Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/3/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kollegin- nen und Kollegen, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Der Ältestenrat hat vereinbart, die heutige Frage- stunde abzusetzen. Die eingereichten Fragen werden schriftlich beantwortet.1) Sind Sie einverstanden? - Es ist kein Widerspruch zu hören. Dann ist es so beschlossen. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass die FDP ihren Antrag auf Durchführung einer Aktuellen Stunde am Donnerstag zurückgezogen hat. Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Vereinbarte Debatte Gewalt und Gesellschaft - Ursachen erkennen, Werte vermitteln, friedliches Zusammenleben stärken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Wolfgang Thierse.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Über zwei Monate sind seit der Mordtat von Erfurt vergangen und noch immer sind wir betroffen und entsetzt. In den Medien ist sie schon längst wieder an den Rand des Vergessens gedrängt, aber die unmittelbar Betroffenen, die Eltern und Kinder, die Lehrer und Bürger von Erfurt, haben das Entsetzen noch lange nicht bewältigt. Wir fühlen mit ihnen und denken mit ihnen nach. Was wir heute und hier tun können, ist, uns mit den Ursachen dieser Tat zu beschäftigen und uns in allem Ernst zu fragen, was Politik, was die Gesellschaft, was wir tun können, um solche entsetzlichen, manchmal auch verzweifelten Ausbrüche von Gewalt zu verhindern. Ich fürchte, wir müssen diese Diskussion in dem Bewusstsein führen, dass Staat und Politik nur begrenzt auf solche durchaus schicksalhaften Ereignisse Einfluss nehmen können, dass wir aber die Pflicht und Schuldigkeit haben, dieses Wenige auch wirklich zu tun. Eine funktionierende, eine im eigentlichen Sinne humane Gesellschaft vermag den jungen, den nachwachsenden Generationen Orientierung, Perspektive und eine Grundausstattung moralischer Werte zu vermitteln, die eine sinnvolle, sinnerfüllte Existenz und ein zivilisiertes Zusammenleben ermöglichen. Bei dem noch jugendlichen Täter von Erfurt ist das offensichtlich nicht gelungen. Angesichts beunruhigender Gewalt in unserem Alltag ist zu befürchten, dass dies kein Einzelfall bleiben könnte. Der ehemalige Verfassungsrichter Böckenförde schrieb: Der demokratische säkulare Staat, die pluralistische Gesellschaft leben von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen können. Der Markt kann das schon gar nicht. Moralische Werte werden wahrlich nicht an der Börse gehandelt! ({0}) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters 1) Anlagen 2 bis 14 Aber wenn wir die mündigen Bürgerinnen und Bürger, die kulturellen Kräfte und Institutionen, die Kirchen und Religionsgemeinschaften benötigen, um soziale und moralische Grundwerte zu stiften und lebendig zu halten, dann kann, nein, dann muss Politik mit diesen Werten mindestens pfleglich umgehen, muss sie beglaubigen und darf sie nicht zerstören. Unübersehbar ist aber, dass wir es mit einem Grundwiderspruch zu tun haben zwischen den Werten, zu denen sich auch die Mitglieder dieses Hohen Hauses immer wieder überzeugt bekennen, und einer alltäglichen sozialen und ökonomischen Wirklichkeit, die diese Werte verleugnet, erstickt, zerstört. Dieses Widerspruches müssen wir innewerden, wenn wir glaubhaft über Werte reden wollen. Ich will ihn an drei Beispielen zu erläutern versuchen: Wir sind uns einig über den fundamentalen Wert der Familie für Zivilität und Moralität unserer Gesellschaft, für die Erfahrung von und die Erziehung zu Solidarität, Gerechtigkeitsgefühl, Toleranz, Mitmenschlichkeit, für ebendie grundlegenden Werte, die für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft unersetzlich sind. Wer aber Familie so lobt und unersetzlich findet, der kann und darf nicht zugleich einer Deregulierungseuphorie, einer Flexibilisierungsideologie und -praxis anhängen, die eben die Familie gefährdet; denn Familie braucht Zeit und Raum für Geborgenheit, für Zuwendung, für Vertrauen. Wer also die Familie verteidigen will, darf sie nicht total den Zwängen des Marktes, den Bedürfnissen von Wirtschaft und Technologie unterwerfen; er muss notwendiger Flexibilität und notwendiger Mobilität vernünftige, somit familienverträgliche Grenzen setzen, also einen familienfreundlichen Rahmen verpassen. ({1}) Wir sind uns einig, dass der Mensch nicht reduziert werden darf auf die beiden Rollen, in denen er auf dem Markt vorkommt, nämlich als Arbeitskraft und als Konsument. Der Mensch ist mehr und anderes. Ihn auf seine ökonomische Leistungsfähigkeit zu reduzieren, diese als dominanten Maßstab gesellschaftlich zu akzeptieren, ja zu propagieren, das ist für unsere Gesellschaft lebensgefährlich. Briefe von Schülerinnen und Schülern aus ganz Deutschland zeigen, dass sie in Leistungs- und Konkurrenzdruck und Versagensängsten Gründe für den Amoklauf von Erfurt sehen. Sie berichten davon, wie sehr sie selbst unter diesem Druck stehen; sie beobachten Ängste und Verhaltensstörungen bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern. Sie sprechen davon, dass Lehrer aussieben und aussortieren; das empfinden sie als Entwürdigung. Der leistungsstarke, der konsumreiche, der schöne Mensch, das ist das Ideal des Marktes, wie es in der Werbung allgegenwärtig und allmächtig zu sein scheint. Eine Nebenbemerkung: Dass wir alle endlich auch am Sonntag - Stichwort: Schluss mit der Begrenzung von Ladenöffnungszeiten - arbeiten sollen und konsumieren dürfen, das predigen nicht wenige. So ginge ein weiterer Freiraum für unser Menschsein jenseits des Marktes verloren. ({2}) Wir sind uns einig darüber, welchen Rang Kommunikation und Massenmedien - dabei besonders das Fernsehen - in unserer Gesellschaft haben und dass wir sie auch und ganz wesentlich als Kulturgut mit einem Bildungsauftrag verstehen. Aber wir erleben zugleich, dass sie immer stärker als Wirtschaftsgut betrachtet und immer gnadenloserem Wettbewerb ausgesetzt werden. Die Folgen sind sichtbar: Es stimmt etwas nicht in einer Gesellschaft, die Gewalt zum wichtigsten Gegenstand ihrer allabendlichen Fernseh- und Videounterhaltung macht. ({3}) Man sage nicht, das bleibe dauerhaft ohne Wirkung. Solcherart Abwiegelungen sind nach Erfurt noch verantwortungsloser als zuvor. Das ist beileibe nicht der Ruf nach der Zensur, aber der Ruf nach der moralischen Verantwortung der Produzenten und dem kulturellen Widerstand der Konsumenten, der Ruf, auszuschalten, die Quoten einfach einmal zu verderben. Auch die notwendige Bildungsdebatte, die wir ganz aktuell miteinander führen, weist nach meiner Wahrnehmung im Augenblick eine gewisse Schieflage auf: So richtig es ist, auch von Schülerinnen und Schülern Leistung zu fordern - und das geschieht ja auch -, so wichtig ist es, vom Kindergarten bis zur Oberstufe den Bildungseinrichtungen den Freiraum zu schaffen, der es ermöglicht, die Kinder Zuwendung, Vertrauen, Respekt, Solidarität, Lob und Anerkennung erfahren zu lassen, also Mitmenschlichkeit zu erleben. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ich von mir selbst und von der Politik, von Volksvertretern insgesamt erwarte und verlange, ist, dass wir bei unseren Entscheidungen den ganzen Menschen im Blick haben, mit all seinen individuellen Besonderheiten, Fähigkeiten und Bedürfnissen, wobei ich übrigens glaube, dass Leistungen zu vollbringen zu den menschlichen Bedürfnissen gehört, die befriedigt werden müssen. Was ich beobachte, ist aber doch ein Zuviel an politischer Unterstützung, politischer Bejubelung so genannter Aufbrüche zu immer mehr Flexibilität, Mobilität und Wettbewerb, ein fataler Hang zum, wie ich finde, beschränkten Fitmachen - wie der verräterische Ausdruck heißt - für die Arbeitswelt anstelle einer Erziehung zu lernbereiten, zivilisierten, mündigen und mitleidensfähigen Menschen. Beides ist notwendig: Leistungsorientierung und Werteorientierung. ({5}) Wenn Politik, teilweise unbedacht, daran mitwirkt, eine Gesellschaft zu gestalten, die das Goldene Kalb des Marktes, des Wettbewerbs und der allein an deren Kriterien gemessenen Leistung anbetet, statt neben notwendigem Markt und notwendigem Wettbewerb mit demselben Rang eine Kultur der Anerkennung, der Integration, der Aufmerksamkeit für den ganzen Menschen zu ermöglichen, dann verfehlt sie ihre Aufgabe, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Dann hilft auch kein „mitfühlender Konservatismus“ mehr, um die Schattenseiten des beschleunigten Wandels zu beherrschen, die viele als soziale Desintegration, als Ausgrenzungsprozess, als individuelle und kollektive Überforderungsangst, als Furcht vor Statusverlust und als Orientierungslosigkeit erleben. Diesen sozialen Dimensionen eines ungesteuerten Wandels stehen moralische Mängel zur Seite. Wenn jeder nur für sich selber zu sorgen hat, wie kann er dann noch für andere einstehen? Wie kann ich verhindern, dass Menschen für Eigenschaften, die nicht vom Markt und von der Leistungsgesellschaft belohnt werden, gleichwohl Respekt erfahren? Es kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass ständige Zurücksetzung, das Ignoriert-Werden und frühzeitige oder scheinbar unumkehrbare Ausgrenzung eine unerhörte Spannung, eine schwer beherrschbare Not verursachen, die die einen in die Depression und Selbstaufgabe, andere aber in die Versuchung der Gewalt führen. Was ist zu tun? Die Menschen selbst - das kann ihnen niemand wirklich abnehmen - müssen sich ihre Freiräume für Kultur, für zweckfreie Kommunikation, für Muße, für Zuwendung, für familiäres Beieinandersein, für Solidarität im Familienverband, im Freundeskreis und im großen gesellschaftlichen Zusammenhang erarbeiten und bewahren. Ich lasse mich hinreißen, dies mit dem amerikanischen Soziologen Robert Putnam „soziales Kapital“ zu nennen, damit auch die Ökonomisierer verstehen, dass sie ohne diese Werte nicht auskommen können. Solche sozialen und moralischen Netzwerke zu fördern ist eine unserer wichtigsten Aufgaben als demokratische Politiker. Deshalb müssen die Politik, die Parteien, die Regierungen und Parlamente in diesem Fall wirklich als Gegenmacht zur entfesselten Ökonomie Freiräume menschlichen Beziehungsreichtums schützen und wieder neu schaffen, sie einfordern und ermöglichen. Nur so werden wir eine Kultur der Anerkennung als Bedingung für ein menschengerechtes Leben und eben auch als Prävention gegen Gewalt über den heute stattfindenden dramatischen Wandel hinüberretten können. Nur so werden wir die Werte, für die wir eintreten und die in Art. 1 unseres Grundgesetzes - „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - geradezu genial zusammengefasst sind, politisch beglaubigen können. Die Nagelprobe auf Art. 1 haben wir als Gesellschaft aber erst bestanden, wenn wir auch diejenigen wahrnehmen, aufnehmen, respektieren und schätzen, die am Markt des Geldes und der Eitelkeit scheitern. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dem jetzt vorliegenden Abschlussbericht haben die ermittelnden Behörden die Fakten des Amoklaufs von Erfurt zusammengetragen. Selten hat man Fakten lesen können, die so sachlich, nüchtern und kalt klingen und uns gerade deshalb alle so sprachlos machen: Robert Steinhäuser, 19 Jahre alt, hat in 15 Minuten 16 Personen getötet, davon zwölf Lehrer, anschließend sich selbst, mehr als 70 Schüsse in 15 Minuten. Eine Tat, die die Vorstellungskraft von uns allen wohl bei weitem übersteigt. Mitten ins Leben der Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums stürmt das Unfassbare. Mitten ins Leben der Schüler, Lehrer und Eltern bricht an einem Freitagmorgen 16fach der Tod hinein. Eine Tat, die eine ganze Stadt, ein ganzes Bundesland, ja eine ganze Nation jäh aus dem Alltag gerissen hat: Entsetzen, Erschrecken, Fassungslosigkeit. Aber es gab auch eine andere Erfahrung: Die Trauer um die Opfer einte das Land und eint es immer noch. Die Trauer war nicht die einzige Reaktion. So fassungslos wir alle vor diesem Ereignis standen, so beeindruckend war die Welle der Mitmenschlichkeit, die wir erleben konnten. Die Nation, so oft über nicht allzu Entscheidendes zerstritten, stand zusammen, um zu verarbeiten, was geschehen war. Es war bewegend, zu sehen, wie diese Stadt im Unglück zusammengehalten hat. Das war Zusammenleben im besten Sinne. Wir alle sind angesichts der Hilflosigkeit, die wir verspürten und noch verspüren, denen zu großem Dank und Anerkennung verpflichtet, die geholfen und getröstet haben. ({0}) Neben all den Ärzten, Lehrern, Eltern, Pastoren, Psychologen, Nachbarn und den anderen Helfern möchte ich den Ministerpräsidenten von Thüringen, Bernhard Vogel, besonders erwähnen. Er hat Thüringen in den schwersten Stunden seit Bestehen dieses Landes Trost, Kraft und Mut gegeben, ein Landesvater im besten Sinne des Wortes. ({1}) Wir alle sind noch lange nicht damit fertig, die Folgen des 26. April zu verarbeiten. Eines der Hauptergebnisse des Untersuchungsberichts ist: Robert Steinhäuser war ein Einzeltäter; er hatte keine Komplizen. Seine furchtbare Tat war eine Einzeltat. Ich will ganz ausdrücklich unterstreichen: Es war eine Einzeltat, die sich jedem rationalen Zugang entzieht. Bei einer solchen Tat, die jenseits unserer Vorstellungskraft und außerhalb jedes nachvollziehbaren Denkens und Handelns liegt, ist es nicht richtig, Kausalketten herzuleiten. Es ist auch nicht richtig, zu fragen, welche äußeren Ursachen das Verhalten des Täters bestimmt haben. Wer das Unverständliche verstehbar und das Unerklärbare erklärbar machen möchte, der muss aufpassen, dass er sich nicht - zumindest unterschwellig - auf die Seite des Täters stellt und versucht, das Unentschuldbare mit irgendwelchen Umständen zu erklären. Diesen Fehler werden wir nicht machen. Unser Denken und Fühlen gilt deshalb den Opfern und nicht dem Täter. Schulverweise gibt es öfter einmal. Aber sie machen niemanden zu einem kaltblütigen Mörder. Robert Steinhäusers Mitgliedschaft in einem Schützenverein ändert nichts an der Beurteilung des Charakters dieser Vereine. Sie sind ein fester Bestandteil von lokaler Tradition, von Ehrenamt und Bürgergesellschaft. ({2}) Wir wollen auf diese Tradition nicht verzichten. Dennoch erinnert die Tat an die besondere Verantwortung, die uns allen und auch solchen Vereinen für ihre jungen Mitglieder zukommt. Es ist auch keine Frage, dass wir aufgefordert sind, zu handeln. Wir müssen nicht verstehen und nachvollziehen, warum ein 19-Jähriger 16 Menschen und anschließend sich selbst erschossen hat. Aber wir müssen Konsequenzen ziehen, um ein weiteres Erfurt wenn nicht unmöglich, so doch weniger wahrscheinlich zu machen. Es kann keinen Zweifel geben: Gewalt, egal welcher Art und egal wie motiviert, darf nicht geduldet und nicht verharmlost werden. ({3}) Man braucht auch keine Kausalketten, um zu erkennen: Es ist Zeit, gegen Gewalt und insbesondere gegen Darstellung von Gewalt in den Medien konsequenter vorzugehen. In diesem Punkt können wir alle immer noch mehr tun. Wir können erstens schwer jugendgefährdendes Material schlicht und ergreifend verbieten. Nur so können wir verhindern, dass brutalste Videos und Computerspiele von älteren Freunden gekauft oder ausgeliehen und dann an die Jüngeren weitergegeben werden. Es ist richtig, den Zugang zu gewaltverherrlichenden Videos und Computerspielen zu erschweren; denn Killerspiele sind keine Spiele. ({4}) Wir können etwas tun, indem wir zweitens im Rahmen der freiwilligen Selbstkontrolle die Alterskennzeichnung auf alle Medien ausdehnen. Bei Filmen ist sie gang und gäbe. Warum also nicht auch bei Videospielen? Das würde es den Eltern leichter machen, zu kontrollieren, womit sich ihre Kinder beschäftigen. Wir können mehr tun, indem wir drittens im Fernsehen den Trend zu immer mehr Gewalt - und dies zu immer früheren Uhrzeiten - dadurch stoppen, dass wir den Jugendschutzbeauftragten in den Medien mehr Kompetenzen geben, die Zuständigkeiten bündeln und die rechtlichen Grundlagen vereinheitlichen. Maria Böhmer aus unserer Fraktion hat bereits über Jahre hinweg Hunderttausende von roten Karten verteilt, um Eltern zu ermutigen, ihrer Sorge um die Gewalt in den Medien Ausdruck zu verleihen. Ich finde, wir könnten mehr von diesem Engagement gebrauchen. ({5}) Dass im Namen der Quote auf Qualität verzichtet wird, daran haben wir uns leider schon gewöhnt. Aber dass im Namen der Quote auf Humanität verzichtet wird, daran dürfen und werden wir uns nicht gewöhnen. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden; denn die Seelen unserer Kinder sind millionenmal wichtiger als Einschaltquoten. ({6}) Verbote, Alterskennzeichnungen und besserer Jugendschutz, das sind drei Beispiele für konkrete Schritte, die wir tun können. Wir bieten hier unsere Zusammenarbeit an und werden dies auch weiter tun. Vor allen Dingen dürfen wir nicht nur nach aktuellen Ereignissen handeln. Die Arbeit auf diesem Gebiet muss vielmehr kontinuierlicher Bestandteil unserer politischen Arbeit werden. Dass wir gemeinsam handeln können - und dies schnell -, das ist durch die Änderung des Waffengesetzes bewiesen worden. Vier Jahre haben wir darüber diskutiert; zwei Monate nach der Tat von Erfurt ist eine schärfere Fassung mit einem höheren Mindestalter, einem Verbot von Pumpguns und einer Verschärfung der Meldepflichten verabschiedet worden. Die schnelle Einigung beim Waffengesetz ist ein Erfolg, aber in gewisser Weise auch eine Mahnung an die Politik, eine Mahnung, Mitte und Maß zu halten, wenn sich die Politik mit Interessengruppen auseinander setzt. Viele Lobby- und Interessengruppen versuchen, in ihrem Sinne Einfluss auszuüben. Das gehört zu den demokratischen Spielregeln und das wird auch immer so bleiben. Aber wir in der Politik haben trotz aller Interessengruppen die Aufgabe, die Interessen der schweigenden Mehrheit in unserer Bevölkerung zu vertreten. Auch diese Aufgabe dürfen wir nicht vergessen. ({7}) Deshalb ist es unsere Pflicht, Schutzwälle zu errichten, wenn es darum geht, Gewalttaten zu verhindern. Wir können gewiss sein: Damit handeln wir im Sinne der schweigenden Mehrheit. Die Einigung beim Waffengesetz hat gezeigt: Die Politik ist handlungsfähig, wenn sie sich vor Augen hält, was wirklich wichtig ist. Es ist richtig, dass wir in diesen Tagen und Wochen ausführlich über Schule und Bildung diskutieren. Die PISA-Studie und die Tat in Erfurt, das sind zwei ganz unterschiedliche, aber doch sehr klare Signale an uns alle: Die Schule sollte wieder die Priorität erhalten, die ihr im Leben eines jeden Menschen zukommt. Wenn jemand, der von der Schule verwiesen worden ist, zum Amokläufer wird, dann liegen schnelle Rückschlüsse nahe. Wer sich die langen Artikel, die über die Persönlichkeit und die Lebensumstände von Robert Steinhäuser erschienen sind, durchgelesen hat, der weiß: Diese Tat mit irgendwelchen Umständen, beispielsweise mit einem übermäßigen Leistungsdruck in Schule oder Elternhaus, erklären zu wollen, führt in die Irre. Das gilt erst recht für jene, die versucht haben, die ganze Gesellschaft wegen einer angeblich überzogenen Leistungsorientierung in Sippenhaft zu nehmen. Ich glaube, Erfurt hat gezeigt: Mit Klischees kommen wir nicht weiter. ({8}) Deshalb war es zweifellos richtig, darüber nachzudenken, ob junge Menschen, die das Abitur nicht geschafft haben, trotzdem einen Schulabschluss bekommen. Ebenso richtig ist es, eine Diskussion darüber zu führen, wie wir die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler in Deutschland verbessern können. Mit dem Begriff „Leistung“ meine ich die Entdeckung und die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und Potenziale. Das ist etwas Großartiges. Ein positives Verständnis von Leistung stärkt das Selbstwertgefühl junger Menschen. An einem positiven Selbstwertgefühl mangelt es an vielen Stellen. Einerseits müssen wir unseren Kindern und Jugendlichen ein Selbstwertgefühl vermitteln, das ihnen ihre Stärken bewusst macht, und diese Stärken müssen wir auch anerkennen. Andererseits wird niemand von Anfang an mit allen Anforderungen fertig. Auch Misserfolge und Fehlschläge gehören zum menschlichen Dasein. Auch das müssen Kinder lernen. Das können sie nicht, wenn man versucht, sie vor den Anforderungen des Lebens, auch den Anforderungen an die eigene Leistung zu beschützen. Worauf es ankommt, ist, Kindern und Jugendlichen Fähigkeiten und Wege zu vermitteln, auch mit Misserfolgen umgehen zu können, und ihnen von Anfang an und nachdrücklich klar zu machen, dass Gewalt kein Mittel zur Konfliktbewältigung ist. ({9}) Um diese elementaren Werte und Orientierungen zu vermitteln, brauchen wir starke Eltern und starke Lehrer: Eltern und Lehrer, die sich nicht scheuen, Autorität auszuüben und nachzufragen, wenn etwas nicht in Ordnung zu sein scheint, Eltern und Lehrer, die Auseinandersetzungen nicht scheuen, sondern da sind, um zuzuhören, um Rat und Rückhalt zu geben. Rat und Rückhalt geben, Leistungen anerkennen und Grenzen aufzeigen - das können glaubwürdig nur Menschen, die als Autoritäten anerkannt werden. Das wissen wir alle aus unserer eigenen Jugend und unserer eigenen Erfahrung. Wir sind deshalb als Erwachsene und vor allem als Eltern heute gut beraten, die Autoritäten unserer Kinder und Jugendlichen nicht zu zerstören. ({10}) Wer Lehrer pauschal beschimpft, wer Eltern in eine bestimmte Ecke stellt, wer Menschen verächtlich macht, ob privat oder in der Öffentlichkeit, der trägt zur Erosion von Autorität bei und schmälert die Chancen für das, was wir doch alle wollen: dass es Pädagogen gibt, die in der Schule nicht nur Wissen, sondern auch Werte vermitteln, und das jeden Tag und unter schwierigen Bedingungen. ({11}) PISA lenkt unseren Blick darauf, wie wichtig es ist, als Lehrer Vermittler von Wissen zu sein. Erfurt lenkt unseren Blick darauf, wie wichtig es ist, dass Lehrer auch Vermittler von Werten und Fähigkeiten sind, mit denen man im Leben bestehen kann. In unserer schnelllebigen und komplexen Zeit gilt mehr denn je: Es gibt keine Bildung ohne Erziehung und es gibt keine Erziehung ohne Werte. Wichtig ist - das ist in unserer schnelllebigen Zeit sicherlich ein Problem -, dass Kindern zu Hause das vorgelebt wird, worum es uns geht. Dafür wird Zeit benötigt. Zeit ist durch nichts ersetzbar; auch darauf muss unsere Gesellschaft Rücksicht nehmen. Vielleicht ist aber eines der größten Probleme, dass wir von überall beschallt werden, aber zwischen vielen Menschen Sprachlosigkeit herrscht. Deshalb heißt die Aufgabe, Sprachlosigkeit zu überwinden, und zwar an allen Stellen unseres Lebens, aber insbesondere, wenn wir mit Kindern und Jugendlichen sprechen. ({12}) Keine Bildung ohne Erziehung - das gilt für das Elternhaus, aber ebenso für die Schule. Eltern und Lehrer müssen Hand in Hand wirken, damit unsere Kinder und Jugendlichen keine Analphabeten sind, weder beim Lesen noch beim Schreiben, aber auch nicht, wenn es um die zentralen Werte unseres Zusammenlebens geht. Darum ist es meines Erachtens ganz wichtig, dass derjenige, der nach Wertevermittlung ruft, die Rolle des Religionsunterrichts in unseren Schulen anerkennt. Religionsunterricht hat den Anspruch, die Werte unseres christlich-abendländisch geprägten Zusammenlebens zu vermitteln, und nicht nur, über sie zu reden. Deshalb muss der Religionsunterricht seinen festen Platz im Fächerkanon behalten oder dort, wo er ihn nicht hat, bekommen. Wer Werte in der Gesellschaft verankert sehen möchte, der darf nicht gerade die Autoritäten an den Rand drängen, die für die Vermittlung von Werten stehen, zum Beispiel die Kirchen. ({13}) Die Schulen in freier und insbesondere die Schulen in kirchlicher Trägerschaft haben den Anspruch, nicht nur Wissen, sondern auch Werte zu vermitteln. Ihnen muss Unterstützung zukommen. Es ist daher ein schlechtes Zeichen, wenn bei Schulen in freier Trägerschaft Kürzungen vorgenommen werden, ({14}) wenn es um finanzielle Fragen geht, wie wir es gerade in Berlin erlebt haben. ({15}) Erfurt war ein erschütterndes, ein furchtbares, ein einschneidendes Ereignis. All die schrecklichen Szenen haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Doch in den Tagen, Wochen und Monaten danach wurde unser Blick geschärft, und zwar für das, was wirklich wichtig ist, aber auch für das, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Wie schon die deutsche Einheit oder das Hochwasser an der Oder, so hat auch der Schock von Erfurt einen Moment in unserer Geschichte bewegt, der uns wieder einmal vor Augen geführt hat: Bei allen divergierenden Interessen, die sonst unseren Alltag beherrschen, gibt es doch Maßstäbe und Werte, die uns in diesem Lande einen. Wenn es darauf ankommt, bricht die Anonymität unserer Gesellschaft auf. Wenn es darauf ankommt, wird aus der Gesellschaft eine Gemeinschaft von Mitmenschen. Erfurt hat gezeigt, dass wir Deutschen zusammenstehen, wenn es darauf ankommt. Das ist ein einigendes Band, das uns zusammenhält, eine Erfahrung, die uns auch stolz macht auf unser Land und auf die Menschen, die hier leben. Erfurt hat gezeigt: Politik kann handeln, wenn es sein muss. Politik kann schnell handeln, wenn es sein muss. Wir können zusammenstehen und gemeinsam schwierige Aufgaben lösen und schwierige Situationen meistern. Ich wünsche mir, dass von diesem Fundus an Gemeinsamkeit viel übrig bleibt für das normale Leben im Alltag; denn schwierige Aufgaben haben wir ja zuhauf vor uns. Ich wünsche uns, dass wir dabei jeden einzelnen Jugendlichen ernst nehmen. Oft gibt es das Missverständnis, dass Jungsein angesichts materiellen Wohlstands heute einfacher ist, als es das früher war. Ich glaube, das stimmt nicht. Aber die junge Generation in unserem Lande hat ein Anrecht darauf, dass wir über sie nicht nur im Zusammenhang mit Schreckenstaten sprechen. Die junge Generation hat ein Anrecht darauf, dass auch von der Fröhlichkeit, von der Lebendigkeit, von dem Optimismus, der ihr Leben prägt, von dem Engagement, von dem vielen, was sie tut, öfter gesprochen wird. ({16}) Deshalb wünsche ich mir, dass dieses Parlament auch ein guter Botschafter für die Jugend unseres Landes ist. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wenn ich an meine eigene Kindheit denke, sind mir zwei Dinge in Erinnerung, die mit Gewalt zu tun haben. Das eine war eine Ohrfeige meiner Mutter - die einzige, die sie mir je gab, die ihr wohl mehr wehgetan hat als mir, eine Ohrfeige, die mich lehrte, wie schlimm es ist, Gewalt zuzufügen. Die andere Erinnerung - ich war wohl sieben oder acht Jahre alt - ist die an ein altes Gemälde, darauf ein Mann, blutende Wundmale, blutüberströmtes Gesicht von einer Dornenkrone, Verletzungen in der Seite, das Antlitz schmerzverzerrt - und eine Menge, die zusieht. Keiner greift ein. Meine Frage, warum denn niemand etwas tut, blieb unbeantwortet. Das war kein Fernsehen, das war kein Gewaltvideo, das war nicht der Kampf der Gladiatoren, das war einfach unser christliches Symbol: Leiden, Gewalt - und alle sehen zu. Wir brauchen starke Kinder, wir brauchen starke Jugendliche und dafür brauchen wir Eltern, die das wollen, Eltern, die das auch können. Bei allen Versuchen, Ursachen für Versagen, Aggression und Gewalt in den Schulen, bei den Medien, in der Gesellschaft ganz allgemein zu suchen, wird die Verantwortung der Eltern bleiben, die Verantwortung dafür, dass Kinder behütet aufwachsen, ohne Angst, dass sie genügend und Gesundes zu essen bekommen, dass ihnen Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet wird und dass sie wissen, sie sind wer, so wie sie sind. Erziehung soll dazu dienen, Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, zu dem Menschen zu werden, der sie sind, nicht dazu, sie in irgendeine Richtung zu ziehen. ({0}) Starke Kinder müssen wissen, dass sie geliebte Kinder sind. Starke Kinder müssen Vertrauen haben können, Vertrauen in sich selbst, Vertrauen zu anderen, und sie brauchen Menschen, die ihnen Vertrauen entgegenbringen. Natürlich braucht das alles Regeln, vor allem solche, die vorgelebt werden, und es braucht Regeln, die eingehalten werden, auch wenn es einmal schwierig wird, Regeln, auf die man sich verlassen kann. Natürlich sind die Werte, über die wir reden, heute vielfältiger, als sie es je in unserer Gesellschaft waren. Aber auch hier kommt es darauf an, dass sie gelten, und zwar auch dann, wenn es schwierig wird. Die Begegnungen zwischen Kindern und Jugendlichen auf der einen Seite und Erwachsenen auf der anderen Seite müssen auf Augenhöhe stattfinden. Eltern sind heute nicht mehr diejenigen, die alles wissen und auf jede Frage eine Antwort geben können. Kinder stellen ihren Eltern auch längst nicht mehr jede Frage, weil sie sie von der Nachbarin, dem Patenonkel, dem Lehrer, der Freundin der Familie oder im Internet kompetenter beantwortet vermuten. Trotzdem wollen und brauchen Kinder Personen, an deren Art zu leben, Antworten auf Fragen zu finden und mit Problemen umzugehen sie sich orientieren können. Wie leben wir denn in der Familie zusammen? Sitzen wir im Kreis der Familie oder im Halbkreis vor dem Fernseher? Wie können wir uns aufeinander verlassen? Gelten Versprechen etwas? Gelten die Versprechen von Eltern und die von Kindern? Was ist, wenn jemand etwas angestellt hat, Regeln verletzt hat? Kann er dann trotzdem in diese Familie kommen und ist aufgehoben? Hat er oder sie die Sicherheit, dass er oder sie geborgen sein wird? Starke Kinder brauchen starke Eltern, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind, Sicherheit geben können und Vertrauen ausstrahlen. Ich weiß, das sagt sich gerade in Zeiten, in denen sicher Geglaubtes fraglich wird, leicht. In Ostdeutschland haben es die Menschen schon einmal erlebt, dass plötzlich fast alles infrage gestellt wurde, und wir wissen gut, was das gerade für die Kinder bedeutete. Heute muss man sagen: Kaum einmal reichte die Verunsicherung so sehr in die vermeintlich gut situierten Mittelschichten der Gesellschaft hinein, egal ob es Journalisten oder Bauarbeiter, Lehrer oder Verkäufer sind. Hier ist es in der Tat eine Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass aus Unsicherheit nicht Existenzbedrohung wird. Dazu gehört, den Wert des Menschen in der Gesellschaft nicht an der Stufe auf der Karriereleiter oder der gerade hier wieder viel gerühmten Leistungen zu bemessen. Dazu gehört zugleich, dass Kinder nicht zum Armutsrisiko werden. Die dramatischste Ungerechtigkeit besteht doch darin, dass immer noch 1 Million Kinder in Deutschland in Armut leben und sie zugleich die schlechteren Chancen in der Schule haben. Deshalb brauchen wir starke Kinder, die Chancen unabhängig von ihrer Herkunft und vom Geldbeutel ihrer Eltern haben. Nach dem 26. April wurde auch viel über die Medien gesprochen und gerichtet, mitunter zu Recht. Aber macht es wirklich Sinn, auf Fernsehen und Gewalt in Videospielen zu starren und darin die wesentliche Ursache zu suchen? Natürlich gehört alles, was Gewalt verherrlicht, verboten, egal in welchem Medium oder welchem Zusammenhang. Natürlich gibt es Computerspiele, die alles andere als für Kinder geeignet sind, wenn man denn tatsächlich meint, es gebe überhaupt welche, die gut sind. Es geht hier jedoch nicht allein um Gewalt; es geht darum, dass Bildschirmwelt und Wirklichkeit miteinander verwechselt werden, so zum Beispiel bei dem Computerspiel „Die Sims“, bei dem man Gott spielt und Menschen mit Eigenschaften kreiert, ihnen andere Menschen zur Seite stellt, ein Haus baut und einrichtet und zu guter Letzt - alles am Bildschirm - auch noch dafür sorgt, dass die Menschen glücklich sind. All das gibt es. Wir werden manches verbieten können, aber niemals alles. So wie ich lernen musste, das Bild des Gekreuzigten zu verstehen, zu begreifen, worum es dabei geht, brauchen wir starke Kinder und starke Jugendliche, die mit dem umgehen können, womit sie konfrontiert werden. Wir brauchen Kinder und Jugendliche, die wissen, wo der Knopf zum Ausstellen ist, die Grenzen aufgezeigt bekommen und lernen, sich selbst Grenzen zu setzen. Klar ist auch, dass man Kinder abends nicht fernsehen lassen muss. Kinder vor dem Fernseher sind oft eines: einsam. 10 000 Anrufe bekommt der Kinderkanal in jedem Monat von Kindern, die einfach einmal Kontakt aufnehmen wollen. Den Jugendlichen geht es nicht besser. Auch dafür sind die Ganztagsschulen da und wichtig: nicht, weil sie Eltern ersetzen können, sondern weil sie allemal besser sind als der Babysitter Fernseher. Auch dafür sind die Jugendzentren und Jugendhäuser da, die einen geschützten Raum darstellen, einen Ort, an dem man sich ausprobieren kann und an dem man Gemeinschaft erfährt. Über die Quantität von Betreuungsangeboten ist viel debattiert worden. Es wurde sogar unterstellt, dass es darum gehe, Kinder von ihren Eltern fernzuhalten. Nein, gute Kinderbetreuung und Schule schaffen den Eltern erst die Freiräume, die sie heute in der Mühle der Alltagsorganisation verbringen, die sie aber gerne hätten, um wirklich Zeit für ihre Kinder zu haben. Aber es liegt mir daran, hier auch etwas über die Inhalte unserer Kindertagesstätten und Schulen zu sagen. Nach der schrecklichen Tat von Erfurt haben alle den Leistungsdruck beklagt, dem Kinder und Jugendliche heute ausgesetzt sind. Nur wenige Wochen später - auch gerade eben hier - hieß es wieder, es komme vor allem auf Leistung an. Haben wir wirklich nichts gelernt? ({1}) Wir brauchen starke Kinder. Wir sollten Lehrern nicht alles aufladen, was woanders nicht funktioniert. ({2}) Aber die entscheidende Frage wird doch sein, ob wir ihnen Zeit, Ausstattung und Gelegenheit geben, das zu tun, was nötig ist und was sie auch tun wollen: Lehrer oder Lehrerin, Ansprechpartner, Vertraute zu sein. Das ist weit mehr als die von PISA abgefragten Wissensbausteine. Ich möchte, dass unsere Schulen zu eigenständigen Unternehmungen werden, in denen Lehrerinnen und Lehrer wirklich zur Höchstform auflaufen können, in denen Eltern Verantwortung übernehmen und sich einmischen, in denen Schülerinnen und Schüler Phantasie entfalten, Demokratie ausprobieren, Lernen lernen und Lust auf Leistung haben. Es wird darauf ankommen, dass wir dafür sorgen, dass Lehrer und Sozialarbeiter in den Schulen feste Ansprechpartner sind. Vor allem in den Grundschulen muss wieder Zeit sein, auch spielerisch zu lernen, am Nachmittag zu lesen oder im Schulgarten zu pflanzen. Schule muss etwas mit dem wirklichen Leben zu tun haben: mit den Jahreszeiten und den Festen, mit dem Stadtteil und den Unternehmen in der Umgebung, mit Menschen, die Interessantes zu berichten wissen. Umfassendes Wissen und Begreifen hat viel mit Greifen, mit Anfassen und mit Erleben zu tun. Kinder müssen schon im Kindergarten die Chance haben, Gemeinschaft zu erfahren. Mit dem Ende der Großfamilie und angesichts der vielen Einkindfamilien ist es wichtiger denn je, Zusammenleben und Teilen zu lernen und zu erfahren, dass der andere anders ist. In jedem Fall gilt: Kinder und Jugendliche fühlen sich nur dann aufgehoben, wenn sie auch ernst genommen werden, wenn sie über das, was geschieht, mit entscheiden können. Nur dann, wenn sie das in der Familie und in der Schule ausprobiert haben und wenn sie dabei Erfolg und Spaß hatten, wird es gelingen, sie auch dafür zu begeistern, sich in die Gesellschaft einzumischen. Nur dann, wenn sie auch Lust bekommen, selbst Verantwortung zu übernehmen, werden sie erfahren, dass sie gebraucht werden und die Gesellschaft sie haben will - jeden Einzelnen, so verschieden und so viel oder wenig leistungsfähig er oder sie auch ist. Wir brauchen starke Kinder, die um ihre Stärken wissen, aber an ihren Schwächen nicht schwach werden. Erziehung bedeutet in erster Linie, zu lehren, mit Freiheit umzugehen: mit der Freiheit, sich entscheiden zu können oder zu müssen. Diejenigen, die erziehen, haben die schwere Aufgabe, die getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren, auch wenn sie manchmal nicht nach ihren Wünschen sind. Nicht die Einschränkung von Freiheit wird uns langfristig helfen, sondern nur der Umgang mit der Freiheit. Vielleicht wird ja von der Politik erwartet, dass sie immer schnelle Antworten gibt. Unsere Antworten waren in diesem April danach: Es ging um Verbote, um Einschränkungen und um Schranken. Schon leiser wurde im Nachsatz von Angeboten und Unterstützung geredet. Auf der einen Seite sind das neue Waffenrecht und der Jugendschutz gewiss wichtig; aber das Bejubeln vonseiten der Schützenvereine auf der anderen Seite macht mir deshalb Sorge, weil das, was geschah, nicht ernst genug genommen wird; vielmehr sind die von der rechten Seite des Hauses geforderten Änderungen des Waffenrechts Ausdruck reiner Klientelpolitik. ({3}) Wichtiger als dies ist bestimmt, dass das GutenbergGymnasium wieder zu einem guten und schönen Ort wird. Ich bin froh, dass die Bundesregierung hier ganz unkompliziert hilft. Diejenigen, die das Gutenberg-„G“ in ein paar Jahren so wie ich heute am Revers tragen werden, sollen von einer wirklich guten Schule sprechen, in der sie lehren oder lernen, in die ihre Kinder gehen. Aber dies allein genügt nicht. Besser wäre es, dieses „G“ stünde für viele Schulen in diesem Land, die das Prädikat „gut“ für „gute Schule für Kinder“ erhielten, oder es stünde für andere Dinge, die gut für Kinder sind. Nie werden wir die Opfer von Erfurt und diejenigen, die zurückgeblieben sind, vergessen, auch nicht die Familie von Robert Steinhäuser. Vielleicht ist die Erinnerung an den Amoklauf eines Tages von der Erinnerung an den Zusammenhalt einer Stadt überlagert, von der Erinnerung an Solidarität, an Miteinander, an Aufeinanderhören, Gespräche, Helfen, wo es geht, Zeit haben, Dasein, Berührungen und Berührtsein. Ich jedenfalls werde das nie vergessen. Ich vergesse auch nicht die Sehnsucht nach Normalität und Fröhlichkeit in dieser Stadt. Wenn wir starke Kinder wollen, könnte es helfen, wenn wir die Gelassenheit und Fröhlichkeit von Menschen ausstrahlen, die gerne leben, ihre Arbeit mögen, ihrer Nationalmannschaft zujubeln und Vertrauen haben, von Menschen, die mit Herz und Verstand, mit den Händen und dem Kopf, mit Selbstbewusstsein etwas bewegen wollen, so wie wir es von unseren Kindern und Jugendlichen erhoffen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der FDP, Wolfgang Gerhardt.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Dingen auf den Grund gehen möchte, braucht man für eine Debatte darüber eine solch ruhige Atmosphäre, wie wir sie heute haben. Eine der Kernfragen, die wir uns stellen, ist, wie in einem solchen Land, von dem wir alle, gleich welcher politischen Grundrichtung wir angehören, überzeugt sind, dass es für die Menschen viele Chancen bereitstellt, wenn sie sie nur ergreifen, ein Lebensentwurf, nämlich der des Täters, auf eine solch grausame Art misslingen kann. Seit diese grausame Tat in Erfurt passiert ist, ist der Einfluss von Medien, Schulen und Politik öffentlich breit diskutiert worden. Natürlich gibt es viele öffentliche Miterzieher im Leben eines Menschen. Dies ist in einer freiheitlichen Ordnung immer so. Es gibt aber weder in der Schule eine Allmachtspädagogik, die einen Lebensentwurf mit Garantie zu einem guten Ende führen könnte, noch gibt es eine Medienlandschaft, die neben dem Wettbewerbsgeschäft ausdrücklich im Sinn hätte, erzieherisch zu wirken, noch kann die Politik in allen Bereichen alles regeln, damit wir von solchen Ereignissen verschont bleiben. Deshalb kann unsere Gesellschaft der Frage nicht ausweichen, die lautet: Wie sieht denn die eigene Problemlösungskapazität der deutschen Gesellschaft ohne Verweis auf Medien, ohne Verweis auf Schule, ohne Verweis auf andere, ohne Verweis auf Politik, nur mit dem Finger auf sich selbst gerichtet aus? Damit - der Bundestagspräsident hat dies vorhin ausgedrückt - kommen wir zur Kernfrage, die wir bedauerlicherweise in vielen Systemen unseres öffentlichen Lebens ausgeblendet haben, nämlich der nach der eigenen Verantwortung. Die Richtungshinweise auf nahezu allen gesellschaftlichen Feldern in der Bundesrepublik Deutschland deuten meistens weg von der eigenen, persönlichen Verantwortung und hin zur Aufgabenlösung durch Dritte. Wenn wir diese - quer durch die Gesellschaft - nicht umstellen, werden wir keinen Beitrag leisten können. Vermeiden können wir solch grausame Vorgänge nicht. Wir können keine Garantie geben. Ich beginne bei einem der Kernpunkte, den Medien. Herr Kollege Thierse, natürlich können wir darüber sprechen - man muss sich in einer solchen Debatte auch ein Stück positiv aufeinander einlassen -, dass in dieser Wettbewerbslandschaft, wie in anderen Bereichen auch, nicht ausschließlich so wertvolle Kulturgüter produziert werden, wie wir beide sie gerne hätten. Die Diskussion über Medien reicht mir aber, solange der Kernpunkt der eigenen Verantwortung nicht eingeführt wird, nicht aus. Dieser heißt: Man kann auch abschalten. Die Verbraucherseite muss also zum Ausgangspunkt der Debatte gemacht werden. ({0}) Sie muss ihre eigene Fähigkeit entwickeln, mit dem Angebot umzugehen und eventuell auch auf eines zu verzichten. Deshalb genügt eine reine Debatte über Medien nicht, wenn sie im Kern nicht das Ziel hat, Menschen in die Lage zu versetzen, auf bestimmte Angebote zu verzichten und damit in einer freiheitlichen Ordnung deutlich zu signalisieren, dass ihre eigene Wertentscheidung anders ausfällt als die Wertentscheidung der Angebotsseite. Das klingt jetzt etwas technisch; es ist aber überhaupt nicht technisch gemeint. Damit komme ich auf einen weiteren Kernpunkt: Eine Schuldebatte ist zulässig; man darf in dieser aber nicht stecken bleiben. Es geht um die Fähigkeit der Familien - diesen Ort beschreiben wir als ein Stück Heimat -, die Kinder qualitativ gut zu erziehen. Herr Kollege Thierse, Sie haben das Thema angesprochen. Diese erzieherische Qualität entscheidet in einem Lebenslauf, lange bevor ein Kind die Schule betritt, darüber, ob die Fähigkeiten, die das Kind zur Verarbeitung von Lebenssachverhalten und für den Umgang mit Veränderungen braucht, vorhanden sind, um nicht das Gefühl zu haben, es sei nur auf der Verliererseite. Die Grundlage wird also viel früher gelegt. Deshalb ist dieses Stück Verantwortung in der Familie ganz entscheidend für Wertentscheidungen und für die Fähigkeit zum friedlichen Zusammenleben. Das bringt mich zu der positiven Bemerkung: Ich glaube, dass man, wenn man die Familie so betont, Ganztagsschulen anbieten sollte; aber wenn die Familien selber an der Erziehung ihrer Kinder am Nachmittag einen größeren Anteil haben wollen, muss man auch Entscheidungen von Familien zugunsten anderer Schulformen zulassen. Das habe ich neulich schon einmal bemerkt. ({1}) Ich glaube auch nicht, dass wir weiterkommen, wenn wir vor dem Hintergrund des Marktes und der Werte diskutieren. Ich kenne auf dieser Welt viele Gesellschaften, die Marktkräfte ausschalten und die größten Menschenrechtsverletzer sind. Diese scheren sich nicht um Werte. ({2}) Ich glaube, dass Wettbewerb Eigenschaften hervorbringen muss und kann, die in die Wertekategorien gehören, die wir alle schätzen. Man kann im Wettbewerb nämlich nicht erfolgreich sein, wenn sich zum Beispiel die Führung eines Unternehmens nicht an Fairness, sozialer Kompetenz und Werten, an Bildung und Leistung orientiert. Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, es gäbe eine politische Grundauffassung, die den Leistungsbegriff überbetonen und damit Kindern zu viel abverlangen würde, sodass sie in Lebenssituationen gebracht würden, die ihnen Schwierigkeiten bereiteten. Ich glaube, dass das, was wir als Zivilisiertheit untereinander diskutieren, dieses Mindestmaß an Fähigkeit, in demokratischen Gesellschaften zivilisiert miteinander umzugehen, nicht aus einem luftleeren Raum, indem man nur einen Wertekanon lernt, entsteht. Ich glaube, dass die Fähigkeit, mit anderen umzugehen und andere Persönlichkeiten mit all ihren Eigentümlichkeiten und Eigenheiten wahrzunehmen, dadurch entsteht, dass man zulässt, dass sich die junge Generation - das ist unverzichtbar - an bestimmten Gegenständen prüft und sich - wiederholt, mit enormen Anstrengungen und manchmal auch verbunden mit schulischen Problemen und Rückschlägen - abarbeitet. Persönlichkeitsbildung - über diesen Begriff diskutieren wir miteinander - ist nur erreichbar, wenn Bildung und Erziehung kombiniert werden. Bildung, die ohne Leistung nicht zu erzielen ist, aber auch erzieherische Komponenten müssen zusammenkommen. Wichtig ist zudem eine großartige Lehrerpersönlichkeit, an der sich Kinder orientieren, wie das jeder aus seinem eigenen Leben weiß. Man muss millimeterweise lernen, große Aufgaben abzuarbeiten. Lassen Sie mich das an einem Beispiel, das für uns Deutsche besonders wichtig ist, erläutern. Nach meiner Überzeugung hat der Geschichtsunterricht an unseren Schulen nicht die Dimension, die ich mir vorstelle. Herr Schwanitz beschreibt das in seinem Buch sehr schön: In den deutschen Schulen wird nicht deutlich, dass die Geschichte eine große Erzählung ist. In diesem Zusammenhang ist auch zu vermitteln, wie in Europa durch all das, was wir kulturell und geschichtlich erlebt haben, Diktaturen und Tyrannei am Ende überwunden wurden. Dadurch kann den Kindern ein Stück ihrer eigenen Identität vermittelt werden. Sie müssen lernen, Bescheidenheit mit Selbstvertrauen zu verbinden. Ich schildere das deshalb, weil wir in Deutschland eigentlich voraussetzen, dass wir durch erzieherische Maßnahmen, Bildung und Ausbildung Kinder in den Stand versetzen, Bescheidenheit zu zeigen, einen fairen Umgang miteinander zu pflegen, aber auch Selbstvertrauen zu haben. Das wird ihnen jedoch bei ihrer Erziehung nicht ausreichend mitgegeben. ({3}) Wenn wir über Themen wie Medienlandschaft, Schule, Familie, Öffentlichkeit und Arbeitswelt nur segmentiert diskutieren, dann ist davon kein Gesamtkonzept zu erwarten. Auch andere Generationen hatten sich mit Schwierigkeiten in der Arbeitswelt auseinander zu setzen. Es hat große Brüche in der Geschichte der - in dem OECD-Bericht werden sie so genannt - großen Industrienationen gegeben. Keine Generation stand vor einfachen Fragen. In der Nachbetrachtung eines Ereignisses darf es nicht dazu kommen, dass wir die Marktgesellschaft insgesamt kritisieren und gegen sie Widerstandskräfte moralischer Art mobilisieren. Ich bin dafür, dass wir Erziehung und Bildung so annehmen, wie der Wandel der Arbeitswelt erfordert. Wir müssen uns darauf einlassen, weil wir es nicht anders schaffen. ({4}) Ich bin nicht der Auffassung, dass durch Flexibilität oder das, was man damit verbindet, eine Familie benachteiligt wird. Ich glaube an die Chancen und nicht an die Risiken einer Veränderung der Arbeitswelt. Durch diese Veränderungen können Familien, wenn sie es wollen, eher begünstigt als benachteiligt werden. Dies kann nur geschehen, wenn wir uns auf Familien einlassen und ihre Lebensentwürfe akzeptieren. Niemand von uns wird in den nächsten Monaten auf seine persönliche Art die Ursachenforschung darüber abschließen, wie so schreckliche Ereignisse passieren konnten. Es wird lange Zeit brauchen, bis wir diese Ereignisse verarbeitet haben. Vielleicht kommen wir doch zu dem Punkt, der mir sehr wichtig erscheint und bei allen Vorrednern anklang: Wenn etwas im Bereich der Bildung grundlegend und unverzichtbar ist, was in der öffentlichen Diskussion von allen politischen Grundrichtungen genannt werden sollte, dann ist das Erziehung. Wenn es dabei - das ist natürlich zu Konflikten und zu Reibungen mit der jeweils nachfolgenden Generation kommt, dann dürfen wir gegenüber unseren Kindern nicht zu repressiven Maßnahmen greifen, sondern dann müssen wir ihnen klar machen, dass Erziehung die Aufgabe hat, ihnen beim Erwachsenwerden zu helfen. ({5}) Das bedeutet eine sehr persönliche Anstrengung des Einzelnen, bei der es nicht damit getan ist, Elternversammlungen zu besuchen. Vielmehr muss man bei den eigenen Kindern erzieherische Aufgaben, die durchaus mit Reibungen verbunden sein können, wahrnehmen. Dies muss in der gesamten Gesellschaft geschehen; diese Notwendigkeit muss von der Gesellschaft erkannt werden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Episode voranstellen. Sie liegt schon eine Weile zurück, aber sie hat mich sehr nachdenklich und auch reicher gemacht. Der Kollege Barthel von der SPD-Fraktion und ich waren von einer Kirchengemeinde aus Berlin-Zehlendorf, genauer gesagt: von den jungen Gemeindemitgliedern und ihren Freundinnen und Freunden, eingeladen. Rund 60 junge Leute wollten mit uns, den Politikern, über Gewalt, deren Ursachen und Folgen diskutieren. Anlass dazu gab es genug. Gerade erst hatten rechtsextremistische Anschläge für menschliches Leid und für Schlagzeilen gesorgt. Die Jugendlichen nahmen uns zwar ernst, aber nicht besonders wichtig. Sie sprachen vor allem mit sich, und zwar über Erfahrungen von Klassenfahrten, auf denen sie angepöbelt wurden, über ausländische Freunde, die bei ihnen zu Gast waren, aber im Lande ausgegrenzt wurden, über Erwachsene, denen sie sich anvertrauen oder die sie fürchten, über Erfolge in der Schule und über Versagensängste. Sie erzählten drei Stunden lang über ihr Leben und sie sprachen miteinander. Ihr Thema war nicht Gewalt als Totschlag, als Exzess, als Massenmord; sie redeten über alltägliche Wunden und Schmerzen. Das war wohltuend authentisch und ohne jede Rechthaberei. Ich habe mich an diesen Abend erinnert, als ich jüngst ein weiteres Erlebnis hatte. Der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung wurde des Platzes verwiesen. Der Verkauf solcher Zeitungen ist nicht nur ein klitzekleiner Gelderwerb, sondern er gibt den Obdachlosen auch immer ein Stück Selbstwertgefühl und menschliche Würde zurück. Der Wachmann, der ihn des einst öffentlichen und inzwischen privatisierten Stadtraumes verwies, hatte zwar formal Hausrecht, doch tat er in den Augen des Verstoßenen Unrecht. Deshalb meine ich, dass ein ehrlicher Diskurs über Werte, Solidarität, Würde, Gerechtigkeit, Toleranz und Friedensliebe überfällig ist, allemal in einer Gesellschaft, in der ein kräftiger Ellenbogen manchmal mehr gilt als ein gutes Herz. ({0}) Allerdings meine ich, dass sich ein solcher Diskurs nicht auf die Jugend reduzieren darf. Hier geht es um eine Gesellschaftsfrage. ({1}) Bevor ich noch einmal konkret werde, möchte ich unsere Debatte in das Grundgesetz betten. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es nicht ohne Grund in Art. 1, wohlgemerkt „des Menschen“ und nicht „des Deutschen“. Ich bin weder Soziologin noch Psychologin und bitte die zuhörenden Fachleute um Nachsicht, wenn ich eine einfache These wage: Immer, wenn die Würde des Menschen angetastet wird, hat das etwas mit Gewalt zu tun. Ich kenne Arbeitslose, studierte und hoch intelligente, sich mühende und auch heftig suchende - und dennoch Erfolglose. Meinen Sie wirklich, dass Sie deren Würde entsprechen, wenn das unsägliche Problem der Arbeitslosigkeit als individuelles Versagen bei ihnen abgeladen wird? Meinen Sie wirklich, dass Sie deren Würde entsprechen, wenn Sie die Betroffenen in niedrig bezahlte Jobs und in ferne Gefilde zwingen wollen? Und glauben Sie, es sei gewaltlos, wenn Sie mit der Streichung von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe drohen, wenn die Betroffenen keine scheinselbstständige Ich-AG gründen? Vor allem aber entlassen Sie mit diesem Unsinn zugleich jene aus der Verantwortung, für die Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes geschrieben wurde: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Wir alle wissen, dass längst die einfachen Bürgerinnen und Bürger ihren einen Sozialstaat tragen, während sich die wirklich Vermögenden der sozialen Verantwortung entziehen - formal zu Recht, auf gesetzlicher Grundlage. Moralisch und sozial bleibt es aber Unrecht, denn es schafft Unwürde. ({2}) Eines, Herr Innenminister, will ich Ihnen heute hier nicht durchgehen lassen, wenn wir über Gewalt und gesellschaftliche Ursachen reden. Wer von ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern erwartet, dass Sie sich ins National-Deutsche assimilieren, der entwürdigt kulturelle Identitäten. ({3}) Die viel gepriesene Toleranz entpuppt sich so als Anpassungsgehorsam. Gehorsam und Anpassung haben aber nichts mit Würde, Kultur und auch Selbstbestimmung zu tun. Über die Frage von Krieg und Frieden will ich heute hier gar nicht reden, auch wenn Bundesaußenminister Fischer dieser Tage meinte, die PDS ob ihrer Kriegsablehnung beschimpfen zu müssen. Das buche ich unter schlechtem Gewissen und Wahlkampf ab. Aber genau darum sollte es heute in dieser Debatte nicht gehen. ({4}) - Ich rede die ganze Zeit zum Thema Gewalt, darüber, wo sie beginnt und welche schlimmen Auswirkungen sie haben kann. ({5}) Ich sprach eingangs von einem Diskussionsabend mit Jugendlichen einer Berliner Kirchengemeinde. Diese Stimmung hat sich bei mir bis heute sehr tief eingegraben. Ich habe die Stimmung erlebt, als auf dem Erfurter Domplatz der Opfer des Massakers gedacht wurde, fragend nach dem Warum und trauernd. Ich fühle das noch immer. Deshalb wünsche ich mir, dass wir es nicht bei dieser vom Fernsehen übertragenen Stunde im Bundestag belassen. Gewalt, Gesellschaft, Toleranz, Frieden, Werte - das alles sind viel zu wichtige Themen, um sie parteipolitisch zu missbrauchen. Wir jedenfalls wollen dies nicht. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Edith Niehuis.

Dr. Edith Niehuis (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001609

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Anlass für die Debatte heute ist das schreckliche Ereignis in Erfurt, das uns daran erinnert hat, dass es immer noch Gewalt und brutale Gewalt in der Gesellschaft gibt. Im Moment des Geschehens neigen dann viele dazu, einfache Rezepte zur Hand zu nehmen. Doch einfache Rezepte gegen Gewalt gibt es nicht. Insofern ist es gut, dass wir erst etwas später, nämlich heute, nicht nur über dieses eine Beispiel der Gewalt reden, sondern über Gewalt und deren Ursachen schlechthin. ({0}) Wenn die Gewalt erst einmal ausgebrochen ist, ist es oft zu spät, an den hohen Wert friedlicher Konfliktlösungen in unserer Gesellschaft zu erinnern. Darum sind wir gefordert, auch dann, wenn kein Gewalttäter die Schlagzeilen unserer Medien beherrscht, über Gewalt zu reden. Wir sind gefordert, schon die kleinsten Anzeichen von Gewalt zu bekämpfen; denn auch hier würde Schweigen bedeuten, dass wir Gewalt akzeptieren. Darum ist es gut, dass wir in dieser Legislaturperiode einige Programme auf den Weg gebracht haben, die ein einziges Ziel haben: die Zivilcourage von Menschen zu stärken, insbesondere auch gegen rechte Gewalt, und den Opfern zu helfen. Denn es kommt mir zu wenig zur Sprache, dass Gewalt nicht nur einen Täter, sondern dass Gewalt immer auch viele Opfer hat. ({1}) Gewaltbereitschaft, Gewaltakzeptanz, Gewalthandeln sind komplexe Phänomene. Sie haben ganz unterschiedliche Erscheinungsformen, vielfältige Rahmenbedingungen, vielfältige Ursachen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene. Deshalb wird es wohl nie gelingen, Gewalt als eine Form der Konfliktlösung aus unserer Gesellschaft ganz zu eliminieren. Aber jeder Schritt zur Senkung der Gewaltbereitschaft ist wichtig. Vieles hat mit Erziehung zu tun, einer Erziehung zur friedlichen Konfliktlösung. Gefordert ist dabei - darauf wurde heute schon oft hingewiesen - zumeist der Ort der primären Sozialisation, nämlich die Familie. Sie gibt emotionalen Rückhalt und vermittelt Werte, wobei nicht nur Worte, sondern auch Vorbilder zählen. Wenn der Kreislauf der Gewalt durchbrochen werden soll, dann muss in der Familie mit der Aufklärung darüber begonnen werden, dass vermeintlich Stärkere kein Recht haben, vermeintlich Schwächeren gewalttätig zu begegnen. ({2}) Deshalb ist es ein großer Fortschritt, dass es in dieser Legislaturperiode gelungen ist, den wichtigen Leitsatz „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ gesetzlich zu verankern. ({3}) Noch besser wäre es gewesen, wenn wir diesen Satz in das Grundgesetz hineingeschrieben hätten. ({4}) Dann hätten wir ein sichtbares Fundament unserer zivilisierten Gesellschaft gehabt. Aber dafür braucht man eine Zweidrittelmehrheit. Ein Satz in einem Gesetz bewirkt natürlich noch keine Umorientierung hin zur gewaltfreien Erziehung auf breiter Basis. Dazu bedarf es einer breit angelegten Kommunikation in der Gesellschaft. Dieses Ziel muss nicht nur akzeptiert, sondern auch in aktives Verhalten umgesetzt werden. Wir vom Familienministerium haben deshalb die angesprochene Gesetzesänderung mit vielen Vorortaktionen im Rahmen der Kampagne „Mehr Respekt vor Kindern“ begleitet. Diese Kampagne ist erfolgreich gewesen. Mittlerweile halten 85 Prozent der Eltern eine gewaltfreie Erziehung für ein wichtiges Ziel. Mir scheint das ein zukunftsweisendes Beispiel zu sein. ({5}) Es reicht eben nicht aus, nur Forderungen an die Familien heranzutragen. Familien brauchen auch Hilfsangebote. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz wurde dementsprechend geändert, damit sich verstetigt, dass die Familien, die ihre Konflikte gewaltfrei lösen wollen, auch flankierende Unterstützung bekommen. Denn Kinder wachsen heute anders auf. Bei der Vermittlung von Werten müssen Familien heute mehr denn je mit den Medien, mit den Gleichaltrigengruppen, mit neuen Informations- und Kommunikationstechniken, über lange Zeit mit Kindergarten und Schule sowie mit der Arbeitswelt der Eltern teilen. Kinder wachsen also öffentlicher auf, was Eltern überfordern und auch hilflos machen kann. Deshalb gibt es neben der privaten Verantwortung der Familie immer auch eine öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern, wie jüngst im Elften Kinder- und Jugendbericht noch einmal betont wurde. ({6}) Wer dies negiert und ausschließlich auf das private Recht, die private Verantwortung der Familien verweist, lässt Eltern alleine und bleibt Eltern und Kindern, insbesondere den Familien in prekären sozioökonomischen Lebenslagen, etwas schuldig. Die Fragen nach der privaten Qualität der Familie und danach, ob wir in der Politik die Augen vor dem Innenleben der Familie verschließen dürfen oder nicht, haben uns in den Diskussionen, die wir in diesem Parlament über Gewalt geführt haben, immer begleitet. Viele wichtige Entscheidungen wurden genau aus diesem Grund zu lange hinausgezögert, vielleicht auch weil die vermeintlich Stärkeren zumindest im Privaten ihre Position wahren wollten, ohne zu sehen, dass sie damit auch den Nährboden für Gewalt pflegten. Es hat über 20 Jahre gedauert, bis endlich in den 70er-Jahren die einer Demokratie unwürdige Vorherrschaft des Mannes über die Frau in der Ehe aus dem Gesetz gestrichen wurde. Über 40 Jahre, davon 20 Jahre aktive Debatte im Parlament, hat es gedauert, bis endlich auch die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt wurde. Erst in diesem Jahr ist das neue Gewaltschutzgesetz in Kraft getreten, das dafür sorgt, dass bei Gewalt in der Familie der Täter und nicht das Opfer die Ehewohnung zu verlassen hat. Erst vor ein paar Jahren ist es gelungen, bei sexuellem Missbrauch in der Kindheit die Verjährungsfrist auszusetzen, damit die Opfer gerade auch Täter aus ihrem sozialen Nahbereich später noch erfolgreich anklagen können. Weil die Mehrheit im Parlament zu lange geneigt war, diese Gewalt in der Familie stillschweigend zu akzeptieren, haben wir wertvolle Jahre verloren, das Unsrige zur Senkung der Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft zu tun. ({7}) Man darf nicht vergessen, dass die Familie die Keimzelle der Gesellschaft ist. Darum ist es gut, dass gerade in dieser Legislaturperiode mehrere Gesetze und begleitende Maßnahmen gegen Gewalt, auch gegen Gewalt in der Familie, auf den Weg gebracht wurden. Dazu gehört der Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Wenn wir es mit einer effektiven Gewaltprävention in der Gesellschaft ernst meinen, dann brauchen wir eine konsequent geschlechtsspezifische Sichtweise; denn männliche Jugendliche wenden häufiger und brutaler Gewalt an als weibliche. Unter den rechtsextremen Gewalttätern sind weitaus mehr männliche als weibliche Täter. Weibliche Jugendliche hingegen neigen dazu, sich bei scheinbar nicht zu lösenden Konflikten zurückzuziehen oder Gewalt gegen sich selbst auszuüben. Wer hat nicht von Magersucht gehört? Diese Tatsachen fordern eine konsequent geschlechtsspezifische Ursachenanalyse und ebenso geschlechtsspezifische präventive Strategien. ({8}) Ich bedauere es sehr, dass es bis heute nicht gelungen ist, in der Jugendhilfe auch genügend Angebote einer emanzipatorischen Jungenarbeit und einer emanzipatorischen Mädchenarbeit zu unterbreiten. ({9}) Gerade die Jugendhilfe kann viel tun - das zeigen viele Beispiele -, um Gewalttendenzen vorbeugend entgegenzuwirken, die etwa dann entstehen, wenn junge Menschen in sozialen Brennpunkten für sich keine Zukunft sehen, wenn sie sich der Konkurrenzgesellschaft hilflos ausgesetzt sehen, wenn es ihnen an Schlüsselqualifikationen mangelt, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Das alles sind Rahmenbedingungen, die zum Nährboden für Gewalt werden können, wenn es an Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten mangelt. Den Jugendlichen, Frau Merkel, fehlt dann genau das positive Selbstwertgefühl, das sie doch so dringend brauchen. ({10}) Mit den Programmen „Entwicklung und Chancen“ und „Freiwilliges Soziales Trainingsjahr“ haben wir in den letzten Jahren gute Integrationsergebnisse erreicht, sodass wir diese Programme auch ausweiten möchten. Es hat mich ein wenig erschreckt, dass Herr Merz als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion vor ein paar Tagen ganz undifferenziert sagte, es gebe eine Sozialindustrie, die davon lebe, das Problem nicht zu lösen. ({11}) - Im „Handelsblatt“ vom 28. Juni können Sie es nachlesen. ({12}) - Ich hätte es gern mit ihm diskutiert. Es hat mich, wie gesagt, erschreckt. ({13}) - Dann sagen Sie doch, dass Sie ganz anderer Meinung sind! Viele Jugendliche brauchen die „Sozialindustrie“, brauchen die Netzwerke von Jugendhilfe, Schule und Beschäftigung, weil sie sonst keine Chance haben, ihr Problem zu lösen. Wenn wir auf die Programme, die Jugendlichen helfen, verzichten, dann sparen wir vielleicht an dieser Stelle, aber - das ist das Problem - wir werden für die innere Sicherheit sehr viel mehr Geld ausgeben müssen. ({14}) Zum Abschluss möchte ich noch auf eine Form von Gewalt hinweisen, die in unserer Debatte zu wenig Aufmerksamkeit findet, nämlich die Gewalt gegen Ältere. ({15}) Hierbei geht es oft um verborgene Gewalt in der Familie und vielleicht auch in öffentlichen Einrichtungen. In einem dreijährigen Modellversuch haben wir versucht zu sensibilisieren und haben auch Hilfsangebote evaluiert. Das reicht jedoch nicht. Die demographische Entwicklung zeigt: Der Druck und mit ihm auch die Überforderung vieler Einzelner werden stärker. Darum wird sich der nächste Bundestag verstärkt den Folgen der demographischen Entwicklung widmen müssen. Wenn es eine New Economy gibt, dann liegt sie weniger in neuen Sendemasten und Satelliten, sondern sie liegt im Bereich der Altenbetreuung, was aus ökonomischer, arbeitsmarktpolitischer und sozialpolitischer Sicht, aber auch im Sinne der Gewaltprävention notwendig ist. Nachdem ich die Bundestagsdebatten nun 16 Jahre verfolgen konnte und immer wieder sehen durfte, was in der Kernzeit diskutiert wird und was nicht in der Kernzeit debattiert wird, bitte ich all diejenigen, die demnächst im Ältestenrat die Tagesordnungen des Deutschen Bundestags aufstellen: Denken Sie doch auch einmal an die Themen, die so viele Menschen direkt angehen, zum Beispiel Altenbetreuung, zum Beispiel Gewalt gegen Ältere! Diese Themen sollten auch einmal in der Zeit von 9 Uhr bis 12 Uhr debattiert werden ({16}) und nicht immer erst um 23 Uhr, wenn Reden oft zu Protokoll gegeben werden und eh schon alle im Bett sind. Wir überschätzen uns, wenn wir meinen, dass die theoretischen Debatten über Wirtschaftspolitik das seien, was die Herzen der Menschen wirklich erreiche. Das tun andere Themen. Da ich demnächst - ganz freiwillig - aufhöre, wünsche ich Ihnen alles Gute für die nächste Zeit. 16 Jahre Parlamentarier sein zu dürfen hat mir unwahrscheinlich viel Spaß gemacht. Es hat mir Spaß gemacht, mit meiner Fraktion, aber auch mit der CDU/CSU und den anderen Oppositionsparteien zusammenzuarbeiten. ({17}) - Insbesondere hat es mir natürlich Spaß gemacht, mit den Niedersachsen zusammenzuarbeiten. - Alles Gute für die Zukunft! ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Niehuis, ich möchte Ihnen im Namen des ganzen Hauses für den guten parlamentarischen Rat, erfahrungsgesättigt aus 16 Jahren guter parlamentarischer Tätigkeit, danken. ({0}) Das Wort hat jetzt der Ministerpräsident des Landes Thüringen, Bernhard Vogel. Dr. Bernhard Vogel, Ministerpräsident ({1}): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Ich bin im Namen der Stadt Erfurt und des Landes Thüringen sehr dankbar dafür, dass diese Debatte, um die ich die Fraktionsvorsitzenden unmittelbar nach der Tat gebeten habe, heute stattfindet. Jeder wird verstehen, dass ich mich in dieser Debatte zu Wort melde. Dadurch wird gleichzeitig deutlich: Das ist nicht nur ein Thema für den Bundestag, sondern selbstverständlich auch für die Mitglieder des Bundesrates. Eine Schülersprecherin des Gutenberg-Gymnasiums hat unmittelbar nach der schrecklichen Tat gesagt: Die Ereignisse dürfen nicht zu Aktionismus führen, sie dürfen aber auch keine Lähmung verursachen. Natürlich muss alles Menschenmögliche getan werden, um für die Zukunft eine ähnliche Tat auszuschließen, auch wenn wir wissen, dass uns dabei Grenzen gesetzt sind. Das heißt: Wir müssen einerseits Gesetze überprüfen; aber wir müssen nach meiner Überzeugung andererseits mehr als das tun. Wie aus den bisher gehaltenen Reden hervorgegangen ist, geht es um grundsätzliche Fragen, die nicht allein die Politik, sondern die ganze Gesellschaft beantworten muss: Wie kommt es in Deutschland zu wachsender Gewaltbereitschaft? Wie kann Gewalt geächtet werden? Warum schwindet der Respekt vor der Würde des menschlichen Lebens? Wie kann die Achtung vor dem Leben Mord und Selbstmord verhindern? Wie wehren wir uns gegen Vereinsamung und Entwurzelung? Was sind die Rechte und was sind die Pflichten der Eltern und der Familien? Was ist die Aufgabe der Schule? Welche Stellung haben die Lehrer in unserer Gesellschaft? Welche Werte werden von uns allen anerkannt? In einem sind wir uns ganz offensichtlich alle einig: Wir verachten Gewalt und Terror. Gewalt will den Willen eines anderen Menschen gewaltsam brechen. Wir aber wollen nicht, dass Gewalt und Terror erfolgreich sind, auch nicht im Spiel und auch nicht in virtuellen Scheinwelten. ({2}) Wenn wir über die Ursachen von Hass, Gewalt und Terror sprechen, dann müssen wir darüber reden - dazu ist schon einiges gesagt worden -, welches Bild vom Menschen wir haben, wie wir unsere Werte definieren. Wir erwarten von den Lehrerinnen und Lehrern ganz selbstverständlich - das sagen wir häufig auch -, dass sie unsere Kinder erziehen und ihnen ein Welt- und Wertebild vermitteln, während wir uns selbst im Unklaren darüber sind, was für ein Weltbild das eigentlich sein soll. ({3}) Entscheidend bleibt, dass für uns die Unverwechselbarkeit und die Einzigartigkeit des Menschen und seine persönliche Würde im Mittelpunkt stehen. Der Mensch ist im Mittelpunkt aller politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entscheidungen und allen gesellschaftlichen Handelns zu sehen. In unserem Grundgesetz sind die Folgerungen, die vor über 50 Jahren aus der Entpersonalisierung des Menschen, aus seiner Unterdrückung, Entrechtlichung und Unterordnung unter eine menschenfeindliche Ideologie durch den nationalsozialistischen Unrechtsstaat gezogen wurden, manifest. Mit der Verpflichtung des Staates, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu achten und zu schützen, und mit der Aufnahme von Grundrechten - im Gegensatz zur Weimarer Verfassung - hat das Grundgesetz eindeutig Stellung bezogen gegen Beliebigkeit, gegen Wertneutralität, gegen einen totalitären Kollektivismus und gegen die Abwertung des Menschen zu einem Objekt des Staates. Nach unserem Grundgesetz steht der Mensch - und nicht der Staat - an erster Stelle. Das schafft die Voraussetzungen dafür, dass sich unter dem Dach des Grundgesetzes verschiedene Meinungen, Haltungen und Weltanschauungen entfalten können. Das Grundgesetz setzt den Rahmen, der ausgefüllt werden muss; es ermöglicht Toleranz, weil es der Freiheit des Einzelnen dort eine Grenze setzt, wo Würde und Freiheit des Nächsten beginnen. ({4}) Es verlangt Verantwortung von jedem Einzelnen für den anderen, für das Gemeinwesen, für Demokratie; denn Freiheit ohne Verantwortung führt in die Unfreiheit. Wir müssen Übereinstimmung darüber erzielen, was sich aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ergibt: Verachtung und Verhinderung von Gewalt gegen andere, insbesondere Andersdenkende, mitmenschliche Solidarität, soziale Gerechtigkeit und ein fairer Ausgleich von Interessen. Helmut Schmidt hat es einmal klar ausgedrückt - ich darf ihn zitieren -: Wenn die Übereinstimmung in elementaren Grundwerten und Grundauffassungen fehlt, dann sind Freiheit und Würde des Menschen gefährdet. Eine Gesellschaft, in welcher der Konsens über elementare Grundwerte verloren gegangen ist, treibt auf Anarchie zu. Helmut Schmidt hat Recht. Werden Menschenrechte nur unter Zwang anerkannt, werden Werte nicht vorgelebt, dann ist Toleranz nicht mehr als eine desinteressierte Duldung von Andersdenkenden und Anderslebenden, eine Duldung, die schnell in Verächtlichmachen, in Spott, in Hass und schließlich in Gewalt umschlägt. Meine Damen und Herren, in Deutschland sprechen wir gerne von einer Kultur der Bildung und von einer neuen Kultur der Werte. Meine Überzeugung ist: Zunächst müssen wir vor allem von einer neuen Kultur des Zuhörens sprechen, ({5}) von einer Kultur des Sich-gegenseitig-Kennenlernens und einer Kultur des Aufeinanderachtens. Wir müssen Sprachlosigkeit überwinden und die drohende Kluft zwischen den Generationen überbrücken. Wir brauchen eine Kultur des Miteinandersprechens, die Verständnis und Respekt schafft und die Gefahr eines Zusammenpralls vermindert. Dass Ältere vielfach nicht wissen, was junge Menschen bewegt, dass viele von uns nicht wissen, womit junge Menschen ihre Freizeit verbringen, dass sie sich hinter verschlossenen Türen mit Gewalt verherrlichenden Computerspielen beschäftigen, muss uns beunruhigen und fordert Eltern, Familien, Lehrer, Erzieher, Mitschüler und uns Politiker heraus. Weil Erziehung in der Familie beginnt, müssen wir über die Rechte und Pflichten sprechen, die den Eltern bei der Vermittlung von Grundwerten zukommen. Im Elternhaus wird der Grundstein für die Bildung jeder Persönlichkeit gelegt. Deswegen müssen es Kinder spüren, wenn sie als lästig empfunden werden. Wer ungestörten Fernsehkonsum mehr schätzt als die Beschäftigung mit seinen Kindern, darf sich später nicht über Lieblosigkeit, Gewaltbereitschaft und extremes Denken wundern. ({6}) Kinder können nur Orientierung finden, wenn sich ihre Eltern zu ihnen bekennen, wenn sie sich ihnen widmen, wenn sie ihnen Aufmerksamkeit schenken, wenn sie sich Zeit für sie nehmen. Es ist heutzutage erfreulicherweise populär, sich zu einer Politik zu bekennen, die die Familien unterstützt und ihnen eine stabile materielle Grundlage schafft. Das ist gut so. Aber das ist nur die eine Seite. Es kommt mindestens ebenso darauf an, dass sich Eltern ihrer Verantwortung für die Erziehung der Kinder bewusst sind. Natürlich dürfen wir Eltern dabei nicht allein lassen. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Eltern müssen auch hier Hilfe erfahren. Wir müssen zum Beispiel Familienberatungs- und Betreuungseinrichtungen stärken und ihr Angebot bekannter machen. Aber Kindergärten, Kinderhorte, Schulen und außerschulische Betreuung müssen die Erziehung in der Familie altersgemäß ergänzen und unterstützen; ersetzen können weder der Lehrer noch die Kindergärtnerin die Familie. ({7}) Weil, wie ich glaube, Bildung ohne Erziehung ebenso wenig möglich ist wie Erziehung ohne Bildung, greifen die Erziehungsaufträge von Eltern und Schulen eng ineinander. Die Schule muss mehr sein als eine Anstalt zur Stoffvermittlung. Schulen sind auch dazu da, Werte zu vermitteln. Das durfte man vor 15, 20 Jahren nicht laut sagen. Darum freue ich mich, dass man heute sogar Beifall bekommt, wenn man sagt, Schulen sind auch dazu da, Werte zu vermitteln. ({8}) Wichtig ist Mut zur Erziehung. Erziehung gedeiht mit Zuwendung, aber auch mit Regeln und Grenzen, mit Liebe, aber nicht Beliebigkeit. Erziehung lebt vom Vorbild. Das gilt sowohl für Eltern wie für Lehrer. Wir haben es doch in Erfurt erlebt, wie sehr sich Lehrerinnen und Lehrer dieser Vorbildfunktion bewusst gewesen sind. Das Wohl und die Unversehrtheit ihrer Schüler haben Lehrer des Gutenberg-Gymnasiums so wichtig genommen, dass sie dafür ihr eigenes Leben eingesetzt haben. Eine Lehrerin ist dreimal in die Schule zurückgekehrt, um Kinder aus der Schule zu retten, und beim dritten Mal erschossen worden. Bessere Vorbilder für Mitmenschlichkeit kann es nicht geben. Deswegen muss die Lehre aus Erfurt auch sein, dass dem Beruf des Lehrers in der Öffentlichkeit mehr Hochachtung entgegengebracht wird. ({9}) Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({10}) Wir wissen doch, dass Lehrer nicht selten vor der schier unlösbaren Aufgabe stehen, Sozialarbeiter, Erzieher, Bildungsvermittler, Autoritäts- und Vertrauensperson in einem sein zu müssen. Es ist eine gute Entscheidung, Lehrer werden zu wollen, und es ist ein wichtiger Dienst für unsere ganze Gesellschaft, wenn einer ein guter Lehrer oder eine eine gute Lehrerin ist. ({11}) Bei der Diskussion über die Zukunft unserer Schulen, die ja in vollem Gange ist, sollten wir uns deshalb nicht von pädagogischen Mythen beeinflussen lassen. Das Bild eines angeblich begeistert selbst lernenden Schülers, dem nur ein Lernmoderator zur Seite gestellt werden müsse, entspricht vielleicht den Vorstellungen einer Spaßgesellschaft, aber nicht den Realitäten. Der Lehrer bleibt die entscheidende Person im Unterricht. ({12}) Der Unterricht, der gelenkte Erwerb von Wissen, Können und Urteilsfähigkeit, ist zentrale Aufgabe der Schule und nicht lästige Unterbrechung des Kindseins. Aufgabe von Erziehung und Schule ist es, auf das Leben als Erwachsener vorzubereiten. Wer Erzieher sein will, muss Vorbild sein und junge Menschen zum Leben ermutigen. Nach der Veröffentlichung der PISA-Studie hieß es, die Schule müsse leistungsorientierter werden, und nach dem Geschehen von Erfurt warnten manche, man dürfe nicht länger von Wettbewerb und Leistung sprechen. Der Herr Bundespräsident hat die richtige Antwort gefunden, wenn er sagt: Ohne Leistung, ohne Leistungsbereitschaft wäre jede Schule wirklichkeitsfremd. Ich füge hinzu: Vor Wettbewerb und Konkurrenz dürfen wir unsere Kinder nicht schützen. Wir müssen sie lehren und sie müssen lernen, damit umzugehen. Darum geht es. ({13}) Es gilt, zu fördern und zu fordern, aber nicht zu überfordern. Es wird auch in Zukunft so sein, dass es Begabte und weniger Begabte gibt. Aber das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass es unterschiedlich veranlagte Menschen gibt. Jeder muss seine Chance bekommen. Jedem nur ein und dieselbe Chance zu geben wäre ungerecht. Gerecht ist es, jedem seine Chance zu geben. ({14}) Das heißt, Eltern müssen bereit sein, ihr Kind die Schule besuchen zu lassen, die den Fähigkeiten dieses Kindes gerecht wird - und nicht den Wunschvorstellungen der Eltern. Die Eltern brauchen für das Treffen der richtigen Entscheidung den Rat und die Hilfe des Lehrers. Sie tun Kindern nichts Gutes, wenn sie sie auf eine Schule schicken, in der sie permanent überfordert werden. Sie tun ihnen aber auch dann nichts Gutes, wenn sie sie jahrelanger Unterforderung aussetzen. Nach dem Geschehen am Gutenberg-Gymnasium ist eine grundsätzliche Debatte notwendig, so wie wir sie heute hier führen. Sie wird auch in Zukunft notwendig sein. Darüber hinaus sind konkrete Änderungen von Gesetzen und Verordnungen des Bundes und der Länder erforderlich. Natürlich muss das Leben nach der Bluttat weitergehen. Aber wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als ob wir nach dem Geschehen unverändert in den Alltag zurückkehrten. Ich bin sehr dankbar, dass es Bundestag und Bundesrat in großer Einmütigkeit gelungen ist, das Waffenrecht noch vor der Sommerpause zu novellieren. Es war doch selbstverständlich, dass wir uns nach der Bluttat von Erfurt dieses Gesetz noch einmal sehr genau angesehen haben. Das Ergebnis ist: Ein 19-Jähriger kann jetzt nicht mehr einen Revolver oder gar eine Pumpgun legal erwerben. Ich bin dankbar, dass unter dem Eindruck der Tat von Erfurt eine Novellierung des Jugendschutzgesetzes sehr zügig vorgenommen worden ist. Wir haben im Bundesrat - wie Sie im Bundestag - zugestimmt, auch wenn wir Nachbesserungen für notwendig halten. Dazu gehört beispielsweise das Verbot so genannter Killerspiele. Der Herr Bundeskanzler hat zugesagt, sich für ein Verbot dieser Spiele, bei denen Tötungshandlungen simuliert werden, einzusetzen. Er muss seine Zusage einlösen. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass die Schutzbestimmungen bei Spielautomaten im Jugendschutzgesetz nicht verschärft, sondern gelockert worden sind. ({15}) Wir brauchen ein Verleihverbot schwer jugendgefährdender Videofilme und Computerspiele, unabhängig vom Alter. Dafür müssen die entsprechenden Bestimmungen im Jugendschutzgesetz geändert werden. Daneben müssen wir Änderungen des Strafgesetzbuches vornehmen. Wir müssen zum Beispiel ein Verbot der Darstellung von Gewalttätigkeiten an menschenähnlichen Wesen in allen Medien und ein Verbot der Darstellung der Tötung von Menschen in Computerspielen erreichen. ({16}) Das ist bisher noch nicht geschehen und wird in dieser Legislaturperiode leider nicht mehr verwirklicht werden. Aber es bleibt selbstverständlich auf der Tagesordnung. Ich begrüße es, dass unter dem Eindruck des Geschehens von Erfurt die Regierungschefs der Länder und der Bundeskanzler die Einrichtung eines runden Tisches gegen Gewalt in den Medien vereinbart haben. An diesem runden Tisch werden neben dem Bundeskanzler und den Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz und der Rundfunkkommission die Vertreter der Medien selbst Platz nehmen. Wir wollen die Kontrollmechanismen gegen die Darstellung extremer Gewalt im Rundfunk, auf Videos und im Internet verbessern. Diesem Ziel dient auch der in Vorbereitung befindliche Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, den wir hoffentlich in Bälde unterzeichnen können. Wir Ministerpräsidenten haben darüber hinaus beschlossen, die Arbeitsgruppe „Gewaltprävention“ einzurichten, die den Auftrag hat, ein abgestimmtes Handlungsprogramm zu entwickeln, das die Erziehungskraft von Schule und Familie stärken und die Wertorientierung von Kindern und Jugendlichen fördern soll. Natürlich müssen auch die Sicherheitsstandards an den Schulen Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({17}) überprüft werden. Aber 40 000 Schulen in Deutschland kann man nicht zu Festungen ausbauen. Selbst wenn man es könnte - wir wollen das nicht. ({18}) Schulen müssen offene Orte der Begegnung bleiben. Eine eingemauerte Gesellschaft wollen wir nicht. Die Bluttat von Erfurt, der Mord an 16 Menschen, hat in Deutschland, in Europa und weltweit tiefe Betroffenheit ausgelöst. Sie hat aber auch - einige Redner haben das bereits aufgegriffen - in einem ungewöhnlichen Ausmaß Hilfsbereitschaft, Zusammengehörigkeit, Solidarität und Mitmenschlichkeit deutlich werden lassen. Von der einen auf die andere Stunde wurde sichtbar, dass es in unserem Volk viel mehr Gemeinsamkeit und Gemeinsinn gibt, als wir das zuvor für möglich gehalten haben. Heute wissen wir: Erfurt ist nicht zu einem Synonym für eine schreckliche Bluttat geworden. Von dieser Stadt geht vielmehr auch Hoffnung aus. Die Botschaft heißt - ich wiederhole, was ich auf der Trauerfeier gesagt habe -: Mitmenschlichkeit ist in Deutschland keine verloren gegangene Tugend. ({19}) Nur, diese Botschaft muss weiter wirken. Es muss gelingen, was Johannes Rau auf dem Domplatz in Erfurt gesagt hat: Wir müssen einander achten; wir müssen aber auch aufeinander achten. - Das muss auch dann gelten, wenn wir uns im Wahlkampf befinden, unterschiedliche Ansichten und Absichten vertreten und wir heftig und leidenschaftlich streiten. Ich frage mich, ob das nicht mit etwas mehr Respekt und Hochachtung voreinander geht und ob das nicht in einem etwas anderen Geist und in einem etwas anderen Ton möglich ist. ({20}) Geht das nicht mit besseren Argumenten und weniger Tricks und weniger Raffinesse? Die heutige Debatte kann zum Beweis dafür werden, dass wir aus dem Verbrechen von Erfurt tatsächlich Konsequenzen ziehen. Zur Stärkung einer demokratischen und offenen Gesellschaft gehört es, bei allen notwendigen politischen Auseinandersetzungen Einigkeit über die Grundsätze unseres Zusammenlebens herrschen zu lassen. Wir treten Gewalt und Intoleranz sowie jeder Relativierung von Hass entschieden entgegen. Die Opfer von Erfurt hätten es nicht nur verdient, dass wir um sie trauern und ihren Angehörigen diese Trauer mitteilen, sondern auch, dass wir das im Alltag nicht vergessen und uns dem, was geschehen ist, im Hinblick auf die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, verpflichtet fühlen. Danke. ({21})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Antje Vollmer. Sie spricht für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut für dieses Parlament - das ist auch eines seiner Qualitätsmerkmale -, dass wir uns dieser Debatte stellen zu einem Zeitpunkt, da wir noch einen Berg von Gesetzen vor uns haben. Ich finde es auch gut, dass heute, wo man schon überall in der Argumentation den hitzigen Wahlkampf verspürt, solche Töne im Wesentlichen außen vor bleiben. Woher kommt Gewalt in die Gesellschaft? Dies scheint eine philosophische, existenzielle Frage zu sein. Aber eigentlich ist diese Frage falsch. Die Gewalt ist in der Gesellschaft, nicht als Manifestation eines abstrakten Bösen - worüber immer wieder geredet wird -, sondern wegen der Schwäche der Gesellschaften, stabile, dauerhafte Regeln zu finden, die die Gewalt einzudämmen in der Lage sind. Diese Regeln interessieren mich, über sie möchte ich ein bisschen nachdenken. Wenn man nicht fragen kann, woher Gewalt in die Gesellschaft kommt, weil sie vorhanden ist, so kann man doch nach den Zeiten fragen, in denen Gewaltbereitschaft, Gewaltaktionen und Gewaltphantasien zunehmen. Es wird deutlich, dass dies insbesondere dann passiert, wenn sich Gesellschaften in extremem Stress befinden, unter extremem Veränderungsdruck. Das betrifft unsere Gesellschaft nicht nur im Innern, sondern auch im Äußeren, also auch die Weltgesellschaft. Ich glaube, dass alle Globalisierungsgesellschaften einen enormen Druck zu verarbeiten haben; sie sind enormer Verunsicherung und enormen Existenzängsten ausgesetzt und damit all dem, was damit zu tun hat, also auch enormen Gewalt- und Kränkungsphantasien. In der Regel haben die Gesellschaften ihre Gesetze im Umgang mit der Gewalt nicht vorausschauend, also auf kommende Gewalt hin, geschaffen, sondern aufgrund der Summe der erlebten Erfahrungen mit Gewalt. Es ist der erfahrene Absturz in die Gewalt, der die Gesellschaften dazu gebracht hat, entsprechende Gesetze zu schreiben und sie in der Gesellschaft zu verankern. Ein herausragendes Beispiel ist unser Grundgesetz. Die Begründung für dieses Gesetz war gerade, Gewalt abzuwenden, und zwar vor dem Hintergrund der Erfahrung der totalitären Gewalt, vom Staat organisiert. Deshalb hat man als Basis aller Gesetze die Sicherung der Freiheit des Einzelnen gegen die totalitäre Staatsgewalt formuliert. Übrigens sind auch die Regeln aller großen Religionen Antworten auf die Erfahrungen, welche Unfrieden, Gewaltbereitschaft, Aggression und hitzige Leidenschaften in der Gesellschaft hervorrufen, sei es nun das Verbot des Stehlens, des Lügens oder des Ehebrechens. Sie hatten immer zum Ziel, die Gesellschaften im Inneren stabil zu halten. Heute befinden wir uns ebenfalls in einer Veränderungsphase. Allerdings geht nun nicht mehr die Hauptgewalt vom Staate aus, sondern von der verunsicherten Gesellschaft, aus ihrem Inneren: aus den Verteilungskämpfen, aus den Kränkungen und aus der Unsicherheit, nicht zu wissen, was sein wird, wenn sich alle Veränderungen vollzogen haben. Dies war insbesondere in den neuen Ländern sehr intensiv. Die Menschen dort wussten nicht, was danach von ihren alten Lebensgewohnheiten noch Geltung Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({0}) hat, was von ihrem Gelernten noch wichtig ist, welchen Status sie haben werden, welche Konkurrenten ihnen gegenüberstehen werden, ob sie überhaupt noch Existenzmöglichkeiten haben. Deswegen ist die entscheidende Frage: Hat die Gesellschaft noch die Kraft, sich unter diesem enormen Veränderungsdruck Regeln eines neuen Zusammenlebens zu geben? Das genau ist die Frage nach der Zivilisation. Im Kern geht es nicht um die Fähigkeit der Politik, Gebote wehrhaft durchzusetzen, sondern um die Substanz unserer Gesellschaft, die aus eigener Erkenntnis, aus eigenem Willen und aus eigener Überzeugung Regeln einhält und sich selbst so stabil macht. Über diese Regeln möchte ich jetzt sprechen. Es wurde insbesondere über die Frage der Medien gesprochen. Es wird versucht, Konsequenzen für den Bereich der Medien und der elektronischen Welten zu ziehen. Ich finde, das ist ein sehr schwieriges Unterfangen. Ist Gewalt in Bild und Wort die vorherrschende Sprache der Medien bei uns? Dürfen und sollen sie Gewaltszenen zeigen? Ist es ein magischer Prozess, dass die Gewalt auf diese Weise leichter aus dem Bild in die Wirklichkeit springt, also aus der Sphäre der Medien ins reale Leben? Ich glaube, dass die entscheidende Gefahr tatsächlich nicht hier liegt. Kein Journalist der Welt wird auf Dauer, und sei es auch aus rein pädagogischer Absicht, darauf verzichten, die Gewalt abzubilden und zu beschreiben, die er erlebt und die er erfährt. ({1}) Von daher stimmt der alte Satz, dass der „Spiegel“ der Spiegel ist. Die Menschen sind neugierig und sie wollen die Wahrheit wissen. Deswegen werden sie immer so dicht herangehen, wie es nur geht. Die wirkliche Gefahr der Medien liegt in ihrer Möglichkeit, Kampagnen und Jagden zu inszenieren und diesen Kampagnen und Jagden ein Ziel vorzugeben. Medien können - das ist eine neue Qualität, weil wir es zum ersten Mal mit weltweiten Medien zu tun haben - eine Arena bilden, manchmal weltweit, in der sie die Sündenböcke benennen, die für ein falsches Gemeinschaftsgefühl geopfert werden sollen. Bei solchen Jagden erleben Gewalt sowohl diejenigen, die im Zentrum dieser Arena sind, als auch jene, die zuschauen und die einbezogen werden: als Mittäter, als Mitläufer, als Voyeure. Das Problem in Bezug auf Medien ist also nicht, was diese abbilden und zeigen, sondern ist jene unsichtbare Gewaltbereitschaft, die sie wachrufen, die allerdings schon vorher da war und die genau auch der Stoff der großen Populisten ist: dieses Ausmachen von Sündenböcken, dieses Erzeugen von Jagdbereitschaft, ohne dass Verantwortung und Schuld individuell abgewogen und Unschuld geprüft worden wäre. Ich glaube, dass Robert Steinhäuser in dem Sinne ein Sündenbockjäger war, weil er dem Wahn erlegen ist, die Lehrer als vermeintliche Gruppe der Sündenböcke ausgemacht zu haben. Dieses Gefühl der Einsamkeit desjenigen, der einen unausgesprochenen Auftrag ausführt, ist sehr bedrohlich. Wir müssen darüber nachdenken, welche nicht verbalisierten Botschaften Gesellschaften ihren jungen Leuten zukommen lassen, welche Heldenbilder sie ihnen - meistens nicht öffentlich besprochen - vorgaukeln, welche Sündenböcke sie ihnen als die eigentlich zu Bestrafenden vorspiegeln. Darum muss es in der Debatte in unserer Gesellschaft gehen. Wir müssen fragen: Wie verständigen wir uns untereinander noch einmal neu über die Regeln unserer Gemeinschaft? Dazu sage ich, wie viele meiner Vorredner: Erfurt war in diesem Sinne ein ganz wunderbares Beispiel. Jeder hat unterschiedliche Erinnerungen im Kopf, ich zum Beispiel diesen wirklich wütenden Ton der Schülerin, die einem Journalisten gesagt hat: „Hört doch endlich auf, uns hier abzubilden!“, weil sie die Kamera direkt vor ihrem Gesicht nicht mehr ertragen konnte, weil sie Zeit brauchte für Ruhe und Trauer. Ich habe auch gesehen, dass in dieser Stadt Erfurt gerade wegen der erfahrenen Gewalt so etwas wie eine neue Zivilisation des Miteinanders und der Verständigung darüber, dass man Gewalt nicht mehr zulassen wird, entstanden ist. Das war sehr erstaunlich. Besonders erstaunlich war, dass in dieser Atmosphäre einer neuen Verständigung die Eltern von Robert Steinhäuser diesen tieftraurigen Brief geschrieben haben - und zwar an ihre Umgebung, nicht an irgendeine anonyme Sündeninstanz -, in dem es hieß, sie hätten noch nicht einmal Zeit gehabt, um ihren Sohn zu trauern. Ich glaube aber, dass die Stadt Erfurt auch diesen Eltern die Gelegenheit gegeben hat, um ihren Sohn zu trauern; denn gelungene Gewaltprävention heißt, dass man Solidarität erfährt für das Misslingende und dass man immer wieder die Chance zu Neuanfängen und Neueingliederungen hat. ({2}) Ich habe nicht mehr die Zeit, um über Bildung und Bildungsinhalte zu sprechen, deshalb nur noch ein letztes Wort: Es ist außerordentlich wichtig, dass wir nicht nur die Form, die Methode und die Modernisierung der Bildung besprechen, sondern dass wir auch die Ergebnisse einer Untersuchung über jugendliche Gewalttäter berücksichtigen, die festgestellt hat: Ihnen allen war gemein, dass sie keinen intensiven Kontakt zu musischer Bildung hatten. ({3}) Ich halte den Satz von Otto Schily, dass die Schließung einer Musikschule ein Angriff auf die öffentliche Sicherheit ist, für eine kluge und bedenkenswerte Aussage. ({4}) Das gilt auch, Herr Ministerpräsident - Sie sind als großer Landesvater gerühmt worden -, für die Schließung oder die Fusion von Theatern, beispielsweise in Weimar, und für die Schließung von Bibliotheken. Dieser Satz spricht gegen die Streichung aller Einrichtungen, in denen sich Jugendliche treffen und sich ohne den Druck einer nur leistungs- und stressorientierten Gesellschaft beschäftigen können. Vielen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher.

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ereignisse am Gutenberg-Gymnasium dürfen nicht zu Aktionismus führen, sie dürfen aber auch keine Lähmung verursachen. Ja, Herr Ministerpräsident Vogel, auch mich haben die von Ihnen zitierten Worte der Schülerin des GutenbergGymnasiums tief beeindruckt. Diese Worte fordern uns heute regelrecht zu unserer Diskussion heraus, um über die Art zu befinden, in der wir miteinander umgehen und miteinander leben. Wir müssen uns fragen, welche Werte unsere Gesellschaft tragen und welche Bedeutung Familie, Erziehung und Bildung haben. Darüber ist die Diskussion in den Familien, in den Schulen, in den Vereinen und Verbänden, in den Kommunen und Landtagen, im Bundesrat, aber auch hier im Deutschen Bundestag zu führen. Die Ursachen der Gewalt sind vielfältig und komplex. Deshalb muss die Bekämpfung der Gewalt auch entsprechend umfassend sein. Zu den wichtigsten Ursachen der Gewalt gehören auch und in besonderem Maße in den neuen Bundesländern Arbeitslosigkeit und damit vorhandene Perspektivlosigkeit der Jugend, Gewalt in den Medien sowie Gewalt und Lieblosigkeit in der Erziehung. Der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit wird nur erreicht werden können, wenn die Rahmenbedingungen am Standort Deutschland wieder stimmen. Dies kann nur durch einen konsequenten Bürokratieabbau, eine umfassende Arbeitsmarktreform, ein vereinfachtes Steuersystem, aber im Besonderen durch eine mutige Bildungsreform erfolgen. ({0}) Mittelständische Unternehmen müssen besonders in den jungen Bundesländern wieder stärker unserer jungen Generation eine berufliche Erstausbildung ermöglichen und ihnen nach der Ausbildung ein Beschäftigungsverhältnis anbieten. Meine Damen und Herren, die zentrale Bedeutung, die der Familie bei der Bekämpfung der Jugendgewalt zukommt, ist unbestritten. Die schwere Aufgabe der Erziehung muss endlich mehr Anerkennung in der Gesellschaft finden und sich in den von den Medien vermittelten Leitbildern widerspiegeln. Wenn Eltern ihren Kindern Verständnis und Zuneigung entgegenbringen, ihnen Geborgenheit und Selbstvertrauen, aber auch die notwendigen Grenzen vermitteln, dann bestehen gute Chancen, dass diese Jugendlichen so viel Charakter entwickeln, dass sie auch Frustrationen gewachsen sind, ohne Gewalt als Ausweg zu sehen. ({1}) Wir sollten nicht von Jugendgewalt sprechen, ohne auch den Aspekt der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu betrachten. Die Statistik zeigt deutlich, dass Kinder, die Gewalt in der Familie erleben, später häufig selbst Täter werden. Das im Sommer 2000 mit Unterstützung der FDP vom Bundestag verabschiedete Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung macht unmissverständlich klar, dass Gewalt in der Erziehung nichts, aber auch gar nichts zu suchen hat. ({2}) Meine Damen und Herren, eine bedeutende Rolle kommt den Schulen zu. Kinder müssen nicht nur Faktenwissen vermittelt bekommen, sondern auch im Hinblick auf ihren Charakter und auf Selbstvertrauen gebildet werden. Sie müssen früh lernen, Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört auch, die Grenzen der eigenen Freiheit zu erkennen. Freiheit und Verantwortung müssen beim Schüler ein sich ergänzendes Wertepaar sein. Die Aufgabe der Schule ist es, die Schüler dabei zu unterstützen, moralische Urteilsfähigkeit zu gewinnen, Werte aufzubauen und sie zur Orientierungsgrundlage für den eigenen Lebensentwurf zu machen. Schüler müssen besonders in den unteren Klassenstufen individueller, differenzierter und nachhaltiger ausgebildet werden. ({3}) Dazu ist es dringend notwendig, darüber nachzudenken, wie die Schülerzahlen gerade in den Klassenstufen 1 bis 4 reduziert werden können. ({4}) Bei der gegenwärtigen demographischen Entwicklung wäre dies ohne den in vielen Ländern geplanten Lehrerabbau durchaus umzusetzen. Meine Damen und Herren, zum Schluss sage ich ein Wort zu Prüfungen und Abschlüssen: Die FDP fordert, dass dem Schüler nach Abschluss eines Bildungsweges auch bei erfolgloser Abschlussprüfung ein Zertifikat über den Besuch von Klassenstufen und den dabei erzielten Erfolg ausgestellt wird. Mit diesem Leistungsnachweis kann er seine Ausbildung an jeder weiterbildenden Lehranstalt fortführen. Eine Bildungsreform in diesem Sinne ist auch zum Abbau von Aggressivität dringend notwendig. Machen wir es! ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die PDS-Fraktion spricht die Kollegin Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohl wahr, es ist Nachdenken angesagt. Daher möchte ich noch einmal den Sommer 2000 reflektieren, als die Bundesregierung, Parteien, Kirchen und Medien anfingen, endlich gegen Neonazi-Aufmärsche zu mobilisieren, Geld für Antifa-Initiativen zur Verfügung zu stellen und den Neonazis den Kampf anzusagen. Dies geschah zur Freude auch jener jungen Menschen, die sich bereits seit vielen Jahren gegen Neonazis engagierten und sich gegen den alltäglichen Naziterror auf der Straße wehren mussten. Inzwischen spricht man aber in manchen antifaschistischen Kreisen vom „kurzen Sommer der StaatsAntifa“. Es ist von diesem Engagement, vom Aufstand der Anständigen, nicht viel übrig geblieben. Was nutzen Bekenntnisse gegen rechte Gewalt, wenn beispielsweise vor ein paar Wochen in Zittau der Stadtrat beschlossen hat, einer militanten Neonazi-Gruppe ein Haus zur Verfügung zu stellen, von dem aus sie weiter ihre gewalttätigen Übergriffe planen kann? ({0}) Nach wie vor dominieren Neonazis ganze Ortschaften in Ostdeutschland und verhindern, dass Ausländer und Linke sich frei bewegen können; nach wie vor gibt es dort auch viele Straftaten. Die Initiativen konnten meines Erachtens nicht wirken, weil die Analyse der Ursache von Gewalt verkehrt war. ({1}) Das Problem des Rechtsextremismus wurde eindimensional auf Gewalt reduziert. Ich möchte das Gewaltproblem nicht klein reden, zumal ich selbst einige Erfahrungen mit Neonazis machen musste. ({2}) Aber die Grundlage dieser Gewalt sind rechtes Gedankengut und Werte wie Intoleranz, Nationalismus, Militarismus und Rassismus. Aus solchen Werten entstehen gewalttätige Einstellungen. ({3}) - Ich will Ihnen mal was sagen: Wenn Sie durch eine Ortschaft gehen und so wie ich von einem Neonazi zusammengeschlagen werden, dann reden Sie über Gewalt und die damit zusammenhängenden Probleme ganz anders. Diese Intoleranz und diese Gewalt müssen hier thematisiert werden. Sind Sie schon einmal durch Deutschland gegangen und niedergeschlagen worden? Sind Sie schon einmal Zug gefahren und mussten aus dem Zug aussteigen, weil Sie so aussehen, wie Sie aussehen, und nichts anderes als einfach Ihr Aussehen das Problem war? ({4}) Denken Sie einmal darüber nach! ({5}) Deswegen muss in der Öffentlichkeit über Rassismus geredet werden. Man muss auch darüber reden, dass Sie Unterschriftensammlungen gegen Ausländer durchgeführt haben. Auch dies ist Grundlage für rassistische Gewalt. Da kann man lange darüber reden, dass man gegen Gewalt ist. Dies ist wenig glaubwürdig, wenn man selber die Grundlage dafür legt. ({6}) Nun fragen Sie sich vielleicht, weshalb ich dies noch einmal im Zusammenhang mit dem 19-jährigen Täter aus Erfurt thematisiere. Ich thematisiere dies erstens, weil man nicht über Gewalt reden kann, ohne rassistische Gewalt zu erwähnen, und zweitens, weil über Jugendgewalt immer sehr verkürzt geredet wird. Man verschärft das Waffenrecht, will Gewaltfilme und auch Computerspiele verbieten. Dazu sage ich Ihnen: Das wird nicht ausreichen. Ich glaube sogar, dass es an vielen Stellen nicht nutzen wird. Wer meint, ein Motiv für Gewalt zu haben, der braucht keine Schusswaffe. Er kann sich ein Küchenmesser suchen oder aus Flaschen Molotowcocktails bauen und wir können weder das Küchenmesser noch die Flaschen verbieten. Gewaltdarstellungen gibt es nicht nur im Kino oder in Videofilmen, sondern natürlich auch in jeder Nachrichtensendung. Damit Sie nicht gleich bei mir wieder so aufjaulen, verweise ich auf die Bundesschülerinnenvertretung, die dies bei der Anhörung zum Jugendschutz mit thematisiert hat. Dort wurde gesagt, dass Krieg und Gewalt auch in Deutschland wieder zu Mitteln der Konfliktlösung geworden sind. Natürlich wird auch durch Krieg Gewalt salonfähig gemacht. ({7}) In dieser Gesellschaft gibt es aber auch andere und unterschiedlichste Formen legitimierter Gewalt. Man kann nicht grundsätzlich und schon gar nicht moralisch gegen Gewalt argumentieren, wenn man sie an anderer Stelle selber fordert oder toleriert. Ich nehme für mich in Anspruch, einen anderen Ansatz zu haben. Natürlich lehne ich das Steinewerfen ab. Ich lehne auch Gewaltfilme und den Waffenverkauf an Jugendliche ab. Ich lehne aber auch den Waffenverkauf an Erwachsene ab. ({8}) Ich lehne es auch ab, dass Erwachsene Jugendlichen, die jünger sind als der Mörder von Erfurt, im Rahmen des Militärdienstes das Schießen und Töten mit der Waffe beibringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen - die Kollegin Vollmer hat es hier schon angesprochen -, es geht auch um die Bilder, die vermittelt werden. Ich möchte hier einmal über diese Bilder sprechen: Ich erinnere mich an ein Foto, auf dem Otto Schily mit erhobenem Schlagstock in die Kamera lächelte. Ich erinnere mich an das Bild, auf dem Herr Merz in Mazedonien fröhlich aus einem Panzer winkt. Ich erinnere mich an Herrn Möllemann, der Verständnis für Selbstmordattentäter äußerte. Ich denke an einen Außenminister, der sagte, er sei kein Pazifist. Ich will damit sagen, dass das Problem Gewalt natürlich nicht nur Jugendliche betrifft, auch wenn Filme sicherlich dazu geeignet sein können, dass das Verhältnis zu Gewalt negativ beeinflusst wird. Dennoch glaube ich, dass jeder Politiker und jede Politikerin genau aufgrund der von mir genannten Beispiele einmal darüber nachdenken sollte, welche Bilder wir selber erzeugen, welche Bilder dahinter stecken, wenn man sich beispielsweise mit einem Schlagstock öffentlich präsentiert. Der beste Schutz vor Jugendgewalt ist, so denke ich, Jugendliche nicht zu entmündigen, sondern ihr VerantAngela Marquardt wortungsbewusstsein und ihre Selbstständigkeit zu stärken. Ich glaube, dass Verbote, Repressionen und Einschränkungen nicht der richtige Weg sind. Das Vorleben - das ist bereits angesprochen worden - ist wichtig. Deswegen will ich Ihnen ein wenig schmunzelnd etwas von Mark Twain mit auf den Weg geben: Erziehung ist organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Christoph Matschie für die SPD-Fraktion das Wort.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum Anlass unserer Debatte, zu der grausamen Gewalttat eines Schülers am 26. April dieses Jahres in Erfurt, zurückkommen. Dies war eine Tat, die wir nicht wirklich erklären können. Es gibt keine klar zugrunde liegende Kette von Ursachen und Wirkungen. Deshalb gibt es - das muss man eingestehen - auch keine Sicherheit, so etwas in Zukunft verhindern zu können. Dennoch - dies möchte ich besonders an Frau Merkel gerichtet sagen - erwächst gerade aus dieser Tat in Erfurt eine doppelte Verpflichtung für all diejenigen, die politische Verantwortung tragen, nämlich die Verpflichtung, die Frage nach den Ursachen von Gewalt immer wieder neu zu stellen, und die Verpflichtung, zu fragen, was politisches Handeln zur Eindämmung von Gewalt in unserer Gesellschaft beitragen kann. ({0}) Ich will mich heute dabei besonders auf die Schule konzentrieren. Eine Nachricht hat mich in diesem Zusammenhang schockiert: Allein in Thüringen sind mittlerweile mehr als 80 Drohungen so genannter Trittbrettfahrer aktenkundig. Jugendliche drohen ihren Lehrern mit Erfurter Verhältnissen, sie prahlen vor ihren Mitschülern mit dem Besitz von Waffen. Mit dem Thema Gewalt an Schulen müssen wir uns aber nicht erst seit dem Amoklauf in Erfurt auseinander setzen. Auch in Thüringen ist die Reihe alarmierender Gewaltausbrüche lang. Vorgestern sind in Sondershausen zwei Schüler verurteilt worden, die im Januar eine Lehrerin vor der Klasse mit dem Messer bedroht hatten, weil sie wegen Störung des Unterrichts aus dem Schulgebäude verwiesen worden waren. Im Mai wurde eine Schülerin aus Weimar verurteilt, weil sie nach einem Schulverweis an vier Stellen einer voll besetzten Schule Feuer gelegt hatte. Nur glückliche Umstände und ein beherztes Eingreifen von Schülern verhinderten, dass jemand zu Schaden kam. Die Ursachen für solche Gewalt liegen in den seltensten Fällen klar und eindeutig auf der Hand. Häufig sind dabei viele sich wechselseitig verstärkende Faktoren im Spiel. Trotzdem dürfen wir uns hinter dieser Komplexität nicht verstecken. ({1}) Im Geflecht der Ursachen und Erklärungen sind klare Ansatzpunkte für ein politisches Handeln zu erkennen. Keiner dieser einzelnen Ansätze kann das Problem von Gewalt in der Gesellschaft für sich genommen lösen. Gemeinsam können sie aber zur Eindämmung von Gewalt beitragen. Deshalb wäre es falsch, hier einzelne Instrumente gegeneinander auszuspielen. Als Reaktion auf die Gräueltat in Erfurt war es richtig, das Waffengesetz unmittelbar zu verschärfen. Es war gut so. ({2}) Zur Aufrichtigkeit gehört aber auch, in diesem Hause noch einmal daran zu erinnern, dass dieser Verschärfung des Waffenrechts ein jahrelanger Streit vorausgegangen ist und dass die Union eine solche Verschärfung vorher verhindert hatte. ({3}) Der Besitz einer Waffe darf kein Kinderspiel sein. Ich kann es nicht nachvollziehen, dass einzelne Schützen und Waffenfreunde gegen die Verschärfung des Waffenrechts heute mobilmachen. Die Sicherheit der Gemeinschaft muss Vorrang vor jedem Interesse eines Waffenbesitzers haben. ({4}) Es war richtig, auf die Einschränkung von Gewalt in den Medien zu drängen. Auch die Schule selbst muss aber noch einmal stärker in unser Blickfeld rücken. Es ist schon gesagt worden, dass dabei die Konsequenzen aus der PISA-Studie und aus Erfurt miteinander verbunden werden müssen. Das ist keine einfache Aufgabe; ihre Bewältigung wird Zeit brauchen. Klar ist aber schon jetzt: Die Bewältigung dieser Aufgabe wird nur gelingen, wenn wir das Hühnerhofdenken in der Bildungspolitik überwinden und zu einer gemeinsamen nationalen Anstrengung für eine bessere Bildung in Deutschland kommen. ({5}) Neben dieser großen gemeinsamen Herausforderung, für die wir uns die nötige Zeit nehmen sollten, gibt es manche Bereiche in der Schulpolitik, die unmittelbar entschieden werden können. Ich sage das hier mit aller Deutlichkeit: Der Amoklauf von Erfurt hat uns noch einmal mit aller Brutalität auf das Problem fehlender Schulabschlüsse in Thüringen gestoßen, ({6}) das offenbar ein Hintergrund für den Amoklauf und auch für den Brandanschlag auf die Schule in Weimar gewesen ist. ({7}) Ich sage das hier ganz klar: Ich bedauere es außerordentlich, dass dazu noch keine Entscheidung im Thüringer Landtag gefallen ist. ({8}) Wenn so offenkundig notwendige und breit getragene Änderungen nicht zeitnah entschieden werden, führt das bei den Betroffenen nur zu einem weiteren Verlust des Vertrauens in die Handlungsfähigkeit der Politik. ({9}) Gerade vor dem Hintergrund unserer heutigen Debatte müssen wir als politische Verantwortungsträger dafür Sorge tragen, dass das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Demokratie gestärkt wird. Wir müssen dazu beitragen, dass Frustration, Ohnmachtsgefühle und Ausgrenzungen nicht verstärkt, sondern abgebaut werden. Das ist unsere politische Aufgabe. ({10}) Ich komme noch einmal auf die Schule zurück. Es war hier viel von Vermittlung von Werten die Rede. Ich finde es richtig, dass wir darüber diskutieren. Ich gehöre allerdings nicht zu denen, die der Überzeugung sind, dass in unserer Gesellschaft Mitmenschlichkeit und Wertorientierung den Bach hinuntergehen. Wer die gemeinsame Trauer um die Opfer in Erfurt erlebt hat, konnte spüren, dass Mitmenschlichkeit, Wärme und Solidarität in dieser Gesellschaft herrschen. Als Thüringer Abgeordneter bin ich für diese Erfahrung dankbar. ({11}) Wer Werte vermitteln, wer erziehen will, braucht Autorität; das ist eine einfache Weisheit. Es ist sicher richtig: Lehrer haben nur so viel Autorität, wie wir ihnen als Gesellschaft geben. Wenn die Gesellschaft Lehrer als Fußabtreter der Nation behandelt, dann werden auch Schüler Lehrer immer wieder so behandeln. ({12}) Aber zu dem Schritt, Lehrern einen höheren Wert in der Gesellschaft einzuräumen und ihre Erziehungskompetenz zu stärken, gehört auch, darüber nachzudenken, wie das Miteinander von Schülern, Eltern und Lehrern in der Schule besser organisiert werden kann, wie demokratische Prozesse an der Schule gestärkt werden können, wie Problemlösungskompetenz an unseren Schulen eingeübt werden kann. ({13}) Schule ist Bildungsstätte und Ort sozialer Erfahrung und Prägung. Beides muss im Blick bleiben, wenn wir über die Konsequenzen aus der PISA-Studie beraten. Für beides muss Raum sein. Für beides müssen wir die notwendigen Voraussetzungen schaffen. Ich denke, die zusätzlichen Mittel des Bundes helfen bei der Bewältigung dieser Aufgabe. Ich kann es nicht verstehen, dass die erste Reaktion auf das Angebot des Bundes, mehr für Ganztagsbetreuung zu tun, Störfeuer aus einzelnen Ländern und der Hinweis waren, das liege nicht in der Kompetenz des Bundes. So dürfen wir mit Bildungspolitik und Schule nicht umgehen. ({14}) Lassen Sie mich zum Schluss noch eines zu bedenken geben. Am 11. Mai wurde der Amokschütze von Erfurt an einem unbekannten Ort beigesetzt. Nichts soll an ihn erinnern: kein Grabstein, kein Kreuz. Sein Name wird mit der Zeit wahrscheinlich in Vergessenheit geraten. Die entsetzliche Tat dürfen wir aber nicht vergessen. Wir haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Tat nicht in Vergessenheit gerät und dass die Mahnung, die von Erfurt ausgeht, nicht im Nirgendwo der politischen Debatte untergeht, sondern dass diese Mahnung in Konsequenzen und politischen Entscheidungen endet. Das sind wir den Opfern schuldig. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht die Kollegin Maria Eichhorn.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aggressive und gewalttätige Jugendliche werden nicht als solche geboren. Aufgerüttelt durch die schrecklichen Ereignisse am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt rückt die Frage nach den Gründen von Gewalt wieder verstärkt ins Blickfeld. In Politik und Gesellschaft wird über Ursachen und Bekämpfungsmöglichkeiten diskutiert. Wieso ist ein wachsender Anteil von Jugendlichen bereit, sich durch Gewalt vermeintliche Anerkennung zu verschaffen? Gewalt kommt nicht von ungefähr und entsteht nicht im luftleeren Raum. Es gibt zum Beispiel die familiäre Situation. Familiärer Stress, der aus Arbeitslosigkeit entsteht, schürt Konflikte. Auch Spannungen, die durch eine zerbrochene Ehe oder Partnerschaft entstehen, werden auf dem Rücken der Kinder ausgetragen. Kinder brauchen Grenzen. Daher ist es wichtig, dass Eltern Nein sagen können. In vielen Familien herrscht Sprachlosigkeit. Statt etwas miteinander zu unternehmen oder miteinander zu sprechen, werden die Kinder vor dem Fernseher abgestellt. Aber Erziehung setzt Beziehung voraus. ({0}) Im Zusammenhang mit Erfurt wird viel über Schule gesprochen. Unter- oder Überforderung der Schüler, Versagensängste oder ein schlechtes Schulklima sind ein Saatboden für Gewalt. Viele Kinder und Jugendliche haben nicht gelernt, mit Konflikten umzugehen. Sprachlosigkeit im Elternhaus, Anonymität der Schule oder des Wohnumfeldes machen sie anscheinend hilflos. Sie flüchChristoph Matschie ten dann in die Gewalt. Der gesellschaftliche Druck ist enorm. Aber es wäre zu einfach, Gewalt nur mit Einflüssen von außen erklären zu wollen. Wir müssen für die nachwachsende Generation Perspektiven schaffen. ({1}) Wenn 15-, 16-Jährige oder Abiturienten nach Beendigung der Schule auf der Straße stehen, ist das das Schlimmste, was ihnen passieren kann. Ausbildung und Arbeit geben jedem Menschen, insbesondere den jungen Menschen, einen Sinn. Sie spüren, dass sie in dieser Gesellschaft gebraucht werden. Deswegen ist die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit besonders wichtig. ({2}) Bildung und Erziehung heißen für uns, den jungen Menschen zu vermitteln, dass das Leben mehr als Konsum und Erfolg bietet. Ohne eine Vermittlung von Grundwerten, an denen sich ein Mensch bereits als Kind orientieren kann, ist es schwierig, sich in dieser fordernden Welt zurechtzufinden. Was aber können wir tun? Es gibt sicherlich verschiedene Ansatzpunkte, um der Gewalt von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft zu begegnen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt ist ohne eine Diskussion über Wertvorstellungen nicht möglich. Eine Intervention gegen Gewalt ist vor allem dann erfolgversprechend, wenn sie möglichst früh einsetzt. Das heißt, dass Prävention nötig ist. Prävention bedeutet, Jugendliche gegenüber Gewalt zu stärken. Dazu gehört die Vermittlung von Werten. Diese erfolgt in erster Linie im Elternhaus. Kinder machen in der Familie ihre ersten Erfahrungen, wie Menschen miteinander umgehen. Dadurch werden sie auf Dauer geprägt. Kinder brauchen feste innerfamiliäre Beziehungen, die auch Belastungen standhalten. Damit erhalten sie das notwendige Selbstwertgefühl und Vertrauen in die Zukunft. Eltern sollten den Kindern gegenüber Partner sein, aber auch eine Autorität darstellen, die Grenzen setzt. Die Vermittlung von Werten wie Toleranz, Aufrichtigkeit und Respekt gehört untrennbar zur Erziehung. Das gilt auch für Zivilcourage, Verantwortungsbewusstsein und Verlässlichkeit. Die Achtung des anderen und die Anerkennung der menschlichen Würde bilden nach meiner Überzeugung wichtige Grundlagen für die Zukunft einer friedvollen Gesellschaft. Die moderne Arbeitswelt mit ihrem verstärkten Druck fordert auch von den Familien ihren Tribut. Die meisten Eltern wollen für ihre Kinder nur das Beste und dennoch - oder gerade deshalb - sind sie oft verunsichert. Daher müssen wir sie unterstützen. Dafür gibt es verschiedene Maßnahmen. Jungen Eltern oder jungen Paaren können in bereits bestehenden Einrichtungen konkrete Tipps zur Erziehung und Hilfe angeboten werden. Von besonderer Bedeutung ist die bessere Vernetzung aller an der Erziehung der Kinder beteiligten Personen: der Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sowie der Erzieherinnen und Erzieher. Durch die Zusammenarbeit zwischen dem Elternhaus und allen Einrichtungen vor Ort, die mit Familien zu tun haben, können Probleme frühzeitig erkannt werden. Um der Gewalt zu begegnen, ist neben der Erziehung auch der Bildung der Kinder und Jugendlichen ein stärkeres Gewicht beizumessen. Bildung, Erziehung und Ausbildung müssen als Einheit begriffen werden. Jedes Element für sich ist wichtig, aber erst das Zusammenspiel ist die angemessene Antwort auf die Gewalttendenzen, die sich nicht erst jetzt abzeichnen. Unsere Bildungs- und Erziehungseinrichtungen haben nicht nur einen Bildungs-, sondern auch einen Erziehungsauftrag. Das ist zugegebenermaßen in großen Klassen nicht immer einfach. Das Gleiche gilt auch für Schulen, in denen ein Großteil der Schüler nicht ausreichend Deutsch sprechen kann. Aber gerade hierbei helfen Respekt und Achtung Lehrern und Mitschülern gegenüber, dem Erziehungs- und Bildungsauftrag nachzukommen. Bildungs- und Erziehungsziele, die besonders zum Wertebewusstsein beitragen, müssen wir stärken. Ich meine damit nicht nur Religion, Philosophie oder ethische Grundfragen, sondern auch eine Neuorientierung politischer Bildung und Erziehung. Die nachwachsende Generation wird dadurch die Bereitschaft entwickeln, die großen gesellschaftlichen, sozialen, technologischen und kulturellen Fragen anzugehen. Sie wird damit für die Gesellschaft eintreten, die von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Ächtung jeglicher Gewalt geprägt ist. Bildung und Erziehung müssen im Elternhaus, in Schule und Hochschule wieder die Bedeutung der Verantwortung für das eigene Leben, aber auch für das Leben anderer und für die Zukunft unserer Gemeinschaft fördern. Die Erziehung zu einer selbstbewussten Persönlichkeit, zum mündigen Menschen kann nur gelingen, wenn Werte und Einstellungen vorgelebt werden. Das gute Beispiel der Eltern und aller anderen an der Erziehung Beteiligten ist durch keine noch so gute Theorie zu ersetzen. ({3}) Zum Bildungs- und Erziehungsprozess gehört auch die Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, mit anderen Einstellungen und Mentalitäten. Kinder und Jugendliche müssen lernen, diese Unterschiede auszuhalten. Dieser Bildungs- und Erziehungsauftrag muss sich selbstverständlich in den Lehrplänen widerspiegeln: bei den Regelschulen und bei den Ganztagsschulen. Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, jedoch in Ihrem Antrag so tun, als würde der Ausbau der Ganztagsschulen allein die Möglichkeit bieten, sinnvolle pädagogische Konzepte zu entwickeln, liegen Sie falsch. ({4}) - Das steht in Ihrem Antrag. Neben all dem darf man eines nicht vergessen: Kinder und Jugendliche sind tagtäglich einer Vielzahl von Gewaltdarstellungen ausgesetzt. Der Jugendmedienschutz wurde aufgrund der Ereignisse von Erfurt vor kurzem sehr schnell geändert. Doch das reicht nicht. Leider ist die Bundesregierung unseren weitergehenden Forderungen nicht gefolgt. Es sind ja einige unserer Forderungen heute schon angeführt worden. ({5}) Es gibt inzwischen eindeutige wissenschaftliche Hinweise, dass auch virtuelle Gewalt in erschreckender Weise abstumpfen lässt. Als Folge davon gehen Mitgefühl und Mitleidensfähigkeit verloren. Das dürfen wir doch nicht einfach hinnehmen. ({6}) Wir müssen Kinder und Jugendliche vor diesen Einflüssen so weit als möglich schützen. Meine Damen und Herren, der Anlass, der zu dieser Debatte geführt hat, ist außergewöhnlich erschreckend und traurig. Trost wird es für die Hinterbliebenen der Opfer nicht geben. Dennoch liegt in der Diskussion über Erfurt eine große Chance, damit sich ein solcher Wahnsinn nicht wiederholt. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Michael Müller.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Von Max Frisch stammt der Satz: Sie nennen es Schicksal, um nicht zu fragen, wie es dahin gekommen ist. Wenn die Debatte einen Sinn haben soll, dann müssen wir diesen Satz von Max Frisch ernst nehmen. Wir müssen fragen, wie es dahin gekommen ist, wie Gewalt entsteht. Wir wissen, dass die Bändigung von Gewalt die zentrale Frage jeder Zivilisation ist. Inwieweit wir fähig sind, Gewalt zu bändigen, ist nach Norbert Elias quasi der Lackmustest für den Stand einer Zivilisation. Deshalb, meine Damen und Herren, muss man sehen, dass es seit einiger Zeit und nicht nur wegen Erfurt zunehmend alarmierende Tendenzen gibt: den Verlust an Wertbindungen, an so genannten Ligaturen, Auflösungsprozesse in der Gesellschaft, die zu neuen Formen von Gewalt führen, wovon wir in Erfurt aus meiner Sicht nur ein besonders extremes Beispiel erlebt haben. Es geht also um sehr viel tiefer gehende Prozesse, wie Wilhelm Heitmeyer zu Recht sagt, um Reaktionen auf völlig veränderte soziale Erfahrungen. Darum geht es in erster Linie: um völlig veränderte soziale Erfahrungen, die Gewalt zum Ausbruch kommen lassen. Deshalb ist es falsch, schnell einfache Erklärungen zu geben wie beispielsweise den Hinweis auf Medienkonsum oder Schule oder was auch immer. Das alles sind wichtige Einzelfaktoren, aber sie allein erklären Gewalt noch nicht. ({0}) Es geht um die Frage, welche sozialen Erfahrungen, welche sozialen Perspektiven vor allem junge Leute heute haben. Das ist der Kern. Viele Studien weisen darauf hin, dass wir erleben müssen, dass vor allem bei Jugendlichen, aber nicht nur bei ihnen, erstens die Desintegrationsprozesse zunehmen, und zweitens, dass sich zunehmend, und zwar sehr zugespitzt, die Frage nach der Identität stellt. Deshalb hat aus meiner Sicht Wilhelm Heitmeyer Recht, wenn er sagt, dass die eigentliche Aufgabe, die sich an die Gesellschaft richtet, ist, wie wir eine neue Kultur der Anerkennung schaffen, wie wir also die Würde des Menschen im umfassenden Sinne akzeptieren und zur Geltung bringen. Um es auf den Punkt zu bringen: Die Verhinderung von Gewalt ist in erster Linie eine soziale Herausforderung. ({1}) Eric Dunning, einer der Mitarbeiter von Norbert Elias, hat auf einen sehr dramatischen Punkt hingewiesen. Er hat die Entwicklung der Gewalt seit dem 12. Jahrhundert am Beispiel des Sports beschrieben. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die moderne Gesellschaft beispielsweise beim Fußballsport zwar sehr viel professioneller und internationaler geworden sei, dass aber der moderne Fußball auch das Phänomen des Hooliganismus, also neue Formen von Gewaltexzessen, hervorgebracht habe, die nicht einfach mit Erziehung, sondern in erster Linie mit tief greifenden sozialen Veränderungen - so sieht Dunning das zu erklären seien, die durch den Verlust an Anerkennung und an persönlichen Möglichkeiten der Entfaltung sowie vor allem durch den Verlust von sozialen Perspektiven hervorgerufen würden. Deshalb müssen wir, wenn wir über das Thema Gewalt diskutieren, die Frage einbeziehen, was in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird. Ralf Dahrendorf - das kennen Sie vielleicht - beschreibt, dass wir davor hat er Angst - in ein autoritäres Jahrhundert hineingeraten werden, wenn es uns nicht gelingt, die sozialen Bindungen zu festigen, und wenn wir nicht zu einer neuen Politik der Freiheit und der Vielfalt fähig sind. Deshalb geht angesichts der Tatsache, dass uns unter den Bedingungen der Globalisierung und Europäisierung zunehmend die Frage nach der Identität unserer Gesellschaft und des Einzelnen gestellt wird, die Suche nach den Ursachen für das Ausbrechen von Gewalt weit über das Bildungssystem hinaus. ({2}) Dabei geht es auch um die Frage der Kultur und der Zivilität moderner Gesellschaften. ({3}) Ich finde es richtig, dass wir über Bildung reden. Aber es bringt beispielsweise nichts, in den Schulen nur über Werte zu reden, wenn die Jugendlichen sie nicht auch in ihrem Alltag, in der sozialen Welt, erfahren. Deshalb müssen wir folgende Fragen beantworten: Wie können wir mit den großen Herausforderungen der Zukunft, also mit der neuen Ungleichheit, die sich unter den Bedingungen der Globalisierung zuspitzt, auf soziale Weise fertig werden? Wie können wir beispielsweise den Verlust an Identität überwinden, der durch den Prozess der Erweiterung Europas verursacht wird? Wie können wir es verhindern, dass die Menschen in dem Prozesses von Desintegration und Identitätsverlust ihre Heimat in ethnischen oder nationalistischen Identitäten suchen, die falsch sind, weil wir gesellschaftliche Identitäten brauchen? Diese Fragen werden künftig für die Demokratie existenziell werden. Wenn man nicht nur den Fall in Thüringen, sondern auch das Ausbrechen von Gewalt in anderen Ländern genauer untersucht, dann stellt man fest, dass auch das Gefühl von Unterlegenheit und Perspektivverlust zu Gewalt geführt hat. Die politische Kernfrage, die wir aus den gewalttätigen Vorkommnissen ableiten müssen, lautet: Wie können wir die Integrationskräfte stärken, eine Kultur der Anerkennung schaffen und die sozialen Identitäten bewahren? ({4}) Zusammenfassend möchte ich sagen: Ich glaube, Umberto Eco hat in seinem lesenswerten Essay zum 11. September - ich möchte daran erinnern, dass das, was damals geschah, auch eine Form von entfesselter Gewalt war - Recht. Er hat darauf hingewiesen, dass Strukturen geschaffen werden müssen, die den Menschen ermöglichen zu erkennen, wohin sie gehörten, dass sie ernst genommen würden, und die deutlich machen, wohin die weitere Entwicklung geht. Das sind die drei zentralen Punkte. Es ist keine Frage bloß der Erziehung - das geht weit darüber hinaus; wiewohl ich auch sehr dafür plädiere, dass die Lehrer keine modernen Akkordarbeiter werden und dass sie wieder mehr Zeit finden, um in den Schulen auch soziale und persönliche Fragen zu erörtern -, sondern in erster Linie eine Herausforderung an die Politik, unter den künftigen Bedingungen der globalen Welt neue soziale und kulturelle Identitäten zu schaffen, die es den Menschen ermöglichen zu erkennen, wohin sie gehören. Vielen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Kerstin Griese.

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als im April 1999 im amerikanischen Littleton zwei Schüler ein Blutbad angerichtet haben, haben wir alle fassungslos nach Amerika geschaut und uns gefragt: Ist so etwas auch bei uns möglich? Leider mussten wir diese Frage bejahen. Deshalb treibt uns die Frage um: Was sind die Ursachen und Hintergründe von Gewalt? Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen, und teile nicht die Einschätzung, die hier von Frau Merkel geäußert wurde: Wer nach den Ursachen fragt, würde rechtfertigen. Wir müssen schauen, wo Gewalt in der Gesellschaft ist. Unsere Debatte „Gewalt und Gesellschaft“ zeigt, dass Gewalt überall vorkommen kann, dass sie nicht auf „Gewalt von Jugendlichen“ verkürzt werden darf, dass Gewalt in den Familien, in den Schulen, auf der Straße, im Beruf, in den Medien vorkommen kann. Deshalb brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens. Es reicht nicht, allgemein Werte zu propagieren; man muss auch sagen, um welche Werte es eigentlich geht. ({0}) Der gesellschaftliche Konsens muss heißen: Zusammenhalt fördern und Gewalt ächten. Das sind Werte, mit denen man auch inhaltlich arbeiten kann, die man als Ziel vertreten kann. Schülerinnen und Schüler haben mir nach dem Amoklauf von Erfurt oft gesagt, dass eine ähnliche Tat auch an ihrer Schule passieren könnte. Diese Schonungslosigkeit, mit der Schülerinnen und Schüler gesagt haben: „Das könnte auch bei uns passieren“, macht deutlich, wie ernst wir das nehmen müssen und wie viel Ängste es in den Schulen gibt. Es macht auch deutlich, dass wir in unserer Verantwortung als Politiker nicht nur appellieren, sondern auch handeln müssen. Wir müssen Impulse geben, damit sich das gesellschaftliche Bewusstsein ändert. Ich will einige der Impulse, die wir zu geben versucht haben, nennen. Das Wichtigste ist schon genannt worden, nämlich das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Ich halte es für einen ganz großen Fortschritt, dass endlich eindeutig klargestellt ist, dass Gewalt kein geeignetes Erziehungsmittel ist. ({1}) Kinder, die von ihren Eltern ohne Schläge und ohne Gewalt erzogen werden, werden besser in der Lage sein, anderen gegenüber tolerant zu sein und Konflikte gewaltfrei zu lösen. Wir sind uns sicher: Kinder und Jugendliche brauchen Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Dort, wo sie benachteiligt sind, wo sie keine Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten haben, wo sie keine Perspektiven haben, können Frustration, Aggression und Perspektivlosigkeit entstehen. Aus ebendieser Perspektivlosigkeit kann - muss nicht - die Flucht in gewalttätiges Verhalten resultieren. Deshalb ist es uns so wichtig, den sozialen Schutz, die soziale Sicherheit und die Chancen von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Wir haben als Politiker die Verantwortung, günstige Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Sie wachsen natürlich zuallererst in der Verantwortung der Familie, aber eben auch - das hat der 11. Kinder- und Jugendbericht in den Mittelpunkt gestellt - in öffentlicher Verantwortung auf. Sozialer Schutz und Sicherheit für Kinder und Jugendliche sind Werte, die uns wichtig sind. Sie sind wichtig für die Zukunft unserer Michael Müller ({2}) Gesellschaft und für ein Klima, in dem Gewalt keine Chance hat. Wenn wir dort ansetzen wollen, wo Kinder und Jugendliche benachteiligt sind, dann müssen wir beispielsweise in den sozialen Brennpunkten ansetzen. Dort fehlen Ausbildungs- und Arbeitsplätze, Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten. Deshalb halte ich auch das Programm „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ - abgekürzt: E&C - für so wichtig. Es setzt an, um jungen Menschen aus benachteiligten Gebieten günstigere Bedingungen für ihre Zukunft zu schaffen. ({3}) Nur wenn es gelingt, Kindern und Jugendlichen dort vergleichbare Zukunftschancen wie denen in anderen Wohnvierteln zu garantieren, können Benachteiligungen aufgehoben werden, können Chancen eröffnet und Wege geebnet werden. Wir zeigen damit - das ist ganz wichtig -: Wir kümmern uns um euch, um Kinder und Jugendliche. Die Förderung von benachteiligten Jugendlichen ist auch Ziel des Freiwilligen Sozialen Trainingsjahres. In diesem Trainingsjahr werden Jugendlichen soziale und berufliche Schlüsselqualifikationen vermittelt. Das ist auch ein Weg zur Integration. Die Erfahrungen sind sehr gut. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen war danach sozial besser integriert. Etwa ein Drittel hat einen Arbeitsplatz bekommen. Das hat langfristig und nachhaltig positive Auswirkungen gehabt. Wegen dieser Erfolge werden wir die Zahl der Plätze für das Freiwillige Soziale Trainingsjahr auf 2 000 verdoppeln. ({4}) Ein ganz wichtiger Ansatz unserer Arbeit - das Programm „Gegen Gewalt und Rechtsextremismus“ war kein kurzes Strohfeuer, sondern ist langfristig angelegt - ist unser Programm „entimon - Gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus“. Damit werden Maßnahmen zur Stärkung von Demokratie und Toleranz sowie - das halte ich für ganz wichtig - zur Prävention und Bekämpfung von Rechtsextremismus und Gewalt gefördert. Dieser Name ist im Hinblick auf unsere Debatte ganz aussagekräftig. „Entimon“ ist Altgriechisch und bedeutet „Würde“ und „Respekt“. Genau darum geht es hier, um Würde und Respekt voreinander, Einfühlungsvermögen, eine Kultur des Miteinanders und die Ablehnung von Gewalt. Dahinter verbergen sich ganz tolle Projekte, im Rahmen derer sich Schüler in ihren Stadtteilen engagieren, Theateraufführungen und Rollenspiele anbieten, ihren Stadtteil sicher machen für Menschen anderer Hautfarbe usw. Als Beispiel nenne ich das „Kino für Toleranz“. Deshalb ist es mir so wichtig, in dieser Debatte deutlich zu sagen, dass das Thema Gewalt nicht allein den Jugendlichen zugeschoben werden darf. ({5}) Die Ursachen liegen in der Mitte der Gesellschaft. Es gibt sehr viele Jugendliche, die sich gegen Gewalt engagieren. Dafür danke ich ihnen ausdrücklich. Im Zusammenhang mit den schrecklichen Morden in Erfurt ist auch über Gewalt im Internet und in Computerspielen immer wieder - auch heute - gesprochen worden. Es ist sicher, dass gewalthaltige Computerspiele zu einer Desensibilisierung führen. Die Empathiefähigkeit von Kindern, aber auch von Erwachsenen, die diese Computerspiele spielen, sinkt. Man kann erkennen, dass das Anschauen von Gewaltszenen in den Medien eine große Rolle für die persönliche Konstitution und für die Gefühlslage spielt: Bei den Schülern, die einen „intensiven Horrorkonsum“ haben, ist eine erhöhte Aggressionstendenz und - das fand ich sehr interessant - eine größere Ängstlichkeit zu verzeichnen. Das zeigt, wie sehr Kinder und Jugendliche Schutz und Sicherheit brauchen. Meiner Ansicht nach ist das Problem, dass die meisten Eltern oft gar nicht wissen, was ihre Kinder am Computer spielen. Eigentlich sollten sie doch mit ihnen spielen, mit ihnen fernsehen, mit ihnen mit Internet surfen, ihnen helfen, das Gesehene zu verarbeiten. Deshalb ist Medienkompetenz - besser: Medienmündigkeit - so wichtig. Da setzen wir an. Mit dem neuen Jugendschutzgesetz, das die Alterskennzeichnungspflicht für Computerspiele vorsieht, haben wir einen wichtigen Schritt gemacht, um Eltern, Lehrern und Erziehern die Einschätzung zu erleichtern. Ich bin froh, dass der Bundesrat, nachdem sich die Unionsfraktion bei der Abstimmung hier enthalten hat, diesem Gesetz im Juni zugestimmt hat. Ich wünsche mir, dass wir noch viel stärker über Gewalt im Fernsehen diskutieren, um Wege zu finden, sie einzudämmen. ({6}) Die Darstellung von Brutalität und Gewalt in allen denkbaren Medien darf nicht auf Kinder einwirken, als sei das eine Möglichkeit der Konfliktlösung. Gerade deshalb brauchen Kinder und Jugendliche in der modernen Mediengesellschaft feste Werte und Normen. Wir müssen das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Geborgenheit, nach sozialer Anerkennung aufgreifen. Die junge Generation erwartet aber ganz besonders gute Rahmenbedingungen für das Aufwachsen. Unser Ziel ist es, Kinder und Jugendliche stark zu machen, damit sie selbstbewusst gegen Gewalt eintreten können, damit sie sich für gewaltfreie Konfliktlösungen entscheiden. Das ist ein wirksamer Schutz vor Gewalt in der Gesellschaft. Es geht um mehr Aufmerksamkeit, Verantwortung füreinander und friedlichen Umgang miteinander. Vielen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Michael Roth.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Asterix und Obelix, Tom und Jerry - das waren die Helden meiner Kindheit. Es waren und sind aber auch Gewalttäter. Bestimmt hat jeder von uns in seiner Generation solche oder ähnliche Figuren kennen und schätzen gelernt. Gewalt gehört - leider - zu unserem Leben. Gewalt ist kein Phänomen moderner Gesellschaften. Gewalt hat es immer gegeben, und zwar durchweg in stärkerer Form als heute. Gewalt zeigt uns immer wieder auf neue, erschreckende Weise ihr Gesicht. Doch die Wahrnehmung und der Umgang der Menschen, gerade junger Menschen, mit der Gewalt ist ein anderer geworden. Deshalb müssen wir als politisch Verantwortliche heute andere Maßstäbe setzen.Wir müssen uns mit unserem Bild der Gesellschaft und mit der Bedeutung der Gewalt in der Gesellschaft offen und kritisch auseinander setzen. ({0}) „Was ist Gewalt anderes als Vernunft, die verzweifelt?“, fragte einst Gotthold Ephraim Lessing. In letzter Konsequenz müssen wir mit der Gewalt leben lernen, wird Gewalt immer Bestandteil unserer Gesellschaft sein. Deswegen dürfen wir sie aber niemals als schicksalhaft akzeptieren, niemals als selbstverständlich oder gar normal ansehen. Ein Gewaltereignis, wie wir es in Erfurt erlebt haben, dürstet nach der Benennung von Ursachen und nach Erklärungen. Dass wir heute im Bundestag über die differenzierte Bedeutung von Gewalt in unserer Gesellschaft reden, ist sicher auch ein Eingeständnis: Wir sind bisweilen sprachlos, ja ratlos. Wir suchen nach Antworten. Wir neigen aber auch aus gutem Grund zu Skepsis gegenüber vorschnellen, einfachen Antworten. Wir haben schlicht keine Patentrezepte. ({1}) Bei aller Notwendigkeit zur Gemeinsamkeit, die wir in den heutigen Reden betont haben, möchte ich aber auch darauf hinweisen, dass ich mit dem, was beispielsweise Frau Merkel aus ihrer Sicht geschildert hat, nicht übereinstimme. Ich habe eine andere Vorstellung von gemeinschaftlichem und gesellschaftlichem Zusammenleben. Für mich ist das Rollback in die 50er-Jahre kein zukunftsweisendes Konzept. Ich kann mich auch nicht mit den Vorstellungen von Frau Pau identifizieren, die im Prinzip - ich überspitze das jetzt einfach einmal - deutlich gemacht hat: Der böse Kapitalismus ist allein an allem schuld. Ich glaube, dass wir es uns so einfach nicht machen können. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Schlagwort taucht bei unserer mühsamen Suche immer wieder auf: die Verantwortung der Medien. Das Urteil über die Rolle der beobachtenden, beschreibenden, ordnenden und kommentierenden Medien verharrt dabei oft im Stadium der plumpen Medienschelte. Die Position der Medien als Auslöser, Transporteur, Verführer oder Aufklärer sollte ausgewogen beurteilt werden. Selbstverständlich sind schreckliche Gewalthandlungen, die in der Mitte unserer Gesellschaft emporwachsen, ein Anlass zu großer Sorge. Die real existierende Gewalt in der Gesellschaft erzeugt Angst der Gesellschaft vor Gewalt. Aber die Medien zerren Gewalt ans Licht der Öffentlichkeit. Sie geben Opfern und Tätern ein Gesicht. Das ist durchaus verdienstvoll, weil die Gewalt, die früher hinter verschlossenen Türen stattfand, durch die Medien in das öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Das gilt für Kindesmissbrauch wie Gewalt gegen die Ehefrau - ich könnte jetzt noch viele andere schreckliche Beispiele benennen. Regelmäßig erfährt man in den Medien Dinge, die bis vor wenigen Jahren noch ein Tabu und mit dem Mantel des Schweigens verhüllt waren. Nichts Furchtbares scheint uns mehr fremd. Doch hat die Veröffentlichung von Gewalt durch die Medien auch ihre Kehrseite: Gleichwohl die jährlichen Zahlen gerade bei Gewalttaten im privaten Raum in den 70er-Jahren etwa doppelt so hoch waren wie in den vergangenen Jahren, vermitteln Schlagzeilen und Skandalnachrichten ein anderes Bild: Ständig ist von einer rapiden Zunahme tragischer Gewalt die Rede, einzelne Fälle werden in reißerischer Manier der Öffentlichkeit präsentiert. Damit entsteht der Wettbewerb um die mitreißendste Story oder das schockierendste Ereignis; und alle sind eingeladen mitzumachen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei gibt es durchaus Entwicklungen, die uns hoffen lassen dürfen. Das Gespür für eine zivile, humane Gesellschaft wird beständig stärker. Gerade junge Menschen verleihen ihrer Skepsis gegenüber der Konfliktlösung mittels Gewalt Ausdruck. Viele von uns wurden doch in den vergangenen Monaten in Gesprächen mit Schulklassen und Jugendgruppen mit der Infragestellung von militärischer Gewalt als Mittel der Politik konfrontiert. Ich habe dies immer auch als Mahnung verstanden, unseren Weg unablässig kritisch zu überprüfen. Ich habe es als Bestätigung für unsere, vor allem von jungen Menschen getragene zivile Gesellschaft gesehen, in der Konflikte zunehmend eben auch zivil gelöst werden können. Leider lassen sich solche Mut machenden Entwicklungen nicht so gut und quotenträchtig kommunizieren wie eine Gewalttat, wie ein Skandal oder der peinliche Exhibitionismus so mancher Nachmittagstalkshow. Ich halte es ebenso für angebracht, dass wir Politikerinnen und Politiker uns selbstkritisch fragen, wie weit wir zu gehen bereit sind, um das öffentliche Interesse auf uns zu lenken. Fallschirmsprünge, Containerbesuche, Hetze gegen Minderheiten, der Plausch aus dem privaten Wohnzimmer verheißen zwar Schlagzeilen. Doch dürfen wir dabei nicht übersehen, dass wir mit dieser Veröffentlichung des Privaten dem skandalorientierten Zusammenspiel von Exhibitionismus einerseits und Voyeurismus andererseits, den wir ja unablässig beklagen, selber Nahrung geben. ({3}) Ich plädiere daher nicht nur an die Verantwortung der Medien. Wir alle tragen Verantwortung, vor allem wir Politikerinnen und Politiker. Das Kalkül auf Publizität darf nicht zum Dammbruch jeglicher Werte führen, auch und Michael Roth ({4}) gerade nicht in puncto Gewalt. Wir müssen Werte vorleben, nicht nur erklären. Jede Generation ist nur so gut wie die Gesellschaft, in der sie aufwächst und ihren Platz findet. Und so geht es nicht einzig um Verbote und Restriktionen, sondern um die Vermittlung und Plausibilität eines Gegenentwurfes von Gewalt, hin zu einer Erziehung, die die Fähigkeit zur kritischen Bewertung erlebter Gewalt ermöglicht. Jugendliche müssen lernen, Verantwortung zu tragen. Sie müssen differenzieren und abwägen lernen. Kinder und Jugendliche wollen nicht abgeschottet und unter Biotopschutz gestellt werden. Eine wachsende staatliche Kontrolle bringt uns nicht viel weiter. Ich bin davon überzeugt: Selbstbestimmung ist lernbar und vermittelbar. „Die Gewalt lebt davon, dass sie von Anständigen nicht für möglich gehalten wird.“ Das sagte Jean-Paul Sartre. Wir brauchen daher immer wieder, nicht nur am 9. November, einen Aufstand der Anständigen, tagtäglich, in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz. Auch wir Politiker müssen und können Vorbild sein. Der bevorstehende Wahlkampf bietet uns allen die Chance, unsere Wortgewalt nicht allzu unüberlegt einzusetzen. Denken wir stets daran: Womöglich hört uns jemand zu. Vielen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Carsten Schneider für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das habe ich gehört! Sie werden trotzdem gestatten, dass ich hier rede. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Erfurter, vertrete diesen Wahlkreis hier im Bundestag, bin in dieser Stadt aufgewachsen, habe dort Freunde gefunden und Verletzungen erlitten. Ich habe sie noch immer geliebt und ich liebe diese Stadt. Wer schon einmal dort war, weiß: Sie ist wunderschön, klein und fein, die Menschen sind sehr freundlich, gastfreundlich, und es herrscht ein sehr angenehmes Klima. Jeder kennt jeden. Umso betroffener waren die Menschen über die Gewalttat am Gutenberg-Gymnasium und umso tiefer die Wunden, die sie hinterlassen hat. Niemand, der nicht vor Ort war, kann nachvollziehen, was solch eine schreckliche Tat für eine Stadt wie Erfurt bedeutet. Sie hat das öffentliche Leben in der Stadt erstickt. Die Menschen haben sich über eine Woche in ihre Privatsphäre zurückgezogen. - Auch ich habe, wie Katrin Göring-Eckardt, die Trauerfeier und das, was danach war, als eine Befreiung empfunden. - Die Cafés und Kneipen waren wie leer gefegt. Es gab eine Suche nach Halt, nach Sicherheit und auch nach dem Alltag, wie er früher war. Man konnte in den Gesichtern der eigentlich fremden und doch wieder nahen Menschen auch Sorge sehen. Der Schock hat uns alle erschüttert und gelähmt. Der Gedanke an diesen Tag tut es sicherlich noch heute. Die erstaunliche Erfahrung für mich war allerdings, dass große Gefahr und Gewalt uns Menschen wieder näher zusammenrücken lassen. Es hat Zusammenhalt und Solidarität gegeben, einen Gemeinsinn, wie ich ihn in Erfurt und auch sonst in Deutschland seit der Wendezeit nicht mehr erlebt hatte. Ich hoffe, dass über das Bild von der schrecklichen Gewalttat hinaus auch dieses Bild meiner Heimatstadt in Erinnerung bleibt und dass die Stadt nicht stigmatisiert wird. Ich möchte an dieser Stelle besonders den Erfurter Kirchen danken. Sie haben ihre Türen sehr schnell geöffnet und einer nahezu säkularisierten Gesellschaft einen Ort der Trauer gegeben, einen Ort, der der Gemeinschaft geholfen hat, das Entsetzen zu verarbeiten. Ich möchte auch allen Bürgern dieses Landes für ihre zum Ausdruck gebrachte Anteilnahme und die immer wieder großzügig angebotene Hilfe danken. Es war gut, zu wissen, dass wir nicht allein sind. Es gab aber auch Ängste und erste Reaktionen, die zu Überreaktionen geführt haben. Ich selbst bin Präsident eines großen Sportvereins in Erfurt. Der Täter wie auch sein Bruder waren dort Mitglied. Die Mitglieder seiner Handballmannschaft wurden in einer Thüringer Zeitung mit Bild veröffentlicht und danach von den Lehrern und Schülern in Sippenhaft genommen. Das hat dazu geführt, dass sie sehr stark verunsichert waren und Hilfe gebraucht haben. Das hat sich geklärt. Ich bin sehr froh darüber und wünschte mir, dass diese Art und Weise des miteinander Lebens weiterhin möglich ist. Verkraftet haben sie es trotzdem nicht, bis heute nicht. Ich habe in Erfurt mit vielen Menschen gesprochen. Viele haben regelrecht das Gespräch gesucht. Der Schock saß bei allen tief: Das ist bis heute noch der Fall. Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Egal wie wir das Schul- und das Bildungssystem verändern - darüber wurde heute viel gesprochen -, egal wie gut wir die frühkindliche Betreuung fördern: Keine staatliche Stelle kann Erziehung, Zuwendung und Liebe des Elternhauses ersetzen. Im Elternhaus wird der Grundstein für die Bildung jeder Persönlichkeit gelegt. Dieser Grundstein ermöglicht es, sich über den eigenen Wert und über die Würde eines anderen Menschen bewusst zu werden. Ich wünsche mir, dass es gerade im Elternhaus mehr Zeit gäbe, sich mit den Kindern auseinander zu setzen, den kritischen Dialog zu suchen und sich anzuschauen, welche Computerspiele sie spielen. Kurz nach der Bluttat gab es eine sehr heftige Diskussion - sie besteht bis heute fort -, welche Computerspiele verboten werden müssten. Ein Spiel, das immer wieder genannt wird, ist das Spiel Counterstrike. Ich weiß nicht, wie viele in diesem Hohen Hause dieses Spiel schon einmal gespielt haben und sich tatsächlich eine Meinung darüber bilden konnten. Ich selbst habe es nach dem schrecklichen Geschehen ausprobiert, weil ich von vielen Jugendlichen angesprochen wurde, die Unverständnis über die Forderung nach einem Verbot geäußert haben. Nicht jeder, der Computerspiele spielt - ich selbst habe das in meiner Jugendzeit getan -, Michael Roth ({0}) ist ein potenzieller Gewalttäter. Aus diesem Grund mahne ich zur Vorsicht. Ich warne vor Schnellschüssen, weil ich glaube, dass vorschnelle Forderungen ins Leere laufen. Sie würden nur zu einer größeren Sprachlosigkeit führen, anstatt bestehende Defizite zu beseitigen. ({1}) Angesichts der Tat von Erfurt wurden viele drängende Fragen gestellt; viele davon werden wir wahrscheinlich nie beantworten können. Wir müssen aber politische Konsequenzen ziehen. Das ist zum Teil schon geschehen. Ich möchte noch einige Punkte hinzufügen. Die wichtigste Erkenntnis nach den Geschehnissen und nach dem Prozeß, den viele Schüler in den Wochen danach durchmachen mussten, ist für mich, dass Bildungspolitik die höchste Priorität hat. Das sollten wir aus der heutigen Debatte mitnehmen. ({2}) Natürlich gehört in diesen Zusammenhang die Frage nach dem Schulabschluss und den Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Ich selbst habe Abitur gemacht, danach eine Banklehre. Es ist für einen Realschüler aufgrund der Ausbildungsplatzsituation fast nicht möglich, diesen Beruf zu erlernen, obwohl der Schulabschluss ausreichen würde. Gerade für Realschüler ist es schwierig, attraktive Ausbildungsstellen zu bekommen. Ich kann an dieser Stelle nur an die Unternehmen appellieren, auch qualifizierten Haupt- und Realschülern einen Lehrvertrag und damit eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt zu geben. ({3}) Herr Kollege Vogel, Sie haben Ihre Regierungserklärung im Thüringer Landtag heute noch einmal vorgetragen. Darin mahnen Sie eine Kultur des Zuhörens an. Ich halte das für absolut richtig. 4 000 Schüler haben in Erfurt vor der Staatskanzlei für eine schnelle Änderung des Thüringer Schulsystems demonstriert, was vor allen Dingen den Abschluss bei Abbruch des Gymnasiums betrifft. Bis heute gibt es keine entsprechende Regelung. ({4}) Ich kann die Enttäuschung von vielen Schülern an dieser Stelle verstehen. ({5}) Ich kann Sie nur auffordern, Ihren guten und gesetzten Worten des heutigen Tages auch Taten folgen zu lassen; denn diese sind notwendig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf uns lastet viel Verantwortung. Ich bin mir sicher, dass viele Menschen heute die Debatte verfolgt haben und Hoffnung daran knüpfen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass diese Hoffnung nicht enttäuscht wird und dass den angesprochenen Punkten auch tatsächlich Taten folgen. Die guten Vorsätze dürfen nicht im Keim erstickt werden. Darum bitte ich Sie. Vielen Dank. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 4. Juli 2002, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.