Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder
eröffnet.
Der Ältestenrat hat vereinbart, die heutige Frage-
stunde abzusetzen. Die eingereichten Fragen werden
schriftlich beantwortet.1) Sind Sie einverstanden? - Es ist
kein Widerspruch zu hören. Dann ist es so beschlossen.
Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die FDP ihren
Antrag auf Durchführung einer Aktuellen Stunde am
Donnerstag zurückgezogen hat.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Vereinbarte Debatte
Gewalt und Gesellschaft - Ursachen erkennen,
Werte vermitteln, friedliches Zusammenleben
stärken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Es gibt
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Abgeordneten Wolfgang Thierse.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Über zwei Monate sind seit
der Mordtat von Erfurt vergangen und noch immer sind
wir betroffen und entsetzt. In den Medien ist sie schon
längst wieder an den Rand des Vergessens gedrängt, aber
die unmittelbar Betroffenen, die Eltern und Kinder, die
Lehrer und Bürger von Erfurt, haben das Entsetzen noch
lange nicht bewältigt. Wir fühlen mit ihnen und denken
mit ihnen nach.
Was wir heute und hier tun können, ist, uns mit den
Ursachen dieser Tat zu beschäftigen und uns in allem
Ernst zu fragen, was Politik, was die Gesellschaft, was wir
tun können, um solche entsetzlichen, manchmal auch verzweifelten Ausbrüche von Gewalt zu verhindern. Ich
fürchte, wir müssen diese Diskussion in dem Bewusstsein
führen, dass Staat und Politik nur begrenzt auf solche
durchaus schicksalhaften Ereignisse Einfluss nehmen
können, dass wir aber die Pflicht und Schuldigkeit haben,
dieses Wenige auch wirklich zu tun.
Eine funktionierende, eine im eigentlichen Sinne humane Gesellschaft vermag den jungen, den nachwachsenden Generationen Orientierung, Perspektive und eine
Grundausstattung moralischer Werte zu vermitteln, die
eine sinnvolle, sinnerfüllte Existenz und ein zivilisiertes
Zusammenleben ermöglichen. Bei dem noch jugendlichen
Täter von Erfurt ist das offensichtlich nicht gelungen. Angesichts beunruhigender Gewalt in unserem Alltag ist zu
befürchten, dass dies kein Einzelfall bleiben könnte.
Der ehemalige Verfassungsrichter Böckenförde schrieb:
Der demokratische säkulare Staat, die pluralistische Gesellschaft leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen können. Der Markt kann das schon gar nicht. Moralische
Werte werden wahrlich nicht an der Börse gehandelt!
({0})
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
1) Anlagen 2 bis 14
Aber wenn wir die mündigen Bürgerinnen und Bürger,
die kulturellen Kräfte und Institutionen, die Kirchen und
Religionsgemeinschaften benötigen, um soziale und moralische Grundwerte zu stiften und lebendig zu halten,
dann kann, nein, dann muss Politik mit diesen Werten
mindestens pfleglich umgehen, muss sie beglaubigen und
darf sie nicht zerstören.
Unübersehbar ist aber, dass wir es mit einem Grundwiderspruch zu tun haben zwischen den Werten, zu denen
sich auch die Mitglieder dieses Hohen Hauses immer wieder überzeugt bekennen, und einer alltäglichen sozialen
und ökonomischen Wirklichkeit, die diese Werte verleugnet, erstickt, zerstört. Dieses Widerspruches müssen wir
innewerden, wenn wir glaubhaft über Werte reden wollen.
Ich will ihn an drei Beispielen zu erläutern versuchen:
Wir sind uns einig über den fundamentalen Wert der
Familie für Zivilität und Moralität unserer Gesellschaft,
für die Erfahrung von und die Erziehung zu Solidarität,
Gerechtigkeitsgefühl, Toleranz, Mitmenschlichkeit, für
ebendie grundlegenden Werte, die für den Zusammenhalt
unserer Gesellschaft unersetzlich sind. Wer aber Familie
so lobt und unersetzlich findet, der kann und darf nicht zugleich einer Deregulierungseuphorie, einer Flexibilisierungsideologie und -praxis anhängen, die eben die Familie gefährdet; denn Familie braucht Zeit und Raum für
Geborgenheit, für Zuwendung, für Vertrauen. Wer also
die Familie verteidigen will, darf sie nicht total den Zwängen des Marktes, den Bedürfnissen von Wirtschaft und
Technologie unterwerfen; er muss notwendiger Flexibilität und notwendiger Mobilität vernünftige, somit familienverträgliche Grenzen setzen, also einen familienfreundlichen Rahmen verpassen.
({1})
Wir sind uns einig, dass der Mensch nicht reduziert
werden darf auf die beiden Rollen, in denen er auf dem
Markt vorkommt, nämlich als Arbeitskraft und als Konsument. Der Mensch ist mehr und anderes. Ihn auf seine
ökonomische Leistungsfähigkeit zu reduzieren, diese als
dominanten Maßstab gesellschaftlich zu akzeptieren, ja
zu propagieren, das ist für unsere Gesellschaft lebensgefährlich. Briefe von Schülerinnen und Schülern aus ganz
Deutschland zeigen, dass sie in Leistungs- und Konkurrenzdruck und Versagensängsten Gründe für den Amoklauf von Erfurt sehen. Sie berichten davon, wie sehr sie
selbst unter diesem Druck stehen; sie beobachten Ängste
und Verhaltensstörungen bei ihren Mitschülerinnen und
Mitschülern. Sie sprechen davon, dass Lehrer aussieben
und aussortieren; das empfinden sie als Entwürdigung.
Der leistungsstarke, der konsumreiche, der schöne
Mensch, das ist das Ideal des Marktes, wie es in der Werbung allgegenwärtig und allmächtig zu sein scheint. Eine
Nebenbemerkung: Dass wir alle endlich auch am Sonntag - Stichwort: Schluss mit der Begrenzung von Ladenöffnungszeiten - arbeiten sollen und konsumieren
dürfen, das predigen nicht wenige. So ginge ein weiterer
Freiraum für unser Menschsein jenseits des Marktes verloren.
({2})
Wir sind uns einig darüber, welchen Rang Kommunikation und Massenmedien - dabei besonders das Fernsehen - in unserer Gesellschaft haben und dass wir sie
auch und ganz wesentlich als Kulturgut mit einem Bildungsauftrag verstehen. Aber wir erleben zugleich, dass
sie immer stärker als Wirtschaftsgut betrachtet und immer
gnadenloserem Wettbewerb ausgesetzt werden. Die Folgen sind sichtbar: Es stimmt etwas nicht in einer Gesellschaft, die Gewalt zum wichtigsten Gegenstand ihrer allabendlichen Fernseh- und Videounterhaltung macht.
({3})
Man sage nicht, das bleibe dauerhaft ohne Wirkung. Solcherart Abwiegelungen sind nach Erfurt noch verantwortungsloser als zuvor. Das ist beileibe nicht der Ruf nach
der Zensur, aber der Ruf nach der moralischen Verantwortung der Produzenten und dem kulturellen Widerstand
der Konsumenten, der Ruf, auszuschalten, die Quoten
einfach einmal zu verderben.
Auch die notwendige Bildungsdebatte, die wir ganz
aktuell miteinander führen, weist nach meiner Wahrnehmung im Augenblick eine gewisse Schieflage auf: So
richtig es ist, auch von Schülerinnen und Schülern Leistung zu fordern - und das geschieht ja auch -, so wichtig
ist es, vom Kindergarten bis zur Oberstufe den Bildungseinrichtungen den Freiraum zu schaffen, der es ermöglicht, die Kinder Zuwendung, Vertrauen, Respekt, Solidarität, Lob und Anerkennung erfahren zu lassen, also
Mitmenschlichkeit zu erleben.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ich von mir
selbst und von der Politik, von Volksvertretern insgesamt
erwarte und verlange, ist, dass wir bei unseren Entscheidungen den ganzen Menschen im Blick haben, mit all seinen individuellen Besonderheiten, Fähigkeiten und Bedürfnissen, wobei ich übrigens glaube, dass Leistungen zu
vollbringen zu den menschlichen Bedürfnissen gehört,
die befriedigt werden müssen. Was ich beobachte, ist aber
doch ein Zuviel an politischer Unterstützung, politischer
Bejubelung so genannter Aufbrüche zu immer mehr Flexibilität, Mobilität und Wettbewerb, ein fataler Hang zum,
wie ich finde, beschränkten Fitmachen - wie der verräterische Ausdruck heißt - für die Arbeitswelt anstelle einer
Erziehung zu lernbereiten, zivilisierten, mündigen und
mitleidensfähigen Menschen. Beides ist notwendig: Leistungsorientierung und Werteorientierung.
({5})
Wenn Politik, teilweise unbedacht, daran mitwirkt, eine
Gesellschaft zu gestalten, die das Goldene Kalb des Marktes, des Wettbewerbs und der allein an deren Kriterien gemessenen Leistung anbetet, statt neben notwendigem
Markt und notwendigem Wettbewerb mit demselben Rang
eine Kultur der Anerkennung, der Integration, der Aufmerksamkeit für den ganzen Menschen zu ermöglichen,
dann verfehlt sie ihre Aufgabe, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Dann hilft auch kein „mitfühlender Konservatismus“ mehr, um die Schattenseiten des beschleunigten
Wandels zu beherrschen, die viele als soziale Desintegration, als Ausgrenzungsprozess, als individuelle und kollektive Überforderungsangst, als Furcht vor Statusverlust
und als Orientierungslosigkeit erleben.
Diesen sozialen Dimensionen eines ungesteuerten
Wandels stehen moralische Mängel zur Seite. Wenn jeder
nur für sich selber zu sorgen hat, wie kann er dann noch
für andere einstehen? Wie kann ich verhindern, dass Menschen für Eigenschaften, die nicht vom Markt und von der
Leistungsgesellschaft belohnt werden, gleichwohl Respekt erfahren? Es kann doch kein Zweifel daran bestehen,
dass ständige Zurücksetzung, das Ignoriert-Werden und
frühzeitige oder scheinbar unumkehrbare Ausgrenzung
eine unerhörte Spannung, eine schwer beherrschbare Not
verursachen, die die einen in die Depression und Selbstaufgabe, andere aber in die Versuchung der Gewalt
führen.
Was ist zu tun? Die Menschen selbst - das kann ihnen
niemand wirklich abnehmen - müssen sich ihre Freiräume für Kultur, für zweckfreie Kommunikation, für
Muße, für Zuwendung, für familiäres Beieinandersein,
für Solidarität im Familienverband, im Freundeskreis und
im großen gesellschaftlichen Zusammenhang erarbeiten
und bewahren. Ich lasse mich hinreißen, dies mit dem
amerikanischen Soziologen Robert Putnam „soziales Kapital“ zu nennen, damit auch die Ökonomisierer verstehen, dass sie ohne diese Werte nicht auskommen können.
Solche sozialen und moralischen Netzwerke zu fördern
ist eine unserer wichtigsten Aufgaben als demokratische
Politiker.
Deshalb müssen die Politik, die Parteien, die Regierungen und Parlamente in diesem Fall wirklich als Gegenmacht zur entfesselten Ökonomie Freiräume menschlichen Beziehungsreichtums schützen und wieder neu
schaffen, sie einfordern und ermöglichen. Nur so werden
wir eine Kultur der Anerkennung als Bedingung für ein
menschengerechtes Leben und eben auch als Prävention
gegen Gewalt über den heute stattfindenden dramatischen Wandel hinüberretten können. Nur so werden wir
die Werte, für die wir eintreten und die in Art. 1 unseres
Grundgesetzes - „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - geradezu genial zusammengefasst sind, politisch
beglaubigen können. Die Nagelprobe auf Art. 1 haben
wir als Gesellschaft aber erst bestanden, wenn wir auch
diejenigen wahrnehmen, aufnehmen, respektieren und
schätzen, die am Markt des Geldes und der Eitelkeit
scheitern.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Merkel.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! In dem jetzt vorliegenden Abschlussbericht haben die ermittelnden Behörden die Fakten des Amoklaufs von Erfurt zusammengetragen. Selten hat man Fakten lesen können, die so sachlich,
nüchtern und kalt klingen und uns gerade deshalb alle so
sprachlos machen: Robert Steinhäuser, 19 Jahre alt, hat in
15 Minuten 16 Personen getötet, davon zwölf Lehrer, anschließend sich selbst, mehr als 70 Schüsse in 15 Minuten. Eine Tat, die die Vorstellungskraft von uns allen wohl
bei weitem übersteigt. Mitten ins Leben der Schüler des
Erfurter Gutenberg-Gymnasiums stürmt das Unfassbare.
Mitten ins Leben der Schüler, Lehrer und Eltern bricht an
einem Freitagmorgen 16fach der Tod hinein. Eine Tat, die
eine ganze Stadt, ein ganzes Bundesland, ja eine ganze
Nation jäh aus dem Alltag gerissen hat: Entsetzen, Erschrecken, Fassungslosigkeit.
Aber es gab auch eine andere Erfahrung: Die Trauer
um die Opfer einte das Land und eint es immer noch.
Die Trauer war nicht die einzige Reaktion. So fassungslos wir alle vor diesem Ereignis standen, so beeindruckend war die Welle der Mitmenschlichkeit, die wir
erleben konnten. Die Nation, so oft über nicht allzu Entscheidendes zerstritten, stand zusammen, um zu verarbeiten, was geschehen war. Es war bewegend, zu sehen, wie
diese Stadt im Unglück zusammengehalten hat. Das war
Zusammenleben im besten Sinne. Wir alle sind angesichts
der Hilflosigkeit, die wir verspürten und noch verspüren,
denen zu großem Dank und Anerkennung verpflichtet, die
geholfen und getröstet haben.
({0})
Neben all den Ärzten, Lehrern, Eltern, Pastoren, Psychologen, Nachbarn und den anderen Helfern möchte ich
den Ministerpräsidenten von Thüringen, Bernhard Vogel,
besonders erwähnen. Er hat Thüringen in den schwersten
Stunden seit Bestehen dieses Landes Trost, Kraft und Mut
gegeben, ein Landesvater im besten Sinne des Wortes.
({1})
Wir alle sind noch lange nicht damit fertig, die Folgen
des 26. April zu verarbeiten. Eines der Hauptergebnisse
des Untersuchungsberichts ist: Robert Steinhäuser war
ein Einzeltäter; er hatte keine Komplizen. Seine furchtbare Tat war eine Einzeltat. Ich will ganz ausdrücklich unterstreichen: Es war eine Einzeltat, die sich jedem rationalen Zugang entzieht.
Bei einer solchen Tat, die jenseits unserer Vorstellungskraft und außerhalb jedes nachvollziehbaren Denkens und Handelns liegt, ist es nicht richtig, Kausalketten herzuleiten. Es ist auch nicht richtig, zu fragen,
welche äußeren Ursachen das Verhalten des Täters bestimmt haben. Wer das Unverständliche verstehbar und
das Unerklärbare erklärbar machen möchte, der muss aufpassen, dass er sich nicht - zumindest unterschwellig - auf
die Seite des Täters stellt und versucht, das Unentschuldbare mit irgendwelchen Umständen zu erklären. Diesen
Fehler werden wir nicht machen.
Unser Denken und Fühlen gilt deshalb den Opfern und
nicht dem Täter. Schulverweise gibt es öfter einmal. Aber
sie machen niemanden zu einem kaltblütigen Mörder.
Robert Steinhäusers Mitgliedschaft in einem Schützenverein ändert nichts an der Beurteilung des Charakters
dieser Vereine. Sie sind ein fester Bestandteil von lokaler
Tradition, von Ehrenamt und Bürgergesellschaft.
({2})
Wir wollen auf diese Tradition nicht verzichten.
Dennoch erinnert die Tat an die besondere Verantwortung, die uns allen und auch solchen Vereinen für ihre
jungen Mitglieder zukommt. Es ist auch keine Frage, dass
wir aufgefordert sind, zu handeln. Wir müssen nicht
verstehen und nachvollziehen, warum ein 19-Jähriger
16 Menschen und anschließend sich selbst erschossen hat.
Aber wir müssen Konsequenzen ziehen, um ein weiteres
Erfurt wenn nicht unmöglich, so doch weniger wahrscheinlich zu machen.
Es kann keinen Zweifel geben: Gewalt, egal welcher
Art und egal wie motiviert, darf nicht geduldet und nicht
verharmlost werden.
({3})
Man braucht auch keine Kausalketten, um zu erkennen:
Es ist Zeit, gegen Gewalt und insbesondere gegen Darstellung von Gewalt in den Medien konsequenter vorzugehen. In diesem Punkt können wir alle immer noch
mehr tun.
Wir können erstens schwer jugendgefährdendes Material schlicht und ergreifend verbieten. Nur so können wir
verhindern, dass brutalste Videos und Computerspiele von
älteren Freunden gekauft oder ausgeliehen und dann an die
Jüngeren weitergegeben werden. Es ist richtig, den Zugang zu gewaltverherrlichenden Videos und Computerspielen zu erschweren; denn Killerspiele sind keine Spiele.
({4})
Wir können etwas tun, indem wir zweitens im Rahmen
der freiwilligen Selbstkontrolle die Alterskennzeichnung
auf alle Medien ausdehnen. Bei Filmen ist sie gang und
gäbe. Warum also nicht auch bei Videospielen? Das
würde es den Eltern leichter machen, zu kontrollieren,
womit sich ihre Kinder beschäftigen.
Wir können mehr tun, indem wir drittens im Fernsehen
den Trend zu immer mehr Gewalt - und dies zu immer
früheren Uhrzeiten - dadurch stoppen, dass wir den Jugendschutzbeauftragten in den Medien mehr Kompetenzen geben, die Zuständigkeiten bündeln und die rechtlichen Grundlagen vereinheitlichen. Maria Böhmer aus
unserer Fraktion hat bereits über Jahre hinweg Hunderttausende von roten Karten verteilt, um Eltern zu ermutigen, ihrer Sorge um die Gewalt in den Medien Ausdruck
zu verleihen. Ich finde, wir könnten mehr von diesem Engagement gebrauchen.
({5})
Dass im Namen der Quote auf Qualität verzichtet wird,
daran haben wir uns leider schon gewöhnt. Aber dass im Namen der Quote auf Humanität verzichtet wird, daran dürfen
und werden wir uns nicht gewöhnen. Diese Entwicklung
muss umgekehrt werden; denn die Seelen unserer Kinder
sind millionenmal wichtiger als Einschaltquoten.
({6})
Verbote, Alterskennzeichnungen und besserer Jugendschutz, das sind drei Beispiele für konkrete Schritte,
die wir tun können. Wir bieten hier unsere Zusammenarbeit an und werden dies auch weiter tun. Vor allen Dingen
dürfen wir nicht nur nach aktuellen Ereignissen handeln.
Die Arbeit auf diesem Gebiet muss vielmehr kontinuierlicher Bestandteil unserer politischen Arbeit werden.
Dass wir gemeinsam handeln können - und dies
schnell -, das ist durch die Änderung des Waffengesetzes bewiesen worden. Vier Jahre haben wir darüber diskutiert; zwei Monate nach der Tat von Erfurt ist eine
schärfere Fassung mit einem höheren Mindestalter, einem
Verbot von Pumpguns und einer Verschärfung der Meldepflichten verabschiedet worden.
Die schnelle Einigung beim Waffengesetz ist ein Erfolg, aber in gewisser Weise auch eine Mahnung an die
Politik, eine Mahnung, Mitte und Maß zu halten, wenn
sich die Politik mit Interessengruppen auseinander setzt.
Viele Lobby- und Interessengruppen versuchen, in ihrem
Sinne Einfluss auszuüben. Das gehört zu den demokratischen Spielregeln und das wird auch immer so bleiben.
Aber wir in der Politik haben trotz aller Interessengruppen die Aufgabe, die Interessen der schweigenden Mehrheit in unserer Bevölkerung zu vertreten. Auch diese Aufgabe dürfen wir nicht vergessen.
({7})
Deshalb ist es unsere Pflicht, Schutzwälle zu errichten,
wenn es darum geht, Gewalttaten zu verhindern. Wir können gewiss sein: Damit handeln wir im Sinne der schweigenden Mehrheit. Die Einigung beim Waffengesetz hat
gezeigt: Die Politik ist handlungsfähig, wenn sie sich vor
Augen hält, was wirklich wichtig ist.
Es ist richtig, dass wir in diesen Tagen und Wochen
ausführlich über Schule und Bildung diskutieren. Die
PISA-Studie und die Tat in Erfurt, das sind zwei ganz unterschiedliche, aber doch sehr klare Signale an uns alle:
Die Schule sollte wieder die Priorität erhalten, die ihr im
Leben eines jeden Menschen zukommt. Wenn jemand,
der von der Schule verwiesen worden ist, zum Amokläufer wird, dann liegen schnelle Rückschlüsse nahe. Wer
sich die langen Artikel, die über die Persönlichkeit und die
Lebensumstände von Robert Steinhäuser erschienen sind,
durchgelesen hat, der weiß: Diese Tat mit irgendwelchen
Umständen, beispielsweise mit einem übermäßigen Leistungsdruck in Schule oder Elternhaus, erklären zu wollen,
führt in die Irre. Das gilt erst recht für jene, die versucht
haben, die ganze Gesellschaft wegen einer angeblich
überzogenen Leistungsorientierung in Sippenhaft zu nehmen. Ich glaube, Erfurt hat gezeigt: Mit Klischees kommen wir nicht weiter.
({8})
Deshalb war es zweifellos richtig, darüber nachzudenken, ob junge Menschen, die das Abitur nicht geschafft
haben, trotzdem einen Schulabschluss bekommen. Ebenso
richtig ist es, eine Diskussion darüber zu führen, wie wir
die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler in
Deutschland verbessern können. Mit dem Begriff „Leistung“ meine ich die Entdeckung und die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Potenziale. Das ist etwas
Großartiges. Ein positives Verständnis von Leistung stärkt
das Selbstwertgefühl junger Menschen. An einem positiven Selbstwertgefühl mangelt es an vielen Stellen. Einerseits müssen wir unseren Kindern und Jugendlichen ein
Selbstwertgefühl vermitteln, das ihnen ihre Stärken bewusst macht, und diese Stärken müssen wir auch anerkennen. Andererseits wird niemand von Anfang an mit
allen Anforderungen fertig. Auch Misserfolge und Fehlschläge gehören zum menschlichen Dasein. Auch das
müssen Kinder lernen. Das können sie nicht, wenn man
versucht, sie vor den Anforderungen des Lebens, auch den
Anforderungen an die eigene Leistung zu beschützen.
Worauf es ankommt, ist, Kindern und Jugendlichen Fähigkeiten und Wege zu vermitteln, auch mit Misserfolgen
umgehen zu können, und ihnen von Anfang an und nachdrücklich klar zu machen, dass Gewalt kein Mittel zur
Konfliktbewältigung ist.
({9})
Um diese elementaren Werte und Orientierungen zu
vermitteln, brauchen wir starke Eltern und starke Lehrer:
Eltern und Lehrer, die sich nicht scheuen, Autorität auszuüben und nachzufragen, wenn etwas nicht in Ordnung
zu sein scheint, Eltern und Lehrer, die Auseinandersetzungen nicht scheuen, sondern da sind, um zuzuhören, um
Rat und Rückhalt zu geben. Rat und Rückhalt geben,
Leistungen anerkennen und Grenzen aufzeigen - das können glaubwürdig nur Menschen, die als Autoritäten anerkannt werden. Das wissen wir alle aus unserer eigenen Jugend und unserer eigenen Erfahrung. Wir sind deshalb als
Erwachsene und vor allem als Eltern heute gut beraten,
die Autoritäten unserer Kinder und Jugendlichen nicht zu
zerstören.
({10})
Wer Lehrer pauschal beschimpft, wer Eltern in eine bestimmte Ecke stellt, wer Menschen verächtlich macht, ob
privat oder in der Öffentlichkeit, der trägt zur Erosion von
Autorität bei und schmälert die Chancen für das, was wir
doch alle wollen: dass es Pädagogen gibt, die in der
Schule nicht nur Wissen, sondern auch Werte vermitteln,
und das jeden Tag und unter schwierigen Bedingungen.
({11})
PISA lenkt unseren Blick darauf, wie wichtig es ist, als
Lehrer Vermittler von Wissen zu sein. Erfurt lenkt unseren Blick darauf, wie wichtig es ist, dass Lehrer auch Vermittler von Werten und Fähigkeiten sind, mit denen man
im Leben bestehen kann. In unserer schnelllebigen und
komplexen Zeit gilt mehr denn je: Es gibt keine Bildung
ohne Erziehung und es gibt keine Erziehung ohne Werte.
Wichtig ist - das ist in unserer schnelllebigen Zeit sicherlich ein Problem -, dass Kindern zu Hause das vorgelebt wird, worum es uns geht. Dafür wird Zeit benötigt.
Zeit ist durch nichts ersetzbar; auch darauf muss unsere
Gesellschaft Rücksicht nehmen. Vielleicht ist aber eines
der größten Probleme, dass wir von überall beschallt werden, aber zwischen vielen Menschen Sprachlosigkeit
herrscht. Deshalb heißt die Aufgabe, Sprachlosigkeit zu
überwinden, und zwar an allen Stellen unseres Lebens,
aber insbesondere, wenn wir mit Kindern und Jugendlichen sprechen.
({12})
Keine Bildung ohne Erziehung - das gilt für das Elternhaus, aber ebenso für die Schule. Eltern und Lehrer
müssen Hand in Hand wirken, damit unsere Kinder und
Jugendlichen keine Analphabeten sind, weder beim Lesen
noch beim Schreiben, aber auch nicht, wenn es um die
zentralen Werte unseres Zusammenlebens geht.
Darum ist es meines Erachtens ganz wichtig, dass derjenige, der nach Wertevermittlung ruft, die Rolle des Religionsunterrichts in unseren Schulen anerkennt. Religionsunterricht hat den Anspruch, die Werte unseres
christlich-abendländisch geprägten Zusammenlebens zu
vermitteln, und nicht nur, über sie zu reden. Deshalb muss
der Religionsunterricht seinen festen Platz im Fächerkanon behalten oder dort, wo er ihn nicht hat, bekommen.
Wer Werte in der Gesellschaft verankert sehen möchte,
der darf nicht gerade die Autoritäten an den Rand drängen,
die für die Vermittlung von Werten stehen, zum Beispiel
die Kirchen.
({13})
Die Schulen in freier und insbesondere die Schulen in
kirchlicher Trägerschaft haben den Anspruch, nicht nur
Wissen, sondern auch Werte zu vermitteln. Ihnen muss
Unterstützung zukommen. Es ist daher ein schlechtes
Zeichen, wenn bei Schulen in freier Trägerschaft Kürzungen vorgenommen werden,
({14})
wenn es um finanzielle Fragen geht, wie wir es gerade in
Berlin erlebt haben.
({15})
Erfurt war ein erschütterndes, ein furchtbares, ein einschneidendes Ereignis. All die schrecklichen Szenen haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Doch in den Tagen, Wochen und Monaten danach wurde unser Blick
geschärft, und zwar für das, was wirklich wichtig ist, aber
auch für das, was unsere Gesellschaft zusammenhält.
Wie schon die deutsche Einheit oder das Hochwasser
an der Oder, so hat auch der Schock von Erfurt einen Moment in unserer Geschichte bewegt, der uns wieder einmal vor Augen geführt hat: Bei allen divergierenden
Interessen, die sonst unseren Alltag beherrschen, gibt es
doch Maßstäbe und Werte, die uns in diesem Lande einen. Wenn es darauf ankommt, bricht die Anonymität unserer Gesellschaft auf. Wenn es darauf ankommt, wird
aus der Gesellschaft eine Gemeinschaft von Mitmenschen. Erfurt hat gezeigt, dass wir Deutschen zusammenstehen, wenn es darauf ankommt. Das ist ein einigendes Band, das uns zusammenhält, eine Erfahrung, die
uns auch stolz macht auf unser Land und auf die Menschen, die hier leben.
Erfurt hat gezeigt: Politik kann handeln, wenn es sein
muss. Politik kann schnell handeln, wenn es sein muss.
Wir können zusammenstehen und gemeinsam schwierige
Aufgaben lösen und schwierige Situationen meistern. Ich
wünsche mir, dass von diesem Fundus an Gemeinsamkeit viel übrig bleibt für das normale Leben im Alltag;
denn schwierige Aufgaben haben wir ja zuhauf vor uns.
Ich wünsche uns, dass wir dabei jeden einzelnen Jugendlichen ernst nehmen.
Oft gibt es das Missverständnis, dass Jungsein angesichts materiellen Wohlstands heute einfacher ist, als es
das früher war. Ich glaube, das stimmt nicht. Aber die
junge Generation in unserem Lande hat ein Anrecht darauf, dass wir über sie nicht nur im Zusammenhang mit
Schreckenstaten sprechen. Die junge Generation hat ein
Anrecht darauf, dass auch von der Fröhlichkeit, von der
Lebendigkeit, von dem Optimismus, der ihr Leben prägt,
von dem Engagement, von dem vielen, was sie tut, öfter
gesprochen wird.
({16})
Deshalb wünsche ich mir, dass dieses Parlament auch ein
guter Botschafter für die Jugend unseres Landes ist.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe
Kollegen! Wenn ich an meine eigene Kindheit denke, sind
mir zwei Dinge in Erinnerung, die mit Gewalt zu tun haben. Das eine war eine Ohrfeige meiner Mutter - die einzige, die sie mir je gab, die ihr wohl mehr wehgetan hat
als mir, eine Ohrfeige, die mich lehrte, wie schlimm es ist,
Gewalt zuzufügen.
Die andere Erinnerung - ich war wohl sieben oder acht
Jahre alt - ist die an ein altes Gemälde, darauf ein Mann, blutende Wundmale, blutüberströmtes Gesicht von einer Dornenkrone, Verletzungen in der Seite, das Antlitz schmerzverzerrt - und eine Menge, die zusieht. Keiner greift ein.
Meine Frage, warum denn niemand etwas tut, blieb unbeantwortet. Das war kein Fernsehen, das war kein Gewaltvideo, das war nicht der Kampf der Gladiatoren, das war
einfach unser christliches Symbol: Leiden, Gewalt - und
alle sehen zu.
Wir brauchen starke Kinder, wir brauchen starke Jugendliche und dafür brauchen wir Eltern, die das wollen,
Eltern, die das auch können. Bei allen Versuchen, Ursachen für Versagen, Aggression und Gewalt in den Schulen, bei den Medien, in der Gesellschaft ganz allgemein
zu suchen, wird die Verantwortung der Eltern bleiben,
die Verantwortung dafür, dass Kinder behütet aufwachsen, ohne Angst, dass sie genügend und Gesundes zu
essen bekommen, dass ihnen Zeit und Aufmerksamkeit
gewidmet wird und dass sie wissen, sie sind wer, so wie
sie sind. Erziehung soll dazu dienen, Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, zu dem Menschen zu werden,
der sie sind, nicht dazu, sie in irgendeine Richtung zu ziehen.
({0})
Starke Kinder müssen wissen, dass sie geliebte Kinder
sind. Starke Kinder müssen Vertrauen haben können,
Vertrauen in sich selbst, Vertrauen zu anderen, und sie
brauchen Menschen, die ihnen Vertrauen entgegenbringen. Natürlich braucht das alles Regeln, vor allem solche,
die vorgelebt werden, und es braucht Regeln, die eingehalten werden, auch wenn es einmal schwierig wird, Regeln, auf die man sich verlassen kann.
Natürlich sind die Werte, über die wir reden, heute vielfältiger, als sie es je in unserer Gesellschaft waren. Aber
auch hier kommt es darauf an, dass sie gelten, und zwar
auch dann, wenn es schwierig wird.
Die Begegnungen zwischen Kindern und Jugendlichen auf der einen Seite und Erwachsenen auf der anderen Seite müssen auf Augenhöhe stattfinden. Eltern sind
heute nicht mehr diejenigen, die alles wissen und auf jede
Frage eine Antwort geben können. Kinder stellen ihren
Eltern auch längst nicht mehr jede Frage, weil sie sie von
der Nachbarin, dem Patenonkel, dem Lehrer, der Freundin der Familie oder im Internet kompetenter beantwortet vermuten. Trotzdem wollen und brauchen Kinder Personen, an deren Art zu leben, Antworten auf Fragen zu
finden und mit Problemen umzugehen sie sich orientieren können.
Wie leben wir denn in der Familie zusammen? Sitzen
wir im Kreis der Familie oder im Halbkreis vor dem Fernseher? Wie können wir uns aufeinander verlassen? Gelten
Versprechen etwas? Gelten die Versprechen von Eltern
und die von Kindern? Was ist, wenn jemand etwas angestellt hat, Regeln verletzt hat? Kann er dann trotzdem in
diese Familie kommen und ist aufgehoben? Hat er oder
sie die Sicherheit, dass er oder sie geborgen sein wird?
Starke Kinder brauchen starke Eltern, die sich ihrer
Verantwortung bewusst sind, Sicherheit geben können
und Vertrauen ausstrahlen. Ich weiß, das sagt sich gerade
in Zeiten, in denen sicher Geglaubtes fraglich wird, leicht.
In Ostdeutschland haben es die Menschen schon einmal
erlebt, dass plötzlich fast alles infrage gestellt wurde, und
wir wissen gut, was das gerade für die Kinder bedeutete.
Heute muss man sagen: Kaum einmal reichte die Verunsicherung so sehr in die vermeintlich gut situierten Mittelschichten der Gesellschaft hinein, egal ob es Journalisten oder Bauarbeiter, Lehrer oder Verkäufer sind. Hier ist
es in der Tat eine Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen,
dass aus Unsicherheit nicht Existenzbedrohung wird.
Dazu gehört, den Wert des Menschen in der Gesellschaft nicht an der Stufe auf der Karriereleiter oder der gerade hier wieder viel gerühmten Leistungen zu bemessen.
Dazu gehört zugleich, dass Kinder nicht zum Armutsrisiko werden. Die dramatischste Ungerechtigkeit besteht
doch darin, dass immer noch 1 Million Kinder in Deutschland in Armut leben und sie zugleich die schlechteren
Chancen in der Schule haben. Deshalb brauchen wir
starke Kinder, die Chancen unabhängig von ihrer Herkunft und vom Geldbeutel ihrer Eltern haben.
Nach dem 26. April wurde auch viel über die Medien
gesprochen und gerichtet, mitunter zu Recht. Aber macht es
wirklich Sinn, auf Fernsehen und Gewalt in Videospielen
zu starren und darin die wesentliche Ursache zu suchen?
Natürlich gehört alles, was Gewalt verherrlicht, verboten,
egal in welchem Medium oder welchem Zusammenhang.
Natürlich gibt es Computerspiele, die alles andere als
für Kinder geeignet sind, wenn man denn tatsächlich
meint, es gebe überhaupt welche, die gut sind. Es geht hier
jedoch nicht allein um Gewalt; es geht darum, dass Bildschirmwelt und Wirklichkeit miteinander verwechselt
werden, so zum Beispiel bei dem Computerspiel „Die
Sims“, bei dem man Gott spielt und Menschen mit Eigenschaften kreiert, ihnen andere Menschen zur Seite
stellt, ein Haus baut und einrichtet und zu guter Letzt - alles am Bildschirm - auch noch dafür sorgt, dass die Menschen glücklich sind. All das gibt es. Wir werden manches
verbieten können, aber niemals alles.
So wie ich lernen musste, das Bild des Gekreuzigten zu
verstehen, zu begreifen, worum es dabei geht, brauchen
wir starke Kinder und starke Jugendliche, die mit dem
umgehen können, womit sie konfrontiert werden. Wir
brauchen Kinder und Jugendliche, die wissen, wo der
Knopf zum Ausstellen ist, die Grenzen aufgezeigt bekommen und lernen, sich selbst Grenzen zu setzen.
Klar ist auch, dass man Kinder abends nicht fernsehen
lassen muss. Kinder vor dem Fernseher sind oft eines: einsam. 10 000 Anrufe bekommt der Kinderkanal in jedem
Monat von Kindern, die einfach einmal Kontakt aufnehmen wollen. Den Jugendlichen geht es nicht besser.
Auch dafür sind die Ganztagsschulen da und wichtig:
nicht, weil sie Eltern ersetzen können, sondern weil sie allemal besser sind als der Babysitter Fernseher. Auch dafür
sind die Jugendzentren und Jugendhäuser da, die einen
geschützten Raum darstellen, einen Ort, an dem man sich
ausprobieren kann und an dem man Gemeinschaft erfährt.
Über die Quantität von Betreuungsangeboten ist viel
debattiert worden. Es wurde sogar unterstellt, dass es darum gehe, Kinder von ihren Eltern fernzuhalten. Nein,
gute Kinderbetreuung und Schule schaffen den Eltern erst
die Freiräume, die sie heute in der Mühle der Alltagsorganisation verbringen, die sie aber gerne hätten, um wirklich Zeit für ihre Kinder zu haben.
Aber es liegt mir daran, hier auch etwas über die Inhalte unserer Kindertagesstätten und Schulen zu sagen.
Nach der schrecklichen Tat von Erfurt haben alle den Leistungsdruck beklagt, dem Kinder und Jugendliche heute
ausgesetzt sind. Nur wenige Wochen später - auch gerade
eben hier - hieß es wieder, es komme vor allem auf Leistung an. Haben wir wirklich nichts gelernt?
({1})
Wir brauchen starke Kinder. Wir sollten Lehrern nicht
alles aufladen, was woanders nicht funktioniert.
({2})
Aber die entscheidende Frage wird doch sein, ob wir ihnen Zeit, Ausstattung und Gelegenheit geben, das zu tun,
was nötig ist und was sie auch tun wollen: Lehrer oder
Lehrerin, Ansprechpartner, Vertraute zu sein. Das ist weit
mehr als die von PISA abgefragten Wissensbausteine.
Ich möchte, dass unsere Schulen zu eigenständigen
Unternehmungen werden, in denen Lehrerinnen und Lehrer wirklich zur Höchstform auflaufen können, in denen
Eltern Verantwortung übernehmen und sich einmischen,
in denen Schülerinnen und Schüler Phantasie entfalten,
Demokratie ausprobieren, Lernen lernen und Lust auf
Leistung haben. Es wird darauf ankommen, dass wir dafür
sorgen, dass Lehrer und Sozialarbeiter in den Schulen feste
Ansprechpartner sind. Vor allem in den Grundschulen
muss wieder Zeit sein, auch spielerisch zu lernen, am
Nachmittag zu lesen oder im Schulgarten zu pflanzen.
Schule muss etwas mit dem wirklichen Leben zu tun haben: mit den Jahreszeiten und den Festen, mit dem Stadtteil und den Unternehmen in der Umgebung, mit Menschen, die Interessantes zu berichten wissen. Umfassendes
Wissen und Begreifen hat viel mit Greifen, mit Anfassen
und mit Erleben zu tun.
Kinder müssen schon im Kindergarten die Chance haben, Gemeinschaft zu erfahren. Mit dem Ende der
Großfamilie und angesichts der vielen Einkindfamilien ist
es wichtiger denn je, Zusammenleben und Teilen zu lernen und zu erfahren, dass der andere anders ist.
In jedem Fall gilt: Kinder und Jugendliche fühlen sich
nur dann aufgehoben, wenn sie auch ernst genommen
werden, wenn sie über das, was geschieht, mit entscheiden können. Nur dann, wenn sie das in der Familie und in
der Schule ausprobiert haben und wenn sie dabei Erfolg
und Spaß hatten, wird es gelingen, sie auch dafür zu begeistern, sich in die Gesellschaft einzumischen. Nur dann,
wenn sie auch Lust bekommen, selbst Verantwortung zu
übernehmen, werden sie erfahren, dass sie gebraucht werden und die Gesellschaft sie haben will - jeden Einzelnen,
so verschieden und so viel oder wenig leistungsfähig er
oder sie auch ist.
Wir brauchen starke Kinder, die um ihre Stärken wissen, aber an ihren Schwächen nicht schwach werden. Erziehung bedeutet in erster Linie, zu lehren, mit Freiheit
umzugehen: mit der Freiheit, sich entscheiden zu können
oder zu müssen. Diejenigen, die erziehen, haben die
schwere Aufgabe, die getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren, auch wenn sie manchmal nicht nach ihren
Wünschen sind. Nicht die Einschränkung von Freiheit
wird uns langfristig helfen, sondern nur der Umgang mit
der Freiheit.
Vielleicht wird ja von der Politik erwartet, dass sie immer schnelle Antworten gibt. Unsere Antworten waren in
diesem April danach: Es ging um Verbote, um Einschränkungen und um Schranken. Schon leiser wurde im Nachsatz von Angeboten und Unterstützung geredet.
Auf der einen Seite sind das neue Waffenrecht und der
Jugendschutz gewiss wichtig; aber das Bejubeln vonseiten der Schützenvereine auf der anderen Seite macht mir
deshalb Sorge, weil das, was geschah, nicht ernst genug
genommen wird; vielmehr sind die von der rechten Seite
des Hauses geforderten Änderungen des Waffenrechts
Ausdruck reiner Klientelpolitik.
({3})
Wichtiger als dies ist bestimmt, dass das GutenbergGymnasium wieder zu einem guten und schönen Ort wird.
Ich bin froh, dass die Bundesregierung hier ganz unkompliziert hilft. Diejenigen, die das Gutenberg-„G“ in ein
paar Jahren so wie ich heute am Revers tragen werden,
sollen von einer wirklich guten Schule sprechen, in der sie
lehren oder lernen, in die ihre Kinder gehen. Aber dies allein genügt nicht. Besser wäre es, dieses „G“ stünde für
viele Schulen in diesem Land, die das Prädikat „gut“ für
„gute Schule für Kinder“ erhielten, oder es stünde für andere Dinge, die gut für Kinder sind.
Nie werden wir die Opfer von Erfurt und diejenigen,
die zurückgeblieben sind, vergessen, auch nicht die Familie von Robert Steinhäuser. Vielleicht ist die Erinnerung an den Amoklauf eines Tages von der Erinnerung an
den Zusammenhalt einer Stadt überlagert, von der Erinnerung an Solidarität, an Miteinander, an Aufeinanderhören, Gespräche, Helfen, wo es geht, Zeit haben, Dasein, Berührungen und Berührtsein. Ich jedenfalls werde
das nie vergessen.
Ich vergesse auch nicht die Sehnsucht nach Normalität
und Fröhlichkeit in dieser Stadt. Wenn wir starke Kinder
wollen, könnte es helfen, wenn wir die Gelassenheit und
Fröhlichkeit von Menschen ausstrahlen, die gerne leben,
ihre Arbeit mögen, ihrer Nationalmannschaft zujubeln
und Vertrauen haben, von Menschen, die mit Herz und
Verstand, mit den Händen und dem Kopf, mit Selbstbewusstsein etwas bewegen wollen, so wie wir es von unseren Kindern und Jugendlichen erhoffen.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der FDP, Wolfgang
Gerhardt.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn
man Dingen auf den Grund gehen möchte, braucht man
für eine Debatte darüber eine solch ruhige Atmosphäre,
wie wir sie heute haben.
Eine der Kernfragen, die wir uns stellen, ist, wie in einem solchen Land, von dem wir alle, gleich welcher politischen Grundrichtung wir angehören, überzeugt sind,
dass es für die Menschen viele Chancen bereitstellt, wenn
sie sie nur ergreifen, ein Lebensentwurf, nämlich der des
Täters, auf eine solch grausame Art misslingen kann.
Seit diese grausame Tat in Erfurt passiert ist, ist der Einfluss von Medien, Schulen und Politik öffentlich breit diskutiert worden. Natürlich gibt es viele öffentliche Miterzieher im Leben eines Menschen. Dies ist in einer
freiheitlichen Ordnung immer so. Es gibt aber weder in der
Schule eine Allmachtspädagogik, die einen Lebensentwurf
mit Garantie zu einem guten Ende führen könnte, noch gibt
es eine Medienlandschaft, die neben dem Wettbewerbsgeschäft ausdrücklich im Sinn hätte, erzieherisch zu wirken,
noch kann die Politik in allen Bereichen alles regeln, damit
wir von solchen Ereignissen verschont bleiben.
Deshalb kann unsere Gesellschaft der Frage nicht ausweichen, die lautet: Wie sieht denn die eigene Problemlösungskapazität der deutschen Gesellschaft ohne Verweis
auf Medien, ohne Verweis auf Schule, ohne Verweis auf
andere, ohne Verweis auf Politik, nur mit dem Finger auf
sich selbst gerichtet aus? Damit - der Bundestagspräsident hat dies vorhin ausgedrückt - kommen wir zur Kernfrage, die wir bedauerlicherweise in vielen Systemen unseres öffentlichen Lebens ausgeblendet haben, nämlich
der nach der eigenen Verantwortung. Die Richtungshinweise auf nahezu allen gesellschaftlichen Feldern in der
Bundesrepublik Deutschland deuten meistens weg von
der eigenen, persönlichen Verantwortung und hin zur Aufgabenlösung durch Dritte. Wenn wir diese - quer durch
die Gesellschaft - nicht umstellen, werden wir keinen
Beitrag leisten können. Vermeiden können wir solch
grausame Vorgänge nicht. Wir können keine Garantie geben.
Ich beginne bei einem der Kernpunkte, den Medien.
Herr Kollege Thierse, natürlich können wir darüber sprechen - man muss sich in einer solchen Debatte auch ein
Stück positiv aufeinander einlassen -, dass in dieser Wettbewerbslandschaft, wie in anderen Bereichen auch, nicht
ausschließlich so wertvolle Kulturgüter produziert werden, wie wir beide sie gerne hätten. Die Diskussion über
Medien reicht mir aber, solange der Kernpunkt der eigenen Verantwortung nicht eingeführt wird, nicht aus. Dieser heißt: Man kann auch abschalten. Die Verbraucherseite muss also zum Ausgangspunkt der Debatte gemacht
werden.
({0})
Sie muss ihre eigene Fähigkeit entwickeln, mit dem Angebot umzugehen und eventuell auch auf eines zu verzichten. Deshalb genügt eine reine Debatte über Medien
nicht, wenn sie im Kern nicht das Ziel hat, Menschen in
die Lage zu versetzen, auf bestimmte Angebote zu verzichten und damit in einer freiheitlichen Ordnung deutlich
zu signalisieren, dass ihre eigene Wertentscheidung anders ausfällt als die Wertentscheidung der Angebotsseite.
Das klingt jetzt etwas technisch; es ist aber überhaupt
nicht technisch gemeint.
Damit komme ich auf einen weiteren Kernpunkt: Eine
Schuldebatte ist zulässig; man darf in dieser aber nicht
stecken bleiben. Es geht um die Fähigkeit der Familien
- diesen Ort beschreiben wir als ein Stück Heimat -, die
Kinder qualitativ gut zu erziehen. Herr Kollege Thierse,
Sie haben das Thema angesprochen. Diese erzieherische
Qualität entscheidet in einem Lebenslauf, lange bevor ein
Kind die Schule betritt, darüber, ob die Fähigkeiten, die
das Kind zur Verarbeitung von Lebenssachverhalten und
für den Umgang mit Veränderungen braucht, vorhanden
sind, um nicht das Gefühl zu haben, es sei nur auf der Verliererseite. Die Grundlage wird also viel früher gelegt.
Deshalb ist dieses Stück Verantwortung in der Familie
ganz entscheidend für Wertentscheidungen und für die
Fähigkeit zum friedlichen Zusammenleben.
Das bringt mich zu der positiven Bemerkung: Ich
glaube, dass man, wenn man die Familie so betont, Ganztagsschulen anbieten sollte; aber wenn die Familien selber an der Erziehung ihrer Kinder am Nachmittag einen
größeren Anteil haben wollen, muss man auch Entscheidungen von Familien zugunsten anderer Schulformen zulassen. Das habe ich neulich schon einmal bemerkt.
({1})
Ich glaube auch nicht, dass wir weiterkommen, wenn
wir vor dem Hintergrund des Marktes und der Werte diskutieren. Ich kenne auf dieser Welt viele Gesellschaften,
die Marktkräfte ausschalten und die größten Menschenrechtsverletzer sind. Diese scheren sich nicht um Werte.
({2})
Ich glaube, dass Wettbewerb Eigenschaften hervorbringen muss und kann, die in die Wertekategorien gehören, die wir alle schätzen. Man kann im Wettbewerb
nämlich nicht erfolgreich sein, wenn sich zum Beispiel
die Führung eines Unternehmens nicht an Fairness, sozialer Kompetenz und Werten, an Bildung und Leistung
orientiert. Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, es
gäbe eine politische Grundauffassung, die den Leistungsbegriff überbetonen und damit Kindern zu viel abverlangen würde, sodass sie in Lebenssituationen gebracht würden, die ihnen Schwierigkeiten bereiteten.
Ich glaube, dass das, was wir als Zivilisiertheit untereinander diskutieren, dieses Mindestmaß an Fähigkeit, in
demokratischen Gesellschaften zivilisiert miteinander
umzugehen, nicht aus einem luftleeren Raum, indem man
nur einen Wertekanon lernt, entsteht. Ich glaube, dass die
Fähigkeit, mit anderen umzugehen und andere Persönlichkeiten mit all ihren Eigentümlichkeiten und Eigenheiten wahrzunehmen, dadurch entsteht, dass man zulässt,
dass sich die junge Generation - das ist unverzichtbar - an
bestimmten Gegenständen prüft und sich - wiederholt,
mit enormen Anstrengungen und manchmal auch verbunden mit schulischen Problemen und Rückschlägen - abarbeitet.
Persönlichkeitsbildung - über diesen Begriff diskutieren wir miteinander - ist nur erreichbar, wenn Bildung und
Erziehung kombiniert werden. Bildung, die ohne Leistung
nicht zu erzielen ist, aber auch erzieherische Komponenten müssen zusammenkommen. Wichtig ist zudem eine
großartige Lehrerpersönlichkeit, an der sich Kinder orientieren, wie das jeder aus seinem eigenen Leben weiß.
Man muss millimeterweise lernen, große Aufgaben abzuarbeiten.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel, das für uns
Deutsche besonders wichtig ist, erläutern. Nach meiner
Überzeugung hat der Geschichtsunterricht an unseren
Schulen nicht die Dimension, die ich mir vorstelle. Herr
Schwanitz beschreibt das in seinem Buch sehr schön: In
den deutschen Schulen wird nicht deutlich, dass die Geschichte eine große Erzählung ist. In diesem Zusammenhang ist auch zu vermitteln, wie in Europa durch all das,
was wir kulturell und geschichtlich erlebt haben, Diktaturen und Tyrannei am Ende überwunden wurden. Dadurch
kann den Kindern ein Stück ihrer eigenen Identität vermittelt werden. Sie müssen lernen, Bescheidenheit mit
Selbstvertrauen zu verbinden.
Ich schildere das deshalb, weil wir in Deutschland eigentlich voraussetzen, dass wir durch erzieherische Maßnahmen, Bildung und Ausbildung Kinder in den Stand
versetzen, Bescheidenheit zu zeigen, einen fairen Umgang miteinander zu pflegen, aber auch Selbstvertrauen
zu haben. Das wird ihnen jedoch bei ihrer Erziehung nicht
ausreichend mitgegeben.
({3})
Wenn wir über Themen wie Medienlandschaft, Schule,
Familie, Öffentlichkeit und Arbeitswelt nur segmentiert
diskutieren, dann ist davon kein Gesamtkonzept zu erwarten. Auch andere Generationen hatten sich mit Schwierigkeiten in der Arbeitswelt auseinander zu setzen. Es hat
große Brüche in der Geschichte der - in dem OECD-Bericht werden sie so genannt - großen Industrienationen gegeben. Keine Generation stand vor einfachen Fragen. In
der Nachbetrachtung eines Ereignisses darf es nicht dazu
kommen, dass wir die Marktgesellschaft insgesamt kritisieren und gegen sie Widerstandskräfte moralischer Art
mobilisieren. Ich bin dafür, dass wir Erziehung und Bildung so annehmen, wie der Wandel der Arbeitswelt erfordert. Wir müssen uns darauf einlassen, weil wir es nicht
anders schaffen.
({4})
Ich bin nicht der Auffassung, dass durch Flexibilität
oder das, was man damit verbindet, eine Familie benachteiligt wird. Ich glaube an die Chancen und nicht an die
Risiken einer Veränderung der Arbeitswelt. Durch diese
Veränderungen können Familien, wenn sie es wollen,
eher begünstigt als benachteiligt werden. Dies kann nur
geschehen, wenn wir uns auf Familien einlassen und ihre
Lebensentwürfe akzeptieren.
Niemand von uns wird in den nächsten Monaten auf
seine persönliche Art die Ursachenforschung darüber abschließen, wie so schreckliche Ereignisse passieren konnten. Es wird lange Zeit brauchen, bis wir diese Ereignisse
verarbeitet haben.
Vielleicht kommen wir doch zu dem Punkt, der mir
sehr wichtig erscheint und bei allen Vorrednern anklang:
Wenn etwas im Bereich der Bildung grundlegend und unverzichtbar ist, was in der öffentlichen Diskussion von allen politischen Grundrichtungen genannt werden sollte,
dann ist das Erziehung. Wenn es dabei - das ist natürlich zu Konflikten und zu Reibungen mit der jeweils nachfolgenden Generation kommt, dann dürfen wir gegenüber
unseren Kindern nicht zu repressiven Maßnahmen greifen, sondern dann müssen wir ihnen klar machen, dass Erziehung die Aufgabe hat, ihnen beim Erwachsenwerden
zu helfen.
({5})
Das bedeutet eine sehr persönliche Anstrengung des Einzelnen, bei der es nicht damit getan ist, Elternversammlungen zu besuchen. Vielmehr muss man bei den eigenen
Kindern erzieherische Aufgaben, die durchaus mit Reibungen verbunden sein können, wahrnehmen. Dies muss
in der gesamten Gesellschaft geschehen; diese Notwendigkeit muss von der Gesellschaft erkannt werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Petra Pau.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Episode voranstellen.
Sie liegt schon eine Weile zurück, aber sie hat mich sehr
nachdenklich und auch reicher gemacht. Der Kollege
Barthel von der SPD-Fraktion und ich waren von einer
Kirchengemeinde aus Berlin-Zehlendorf, genauer gesagt:
von den jungen Gemeindemitgliedern und ihren Freundinnen und Freunden, eingeladen.
Rund 60 junge Leute wollten mit uns, den Politikern,
über Gewalt, deren Ursachen und Folgen diskutieren. Anlass dazu gab es genug. Gerade erst hatten rechtsextremistische Anschläge für menschliches Leid und für Schlagzeilen gesorgt. Die Jugendlichen nahmen uns zwar ernst,
aber nicht besonders wichtig. Sie sprachen vor allem mit
sich, und zwar über Erfahrungen von Klassenfahrten, auf
denen sie angepöbelt wurden, über ausländische Freunde,
die bei ihnen zu Gast waren, aber im Lande ausgegrenzt
wurden, über Erwachsene, denen sie sich anvertrauen
oder die sie fürchten, über Erfolge in der Schule und über
Versagensängste.
Sie erzählten drei Stunden lang über ihr Leben und sie
sprachen miteinander. Ihr Thema war nicht Gewalt als
Totschlag, als Exzess, als Massenmord; sie redeten über
alltägliche Wunden und Schmerzen. Das war wohltuend
authentisch und ohne jede Rechthaberei.
Ich habe mich an diesen Abend erinnert, als ich jüngst
ein weiteres Erlebnis hatte. Der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung wurde des Platzes verwiesen. Der Verkauf
solcher Zeitungen ist nicht nur ein klitzekleiner Gelderwerb, sondern er gibt den Obdachlosen auch immer ein
Stück Selbstwertgefühl und menschliche Würde zurück.
Der Wachmann, der ihn des einst öffentlichen und inzwischen privatisierten Stadtraumes verwies, hatte zwar formal Hausrecht, doch tat er in den Augen des Verstoßenen
Unrecht. Deshalb meine ich, dass ein ehrlicher Diskurs
über Werte, Solidarität, Würde, Gerechtigkeit, Toleranz
und Friedensliebe überfällig ist, allemal in einer Gesellschaft, in der ein kräftiger Ellenbogen manchmal mehr
gilt als ein gutes Herz.
({0})
Allerdings meine ich, dass sich ein solcher Diskurs nicht
auf die Jugend reduzieren darf. Hier geht es um eine Gesellschaftsfrage.
({1})
Bevor ich noch einmal konkret werde, möchte ich unsere Debatte in das Grundgesetz betten. „Die Würde des
Menschen ist unantastbar“, heißt es nicht ohne Grund in
Art. 1, wohlgemerkt „des Menschen“ und nicht „des
Deutschen“. Ich bin weder Soziologin noch Psychologin
und bitte die zuhörenden Fachleute um Nachsicht, wenn
ich eine einfache These wage: Immer, wenn die Würde
des Menschen angetastet wird, hat das etwas mit Gewalt
zu tun. Ich kenne Arbeitslose, studierte und hoch intelligente, sich mühende und auch heftig suchende - und dennoch Erfolglose. Meinen Sie wirklich, dass Sie deren
Würde entsprechen, wenn das unsägliche Problem der Arbeitslosigkeit als individuelles Versagen bei ihnen abgeladen wird? Meinen Sie wirklich, dass Sie deren Würde entsprechen, wenn Sie die Betroffenen in niedrig bezahlte
Jobs und in ferne Gefilde zwingen wollen? Und glauben
Sie, es sei gewaltlos, wenn Sie mit der Streichung von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe drohen, wenn die Betroffenen keine scheinselbstständige Ich-AG gründen?
Vor allem aber entlassen Sie mit diesem Unsinn zugleich jene aus der Verantwortung, für die Art. 14 Abs. 2
des Grundgesetzes geschrieben wurde:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Wir alle wissen, dass längst die einfachen Bürgerinnen
und Bürger ihren einen Sozialstaat tragen, während sich
die wirklich Vermögenden der sozialen Verantwortung
entziehen - formal zu Recht, auf gesetzlicher Grundlage.
Moralisch und sozial bleibt es aber Unrecht, denn es
schafft Unwürde.
({2})
Eines, Herr Innenminister, will ich Ihnen heute hier
nicht durchgehen lassen, wenn wir über Gewalt und gesellschaftliche Ursachen reden. Wer von ausländischen
Mitbürgerinnen und Mitbürgern erwartet, dass Sie sich
ins National-Deutsche assimilieren, der entwürdigt kulturelle Identitäten.
({3})
Die viel gepriesene Toleranz entpuppt sich so als Anpassungsgehorsam. Gehorsam und Anpassung haben aber
nichts mit Würde, Kultur und auch Selbstbestimmung zu
tun.
Über die Frage von Krieg und Frieden will ich heute
hier gar nicht reden, auch wenn Bundesaußenminister
Fischer dieser Tage meinte, die PDS ob ihrer Kriegsablehnung beschimpfen zu müssen. Das buche ich unter
schlechtem Gewissen und Wahlkampf ab. Aber genau darum sollte es heute in dieser Debatte nicht gehen.
({4})
- Ich rede die ganze Zeit zum Thema Gewalt, darüber, wo
sie beginnt und welche schlimmen Auswirkungen sie haben kann.
({5})
Ich sprach eingangs von einem Diskussionsabend mit
Jugendlichen einer Berliner Kirchengemeinde. Diese
Stimmung hat sich bei mir bis heute sehr tief eingegraben.
Ich habe die Stimmung erlebt, als auf dem Erfurter Domplatz der Opfer des Massakers gedacht wurde, fragend
nach dem Warum und trauernd. Ich fühle das noch immer.
Deshalb wünsche ich mir, dass wir es nicht bei dieser
vom Fernsehen übertragenen Stunde im Bundestag belassen. Gewalt, Gesellschaft, Toleranz, Frieden, Werte - das
alles sind viel zu wichtige Themen, um sie parteipolitisch
zu missbrauchen. Wir jedenfalls wollen dies nicht.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Edith Niehuis.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Anlass für die Debatte heute ist das schreckliche Ereignis in Erfurt, das uns daran erinnert hat, dass es immer
noch Gewalt und brutale Gewalt in der Gesellschaft gibt.
Im Moment des Geschehens neigen dann viele dazu, einfache Rezepte zur Hand zu nehmen. Doch einfache Rezepte gegen Gewalt gibt es nicht. Insofern ist es gut, dass
wir erst etwas später, nämlich heute, nicht nur über dieses
eine Beispiel der Gewalt reden, sondern über Gewalt und
deren Ursachen schlechthin.
({0})
Wenn die Gewalt erst einmal ausgebrochen ist, ist es
oft zu spät, an den hohen Wert friedlicher Konfliktlösungen in unserer Gesellschaft zu erinnern. Darum sind wir
gefordert, auch dann, wenn kein Gewalttäter die Schlagzeilen unserer Medien beherrscht, über Gewalt zu reden.
Wir sind gefordert, schon die kleinsten Anzeichen von
Gewalt zu bekämpfen; denn auch hier würde Schweigen
bedeuten, dass wir Gewalt akzeptieren.
Darum ist es gut, dass wir in dieser Legislaturperiode
einige Programme auf den Weg gebracht haben, die ein
einziges Ziel haben: die Zivilcourage von Menschen zu
stärken, insbesondere auch gegen rechte Gewalt, und den
Opfern zu helfen. Denn es kommt mir zu wenig zur Sprache, dass Gewalt nicht nur einen Täter, sondern dass Gewalt immer auch viele Opfer hat.
({1})
Gewaltbereitschaft, Gewaltakzeptanz, Gewalthandeln
sind komplexe Phänomene. Sie haben ganz unterschiedliche
Erscheinungsformen, vielfältige Rahmenbedingungen, vielfältige Ursachen auf gesellschaftlicher und individueller
Ebene. Deshalb wird es wohl nie gelingen, Gewalt als eine
Form der Konfliktlösung aus unserer Gesellschaft ganz zu
eliminieren. Aber jeder Schritt zur Senkung der Gewaltbereitschaft ist wichtig. Vieles hat mit Erziehung zu tun, einer
Erziehung zur friedlichen Konfliktlösung. Gefordert ist dabei - darauf wurde heute schon oft hingewiesen - zumeist
der Ort der primären Sozialisation, nämlich die Familie.
Sie gibt emotionalen Rückhalt und vermittelt Werte, wobei
nicht nur Worte, sondern auch Vorbilder zählen.
Wenn der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden
soll, dann muss in der Familie mit der Aufklärung darüber
begonnen werden, dass vermeintlich Stärkere kein Recht
haben, vermeintlich Schwächeren gewalttätig zu begegnen.
({2})
Deshalb ist es ein großer Fortschritt, dass es in dieser Legislaturperiode gelungen ist, den wichtigen Leitsatz „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ gesetzlich
zu verankern.
({3})
Noch besser wäre es gewesen, wenn wir diesen Satz in das
Grundgesetz hineingeschrieben hätten.
({4})
Dann hätten wir ein sichtbares Fundament unserer zivilisierten Gesellschaft gehabt. Aber dafür braucht man eine
Zweidrittelmehrheit. Ein Satz in einem Gesetz bewirkt
natürlich noch keine Umorientierung hin zur gewaltfreien
Erziehung auf breiter Basis. Dazu bedarf es einer breit angelegten Kommunikation in der Gesellschaft. Dieses Ziel
muss nicht nur akzeptiert, sondern auch in aktives Verhalten umgesetzt werden. Wir vom Familienministerium
haben deshalb die angesprochene Gesetzesänderung mit
vielen Vorortaktionen im Rahmen der Kampagne „Mehr
Respekt vor Kindern“ begleitet. Diese Kampagne ist erfolgreich gewesen. Mittlerweile halten 85 Prozent der Eltern eine gewaltfreie Erziehung für ein wichtiges Ziel. Mir
scheint das ein zukunftsweisendes Beispiel zu sein.
({5})
Es reicht eben nicht aus, nur Forderungen an die Familien heranzutragen. Familien brauchen auch Hilfsangebote.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz wurde dementsprechend geändert, damit sich verstetigt, dass die Familien,
die ihre Konflikte gewaltfrei lösen wollen, auch flankierende Unterstützung bekommen. Denn Kinder wachsen
heute anders auf. Bei der Vermittlung von Werten müssen
Familien heute mehr denn je mit den Medien, mit den
Gleichaltrigengruppen, mit neuen Informations- und Kommunikationstechniken, über lange Zeit mit Kindergarten
und Schule sowie mit der Arbeitswelt der Eltern teilen.
Kinder wachsen also öffentlicher auf, was Eltern überfordern und auch hilflos machen kann. Deshalb gibt es neben
der privaten Verantwortung der Familie immer auch eine
öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern, wie jüngst im Elften Kinder- und Jugendbericht
noch einmal betont wurde.
({6})
Wer dies negiert und ausschließlich auf das private Recht,
die private Verantwortung der Familien verweist, lässt Eltern alleine und bleibt Eltern und Kindern, insbesondere
den Familien in prekären sozioökonomischen Lebenslagen, etwas schuldig.
Die Fragen nach der privaten Qualität der Familie
und danach, ob wir in der Politik die Augen vor dem Innenleben der Familie verschließen dürfen oder nicht, haben uns in den Diskussionen, die wir in diesem Parlament
über Gewalt geführt haben, immer begleitet. Viele wichtige Entscheidungen wurden genau aus diesem Grund zu
lange hinausgezögert, vielleicht auch weil die vermeintlich Stärkeren zumindest im Privaten ihre Position wahren wollten, ohne zu sehen, dass sie damit auch den Nährboden für Gewalt pflegten. Es hat über 20 Jahre gedauert,
bis endlich in den 70er-Jahren die einer Demokratie unwürdige Vorherrschaft des Mannes über die Frau in der
Ehe aus dem Gesetz gestrichen wurde. Über 40 Jahre, davon 20 Jahre aktive Debatte im Parlament, hat es gedauert, bis endlich auch die Vergewaltigung in der Ehe unter
Strafe gestellt wurde.
Erst in diesem Jahr ist das neue Gewaltschutzgesetz in
Kraft getreten, das dafür sorgt, dass bei Gewalt in der Familie der Täter und nicht das Opfer die Ehewohnung zu
verlassen hat. Erst vor ein paar Jahren ist es gelungen, bei
sexuellem Missbrauch in der Kindheit die Verjährungsfrist auszusetzen, damit die Opfer gerade auch Täter aus
ihrem sozialen Nahbereich später noch erfolgreich anklagen können. Weil die Mehrheit im Parlament zu lange geneigt war, diese Gewalt in der Familie stillschweigend zu
akzeptieren, haben wir wertvolle Jahre verloren, das Unsrige zur Senkung der Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft zu tun.
({7})
Man darf nicht vergessen, dass die Familie die Keimzelle der Gesellschaft ist. Darum ist es gut, dass gerade in
dieser Legislaturperiode mehrere Gesetze und begleitende Maßnahmen gegen Gewalt, auch gegen Gewalt in
der Familie, auf den Weg gebracht wurden. Dazu gehört
der Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen.
Wenn wir es mit einer effektiven Gewaltprävention in
der Gesellschaft ernst meinen, dann brauchen wir eine konsequent geschlechtsspezifische Sichtweise; denn männliche Jugendliche wenden häufiger und brutaler Gewalt
an als weibliche. Unter den rechtsextremen Gewalttätern
sind weitaus mehr männliche als weibliche Täter. Weibliche Jugendliche hingegen neigen dazu, sich bei scheinbar
nicht zu lösenden Konflikten zurückzuziehen oder Gewalt
gegen sich selbst auszuüben. Wer hat nicht von Magersucht gehört? Diese Tatsachen fordern eine konsequent geschlechtsspezifische Ursachenanalyse und ebenso geschlechtsspezifische präventive Strategien.
({8})
Ich bedauere es sehr, dass es bis heute nicht gelungen
ist, in der Jugendhilfe auch genügend Angebote einer
emanzipatorischen Jungenarbeit und einer emanzipatorischen Mädchenarbeit zu unterbreiten.
({9})
Gerade die Jugendhilfe kann viel tun - das zeigen viele
Beispiele -, um Gewalttendenzen vorbeugend entgegenzuwirken, die etwa dann entstehen, wenn junge Menschen
in sozialen Brennpunkten für sich keine Zukunft sehen,
wenn sie sich der Konkurrenzgesellschaft hilflos ausgesetzt sehen, wenn es ihnen an Schlüsselqualifikationen
mangelt, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Das
alles sind Rahmenbedingungen, die zum Nährboden für
Gewalt werden können, wenn es an Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten mangelt. Den Jugendlichen, Frau
Merkel, fehlt dann genau das positive Selbstwertgefühl,
das sie doch so dringend brauchen.
({10})
Mit den Programmen „Entwicklung und Chancen“ und
„Freiwilliges Soziales Trainingsjahr“ haben wir in den
letzten Jahren gute Integrationsergebnisse erreicht, sodass
wir diese Programme auch ausweiten möchten.
Es hat mich ein wenig erschreckt, dass Herr Merz als
Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion vor ein paar Tagen
ganz undifferenziert sagte, es gebe eine Sozialindustrie,
die davon lebe, das Problem nicht zu lösen.
({11})
- Im „Handelsblatt“ vom 28. Juni können Sie es nachlesen.
({12})
- Ich hätte es gern mit ihm diskutiert. Es hat mich, wie gesagt, erschreckt.
({13})
- Dann sagen Sie doch, dass Sie ganz anderer Meinung
sind!
Viele Jugendliche brauchen die „Sozialindustrie“,
brauchen die Netzwerke von Jugendhilfe, Schule und Beschäftigung, weil sie sonst keine Chance haben, ihr Problem zu lösen. Wenn wir auf die Programme, die Jugendlichen helfen, verzichten, dann sparen wir vielleicht an
dieser Stelle, aber - das ist das Problem - wir werden für
die innere Sicherheit sehr viel mehr Geld ausgeben müssen.
({14})
Zum Abschluss möchte ich noch auf eine Form von
Gewalt hinweisen, die in unserer Debatte zu wenig Aufmerksamkeit findet, nämlich die Gewalt gegen Ältere.
({15})
Hierbei geht es oft um verborgene Gewalt in der Familie
und vielleicht auch in öffentlichen Einrichtungen. In einem dreijährigen Modellversuch haben wir versucht zu
sensibilisieren und haben auch Hilfsangebote evaluiert.
Das reicht jedoch nicht. Die demographische Entwicklung zeigt: Der Druck und mit ihm auch die Überforderung vieler Einzelner werden stärker. Darum wird sich der
nächste Bundestag verstärkt den Folgen der demographischen Entwicklung widmen müssen. Wenn es eine New
Economy gibt, dann liegt sie weniger in neuen Sendemasten und Satelliten, sondern sie liegt im Bereich der Altenbetreuung, was aus ökonomischer, arbeitsmarktpolitischer und sozialpolitischer Sicht, aber auch im Sinne der
Gewaltprävention notwendig ist.
Nachdem ich die Bundestagsdebatten nun 16 Jahre
verfolgen konnte und immer wieder sehen durfte, was in
der Kernzeit diskutiert wird und was nicht in der Kernzeit
debattiert wird, bitte ich all diejenigen, die demnächst im
Ältestenrat die Tagesordnungen des Deutschen Bundestags aufstellen: Denken Sie doch auch einmal an die Themen, die so viele Menschen direkt angehen, zum Beispiel
Altenbetreuung, zum Beispiel Gewalt gegen Ältere!
Diese Themen sollten auch einmal in der Zeit von 9 Uhr
bis 12 Uhr debattiert werden
({16})
und nicht immer erst um 23 Uhr, wenn Reden oft zu Protokoll gegeben werden und eh schon alle im Bett sind. Wir
überschätzen uns, wenn wir meinen, dass die theoretischen Debatten über Wirtschaftspolitik das seien, was die
Herzen der Menschen wirklich erreiche. Das tun andere
Themen.
Da ich demnächst - ganz freiwillig - aufhöre, wünsche
ich Ihnen alles Gute für die nächste Zeit. 16 Jahre Parlamentarier sein zu dürfen hat mir unwahrscheinlich viel
Spaß gemacht. Es hat mir Spaß gemacht, mit meiner Fraktion, aber auch mit der CDU/CSU und den anderen Oppositionsparteien zusammenzuarbeiten.
({17})
- Insbesondere hat es mir natürlich Spaß gemacht, mit den
Niedersachsen zusammenzuarbeiten. - Alles Gute für die
Zukunft!
({18})
Frau Kollegin
Niehuis, ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Hauses
für den guten parlamentarischen Rat, erfahrungsgesättigt
aus 16 Jahren guter parlamentarischer Tätigkeit, danken.
({0})
Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Landes
Thüringen, Bernhard Vogel.
Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({1}):
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Ich bin im Namen der
Stadt Erfurt und des Landes Thüringen sehr dankbar
dafür, dass diese Debatte, um die ich die Fraktionsvorsitzenden unmittelbar nach der Tat gebeten habe, heute stattfindet. Jeder wird verstehen, dass ich mich in dieser Debatte zu Wort melde. Dadurch wird gleichzeitig deutlich:
Das ist nicht nur ein Thema für den Bundestag, sondern
selbstverständlich auch für die Mitglieder des Bundesrates.
Eine Schülersprecherin des Gutenberg-Gymnasiums
hat unmittelbar nach der schrecklichen Tat gesagt:
Die Ereignisse dürfen nicht zu Aktionismus führen,
sie dürfen aber auch keine Lähmung verursachen.
Natürlich muss alles Menschenmögliche getan werden,
um für die Zukunft eine ähnliche Tat auszuschließen, auch
wenn wir wissen, dass uns dabei Grenzen gesetzt sind.
Das heißt: Wir müssen einerseits Gesetze überprüfen;
aber wir müssen nach meiner Überzeugung andererseits
mehr als das tun.
Wie aus den bisher gehaltenen Reden hervorgegangen
ist, geht es um grundsätzliche Fragen, die nicht allein die
Politik, sondern die ganze Gesellschaft beantworten muss:
Wie kommt es in Deutschland zu wachsender Gewaltbereitschaft? Wie kann Gewalt geächtet werden?
Warum schwindet der Respekt vor der Würde des menschlichen Lebens? Wie kann die Achtung vor dem Leben
Mord und Selbstmord verhindern? Wie wehren wir uns
gegen Vereinsamung und Entwurzelung? Was sind die
Rechte und was sind die Pflichten der Eltern und der Familien? Was ist die Aufgabe der Schule? Welche Stellung
haben die Lehrer in unserer Gesellschaft? Welche Werte
werden von uns allen anerkannt?
In einem sind wir uns ganz offensichtlich alle einig:
Wir verachten Gewalt und Terror. Gewalt will den Willen
eines anderen Menschen gewaltsam brechen. Wir aber
wollen nicht, dass Gewalt und Terror erfolgreich sind,
auch nicht im Spiel und auch nicht in virtuellen Scheinwelten.
({2})
Wenn wir über die Ursachen von Hass, Gewalt und
Terror sprechen, dann müssen wir darüber reden - dazu ist
schon einiges gesagt worden -, welches Bild vom Menschen wir haben, wie wir unsere Werte definieren. Wir erwarten von den Lehrerinnen und Lehrern ganz selbstverständlich - das sagen wir häufig auch -, dass sie unsere
Kinder erziehen und ihnen ein Welt- und Wertebild vermitteln, während wir uns selbst im Unklaren darüber sind,
was für ein Weltbild das eigentlich sein soll.
({3})
Entscheidend bleibt, dass für uns die Unverwechselbarkeit und die Einzigartigkeit des Menschen und seine
persönliche Würde im Mittelpunkt stehen. Der Mensch
ist im Mittelpunkt aller politischen, wirtschaftlichen und
wissenschaftlichen Entscheidungen und allen gesellschaftlichen Handelns zu sehen.
In unserem Grundgesetz sind die Folgerungen, die vor
über 50 Jahren aus der Entpersonalisierung des Menschen, aus seiner Unterdrückung, Entrechtlichung und
Unterordnung unter eine menschenfeindliche Ideologie
durch den nationalsozialistischen Unrechtsstaat gezogen
wurden, manifest. Mit der Verpflichtung des Staates, die
Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu achten und
zu schützen, und mit der Aufnahme von Grundrechten
- im Gegensatz zur Weimarer Verfassung - hat das
Grundgesetz eindeutig Stellung bezogen gegen Beliebigkeit, gegen Wertneutralität, gegen einen totalitären Kollektivismus und gegen die Abwertung des Menschen zu
einem Objekt des Staates.
Nach unserem Grundgesetz steht der Mensch - und
nicht der Staat - an erster Stelle. Das schafft die Voraussetzungen dafür, dass sich unter dem Dach des Grundgesetzes
verschiedene Meinungen, Haltungen und Weltanschauungen entfalten können. Das Grundgesetz setzt den Rahmen,
der ausgefüllt werden muss; es ermöglicht Toleranz, weil es
der Freiheit des Einzelnen dort eine Grenze setzt, wo
Würde und Freiheit des Nächsten beginnen.
({4})
Es verlangt Verantwortung von jedem Einzelnen für den
anderen, für das Gemeinwesen, für Demokratie; denn
Freiheit ohne Verantwortung führt in die Unfreiheit.
Wir müssen Übereinstimmung darüber erzielen, was
sich aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ergibt: Verachtung und Verhinderung von Gewalt gegen andere, insbesondere Andersdenkende, mitmenschliche Solidarität, soziale Gerechtigkeit und ein fairer Ausgleich
von Interessen. Helmut Schmidt hat es einmal klar ausgedrückt - ich darf ihn zitieren -:
Wenn die Übereinstimmung in elementaren Grundwerten und Grundauffassungen fehlt, dann sind Freiheit und Würde des Menschen gefährdet. Eine Gesellschaft, in welcher der Konsens über elementare
Grundwerte verloren gegangen ist, treibt auf Anarchie zu.
Helmut Schmidt hat Recht. Werden Menschenrechte nur
unter Zwang anerkannt, werden Werte nicht vorgelebt,
dann ist Toleranz nicht mehr als eine desinteressierte Duldung von Andersdenkenden und Anderslebenden, eine
Duldung, die schnell in Verächtlichmachen, in Spott, in
Hass und schließlich in Gewalt umschlägt.
Meine Damen und Herren, in Deutschland sprechen
wir gerne von einer Kultur der Bildung und von einer
neuen Kultur der Werte. Meine Überzeugung ist: Zunächst müssen wir vor allem von einer neuen Kultur des
Zuhörens sprechen,
({5})
von einer Kultur des Sich-gegenseitig-Kennenlernens und
einer Kultur des Aufeinanderachtens. Wir müssen Sprachlosigkeit überwinden und die drohende Kluft zwischen
den Generationen überbrücken. Wir brauchen eine Kultur
des Miteinandersprechens, die Verständnis und Respekt
schafft und die Gefahr eines Zusammenpralls vermindert.
Dass Ältere vielfach nicht wissen, was junge Menschen bewegt, dass viele von uns nicht wissen, womit
junge Menschen ihre Freizeit verbringen, dass sie sich
hinter verschlossenen Türen mit Gewalt verherrlichenden
Computerspielen beschäftigen, muss uns beunruhigen
und fordert Eltern, Familien, Lehrer, Erzieher, Mitschüler
und uns Politiker heraus. Weil Erziehung in der Familie
beginnt, müssen wir über die Rechte und Pflichten sprechen, die den Eltern bei der Vermittlung von Grundwerten zukommen. Im Elternhaus wird der Grundstein für die
Bildung jeder Persönlichkeit gelegt. Deswegen müssen es
Kinder spüren, wenn sie als lästig empfunden werden.
Wer ungestörten Fernsehkonsum mehr schätzt als die Beschäftigung mit seinen Kindern, darf sich später nicht
über Lieblosigkeit, Gewaltbereitschaft und extremes
Denken wundern.
({6})
Kinder können nur Orientierung finden, wenn sich ihre
Eltern zu ihnen bekennen, wenn sie sich ihnen widmen,
wenn sie ihnen Aufmerksamkeit schenken, wenn sie sich
Zeit für sie nehmen. Es ist heutzutage erfreulicherweise
populär, sich zu einer Politik zu bekennen, die die Familien unterstützt und ihnen eine stabile materielle Grundlage schafft. Das ist gut so. Aber das ist nur die eine Seite.
Es kommt mindestens ebenso darauf an, dass sich Eltern
ihrer Verantwortung für die Erziehung der Kinder bewusst
sind.
Natürlich dürfen wir Eltern dabei nicht allein lassen.
Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Eltern müssen auch hier Hilfe erfahren. Wir müssen zum Beispiel Familienberatungs- und Betreuungseinrichtungen stärken
und ihr Angebot bekannter machen. Aber Kindergärten,
Kinderhorte, Schulen und außerschulische Betreuung
müssen die Erziehung in der Familie altersgemäß ergänzen und unterstützen; ersetzen können weder der Lehrer
noch die Kindergärtnerin die Familie.
({7})
Weil, wie ich glaube, Bildung ohne Erziehung ebenso
wenig möglich ist wie Erziehung ohne Bildung, greifen
die Erziehungsaufträge von Eltern und Schulen eng ineinander. Die Schule muss mehr sein als eine Anstalt zur
Stoffvermittlung. Schulen sind auch dazu da, Werte zu
vermitteln. Das durfte man vor 15, 20 Jahren nicht laut sagen. Darum freue ich mich, dass man heute sogar Beifall
bekommt, wenn man sagt, Schulen sind auch dazu da,
Werte zu vermitteln.
({8})
Wichtig ist Mut zur Erziehung. Erziehung gedeiht mit
Zuwendung, aber auch mit Regeln und Grenzen, mit
Liebe, aber nicht Beliebigkeit. Erziehung lebt vom Vorbild. Das gilt sowohl für Eltern wie für Lehrer.
Wir haben es doch in Erfurt erlebt, wie sehr sich Lehrerinnen und Lehrer dieser Vorbildfunktion bewusst gewesen sind. Das Wohl und die Unversehrtheit ihrer
Schüler haben Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums so
wichtig genommen, dass sie dafür ihr eigenes Leben eingesetzt haben. Eine Lehrerin ist dreimal in die Schule
zurückgekehrt, um Kinder aus der Schule zu retten, und
beim dritten Mal erschossen worden.
Bessere Vorbilder für Mitmenschlichkeit kann es nicht
geben. Deswegen muss die Lehre aus Erfurt auch sein,
dass dem Beruf des Lehrers in der Öffentlichkeit mehr
Hochachtung entgegengebracht wird.
({9})
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({10})
Wir wissen doch, dass Lehrer nicht selten vor der schier
unlösbaren Aufgabe stehen, Sozialarbeiter, Erzieher, Bildungsvermittler, Autoritäts- und Vertrauensperson in einem sein zu müssen. Es ist eine gute Entscheidung, Lehrer werden zu wollen, und es ist ein wichtiger Dienst für
unsere ganze Gesellschaft, wenn einer ein guter Lehrer
oder eine eine gute Lehrerin ist.
({11})
Bei der Diskussion über die Zukunft unserer Schulen,
die ja in vollem Gange ist, sollten wir uns deshalb nicht
von pädagogischen Mythen beeinflussen lassen. Das Bild
eines angeblich begeistert selbst lernenden Schülers, dem
nur ein Lernmoderator zur Seite gestellt werden müsse,
entspricht vielleicht den Vorstellungen einer Spaßgesellschaft, aber nicht den Realitäten. Der Lehrer bleibt die
entscheidende Person im Unterricht.
({12})
Der Unterricht, der gelenkte Erwerb von Wissen, Können
und Urteilsfähigkeit, ist zentrale Aufgabe der Schule und
nicht lästige Unterbrechung des Kindseins.
Aufgabe von Erziehung und Schule ist es, auf das Leben als Erwachsener vorzubereiten. Wer Erzieher sein
will, muss Vorbild sein und junge Menschen zum Leben
ermutigen. Nach der Veröffentlichung der PISA-Studie
hieß es, die Schule müsse leistungsorientierter werden,
und nach dem Geschehen von Erfurt warnten manche,
man dürfe nicht länger von Wettbewerb und Leistung
sprechen. Der Herr Bundespräsident hat die richtige Antwort gefunden, wenn er sagt: Ohne Leistung, ohne Leistungsbereitschaft wäre jede Schule wirklichkeitsfremd. Ich füge hinzu: Vor Wettbewerb und Konkurrenz dürfen
wir unsere Kinder nicht schützen. Wir müssen sie lehren
und sie müssen lernen, damit umzugehen. Darum geht es.
({13})
Es gilt, zu fördern und zu fordern, aber nicht zu überfordern. Es wird auch in Zukunft so sein, dass es Begabte
und weniger Begabte gibt. Aber das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass es unterschiedlich veranlagte
Menschen gibt. Jeder muss seine Chance bekommen. Jedem nur ein und dieselbe Chance zu geben wäre ungerecht. Gerecht ist es, jedem seine Chance zu geben.
({14})
Das heißt, Eltern müssen bereit sein, ihr Kind die
Schule besuchen zu lassen, die den Fähigkeiten dieses
Kindes gerecht wird - und nicht den Wunschvorstellungen der Eltern. Die Eltern brauchen für das Treffen der
richtigen Entscheidung den Rat und die Hilfe des Lehrers.
Sie tun Kindern nichts Gutes, wenn sie sie auf eine Schule
schicken, in der sie permanent überfordert werden. Sie tun
ihnen aber auch dann nichts Gutes, wenn sie sie jahrelanger Unterforderung aussetzen.
Nach dem Geschehen am Gutenberg-Gymnasium ist
eine grundsätzliche Debatte notwendig, so wie wir sie
heute hier führen. Sie wird auch in Zukunft notwendig
sein. Darüber hinaus sind konkrete Änderungen von Gesetzen und Verordnungen des Bundes und der Länder
erforderlich. Natürlich muss das Leben nach der Bluttat
weitergehen. Aber wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als ob wir nach dem Geschehen unverändert in
den Alltag zurückkehrten.
Ich bin sehr dankbar, dass es Bundestag und Bundesrat
in großer Einmütigkeit gelungen ist, das Waffenrecht noch
vor der Sommerpause zu novellieren. Es war doch selbstverständlich, dass wir uns nach der Bluttat von Erfurt dieses Gesetz noch einmal sehr genau angesehen haben. Das
Ergebnis ist: Ein 19-Jähriger kann jetzt nicht mehr einen
Revolver oder gar eine Pumpgun legal erwerben.
Ich bin dankbar, dass unter dem Eindruck der Tat von
Erfurt eine Novellierung des Jugendschutzgesetzes sehr
zügig vorgenommen worden ist. Wir haben im Bundesrat
- wie Sie im Bundestag - zugestimmt, auch wenn wir
Nachbesserungen für notwendig halten. Dazu gehört beispielsweise das Verbot so genannter Killerspiele. Der
Herr Bundeskanzler hat zugesagt, sich für ein Verbot dieser Spiele, bei denen Tötungshandlungen simuliert werden, einzusetzen. Er muss seine Zusage einlösen. Es ist für
mich nicht nachvollziehbar, dass die Schutzbestimmungen bei Spielautomaten im Jugendschutzgesetz nicht verschärft, sondern gelockert worden sind.
({15})
Wir brauchen ein Verleihverbot schwer jugendgefährdender Videofilme und Computerspiele, unabhängig vom
Alter. Dafür müssen die entsprechenden Bestimmungen
im Jugendschutzgesetz geändert werden. Daneben müssen wir Änderungen des Strafgesetzbuches vornehmen.
Wir müssen zum Beispiel ein Verbot der Darstellung von
Gewalttätigkeiten an menschenähnlichen Wesen in allen
Medien und ein Verbot der Darstellung der Tötung von
Menschen in Computerspielen erreichen.
({16})
Das ist bisher noch nicht geschehen und wird in dieser Legislaturperiode leider nicht mehr verwirklicht werden.
Aber es bleibt selbstverständlich auf der Tagesordnung.
Ich begrüße es, dass unter dem Eindruck des Geschehens von Erfurt die Regierungschefs der Länder und der
Bundeskanzler die Einrichtung eines runden Tisches gegen Gewalt in den Medien vereinbart haben. An diesem
runden Tisch werden neben dem Bundeskanzler und den
Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz und der Rundfunkkommission die Vertreter der Medien selbst Platz
nehmen. Wir wollen die Kontrollmechanismen gegen die
Darstellung extremer Gewalt im Rundfunk, auf Videos
und im Internet verbessern. Diesem Ziel dient auch der in
Vorbereitung befindliche Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, den wir hoffentlich in Bälde unterzeichnen können.
Wir Ministerpräsidenten haben darüber hinaus beschlossen, die Arbeitsgruppe „Gewaltprävention“ einzurichten, die den Auftrag hat, ein abgestimmtes Handlungsprogramm zu entwickeln, das die Erziehungskraft
von Schule und Familie stärken und die Wertorientierung
von Kindern und Jugendlichen fördern soll. Natürlich
müssen auch die Sicherheitsstandards an den Schulen
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({17})
überprüft werden. Aber 40 000 Schulen in Deutschland
kann man nicht zu Festungen ausbauen. Selbst wenn man
es könnte - wir wollen das nicht.
({18})
Schulen müssen offene Orte der Begegnung bleiben. Eine
eingemauerte Gesellschaft wollen wir nicht.
Die Bluttat von Erfurt, der Mord an 16 Menschen, hat
in Deutschland, in Europa und weltweit tiefe Betroffenheit ausgelöst. Sie hat aber auch - einige Redner haben
das bereits aufgegriffen - in einem ungewöhnlichen Ausmaß Hilfsbereitschaft, Zusammengehörigkeit, Solidarität
und Mitmenschlichkeit deutlich werden lassen. Von der
einen auf die andere Stunde wurde sichtbar, dass es in unserem Volk viel mehr Gemeinsamkeit und Gemeinsinn
gibt, als wir das zuvor für möglich gehalten haben. Heute
wissen wir: Erfurt ist nicht zu einem Synonym für eine
schreckliche Bluttat geworden. Von dieser Stadt geht vielmehr auch Hoffnung aus. Die Botschaft heißt - ich
wiederhole, was ich auf der Trauerfeier gesagt habe -:
Mitmenschlichkeit ist in Deutschland keine verloren gegangene Tugend.
({19})
Nur, diese Botschaft muss weiter wirken. Es muss gelingen, was Johannes Rau auf dem Domplatz in Erfurt gesagt
hat: Wir müssen einander achten; wir müssen aber auch
aufeinander achten. - Das muss auch dann gelten, wenn
wir uns im Wahlkampf befinden, unterschiedliche Ansichten und Absichten vertreten und wir heftig und leidenschaftlich streiten. Ich frage mich, ob das nicht mit etwas mehr Respekt und Hochachtung voreinander geht
und ob das nicht in einem etwas anderen Geist und in einem etwas anderen Ton möglich ist.
({20})
Geht das nicht mit besseren Argumenten und weniger
Tricks und weniger Raffinesse?
Die heutige Debatte kann zum Beweis dafür werden,
dass wir aus dem Verbrechen von Erfurt tatsächlich Konsequenzen ziehen. Zur Stärkung einer demokratischen
und offenen Gesellschaft gehört es, bei allen notwendigen
politischen Auseinandersetzungen Einigkeit über die
Grundsätze unseres Zusammenlebens herrschen zu lassen. Wir treten Gewalt und Intoleranz sowie jeder Relativierung von Hass entschieden entgegen. Die Opfer von
Erfurt hätten es nicht nur verdient, dass wir um sie trauern und ihren Angehörigen diese Trauer mitteilen, sondern auch, dass wir das im Alltag nicht vergessen und uns
dem, was geschehen ist, im Hinblick auf die Art und
Weise, wie wir miteinander umgehen, verpflichtet fühlen.
Danke.
({21})
Ich erteile
das Wort der Kollegin Dr. Antje Vollmer. Sie spricht für
die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
gut für dieses Parlament - das ist auch eines seiner Qualitätsmerkmale -, dass wir uns dieser Debatte stellen zu einem Zeitpunkt, da wir noch einen Berg von Gesetzen vor
uns haben. Ich finde es auch gut, dass heute, wo man
schon überall in der Argumentation den hitzigen Wahlkampf verspürt, solche Töne im Wesentlichen außen vor
bleiben.
Woher kommt Gewalt in die Gesellschaft? Dies scheint
eine philosophische, existenzielle Frage zu sein. Aber eigentlich ist diese Frage falsch. Die Gewalt ist in der Gesellschaft, nicht als Manifestation eines abstrakten Bösen
- worüber immer wieder geredet wird -, sondern wegen
der Schwäche der Gesellschaften, stabile, dauerhafte Regeln zu finden, die die Gewalt einzudämmen in der Lage
sind. Diese Regeln interessieren mich, über sie möchte ich
ein bisschen nachdenken.
Wenn man nicht fragen kann, woher Gewalt in die Gesellschaft kommt, weil sie vorhanden ist, so kann man
doch nach den Zeiten fragen, in denen Gewaltbereitschaft, Gewaltaktionen und Gewaltphantasien zunehmen.
Es wird deutlich, dass dies insbesondere dann passiert,
wenn sich Gesellschaften in extremem Stress befinden,
unter extremem Veränderungsdruck. Das betrifft unsere
Gesellschaft nicht nur im Innern, sondern auch im Äußeren, also auch die Weltgesellschaft. Ich glaube, dass alle
Globalisierungsgesellschaften einen enormen Druck zu
verarbeiten haben; sie sind enormer Verunsicherung und
enormen Existenzängsten ausgesetzt und damit all dem,
was damit zu tun hat, also auch enormen Gewalt- und
Kränkungsphantasien.
In der Regel haben die Gesellschaften ihre Gesetze im
Umgang mit der Gewalt nicht vorausschauend, also auf
kommende Gewalt hin, geschaffen, sondern aufgrund der
Summe der erlebten Erfahrungen mit Gewalt. Es ist der
erfahrene Absturz in die Gewalt, der die Gesellschaften
dazu gebracht hat, entsprechende Gesetze zu schreiben
und sie in der Gesellschaft zu verankern.
Ein herausragendes Beispiel ist unser Grundgesetz.
Die Begründung für dieses Gesetz war gerade, Gewalt abzuwenden, und zwar vor dem Hintergrund der Erfahrung
der totalitären Gewalt, vom Staat organisiert. Deshalb hat
man als Basis aller Gesetze die Sicherung der Freiheit des
Einzelnen gegen die totalitäre Staatsgewalt formuliert. Übrigens sind auch die Regeln aller großen Religionen
Antworten auf die Erfahrungen, welche Unfrieden, Gewaltbereitschaft, Aggression und hitzige Leidenschaften in der
Gesellschaft hervorrufen, sei es nun das Verbot des Stehlens, des Lügens oder des Ehebrechens. Sie hatten immer
zum Ziel, die Gesellschaften im Inneren stabil zu halten.
Heute befinden wir uns ebenfalls in einer Veränderungsphase. Allerdings geht nun nicht mehr die Hauptgewalt vom Staate aus, sondern von der verunsicherten Gesellschaft, aus ihrem Inneren: aus den Verteilungskämpfen,
aus den Kränkungen und aus der Unsicherheit, nicht zu
wissen, was sein wird, wenn sich alle Veränderungen vollzogen haben. Dies war insbesondere in den neuen Ländern sehr intensiv. Die Menschen dort wussten nicht, was
danach von ihren alten Lebensgewohnheiten noch Geltung
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({0})
hat, was von ihrem Gelernten noch wichtig ist, welchen
Status sie haben werden, welche Konkurrenten ihnen gegenüberstehen werden, ob sie überhaupt noch Existenzmöglichkeiten haben.
Deswegen ist die entscheidende Frage: Hat die Gesellschaft noch die Kraft, sich unter diesem enormen Veränderungsdruck Regeln eines neuen Zusammenlebens zu
geben? Das genau ist die Frage nach der Zivilisation. Im
Kern geht es nicht um die Fähigkeit der Politik, Gebote
wehrhaft durchzusetzen, sondern um die Substanz unserer Gesellschaft, die aus eigener Erkenntnis, aus eigenem
Willen und aus eigener Überzeugung Regeln einhält und
sich selbst so stabil macht. Über diese Regeln möchte ich
jetzt sprechen.
Es wurde insbesondere über die Frage der Medien gesprochen. Es wird versucht, Konsequenzen für den Bereich der Medien und der elektronischen Welten zu ziehen. Ich finde, das ist ein sehr schwieriges Unterfangen.
Ist Gewalt in Bild und Wort die vorherrschende Sprache
der Medien bei uns? Dürfen und sollen sie Gewaltszenen
zeigen? Ist es ein magischer Prozess, dass die Gewalt auf
diese Weise leichter aus dem Bild in die Wirklichkeit
springt, also aus der Sphäre der Medien ins reale Leben?
Ich glaube, dass die entscheidende Gefahr tatsächlich
nicht hier liegt. Kein Journalist der Welt wird auf Dauer,
und sei es auch aus rein pädagogischer Absicht, darauf
verzichten, die Gewalt abzubilden und zu beschreiben,
die er erlebt und die er erfährt.
({1})
Von daher stimmt der alte Satz, dass der „Spiegel“ der
Spiegel ist. Die Menschen sind neugierig und sie wollen
die Wahrheit wissen. Deswegen werden sie immer so
dicht herangehen, wie es nur geht.
Die wirkliche Gefahr der Medien liegt in ihrer Möglichkeit, Kampagnen und Jagden zu inszenieren und diesen Kampagnen und Jagden ein Ziel vorzugeben. Medien
können - das ist eine neue Qualität, weil wir es zum ersten Mal mit weltweiten Medien zu tun haben - eine Arena
bilden, manchmal weltweit, in der sie die Sündenböcke
benennen, die für ein falsches Gemeinschaftsgefühl geopfert werden sollen. Bei solchen Jagden erleben Gewalt
sowohl diejenigen, die im Zentrum dieser Arena sind, als
auch jene, die zuschauen und die einbezogen werden: als
Mittäter, als Mitläufer, als Voyeure.
Das Problem in Bezug auf Medien ist also nicht, was
diese abbilden und zeigen, sondern ist jene unsichtbare
Gewaltbereitschaft, die sie wachrufen, die allerdings
schon vorher da war und die genau auch der Stoff der
großen Populisten ist: dieses Ausmachen von Sündenböcken, dieses Erzeugen von Jagdbereitschaft, ohne dass
Verantwortung und Schuld individuell abgewogen und
Unschuld geprüft worden wäre. Ich glaube, dass Robert
Steinhäuser in dem Sinne ein Sündenbockjäger war, weil
er dem Wahn erlegen ist, die Lehrer als vermeintliche
Gruppe der Sündenböcke ausgemacht zu haben. Dieses
Gefühl der Einsamkeit desjenigen, der einen unausgesprochenen Auftrag ausführt, ist sehr bedrohlich. Wir
müssen darüber nachdenken, welche nicht verbalisierten
Botschaften Gesellschaften ihren jungen Leuten zukommen lassen, welche Heldenbilder sie ihnen - meistens
nicht öffentlich besprochen - vorgaukeln, welche Sündenböcke sie ihnen als die eigentlich zu Bestrafenden vorspiegeln. Darum muss es in der Debatte in unserer Gesellschaft gehen. Wir müssen fragen: Wie verständigen
wir uns untereinander noch einmal neu über die Regeln
unserer Gemeinschaft?
Dazu sage ich, wie viele meiner Vorredner: Erfurt war
in diesem Sinne ein ganz wunderbares Beispiel. Jeder hat
unterschiedliche Erinnerungen im Kopf, ich zum Beispiel
diesen wirklich wütenden Ton der Schülerin, die einem
Journalisten gesagt hat: „Hört doch endlich auf, uns hier
abzubilden!“, weil sie die Kamera direkt vor ihrem Gesicht nicht mehr ertragen konnte, weil sie Zeit brauchte für
Ruhe und Trauer. Ich habe auch gesehen, dass in dieser
Stadt Erfurt gerade wegen der erfahrenen Gewalt so etwas
wie eine neue Zivilisation des Miteinanders und der Verständigung darüber, dass man Gewalt nicht mehr zulassen
wird, entstanden ist. Das war sehr erstaunlich. Besonders
erstaunlich war, dass in dieser Atmosphäre einer neuen Verständigung die Eltern von Robert Steinhäuser diesen tieftraurigen Brief geschrieben haben - und zwar an ihre Umgebung, nicht an irgendeine anonyme Sündeninstanz -, in
dem es hieß, sie hätten noch nicht einmal Zeit gehabt, um
ihren Sohn zu trauern. Ich glaube aber, dass die Stadt Erfurt
auch diesen Eltern die Gelegenheit gegeben hat, um ihren
Sohn zu trauern; denn gelungene Gewaltprävention heißt,
dass man Solidarität erfährt für das Misslingende und dass
man immer wieder die Chance zu Neuanfängen und Neueingliederungen hat.
({2})
Ich habe nicht mehr die Zeit, um über Bildung und Bildungsinhalte zu sprechen, deshalb nur noch ein letztes
Wort: Es ist außerordentlich wichtig, dass wir nicht nur die
Form, die Methode und die Modernisierung der Bildung
besprechen, sondern dass wir auch die Ergebnisse einer
Untersuchung über jugendliche Gewalttäter berücksichtigen, die festgestellt hat: Ihnen allen war gemein, dass sie
keinen intensiven Kontakt zu musischer Bildung hatten.
({3})
Ich halte den Satz von Otto Schily, dass die Schließung
einer Musikschule ein Angriff auf die öffentliche Sicherheit ist, für eine kluge und bedenkenswerte Aussage.
({4})
Das gilt auch, Herr Ministerpräsident - Sie sind als großer
Landesvater gerühmt worden -, für die Schließung oder
die Fusion von Theatern, beispielsweise in Weimar, und
für die Schließung von Bibliotheken. Dieser Satz spricht
gegen die Streichung aller Einrichtungen, in denen sich
Jugendliche treffen und sich ohne den Druck einer nur
leistungs- und stressorientierten Gesellschaft beschäftigen können.
Vielen Dank.
({5})
Für die
FDP-Fraktion spricht der Kollege Dr. Karlheinz
Guttmacher.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ereignisse
am Gutenberg-Gymnasium dürfen nicht zu Aktionismus
führen, sie dürfen aber auch keine Lähmung verursachen.
Ja, Herr Ministerpräsident Vogel, auch mich haben die
von Ihnen zitierten Worte der Schülerin des GutenbergGymnasiums tief beeindruckt. Diese Worte fordern uns
heute regelrecht zu unserer Diskussion heraus, um über
die Art zu befinden, in der wir miteinander umgehen und
miteinander leben. Wir müssen uns fragen, welche Werte
unsere Gesellschaft tragen und welche Bedeutung Familie, Erziehung und Bildung haben. Darüber ist die Diskussion in den Familien, in den Schulen, in den Vereinen
und Verbänden, in den Kommunen und Landtagen, im
Bundesrat, aber auch hier im Deutschen Bundestag zu
führen.
Die Ursachen der Gewalt sind vielfältig und komplex.
Deshalb muss die Bekämpfung der Gewalt auch entsprechend umfassend sein. Zu den wichtigsten Ursachen der
Gewalt gehören auch und in besonderem Maße in den
neuen Bundesländern Arbeitslosigkeit und damit vorhandene Perspektivlosigkeit der Jugend, Gewalt in den Medien sowie Gewalt und Lieblosigkeit in der Erziehung.
Der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit wird nur erreicht werden können, wenn die Rahmenbedingungen am
Standort Deutschland wieder stimmen. Dies kann nur
durch einen konsequenten Bürokratieabbau, eine umfassende Arbeitsmarktreform, ein vereinfachtes Steuersystem, aber im Besonderen durch eine mutige Bildungsreform erfolgen.
({0})
Mittelständische Unternehmen müssen besonders in
den jungen Bundesländern wieder stärker unserer jungen
Generation eine berufliche Erstausbildung ermöglichen
und ihnen nach der Ausbildung ein Beschäftigungsverhältnis anbieten.
Meine Damen und Herren, die zentrale Bedeutung, die
der Familie bei der Bekämpfung der Jugendgewalt zukommt, ist unbestritten. Die schwere Aufgabe der Erziehung muss endlich mehr Anerkennung in der Gesellschaft
finden und sich in den von den Medien vermittelten Leitbildern widerspiegeln. Wenn Eltern ihren Kindern Verständnis und Zuneigung entgegenbringen, ihnen Geborgenheit und Selbstvertrauen, aber auch die notwendigen
Grenzen vermitteln, dann bestehen gute Chancen, dass
diese Jugendlichen so viel Charakter entwickeln, dass sie
auch Frustrationen gewachsen sind, ohne Gewalt als Ausweg zu sehen.
({1})
Wir sollten nicht von Jugendgewalt sprechen, ohne
auch den Aspekt der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu betrachten. Die Statistik zeigt deutlich, dass Kinder, die Gewalt in der Familie erleben, später häufig selbst
Täter werden. Das im Sommer 2000 mit Unterstützung
der FDP vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung macht unmissverständlich klar, dass Gewalt in der Erziehung nichts, aber auch
gar nichts zu suchen hat.
({2})
Meine Damen und Herren, eine bedeutende Rolle
kommt den Schulen zu. Kinder müssen nicht nur Faktenwissen vermittelt bekommen, sondern auch im Hinblick
auf ihren Charakter und auf Selbstvertrauen gebildet werden. Sie müssen früh lernen, Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört auch, die Grenzen der eigenen Freiheit
zu erkennen. Freiheit und Verantwortung müssen beim
Schüler ein sich ergänzendes Wertepaar sein. Die Aufgabe
der Schule ist es, die Schüler dabei zu unterstützen, moralische Urteilsfähigkeit zu gewinnen, Werte aufzubauen
und sie zur Orientierungsgrundlage für den eigenen Lebensentwurf zu machen.
Schüler müssen besonders in den unteren Klassenstufen individueller, differenzierter und nachhaltiger ausgebildet werden.
({3})
Dazu ist es dringend notwendig, darüber nachzudenken,
wie die Schülerzahlen gerade in den Klassenstufen 1 bis 4
reduziert werden können.
({4})
Bei der gegenwärtigen demographischen Entwicklung
wäre dies ohne den in vielen Ländern geplanten Lehrerabbau durchaus umzusetzen.
Meine Damen und Herren, zum Schluss sage ich ein
Wort zu Prüfungen und Abschlüssen: Die FDP fordert,
dass dem Schüler nach Abschluss eines Bildungsweges
auch bei erfolgloser Abschlussprüfung ein Zertifikat über
den Besuch von Klassenstufen und den dabei erzielten Erfolg ausgestellt wird. Mit diesem Leistungsnachweis kann
er seine Ausbildung an jeder weiterbildenden Lehranstalt
fortführen. Eine Bildungsreform in diesem Sinne ist auch
zum Abbau von Aggressivität dringend notwendig. Machen wir es!
({5})
Für die
PDS-Fraktion spricht die Kollegin Angela Marquardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohl wahr, es ist Nachdenken angesagt. Daher möchte ich noch einmal den Sommer 2000
reflektieren, als die Bundesregierung, Parteien, Kirchen
und Medien anfingen, endlich gegen Neonazi-Aufmärsche
zu mobilisieren, Geld für Antifa-Initiativen zur Verfügung
zu stellen und den Neonazis den Kampf anzusagen. Dies
geschah zur Freude auch jener jungen Menschen, die sich
bereits seit vielen Jahren gegen Neonazis engagierten und
sich gegen den alltäglichen Naziterror auf der Straße wehren mussten. Inzwischen spricht man aber in manchen antifaschistischen Kreisen vom „kurzen Sommer der StaatsAntifa“. Es ist von diesem Engagement, vom Aufstand der
Anständigen, nicht viel übrig geblieben.
Was nutzen Bekenntnisse gegen rechte Gewalt, wenn
beispielsweise vor ein paar Wochen in Zittau der Stadtrat
beschlossen hat, einer militanten Neonazi-Gruppe ein
Haus zur Verfügung zu stellen, von dem aus sie weiter ihre
gewalttätigen Übergriffe planen kann?
({0})
Nach wie vor dominieren Neonazis ganze Ortschaften in
Ostdeutschland und verhindern, dass Ausländer und Linke sich frei bewegen können; nach wie vor gibt es dort
auch viele Straftaten.
Die Initiativen konnten meines Erachtens nicht wirken,
weil die Analyse der Ursache von Gewalt verkehrt war.
({1})
Das Problem des Rechtsextremismus wurde eindimensional auf Gewalt reduziert. Ich möchte das Gewaltproblem
nicht klein reden, zumal ich selbst einige Erfahrungen mit
Neonazis machen musste.
({2})
Aber die Grundlage dieser Gewalt sind rechtes Gedankengut und Werte wie Intoleranz, Nationalismus, Militarismus und Rassismus. Aus solchen Werten entstehen gewalttätige Einstellungen.
({3})
- Ich will Ihnen mal was sagen: Wenn Sie durch eine Ortschaft gehen und so wie ich von einem Neonazi zusammengeschlagen werden, dann reden Sie über Gewalt und
die damit zusammenhängenden Probleme ganz anders.
Diese Intoleranz und diese Gewalt müssen hier thematisiert werden. Sind Sie schon einmal durch Deutschland
gegangen und niedergeschlagen worden? Sind Sie schon
einmal Zug gefahren und mussten aus dem Zug aussteigen, weil Sie so aussehen, wie Sie aussehen, und nichts
anderes als einfach Ihr Aussehen das Problem war?
({4})
Denken Sie einmal darüber nach!
({5})
Deswegen muss in der Öffentlichkeit über Rassismus
geredet werden. Man muss auch darüber reden, dass Sie
Unterschriftensammlungen gegen Ausländer durchgeführt haben. Auch dies ist Grundlage für rassistische Gewalt. Da kann man lange darüber reden, dass man gegen
Gewalt ist. Dies ist wenig glaubwürdig, wenn man selber
die Grundlage dafür legt.
({6})
Nun fragen Sie sich vielleicht, weshalb ich dies noch
einmal im Zusammenhang mit dem 19-jährigen Täter aus
Erfurt thematisiere. Ich thematisiere dies erstens, weil
man nicht über Gewalt reden kann, ohne rassistische Gewalt zu erwähnen, und zweitens, weil über Jugendgewalt
immer sehr verkürzt geredet wird. Man verschärft das
Waffenrecht, will Gewaltfilme und auch Computerspiele
verbieten. Dazu sage ich Ihnen: Das wird nicht ausreichen. Ich glaube sogar, dass es an vielen Stellen nicht nutzen wird.
Wer meint, ein Motiv für Gewalt zu haben, der braucht
keine Schusswaffe. Er kann sich ein Küchenmesser suchen
oder aus Flaschen Molotowcocktails bauen und wir können weder das Küchenmesser noch die Flaschen verbieten.
Gewaltdarstellungen gibt es nicht nur im Kino oder in
Videofilmen, sondern natürlich auch in jeder Nachrichtensendung. Damit Sie nicht gleich bei mir wieder so aufjaulen, verweise ich auf die Bundesschülerinnenvertretung, die dies bei der Anhörung zum Jugendschutz mit
thematisiert hat. Dort wurde gesagt, dass Krieg und Gewalt auch in Deutschland wieder zu Mitteln der Konfliktlösung geworden sind. Natürlich wird auch durch Krieg
Gewalt salonfähig gemacht.
({7})
In dieser Gesellschaft gibt es aber auch andere und unterschiedlichste Formen legitimierter Gewalt. Man kann
nicht grundsätzlich und schon gar nicht moralisch gegen
Gewalt argumentieren, wenn man sie an anderer Stelle
selber fordert oder toleriert.
Ich nehme für mich in Anspruch, einen anderen Ansatz
zu haben. Natürlich lehne ich das Steinewerfen ab. Ich
lehne auch Gewaltfilme und den Waffenverkauf an Jugendliche ab. Ich lehne aber auch den Waffenverkauf an
Erwachsene ab.
({8})
Ich lehne es auch ab, dass Erwachsene Jugendlichen, die
jünger sind als der Mörder von Erfurt, im Rahmen des Militärdienstes das Schießen und Töten mit der Waffe beibringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen - die Kollegin Vollmer
hat es hier schon angesprochen -, es geht auch um die
Bilder, die vermittelt werden. Ich möchte hier einmal über
diese Bilder sprechen: Ich erinnere mich an ein Foto, auf
dem Otto Schily mit erhobenem Schlagstock in die Kamera lächelte. Ich erinnere mich an das Bild, auf dem Herr
Merz in Mazedonien fröhlich aus einem Panzer winkt. Ich
erinnere mich an Herrn Möllemann, der Verständnis für
Selbstmordattentäter äußerte. Ich denke an einen Außenminister, der sagte, er sei kein Pazifist.
Ich will damit sagen, dass das Problem Gewalt natürlich nicht nur Jugendliche betrifft, auch wenn Filme sicherlich dazu geeignet sein können, dass das Verhältnis zu
Gewalt negativ beeinflusst wird. Dennoch glaube ich,
dass jeder Politiker und jede Politikerin genau aufgrund
der von mir genannten Beispiele einmal darüber nachdenken sollte, welche Bilder wir selber erzeugen, welche
Bilder dahinter stecken, wenn man sich beispielsweise
mit einem Schlagstock öffentlich präsentiert.
Der beste Schutz vor Jugendgewalt ist, so denke ich,
Jugendliche nicht zu entmündigen, sondern ihr VerantAngela Marquardt
wortungsbewusstsein und ihre Selbstständigkeit zu stärken. Ich glaube, dass Verbote, Repressionen und Einschränkungen nicht der richtige Weg sind. Das Vorleben
- das ist bereits angesprochen worden - ist wichtig. Deswegen will ich Ihnen ein wenig schmunzelnd etwas von
Mark Twain mit auf den Weg geben:
Erziehung ist organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.
({9})
Ich erteile
dem Kollegen Christoph Matschie für die SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum Anlass unserer Debatte, zu der grausamen Gewalttat eines Schülers
am 26. April dieses Jahres in Erfurt, zurückkommen.
Dies war eine Tat, die wir nicht wirklich erklären können.
Es gibt keine klar zugrunde liegende Kette von Ursachen
und Wirkungen. Deshalb gibt es - das muss man eingestehen - auch keine Sicherheit, so etwas in Zukunft verhindern zu können.
Dennoch - dies möchte ich besonders an Frau Merkel
gerichtet sagen - erwächst gerade aus dieser Tat in Erfurt
eine doppelte Verpflichtung für all diejenigen, die politische Verantwortung tragen, nämlich die Verpflichtung,
die Frage nach den Ursachen von Gewalt immer wieder
neu zu stellen, und die Verpflichtung, zu fragen, was politisches Handeln zur Eindämmung von Gewalt in unserer
Gesellschaft beitragen kann.
({0})
Ich will mich heute dabei besonders auf die Schule
konzentrieren. Eine Nachricht hat mich in diesem Zusammenhang schockiert: Allein in Thüringen sind mittlerweile mehr als 80 Drohungen so genannter Trittbrettfahrer aktenkundig. Jugendliche drohen ihren Lehrern mit
Erfurter Verhältnissen, sie prahlen vor ihren Mitschülern
mit dem Besitz von Waffen.
Mit dem Thema Gewalt an Schulen müssen wir uns
aber nicht erst seit dem Amoklauf in Erfurt auseinander
setzen. Auch in Thüringen ist die Reihe alarmierender Gewaltausbrüche lang. Vorgestern sind in Sondershausen
zwei Schüler verurteilt worden, die im Januar eine Lehrerin vor der Klasse mit dem Messer bedroht hatten, weil sie
wegen Störung des Unterrichts aus dem Schulgebäude
verwiesen worden waren. Im Mai wurde eine Schülerin
aus Weimar verurteilt, weil sie nach einem Schulverweis
an vier Stellen einer voll besetzten Schule Feuer gelegt
hatte. Nur glückliche Umstände und ein beherztes Eingreifen von Schülern verhinderten, dass jemand zu Schaden kam.
Die Ursachen für solche Gewalt liegen in den seltensten Fällen klar und eindeutig auf der Hand. Häufig sind
dabei viele sich wechselseitig verstärkende Faktoren im
Spiel. Trotzdem dürfen wir uns hinter dieser Komplexität
nicht verstecken.
({1})
Im Geflecht der Ursachen und Erklärungen sind klare Ansatzpunkte für ein politisches Handeln zu erkennen. Keiner
dieser einzelnen Ansätze kann das Problem von Gewalt in
der Gesellschaft für sich genommen lösen. Gemeinsam
können sie aber zur Eindämmung von Gewalt beitragen.
Deshalb wäre es falsch, hier einzelne Instrumente gegeneinander auszuspielen.
Als Reaktion auf die Gräueltat in Erfurt war es richtig,
das Waffengesetz unmittelbar zu verschärfen. Es war gut
so.
({2})
Zur Aufrichtigkeit gehört aber auch, in diesem Hause
noch einmal daran zu erinnern, dass dieser Verschärfung
des Waffenrechts ein jahrelanger Streit vorausgegangen
ist und dass die Union eine solche Verschärfung vorher
verhindert hatte.
({3})
Der Besitz einer Waffe darf kein Kinderspiel sein. Ich kann
es nicht nachvollziehen, dass einzelne Schützen und Waffenfreunde gegen die Verschärfung des Waffenrechts heute
mobilmachen. Die Sicherheit der Gemeinschaft muss Vorrang vor jedem Interesse eines Waffenbesitzers haben.
({4})
Es war richtig, auf die Einschränkung von Gewalt in
den Medien zu drängen. Auch die Schule selbst muss aber
noch einmal stärker in unser Blickfeld rücken. Es ist
schon gesagt worden, dass dabei die Konsequenzen aus
der PISA-Studie und aus Erfurt miteinander verbunden
werden müssen. Das ist keine einfache Aufgabe; ihre Bewältigung wird Zeit brauchen. Klar ist aber schon jetzt:
Die Bewältigung dieser Aufgabe wird nur gelingen, wenn
wir das Hühnerhofdenken in der Bildungspolitik überwinden und zu einer gemeinsamen nationalen Anstrengung für eine bessere Bildung in Deutschland kommen.
({5})
Neben dieser großen gemeinsamen Herausforderung,
für die wir uns die nötige Zeit nehmen sollten, gibt es
manche Bereiche in der Schulpolitik, die unmittelbar entschieden werden können. Ich sage das hier mit aller Deutlichkeit: Der Amoklauf von Erfurt hat uns noch einmal
mit aller Brutalität auf das Problem fehlender Schulabschlüsse in Thüringen gestoßen,
({6})
das offenbar ein Hintergrund für den Amoklauf und auch
für den Brandanschlag auf die Schule in Weimar gewesen
ist.
({7})
Ich sage das hier ganz klar: Ich bedauere es außerordentlich, dass dazu noch keine Entscheidung im Thüringer
Landtag gefallen ist.
({8})
Wenn so offenkundig notwendige und breit getragene
Änderungen nicht zeitnah entschieden werden, führt das
bei den Betroffenen nur zu einem weiteren Verlust des
Vertrauens in die Handlungsfähigkeit der Politik.
({9})
Gerade vor dem Hintergrund unserer heutigen Debatte
müssen wir als politische Verantwortungsträger dafür
Sorge tragen, dass das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Demokratie gestärkt wird. Wir müssen
dazu beitragen, dass Frustration, Ohnmachtsgefühle und
Ausgrenzungen nicht verstärkt, sondern abgebaut werden. Das ist unsere politische Aufgabe.
({10})
Ich komme noch einmal auf die Schule zurück. Es war
hier viel von Vermittlung von Werten die Rede. Ich finde
es richtig, dass wir darüber diskutieren. Ich gehöre allerdings nicht zu denen, die der Überzeugung sind, dass in
unserer Gesellschaft Mitmenschlichkeit und Wertorientierung den Bach hinuntergehen. Wer die gemeinsame
Trauer um die Opfer in Erfurt erlebt hat, konnte spüren,
dass Mitmenschlichkeit, Wärme und Solidarität in dieser
Gesellschaft herrschen. Als Thüringer Abgeordneter bin
ich für diese Erfahrung dankbar.
({11})
Wer Werte vermitteln, wer erziehen will, braucht Autorität; das ist eine einfache Weisheit. Es ist sicher richtig:
Lehrer haben nur so viel Autorität, wie wir ihnen als Gesellschaft geben. Wenn die Gesellschaft Lehrer als Fußabtreter der Nation behandelt, dann werden auch Schüler
Lehrer immer wieder so behandeln.
({12})
Aber zu dem Schritt, Lehrern einen höheren Wert in der
Gesellschaft einzuräumen und ihre Erziehungskompetenz
zu stärken, gehört auch, darüber nachzudenken, wie das
Miteinander von Schülern, Eltern und Lehrern in der
Schule besser organisiert werden kann, wie demokratische Prozesse an der Schule gestärkt werden können, wie
Problemlösungskompetenz an unseren Schulen eingeübt
werden kann.
({13})
Schule ist Bildungsstätte und Ort sozialer Erfahrung
und Prägung. Beides muss im Blick bleiben, wenn wir
über die Konsequenzen aus der PISA-Studie beraten. Für
beides muss Raum sein. Für beides müssen wir die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Ich denke, die zusätzlichen Mittel des Bundes helfen bei der Bewältigung
dieser Aufgabe. Ich kann es nicht verstehen, dass die erste
Reaktion auf das Angebot des Bundes, mehr für Ganztagsbetreuung zu tun, Störfeuer aus einzelnen Ländern
und der Hinweis waren, das liege nicht in der Kompetenz
des Bundes. So dürfen wir mit Bildungspolitik und Schule
nicht umgehen.
({14})
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines zu bedenken
geben. Am 11. Mai wurde der Amokschütze von Erfurt an
einem unbekannten Ort beigesetzt. Nichts soll an ihn erinnern: kein Grabstein, kein Kreuz. Sein Name wird mit
der Zeit wahrscheinlich in Vergessenheit geraten. Die entsetzliche Tat dürfen wir aber nicht vergessen. Wir haben
die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Tat nicht
in Vergessenheit gerät und dass die Mahnung, die von Erfurt ausgeht, nicht im Nirgendwo der politischen Debatte
untergeht, sondern dass diese Mahnung in Konsequenzen
und politischen Entscheidungen endet. Das sind wir den
Opfern schuldig.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Maria Eichhorn.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Aggressive und gewalttätige Jugendliche werden nicht als solche geboren. Aufgerüttelt durch
die schrecklichen Ereignisse am Gutenberg-Gymnasium
in Erfurt rückt die Frage nach den Gründen von Gewalt
wieder verstärkt ins Blickfeld. In Politik und Gesellschaft
wird über Ursachen und Bekämpfungsmöglichkeiten diskutiert. Wieso ist ein wachsender Anteil von Jugendlichen
bereit, sich durch Gewalt vermeintliche Anerkennung zu
verschaffen?
Gewalt kommt nicht von ungefähr und entsteht nicht
im luftleeren Raum. Es gibt zum Beispiel die familiäre
Situation. Familiärer Stress, der aus Arbeitslosigkeit entsteht, schürt Konflikte. Auch Spannungen, die durch eine
zerbrochene Ehe oder Partnerschaft entstehen, werden auf
dem Rücken der Kinder ausgetragen. Kinder brauchen
Grenzen. Daher ist es wichtig, dass Eltern Nein sagen
können. In vielen Familien herrscht Sprachlosigkeit. Statt
etwas miteinander zu unternehmen oder miteinander zu
sprechen, werden die Kinder vor dem Fernseher abgestellt. Aber Erziehung setzt Beziehung voraus.
({0})
Im Zusammenhang mit Erfurt wird viel über Schule
gesprochen. Unter- oder Überforderung der Schüler, Versagensängste oder ein schlechtes Schulklima sind ein
Saatboden für Gewalt. Viele Kinder und Jugendliche haben nicht gelernt, mit Konflikten umzugehen. Sprachlosigkeit im Elternhaus, Anonymität der Schule oder des
Wohnumfeldes machen sie anscheinend hilflos. Sie flüchChristoph Matschie
ten dann in die Gewalt. Der gesellschaftliche Druck ist
enorm. Aber es wäre zu einfach, Gewalt nur mit Einflüssen von außen erklären zu wollen.
Wir müssen für die nachwachsende Generation Perspektiven schaffen.
({1})
Wenn 15-, 16-Jährige oder Abiturienten nach Beendigung
der Schule auf der Straße stehen, ist das das Schlimmste,
was ihnen passieren kann. Ausbildung und Arbeit geben
jedem Menschen, insbesondere den jungen Menschen,
einen Sinn. Sie spüren, dass sie in dieser Gesellschaft
gebraucht werden. Deswegen ist die Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit besonders wichtig.
({2})
Bildung und Erziehung heißen für uns, den jungen
Menschen zu vermitteln, dass das Leben mehr als Konsum und Erfolg bietet. Ohne eine Vermittlung von Grundwerten, an denen sich ein Mensch bereits als Kind orientieren kann, ist es schwierig, sich in dieser fordernden
Welt zurechtzufinden. Was aber können wir tun?
Es gibt sicherlich verschiedene Ansatzpunkte, um der
Gewalt von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft zu begegnen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung
mit den Ursachen von Gewalt ist ohne eine Diskussion
über Wertvorstellungen nicht möglich. Eine Intervention gegen Gewalt ist vor allem dann erfolgversprechend,
wenn sie möglichst früh einsetzt. Das heißt, dass Prävention nötig ist. Prävention bedeutet, Jugendliche gegenüber
Gewalt zu stärken. Dazu gehört die Vermittlung von Werten. Diese erfolgt in erster Linie im Elternhaus. Kinder
machen in der Familie ihre ersten Erfahrungen, wie Menschen miteinander umgehen. Dadurch werden sie auf
Dauer geprägt. Kinder brauchen feste innerfamiliäre Beziehungen, die auch Belastungen standhalten. Damit erhalten sie das notwendige Selbstwertgefühl und Vertrauen
in die Zukunft. Eltern sollten den Kindern gegenüber Partner sein, aber auch eine Autorität darstellen, die Grenzen
setzt.
Die Vermittlung von Werten wie Toleranz, Aufrichtigkeit und Respekt gehört untrennbar zur Erziehung. Das
gilt auch für Zivilcourage, Verantwortungsbewusstsein
und Verlässlichkeit. Die Achtung des anderen und die Anerkennung der menschlichen Würde bilden nach meiner
Überzeugung wichtige Grundlagen für die Zukunft einer
friedvollen Gesellschaft. Die moderne Arbeitswelt mit
ihrem verstärkten Druck fordert auch von den Familien
ihren Tribut. Die meisten Eltern wollen für ihre Kinder
nur das Beste und dennoch - oder gerade deshalb - sind
sie oft verunsichert. Daher müssen wir sie unterstützen.
Dafür gibt es verschiedene Maßnahmen. Jungen Eltern
oder jungen Paaren können in bereits bestehenden Einrichtungen konkrete Tipps zur Erziehung und Hilfe angeboten werden.
Von besonderer Bedeutung ist die bessere Vernetzung
aller an der Erziehung der Kinder beteiligten Personen:
der Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sowie der Erzieherinnen und Erzieher. Durch die Zusammenarbeit zwischen
dem Elternhaus und allen Einrichtungen vor Ort, die mit
Familien zu tun haben, können Probleme frühzeitig erkannt werden.
Um der Gewalt zu begegnen, ist neben der Erziehung
auch der Bildung der Kinder und Jugendlichen ein stärkeres Gewicht beizumessen. Bildung, Erziehung und
Ausbildung müssen als Einheit begriffen werden. Jedes
Element für sich ist wichtig, aber erst das Zusammenspiel
ist die angemessene Antwort auf die Gewalttendenzen,
die sich nicht erst jetzt abzeichnen.
Unsere Bildungs- und Erziehungseinrichtungen haben
nicht nur einen Bildungs-, sondern auch einen Erziehungsauftrag. Das ist zugegebenermaßen in großen Klassen nicht immer einfach. Das Gleiche gilt auch für Schulen, in denen ein Großteil der Schüler nicht ausreichend
Deutsch sprechen kann. Aber gerade hierbei helfen Respekt und Achtung Lehrern und Mitschülern gegenüber,
dem Erziehungs- und Bildungsauftrag nachzukommen.
Bildungs- und Erziehungsziele, die besonders zum
Wertebewusstsein beitragen, müssen wir stärken. Ich
meine damit nicht nur Religion, Philosophie oder ethische
Grundfragen, sondern auch eine Neuorientierung politischer Bildung und Erziehung. Die nachwachsende Generation wird dadurch die Bereitschaft entwickeln, die
großen gesellschaftlichen, sozialen, technologischen und
kulturellen Fragen anzugehen. Sie wird damit für die Gesellschaft eintreten, die von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Ächtung jeglicher Gewalt geprägt ist.
Bildung und Erziehung müssen im Elternhaus, in Schule
und Hochschule wieder die Bedeutung der Verantwortung
für das eigene Leben, aber auch für das Leben anderer und
für die Zukunft unserer Gemeinschaft fördern. Die Erziehung zu einer selbstbewussten Persönlichkeit, zum mündigen Menschen kann nur gelingen, wenn Werte und Einstellungen vorgelebt werden. Das gute Beispiel der Eltern
und aller anderen an der Erziehung Beteiligten ist durch
keine noch so gute Theorie zu ersetzen.
({3})
Zum Bildungs- und Erziehungsprozess gehört auch die
Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, mit anderen Einstellungen und Mentalitäten. Kinder und Jugendliche müssen lernen, diese Unterschiede auszuhalten.
Dieser Bildungs- und Erziehungsauftrag muss sich selbstverständlich in den Lehrplänen widerspiegeln: bei den
Regelschulen und bei den Ganztagsschulen. Wenn Sie,
meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen,
jedoch in Ihrem Antrag so tun, als würde der Ausbau der
Ganztagsschulen allein die Möglichkeit bieten, sinnvolle
pädagogische Konzepte zu entwickeln, liegen Sie falsch.
({4})
- Das steht in Ihrem Antrag.
Neben all dem darf man eines nicht vergessen: Kinder
und Jugendliche sind tagtäglich einer Vielzahl von
Gewaltdarstellungen ausgesetzt. Der Jugendmedienschutz wurde aufgrund der Ereignisse von Erfurt vor
kurzem sehr schnell geändert. Doch das reicht nicht. Leider
ist die Bundesregierung unseren weitergehenden Forderungen nicht gefolgt. Es sind ja einige unserer Forderungen
heute schon angeführt worden.
({5})
Es gibt inzwischen eindeutige wissenschaftliche Hinweise, dass auch virtuelle Gewalt in erschreckender Weise
abstumpfen lässt. Als Folge davon gehen Mitgefühl und
Mitleidensfähigkeit verloren. Das dürfen wir doch nicht
einfach hinnehmen.
({6})
Wir müssen Kinder und Jugendliche vor diesen Einflüssen so weit als möglich schützen.
Meine Damen und Herren, der Anlass, der zu dieser
Debatte geführt hat, ist außergewöhnlich erschreckend
und traurig. Trost wird es für die Hinterbliebenen der Opfer nicht geben. Dennoch liegt in der Diskussion über Erfurt eine große Chance, damit sich ein solcher Wahnsinn
nicht wiederholt.
({7})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Michael Müller.
Meine Damen
und Herren! Von Max Frisch stammt der Satz:
Sie nennen es Schicksal, um nicht zu fragen, wie es
dahin gekommen ist.
Wenn die Debatte einen Sinn haben soll, dann müssen
wir diesen Satz von Max Frisch ernst nehmen. Wir müssen fragen, wie es dahin gekommen ist, wie Gewalt entsteht. Wir wissen, dass die Bändigung von Gewalt die
zentrale Frage jeder Zivilisation ist. Inwieweit wir fähig
sind, Gewalt zu bändigen, ist nach Norbert Elias quasi der
Lackmustest für den Stand einer Zivilisation.
Deshalb, meine Damen und Herren, muss man sehen,
dass es seit einiger Zeit und nicht nur wegen Erfurt zunehmend alarmierende Tendenzen gibt: den Verlust an
Wertbindungen, an so genannten Ligaturen, Auflösungsprozesse in der Gesellschaft, die zu neuen Formen von
Gewalt führen, wovon wir in Erfurt aus meiner Sicht nur
ein besonders extremes Beispiel erlebt haben.
Es geht also um sehr viel tiefer gehende Prozesse, wie
Wilhelm Heitmeyer zu Recht sagt, um Reaktionen auf
völlig veränderte soziale Erfahrungen. Darum geht es in
erster Linie: um völlig veränderte soziale Erfahrungen,
die Gewalt zum Ausbruch kommen lassen. Deshalb ist es
falsch, schnell einfache Erklärungen zu geben wie beispielsweise den Hinweis auf Medienkonsum oder Schule
oder was auch immer. Das alles sind wichtige Einzelfaktoren, aber sie allein erklären Gewalt noch nicht.
({0})
Es geht um die Frage, welche sozialen Erfahrungen, welche sozialen Perspektiven vor allem junge Leute heute
haben. Das ist der Kern. Viele Studien weisen darauf hin,
dass wir erleben müssen, dass vor allem bei Jugendlichen,
aber nicht nur bei ihnen, erstens die Desintegrationsprozesse zunehmen, und zweitens, dass sich zunehmend, und
zwar sehr zugespitzt, die Frage nach der Identität stellt.
Deshalb hat aus meiner Sicht Wilhelm Heitmeyer
Recht, wenn er sagt, dass die eigentliche Aufgabe, die sich
an die Gesellschaft richtet, ist, wie wir eine neue Kultur
der Anerkennung schaffen, wie wir also die Würde des
Menschen im umfassenden Sinne akzeptieren und zur
Geltung bringen.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die Verhinderung von
Gewalt ist in erster Linie eine soziale Herausforderung.
({1})
Eric Dunning, einer der Mitarbeiter von Norbert Elias,
hat auf einen sehr dramatischen Punkt hingewiesen. Er hat
die Entwicklung der Gewalt seit dem 12. Jahrhundert am
Beispiel des Sports beschrieben. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die moderne Gesellschaft beispielsweise
beim Fußballsport zwar sehr viel professioneller und internationaler geworden sei, dass aber der moderne Fußball
auch das Phänomen des Hooliganismus, also neue Formen
von Gewaltexzessen, hervorgebracht habe, die nicht einfach mit Erziehung, sondern in erster Linie mit tief greifenden sozialen Veränderungen - so sieht Dunning das zu erklären seien, die durch den Verlust an Anerkennung
und an persönlichen Möglichkeiten der Entfaltung sowie
vor allem durch den Verlust von sozialen Perspektiven
hervorgerufen würden. Deshalb müssen wir, wenn wir über
das Thema Gewalt diskutieren, die Frage einbeziehen, was
in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird. Ralf Dahrendorf - das kennen Sie vielleicht - beschreibt, dass wir davor hat er Angst - in ein autoritäres Jahrhundert hineingeraten werden, wenn es uns nicht gelingt, die sozialen
Bindungen zu festigen, und wenn wir nicht zu einer neuen
Politik der Freiheit und der Vielfalt fähig sind. Deshalb
geht angesichts der Tatsache, dass uns unter den Bedingungen der Globalisierung und Europäisierung zunehmend die Frage nach der Identität unserer Gesellschaft
und des Einzelnen gestellt wird, die Suche nach den Ursachen für das Ausbrechen von Gewalt weit über das Bildungssystem hinaus.
({2})
Dabei geht es auch um die Frage der Kultur und der Zivilität moderner Gesellschaften.
({3})
Ich finde es richtig, dass wir über Bildung reden. Aber
es bringt beispielsweise nichts, in den Schulen nur über
Werte zu reden, wenn die Jugendlichen sie nicht auch in
ihrem Alltag, in der sozialen Welt, erfahren. Deshalb müssen wir folgende Fragen beantworten: Wie können wir mit
den großen Herausforderungen der Zukunft, also mit der
neuen Ungleichheit, die sich unter den Bedingungen der
Globalisierung zuspitzt, auf soziale Weise fertig werden?
Wie können wir beispielsweise den Verlust an Identität
überwinden, der durch den Prozess der Erweiterung Europas verursacht wird? Wie können wir es verhindern,
dass die Menschen in dem Prozesses von Desintegration
und Identitätsverlust ihre Heimat in ethnischen oder nationalistischen Identitäten suchen, die falsch sind, weil
wir gesellschaftliche Identitäten brauchen? Diese Fragen
werden künftig für die Demokratie existenziell werden.
Wenn man nicht nur den Fall in Thüringen, sondern
auch das Ausbrechen von Gewalt in anderen Ländern genauer untersucht, dann stellt man fest, dass auch das Gefühl von Unterlegenheit und Perspektivverlust zu Gewalt
geführt hat. Die politische Kernfrage, die wir aus den gewalttätigen Vorkommnissen ableiten müssen, lautet: Wie
können wir die Integrationskräfte stärken, eine Kultur
der Anerkennung schaffen und die sozialen Identitäten
bewahren?
({4})
Zusammenfassend möchte ich sagen: Ich glaube,
Umberto Eco hat in seinem lesenswerten Essay zum
11. September - ich möchte daran erinnern, dass das, was
damals geschah, auch eine Form von entfesselter Gewalt
war - Recht. Er hat darauf hingewiesen, dass Strukturen
geschaffen werden müssen, die den Menschen ermöglichen zu erkennen, wohin sie gehörten, dass sie ernst genommen würden, und die deutlich machen, wohin die weitere Entwicklung geht. Das sind die drei zentralen Punkte.
Es ist keine Frage bloß der Erziehung - das geht weit darüber hinaus; wiewohl ich auch sehr dafür plädiere, dass
die Lehrer keine modernen Akkordarbeiter werden und
dass sie wieder mehr Zeit finden, um in den Schulen auch
soziale und persönliche Fragen zu erörtern -, sondern in
erster Linie eine Herausforderung an die Politik, unter den
künftigen Bedingungen der globalen Welt neue soziale
und kulturelle Identitäten zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen zu erkennen, wohin sie gehören.
Vielen Dank.
({5})
Nun spricht
für die SPD-Fraktion die Kollegin Kerstin Griese.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als im April 1999 im amerikanischen Littleton zwei Schüler ein Blutbad angerichtet haben, haben wir alle fassungslos nach Amerika geschaut
und uns gefragt: Ist so etwas auch bei uns möglich? Leider mussten wir diese Frage bejahen.
Deshalb treibt uns die Frage um: Was sind die Ursachen und Hintergründe von Gewalt? Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen, und teile nicht die Einschätzung,
die hier von Frau Merkel geäußert wurde: Wer nach den
Ursachen fragt, würde rechtfertigen. Wir müssen schauen,
wo Gewalt in der Gesellschaft ist. Unsere Debatte „Gewalt und Gesellschaft“ zeigt, dass Gewalt überall vorkommen kann, dass sie nicht auf „Gewalt von Jugendlichen“ verkürzt werden darf, dass Gewalt in den Familien,
in den Schulen, auf der Straße, im Beruf, in den Medien
vorkommen kann. Deshalb brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens. Es reicht nicht, allgemein Werte zu
propagieren; man muss auch sagen, um welche Werte es
eigentlich geht.
({0})
Der gesellschaftliche Konsens muss heißen: Zusammenhalt fördern und Gewalt ächten. Das sind Werte, mit denen man auch inhaltlich arbeiten kann, die man als Ziel
vertreten kann.
Schülerinnen und Schüler haben mir nach dem Amoklauf von Erfurt oft gesagt, dass eine ähnliche Tat auch an
ihrer Schule passieren könnte. Diese Schonungslosigkeit,
mit der Schülerinnen und Schüler gesagt haben: „Das
könnte auch bei uns passieren“, macht deutlich, wie ernst
wir das nehmen müssen und wie viel Ängste es in den
Schulen gibt. Es macht auch deutlich, dass wir in unserer
Verantwortung als Politiker nicht nur appellieren, sondern
auch handeln müssen. Wir müssen Impulse geben, damit
sich das gesellschaftliche Bewusstsein ändert. Ich will einige der Impulse, die wir zu geben versucht haben, nennen.
Das Wichtigste ist schon genannt worden, nämlich das
Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Ich
halte es für einen ganz großen Fortschritt, dass endlich
eindeutig klargestellt ist, dass Gewalt kein geeignetes Erziehungsmittel ist.
({1})
Kinder, die von ihren Eltern ohne Schläge und ohne Gewalt erzogen werden, werden besser in der Lage sein, anderen gegenüber tolerant zu sein und Konflikte gewaltfrei
zu lösen.
Wir sind uns sicher: Kinder und Jugendliche brauchen
Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Dort, wo sie
benachteiligt sind, wo sie keine Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten haben, wo sie keine Perspektiven haben,
können Frustration, Aggression und Perspektivlosigkeit
entstehen. Aus ebendieser Perspektivlosigkeit kann - muss
nicht - die Flucht in gewalttätiges Verhalten resultieren.
Deshalb ist es uns so wichtig, den sozialen Schutz, die soziale Sicherheit und die Chancen von Kindern und Jugendlichen zu fördern.
Wir haben als Politiker die Verantwortung, günstige Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Sie wachsen natürlich zuallererst
in der Verantwortung der Familie, aber eben auch - das hat
der 11. Kinder- und Jugendbericht in den Mittelpunkt gestellt - in öffentlicher Verantwortung auf. Sozialer Schutz
und Sicherheit für Kinder und Jugendliche sind Werte, die
uns wichtig sind. Sie sind wichtig für die Zukunft unserer
Michael Müller ({2})
Gesellschaft und für ein Klima, in dem Gewalt keine
Chance hat.
Wenn wir dort ansetzen wollen, wo Kinder und Jugendliche benachteiligt sind, dann müssen wir beispielsweise in
den sozialen Brennpunkten ansetzen. Dort fehlen Ausbildungs- und Arbeitsplätze, Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten. Deshalb halte ich auch das Programm „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen
Brennpunkten“ - abgekürzt: E&C - für so wichtig. Es setzt
an, um jungen Menschen aus benachteiligten Gebieten
günstigere Bedingungen für ihre Zukunft zu schaffen.
({3})
Nur wenn es gelingt, Kindern und Jugendlichen dort vergleichbare Zukunftschancen wie denen in anderen Wohnvierteln zu garantieren, können Benachteiligungen aufgehoben werden, können Chancen eröffnet und Wege
geebnet werden. Wir zeigen damit - das ist ganz wichtig -:
Wir kümmern uns um euch, um Kinder und Jugendliche.
Die Förderung von benachteiligten Jugendlichen ist
auch Ziel des Freiwilligen Sozialen Trainingsjahres. In
diesem Trainingsjahr werden Jugendlichen soziale und
berufliche Schlüsselqualifikationen vermittelt. Das ist
auch ein Weg zur Integration. Die Erfahrungen sind sehr
gut. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen war danach sozial besser integriert. Etwa ein Drittel hat einen Arbeitsplatz bekommen. Das hat langfristig und nachhaltig positive Auswirkungen gehabt. Wegen dieser Erfolge werden
wir die Zahl der Plätze für das Freiwillige Soziale Trainingsjahr auf 2 000 verdoppeln.
({4})
Ein ganz wichtiger Ansatz unserer Arbeit - das Programm „Gegen Gewalt und Rechtsextremismus“ war kein
kurzes Strohfeuer, sondern ist langfristig angelegt - ist unser Programm „entimon - Gemeinsam gegen Gewalt
und Rechtsextremismus“. Damit werden Maßnahmen zur
Stärkung von Demokratie und Toleranz sowie - das halte
ich für ganz wichtig - zur Prävention und Bekämpfung von
Rechtsextremismus und Gewalt gefördert. Dieser Name
ist im Hinblick auf unsere Debatte ganz aussagekräftig.
„Entimon“ ist Altgriechisch und bedeutet „Würde“ und
„Respekt“. Genau darum geht es hier, um Würde und Respekt voreinander, Einfühlungsvermögen, eine Kultur des
Miteinanders und die Ablehnung von Gewalt.
Dahinter verbergen sich ganz tolle Projekte, im Rahmen derer sich Schüler in ihren Stadtteilen engagieren,
Theateraufführungen und Rollenspiele anbieten, ihren
Stadtteil sicher machen für Menschen anderer Hautfarbe
usw. Als Beispiel nenne ich das „Kino für Toleranz“. Deshalb ist es mir so wichtig, in dieser Debatte deutlich zu sagen, dass das Thema Gewalt nicht allein den Jugendlichen
zugeschoben werden darf.
({5})
Die Ursachen liegen in der Mitte der Gesellschaft. Es gibt
sehr viele Jugendliche, die sich gegen Gewalt engagieren.
Dafür danke ich ihnen ausdrücklich.
Im Zusammenhang mit den schrecklichen Morden in
Erfurt ist auch über Gewalt im Internet und in Computerspielen immer wieder - auch heute - gesprochen worden.
Es ist sicher, dass gewalthaltige Computerspiele zu einer
Desensibilisierung führen. Die Empathiefähigkeit von
Kindern, aber auch von Erwachsenen, die diese Computerspiele spielen, sinkt. Man kann erkennen, dass das Anschauen von Gewaltszenen in den Medien eine große
Rolle für die persönliche Konstitution und für die Gefühlslage spielt: Bei den Schülern, die einen „intensiven
Horrorkonsum“ haben, ist eine erhöhte Aggressionstendenz und - das fand ich sehr interessant - eine größere
Ängstlichkeit zu verzeichnen. Das zeigt, wie sehr Kinder
und Jugendliche Schutz und Sicherheit brauchen.
Meiner Ansicht nach ist das Problem, dass die meisten
Eltern oft gar nicht wissen, was ihre Kinder am Computer
spielen. Eigentlich sollten sie doch mit ihnen spielen, mit
ihnen fernsehen, mit ihnen mit Internet surfen, ihnen helfen, das Gesehene zu verarbeiten. Deshalb ist Medienkompetenz - besser: Medienmündigkeit - so wichtig. Da
setzen wir an.
Mit dem neuen Jugendschutzgesetz, das die Alterskennzeichnungspflicht für Computerspiele vorsieht, haben wir einen wichtigen Schritt gemacht, um Eltern, Lehrern und Erziehern die Einschätzung zu erleichtern. Ich
bin froh, dass der Bundesrat, nachdem sich die Unionsfraktion bei der Abstimmung hier enthalten hat, diesem
Gesetz im Juni zugestimmt hat. Ich wünsche mir, dass wir
noch viel stärker über Gewalt im Fernsehen diskutieren,
um Wege zu finden, sie einzudämmen.
({6})
Die Darstellung von Brutalität und Gewalt in allen
denkbaren Medien darf nicht auf Kinder einwirken, als sei
das eine Möglichkeit der Konfliktlösung. Gerade deshalb
brauchen Kinder und Jugendliche in der modernen Mediengesellschaft feste Werte und Normen. Wir müssen das
Bedürfnis nach Sicherheit, nach Geborgenheit, nach sozialer Anerkennung aufgreifen. Die junge Generation erwartet aber ganz besonders gute Rahmenbedingungen für
das Aufwachsen.
Unser Ziel ist es, Kinder und Jugendliche stark zu machen, damit sie selbstbewusst gegen Gewalt eintreten
können, damit sie sich für gewaltfreie Konfliktlösungen
entscheiden. Das ist ein wirksamer Schutz vor Gewalt in
der Gesellschaft. Es geht um mehr Aufmerksamkeit, Verantwortung füreinander und friedlichen Umgang miteinander.
Vielen Dank.
({7})
Nun spricht
für die SPD-Fraktion der Kollege Michael Roth.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Asterix und Obelix,
Tom und Jerry - das waren die Helden meiner Kindheit.
Es waren und sind aber auch Gewalttäter. Bestimmt hat jeder von uns in seiner Generation solche oder ähnliche Figuren kennen und schätzen gelernt. Gewalt gehört - leider - zu unserem Leben.
Gewalt ist kein Phänomen moderner Gesellschaften.
Gewalt hat es immer gegeben, und zwar durchweg in stärkerer Form als heute. Gewalt zeigt uns immer wieder auf
neue, erschreckende Weise ihr Gesicht. Doch die Wahrnehmung und der Umgang der Menschen, gerade junger
Menschen, mit der Gewalt ist ein anderer geworden. Deshalb müssen wir als politisch Verantwortliche heute andere Maßstäbe setzen.Wir müssen uns mit unserem Bild
der Gesellschaft und mit der Bedeutung der Gewalt in der
Gesellschaft offen und kritisch auseinander setzen.
({0})
„Was ist Gewalt anderes als Vernunft, die verzweifelt?“, fragte einst Gotthold Ephraim Lessing. In letzter
Konsequenz müssen wir mit der Gewalt leben lernen,
wird Gewalt immer Bestandteil unserer Gesellschaft sein.
Deswegen dürfen wir sie aber niemals als schicksalhaft
akzeptieren, niemals als selbstverständlich oder gar normal ansehen.
Ein Gewaltereignis, wie wir es in Erfurt erlebt haben,
dürstet nach der Benennung von Ursachen und nach Erklärungen. Dass wir heute im Bundestag über die differenzierte Bedeutung von Gewalt in unserer Gesellschaft
reden, ist sicher auch ein Eingeständnis: Wir sind bisweilen sprachlos, ja ratlos. Wir suchen nach Antworten. Wir
neigen aber auch aus gutem Grund zu Skepsis gegenüber
vorschnellen, einfachen Antworten. Wir haben schlicht
keine Patentrezepte.
({1})
Bei aller Notwendigkeit zur Gemeinsamkeit, die wir in
den heutigen Reden betont haben, möchte ich aber auch
darauf hinweisen, dass ich mit dem, was beispielsweise
Frau Merkel aus ihrer Sicht geschildert hat, nicht übereinstimme. Ich habe eine andere Vorstellung von gemeinschaftlichem und gesellschaftlichem Zusammenleben.
Für mich ist das Rollback in die 50er-Jahre kein zukunftsweisendes Konzept. Ich kann mich auch nicht mit
den Vorstellungen von Frau Pau identifizieren, die im
Prinzip - ich überspitze das jetzt einfach einmal - deutlich gemacht hat: Der böse Kapitalismus ist allein an allem schuld. Ich glaube, dass wir es uns so einfach nicht
machen können.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Schlagwort
taucht bei unserer mühsamen Suche immer wieder auf:
die Verantwortung der Medien. Das Urteil über die
Rolle der beobachtenden, beschreibenden, ordnenden und
kommentierenden Medien verharrt dabei oft im Stadium
der plumpen Medienschelte. Die Position der Medien als
Auslöser, Transporteur, Verführer oder Aufklärer sollte
ausgewogen beurteilt werden. Selbstverständlich sind
schreckliche Gewalthandlungen, die in der Mitte unserer
Gesellschaft emporwachsen, ein Anlass zu großer Sorge.
Die real existierende Gewalt in der Gesellschaft erzeugt
Angst der Gesellschaft vor Gewalt.
Aber die Medien zerren Gewalt ans Licht der Öffentlichkeit. Sie geben Opfern und Tätern ein Gesicht. Das ist
durchaus verdienstvoll, weil die Gewalt, die früher hinter
verschlossenen Türen stattfand, durch die Medien in das
öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Das gilt für Kindesmissbrauch wie Gewalt gegen die Ehefrau - ich könnte
jetzt noch viele andere schreckliche Beispiele benennen.
Regelmäßig erfährt man in den Medien Dinge, die bis vor
wenigen Jahren noch ein Tabu und mit dem Mantel des
Schweigens verhüllt waren. Nichts Furchtbares scheint
uns mehr fremd.
Doch hat die Veröffentlichung von Gewalt durch die
Medien auch ihre Kehrseite: Gleichwohl die jährlichen
Zahlen gerade bei Gewalttaten im privaten Raum in den
70er-Jahren etwa doppelt so hoch waren wie in den vergangenen Jahren, vermitteln Schlagzeilen und Skandalnachrichten ein anderes Bild: Ständig ist von einer rapiden Zunahme tragischer Gewalt die Rede, einzelne Fälle
werden in reißerischer Manier der Öffentlichkeit präsentiert. Damit entsteht der Wettbewerb um die mitreißendste Story oder das schockierendste Ereignis; und alle sind
eingeladen mitzumachen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei gibt es durchaus
Entwicklungen, die uns hoffen lassen dürfen. Das Gespür
für eine zivile, humane Gesellschaft wird beständig stärker.
Gerade junge Menschen verleihen ihrer Skepsis gegenüber
der Konfliktlösung mittels Gewalt Ausdruck. Viele von uns
wurden doch in den vergangenen Monaten in Gesprächen
mit Schulklassen und Jugendgruppen mit der Infragestellung von militärischer Gewalt als Mittel der Politik konfrontiert. Ich habe dies immer auch als Mahnung verstanden, unseren Weg unablässig kritisch zu überprüfen. Ich
habe es als Bestätigung für unsere, vor allem von jungen
Menschen getragene zivile Gesellschaft gesehen, in der
Konflikte zunehmend eben auch zivil gelöst werden können. Leider lassen sich solche Mut machenden Entwicklungen nicht so gut und quotenträchtig kommunizieren wie
eine Gewalttat, wie ein Skandal oder der peinliche Exhibitionismus so mancher Nachmittagstalkshow.
Ich halte es ebenso für angebracht, dass wir Politikerinnen und Politiker uns selbstkritisch fragen, wie weit wir zu
gehen bereit sind, um das öffentliche Interesse auf uns zu
lenken. Fallschirmsprünge, Containerbesuche, Hetze gegen
Minderheiten, der Plausch aus dem privaten Wohnzimmer
verheißen zwar Schlagzeilen. Doch dürfen wir dabei nicht
übersehen, dass wir mit dieser Veröffentlichung des Privaten dem skandalorientierten Zusammenspiel von Exhibitionismus einerseits und Voyeurismus andererseits, den
wir ja unablässig beklagen, selber Nahrung geben.
({3})
Ich plädiere daher nicht nur an die Verantwortung der
Medien. Wir alle tragen Verantwortung, vor allem wir Politikerinnen und Politiker. Das Kalkül auf Publizität darf
nicht zum Dammbruch jeglicher Werte führen, auch und
Michael Roth ({4})
gerade nicht in puncto Gewalt. Wir müssen Werte vorleben, nicht nur erklären. Jede Generation ist nur so gut wie
die Gesellschaft, in der sie aufwächst und ihren Platz findet. Und so geht es nicht einzig um Verbote und Restriktionen, sondern um die Vermittlung und Plausibilität eines
Gegenentwurfes von Gewalt, hin zu einer Erziehung,
die die Fähigkeit zur kritischen Bewertung erlebter Gewalt ermöglicht. Jugendliche müssen lernen, Verantwortung zu tragen. Sie müssen differenzieren und abwägen
lernen. Kinder und Jugendliche wollen nicht abgeschottet
und unter Biotopschutz gestellt werden. Eine wachsende
staatliche Kontrolle bringt uns nicht viel weiter. Ich bin
davon überzeugt: Selbstbestimmung ist lernbar und vermittelbar.
„Die Gewalt lebt davon, dass sie von Anständigen
nicht für möglich gehalten wird.“ Das sagte Jean-Paul
Sartre. Wir brauchen daher immer wieder, nicht nur am
9. November, einen Aufstand der Anständigen, tagtäglich,
in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz.
Auch wir Politiker müssen und können Vorbild sein.
Der bevorstehende Wahlkampf bietet uns allen die
Chance, unsere Wortgewalt nicht allzu unüberlegt einzusetzen. Denken wir stets daran: Womöglich hört uns jemand zu.
Vielen Dank.
({5})
Als letzter
Redner in dieser Debatte hat der Kollege Carsten
Schneider für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Das habe ich gehört! Sie
werden trotzdem gestatten, dass ich hier rede. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Erfurter, vertrete diesen
Wahlkreis hier im Bundestag, bin in dieser Stadt aufgewachsen, habe dort Freunde gefunden und Verletzungen
erlitten. Ich habe sie noch immer geliebt und ich liebe diese
Stadt. Wer schon einmal dort war, weiß: Sie ist wunderschön, klein und fein, die Menschen sind sehr freundlich,
gastfreundlich, und es herrscht ein sehr angenehmes
Klima. Jeder kennt jeden. Umso betroffener waren die
Menschen über die Gewalttat am Gutenberg-Gymnasium
und umso tiefer die Wunden, die sie hinterlassen hat.
Niemand, der nicht vor Ort war, kann nachvollziehen,
was solch eine schreckliche Tat für eine Stadt wie Erfurt
bedeutet. Sie hat das öffentliche Leben in der Stadt erstickt. Die Menschen haben sich über eine Woche in ihre
Privatsphäre zurückgezogen. - Auch ich habe, wie Katrin
Göring-Eckardt, die Trauerfeier und das, was danach
war, als eine Befreiung empfunden. - Die Cafés und Kneipen waren wie leer gefegt. Es gab eine Suche nach Halt,
nach Sicherheit und auch nach dem Alltag, wie er früher
war. Man konnte in den Gesichtern der eigentlich fremden
und doch wieder nahen Menschen auch Sorge sehen.
Der Schock hat uns alle erschüttert und gelähmt. Der
Gedanke an diesen Tag tut es sicherlich noch heute. Die
erstaunliche Erfahrung für mich war allerdings, dass
große Gefahr und Gewalt uns Menschen wieder näher
zusammenrücken lassen. Es hat Zusammenhalt und Solidarität gegeben, einen Gemeinsinn, wie ich ihn in Erfurt und auch sonst in Deutschland seit der Wendezeit
nicht mehr erlebt hatte. Ich hoffe, dass über das Bild von
der schrecklichen Gewalttat hinaus auch dieses Bild meiner Heimatstadt in Erinnerung bleibt und dass die Stadt
nicht stigmatisiert wird.
Ich möchte an dieser Stelle besonders den Erfurter
Kirchen danken. Sie haben ihre Türen sehr schnell geöffnet und einer nahezu säkularisierten Gesellschaft einen
Ort der Trauer gegeben, einen Ort, der der Gemeinschaft
geholfen hat, das Entsetzen zu verarbeiten. Ich möchte
auch allen Bürgern dieses Landes für ihre zum Ausdruck
gebrachte Anteilnahme und die immer wieder großzügig
angebotene Hilfe danken. Es war gut, zu wissen, dass wir
nicht allein sind.
Es gab aber auch Ängste und erste Reaktionen, die zu
Überreaktionen geführt haben. Ich selbst bin Präsident
eines großen Sportvereins in Erfurt. Der Täter wie auch
sein Bruder waren dort Mitglied. Die Mitglieder seiner
Handballmannschaft wurden in einer Thüringer Zeitung
mit Bild veröffentlicht und danach von den Lehrern und
Schülern in Sippenhaft genommen. Das hat dazu geführt,
dass sie sehr stark verunsichert waren und Hilfe gebraucht
haben. Das hat sich geklärt. Ich bin sehr froh darüber und
wünschte mir, dass diese Art und Weise des miteinander
Lebens weiterhin möglich ist.
Verkraftet haben sie es trotzdem nicht, bis heute nicht.
Ich habe in Erfurt mit vielen Menschen gesprochen. Viele
haben regelrecht das Gespräch gesucht. Der Schock saß
bei allen tief: Das ist bis heute noch der Fall.
Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Egal wie wir das
Schul- und das Bildungssystem verändern - darüber
wurde heute viel gesprochen -, egal wie gut wir die frühkindliche Betreuung fördern: Keine staatliche Stelle kann
Erziehung, Zuwendung und Liebe des Elternhauses ersetzen. Im Elternhaus wird der Grundstein für die Bildung
jeder Persönlichkeit gelegt. Dieser Grundstein ermöglicht
es, sich über den eigenen Wert und über die Würde eines
anderen Menschen bewusst zu werden.
Ich wünsche mir, dass es gerade im Elternhaus mehr
Zeit gäbe, sich mit den Kindern auseinander zu setzen,
den kritischen Dialog zu suchen und sich anzuschauen,
welche Computerspiele sie spielen. Kurz nach der Bluttat
gab es eine sehr heftige Diskussion - sie besteht bis heute
fort -, welche Computerspiele verboten werden müssten.
Ein Spiel, das immer wieder genannt wird, ist das Spiel
Counterstrike. Ich weiß nicht, wie viele in diesem Hohen Hause dieses Spiel schon einmal gespielt haben und
sich tatsächlich eine Meinung darüber bilden konnten. Ich
selbst habe es nach dem schrecklichen Geschehen ausprobiert, weil ich von vielen Jugendlichen angesprochen
wurde, die Unverständnis über die Forderung nach einem
Verbot geäußert haben. Nicht jeder, der Computerspiele
spielt - ich selbst habe das in meiner Jugendzeit getan -,
Michael Roth ({0})
ist ein potenzieller Gewalttäter. Aus diesem Grund mahne
ich zur Vorsicht. Ich warne vor Schnellschüssen, weil ich
glaube, dass vorschnelle Forderungen ins Leere laufen.
Sie würden nur zu einer größeren Sprachlosigkeit führen,
anstatt bestehende Defizite zu beseitigen.
({1})
Angesichts der Tat von Erfurt wurden viele drängende
Fragen gestellt; viele davon werden wir wahrscheinlich
nie beantworten können. Wir müssen aber politische Konsequenzen ziehen. Das ist zum Teil schon geschehen. Ich
möchte noch einige Punkte hinzufügen.
Die wichtigste Erkenntnis nach den Geschehnissen
und nach dem Prozeß, den viele Schüler in den Wochen
danach durchmachen mussten, ist für mich, dass Bildungspolitik die höchste Priorität hat. Das sollten wir aus
der heutigen Debatte mitnehmen.
({2})
Natürlich gehört in diesen Zusammenhang die Frage
nach dem Schulabschluss und den Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Ich selbst habe Abitur gemacht, danach
eine Banklehre. Es ist für einen Realschüler aufgrund der
Ausbildungsplatzsituation fast nicht möglich, diesen Beruf zu erlernen, obwohl der Schulabschluss ausreichen
würde. Gerade für Realschüler ist es schwierig, attraktive
Ausbildungsstellen zu bekommen. Ich kann an dieser
Stelle nur an die Unternehmen appellieren, auch qualifizierten Haupt- und Realschülern einen Lehrvertrag und
damit eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt zu geben.
({3})
Herr Kollege Vogel, Sie haben Ihre Regierungserklärung im Thüringer Landtag heute noch einmal vorgetragen. Darin mahnen Sie eine Kultur des Zuhörens an.
Ich halte das für absolut richtig. 4 000 Schüler haben in
Erfurt vor der Staatskanzlei für eine schnelle Änderung
des Thüringer Schulsystems demonstriert, was vor allen
Dingen den Abschluss bei Abbruch des Gymnasiums betrifft. Bis heute gibt es keine entsprechende Regelung.
({4})
Ich kann die Enttäuschung von vielen Schülern an dieser
Stelle verstehen.
({5})
Ich kann Sie nur auffordern, Ihren guten und gesetzten
Worten des heutigen Tages auch Taten folgen zu lassen;
denn diese sind notwendig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf uns lastet viel
Verantwortung. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen
heute die Debatte verfolgt haben und Hoffnung daran
knüpfen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass
diese Hoffnung nicht enttäuscht wird und dass den angesprochenen Punkten auch tatsächlich Taten folgen. Die
guten Vorsätze dürfen nicht im Keim erstickt werden. Darum bitte ich Sie.
Vielen Dank.
({6})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 4. Juli 2002, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.