammelsurium von Plattitüden, von Halbwahrheiten,
({6})
von glatten Unwahrheiten. Das ist deswegen so interessant, weil Sie immer gesagt haben, es sei unanständig, im
Wahlkampf über das Thema Zuwanderung zu sprechen.
({7})
Es bestehe die Gefahr, dass man dann Politik auf dem
Rücken der Zuwanderer mache. Ich weiß, warum Sie
Angst haben,
({8})
dass im Wahlkampf über das Thema Zuwanderung gesprochen wird: weil die Bevölkerung erfahren könnte,
was in dem Gesetz steht und was mit diesem Gesetz bezweckt wird. Das ist Ihre große Angst.
({9})
Zeigen Sie mir doch bitte einmal die Stelle in diesem
Papier, an der steht, dass der Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer generell und nicht etwa nur für besonders hoch Qualifizierte aufgehoben wird! Wo steht in diesem Papier, dass Zuwanderung aus rein demographischen
Gründen ohne Nachweis eines konkreten Arbeitsplatzes
erlaubt werden soll?
({10})
Wo steht in diesem Papier, dass die Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland nicht länger im öffentlichen
Interesse liegen soll?
({11})
Wenn Sie nichts anderes können, als hier herumzupöbeln, müssen Sie in der Sache ganz schlechte Argumente
haben.
({12})
- Sie brechen ja schon in Panik aus, wenn man wortwörtlich aus Ihrem Gesetzentwurf zitiert. Dann fallen Sie
schon in Ohnmacht!
({13})
Das sagt doch alles darüber, welch großes Interesse Sie
daran haben, dass die Bevölkerung nicht erfährt, wohin
die Reise gehen soll. Das ist der Kern, um den es hier geht.
({14})
Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung. Wir haben
aber einen erheblichen Mangel an Integration.
({15})
Nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration ist
das Gebot der Stunde.
({16})
Wie man ernsthaft glauben kann, dass bei der dramatischen Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt
({17})
die Aufhebung des Anwerbestopps für Arbeitnehmer aus
Nicht-EU-Ländern die Probleme auf dem Arbeitsmarkt
lösen wird, ist unbegreiflich. Die Probleme werden sich
verschärfen.
({18})
Die Integrationsprobleme werden wir nicht mit mehr
Zuwanderung lösen, sondern nur mit mehr Integration.
({19})
Das ist der Grund dafür, warum dieses Gesetz - nicht nur,
weil es verfassungswidrig zustande gekommen ist ({20})
nicht Bestand haben darf und warum wir es aufheben werden.
({21})
Wir werden die uns belastende Zuwanderung deutlich re-
duzieren und die Integrationsanstrengungen wesentlich
erhöhen.
Beifall bei der CDU/CSU - Sebastian Edathy
[SPD]: Sie sind doch völlig isoliert in dieser
Frage!)
Nur eine solche Politik dient den Interessen unseres Landes und aller Menschen, die hier leben - ganz gleich welche Hautfarbe, Nationalität oder Religion sie haben.
({22})
Zur inneren Sicherheit. Die rot-grüne Koalition hat
nach dem 11. September zwei Sicherheitspakete verabschiedet,
({23})
die auch unsere Unterstützung gefunden haben. Die Maßnahmen, die Sie ergriffen haben, waren notwendig, aber
sie sind bei weitem nicht ausreichend. Sie sind vor allen
Dingen weit hinter dem zurückgeblieben, was notwendig
wäre, um unser Land besser und wirksamer vor Terrorismus und Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen zu
schützen.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, niemand
will - Sie sollten das auch nicht hier suggerieren ({24})
aufgrund von unbewiesenen Gerüchten ausweisen.
({25})
Die entscheidende Frage ist, ob wir so lange warten, bis
wir nach Jahren in der letzten Instanz möglicherweise den
Beweis geführt haben,
({26})
dass jemand einer terroristischen Vereinigung angehört,
oder bis er gar einen Terroranschlag verübt hat, oder ob
wir schon beim Vorliegen konkreter Anhaltspunkte, dass
jemand einer terroristischen Vereinigung angehört, das
Sicherheitsinteresse des Staates höher gewichten als das
Interesse des betroffenen Ausländers an einem weiteren
Aufenthalt in unserem Land. Das ist die Frage, um die es
geht.
({27})
Es gab eine gemeinsame Bundesratsinitiative des Landes Niedersachsen und des Freistaates Bayern. Darauf
hätten wir uns alle einigen können, wenn nicht der Bundesinnenminister und die Bundesjustizministerin von den
Grünen zurückgepfiffen worden wären.
({28})
Wenn der Innenminister in diesen Tagen sagt, der Unterschied sei Wortklauberei, dann muss man sich die Frage
stellen: Wenn es nur um Worte geht, warum hat man sich
dann nicht auf den Text von Niedersachsen und Bayern
verständigt?
({29})
Es geht eben nicht um Worte, sondern es geht um Taten.
Die unübersehbare Diskrepanz zwischen den starken
Sprüchen und den schwachen Taten des Innenministers ist
das Problem dieser Regierung.
({30})
Frau Bundesjustizministerin, dass Sie sich nach dem
11. September dafür eingesetzt haben, dass die Sympathiewerbung für eine terroristische Vereinigung in Zukunft straflos bleibt, ist nicht nur in höchstem Maße peinlich, sondern es ist vor allen Dingen unverantwortlich und
einer Justizministerin unwürdig.
({31})
Es kann doch nicht sein, dass es vor dem 11. September
strafbar war, für Osama Bin Laden Reklame zu laufen,
aber nicht mehr nach dem 11. September. Auch das werden wir ändern.
({32})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Ich unterbreche die Haushaltsberatungen, die wir morgen früh mit der Beratung des Etats des Bundeskanzleramtes fortsetzen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Christian Lange ({1}), Dr. Hans-Peter Bartels, Dagmar Freitag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt,
Kerstin Müller ({2}), Rezzo Schlauch und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages - Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages
- Drucksachen 14/9100, 14/9933 Berichterstattung:
Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier
Andreas Schmidt ({3})
Steffi Lemke
Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler
Es liegt ein Änderungsantrag der PDS vor.
Die Kolleginnen und Kollegen Christian Lange,
Anni Brandt-Elsweier, Eckart von Klaeden, Steffi
Lemke, Jörg van Essen sowie Dr. Ruth Fuchs haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben1). - Ich höre keinen Widerspruch.
Deshalb kommen wir jetzt zur Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Änderung der Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages,
Drucksache 14/9933.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf
Drucksache 14/9949 vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag
ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/9100 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen
die Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 13. September 2002, 9 Uhr, ein.
Ihnen allen wünsche ich einen vergnüglichen und sicherlich auch arbeitsreichen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.