Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte bietet die Gelegenheit, eine kleine Bilanz der rot-grünen Menschenrechtspolitik zu ziehen. Die Bundesregierung hat mit dem
6. Menschenrechtsbericht ihre Bilanz schriftlich vorgelegt und diese Bilanz kann sich wahrhaft sehen lassen.
({0})
Es ist der umfangreichste Menschenrechtsbericht, der
je von einer Bundesregierung erstellt worden ist, und es
ist auch der inhaltsreichste. Vor allem ist es ein Bericht,
der deutlich macht, dass Menschenrechtspolitik eine
komplizierte Querschnittsaufgabe ist.
Wir haben angekündigt, nicht alles anders, aber vieles
besser zu machen. Der Menschenrechtsbericht ist ein
gutes Beispiel dafür. Er ist der beste Bericht, der dem
Deutschen Bundestag bisher von einer Bundesregierung
vorgelegt worden ist.
({1})
Menschenrechte sind wichtige Elemente der Außen-,
Entwicklungs- und Sicherheitspolitik; sie berühren aber
auch die Wirtschafts-, die Frauen- und die Innenpolitik.
Es gilt, im täglichen politischen Handeln eine menschenrechtliche Kohärenz dieser Politikfelder herzustellen. Der
vorliegende Menschenrechtsbericht zeigt, dass die rotgrüne Koalition hier deutlich vorangekommen ist.
Was den Stellenwert der Menschenrechte in der Arbeit
des Deutschen Bundestags angeht, kann festgestellt werden, dass die Menschenrechte noch nie eine bessere
Lobby im Bundestag gehabt haben als in dieser 14. Legislaturperiode.
({2})
Lassen Sie mich das an einigen Beispielen konkretisieren.
Erstens. Wir haben die Menschenrechtspolitik als eigenständiges Politikfeld etabliert. Erstmals in seiner Geschichte hat der Deutsche Bundestag einen ordentlichen
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe gebildet. Damit hat er auch in institutioneller Hinsicht die
wachsende Bedeutung der Menschenrechte in der politischen Praxis unterstrichen. Wenn wir andere Fachausschüsse oder das eine oder andere Ministerium mit unserer spezifisch menschenrechtlichen Sicht der Dinge
konfrontiert oder vielleicht sogar herausgefordert haben,
dann spricht das nur für den Menschenrechtsausschuss.
Engagierte Menschenrechtspolitik bedeutet nämlich immer auch sich einzumischen. Deshalb ist es wichtig, dass
der Ausschuss auch in der nächsten Legislaturperiode erhalten bleibt.
({3})
Ich wünsche mir, dass alle Fraktionen hier und heute ein
klares Bekenntnis zur Existenz dieses wichtigen Ausschusses ablegen.
Zweitens. Wir haben das Deutsche Institut für
Menschenrechte geschaffen und damit eines unserer
wichtigsten Menschenrechtsprojekte verwirklicht. Nach
einem vergeblichem Anlauf in der letzten Legislaturperiode haben wir uns in dieser Legislaturperiode um ein gemeinsames Konzept bemüht. Dies ist uns auch gelungen.
Wir haben das Institut mit einem einstimmigen Beschluss
des Deutschen Bundestages ins Leben gerufen und es
- hoffentlich - zugleich politisch wetterfest gemacht. Die
grundlegenden Aufbauarbeiten des Instituts sind inzwischen abgeschlossen. Jetzt beginnt die inhaltliche Arbeit.
Ich wünsche uns, dass das Institut ein guter Anwalt für die
Menschenrechte wird.
({4})
Drittens haben wir uns besonders um die Rechte von
Frauen sowohl im Ausland als auch in unserem Land
gekümmert. Wie umfassend Frauen und Mädchen ihrer
Rechte beraubt werden können, haben uns die Taliban in
Afghanistan vorgeführt. Sie haben Frauen aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen, ihnen Bildung und Arbeit verwehrt und damit jegliche Zukunftsperspektive
verbaut.
Nur graduell geht es vielen Frauen in anderen, auch
nicht islamischen Regionen der Welt besser. Frauenrechte
rütteln an gesellschaftlichen Machtstrukturen. Selbst die
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
grausame Praxis der Genitalverstümmelung dient in erster Linie dem Erhalt traditioneller patriarchalischer Wertesysteme. Nur verstümmelte Frauen gelten als gute
Frauen. Diese unheilvolle Praxis nachhaltig zu bekämpfen, haben wir uns gemeinsam mit dem Außen- und dem
Entwicklungsministerium vorgenommen. Zahlreiche bilaterale und multilaterale Programme widmen sich jetzt
dieser Aufgabe.
({5})
Am Thema Genitalverstümmelung lässt sich auch der
Querschnittscharakter der Menschenrechtspolitik deutlich machen. Über Migrantenfamilien ist das Problem
auch zu uns nach Deutschland gekommen und berührt innenpolitische Aspekte wie Aufklärung in den Familien
der Mädchen, Sensibilisierung des Personals in Behörden
und Beratungsstellen sowie asylrechtliche Fragen.
Auch das neue Zuwanderungsgesetz soll den Schutz
verfolgter Frauen stärken. Nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung werden nunmehr als
Gründe für die Anerkennung als Flüchtling im Sinne der
Genfer Flüchtlingskonvention akzeptiert. Leider mussten
wir diese Regelung gegen den heftigen Widerstand der
Union durchsetzen. Um vor sich selbst rechtfertigen zu
können, dass junge Mädchen aus Deutschland in ein Land
wie den Sudan abgeschoben werden, in dem ihnen die Genitalverstümmelung droht, müssen humanitäre und christliche Grundsätze schon ziemlich verdrängt werden. Ich
möchte so etwas nicht verantworten müssen.
({6})
Nicht zuletzt deshalb hoffe ich, dass das Zuwanderungsgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung erhalten bleibt.
Viertens. Wir haben uns auch intensiv für die Prävention von Menschenrechtsverletzungen eingesetzt. Die beste Menschenrechtspolitik ist nämlich jene, die dazu
beiträgt, dass Menschenrechte erst gar nicht verletzt werden. Strukturelle Ursachen für Krisen sind in der Regel
lange vor der Gewalteskalation bekannt. Deshalb muss international die Bereitschaft gestärkt werden, rechtzeitig
und entschlossen gegenzusteuern. Das von der Koalition
erarbeitete Konzept zur zivilen Krisenprävention sowie
der in dieser Legislaturperiode ins Leben gerufene zivile
Friedensdienst steht für diese Politik der Prävention.
Diese konsequent fortzusetzen wird eine der Herausforderungen der nächsten Legislaturperiode sein.
({7})
Fünftens. Wir haben zahlreiche weitere Themen aufgegriffen und konnten die Dinge zum Teil in unserem Sinne
beeinflussen: Haftbedingungen in der Türkei, Bekämpfung der Folter, Kinder- und Minderheitenrechte, Abschaffung der Todesstrafe, Aussetzung der Abschiebung
von Tschetschenen sowie regelmäßige Auseinandersetzung mit Ländern, in denen die Menschenrechte verletzt
werden. Insbesondere bei der Bewertung der Menschenrechtssituation in anderen Ländern gab es auch viel Übereinstimmung mit der Opposition. In diesem Sinne werden
wir heute den beiden Anträgen zu Vietnam und zum Sudan zustimmen, die von der CDU/CSU und der FDP erarbeitet worden sind.
Abschließend noch einige Worte zu den Folgen des
11. September für die Menschenrechte. Über einige politische Tendenzen bin ich zutiefst beunruhigt. Zum einen
darf dieser Kampf nicht für andere Zwecke instrumentalisiert werden. Im schlimmsten Falle gehen Regierungen
unter dem Vorwand der Terroristenbekämpfung mit brutaler Härte gegen politisch und religiös Andersdenkende
oder gegen missliebige Minderheiten vor. Das darf die internationale Gemeinschaft nicht dulden.
({8})
Zum anderen wird das Völkerrecht ausgehöhlt, wenn in
öffentlichen Vereinbarungen die Anwendung von Folter
kein Tabu ist. Überlegungen, von inhaftierten Terroristen
und des Terrorismus Verdächtigen Informationen auch
durch Folter zu erlangen oder diese Personen zu diesem
Zweck in so genannte hilfsbereite Staaten zu bringen, sind
absolut inakzeptabel.
({9})
Wir brauchen nicht nur eine Koalition gegen den Terrorismus; wir brauchen auch eine Koalition für die Menschenrechte.
Menschenrechtspolitik ist immer mit neuen Problemen
konfrontiert. So wie die Welt heute beschaffen ist, rückt die
Ziellinie stets aufs Neue in weite Ferne. Umso wichtiger
ist es, dass es uns in dieser Legislaturperiode gelungen ist,
dieses schwierige Politikfeld deutlich aufzuwerten.
Zufrieden bin ich auch darüber, dass es im Ausschuss
trotz manch unterschiedlicher politischer Bewertung ein
grundsätzlich sachorientiertes und engagiertes Arbeiten
über die Fraktionsgrenzen hinweg gegeben hat. Dazu haben beide Ausschussvorsitzende, Claudia Roth und
Christa Nickels, ihren Teil beigetragen. Ihnen sowie den
Obleuten und den übrigen Mitgliedern des Ausschusses
gilt an dieser Stelle mein herzlicher Dank.
({10})
Auch in der kommenden Legislaturperiode werden wir
für die Menschenrechte kämpfen müssen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Besuchertribüne hat eine
rumänische Parlamentariergruppe Platz genommen. Ich begrüße unsere Gäste aus Bukarest, wünsche ihnen gute Gespräche und einen angenehmen Aufenthalt in Deutschland.
({0})
Ich gebe nunmehr dem Kollegen Hermann Gröhe das
Wort. Er spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr
geehrte Damen und Herren! Die heutige Debatte über den
6. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik und einige Anträge zur Menschenrechtspolitik - übrigens allesamt Anträge aus den Reihen der Oppositionsfraktionen - ist die letzte Menschenrechtsdebatte
in dieser Legislaturperiode, also auch für uns Anlass,
Bilanz zu ziehen.
Da erliegen eine Regierung und die sie tragenden Fraktionen schnell der Versuchung, sich gewaltig selbst auf die
Schulter zu klopfen. Sie sollten das aber nicht so laut tun,
dass sie die vielen kritischen Stimmen, etwa aus dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen, zur derzeitigen
Menschenrechtspolitik nicht mehr hören.
({0})
Ich will nun nicht der Versuchung erliegen, nur über
Kritikwürdiges zu sprechen. Nach den ersten Jahren des
neu ins Leben gerufenen Menschenrechtsausschusses
will auch ich mich zunächst bei allen Kolleginnen und
Kollegen, besonders bei den Vorsitzenden Claudia Roth
und Christa Nickels und unserem stellvertretenden Vorsitzenden Dr. Christian Schwarz-Schilling, für ein überaus gutes Miteinander bedanken, das bei allem Ringen um
den richtigen Weg in der Menschenrechtspolitik in erster
Linie von dem gemeinsamen Bewusstsein bestimmt war,
zuallererst den Menschen verpflichtet zu sein, die in vielen Teilen der Welt unter schrecklichen Menschenrechtsverletzungen leiden.
({1})
Ich denke, es wird mir niemand als parteipolitische Einseitigkeit auslegen, wenn ich sage, dass gerade auch jüngere Kolleginnen und Kollegen Christian SchwarzSchilling viel verdanken als einem echten Vorbild, wenn
es darum geht, mit großer Sachkenntnis, Beharrlichkeit
und Leidenschaft, aber auch mit großer innerer Unabhängigkeit für die Sache der Menschenrechte zu streiten. Vielen Dank!
({2})
Es ist auch Ausdruck des guten Miteinanders in unserem Ausschuss, wenn heute zwei Anträge der Union einstimmig zur Annahme empfohlen werden: ein Antrag zur
Lage in Vietnam und ein gemeinsam mit der FDP erarbeiteter und eingebrachter Antrag zur Lage im Sudan.
Umgekehrt stimmte seinerzeit die Union einem Antrag
der Koalitionsfraktionen zur Todesstrafe in den USA zu,
obwohl lange koalitionsinterne Abstimmungen die Einbeziehung der Opposition in die Antragserarbeitung verhinderten. Ich erwähne diesen einstimmigen Bundestagsbeschluss auch deshalb, weil wir sicher alle mit großer
Genugtuung eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten in der letzten Woche zur
Kenntnis genommen haben, der die Hinrichtung geistig
Behinderter, bislang immerhin möglich, in 18 Bundesstaaten der USA künftig untersagt.
({3})
Das ist ein wichtiger Schritt, dem hoffentlich weitere
Schritte hin zur Abschaffung der Todesstrafe insgesamt
folgen.
({4})
Meine Damen und Herren, ich sage voller Selbstbewusstsein als Parlamentarier, dass die Mitglieder des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe etwas
aus diesem Ausschuss gemacht haben. Deshalb halte ich
es für sinnvoll, dass es einen solchen Ausschuss auch
zukünftig gibt.
({5})
Es ist bemerkenswert, dass sich ganz wichtige Beschlüsse des Ausschusses, die sich anschließend der
Bundestag zu Eigen machte, aus der gemeinsamen parlamentarischen Arbeit über Fraktionsgrenzen hinweg entwickelten. Ich denke vor allem an den Gruppenantrag
„Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten“, aber auch an den im Tibet-Gesprächskreis erarbeiteten Antrag „Menschenrechte und Entwicklung in Tibet“,
der an einen sehr bedeutsamen, ebenfalls interfraktionell
erarbeiteten Grundsatzbeschluss aus der vergangenen Legislaturperiode zur Lage in Tibet anknüpfen konnte. Ich
will auch ausdrücklich das erfolgreiche Bemühen in unserem Ausschuss um einen fraktionsübergreifenden Konsens im Hinblick auf die Schaffung des Deutschen Instituts für Menschenrechte würdigen.
Was die Bundesregierung angeht, muss ich allerdings
feststellen, dass man sich dort immer wieder schwer damit tat, den neu ins Leben gerufenen Ausschuss als vollwertigen Ausschuss wahrzunehmen. Immer wieder, zuletzt in dieser Sitzungswoche, mussten wir bei politisch
wichtigen Fragen feststellen, dass die Ministerien durch
sachkompetente und geschätzte Beamte aus den einzelnen
Fachbereichen vertreten waren, die politisch Verantwortlichen aus der Spitze der Häuser sich aber rar machten.
Gerade für das Bundesinnenministerium galt, dass es uns
eher brüskierte als beehrte.
({6})
Es reicht nicht aus, einen eigenen Ausschuss einzurichten.
Man muss ihn auch angemessen behandeln.
Auch die Vorlage der inhaltlich in vielem durchaus
sehr gelungenen Menschenrechtsberichte ließ den notwendigen Respekt vor der Arbeitsweise des Parlaments
vermissen. So hatte der Deutsche Bundestag 1996 - übrigens auf Antrag der Grünen - beschlossen, dass der alle
zwei Jahre zu erstellende Menschenrechtsbericht rechtzeitig vor dem Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember,
vorzulegen sei. Doch der 5. Menschenrechtsbericht wurde
nicht im Herbst 1999, sondern im Juni 2000 vorgelegt. Der
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
6. Menschenrechtsbericht, über den wir heute diskutieren,
ging den Ausschussmitgliedern erst am 10. Juni zu. Die
zwei Sitzungswochen bis zur heutigen Debatte ließen
kaum Zeit, das 387-Seiten-Werk in den Arbeitsgruppen
der Fraktionen oder gar mit Nichtregierungsorganisationen angemessen zu diskutieren.
Ein Antrag der Grünen aus dem Jahr 1995 mit dem Titel „Menschenrechtsberichte und Lageberichte der Bundesregierung für die Arbeit nutzbar machen“ - er trägt die
Unterschrift „Joseph Fischer und Fraktion“ - enthielt noch
die Forderung, dass der Bericht den Fachausschüssen - ich
zitiere wörtlich aus diesem Antrag der Grünen - „mindestens einen Monat vor der Debatte vorliegen muss“.
Zur Bilanz gehört auch die bisherige Arbeit des
Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt. Wir
schätzen den aktiven Einsatz von Gerd Poppe für die
Menschenrechte. Wenn es dennoch nicht gelang, dieses
Amt mit einem prägenden Einfluss auf die deutsche Außenpolitik zu versehen, so liegt das weniger an seiner engagierten Arbeit als vielmehr an der unzureichenden Ausstattung und Einbindung dieses Amtes, wofür die politische
Spitze des Auswärtigen Amtes die Verantwortung trägt.
Lassen Sie mich zwei inhaltliche Bemerkungen zum
Menschenrechtsbericht machen. Dabei möchte ich die
erste mit einigen wenigen Anmerkungen zu unserem Antrag zur Menschenrechtslage in Vietnam verbinden.
Wie Sie wissen, ist der Einsatz für Religionsfreiheit ein
Schwerpunkt der Menschenrechtsarbeit der CDU/CSUBundestagsfraktion. Wir setzen uns für Bahai im Iran ein,
für das Recht der Tibeter, ihre religiösen Traditionen zu
pflegen, und für Muslime in Xinjiang. Zu besonderer Solidarität fühlen wir uns gegenüber bedrängten und verfolgten Christen verpflichtet. In unserem Antrag zur Lage
in Vietnam setzen wir uns für katholische Priester, für
evangelische Hausgemeinden, aber auch für die Vereinigte Buddhistische Kirche Vietnams ein und wir prangern
die zum Teil brutale Verletzung der Religionsfreiheit in
Vietnam an, unter der gerade indigene Bergvölker leiden.
Es freut uns deshalb, wenn die Bundesregierung in
dem nunmehr vorgelegten Menschenrechtsbericht feststellt, dass das Eintreten für Religionsfreiheit weltweit ein
fester und wichtiger Bestandteil ihrer Menschenrechtspolitik sei. Mit großer Zustimmung lesen wir in diesem
Bericht unter Bezugnahme auf den Einsatz für Religionsfreiheit für alle religiösen Überzeugungen - ich zitiere aus
dem Bericht -:
Dem widerspricht nicht, wenn in der Praxis das Eintreten Deutschlands für die Freiheit aller Religionen
auch durch die religiöse Prägung der deutschen und
europäischen Geschichte bestimmt ist. Dies zeigt
sich im durch christlichen Glauben motivierten persönlichen Einsatz zahlreicher Menschen in Deutschland für die Menschenrechte und bedrängte Glaubensbrüder und -schwestern, aber auch für die
Freiheit anderer Religionen in aller Welt; ...
Mancher Beitrag aus den Koalitionsfraktionen anlässlich
der Debatte über unsere Große Anfrage zur Situation bedrängter und verfolgter Christen hatte noch ganz anders
geklungen.
Kritikwürdig ist unseres Erachtens die Behandlung der
Menschenrechtslage in China im Menschenrechtsbericht. Dort ist von der „häufigen“ Verhängung der Todesstrafe die Rede. Diese Formulierung wird in keiner
Weise dem dramatischen Umstand gerecht, dass Amnesty
International für das Jahr 2001 mindestens 4 015 Todesurteile und 2 468 Hinrichtungen feststellte. Wenngleich der Bericht erwähnt, dass „Gläubige verhaftet und
teilweise in Straflager eingewiesen werden“, so wird
doch, anders als im Fall von Belarus, die Administrativhaft als ein ganz wesentliches Menschenrechtsproblem in
China mit keiner Silbe erwähnt. Dabei war gerade dieses
Thema bei allen Diskussionen im Menschenrechtsausschuss von zentraler Bedeutung.
({7})
Sieht man sich zudem die Anträge der Koalitionsfraktionen zu China in dieser Legislaturperiode an, in denen
Kritik an China zumeist in eher homöopathischer Verdünnung geäußert wurde, so denkt man fast wehmütig an
die markigen Worte zurück, zu denen grüne Politiker in
der Lage waren, als sie noch in der Opposition waren, also
bevor sie der diplomatische Weichspülgang ereilte.
({8})
Nun mag mancher sagen: Willkommen in der Realität!
Ich sage dagegen: Es ist möglich und geboten, mehr Klartext zu sprechen. Man denke an manch üble persönliche
Beschimpfungen, mit denen unser heutiger Außenminister
seinen Vorgänger Klaus Kinkel in Sachen Menschenrechtspolitik, gerade wenn es um China ging, bedachte.
({9})
Ich gehe davon aus, dass es hierfür längst eine Entschuldigung gegeben hat. Stil zu haben ist mehr als eine neue
Liebe zu Zweireihern und Manschettenknöpfen.
({10})
Menschenrechtspolitik bleibt nicht zuletzt angesichts des Versuchs mancher Menschenschinder, Unterdrückungsmaßnahmen als Kampf gegen den Terrorismus
zu bemänteln, für uns alle eine zentrale Aufgabe. An ihr
kann und muss sich die Wertorientierung unserer Politik
beweisen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Nun gebe
ich der Kollegin Christa Nickels von der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Hermann Gröhe, zuerst möchte ich feststellen,
dass sich der Fortschritt auch darin zeigt, dass man, obwohl man einer Koalition angehört, nicht mehr vier bis
fünf Jahre braucht, um eine Mehrheit für eine Anhörung
zu einem kritischen Thema zu finden. Der Fortschritt
zeigt sich auch darin, dass die Koalitionsfraktionen selbstverständlich zu kritischen Punkten Anhörungen durchführen und Anträge einbringen. Ich bin seit vier Legislaturperioden Mitglied des Bundestages. Ein solches
Verhalten war früher nicht Usus. Als wir noch in der Opposition waren, mussten wir sehr viel Druck ausüben, damit manche Themen, die heute ganz selbstverständlich im
Parlament und in den Ministerien behandelt werden, überhaupt besprochen wurden. Es ist allerdings klar, dass es
noch viel zu tun gibt. Es ist schade, dass du deine Rede in
dieser Form beendet hast, weil dich das den Beifall vonseiten der Koalitionsfraktionen gekostet hat.
({0})
Ich komme zum eigentlichen Thema: Trotz unbestreitbarer weltweiter Fortschritte hinsichtlich des Menschenrechtsschutzes muss man sagen, dass diejenigen, die
Menschenrechtspolitik machen, ganz gleich in welchen
Institutionen, Parteien oder Ländern, immer noch einen
langen Atem brauchen. Das liegt daran, dass seit dem
11. September der Grundkonsens bezüglich der Menschenrechte in vielen Punkten weltweit brüchig geworden
zu sein scheint und dass wir nun Standards absichern müssen, von denen wir bisher gehofft haben, sie hätten sich
bereits endgültig durchgesetzt. Außerdem liegt das daran,
dass die alte Forderung der Grünen nach Nachhaltigkeit
auch für die Menschenrechtspolitik gelten muss.
Das zeigt das Beispiel Afghanistan besonders deutlich. Die Zeit des Taliban-Regimes ist beendet. Die große
Ratsversammlung, die Loya Jirga, hat Hamid Karzai für
weitere zwei Jahre als Übergangspräsident bestätigt. Die
Grundlagen für einen Neubeginn sind geschaffen. Die
Karawane ausländischer Medienkorrespondenten zieht
weiter in andere Krisenregionen der Welt. Die Geberländer dürfen aber gerade jetzt in ihrem Engagement nicht
nachlassen, weil sonst das verspielt wird, was wir bereits
erreicht haben.
({1})
Ich bin besorgt darüber, dass dem Flügel der Modernisierer in der Regierung Karzai zwar der Finanzbereich,
den islamischen Traditionalisten aber der rechtspolitische
Bereich zugeordnet wird. Was bedeutet das für die Zukunft der Mädchen und Frauen in Afghanistan, deren Befreiung doch eines der stärksten Argumente im Kampf
gegen die Taliban gewesen ist? Was bedeutet es für die
Durchsetzungsfähigkeit der Regierung Karzai, wenn die
Ausdehnung der ISAF-Kräfte abgelehnt wird, aber zugleich die Natter an der Brust der demokratischen Regierung durch Gelder gemästet wird, die den Warlords im
Rahmen der Unterstützung von „Enduring Freedom“ zufließen? Was wird aus der erwünschten Rückkehr aller
Flüchtlinge, wenn der erfreulich große Rückkehrerstrom
offensichtlich schon jetzt die bereitgestellten Finanzmittel aufgezehrt hat?
Darum freue ich mich sehr darüber, dass das Auswärtige Amt uns in der gestrigen Ausschusssitzung versichert
hat, dass es in diesem Jahr mehr Geld als geplant für
Afghanistan ausgeben will und dass die Stelle in der deutschen Botschaft zur Förderung der Belange der afghanischen Frauen auch nach der Versetzung von Frau Müller,
die bisher dafür zuständig war, in vollem Umfang erhalten bleibt.
({2})
Ich glaube, dass das Engagement der Parlamentarier auf
diesem Gebiet über alle Fraktionsgrenzen hinweg und die
gute Zusammenarbeit mit den zuständigen Häusern, dem
Auswärtigen Amt und dem Ministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit, es ermöglicht haben, innerhalb kurzer
Zeit viel für die Frauen und Mädchen in Afghanistan zu tun.
Gleichzeitig droht der Antiterrorkampf alle Fortschritte
in wesentlichen Bereichen der internationalen Menschenrechtspolitik zu unterlaufen. Ein besonders bedrückendes
Beispiel ist die drohende Aufweichung der Antifolterkonvention. Es mehren sich die Hinweise darauf, dass
mutmaßliche Terroristen zum Verhör in Staaten gebracht
worden sind, in denen Folter angewandt wird. Diese
schmutzige Arbeitsteilung dürfen wir nicht zulassen.
({3})
Wenn Menschenrechtskonventionen von denjenigen
Staaten unterlaufen werden, die im Namen der Menschenrechte gegen den Terrorismus kämpfen, dann ist
dies Wasser auf die Mühlen aller Menschenschinder dieser Welt, die schon immer behauptet haben, dass Menschenrechte störten, wenn es ans Eingemachte geht. In der
realen Politik werden die Menschenrechte dann in Goldschnittfolianten und Festvorträge verbannt. Käme es
tatsächlich so weit, dass der Zweck im Antiterrorkampf
die grausamen Mittel heiligt, dann wäre das die Selbstaufgabe aller anständigen Demokraten.
({4})
Ein ähnlicher Verlust an Glaubwürdigkeit droht wegen
der gerade bekannt bewordenen Vereinbarung im Abkommen über die militärisch-technische Zusammenarbeit, durch die sich die Mitglieder der Schutztruppe in
Afghanistan von der Übergangsregierung vertraglich
Immunität für ihre Soldaten haben garantieren lassen.
Der Vorgang ist fatal: Die Nachricht, dass die Europäer
die ISAF-Angehörigen vor einer etwaigen Verfolgung
durch den Internationalen Strafgerichtshof schützen wollten, gelangte just in dem Moment in die Medien, als der
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Rahmen der
Verlängerung des Bosnien-Mandats über einen Resolutionsentwurf der USA beraten sollte, mit dem die USA eine
generelle Immunität für alle ihre Staatsbürger verlangen,
und zwar für sämtliche von den Vereinten Nationen mandatierten oder gebilligten Einsätze.
Die Nachricht über eine entsprechende Immunitätsklausel im Abkommen für die ISAF-Truppen ist offenbar
bewusst lanciert worden, um die Europäer der Doppelmoral zu überführen und damit ihren Widerstand gegen
die Immunitätsforderung der USA im Sicherheitsrat zu
brechen. Ginge dieses Kalkül auf, dann wäre einer der
größten Erfolge der internationalen ebenso wie der bundesdeutschen Menschenrechtspolitik der letzten Jahre zunichte gemacht. Daher muss die EU nochmals unmissverständlich klar machen, dass sie sich selbstverständlich
der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs unterwirft, und die USA auffordern, dasselbe zu tun,
denn ein europäischer Unilateralismus bringt die Menschenrechte weltweit nicht voran.
({5})
Es bringt uns keinen Deut weiter, die USAin einer Pose
selbstgerechter Besserwisserei verbal radikal zu attackieren, wenn wir für die Durchsetzung der Menschenrechte
gleichzeitig auf amerikanische Mitwirkung angewiesen
bleiben. Gemeinsam mit den USA muss es uns gelingen,
die bestehenden Menschenrechtssysteme auszubauen;
denn sie sind den Herausforderungen, die seit dem
11. September verstärkt auf sie zukommen, ganz offensichtlich noch längst nicht gewachsen.
Rosige Aussichten sind das nicht. Trotzdem gab es gewichtige Fortschritte. Der 6. Menschenrechtsbericht belegt, auf wie vielen Ebenen die Regierung erfolgreich
tätig geworden ist, um die Menschenrechte institutionell
zu stärken. Ich benenne jetzt die Punkte nicht mehr, sondern bedanke mich zum Abschluss bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie bei den Kolleginnen und
Kollegen. Besonders bedanke ich mich bei denjenigen
Kolleginnen und Kollegen, die uns am Ende dieser Legislaturperiode verlassen. Sie haben sich sehr engagiert
für die Menschenrechte eingesetzt und können sicher
sein, dass wir diese Maßstäbe auch in der nächsten Legislaturperiode anlegen werden.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die
FDP-Fraktion spricht die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger.
Herr
Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zehn
Monate nach den Terroranschlägen am 11. September
2001 befinden sich die Menschenrechte weltweit in der
Defensive. Forderungen nach zumindest befristeter Einschränkung der Menschenrechte und nach so genannten
Menschenrechtsrabatten prägen zunehmend das öffentliche Klima. Die 58. Menschenrechtskonferenz in Genf war
froh, dass sie den Standard einigermaßen halten konnte
und es nicht zu gravierenden Rückschritten gekommen ist.
Deshalb brauchen Menschenrechte starke Anwälte.
({0})
Das sind nicht in erster Linie Regierungen, sondern Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Deshalb ist es unverzichtbar, dass auch in der nächsten Legislaturperiode
im Deutschen Bundestag ein Menschenrechtsausschuss
als voll anerkannter eigenständiger Ausschuss arbeiten
({1})
und im Spannungsfeld mit dem Auswärtigen Amt und anderen Ressorts, besonders aber mit den Innenpolitikern
Menschenrechts- und Flüchtlingsfragen stärker in den
Vordergrund bringen kann.
Die heutige Debatte gibt natürlich Anlass zur Würdigung von vier Jahren rot-grüner Menschenrechtspolitik.
Die großen Erwartungen und Hoffnungen zu Beginn der
Legislaturperiode sind der Ernüchterung und teilweise
auch der Enttäuschung gewichen, denn von sehr nachhaltigen deutschen Impulsen für die Verbesserung der Menschenrechtssituation kann in dieser Bilanz am Ende der
Wahlperiode nicht gesprochen werden.
({2})
Sogar auflagenstarke Publikationen wie „Spiegel“ und
„Tagesspiegel“, die den 6. Menschenrechtsbericht mit Sicherheit eher wohlwollend bewerten - er ist sehr umfangreich, eine hervorragende Fleißarbeit -, kommen in ihrer
Analyse zu folgendem Ergebnis: Der Anspruch zu Beginn
der Legislaturperiode und die Wirklichkeit klaffen auseinander.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, betrachten wir die
Situation in zwei Ländern, die immer im Zusammenhang
mit der Intensität von Menschenrechtspolitik genannt
werden, dann wird klar: Es geht darum, die Menschenrechte gegenüber der Volksrepublik China und auch im
Hinblick auf Tschetschenien zu betonen und einzufordern. Hierbei sind kritische Anmerkungen, wie wir sie in
der gesamten Legislaturperiode gemacht haben, auch
heute am Platz, denn der viel zitierte Rechtsstaatsdialog,
den wir richtig finden, bezieht sich eben in erster Linie auf
wichtige Wirtschaftsfragen; hingegen haben die Menschenrechte kein eigenständiges Gewicht und spielen
nicht die Rolle, die ihnen zukommt. Das haben wir auch
im Ausschuss erörtert.
Herr Fischer, ich wähle ein Zitat von Ihnen, das sich
auf das schwierige Spannungsfeld von Menschenrechten und Wirtschaftspolitik in China bezieht. Sie nennen
das ein „Spannungsverhältnis zwischen Prinzipien und
den Notwendigkeiten und Unzulänglichkeiten der Politik“. Diese Formulierung bringt die Problematik zum
Ausdruck, aber es muss hinzukommen, dass Menschenrechte trotz dieses Spannungsfeldes bei jeder Gelegenheit
deutlich angesprochen und eingefordert werden.
({4})
Die Politik des Wandels durch Handel, die von der Opposition aus SPD und Grünen bis 1998 immer massiv kritisiert
wurde, ist jetzt wohl die einzige, durch die man eine Verbesserung der Menschenrechtssituation zu erreichen hofft.
({5})
Das gilt auch für das Eintreten für die Menschenrechte gegenüber Russland und besonders in Bezug auf
Tschetschenien. Ich muss ausdrücklich sagen, dass wir
hierzu im Ausschuss nahezu einer Meinung waren. Wir
von der Opposition waren gerade von dem, was Sie, Herr
Bindig, von Ihren Eindrücken und von Ihrem Einsatz für
Menschenrechte in Tschetschenien eingebracht haben,
sehr beeindruckt.
Herr Fischer, als Sie 1995 in der Opposition waren,
sprachen Sie im Hinblick auf den ersten TschetschenienKonflikt zu Recht von einem „barbarischen Krieg und
grausamen Morden einer nuklearen Supermacht gegen
ein kleines Kaukasusvolk“. Sie beschworen die damalige
Bundesregierung, „endlich eine westliche Initiative gegen
Moskau“ zu ergreifen. Sie haben nun Ihre Aufwartung im
Kreml gemacht, Sie haben mit Herrn Putin gesprochen,
Sie haben auch verbal die Menschenrechte erwähnt, aber
Sie haben das gemacht, was Sie an der damaligen Regierung immer kritisiert haben. Sie haben damals gesagt, das
sei „windelweiche Servilität“. Das ist ein Zitat aus einer
Ihrer Reden in der Opposition.
({6})
Es ist natürlich schwierig, in diesem Spannungsfeld
Menschenrechtspolitik zu machen. Das Parlament muss
sich da sehr viel kritischer äußern und versuchen, Druck
auszuüben. Der Einsatz für Menschenrechte heißt, sich
einzumischen; Herr Bindig, Sie haben es zu Recht gesagt.
({7})
Es gibt gravierende Menschenrechtsverletzungen in
vielen Teilen der Welt. Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion in der gesamten Legislaturperiode eine Vielzahl
von Anträgen zu den Menschenrechten in verschiedenen
Teilen dieser Welt eingebracht, die sich zum Beispiel für
die China-Resolution im Zusammenhang mit der Menschenrechtskommission in Genf oder für die Einhaltung
der Menschenrechte in Tschetschenien einsetzten. Ich
verstehe es, dass diese Anträge von den Koalitionsfraktionen abgelehnt worden sind, weil sie sehr scharf formuliert waren.
Wir haben jedoch im Menschenrechtsausschuss auch
gemeinsame Initiativen auf den Weg gebracht. Wir hatten
in diesem Ausschuss ein wirklich gutes, sachbezogenes
und auch sehr kollegiales Klima. Dennoch habe ich bedauert, dass zum Beispiel unsere Anträge „Für eine deutsche Initiative zum Schutz der Binnenvertriebenen“,
„Kinderhandel in Afrika verhindern“ und „Für eine Vereinte-Nationen-Resolution zur Ächtung der Gewalt auf
dem ‚Weltkindergipfel‘ in New York“ wohl deshalb, weil
sie von der falschen Fraktion eingebracht wurden, keine
Mehrheit gefunden haben.
Ich freue mich sehr, dass die Initiative von CDU/CSU
und FDP, die auch vom Sonderberichterstatter für den
Sudan, Gerhart Baum, ausgegangen ist, die einstimmige
Zustimmung im Ausschuss gefunden hat. Denn die Menschenrechtslage ist dort wieder zunehmend angespannt.
Wir können also nicht sagen, alles sei schon auf einem einigermaßen zufrieden stellenden Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mich
freuen, wenn Sie dem Antrag der FDP-Fraktion „Sklaverei weltweit verhindern“ hier doch zustimmen könnten.
Im Ausschuss haben Sie ihn abgelehnt. Ich appelliere an
Sie: Nehmen Sie doch das auf, was Kofi Annan, als er
diese Initiative vorgestellt hat, gesagt hat! Er fordert weltweit verstärkte Anstrengungen zur Beseitigung jeglicher
Sklaverei ein. Wenn wir das hier zusammen beschließen
könnten, hätten wir auch eine gute Ausgangslage für unsere Haushaltsforderungen, die wir ja schon im September wieder einbringen werden.
Ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit, auch
bei Herrn Poppe. Er hat uns im Ausschuss immer wichtige
Informationen gegeben. Ich bedanke mich besonders bei
all denen, die heute hier das letzte Mal bei einer Menschenrechtsdebatte dabei sind und die wir sehr vermissen
werden. Herr Schwarz-Schilling, Herr Geißler, Herr Blüm,
Sie haben sich in Menschenrechtsfragen wirklich sehr eingebracht. Von Ihnen konnte ich immer sehr viel lernen.
Vielen Dank.
({8})
Dem nächsten Redner gebe ich besonders gern das Wort. Er wurde in
dem Jahr geboren, in dem ich zum ersten Mal in dieses
Parlament gewählt wurde. So vergeht die Zeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Carsten Hübner für die Fraktion
der PDS.
Vielen Dank, Herr Präsident,
für diese freundliche Ansprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde hier aus
Zeitgründen keine Bilanz der letzten vier Jahre ziehen
können, sondern versuchen, den Bereich der WSKRechte und den Antrag, den wir dazu eingereicht haben,
ins Zentrum meines Beitrags zu rücken.
Vor einigen Monaten hatten wir hier bereits die Gelegenheit, anhand eines Antrags der Regierungskoalition
über die Bedeutung der wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Menschenrechte als unverzichtbarer Bestandteile eines umfassenden Menschenrechtsbegriffs
und der daraus resultierenden Politik zu diskutieren. Damals war mein Einwand, dass im Antrag von Rot-Grün
die Relevanz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zwar durchaus richtig beschrieben wurde, dass
aber sämtliche Forderungen an die Bundesregierung völlig unkonkret gehalten wurden und damit wohl auf absehbare Zeit wirkungslos bleiben werden.
Auch beim jetzt vorgelegten Menschenrechtsbericht
der Bundesregierung ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eher zu konstatieren, dass Papier geduldig ist, als
dass im Bereich der WSK-Rechte die dringend notwendigen Reformschritte auch nur eingeleitet worden wären.
Ich will nicht noch einmal die Zahlen der weltweit Hungernden, der täglich Verhungernden, der Analphabeten,
der Menschen ohne Bildungschancen oder Krankenversorgung bemühen. Sie wissen wie ich, dass es Hunderte
von Millionen sind, die auf diese Weise ihrer fundamentalsten Menschenrechte beraubt sind.
Sie wissen wie ich, dass die Bundesrepublik, wenn es
um ihren Entwicklungshilfehaushalt geht, als eines der
reichsten Länder der Erde ein äußerst kritikwürdiges Bild
abgibt. Statt die vor 30 Jahren international vereinbarten
0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für die öffentliche
Entwicklungszusammenarbeit einzusetzen, lag dieser
Anteil 2001 bei gerade 0,27 Prozent. Auch die für das
nächste Jahr angekündigte minimale Erhöhung ändert an
dieser Misere nichts, bleibt sie doch weit hinter den Notwendigkeiten zurück. Bis 2006 wird eine Erhöhung des
Etats auf gerade 0,33 Prozent angestrebt, und das, obwohl
sich doch die EU-Staaten insgesamt erst kürzlich immerhin auf einen durchschnittlichen Wert von 0,39 Prozent
des Bruttosozialprodukts bis 2006 geeinigt hatten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Zahlen sagen
deutlich mehr über die politische Wirklichkeit aus als alle
schönen Reden und Papiere. Die Zahlen sind, gemessen
an den Herausforderungen im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, geradezu niederschmetternd. Um es mit einem Wort von Jean Ziegler,
Professor an der Pariser Sorbonne und UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, zu sagen: Wir haben es, global gesehen, mit einem tagtäglichen „Hungermassaker“ zu tun. Deutlicher kann man es wohl nicht
formulieren.
Das aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat weder
verhindert, dass die reichsten Staaten mit ihrer Verweigerungshaltung die Entwicklungsfinanzierungskonferenz
von Monterrey geradezu ad absurdum geführt haben,
noch dass es in Sevilla unter anderem die Bundesregierung war, die die Streichung der Entwicklungshilfe in Fällen für vertretbar hielt, in denen sich Empfängerländer bei
der Rücknahme von Flüchtlingen nicht kooperativ zeigen.
Nur die Intervention Schwedens und Frankreichs hat dieses Sanktionsinstrument - zumindest vorerst - verhindert.
Es gäbe noch eine Reihe weiterer Beispiele. Aus diesem
Grunde muss unzweideutig festgestellt werden: Weder
die Bundesrepublik noch die rot-grüne Bundesregierung
sind, was substanzielle Schritte anbetrifft, gegenwärtig
Trendsetter bei der Durchsetzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf internationaler Ebene.
Im Gegenteil: Wir sind immer dann Bremser und Schlusslicht, sobald unsere eigenen Interessen gefährdet erscheinen, seien sie nun innenpolitischer, geostrategischer oder
außenwirtschaftspolitischer Natur.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende
Antrag der PDS-Bundestagsfraktion zur Stärkung der
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ist im
Gegensatz zum rot-grünen Antrag an konkreten Reformschritten ausgerichtet. Er hat sich mit der Debatte von vor
einigen Monaten deshalb nicht erledigt. Ob es um die
Rücknahme der Vorbehalte der Bundesrepublik gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention geht - übrigens ein
bis heute nicht umgesetzter Bundestagsbeschluss -, ob es
analog zum Zivilpakt um die Implementierung eines Individualbeschwerdeverfahrens im Bereich der WSKRechte geht, ob es um die von der UNO angemahnte volle
Gewährleistung der WSK-Rechte gegenüber den hier lebenden Flüchtlingen geht, ob es um die UN-Konvention
zum Schutz der Rechte von Wanderarbeitern oder um die
ebenfalls vom WSK-Ausschuss der UNO angemeldete
Anhebung der in Ostdeutschland gezahlten Löhne auf
Westniveau geht, in diesen und in vielen weiteren Fällen
ist unser Antrag weitaus konkreter. Wir haben im Grunde
genommen die Forderungen aufgenommen, die auch von
internationaler Seite an die Bundesregierung gestellt und
bis heute nicht erfüllt worden sind. Ich möchte Sie deshalb bitten, unserem Antrag zuzustimmen. Was hier gefordert wird, entspricht dem Anforderungsprofil, dem die
Bundesrepublik gerecht werden muss.
Dies war meine letzte menschenrechtspolitische Rede,
jedenfalls auf absehbare Zeit. Ich möchte mich für die
sehr kollegiale Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des
Ausschusses aus allen Fraktionen bedanken, sowohl für
die Kontroverse als auch für den Dialog.
Danke.
({0})
Die so genannten letzten Reden in diesem Parlament häufen sich.
Wir haben das gestern auch schon festgestellt. Herr Kollege Hübner, ich danke Ihnen für Ihre Arbeit und wünsche
Ihnen für die Zukunft alles Gute.
({0})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Heide
Mattischeck von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Noch eine letzte Rede! Ich
freue mich, dass es gelungen ist - nicht meinetwegen,
sondern wegen der Menschenrechte -, zu einer solch prominenten Tageszeit eine Debatte zu den Menschenrechten
stattfinden zu lassen. Ich will mich - die Zeit ist ja immer
relativ knapp - vor allem auf zwei Themen konzentrieren,
die wir in der zu Ende gehenden Legislaturperiode besonders intensiv behandelt haben, und zwar auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, den so genannten Sozialpakt, und auf die Menschenrechte im
Zeichen zunehmender Globalisierung.
Die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte ist
eine besonders große Herausforderung für Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft. Sie ist
Voraussetzung für nachhaltige politische Stabilität sowie
für wirtschaftliche und soziale Entwicklung auf der Welt.
Die Entwicklung der Menschenrechte, der bürgerlichen,
politischen, aber vor allem der wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Rechte, hat mit der technologischen und
der wirtschaftlichen Globalisierung auf der Welt bislang
nicht Schritt gehalten.
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
vom Dezember 1948 stand neben den bürgerlichen und
politischen Rechten ein Katalog der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Für Jahrzehnte - das wissen wir besonders im Westen - standen erstere im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. Doch angesichts
wachsender Umweltzerstörung und hemmungsloser Ausbeutung der Natur sowie wachsender Armut wurde die
Forderung nach globalen Vereinbarungen und Verabredungen über Sozial- und Umweltstandards erhoben.
Der Ruf nach Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte wurde immer lauter. Es reicht
eben nicht aus, dass Individuen frei von Angst leben können - so wichtig das auch ist -; es gehört genauso dazu,
dass sie frei von Not leben können.
({0})
Das internationale Menschenrechtssystem ist die breiteste internationale Verabredung über Standards und vertragliche Verpflichtungen, die es gibt. Es ist ein Konsens,
der aber in vielen Ländern der Welt immer wieder grob
missachtet und verletzt wird.
Angesichts der oben erwähnten Auswirkungen der
Globalisierung sind neue Initiativen und breite Dialoge
zur Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte notwendig; denn Gesellschaften, in
denen die WSK-Rechte geachtet und gefördert werden,
sind politisch stabiler und wirtschaftlich erfolgreicher als
solche, in denen gravierende Defizite bestehen. Beispiele
dafür gibt es genug.
Die Bundesregierung hat sich international erfolgreich
dafür eingesetzt, Carsten Hübner, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in die Europäische Grundrechte-Charta aufgenommen wurden. Ich
gehe davon aus, dass diese Rechte damit auch Bestandteil
einer künftigen europäischen Verfassung sein werden.
Das ist ein wichtiger Beitrag dazu.
({1})
Die Bundesregierung hat auch - das wurde vorhin vehement abgestritten - die Frage eines Zusatzprotokolls
zum Internationalen Pakt über die WSK-Rechte in der
Menschenrechtskommission in den letzten Jahren wieder
thematisiert. Davor war der entsprechende Prozess sozusagen eingeschlafen. Dadurch ist der jahrelange Stillstand
bei Verhandlungen über ein Zusatzprotokoll überwunden
worden. Wir wissen aber alle, wie schwierig es ist, im
Rahmen der MRK etwas zu bewirken.
Die Bundesregierung hat sich im Berichtszeitraum in
der MRK aktiv am Verhandlungsprozess zu vielen WSKResolutionen beteiligt: beispielsweise beim Recht auf
Bildung, beim Recht auf Nahrung und beim Recht auf angemessenes Wohnen.
Um die Voraussetzung für eine umfassende Beachtung
der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu
verbessern, ist die Schaffung neuer und die Stärkung bestehender Durchsetzungs- und Überprüfungsmechanismen ein wichtiges Aufgabenfeld. Das ist auch im Menschenrechtsbericht nachzulesen.
Dazu zählt insbesondere die Entwicklung von Indikatoren und Richtwerten, in erster Linie aber auch die Frage
eines individuellen Beschwerdeverfahrens im Rahmen eines Zusatzprotokolls. Das haben wir auch in unserem Antrag zu den WSK-Rechten sehr deutlich gemacht. Wir
meinen, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.
Wir würden uns freuen, wenn die neue Bundesregierung
in diesem Sinne weiter agieren würde.
Die Bundesregierung steht - das ist neu in dieser Legislaturperiode - einem Beschwerdeverfahren zur Einhaltung der WSK-Rechte trotz noch ungeklärter Fragen bei
der Justiziabilität aufgeschlossen gegenüber. Ich denke
- ich beschäftige mich schon relativ lange mit diesem
Thema -, das ist ein Fortschritt gegenüber den letzten Jahren.
Nun ist es aber so, dass Pakte, Normen und - so heißt
es heute - Benchmarking die eine Seite sind. Die Realität,
dass über 800 Millionen Menschen auf der Welt hungern,
ist die andere Seite. Armut ist das Grundproblem des beginnenden neuen Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund
haben sich die Staats- und Regierungschefs dem Ziel verpflichtet, bis zum Jahre 2015 den Anteil der extrem armen
Menschen in der Welt zu halbieren.
Die Bekämpfung der weltweiten Armut ist vorrangig
eine globale Aufgabe, die über die herkömmliche Entwicklungspolitik hinausgeht. Das ehrgeizige Ziel, die Armutshalbierung bis zum Jahr 2015 zu erreichen, ist nicht
in erster Linie mit Haushaltsmitteln aus der Entwicklungszusammenarbeit zu erzielen. Aber keine noch so angespannte Haushaltssituation darf uns daran hindern, die
Haushaltsmittel für Entwicklungshilfe kontinuierlich
zu erhöhen. Das ist mein Appell an das neue Parlament im
Herbst.
({2})
Die universelle Wahrung der Menschenrechte ist vor
allem eine Aufgabe von Staaten. Darüber sind wir uns einig. Aber bereits die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 verpflichtet auch Einzelne und alle
Organe der Gesellschaft, zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Ich meine, dass gerade die großen internationalen
Akteure, die so genannten Global Players, in der Verpflichtung stehen.
Vor diesem Hintergrund hatte Kofi Annan auf dem
Weltwirtschaftsforum in Davos im Jahre 1999 seine Initiative zu einem globalen Pakt vorgestellt. Dieser globale
Pakt hat das Ziel, die Zusammenarbeit zwischen der
UNO und Wirtschaftsunternehmen im Sinne der
Durchsetzung der Menschenrechte nutzbar zu machen.
Die beteiligten Unternehmen sind aufgefordert, sich neun
der zentralen Prinzipien zum Schutz der Menschenrechte
und zu Sozial- und Umweltstandards zu Eigen zu machen.
Drei davon möchte ich nennen: Sie sollen sicherstellen,
dass sie sich nicht zum Komplizen von Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern machen. Sie sollen zur
tatsächlichen Abschaffung der Kinderarbeit beitragen und
sie sollen Initiativen zur Förderung eines verantwortlicheren Umgangs mit der Umwelt durchführen. Ende 2001
betrug die Zahl der mitwirkenden Firmen weltweit mehr
als 500. Es werden zwar ständig mehr; aber das reicht
noch lange nicht aus. Die Bundesregierung unterstützt
diesen Global Compact in vielfältiger Weise, zum Beispiel durch Anschubfinanzierungen.
Ob allerdings auf Dauer - auch das möchte ich an dieser Stelle ansprechen; denn es gab daran breite Kritik Heide Mattischeck
freiwillige Vereinbarungen ausreichen, um Menschenrechte zu globalisieren, daran kann man füglich zweifeln.
({3})
Dies muss auch durch andere Initiativen befördert werden - ich habe bereits davon gesprochen -: durch die Gewährung wirtschaftlicher und sozialer Rechte und die Beachtung des Fakultativprotokolls. So gut und wichtig
freiwillige Vereinbarungen sind, so wichtig ist es, die
Rahmenbedingungen anders zu gestalten.
({4})
Die Globalisierung braucht ein politisch gestalterisches Korrektiv, sonst wird sich die Ungerechtigkeit
in der Welt weiter vermehren.
So Außenminister Fischer auf der 55. UN-Vollversammlung. Ich füge hinzu: Nicht nur die Ungerechtigkeit wird
sich vermehren, sondern auch die Instabilität.
Von der weiten Welt komme ich nun wieder zu uns
zurück: Wir können mit unseren relativ großen Möglichkeiten dazu beitragen, Gerechtigkeit und Stabilität auf
der Welt zu verbessern und sicherzustellen.
({5})
Wir haben also noch sehr viel zu tun. Wenn ich sage „wir“,
dann meine ich damit, dass ich auch in der nächsten Legislaturperiode von außen die eine oder andere E-Mail
schicken werde, um darauf hinzuweisen, was es noch zu
tun gibt und was zu unterstützen ist.
Wie ich schon erwähnte, gehöre ich in die Reihe derjenigen, die in diesen Tagen ihre letzte Rede im Deutschen
Bundestag halten. Ich möchte trotz einiger kleiner Seitenhiebe, die in solch einer Debatte natürlich auch vorkommen - über Stilfragen zum Beispiel würde ich mich gerne
einmal unterhalten -, Dank sagen an die Kollegen und
Kolleginnen im Ausschuss. Ich kann nur sagen, dass unsere Zusammenarbeit gut war und dass man immer darum
bemüht war, ein positives Ergebnis zu erzielen. Wenn wir
nicht immer zu Übereinstimmungen gekommen sind,
dann ist das ein Zeichen für ein demokratisches Parlament.
Bei aller Kritik, die ich zum Teil teile, möchte ich auch
Dank an die vielen Ministerien sagen, die wir inzwischen
mit unseren Problemen beschäftigen. Wir sind ja nicht
nur, wie es früher war, mit dem Auswärtigen Amt verbandelt, sondern auch mit dem Ministerium für Arbeit und
Sozialordnung, dem für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, dem der Justiz, dem für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und weiteren. Diese mussten
sich erst - zum Teil haben sie es noch nicht ganz getan an unsere „Einmischung“ gewöhnen. Wir haben noch einiges zu tun. Aber ich glaube, wir sind auf diesem Wege
ein gutes Stück vorangekommen.
Ich wünsche dem künftigen Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ein weiterhin gutes Klima
und vor allen Dingen weitere wichtige Erfolge bei der
Verbesserung der Situation der Menschenrechte bei uns
und weltweit.
Herzlichen Dank.
({6})
Die Kollegin Mattischeck gehört dem Deutschen Bundestag seit
zwölf Jahren, seit 1990, an. Das Gleiche gilt für die
nächste Rednerin, die Kollegin Monika Brudlewsky. Beiden danken wir für ihre Arbeit und beiden wünschen wir
alles Gute für die Zukunft.
({0})
Nun hat für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin
Brudlewsky das Wort zu ihrer letzten Rede.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In den vergangenen
zwei Jahren begab ich mich in Begleitung der Menschenrechtsorganisation „Hoffnungszeichen“ in eigentlich völlig unzugängliche Rebellengebiete im Süden des Sudans.
Mit Zelten waren wir unterwegs und konnten so in kleinen Ortschaften mit den Einheimischen leichter ins Gespräch kommen. Die Menschen dort leben zum großen
Teil in Angst vor Bombardierung oder gewaltsamer Entführung.
Nach einer Anhörung mit dem UNO-Sonderbeauftragten für den Sudan Gerhart Baum ist der Antrag, der sich
mit dem Friedensprozess im Sudan befasst, entstanden.
In dem Antrag wird gleich zu Beginn als positives Zeichen auf den Waffenstillstand in den Nuba-Bergen, der
seit Januar dieses Jahres von beiden Seiten eingehalten
und jetzt sogar für weitere sechs Monate verlängert
wurde, hingewiesen - ein wirklich gutes Zeichen, das
aber leider wieder von negativen Ereignissen in anderen
Teilen diesen größten Landes Afrikas überschattet wird.
Durch einige sehr achtbare Organisationen wissen wir,
dass noch am 13. Juni 36 Flugpisten von der Regierung für
Hilfsflüge der UN - „Operation Lebenslinie Sudan“ - gesperrt waren und damit 39 Orte von jeder humanitären
Hilfe ausgenommen wären. Wenn das nicht unterdessen
geändert worden ist, sind jetzt zu Beginn der Regenzeit
rund 1,7 Millionen Menschen dem Hunger überlassen.
Von der Botschaft der Republik Sudan hier in Berlin
wurde uns eine Erklärung zu unserem Antrag zugesandt.
Darin wird unter anderem sehr deutlich die Glaubwürdigkeit derer angezweifelt, welche über Bombardements auf
zivile Ziele im Süden des Sudans berichten.
Wir haben bei unseren Reisen im Süden wiederholt
feststellen müssen, dass Bombardements wahllos auf
Dörfer, auf Kirchen, auf Krankenhäuser erfolgten, bei denen nicht eine Spur von militärischen Einrichtungen der
Rebellen zu entdecken waren. Die letzte uns bekannt
gewordene Bombardierung fand am 23. Juni, also erst
vor fünf Tagen, in der Ortschaft Malwal Kon im Gebiet
Bahr-el-Ghazal statt. Wiederum sind vier zivile Opfer zu
beklagen.
Zum Thema Entführungen wurde mir in Khartoum
das Phänomen der Stammesfehden um Wasser und Weideland, das seit Jahrhunderten bestehe, immer wieder als
Begründung genannt. Dazu muss ich sagen, dass ich bei
meinen Reisen in den vergangenen Jahren im Süden viele
Menschen in den verschiedensten Gebieten und Dörfern
befragen konnte. Hier war vielmehr von furchtbaren
Überfällen die Rede, von berittenen Arabern, teilweise als
Soldaten der Regierung, teilweise als regierungskontrollierte Milizen erkennbar, die in großer Schar meistens im
Morgengrauen in die Ortschaften eindrangen, alles, was
sich ihnen in den Weg stellte, töteten, Frauen und Kinder
gewaltsam verschleppten. Frauen wurden vergewaltigt,
Kinder in Lagern unter Repressalien zum islamischen
Glauben umerzogen.
Was ich hier sage, ist in vielen Berichten von NGOs, so
auch von der Menschenrechtsgruppe „Hoffnungszeichen“, dokumentiert und könnte ohne Namenspreisgabe
im Auswärtigen Amt eingesehen werden.
Die Kritik der sudanesischen Regierung an den so genannten Sklavenfreikäufen möchte ich allerdings ausdrücklich unterstützen, weil das wirklich kein Weg ist, die
Entführungen zu unterbinden. Und ich möchte von dieser
Stelle aus meinen Appell vor allem nach Amerika und in
die Schweiz wiederholen, mit diesen unsinnigen Freikäufen nicht fortzufahren.
Die Regierung in Khartoum betont stets die Religionsfreiheit in ihrem Lande. Man weist auf überfüllte Kirchen
und auf die Kathedrale in Khartoum hin. Jedoch wenige
hierzulande wissen, dass in den letzten Jahren zwar viele
kirchliche Bauten zerstört wurden, dass aber kein kirchlicher Neubau genehmigt wurde und dass immer wieder
Bulldozer unter Armeeschutz primitivste Versammlungsräume von Christen zusammenschieben, oft unter dem
Vorwand, dass dort eine Straße entstehen solle oder dass
dieser Raum ohne Genehmigung gebaut worden sei.
Der Religionsminister hat in einem internen Gespräch
mit einem Repräsentanten unseres Landes meine Aussage
indirekt bestätigt, indem er zugab, dass es seit Jahr und
Tag keinen Antrag auf einen Kirchenneubau gegeben
habe. Natürlich haben die christlichen Gemeinschaften
solcherlei Antragstellung vor Jahren irgendwann sein gelassen, weil es stets nur Ablehnungen gab.
Es gibt vor allem im Norden des Landes eine zermürbende und schleichende Diskriminierung von Christen,
die in der Welt kaum noch zur Kenntnis genommen und
oft einfach ignoriert wird.
Im Gespräch mit Vertretern verschiedenster christlicher Kirchen wurde mir die Ohnmacht gegenüber den
Verhältnissen vor Augen geführt. Besonders gefährlich ist
die Situation bei einer Konversion vom Islam zum christlichen Glauben. Von da an sind diese Menschen in Todesgefahr; denn laut Scharia, die im Norden für alle gilt,
droht Menschen, die dem Islam den Rücken kehren, heute
noch die Todesstrafe.
Ein großes Problem stellt im Sudan weiterhin das
Thema Genitalverstümmelung dar, obwohl sie seit einiger Zeit gesetzlich verboten ist. Man berichtete mir, dass
dieser Tage sogar eine Klinik eröffnet wurde, in der Beschneidungen der leichteren Form vorgenommen werden
sollen. Dabei wurde argumentiert, dass dort wenigstens
unter sterilen Bedingungen gearbeitet wird, während Kurpfuscherinnen mehr Schaden anrichten.
Zum Abschluss meiner Reise vom 1. bis 6. Juni in
Khartoum durfte ich das Frauengefängnis von Omdurman, das auch schon Herrn Gerhart Baum präsentiert
wurde, besichtigten. Als ich die vielen jungen Mütter mit
ihren Kindern auf engstem Raum versammelt sah, ging
mir deren Schicksal sehr nahe. Ein großer Teil der Frauen
saß wegen Zahlung mit ungedeckten Schecks ein, ein Vergehen, das aus lauter Verzweiflung aufgrund der Armut
unsinnigerweise begangen wird. Auf meine Frage, wann
diese Frauen aus dem Gefängnis freikämen, sagte man
mir: wenn sie ihre Schulden bezahlt hätten. Wann werden
diese Frauen wohl freikommen?
Bei dem Bemühen um den Friedensprozess möchte ich
ausdrücklich unserem deutschen Botschafter Matthias
Meyer und seinem Arbeitsstab in der Botschaft in Khartoum danken. Herr Botschafter Meyer lässt es an der nötigen Diplomatie nicht fehlen, aber er spricht auch da, wo
er es für nötig hält, eine deutliche Sprache. Er wird von
Regierungsvertretern und oppositionellen Gruppen als
Gesprächspartner sehr geschätzt.
Frieden kann nur werden, wenn Gerechtigkeit und Vergebung gleichermaßen zur Sprache kommen. Wir deutschen Parlamentarier wünschen den liebenswerten Menschen im Sudan so sehr, dass der Frieden kein Traum
bleibt.
Da dies meine letzte Rede in diesem Parlament ist,
möchte ich auf diesem Wege noch einmal allen Kolleginnen und Kollegen für das gute Miteinander in all den
zwölf Jahren danken. Ich wünsche mir, dass von diesem
Parlament weiterhin gute Entscheidungen für unser Vaterland ausgehen. Dazu wünsche ich Gottes Segen.
Danke.
({0})
Ich gebe
nunmehr dem Bundesaußenminister Joseph Fischer das
Wort.
({0})
Herr Merz, Sie werden sich täuschen, wie schon so oft.
({0})
Ich sehe, Sie bewerben sich hier. Das ist auch so in Ordnung. Ich glaube nur, die Wählerinnen und Wähler werden Ihnen eine klare Absage erteilen.
({1})
Ich möchte zu unserem ernsten Thema zurückkommen. Ich würde gerne Ihre Polemik aufnehmen, aber ich
lasse das, weil das Thema dafür zu ernst ist. In meiner kurzen Redezeit ist es sehr schwierig, auf das gesamte Spektrum einzugehen. Menschenrechtspolitik ist die zentrale
Aufgabe deutscher Außenpolitik, ich behaupte sogar, es
ist die Hauptaufgabe der internationalen Politik im
21. Jahrhundert. Das werde ich gleich noch begründen.
Die Abgeordneten haben heute zu Recht die ganze Bandbreite der Menschenrechtsproblematik angesprochen.
Dazu gehören die wirtschaftlichen und sozialen Rechte
sowie die strukturellen Fragen der Entwicklung und der
Krisenbewältigung. Diese sind besonders wichtig, da es
im Rahmen der aktuellen Konflikte - dazu gehören regionale, Gruppen-, aber auch länderübergreifende Konflikte - immer wieder zu lang anhaltenden schwersten
Menschenrechtsverletzungen kommt. Das alles haben wir
im Menschenrechtsbericht ausführlich dargestellt, deshalb werde ich darauf in der mir verbleibenden Redezeit
nicht im Einzelnen eingehen.
Für uns war die Menschenrechtspolitik von zentraler
Bedeutung. Wir haben in den Länderberichten dokumentiert, wie wir die Akzente neu setzen werden. Lassen Sie
mich hinzufügen: Wir sehen auch im eigenständigen
Menschenrechtsausschuss - das ist meine Erfahrung einen großen Fortschritt. Ich möchte mich hier für die gute
Zusammenarbeit nochmals recht herzlich bedanken.
Mir ist klar, dass diejenigen, die sich für die Menschenrechte einsetzen - einzelne Abgeordnete, die Fraktionen, auch die Opposition, vor allen Dingen aber die
Nichtregierungsorganisationen -, immer wieder Druck
ausüben müssen. In einer Welt, in der es zu schwersten
Menschenrechtsverletzungen kommt, ist dieser Druck
notwendig. Das bedeutet auch Kritik und mit dieser Kritik muss jede Regierung leben und versuchen, ein Maximum davon umzusetzen. Wir haben in den vergangenen
Jahren versucht, das in der Menschenrechtspolitik zu tun.
Es wurde zu Recht gefordert - die Kollegin Nickels hat
viele sehr bedenkenswerte und auch meine Sorgen betreffende Fragen im Zusammenhang mit der Bekämpfung
des Terrorismus aufgeworfen -, dass es hier keinen Antiterrorrabatt geben darf. Dem stimme ich ausdrücklich
zu. Aber ich möchte auch darauf hinweisen, dass der
Kampf gegen den internationalen Terrorismus zugleich
klar macht, dass die Bedeutung der Menschenrechte für
Frieden und Stabilität im 21. Jahrhundert jetzt ein ganz
anderes Gewicht bekommen hat. Denn wenn wir die Lektion des 11. September wirklich ernst nehmen, so ist das
Erste, was wir zu lernen haben, dass sich die erste Welt in
dieser globalisierten Welt, der einen Welt, nicht von den
Problemen der dritten Welt wird trennen können. Wenn
diese Probleme dort nicht gelöst werden, werden sie uns
über kurz oder lang in der ersten Welt einholen. Insofern
ist die Konsequenz aus dem 11. September, aus dem internationalen Terrorismus, natürlich nicht nur, dass man
dem Terror entgegentreten muss, nicht nur, dass man ihn
bekämpfen muss, sondern dass man die Lebenschancen
für viele Menschen in dieser einen Welt verbessern muss.
({2})
Verbesserung der Lebenschancen heißt außerdem - da
geht Menschenrechtspolitik heute weit über die klassische Menschenrechtspolitik hinaus -: Es wird keine Verbesserung der Lebenschancen in weiten Teilen der Welt
geben, wenn dort nicht Verfassungsstaat, Demokratie
und Achtung der Menschenrechte durchgesetzt werden.
Das ist doch die Erfahrung, die wir gegenwärtig machen.
({3})
Das ist auch das, was wir mit Russland im Zusammenhang mit Tschetschenien diskutieren. Tschetschenien ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe, es ist nicht
nur moralisch verwerflich, was dort geschieht, sondern es
blockiert auch die Entwicklung der russischen Demokratie. Eine Demokratie kann so nicht mit ihren eigenen Bürgerinnen und Bürgern umgehen, wie dies in Tschetschenien geschieht. Dies hat die Bundesregierung, dies habe
ich immer wieder mit allem Nachdruck der russischen
Seite gegenüber klar gemacht. Wir brauchen dort eine politische Lösung auf der Grundlage der Menschenrechte.
({4})
Ich habe auch der chinesischen Seite immer wieder
klar gemacht: Es ist auch eine Frage des Minderheitenrechtes, des Minderheitenschutzes. Man kann aufbegehrende Minderheiten, die dies friedlich, die dies gewaltfrei
tun, nicht mit Terroristen sozusagen unter einen Hut
stecken. Das geschieht jetzt sehr weit. In Zentralasien, in
anderen Ländern begegnet mir dies immer wieder. Ich
habe der chinesischen Seite in vielen Gesprächen klar gemacht - Sie werden das den Berichten entnehmen können,
die für den Ausschuss zugänglich sind -, dass es für uns
auf der Grundlage der Ein-China-Politik - wir unterstützen keinen Separatismus - eine Selbstverständlichkeit ist,
dass Minderheiten in ihrer kulturellen Identität, in ihren
Autonomierechten geschützt werden müssen und dass
dies nicht im Widerspruch zur Ein-China-Politik steht.
Moderne Entwicklung bedeutet nicht nur, Marktwirtschaft einzuführen, sondern diese marktwirtschaftliche
Entwicklung wird meines Erachtens das Problem in sich
bergen, dass sie starke korruptive Kräfte befördert, wenn
es keine Transparenz gibt, wenn es nicht Demokratie und
Rechtsstaat gibt.
Das heißt hier: Der Schutz von Dissidenten, der Schutz
von Demokraten, die immer noch zu schwersten Strafen
verurteilt werden, ist eine unserer Hauptsorgen. Ich habe
das zuletzt nochmals in einer sehr offenen und klaren
Rede vor der Menschenrechtskommission in Genf angesprochen. Die chinesische Seite hat ja auch entsprechend
reagiert.
({5})
Das gilt auch für religiöse Minderheiten. Uns ist in
der Tat nicht nur hier im Inland religiöse Toleranz ein hohes Gut, sondern selbstverständlich setzen wir uns für religiöse Minderheiten - das heißt in diesem Falle: auch für
christliche Minderheiten beider großen christlichen Konfessionen - ein, nicht nur in Vietnam, sondern auch in
China. Auch das ist ein ständiges Thema.
({6})
Die Todesstrafe ist ein weiterer wichtiger Punkt, bei
dem Europa eine Leitfunktion hat. Ich bin mir sicher, die
Europäer werden das dickschädelig durchsetzen. Wir
werden, wenn wir langen Atem behalten, letztendlich die
Ächtung der Todesstrafe durchsetzen, nicht überall, aber
weitgehend, zumindest bei unseren wichtigsten Partnern.
Insofern war es auch wichtig, dass die Bundesregierung
gegenüber den USA die Klage vor dem Internationalen
Gerichtshof durchgehalten und gewonnen hat.
({7})
Meine Damen und Herren, ich könnte noch viele Einzelpunkte ansprechen, die mir am Herzen liegen. Wir
werden es nicht akzeptieren - das würde bei uns zu einer
Veränderung der Politik führen -, wenn Afghanistan
Frauenrechte wieder einschränken oder gar zum Schariarecht à la Taliban zurückkehren würde. Dies halten wir
nicht für vereinbar mit unseren Grundpositionen, mit den
Menschenrechtspositionen, die unser Land prägen. Das
ist eine Grundlage unserer Politik, ich hoffe unser aller
Politik; das ist nicht nur eine Position der Bundesregierung, sondern des gesamten Hauses.
Lassen Sie mich noch eines ansprechen, was mich ganz
aktuell sehr bedrängt. Das ist Simbabwe. Was wir dort erleben, geschieht aus wirklich verwerflichen politischen
Machterhaltungsgründen. Ein Freiheitskämpfer wird dort
zu einem Unterdrücker.
In Simbabwe erleben wir jetzt schwerste Menschenrechtsverletzungen zum Zwecke des Machterhalts. Wir
erleben, wie eines der reichsten Länder des südlichen
Afrikas, das eigentlich gemeinsam mit Südafrika im Rahmen eines Regionalansatzes Stabilität, Nahrungsmittel
sowie Konfliktlösungen auf friedlichem Wege exportieren müsste, im Chaos versinkt. Wir werden demnächst vor
schlimmen Bedrohungen für die Menschen dort stehen,
nämlich dem Hunger, während gleichzeitig den Farmern
verboten wird, anzubauen und zu arbeiten. Wenn es nicht
so schlimm wäre, wäre es eine Groteske. Es ist aber viel
zu schlimm, um als Groteske bezeichnet zu werden.
Auch dies macht klar, wie wichtig Regionalansätze
sowie die Verknüpfung von Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung sind. Wenn wir im 21. Jahrhundert eines zu beherzigen haben - deswegen halte ich
den selbstständigen Menschenrechtsausschuss für unbedingt geboten -, dann ist es eine Politik, die darauf zielt,
dass Menschenrechte nicht mehr nur eine Frage des aktuellen Gruppenschutzes oder der aktuellen Konfliktintervention sind, sondern eine Frage der Durchsetzung
rechtsstaatlicher Grundsätze.
Nur rechtsstaatliche Grundsätze, die dauerhaft implementiert werden, garantieren Entwicklungschancen.
Ohne diese Entwicklungschancen gibt es keinen Frieden.
Ohne diese Entwicklungschancen gibt es keine wirkliche
Terrorbekämpfung, die nachhaltig ist und in den Köpfen
und Herzen von Millionen von Menschen eine andere
Perspektive eröffnet. Deswegen hat die Menschenrechtspolitik meines Erachtens eine zentrale Bedeutung in der
Friedens- und Sicherheitspolitik für unsere Zukunft und
für die Welt im 21. Jahrhundert.
Ich möchte mich bei allen Kollegen, die jetzt ausscheiden, recht herzlich bedanken. Darunter sind einige - Herr
Schwarz-Schilling, an diesem Punkt bezeichne ich mich
auch noch als jünger -, von denen wir zwei Dinge gelernt
haben: zum einen in der Sache ganz energisch - auch gegen Mehrheiten - zu kämpfen und zum anderen nicht auf
die Position im eigenen Verein zu schauen. Ich erwähne
hier besonders die Opposition, könnte aber auch in die eigenen Reihen schauen. Es ist aber oft besser, auf die anderen zu schauen.
Wir haben immer wieder versucht, Frau LeutheusserSchnarrenberger, auch auf die Erfahrungen von Oppositionsabgeordneten oder ehemaligen Regierungsmitgliedern wie von Ihnen oder dem Kollegen Baum
zurückzugreifen. Ich finde, dieser gemeinsame Ansatz hat
- trotz aller Kritik, die es selbstverständlich geben muss unsere Position als Land und unsere Menschenrechtspolitik gestärkt. Ich möchte mich bei allen Kollegen, die ausscheiden, auch beim Kollegen Hübner - wir haben uns
oft gestritten, dennoch habe ich Ihre Arbeit als sehr wertvoll empfunden -, recht herzlich bedanken und wünsche
Ihnen alles Gute.
({8})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Hermann Gröhe
das Wort.
Herr Bundesaußenminister, ich möchte mich ausdrücklich für Ihre deutlichen
Worte zur Lage in Simbabwe bedanken. Ich glaube, dass
an der Situation in diesem Land besonders der Zusammenhang zwischen Freiheitsrechten sowie sozialen und
kulturellen Rechten deutlich wird. Es begann sozusagen
mit einem Wahlbetrug, mit dem Entzug von politischen
Freiheitsrechten und droht jetzt zu einer Hungerkatastrophe zu werden.
Ich hätte mich aber gefreut, wenn ein Antrag der Unionsfraktion, der genau diese Lage in Simbabwe in diesen
Tagen anspricht, die Zustimmung im Hause hätte finden
können. Für die Klarstellung heute dennoch herzlichen
Dank.
({0})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/9323 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 22 b: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/9471 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Sklaverei weltweit verhindern“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8280 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und
PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 c: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/9484 zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Lage
der Menschen- und Minderheitenrechte in Vietnam“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8483
in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 d: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/9485 zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Den Friedensprozess im Sudan in
Gang setzen und nachhaltig fördern“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8481 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung
der Fraktion der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 e: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/9486 zu dem
Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Konkrete
Maßnahmen zur Stärkung wirtschaftlicher, sozialer und
kultureller Rechte ergreifen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/8502 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerald Weiß ({1}), Karl-Josef
Laumann, Brigitte Baumeister, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Kapitalteilhabe stärken - Vermögensbildungsförderung altersvorsorgegerecht ausbauen
- Drucksachen 14/6639, 14/9401 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin der Kollegin Silvia Schmidt für die Fraktion der SPD
das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich
weiß nicht recht, ob der vorliegende Antrag der
CDU/CSU-Fraktion immer noch ernst gemeint ist.
Schließlich ist er schon ein Jahr alt. In der Zwischenzeit
hat die Position der CDU/CSU zur privaten Altersvorsorge einige Kapriolen geschlagen. Soweit ich informiert
bin, lehnen Sie im Augenblick das Altersvermögensgesetz
ab, weil es Ihnen zu kompliziert erscheint.
({0})
Ich weiß zwar nicht, welche Position Sie dazu in den
nächsten Wochen vertreten werden, aber Ihre augenblicklichen Verlautbarungen passen nun wirklich nicht zu dem
vorliegenden Antrag.
({1})
Der Antrag würde die Materie Altersversorgung
tatsächlich viel komplizierter machen. Deshalb sagte ich
schon eingangs, dass ich ratlos bin, ob ich Ihren Antrag
ernst nehmen soll. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass die
Bundesregierung die Mitarbeiterbeteiligung „ohne triftigen Grund“ beim Altersvermögensgesetz nicht berücksichtigt hat. Ohne triftigen Grund? Wenn Sie das noch immer behaupten - das sollten Sie wissen -, dann stehen Sie
mit Ihrer Aussage ziemlich allein da.
({2})
Was sagte zum Beispiel Herr Professor Dr. Wagner
vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung bei der
Anhörung? Produktivvermögen im Sinne von direkten
Beteiligungen an Unternehmen ist als eine Anlageform
für breite Bevölkerungsgruppen nur bedingt geeignet, insbesondere nicht für Zwecke der Altersversorgung. Er
sagte weiter: Es ist daher sinnvoll, dass die Mitarbeiterbeteiligung nicht in die Förderung nach dem Altersvermögensgesetz aufgenommen worden ist.
({3})
Selbst die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände mahnt für die Altersversorgung eine angemessene Risikostreuung an. Davon kann natürlich
bei unmittelbaren Unternehmensbeteiligungen überhaupt
nicht ausgegangen werden.
Als Abgeordnete aus den neuen Bundesländern erlebe
ich immer wieder, dass man um seinen Arbeitsplatz bangen muss, weil die Unternehmen in ihrer Existenz bedroht
sind. Wollen Sie tatsächlich, dass Arbeitnehmer beim Verlust des Arbeitsplatzes auch noch den Verlust ihrer Altersversorgung befürchten müssen? Ich unterstelle Ihnen einmal, dass Sie das nicht wollen. Verstehen Sie jetzt, warum
die Ernsthaftigkeit Ihres Antrags bezweifelt werden muss?
Kommen wir nun zu den Kosten, die Ihr Vorhaben
nach sich ziehen würde. Dabei geht es um etwa 1 Milliarde Euro. Mir ist zwar bekannt, dass Sie in Sachen Schulden machen auf eine langjährige Erfahrung zurückgreifen
können - Ihr Wahlprogramm zeigt auch, dass Sie noch
nichts davon verlernt haben -,
({4})
aber dann seien Sie bitte auch so ehrlich, die Bürgerinnen
und Bürger darauf hinzuweisen, dass für die Umsetzung
Ihres Vorschlags ein Griff in das Staatssäckel nötig ist.
Stattdessen behaupten Sie aber ernsthaft, die Kosten
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
durch so genannte Umschichtungen decken zu können.
Weniger konkret und weniger realistisch geht es wohl
kaum noch.
Wenn Sie Ihre milliardenschweren Versprechungen
durch Umschichtungen finanzieren wollen, können Sie so
viel umschichten, wie Sie wollen, eine wundersame Geldvermehrung wird Ihnen dadurch nicht gelingen.
In Ihrem Antrag gibt es noch weitere Ungereimtheiten.
In den Diskussionen um das Betriebsverfassungsgesetz
haben Sie Farbe bekannt und eine Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung deutlich abgelehnt. Was aber
dürfen wir in dem Antrag lesen, den Sie jetzt vorgelegt haben? Sie fordern die Beteiligung der Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen am Produktivvermögen, weil das
gesellschaftspolitisch gewünscht wird. Wie soll denn das
zusammenpassen?
Ich meine, zu dem vorliegendem Antrag ist genug gesagt. Eine solide Altersvorsorge und eine solide Rentenpolitik sehen anders aus. Durch unsere Rentenreform hat
die Rente wieder den Verlässlichkeitsstandard erreicht,
den sie benötigt. Was Sie dagegen vorhaben, ist eine Politik auf dem Rücken der Klein- und Kleinstrentner. Ich
nenne als Beispiel Ihre Ankündigung, Herr Merz, in den
kommenden Jahren das Rentenniveau absenken zu wollen. Diese Ankündigung macht deutlich, dass die Union
ihre Absicht, das Rentenniveau auf 64 Prozent zu
drücken, nie vergessen hat.
Ich spreche aber auch von den Ankündigungen im CDU/
CSU-Wahlprogramm, das In-Kraft-Treten der Altersgrundsicherung zu verhindern. Ziel der Grundsicherung
ist, die verschämte Altersarmut, von der vor allem Frauen
betroffen sind, zu beenden.
({5})
Frauen, die keine Chance hatten, selbst ausreichende Rentenansprüche zu erarbeiten, soll mit diesem Gesetz endlich geholfen werden. Erzählen Sie das einmal den ostdeutschen Frauen!
Die Grundsicherung betrifft aber auch unsere behinderten Mitbürger und Mitbürgerinnen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für Behinderte hat mich in dieser
Woche eindringlich aufgefordert, für das In-Kraft-Treten
der Grundsicherung einzutreten. Das tun wir auch.
Herr Moser von der BAG schreibt:
Das Grundsicherungsgesetz ist ein ganz entscheidender Schritt unseres Staates auf dem Weg zu einer
neuen sozialen Wirklichkeit, in der behinderungsbedingt erwerbsunfähigen Erwachsenen aus den Solidarmitteln der gesamten Gesellschaft die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in unserer Gesellschaft
ermöglicht wird.
Dieses Gesetz wollen Sie verhindern. Ist das Ihre verantwortungsbewusste Politik?
In unserer Reformpolitik, die wir auch in der nächsten
Legislaturperiode fortsetzen werden, haben wir die Renten und die soziale Grundsicherung auf ein solides Fundament gestellt. Wir machen keine Geschenke und
Versprechungen, die wir nicht bezahlen können. Ich fordere die Opposition auf, ebenfalls konstruktive Vorschläge zu machen, statt einen Wahlkampf mit Versprechungen zu führen, die niemand finanzieren kann. Die
Wähler merken das.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Gerald Weiß.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, Frau
Schmidt, es ist uns sehr ernst mit diesem Antrag,
({0})
der eines zum Ziel hat, nämlich Eigentum für alle zu
schaffen,
({1})
auch deshalb, weil Eigentum die Grundlage für Einkommen - vor allem auch für Alterseinkommen -, aber auch
für Sicherheit, Teilhabe und Freiheit bildet. Deshalb bleiben wir bei der Intention unseres Antrags.
({2})
Wir sind der Meinung, dass die Förderung der Vermögensbildung viel stärker in den Dienst der Altersvorsorge
gestellt werden muss. Eigentum und Kapitaleinkommen
werden für die Alterssicherung in Zukunft eine viel größere
Bedeutung haben müssen. Deshalb muss eine langfristige
Bindung in den Förderkriterien sozusagen besonders belohnt werden, wie es unser Antrag auch vorsieht.
Vermögensbildung, Mitarbeiterbeteiligung und betriebliche Alterssicherung müssen in Zukunft besser miteinander verzahnt werden.
({3})
Eines lassen wir nicht durchgehen, Frau Schmidt, nämlich dass Sie heute die Ziele, die Sie gestern noch in Ihrem
Wahlprogramm propagiert und in den Vordergrund
gerückt haben, denunzieren und als eine nicht ernst gemeinte Spinnerei abtun.
({4})
Wir scheinen die Einzigen zu sein, die Ihr Wahlprogramm
von 1998 nicht weggeworfen haben. Darin sprechen Sie
von der Anhebung der Einkommensgrenzen in der Vermögensbildungsförderung auf 50 000 DM/100 000 DM.
Das steht auch in unserem Antrag. Das ist ein Bekenntnis
zur Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand.
In das Schlupfloch der Riester-Förderung, das Sie eben
in der Argumentation wieder aufgesucht haben, lassen wir
Sie nicht hinein. Der Unionsantrag hat sich durch das, was
mit der Riester-Rente - in aller Unzulänglichkeit - getan
wurde, natürlich nicht erübrigt. Von den Unzulänglichkeiten
Silvia Schmidt ({5})
und Ungerechtigkeiten der Riester-Rente will ich jetzt gar
nicht weiter sprechen; sie sind offenkundig. Ich weise nur
darauf hin, dass die betriebliche und private Vorsorge, nicht
jedoch die Beteiligung der Mitarbeiter am eigenen Unternehmen gefördert wird, was Sie aber in Ihrem Wahlprogramm 1998 gefordert haben.
({6})
Darin haben Sie vier Säulen gefordert. Erste Säule: gesetzliche Rentenversicherung. Zweite Säule: betriebliche
Altersvorsorge. Dritte Säule: private Vorsorge. Vierte
Säule - ich zitiere, Frau Schmidt -:
Als neue zusätzliche Säule der Alterssicherung wollen wir eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Kapitalstock der Volkswirtschaft, am Produktivkapital und am Gewinn des
Unternehmens.
Sie wollen nicht mehr wahrhaben, was Sie den Leuten gestern versprochen haben, als Sie noch Opposition waren.
({7})
- Und am 1. Mai vor zwei Jahren!
({8})
- Ich werde gleich noch ein Zitat dazu bringen. - Politische Fehlanzeige in der Vermögensbildung, Schall und
Rauch, versprochen und gebrochen wie auf so vielen anderen Feldern auch.
({9})
In der Benchmarkingstudie, die Sie selbst bestellt haben, die offiziell sozusagen nicht ans Licht kommen
durfte, die aber jeder Interessierte gelesen hat, ist dargestellt, dass Deutschland bei der Verbreitung von Mitarbeiterbeteiligungsmodellen schlecht dasteht. Frankreich 58 Prozent der Betriebe, Großbritannien 51 Prozent
der Betriebe, Deutschland nur 16 Prozent der Betriebe.
({10})
Wir sind also nicht nur bei den wirtschaftlichen Kennzahlen, sondern auch in diesem Bereich Schlusslicht. Alle Argumente, nicht nur soziale, sondern auch handfeste betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche, sprechen
dafür, die Mitarbeiterbeteiligung auszuweiten. Sie haben
es nicht getan - entgegen Ihren Ankündigungen.
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßen?
Ja.
({0})
Ja, aber ich mache es kurz.
Kollege Weiß, Sie haben gerade die betriebliche Altersvorsorge in Frankreich und England angesprochen.
Würden Sie zugestehen, dass die Leute in England und
Frankreich bei den niedrigen Renten dort - Sie wissen, es
gibt dort feste Beträge, in England zum Beispiel 90 Pfund
in der Woche - natürlich auf die betriebliche Altersvorsorge angewiesen sind, während wir ja mit der beitragsbezogenen Rente ein ganz anderes System haben, was
vielleicht mit ein Grund dafür ist, dass die betriebliche Altersvorsorge bei uns leider Gottes noch nicht so ausgebaut
ist, wie sie sein sollte, dass die Riester-Rente aber einen
wesentlichen Fortschritt bringen wird?
Verehrter
Kollege, Sie haben ja gerade dafür gesorgt, dass unser
Rentenniveau sinkt. Das ist doch das Ergebnis Ihrer Rentenreform.
({0})
Deswegen brauchen wir zusätzlich intelligente, kapitalgedeckte Instrumente. Versicherungsprodukte sind eben
etwas anderes als die Beteiligung der Mitarbeiter am eigenen Betrieb.
Jetzt nehme ich ein Argument von Ihnen, Frau
Schmidt, auf. Sie sagten, dann gebe es ja ein doppeltes
Risiko, Arbeitsplatz plus Beteiligung am Betrieb, der
vielleicht nicht reüssiert und vielleicht sogar untergeht.
Für die Absicherung dieses Risikos haben verschiedene
Unternehmen Vorschläge im Sinne einer Versicherung gemacht, die sozusagen hinter den Kapitalanteil gestellt
wird. So wird sichergestellt, dass mindestens das Kapital,
im günstigeren Fall - der hoffentlich der Normalfall sein
wird - auch der wirtschaftliche Erfolg in Form der Kapitalmehrung den Arbeitnehmern unmittelbar zugute
kommt. Mit dem Doppelrisiko haben Sie keinen stichhaltigen Einwand gebracht, weil genau das ausgeschlossen
werden kann, wie auch in der Anhörung vorgetragen
wurde.
({1})
Ich kehre zu den wirtschaftlichen Argumenten zurück.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat in
einer Studie unmissverständlich gesagt: Im Produktivitätsvergleich schließen die Unternehmen, die Mitarbeiterbeteiligungen haben, ungleich besser ab als die
Unternehmen, die sie nicht haben. Im Vergleich der Wertschöpfung pro Beschäftigten gibt es eine Spanne zwischen Betrieben mit Mitarbeiterbeteiligung und ohne Mitarbeiterbeteiligung von 125 000 DM zu 79 400 DM.
Diese Spanne gilt auch für die Betriebe im Osten. Deshalb
ist es auch eine betriebswirtschaftlich und volkswirtschaftlich überlegene Strategie, verstärkt auf die Mitarbeiterbeteiligung zu setzen. Die Mitarbeiterbeteiligung
hat über ihre Bedeutung für die Produktivität hinaus eine
wachstumsstrategische und damit letztlich auch, wie die
Benchmarkingstudie zeigt, eine beschäftigungspolitische
Bedeutung.
Wenn Sie das nicht erkannt haben und Nichternsthaftigkeit des Vorhabens reklamieren, können Sie einem nur
Gerald Weiß ({2})
Leid tun, Frau Schmidt. Sie haben ein wesentliches Feld
nicht nur nicht beackert, sondern dessen Bedeutung für
die Zukunft offenkundig nicht erkannt.
({3})
Das kann man nur bedauern. Es steht auch in einem
großen Widerspruch zu dem, was Sie jetzt sagen.
Im Übrigen sagte Ihr Kanzler anlässlich der 50. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Partnerschaft in der Wirtschaft im März 2000 - Originalton Gerhard Schröder -:
Es zeigt sich deutlich, dass beide Seiten, Unternehmer und Beschäftigte, davon profitieren, wenn Mitarbeiter zu Mitunternehmern werden.
({4})
Mitarbeiter werden zu Mitunternehmern ({5})
eine geradezu christlich-soziale Formulierung. An diesem
Tag trug Ihr Bundeskanzler das christlich-soziale Mäntelchen. Aber das war eine Eintagsfliege wie so viele andere
Eintagsfliegen, die er kreiert hat. Es sind keine Taten gefolgt. Ich sage noch einmal: Schall und Rauch, versprochen, gebrochen, nicht eingelöst. Im Übrigen hat er das
am 1. Mai 2000 vor sehr vielen Gewerkschaftern
nochmals ausgeführt. Das sind Sonntagsreden, wie wir sie
immer wieder hören mussten. Wohl klingende Reden am
Sonntag, ruhige Hand am Werktag - das geht nicht und
das lassen wir Ihnen auch nicht durchgehen.
({6})
Ich wiederhole: Bei der Riester-Rente haben Sie neben
anderen Anlageformen die Mitarbeiterbeteiligung nicht
eingebaut. Die anderen Anlageformen haben Sie sehr
kompliziert kreiert; das merkt man auch an der zögerlichen
Inanspruchnahme dieser Mittel. Die Förderung ist sozial
ungerecht, weil sie Schwächere nur schwach fördert, sodass diese die Riester-Rente nach allen Ergebnissen, die
uns bisher vorliegen, auch nur in geringem Umfang in Anspruch nehmen. Es war ein strategischer Fehler und ein
schwer wiegendes Versäumnis, dass Sie die Mitarbeiterbeteiligung ausgeklinkt und nicht eingebaut haben, natürlich mit einer Sicherung gegen das Doppelrisiko, das Sie
mit Recht geschildert haben, das aber kein ernsthaftes Argument gegen die Mitarbeiterbeteiligung darstellt. Sie haben damit Ihr Versprechen von gestern nicht erfüllt.
Bei der Gelegenheit will ich Ihnen sagen, dass Sie ja
auch auf anderen Feldern der Mitarbeiterbeteiligung Ihre
Zusagen nicht eingelöst haben. Frau Staatssekretärin Wolf
hat in der „Welt“ am 19. Februar 2001 gesagt: Wir brauchen eine neue Form der Besteuerung von Aktienoptionen. Bis heute sind Sie untätig geblieben. Jetzt wollen Sie
unseren Antrag ablehnen.
Ich will noch einmal sagen, dass wir mit der Zustimmung durch Gewerkschaften, kirchliche Verbände und Arbeitgeberverbände in der Anhörung sehr zufrieden sind.
Die Forderung nach Anhebung des Freibetrages gemäß
§ 19 a des Einkommensteuergesetzes hat breite Unterstützung gefunden, beispielsweise auch durch die AGP, die
das als die wichtigste Förderform der betrieblichen Mitarbeiterbeteiligung in Deutschland bezeichnet hat.
({7})
Frau Schmidt, denken Sie dynamisch! Wenn die Mitarbeiterbeteiligung die Produktion fördert und damit von
beschäftigungspolitischer Bedeutung ist, dann wird sie in
der Zukunft mehr Wachstum, mehr Sozialversicherungbeiträge und höhere Steuererträge zur Folge haben. In diesem Sinne ist die Mitarbeiterbeteiligung eine Investition
in die Zukunft. Eine solche Investition lehnen Sie ab, weil
Sie Mitarbeiter als Mitunternehmer in Wahrheit gar nicht
haben wollen.
Wir kommen auf dieses Thema nach dem 22. September zurück.
({8})
Dann werden wir bessere Rahmenbedingungen für die
Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand schaffen.
Danke.
({9})
Ich gebe das
Wort der Kollegin Christine Scheel für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Weiß, Sie müssen sich langsam entscheiden: Sie können
nicht auf der einen Seite im Wahlkampf immer wieder von
einer Senkung des Spitzensteuersatzes, der Beiträge zu
den Sozialversicherungen und der Staatsquote auf 40 Prozent sprechen und auf der anderen Seite hier immer wieder Anträge stellen, ohne zu sagen, wie Sie die kostenintensive Umsetzung dieser Anträge finanzieren wollen.
Das geht so nicht.
({0})
Auch der Ausschuss hat auf eine Kostenerörterung verzichtet. Wir wissen, dass mit der Umsetzung Ihres Vorhabens Kosten in Höhe von etwa 1 Milliarde Euro verbunden
sind. Man kann darüber streiten, ob es sinnvoll ist, dieses
Geld auszugeben. Am meisten kritisieren wir, dass Sie sich
nur für den Inhalt interessieren und dabei den Aspekt der
wachsenden Staatsverschuldung völlig außer Acht lassen.
Hand aufs Herz: Wessen Vermögensbildung wollen Sie
eigentlich fördern? Derzeit ist die Situation so, dass lediglich diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
keine Förderung nach dem Fünften Vermögensbildungsgesetz erhalten, die zum oberen Einkommensdrittel
gehören. Ihr Antrag enthält die Forderung, die Grenzen so
anzuheben, dass Verheiratete mit einem Jahreseinkommen
von 50 000 Euro und Ledige mit einem Jahreseinkommen
von 25 000 Euro ebenfalls diese Förderung erhalten. Dies
käme denjenigen, die zum oberen Einkommensdrittel
Gerald Weiß ({1})
gehören, zugute. Etwa 90 Prozent aller Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer würden dann gefördert.
So gut das auch klingt, das eigentliche Ziel einer sozialen Ausgleich schaffenden Förderung würde durch die
Umsetzung Ihrer Pläne auf den Kopf gestellt. Wir wollen
zielgenau fördern. Das heißt, wir wollen diejenigen gezielt fördern - es handelt sich um Leute mit kleinen oder
mittleren Einkommen und um viele Familien in diesem
Land -, deren Einkommenssituation nicht ausreicht, Vermögensbildung zu betreiben und eine private Altersvorsorge aufzubauen.
({2})
Es soll nicht wieder so sein, dass der Eindruck „Der Geldbeutel wird aufgemacht und Manna fällt vom Himmel“
entsteht, während die Finanzierung völlig offen bleibt.
({3})
Wir wollen mit unserer Politik - das unterscheidet uns
so stark von Ihnen - soziale Gerechtigkeit zwischen den
Generationen herstellen. Das heißt schlicht und einfach:
Wir lösen Probleme, ohne neue Schulden zu machen. Wir
handeln sachgerecht und konzentrieren uns auf diejenigen, die die Unterstützung brauchen.
({4})
Teil unserer Steuerpolitik war es - das haben Sie anscheinend vergessen oder verdrängt -, umfangreiche
Steuersenkungen vorzunehmen. Sie verweisen immer
wieder auf die Ökosteuer nach dem Motto: Hier gebt ihr
und da nehmt ihr wieder. Selbst wenn man die Belastungen durch die Ökosteuer einbezieht, hat zum Beispiel eine
Familie mit zwei Kindern, deren Jahreseinkommen bei
30 000 Euro liegt, im Vergleich zum Jahr 1998, in dem
Rot-Grün die Regierung übernommen hat, eine jährliche
Entlastung von fast 1 700 Euro. Darauf sind wir stolz. Sie
haben die Steuern im Prinzip jahrelang angehoben. Wir
haben diesen Trend umgekehrt. Seit 1998 haben wir dafür
gesorgt, dass die Steuerbelastung der Bezieher kleiner und
mittlerer Einkommen Jahr für Jahr gesenkt wurde.
({5})
- Wir haben eine Steuerprogression; das wissen Sie, Frau
Dr. Höll. Deswegen ist es völlig klar, dass die Entlastungsmuster so sind, wie sie sind. Ansonsten müssten Sie
gegen die Progression vorgehen, aber das macht die PDS
ja nicht.
Zum Zweiten haben wir den Trend zu steigenden
Lohnnebenkosten gestoppt. Ich darf Sie noch einmal daran erinnern - anscheinend ist auch das in Vergessenheit
geraten -: Von Anfang der 90er-Jahre bis zu dem Ende Ihrer Regierungszeit 1998 sind die Sozialversicherungsbeiträge um 6,3 Prozentpunkte gestiegen. Seit 1998, als
wir die Regierung übernommen haben, sind die Sozialversicherungsbeiträge gesunken.
({6})
Aufgrund der konjunkturellen Situation nicht in der Höhe,
wie wir uns das alle gewünscht hätten,
({7})
aber wir haben sie um 1 Prozentpunkt gesenkt. Auch das
sollte man nicht vergessen, ehe man von 40, 40, 40
spricht.
({8})
Durch die Senkung der Steuern und der Sozialversicherungsbeiträge wurde überhaupt erst die Voraussetzung
geschaffen, um Vermögen aufbauen zu können.
({9})
Diese Situation finden wir doch jetzt vor. Hinzu kommt
eine gezielte Förderung, indem Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, die für das Alter privat oder über den Betrieb vorsorgen wollen, Zulagen dafür gewährt werden.
({10})
Die Förderung steigt auf 10 Milliarden Euro pro Jahr, das
heißt, der Staat zahlt kontinuierlich pro Jahr rund 10 Milliarden Euro für den Aufbau einer betrieblichen bzw. privaten Altersvorsorge aus.
({11})
Das Geld hierfür ist in den Haushalt eingestellt. Das ist
gut für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Das ist
sozial ausgewogen und unterstützt vor allem auch Familien mit Kindern; so bekommt eine Familie mit zwei Kindern insgesamt 678 Euro pro Jahr an staatlicher Zulage für
den Aufbau einer Altersvorsorge im privaten oder betrieblichen Bereich.
Frau Kollegin Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Meckelburg?
Ja,
gerne. Bitte.
Frau Kollegin
Scheel, auch ich sitze etwas unruhig auf dem Stuhl und
möchte die Zeit der Kollegen nicht weiter beanspruchen.
Aber da Sie so eindringlich von der sozialen Ausgewogenheit Ihrer Politik sprechen, möchte ich Sie fragen, ob
Sie es wirklich für sozial ausgewogen halten, wenn eine
Verkäuferin mit normalem Einkommen im Rahmen der
Förderung durch die Riester-Rente 154 Euro bekommt,
während der Filialleiter zu seinem Verdienst, der wesentlich höher liegt, auch noch 650 Euro dazu bekommt.
({0})
Sie müssen den Leuten einmal klar machen, welche soziale Gerechtigkeit dahinter steht. Meinen Sie, dass das
ein Modell ist, das man weiter propagieren sollte und das
Sicherheit gibt?
Würden Sie auch zur Kenntnis nehmen, dass die Rentenversicherungsbeiträge zwar formal gesunken sind, in
Wirklichkeit aber 1,5 Prozentpunkte bei der Ökosteuer
versteckt wurden und eine Erhöhung um weitere 0,3 Prozentpunkte nur ausgeschlossen werden konnte, indem Sie
an die Rentenrücklage gegangen sind? Was Sie hier sagen, ist doch hinten und vorne nicht stimmig.
({1})
Ich habe mir das angehört.
({0})
Das heißt, ich nehme es dahin gehend zur Kenntnis, dass
ich sage, dass ich Ihnen zugehört habe. Ich kann aber Ihrer Logik nicht folgen. Es geht ja um Folgendes: Zunächst
einmal haben wir nichts versteckt, sondern klar gesagt,
dass die Einnahmen aus der Ökosteuer bis auf eine ganz
kleine Summe, die im Haushalt eingestellt ist, für die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge verwandt werden.
Das steht fest.
({1})
Sie machen ja immer diese komische Milchmädchenbzw. Milchmannrechnung auf,
({2})
indem Sie sagen: Ihr habt jetzt so und so viel Milliarden
über die Ökosteuer eingenommen, aber die Senkung der
Versicherungsbeiträge zur Rentenkasse ist ja gar nicht adäquat in dieser Größenordnung erfolgt; deswegen muss das
Geld irgendwo versickert sein. Das ist völliger Unsinn,
denn Sie wissen doch ganz genau, dass aufgrund der demographischen Entwicklung die Beiträge ohne diese Maßnahme nicht stabil geblieben wären. Sie wären gestiegen.
({3})
Man muss die eigentlich erforderliche Anhebung im Verhältnis zur Absenkung sehen. Aber das haben Sie anscheinend immer noch nicht kapiert.
({4})
Vielmehr versuchen Sie den Leuten zu suggerieren, dass
wir irgendwelche eigenartigen Rechnungen aufmachen
würden und sie fast schon betrügen würden.
Beim anderen Punkt, den Sie angesprochen haben,
geht es um die progressiv zunehmende Höhe der Förderung. Wenn Sie Ihren Gedanken konsequent fortführen
würden, dann müssten Sie den linear-progressiven Tarif,
wie er zurzeit in der Einkommensteuer existiert,
({5})
und dessen Entlastungswirkung über Familien- und Kinderfreibeträge im Speziellen genauso anprangern und sagen, dass ein Kind, das bei Eltern mit niedrigem Einkommen aufwächst, vom Staat nur Kindergeld bekommt,
während ein Kind von Eltern mit höherem Einkommen,
die auch Freibeträge erhalten, dem Staat mehr wert ist.
Aber das tun Sie ja nicht.
({6})
Vielmehr sagen Sie, es sei leistungsgerecht und in Ordnung, dass die Freibeträge so wirken. Wir versuchen,
diese Schere bei jeder Stufe der Kindergelderhöhung weiter zu schließen, weil wir sie als ungerecht empfinden.
({7})
Wir bauen diese Ungerechtigkeiten ab, wo es Not tut. Sie
aber sind hier in Ihrer Argumentation völlig unlogisch.
({8})
Ich komme auf die Beteiligung der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter an dem Unternehmen, in dem sie arbeiten, zurück. Auch ich bin der Auffassung, dass man das
stärker fördern kann. In modernen Unternehmen flachen
Hierarchien ab; die Unterscheidung von oben und unten
schwindet immer mehr. Eine stärkere Beteiligung der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entspricht auch der Philosophie von mehr Entscheidungskompetenz und damit
auch mehr Verantwortung des bzw. der Einzelnen.
Wenn wir über den eigenen Tellerrand blicken,
({9})
sehen wir, dass in fast allen OECD-Staaten Mitarbeiterbeteiligungsprogramme steuerbegünstigt sind. Die Folge
ist natürlich, dass die Beteiligung von Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern am Unternehmenserfolg in anderen
Staaten wesentlich stärker ausgeprägt ist. Das hat für die
Unternehmen, aber auch für die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter Vorteile.
Es gibt hier aber auch ein Problem, auf das ich abschließend hinweise. Ich habe in meiner eigenen Region
erlebt, dass nach dem Konkurs eines Unternehmens sowohl der Arbeitsplatz als auch das Geld weg waren. Wir
müssen weiter darüber nachdenken, wie wir ein solches
doppeltes Risiko für den Arbeitnehmer in den Griff bekommen und wie das im Rahmen der Beteiligung eingebrachte Kapital abgesichert werden kann. Jedenfalls kann
es nicht die Lösung sein, zu sagen, dieses Problem interessiere uns nicht. Wir müssen hier auch an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer denken.
Danke schön.
({10})
Für die
FDP-Fraktion spricht die Kollegin Irmgard Schwaetzer.
({0})
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP befürwortet
eine Kapitalteilhabe der Arbeitnehmer. Mitarbeiterbeteiligung ist Bestandteil der liberalen Wirtschaftsordnung,
wie wir sie uns vorstellen. Diese Teilhabe an einer Kultur
der Selbstständigkeit ist auch für die Identifikation der
Mitarbeiter mit ihrem Unternehmen wichtig.
({0})
Darüber hinaus ist es auch ein personalpolitisches Instrument für kleinere und mittlere Unternehmen. Im Übrigen ist auch bekannt - Frau Scheel hat gerade darauf
hingewiesen -, dass Unternehmen mit flachen Hierarchien für motivierte Mitarbeiter sorgen, wofür flexiblere
Lohnmodelle ohne starre Flächentarife von Vorteil sind.
Dies hat auch der Bundeskanzler gesehen; denn nicht umsonst - vielleicht doch umsonst, denn getan haben Sie
bisher nichts - hatte er in seiner Regierungserklärung die
Mitarbeiterbeteiligung als vierten gleichwertigen Punkt
hinter die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung,
den Ausbau der privaten Altersversorgung und den Ausbau der betrieblichen Altersversorgung gesetzt. Hier ist
aber nichts passiert.
({1})
In der vergangenen Legislaturperiode haben CDU/
CSU und FDP das Vermögensbildungsgesetz geändert und
die Einkommensgrenzen auf 35 000 DM bzw. 70 000 DM
für Verheiratete heraufgesetzt. Das war ein wichtiger
Schritt. Natürlich kann man darüber nachdenken, ob diesem Schritt weitere folgen sollten, wie es die CDU/CSU
vorschlägt. Aber der CDU/CSU-Antrag kommt mir ein
bisschen wie der letzte verzweifelte Versuch vor, den
Trend der Zeit aufzuhalten.
({2})
Ich bedaure das durchaus; denn auch nach unserer Auffassung gehört die Mitarbeiterbeteiligung gleichberechtigt neben den Ausbau der betrieblichen und der privaten
Altersvorsorge.
({3})
Sie kann ein wichtiger Teil der Altersvorsorge sein. Ich
teile aber nicht Ihre Auffassung, dass sie in das Altersvermögensgesetz integriert werden sollte. Vielmehr sollte sie
weiterhin daneben bestehen bleiben.
Wir können natürlich nicht vernachlässigen, dass jeder
Euro nur einmal ausgegeben werden kann. Deswegen ist
zu vermuten - viele Anzeichen und insbesondere die Tatsache, dass sich die Tarifvertragsparteien ebenfalls dieses
Themas angenommen haben, sprechen dafür -, dass der
Ausbau der betrieblichen Altersversorgung, so wie er im
Altersvermögensgesetz vorgegeben ist, in den nächsten
Jahren durchaus Vorrang haben wird.
Deswegen sind Ihre hier angestellten Finanzierungsüberlegungen ziemlich absurd, Frau Scheel. Ich glaube,
Sie stimmen mit mir überein, dass sich ein Arbeitnehmer
überlegt, wofür er seine Mitarbeiterbeteiligung oder seine
Gehaltsumwandlung einsetzt, über die er nur einmal verfügen kann. Deswegen wird entweder die Förderung nach
dem Altersvermögensgesetz oder die Förderung nach
dem Vermögensbildungsgesetz infrage kommen, aber
eben keine Doppelförderung, wie Sie das eben in Ihrer
merkwürdigen Rechnung unterstellt haben. Daher würden nach dem Vermögensbildungsgesetz tatsächlich
Mehrausgaben, aber nach dem Altersvermögensgesetz
konsequenterweise Minderausgaben entstehen.
Trotzdem werden wir dem Antrag der Union nicht zustimmen. Die Gründe dafür möchte ich kurz erläutern.
Die Union hat bedauerlicherweise nicht präzise ausgeführt, wie die von ihr vorgeschlagene zusätzliche Förderung ausgestaltet werden könnte. Meine Damen und Herren von der Union, in Ihrem Antrag fehlt die
Ausformulierung des Grundsatzes der Freiwilligkeit und
der Wahlfreiheit im Hinblick auf die Anlageform. Das
heißt, nach Ihrem Antrag ist nicht ausgeschlossen, dass
neue Tariffonds entstehen, die damit dem Arbeitnehmer
die Wahlfreiheit nehmen. Das wäre nach unserer Auffassung der falsche Weg.
({4})
Darüber hinaus fehlt bei Ihnen schon der Hinweis darauf, dass der Tarifvorbehalt nach § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes geändert werden müsste,
wenn Sie eine freiwillige Mitarbeiterbeteiligung, möglichst mit im Unternehmen oder im Rahmen des Unternehmens entstandenen Verträgen, fördern wollten.
({5})
- In der Tat. Ich bin ganz sicher, Herr Kollege Dreßen, das
wird in der nächsten Legislaturperiode kommen. Die
Hartz-Kommission hat gesagt - das ist ganz witzig -, es
wären eigentlich auch noch andere Dinge im Tarifvertragsrecht nötig;
({6})
das tun wir aber im Moment nicht, um die Gewerkschaften nicht weiter zu reizen.
({7})
Das bedeutet nichts anderes als Folgendes: Abgesehen
von den Gewerkschaften gibt es inzwischen in der Wirtschaft eine breite Übereinstimmung, dass zumindest § 77
Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes geändert werden
muss, weil die Wirtschaft sehr viel individueller geworden ist,
({8})
weil die Unternehmen in der Zukunft mit mehr Individualität bessere Ergebnisse für ihre Arbeitnehmer, aber auch
insgesamt für die Wirtschaft erzielen.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in dem Unionsantrag fehlt ein weiterer Punkt: die steuerliche Behandlung von Aktienoptionen. Herr Weiß, Sie haben
eben meiner Meinung nach zu Recht kritisiert, von den
Grünen sei zwar immer wieder darauf hingewiesen worden, dass Aktienoptionen nicht nur in der New Economy,
sondern bei einer ganzen Reihe von kleinen und mittleren
Unternehmen auch aus anderen Wirtschaftsbereichen ein
wichtiger Punkt der Mitarbeitermotivierung seien; sie
hätten sich damit gegenüber ihrem Koalitionspartner, der
SPD, oder auch gegenüber Herrn Eichel aber nie durchsetzen können.
({10})
Möglicherweise haben sie es in vorauseilendem Gehorsam, von einem Koalitionspartner bloß nicht zu viel zu
verlangen, nicht einmal probiert.
Die bislang geltende steuerliche Behandlung von Aktienoptionen macht dieses Instrument völlig uninteressant. Sie werden bisher als steuerpflichtige Gehaltsbestandteile gewertet.
({11})
Damit sind sie natürlich nur schlecht einsetzbar.
({12})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Mitarbeiterbeteiligung kann ein zusätzlicher Aspekt der Altersvorsorge sein, wenn sie neben den anderen Formen betrieben
wird. Sie ist geeignet, Arbeitsplätze in Deutschland sicherer zu machen, größere Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen herzustellen und darüber hinaus ein
wichtiges Stück einer verfassten, auf den Schultern von
Arbeitnehmern wie Arbeitgebern ruhenden Unternehmenskultur in Deutschland zu sein.
({13})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Roland Claus von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der uns vorliegende Antrag
der Unionsfraktion ist ein Lehrstück für die Folgen
falscher Weichenstellung in der Politik. Die falsche
Weichenstellung in der Rentenpolitik haben allerdings die
Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung zu verantworten.
({0})
Ich erinnere mich, dass wir Arbeitsminister Riester in
den Streitdiskussionen 2000 und 2001 entgegengehalten
haben, er betreibe eine Art Zwangsprivatisierung der
Rente. Er hat das immer brüsk zurückgewiesen und gesagt: Was wollen Sie denn, Herr Claus? Es sind doch nur
4 Prozent. - Wir haben stets entgegnet, das sei der Einstieg in den Ausstieg aus der paritätischen Rentenversicherung.
Wir haben seinerzeit gesagt, eine andere Bundesregierung als die jetzt zusammengesetzte würde diesen Schritt
benutzen, um noch radikaler gegen die Parität in der Rente
vorzugehen. Minister Riester konnte sich damals nie vorstellen, dass es einmal so kommen könnte.
({1})
Auch ich will mir das nicht vorstellen. Aber unser Vorwurf lautet an dieser Stelle nach wie vor, dass bei der Rentenreform niemals nach einem Mitte-Links-Konsens,
auch mit den Gewerkschaften und den Kirchen, gesucht
wurde, sondern immer nur nach einem Mitte-RechtsKonsens.
Nun noch ein Wort zum CDU/CSU-Antrag. Dieser Antrag wäre ein Stück glaubwürdiger, wenn Sie sich nicht
nur bei der Rente für Mitarbeiterrechte einsetzen würden,
sondern auch vehement für mehr Mitbestimmungsrechte
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gekämpft hätten. Wir haben nicht vergessen, wie Sie sich damals verhalten haben. Sie haben sich in diesem Punkt verweigert.
Das passt mit der Politik, die Sie jetzt hier betreiben, einfach nicht zusammen.
({2})
Außerdem lässt der Antrag Arbeitslose, Teilzeitbeschäftigte und Geringverdienende außen vor. Sie gaukeln mit
dem Antrag Sozialstaat vor und machen doch nur Ellenbogenpolitik. Diesen Marsch in die schwarze Republik
wollen wir nicht.
Allerdings haben Bundesregierung und Koalition mit
ihrer Rentenreform der Union den Weg gebahnt. Alternativen wären möglich gewesen; sie sind es noch immer.
Statt dieser Rentenreform wäre es nötig gewesen, durch
eine andere Einnahmenpolitik einer Stärkung und Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung zum Durchbruch zu verhelfen. Ich finde den Spruch aus der Schweiz
ganz zutreffend: Die Millionäre brauchen die gesetzliche
Rentenversicherung nicht, aber die gesetzliche Rentenversicherung könnte die Millionäre gut gebrauchen, und
zwar als Einzahlerinnen und Einzahler.
({3})
Warum eigentlich, habe ich mich schon öfter gefragt,
wird die Riester-Rente in der Werbung Riester-Rente genannt? Das hat doch nicht der Minister angeordnet; dazu
ist er viel zu IG-metallig. Dieser Begriff ist durch die privaten Versicherungen geprägt worden. Warum haben die
das wohl gemacht? - Natürlich, weil sie mit dieser Rente
Profit für sich wittern, und nicht, weil sie die Bedingungen für die Bürgerinnen und Bürger verbessern wollen.
({4})
Deshalb ist leider festzustellen: Auch im Zuge dieser Rentenreform werden unter einer Regierung von Gerhard
Schröder die Reichen in diesem Lande reicher und die
Armen zahlreicher.
Wir können Ihnen auch nicht den Vorwurf ersparen,
dass Sie im Zuge dieser Rentenreform ein weiteres Versprechen gebrochen haben. Sie hatten öffentlich erklärt,
nach der großen Rentenreform, in der Sie die Angleichung von Ost- und Westrenten ausgespart hatten, das
Problem der Angleichung des Ostrentenniveaus an das
Westrentenniveau anzupacken, Versorgungslücken zu
schließen und die Strafrente abzuschaffen. Ein entsprechender PDS-Antrag liegt vor. Den Nachweis - weil uns
immer unterstellt wird, wir würden das erfinden - finden
Sie in der Rede von Harald Ringstorff, nach seinem fatalen Alleingang im Bundesrat, wo er erklärt hat, dass eine
gemeinsame Arbeitsgruppe von Bund und Land Mecklenburg-Vorpommern sich dieses Problems der Ostrenten
annehmen werde. Sie haben dieses Versprechen, wie viele
andere auch, gebrochen.
Eine gerechte Rentenreform ist noch immer möglich.
Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande brauchen
soziale Sicherheit statt Verunsicherung. Wir wollen mehr
Sozialstaat und nicht das Ellenbogenprinzip.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Wolfgang Grotthaus von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst
zwei Anmerkungen machen: Erstens. Herr Weiß, Sie und
die CDU/CSU haben sich hier als glaubhafte Vertreter der
Arbeitnehmer dargestellt. Vor diesem Hintergrund ist es
für mich erstaunlich, dass von den 15 Mitgliedern Ihrer
Fraktion, die im Sozialausschuss vertreten sind, nur zwei
und ein Vertreter hier sitzen. Wenn Sie hier viel stärker
vertreten wären, würden Sie signalisieren, dass Sie diese
Problematik und Thematik tatsächlich ernst nehmen.
Zweitens. Bei der Anhörung, die Sie erwähnt haben,
scheinen Sie in einem anderen Raum gesessen zu haben.
Ich unterstelle natürlich, dass jeder, der parteipolitisch aktiv ist, nur das hört, was er hören will. Ich würde Ihnen
aber empfehlen, doch einmal das Protokoll nachzuvollziehen. Dann werden Sie feststellen, dass die Mehrheit
der dort anwesenden Experten gesagt hat, dass das, was
Sie in Ihrem Antrag vorgeschlagen haben, nicht umsetzbar ist und von der Mehrheit nicht gewünscht wird.
({0})
Die CDU/CSU hat in ihrem Antrag auf den jüngst vorgelegten Armuts- und Reichtumsbericht verwiesen - ich
möchte darauf aufmerksam machen, dass es zum ersten
Mal nicht nur einen Armutsbericht, sondern auch einen
Reichtumsbericht gibt -, aus dem hervorgeht, dass das Kapital in dieser Republik unterschiedlich verteilt ist. Des
Weiteren haben Sie festgestellt, dass die Beteiligung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen zu einer gleichmäßigen Vermögensverteilung
beiträgt und dass dies gesellschaftspolitisch wünschenswert ist. Dies hört sich zunächst einmal sehr gut an und ist
auch nicht falsch. Ihnen ist aber schon von mehreren Diskussionsrednern deutlich gesagt worden, dass das, was Sie
machen, nicht dazu beiträgt, eine bessere Verteilung zugunsten derjenigen, die es in dieser Republik nötig haben,
vorzunehmen. Wenn wir eine bessere Verteilung der Vermögenswerte in unserer Republik erreichen wollen, dann
kommt es eben nicht darauf an, diejenigen zu stärken, die
schon viel haben oder das, was sie haben, aus eigener Kraft
vermehren können - dies schlagen Sie jedoch in Ihrem Antrag vor -, sondern darauf, gezielt diejenigen zu unterstützen, die zu den unteren und mittleren Einkommensschichten gehören. Das vermissen wir in Ihrem Antrag.
Ich schildere Ihnen einmal, wie die Situation heute aussieht: Schon heute werden nach dem Vermögensbildungsgesetz etwa zwei Drittel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gefördert und schon heute bildet ein großer
Teil der gut und besser Verdienenden Vermögen, ohne
dafür eine staatliche Förderung zu erhalten. Ihr Vorschlag,
die Einkommensgrenzen im Vermögensbildungsgesetz
anzuheben und damit die gut und besser Verdienenden in
die staatliche Förderung einzubeziehen, würde dazu
führen, dass diejenigen, die heute schon gefördert werden,
von dem nur einmal zu verteilenden Kuchen etwas abgeben müssten, und zwar zugunsten derjenigen, die heute
nicht förderungswürdig sind, weil sie aufgrund ihres Einkommens in der Lage sind, Vermögen zu bilden. Sie
schlagen in Ihrem Antrag zwar vor, mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Allerdings sagen Sie nicht, in
welcher Form Sie diese finanziellen Mittel aufbringen
wollen. Sie sagen nur sehr vage, dass Sie eine Umverteilung herbeiführen wollen. Zu wessen Lasten Sie diese
Umverteilung herbeiführen wollen, wird nicht deutlich.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Sie schlagen
vor, die Steuersätze für die Großunternehmen und besser
Verdienenden auf unter 40 Prozent zu senken. Gleichzeitig sagt der Vorsitzende Ihrer Mittelstandsvereinigung
und des Wirtschaftsrates, dass das Geld, das dann fehlt,
durch eine Besteuerung von Sonn- und Feiertagszulagen
sowie Überstundenzulagen erzielt werden könne. Das ist
genau die Umverteilung, die Sie in dieser Republik 16 Jahre lang vorgenommen haben. Ich sage Ihnen: Wir werden
nicht nur dagegen stimmen, sondern dies den Menschen
in der Republik sagen und Ihnen gehörig auf die Finger
klopfen, wenn Sie glauben, diese Umverteilung durchführen zu können.
({1})
Sie geben in Ihrem Antrag die Konzentration auf die
Förderung der unteren und mittleren Einkommensschichten auf. Stattdessen wollen Sie jene Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die es nicht nötig haben, in die Förderung einbeziehen. Dies kann keiner wollen; doch genau
dies fordern Sie in Ihrem Antrag. Ich sage Ihnen an dieser
Stelle: Aus diesem Grund, aber nicht nur aus diesem
Grund, werden wir Ihren Antrag ablehnen.
In Ihrem Antrag fordern Sie weiterhin, dass das
Altersvermögensgesetz mit der Vermögensbildung als
eine weitere Option der Altersvorsorge gekoppelt werden
soll. Doch seit der Verabschiedung des Altersvermögensgesetzes beklagen Sie als Opposition, dass das Gesetz
ohnehin viel zu kompliziert sei.
({2})
- Frau Schwaetzer, jetzt hören Sie einmal genau zu!
({3})
Dies ist schlicht unrichtig.
({4})
Wenn Sie aber meinen, es sei kompliziert, dann müssten
Sie dem Antrag der CDU/CSU eigentlich widersprechen.
({5})
Denn durch diese zusätzliche Koppelung - Sie als
CDU/CSU hätten diesen Antrag gar nicht einbringen dürfen - würde das Altersvermögensgesetz noch komplizierter werden. Es geht nur eines: Entweder ist das Gesetz
kompliziert, dann können Sie keine Ergänzungen bringen,
oder es ist nicht kompliziert, dann müssen Sie dies auch
eingestehen. Beides geht nicht.
Lassen Sie mich einmal auf die Ergänzungsvariante
eingehen. Dabei geht es um die Einführung der Mitarbeiterbeteiligung am Produktivvermögen in den Förderkatalog des Alltersvermögensgesetzes. Dazu sage ich Ihnen in
aller Deutlichkeit: Jetzt wird es abenteuerlich. Ich habe ja
keine Probleme damit, wenn jemand selbst entscheidet,
sich am Produktivvermögen seines Betriebes durch Einbringung von Lohn, durch Aktienkauf oder Ähnliches zu
beteiligen. Dies macht aus unserer Sicht aber nur dann
Sinn, wenn es eine qualifizierte Mitbestimmung in wirtschaftlichen Fragen gibt. Wenn Geld zur Verfügung gestellt wird und dem Unternehmer das alleinige Verfügungsrecht darüber überlassen wird, wie er mit dem Geld
umgeht, dann frage ich mich: Wie ist es eigentlich mit der
Gleichheit unter den Kapitalgebern bestellt?
Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus dem täglichen Leben
nennen, das ich persönlich derzeit erlebe: Ich war bei
Babcock Borsig - der Name dieser Firma sagt ja einiges,
zumindest zurzeit - beschäftigt. Vor einigen Monaten befand sich der Aktienkurs noch im zweistelligen Eurobereich. Durch Missmanagement ist er zwischenzeitlich auf
unter 2 Euro gefallen.
({6})
Was glauben Sie, wie groß die Freude der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist, die sich in Form von Aktien
an der nach Ihren Vorstellungen geforderten Mitarbeiterbeteiligung eingebracht haben?
({7})
Jetzt kommt das i-Tüpfelchen: Sie werden den Medien
entnommen haben, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jetzt zusätzlich zu ihren Verlusten noch einmal 50 Millionen Euro durch Lohnverzicht einbringen
müssen, damit andere Kapitalgeber versuchen, diese
Firma zu retten. Hier werden die Arbeitnehmer doppelt
zur Kasse gebeten: zum einen durch die finanziellen Verluste durch die Mitarbeiterbeteiligung und zum anderen
über das Risiko des Arbeitsplatzverlustes.
({8})
Jetzt hören Sie einmal genau zu: Diejenigen, die die
Misere verursacht haben, stehlen sich als Erste davon. Sie
verlassen als Erste das sinkende Schiff und heuern auf
dem nächsten Schiff an, wo sie noch mehr Geld bekommen und nicht nachweisen müssen, warum sie in der anderen Firma solch ein Missmanagement betrieben haben.
Wie blauäugig, glauben Sie, sind wir oder die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Sie fordern uns jetzt mit
Ihrem Antrag auf, diese Form von Mitarbeiterbeteiligung
auch noch in das Altersvermögensgesetz aufzunehmen!
Herr Kollege Grotthaus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Gerne.
Herr
Schauerte, bitte schön.
Herr Kollege, Sie
beklagen mit Recht, welche Konsequenzen das für die betroffenen Arbeitnehmer in solchen Unternehmen haben
kann. Wir diskutieren gerade darüber, ein Register für unzuverlässige Firmen anzulegen. Sind Sie sich eigentlich
im Klaren darüber, dass die Firma Babcock Borsig dann
in ein solches Register käme und die Arbeitnehmer auch
noch ihren Arbeitsplatz verlieren würden?
Nein, das ist falsch.
Herr Schauerte, Sie müssten die Vorgänge kennen. Wenn
Sie darauf abheben, dass die Firma Babcock eine Firma
übernommen hat und dadurch unzuverlässig geworden
ist, müssen Sie auch sagen, dass es Altlasten gab, für die
der neue Eigentümer nicht verantwortlich gemacht werden kann. Auch ist im Gesetz nicht vorgesehen, dass Altlasten auf rechtsverantwortlicher Basis in die nächste
Firma übernommen werden. Sie sollten das Gesetz ein
bisschen differenzierter lesen.
({0})
Ich will festhalten, dass die von Ihnen vorgeschlagene
Gesetzesinitiative bedeuten würde, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht nur bezüglich ihres Arbeitsplatzes, sondern auch bezüglich ihrer Altersvorsorge vom
Erfolg bzw. vom Misserfolg ihres Unternehmens abhängig sind und dass sie dies ohne die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Einflussnahme nicht akzeptieren können.
Meine Damen und Herren, Ihr Antrag trägt nicht zur
Stärkung der Kapitalteilhabe bei. Er ist ein Rückfall in die
Zeit vor 1998. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Das ist verständlich; denn Sie haben Ihre Köpfe nicht ausgewechselt
und Ihre Ideologie nicht verändert. Sie stützen Ihre Politik immer noch auf jene Personen, die zu dieser Zeit, nämlich von 1982 bis 1998, Politik gemacht haben. Sie treten
mit einer alten Mannschaft an. Daher kann man von Ihnen
keine neue Politik erwarten. Sie haben Ihre Überzeugungen
nicht geändert. Sie haben nur olle und nicht verdauliche
Kamellen in ein neues Papier gewickelt.
({1})
Dass dies schlecht bekömmlich ist, wissen Sie. Das wissen auch die Menschen in dieser Republik. Das werden
wir immer wieder deutlich machen und wir sind davon
überzeugt, dass es uns bis zum 22. September gelingen
wird, dies den Menschen auch wirklich klar zu machen.
Die SPD-Fraktion wird Ihren Antrag also ablehnen.
Als ich Ihren Antrag zur Kenntnis genommen und
gehört habe, wie lange ich hier sprechen soll, habe ich gedacht: Mein Gott, so lange kann man über einen solch
miesen Antrag nicht reden. Ich habe mir Mühe gegeben,
die mir zur Verfügung stehende Zeit auszufüllen. Mir ist
es nicht gelungen. Aber meine Kolleginnen und Kollegen
sind mir sicherlich dankbar, dass ich vor dem vorgesehenen Zeitpunkt Schluss mache.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Rainer Eppelmann von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann es mir nicht
verkneifen, ein paar Vorbemerkungen zu dem zu machen,
was ich in den letzten 50 Minuten gehört habe.
({0})
Wenn ich Ihre Redebeiträge und Ihre Zurufe so höre, dann
habe ich fast Angst davor, dass wir am 22. September die
Wahl gewinnen.
({1})
Ich will Ihnen erklären, warum: Es würde sich da bei uns
wohl viel ändern. Denn es scheint so zu sein, dass Sie
beim Wechsel von der Oppositionsbank auf die Regierungsbank und während Ihrer vierjährigen Regierungserfahrung andere Menschen geworden sind. Fragen Sie sich
das doch einmal!
({2})
Ein Weiteres möchte ich feststellen: Ich kann verstehen
- das gehört zu einer verantwortlichen Politik -, dass man
sich fragt: Ist dieses Vorhaben bezahlbar? Die erste Frage
müsste doch aber lauten: Ist es sinnvoll oder ist es nicht
sinnvoll? Wenn man zu der Antwort kommt: „Es ist oder
könnte sinnvoll sein“, dann werden wir meiner Meinung
nach auch so fantasiereich und klug sein, die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen.
Ich meine, dass unser Vorhaben sinnvoll ist. Genaueres
steht in unserem Antrag. - Es böte ein größeres Maß an
gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Es gäbe besonders in
den mittelständischen und kleinen Betrieben in den neuen
Bundesländern erheblich mehr Eigenkapital. Aus Erfahrung wissen wir, dass es eine zusätzliche Motivation für
die Beschäftigten und Beteiligten bedeuten würde. Das
würde zu mehr Effektivität führen. Dies wiederum würde
mehr Wachstum, sichere Arbeitsplätze, mehr Steuereinnahmen und mehr Beitragseinnahmen bedeuten. Sie merken: Zumindest ein Teil des erforderlichen Geldes könnte
auf diese Weise zurückfließen.
({3})
Zu dem, was Sie, verehrte Frau Kollegin Schwaetzer,
gesagt haben, ist festzustellen: Hätten Sie das doch vorher
gesagt! Außerdem ist das, worüber wir heute debattieren,
nur ein Antrag und noch kein fertiger Gesetzentwurf. Lassen Sie es uns doch also wagen, zu einer sinnvollen Sache
Ja zu sagen! Auf dem Wege der Gesetzgebung haben wir
noch ausreichend Möglichkeiten, daraus etwas noch Vernünftigeres zu machen.
Ich darf darauf hinweisen, dass wir damit eine weitere
Auswahlmöglichkeit im Hinblick auf den Verdienst und
die Alterssicherung schaffen wollen und dass wir uns
natürlich Gedanken darüber machen, dass das Risiko des
Arbeitnehmers an dieser Stelle durch eine Versicherung
abgesichert werden muss.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich erinnere mich
noch - deswegen meine erste Bemerkung - an den
Kampf um den Ausbau der Förderung der Vermögensbildung in der letzten Wahlperiode. Wir als Sozialausschüsse der CDU haben damals gemeinsam mit anderen
christlich-sozialen Verbänden unter der Überschrift „Investivlohn jetzt!“ für Verbesserungen im Vermögensbildungsgesetz gefochten - auch in der eigenen Partei ist
das nicht ganz einfach gewesen -, und zwar, wie ich
meine, mit Erfolg; denn im September 1998 ist es uns
noch gelungen, das Dritte Vermögensbeteiligungsgesetz zu verabschieden.
Wichtige Fortschritte wurden erreicht, zum Beispiel
die Anhebung der Einkommensgrenzen, wobei die Regelbefugnis der Tarifpartner klargestellt wurde. Zudem haben wir das Vermögensbildungsgesetz nach dem Konzept
der zwei Förderkörbe - Bausparen und Vermögensbeteiligung - fortentwickelt und, wie ich meine, bessere Förderbedingungen erreicht.
Ich erinnere mich noch sehr gut an das, was Ottmar
Schreiner und Gerd Andres für die SPD-Fraktion damals
zu unserem Gesetz gesagt haben. Vom Doppelspiel der
CDU/CSU war die Rede, vom Feigenblatt und vom Placebo-Effekt. Unser Gesetz ging Ihnen nicht weit genug.
Deswegen haben Sie es zunächst ablehnen wollen. Nach
der Debatte haben Sie sich dann aber der Stimme enthalten, weil Sie meinten, wenn ein Schritt nicht groß genug
sei, aber in die richtige Richtung gehe, sollte man zumindest nicht mit Nein dazu stimmen.
({4})
Wir haben vor vier Jahren gesagt: Unser Gesetz ist ausbaufähig. Mehr bekommen wir im Augenblick nicht hin,
aber wir möchten in der nächsten Legislaturperiode mehr
machen.
({5})
Jetzt wollen wir es ausbauen. Da Sie noch die Mehrheit haben, könnten wir es gemeinsam tun. Aber nun machen Sie
merkwürdigerweise nicht mit - und das, obwohl Ottmar
Schreiner 1998 für die SPD noch gefordert hat - ich zitiere -, ein Durchbruch bei der Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital sei absolut überfällig. Geschehen aber ist seit Ihrer Regierungsübernahme auf
diesem Feld nichts. Es wird noch trauriger, wenn Sie heute
unseren Antrag ablehnen, der in großen Teilen genau die
gleichen Forderungen enthält, die Sie 1998 gestellt haben.
({6})
Noch in Ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl
hatten Sie - Gerald Weiß hat eingangs darauf hingewiesen - den Ausbau der Beteiligung der Arbeitnehmer am
Produktivvermögen zusätzlich zur privaten und betrieblichen Altersvorsorge gefordert. Privatvorsorge und Betriebsrente fördern Sie, allerdings auf ungerechte Weise:
höhere Förderung für Gutverdiener, niedrige Förderung
für Geringverdiener. Das ist das Ungerechte dabei. Beim
Vermögensbildungsgesetz bleiben Sie völlig untätig.
Darum bedauere ich es zutiefst, dass Sie nicht einmal
über einzelne Forderungen unseres Antrages mit sich haben
reden lassen. Eine solche Forderung wäre zum Beispiel, die
gezielte Förderung ostdeutscher Arbeitnehmer auch über
2004 hinaus beizubehalten. Die Arbeitnehmersparzulage
für Produktivkapitalbeteiligung beträgt 20 Prozent im Westen, aber - wegen des Nachholbedarfs - 25 Prozent in den
neuen Bundesländern. Wir würden dies gern entfristen. Ich
zitiere, was der Christliche Gewerkschaftsbund dazu gesagt hat - Ähnliches erklärten auch DGB und KAB -: Das
Entfristen kann nicht ernsthaft strittig sein. Solange die
Arbeitseinkommen in Ost und West nicht annähernd gleich
sind, muss diese Förderung fortgesetzt werden. - Dem ist
eigentlich nichts hinzuzufügen.
Wir brauchen Fortschritte bei der Produktivkapitalbeteiligung, beim Investivlohn. Wir brauchen endlich eine
investive Lohn- und Tarifpolitik, gerade im Osten. Namhafte Wissenschaftler haben nach der friedlichen Revolution zu Investivlohnvereinbarungen geraten und viele
sagen heute: Hättet ihr von Anfang an darauf gesetzt, hättet ihr heute im Osten höhere Einkommen und mehr
Arbeitsplätze.
Ich bin davon überzeugt, dass es für eine verantwortliche Politik, für mehr Gerechtigkeit und Sicherheit nie zu
spät ist. Doch die Tarifpartner brauchen andere rechtliche
Bedingungen, das heißt: unser Tun. Mit unserem Antrag
wollen wir einen notwendigen Beitrag dazu leisten. Ich
bitte Sie trotz all Ihrer Worte und Reden um Ihre Zustimmung.
Danke.
({7})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
auf Drucksache 14/9401 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Kapitalteilhabe stärken - Ver-
mögensbildungsförderung altersvorsorgegerecht aus-
bauen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/6639 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS bei
Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:
a) Beratung des Schlussberichts der Enquete-Kom-
mission
Globalisierung der Weltwirtschaft - Heraus-
forderungen und Antworten
- Drucksache 14/9200 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg-Otto
Spiller, Adelheid Tröscher, Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Angelika Beer, Andrea Fischer ({1}), Rita
Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Reform der internationalen Finanzarchitektur
- zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Gudrun Kopp, Dr. Hermann Otto
Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für eine mutige Reform des Internationalen
Währungsfonds ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Lötzer,
Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Reform der internationalen Finanzarchitektur
- Drucksachen 14/9359, 14/3861, 14/4069,
14/9590 Berichterstattung:
Abgeordnete Detlev von Larcher
Dr. Barbara Höll
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk von der SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“ gibt mit ihrem
umfangreichen Bericht und 200 Empfehlungen viele Antworten auf wichtige internationale Fragen. Viel Arbeit,
Zeit und ernsthafte, gelegentlich hitzige Diskussionen
sind in den Bericht eingegangen. Ich möchte an dieser
Stelle allen Sachverständigen und Kollegen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sekretariats und der
Fraktionen, die sich dieser zeitraubenden Arbeit und
Mühe unterzogen haben, an ihrer Spitze dem Vorsitzenden Ernst Ulrich von Weizsäcker, herzlich danken.
({0})
Meine Damen und Herren, unsere Aufgabenstellung
war sehr breit und anspruchsvoll und ihre Bewältigung im
Grunde in der uns zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu
leisten. Das hat viel mit der Komplexität der Globalisierung, aber auch mit dem Versuch zu tun, diesen schillernden Begriff operational zu fassen. Es hat auch damit zu
tun, dass es bisher weltweit weder eine Einigung über die
wichtigsten Globalisierungsindikatoren noch eine verlässliche international wirklich vergleichbare Datenbasis gibt.
Das machte empirisch fundierte Aussagen über weltweite
Entwicklungen gelegentlich schwierig und hat politischen
Streit vorprogrammiert. Wir haben deswegen einstimmig
empfohlen, die Verbesserung der einschlägigen Statistiken energisch zu verfolgen.
Sehr viele unserer Feststellungen haben wir einvernehmlich getroffen, die Hälfte der Empfehlungen sogar
einstimmig. Das sollten wir trotz des immer heißer werdenden Wahlkampfes nicht ausblenden.
({1})
Einige unserer wichtigen Feststellungen will ich hier
darstellen:
Erstens. Der Globalisierung genannte Prozess hat sich
in den letzten 20 Jahren rapide beschleunigt. Treiber dieser Entwicklungen waren die sinkenden Transportkosten
sowie die Informations- und Kommunikationskosten und
das Streben der großen multinationalen Konzerne nach
neuen Märkten, die von einem immer härter werdenden
Wettbewerb angetrieben werden.
Zweitens. Politik, auch nationale Politik, ist dabei nicht
ohnmächtig, sondern hat in den vergangenen Jahrzehnten
diesen Prozess aktiv gestaltet und in seiner Breite und Geschwindigkeit erst möglich gemacht. Warum? Ohne
Politik und viel öffentliches Geld hätte es weder den Ausbau von Häfen, Flughäfen, Straßen und Satelliten noch
das Internet und den damit zusammenhängenden rasanten
technologischen Fortschritt, weder die systematische
Handelsliberalisierung mit deutlichen Zollreduzierungen
noch die Welthandelsorganisation, die WTO, gegeben.
Die rasante Expansion der internationalen Finanzmärkte
wäre auch ohne sehr weit gehende Deregulierungen nicht
denkbar. Ohne systematische Politik hätte es auch nicht
die Bildung der zwei größten Weltwirtschaftsregionen
gegeben, der Europäischen Union und der NAFTA - das
ist der Zusammenschluss von Kanada, Mexiko und den
USA -, die mit Japan zusammen einen großen Teil des
Welthandels unter sich aufteilen.
Drittens. Wir haben festgestellt, dass der Welthandel
gar nicht so global ist, wie die meisten denken. Die Europäische Union wickelt mit ihren unmittelbaren Nachbarn
über 40 Prozent des Welthandelsvolumens ab; gerade einmal 15 Prozent wurden 1998 wirklich global, das heißt:
zwischen den Kontinenten, gehandelt.
EU und NAFTA haben als große Weltwirtschaftsregionen, bei denen jeweils nur zehn Prozent ihres Sozialproduktes nach außen gehandelt wird, mehr Gewicht, mehr
politische Handlungsmöglichkeiten, aber auch mehr Verantwortung für die Weltwirtschaft und das Wohl der Menschen als je zuvor.
({2})
Viertens. Die Globalisierung hat viel Wohlstand und
Chancen mit sich gebracht, aber auch viele Risiken und
Anpassungslasten. Diese sind aber sehr ungleich verteilt,
weltweit und innerhalb der meisten Nationen. Marktöffnung und Zollreduzierung führen zu mehr Wettbewerb,
Kostensenkung und schnellerem Strukturwandel. Das erfordert von allen Beteiligten, Unternehmen wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit. Wenig Qualifizierte
oder Nichtqualifizierte, kleine Unternehmen und kleine
Länder haben dabei in der Regel weniger Chancen und
müssen härtere Anpassungslasten auf sich nehmen.
Fünftens. Deutschland und Europa haben sich im Prozess der Globalisierung gut behauptet und werden das
auch künftig tun. Aber ohne mehr soziale Gerechtigkeit
und Verteilungsgerechtigkeit zu Hause und weltweit wird
das künftig nicht mehr möglich sein. Darauf hat der Bundespräsident zu Recht hingewiesen.
({3})
Nur, mit dieser angemessenen weltweiten Verteilung ist
es schlecht bestellt. 75 Prozent des Welthandels finden zwischen 25 Prozent der Menschen statt. Ein Drittel des Welthandels läuft innerhalb der Zulieferketten der multinationalen Konzerne. Die ärmeren Länder profitieren dabei nur
sehr wenig, wie der jüngste UNCTAD-Bericht gezeigt hat.
Den ärmsten Ländern drohen Ausschluss und Abkopplung
von den internationalen Märkten. Lateinamerikas Anteil ist
rückläufig; Afrika hat gerade mal einen Anteil von drei Prozent. Der Abstand zwischen den 20 Prozent ärmsten zu den
20 Prozent reichsten Ländern hat sich in den letzten 20 Jahren nicht verkleinert, sondern stark vergrößert, nämlich von
1:34 auf 1:75. Das ist ein Skandal!
({4})
Hundert Millionen mehr Arme bevölkern die Welt; 70 Prozent von ihnen sind Frauen. Hunderte von Millionen Kindern haben keine Chance, jemals eine Schule zu besuchen.
Die offenkundigen Schwächen der gegenwärtigen
Weltwirtschaftsordnung und des Weltfinanzsystems
machen unserer Meinung nach deren Stabilisierung und
Neuordnung unabweisbar und drängend. Deswegen ist es
bedauerlich, dass sich CDU und CSU und die FDP dieser
Notwendigkeit verschließen
({5})
und Globalisierung unkritisch als Motor und Katalysator verklären. Sie fördere Wohlstand und Wachstum,
schreiben Sie, schaffe Raum für Innovation und Kreativität,
({6})
vergrößere die individuelle Freiheit, schaffe Arbeitsplätze
und Wissen.
({7})
Das ist für einen Teil der Menschheit wahr, aber für drei
Viertel der Menschen ist es objektiv falsch und schlichter
Zynismus.
({8})
Wir Sozialdemokraten wollen im Gegensatz zu Ihnen deswegen eine Stabilisierung der internationalen Finanzmärkte und eine ökologische und soziale Marktwirtschaft
weltweit,
({9})
nicht nur für uns in Deutschland und in Europa.
({10})
Sie sagen in Ihrem Minderheitsvotum, die freien, ungezügelten Finanzmärkte würden es schon richten. Aber
in den letzten zehn Jahren hatten wir spätestens alle zwei
Jahre eine größere Finanzkrise - die letzte jetzt in Argentinien und vorher eine in Südostasien -, die Hunderte
von Millionen Menschen in bittere Armut gestürzt hat und
die Steuerzahler der betreffenden Länder zugunsten der
Spekulation 20 bis 40 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens in den Haushalten gekostet hat. Und die nächste
Krise kommt bestimmt!
Deswegen haben wir eine neue internationale Finanzordnung vorgeschlagen, die Spekulation eindämmt, Geldwäsche aus organisierter Kriminalität und massiver
Steuerflucht reduziert, die Entschuldung der höchstverschuldeten Länder vorantreibt und einen frischen Schub
zur Bekämpfung der weltweiten Armut geben soll.
({11})
Wir haben dazu eine Fülle von Empfehlungen gegeben, von einer Reform des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank bis hin zu mehr Währungskooperation, der Einführung einer Devisentransaktionssteuer
und einer internationalen Finanzordnung.
Wir glauben auch nicht, dass die existierende Welthandelsordnung im Selbstlauf zu ökologischen, sozialen und
fairen Ergebnissen führt. Denn auch bei uns in Deutschland muss der Markt erst sozial gebändigt und ökologisch
ergänzt werden. Ich sehe besorgt, wie Union und FDP unter dem Deckmantel der Globalisierung über internationale Handelsabkommen die soziale Marktwirtschaft unterlaufen und unsere Wirtschaft am US-Muster ausrichten
wollen.
({12})
Deswegen wollen Sie auch die Verankerung von Sozialstandards in der Welthandelsordnung wie das Verbot der
ausbeuterischen Kinderarbeit, der Lohnsklaverei, der
Zwangsarbeit und der Nichtzulassung von Gewerkschaften nicht mittragen.
({13})
Auch beim Umweltschutz sind Sie widersprüchlich.
Zwar sollten umweltschädliche Subventionen im Transportbereich eingestellt werden - darin waren wir uns einig -, aber Sie sind gegen die Besteuerung der Emissionen des Luftverkehrs, das heißt gegen eine Kerosinsteuer.
({14})
Auch lassen Sie die Frauen bei der Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit im Stich. Sie wollen nicht sehen,
dass auch dann, wenn eine Minderheit hoch qualifizierter
Frauen in der Welt auf der Gewinnerseite steht, die große
Mehrheit zu den Verliererinnen gehört. Aber wenn wir
fordern: „Lasst uns prüfen, ob die Frauen bei der Vergabe
öffentlicher Mittel nicht benachteiligt werden“, sagen Sie:
Das machen wir nicht, das ist uns zu bürokratisch und
kostet zu viel.
({15})
Mir scheint, dass Sie hier vorwiegend nach dem Motto
vorgehen: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Dies alles war für uns Sozialdemokraten, war für RotGrün nicht akzeptabel. Wenn es uns nicht gelingt, alle
Menschen fair und sozial gerecht an den Erträgen und
Chancen der Wirtschaft zu beteiligen, werden wir die
großen Herausforderungen dieser unserer einen Welt
nicht angehen können.
({16})
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Wer Stabilität,
Arbeit, Sicherheit, Wohlstand und eine gesunde Umwelt
haben will, muss für eine ökologische, soziale und faire
Gestaltung der Globalisierung kämpfen.
({0})
Das Wort
hat der Kollege Hartmut Schauerte von der CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Liebe Frau Skarpelis-Sperk,
ich halte es für bezeichnend, dass Sie auch hier in dieser
Schlussdebatte ein Zerrbild unserer Ansätze zeichnen
({0})
und es heftig mit Polemik würzen. Ich werde mich nicht
daran beteiligen.
({1})
Mit der Vorlage dieses Berichtes geht eine lange Arbeit
zu Ende, die effektiver hätte sein können, wenn sie nicht
immer wieder durch vermeidbare Belastungen gestört
worden wäre. Deswegen ist das Ergebnis auch enttäuschend.
Ich möchte aber nun die Zeit nutzen, um klar zu machen, wie die Union über diesen Gesamtkomplex, der
unglaublich wichtig ist, denkt. Globalisierung ist technologiebedingt, wissensbasiert, unvermeidbar, aber gestaltbar. Sie ist umfassend und unteilbar, sie besteht aus
vielen Bausteinen und es ist schädlich, wenn man sie in
einzelne Abteilungen zerlegt. Zu ihr gehören die Kunst,
die Kultur - auch die Weltmeisterschaft -, der Tourismus, das Wissen, die Medien, aber auch die Weltflüchtlinge, das Weltklima, der Weltfrieden, die Frage der
Frauen und ihre Lage in der Welt, Welthandel und weltweiter Terror.
({2})
All dies sind die Elemente, die zur Globalisierung
gehören. Man kann sich nicht die Rosinen herauspicken
oder - wenn man negativ an dieses Thema herangeht - vor
allem die Problemfelder betrachten. Man kann sie nur insgesamt haben oder gar nicht. Das Problem wird deutlich,
wenn wir uns die Welt einmal ohne die Globalisierung
vorstellen.
({3})
Stellen Sie sich bitte einmal vor, wo unsere Volkswirtschaft stünde, wie unsere Gesellschaft strukturiert wäre,
wo unser Wohlstand stünde. Es wäre ein finsteres Bild, ein
schreckliches Bild; auch weltweit. Ich bin froh, dass wir
die Globalisierung haben. Es kommt darauf an, sie anständig zu entwickeln, intelligent zu nutzen, ihre Chancen
zu erhöhen und ihre Risiken zu verringern.
({4})
Die Globalisierung erhöht die Vergleichbarkeit und damit den Wettbewerb. Sie belohnt gute nationale Politik.
Der Staat und insbesondere die Diktatoren haben keine
Chance mehr, ihre Bürger dauerhaft zu belügen und sie in
Unfreiheit zu halten. All das sind ausgesprochen positive
Teile des Globalisierungsprozesses.
({5})
- Lassen Sie das bitte. Sie haben sich vorhin schon in Ihrer ganzen Pracht dargestellt.
({6})
Ich bleibe dabei: Die Globalisierung ist durchaus positiv.
Die Gegner der Globalisierung - derer gibt es genug unterstellen ihr Wirkungen, die nicht in der Globalisierung begründet sind. Vielmehr könnte die Globalisierung
eine Lösung für die entsprechenden Probleme sein. Ich
möchte die Lage der Frauen ansprechen. Die Lage der
Frauen in der Welt - so unbefriedigend sie in vielen Ländern und Kulturkreisen ist - ist nicht das Ergebnis von
Globalisierung. Wir sind vielmehr der festen Überzeugung, dass wir mit und nicht ohne den globalen Diskussionsprozess die Lage der Frauen ändern können.
({7})
Der Hunger in der Welt wird nicht von der Globalisierung ausgelöst und hat seine Ursache nicht in der Globalisierung, sondern er hat seine Ursache in der nach wie vor
viel zu hohen Bevölkerungsentwicklung in der Welt.
({8})
- Die Zahlen sind eindeutig, gnädige Frau. Dagegen hilft
kein breites Lachen.
Der Hunger hat seine Ursache in dem Wachstum der
Bevölkerung. Wir können und müssen darüber reden, ob
dieses Problem im Rahmen der Globalisierung intensiv
genug angepackt wird, ob man es noch besser, noch
schneller und noch intensiver anpacken kann. Aber wir
dürfen nicht sagen: Der Hunger in der Welt ist ein Ergebnis des Globalisierungsprozesses.
({9})
Das geht an jeder Wirklichkeit vorbei.
({10})
Die Abholzung der Wälder ist kein von der Globalisierung ausgelöster Prozess. Vielmehr reden wir über die Abholzung der Wälder, weil wir die Globalisierung im Kopf
haben und diese Probleme weltweit sehen. Militärkonflikte sind nicht ein von der Globalisierung verursachtes
Problem. Vielmehr werden wir sie nur mit globalem Denken und globalem Handeln lösen können, zum Beispiel
mit Peacekeeping-Maßnahmen. Das ist die Wahrheit. Das
müssen Sie dann auch so beschreiben, sonst verhetzen Sie
die Menschen. Damit gefährden Sie einen Prozess, der
Gott sei Dank unvermeidbar ist. Es kommt jetzt darauf an,
dass er richtig gestaltet wird.
({11})
Die Globalisierung ist die Voraussetzung für Lösungsansätze bei diesen Problemen. Sie ist nicht ihre Ursache.
Die notwendigen Veränderungen, die in dem einen oder
anderen Fall schmerzhaft sein werden, werden der Globalisierung angelastet. Ich bin dankbar, dass der Herr Kollege
Schreiner in der Arbeitsgruppe Arbeitsmärkte zu Anfang
erklärt hat, dass die Probleme am deutschen Arbeitsmarkt
- das wird in diesen Bereich gern hineininterpretiert nicht Ergebnis des Globalisierungsprozesses, sondern
selbst gemachte Probleme sind, die wir lösen müssen. Das
ist endlich eine klare Position. Etwas Ähnliches gilt für
die anderen von mir angesprochenen Bereiche.
({12})
Lassen Sie es mich auf den Punkt bringen: Wer die Probleme der Welt lösen will, kann auf die Globalisierung
nicht verzichten.
({13})
Sie ist notwendiger Bestandteil des Lösungspotenzials.
Wir müssen Deutschland fit machen. Ich habe gesagt:
Globalisierung erhöht den Wettbewerb. Das ist in Ordnung. Aber auch ohne den Prozess der Globalisierung haben sich in Deutschland Dinge verändert. Deswegen müssen wir in Deutschland Maßnahmen anpacken. Wir
müssen unsere Reformanstrengungen verstärken. Diese
Regierung hat vier Jahre Zeit gehabt. Sie ist in diesem
Prozess leider nicht viel weitergekommen. Ich hoffe, dass
sich in den nächsten vier Jahren neue Chancen ergeben.
Wir müssen den Teil unserer politischen Arbeit, der
sich mit internationalen Dingen befasst, stärken. Das ist
von zentraler Bedeutung. Die Rolle der Außen- und Entwicklungspolitik, der Anteil in jedem Fachressort, der
sich internationalen Beziehungen widmet, wird zunehmend wichtiger. Ich habe den Eindruck, dass wir uns über
diese Entwicklung noch nicht genügend im Klaren sind.
Wir schauen immer noch zu sehr auf unsere jeweiligen
Bereiche und gehen nicht breit genug vor.
Deswegen ist es wichtig, dass wir die Institutionen, die
wir haben - den IWF, die UNCTAD, die ILO, das UNEP
und die UN -, ernst nehmen und stärken. Wir dürfen nicht
gegen sie streiken und auf der Straße Emotionen gegen sie
erzeugen, sondern wir müssen sie entwickeln und in die
Lage versetzen, die wichtigen Aufgaben zu erfüllen.
({14})
Sie sind die einzigen Instrumente, die wir haben. Wer sie
kaputtmacht, muss sagen, welche Instrumente er neu einrichten will. Ich habe dazu nicht wirklich Neues gehört.
Ich komme zu einzelnen Punkten. Die Außen- und Entwicklungspolitik habe ich angesprochen. Beim Thema Entschuldung sind wir unterschiedlicher Meinung. Auch wir
wollen die Entschuldung der hoch verschuldeten armen
Länder. Aber wir meinen, sie muss als pädagogischer Prozess für bessere Regierungsarbeit aufgefasst werden. Entschuldung darf nicht dazu führen, dass man Zinsen spart, um
Rüstungsausgaben finanzieren zu können. Entschuldung
muss dazu führen, dass Bildungsinvestitionen verstärkt und
Demokratie und Menschenrechte gestärkt werden.
({15})
Das möchten wir gesichert sehen, aber wir finden es in
dem von der Mehrheit getragenen Bericht nicht in der notwendigen Klarheit.
Wenn Sie ein internationales Insolvenzrecht vorschlagen, ist das doch eigenartig. Es wird wohl keinen internationalen Konkursverwalter geben. Wir sind zwar auf dem
Weg, einige neue Elemente zu entwickeln, aber Ihr Ansatz
führt nicht weiter.
Was das Kartellrecht angeht, wollen wir Instrumente
einführen und einen Lernprozess einleiten, der weltweit
faire Wettbewerbsregeln verankert und durchsetzen hilft.
({16})
Ob man dafür ein Weltkartellamt braucht, darüber lässt
sich reden. Da werden wir aber hinkommen. Wenn sich
die drei großen Wirtschaftsblöcke der Welt über Kartelle
und Marktmacht einigen könnten, würden sich die übrigen Länder sicherlich fügen. Denn die Wirtschaftsblöcke
würden wesentliche Dinge vorgeben und ich kann mir
nicht vorstellen, dass diese Vorgaben nicht weltweit
durchsetzbar wären.
Was Marktöffnungen angeht, so können diese zwar
durchgeführt werden. Aber passen Sie auf, dass keine
Standards formuliert werden, die die formal beschlossenen
Marktöffnungen tatsächlich wieder rückgängig machen.
Auch die Verbraucherschutzproblematik ist ein
hoch interessantes Thema. Wenn wir all das, was wir von
uns verlangen, von den Entwicklungsländern bei den Produkten verlangen, die sie liefern können, werden wir uns
wundern. Dann geben wir ihnen nämlich Steine statt Brot.
({17})
Das gilt auch für die Diskussionen über die Standards
im Allgemeinen. Kein vernünftiger Mensch kann doch
meinen, wir wollten Kinderarbeit nicht verbieten und
keine sozialen Standards einführen.
({18})
Das ist eine so bösartige Unterstellung, dass ich mich
wundere, wie vernünftige Menschen so etwas formulieren
können.
({19})
Wir haben es auf der WTO-Konferenz in Katar doch
erlebt. Wenn uns 70 Nationen dort - zwar mit unterschiedlichen Begründungen - auffordern, die Anforderungen bei den Standards nicht so hoch zu schrauben, dass
sie keine Chance mehr haben, uns ihre Güter und Waren
zu liefern, dann ist das doch ernst zu nehmen.
({20})
Sie verstehen unsere von oben herab geführte Diskussion
über Standards so, dass wir sie ausgrenzen und verhindern
wollen, dass sie unsere Märkte bedienen. Nur in diesem
Punkt sind wir unterschiedlicher Auffassung.
({21})
Wir möchten ihnen mit einem intelligenten und hoffentlich beschleunigten Prozess der Anpassung an
vernünftige Standards die Chance geben, mit uns Handel
zu treiben. Wir würden sie aus den Weltmärkten herauskatapultieren, wenn wir ideologische oder in sonst einer
Weise wünschenswerte Standards durchsetzen wollten.
Das kann es aber nicht sein.
Was das Thema Offshore angeht, frage ich Sie, welche
Anstrengungen die Bundesregierung unternommen hat,
um die nicht kooperationsbereiten Offshore-Zentren
wirksam zu bekämpfen. Von Ägypten über Russland bis
hin zu Israel sind die interessantesten Staaten dabei,
({22})
die nicht bereit sind, faire Regeln in bezug auf Geld und
Steuern zu akzeptieren. Diese brauchen wir aber, damit die
Schlupflöcher der internationalen Kriminalität bekämpft
werden können. Was hat denn die Regierung in diesem Zusammenhang getan? Ich kann fast nichts erkennen.
({23})
Dabei gibt es genügend Ansatzpunkte, um voranzukommen und die Schlupflöcher zu stopfen.
Auch die NGOs sind ein interessanter Punkt. Wir sagen klipp und klar, dass die NGOs nötig, hilfreich und
nützlich sind. Aber entscheiden müssen die demokratisch
gewählten Regierungen und Parlamente.
({24})
Derselben Auffassung war auch der Vorsitzende der
Enquete-Kommission von Weizsäcker. Deshalb hat er in
seiner Einleitung zu dem Bericht geschrieben - ich hätte
es selber nicht besser sagen können -:
Eine positivere Rolle können die NGOs auf Dauer
allerdings nicht spielen, wenn sie nicht stets aufs
Neue ihre Glaubwürdigkeit beweisen. Vor allem
müssen sie um der Glaubwürdigkeit und um des
Rechtsstaats willen den Primat der parlamentarischen Demokratie und ihrer Regierungen respektieren. Das gilt insbesondere bei der Gesetzgebung,
beim Gewaltmonopol und bei der Verhandlungsführung in internationalen Konferenzen. Zum
Respekt vor den Regeln der Demokratie gehört
selbstverständlich auch die Ablehnung von Gewalt.
Ferner muss ihre Finanzierung transparent sein.
Das ist ein absolut sauberer Text.
({25})
Der SPD aber war dieser Text zu kritisch. Sie hat ihrem
eigenen Ausschussvorsitzenden untersagt, eine so vernünftige Passage in die Einleitung zu übernehmen. Das ist
der Ansatz, den Rot-Grün verfolgen will:
({26})
auf verschiedenen Ebenen spielen, Feuerchen machen,
({27})
auf allen Hochzeiten tanzen und eine Situation herbeiführen, die von Demonstrationen auf den Straßen geprägt ist.
({28})
Das wird es nach der Wahl geben, wenn Sie in der Opposition sind.
({29})
Jetzt haben Sie sich mit Blick auf die Regierung noch
zurückgehalten. In Zukunft wird das anders sein. Ich bedauere das sehr.
({30})
Ich möchte fortfahren
({31})
und damit zum Kern zurückkommen. Die Globalisierung
ist ein hoch pädagogischer Prozess weltweit,
({32})
mit psychologischen Elementen und allem, was dazugehört.
({33})
Wir müssen miteinander lernen. Solche Prozesse, die unvermeidbar sind, kann man nicht steuern, indem man
Angst macht, sondern kann man nur steuern, indem man
Mut macht. Wer Angst macht und Angst vergrößert,
gefährdet den Prozess und erhöht die Risiken.
({34})
Sie tragen in wesentlichen Teilen dazu bei, dass Angst gemacht wird.
({35})
Deutschland muss - auch die Koalition - seiner größer
gewordenen Verantwortung gerecht werden. Deutschland
und Europa müssen dieser Verantwortung gerecht werden. Es geht um den entscheidenden Prozess, die Welt unter den modernen Bedingungen friedlich, ökologisch und
demokratisch zu entwickeln.
({36})
Daran wollen wir arbeiten, jetzt und in Zukunft.
Herzlichen Dank.
({37})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Annelie Buntenbach vom Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Globalisierung ist kein Sachzwang. Sie ist beeinflussbar
und kann gestaltet werden.
({0})
Genau das zeigen die 200 zum Teil sehr konkreten Handlungsempfehlungen, die die Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“ in ihrem Schlussbericht
vorgelegt hat. Sie sind eine Aufforderung an das Parlament, an die Öffentlichkeit und an die Betroffenen, sich
einzumischen. Die Sonntagsreden über eine bessere Zukunft der Welt können sich jetzt an den praktischen Schritten hin zu einer stärkeren Berücksichtigung sozialer und
ökologischer Belange, zu mehr Demokratie und Transparenz messen lassen. Dafür bietet der Bericht eine Fülle
von Ansatzpunkten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
hoffe, dass unsere Empfehlungen auch für Sie überzeugend sind und dass Sie viele davon in der nächsten Legislaturperiode umsetzen.
({1})
Zwar führt die Globalisierung insgesamt zu einem Zugewinn an gesellschaftlichem Reichtum, aber dieser
Reichtum ist ungerecht verteilt. Ganze Länder sind von
der Entwicklung abgekoppelt. Wer abgekoppelt ist, wer
hoch verschuldet ist, wer zum Beispiel gar nicht über die
Mittel verfügt, um seine Rohstoffe ausbeuten zu können,
der hat erst gar keine Chance, am internationalen Wettbewerb auf gleicher Augenhöhe oder sogar mit Gewinn teilzunehmen.
({2})
Wenn jeden Tag mehr als 100 000 Menschen an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen sterben, wenn
828 Millionen Kinder, Männer und Frauen im letzten Jahr
schwerstens unterernährt waren und wenn trotz des wachsenden Reichtums die Schere zwischen Arm und Reich
immer weiter auseinander geht, wenn die Lebenschancen
und die Chancen der Teilhabe immer ungleicher verteilt
werden, dann ist doch offenkundig, dass Handlungsbedarf
besteht.
({3})
Soziale und ökologische Interessen erfordern im Prozess
der Globalisierung politische Einmischung.
({4})
Herr Schauerte, Sie bauen Pappkameraden auf. Hier
hat doch niemand die Forderung „Zurück auf die
Bäume!“ oder „Zurück in die Gräben der Autarkie!“ erhoben. Das ist doch albern. Dass es Internationalisierung gibt, dass es sie geben soll und dass es sie geben
muss, ist völlig klar. Die Frage ist nur, wie sie aussieht und
wie sie gestaltet wird. Dass es hier Handlungsbedarf gibt,
wird kaum jemand ernsthaft bestreiten.
Die Auseinandersetzung um diese Gestaltung - das
sage ich nochmals in Ihre Richtung - ist kein Glaubenskampf. Hierbei geht es nicht um Wortklauberei. Mich erstaunt immer wieder, wenn ideologische Scheuklappen,
wie vorhin geschehen, dazu führen, dass die Probleme der
Realität gar nicht wahrgenommen werden und damit auch
die Verantwortung der Politik dafür, diese Zustände zu
verändern, nicht ernst genommen wird. Dafür gibt es keinen einfachen Weg, sondern das erfordert eine langwierige und schwierige Auseinandersetzung in der Sache, der
sich die Enquete-Kommission gestellt hat.
An dieser Stelle möchte ich ganz herzlich all denen
danken, ohne die es diesen fundierten Bericht gar nicht
geben würde. Damit meine ich die Mitglieder der Enquete-Kommission aus allen Fraktionen, Abgeordnete
wie Sachverständige, die sich an dem spannenden und
nicht immer einfachen Erarbeitungsprozess beteiligt haben. Damit meine ich aber auch die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter im Sekretariat und in den verschiedenen Fraktionen.
({5})
Mein ganz besonderer persönlicher Dank gilt Professor
Dr. Franz Nuscheler, den meine Fraktion als Sachverständigen gewinnen konnte und mit dem die Zusammenarbeit
viel Spaß gemacht hat.
({6})
Jetzt zu den Handlungsempfehlungen, von denen ich
hier nur einige wenige nennen kann.
Stichwort Finanzmärkte. Es ist erstaunlich, dass sich
die Reaktionen auf die Veröffentlichung unseres Berichts
in manchen Stellungnahmen auf die Frage beschränken,
ob sich die Enquete nun für oder gegen die Tobinsteuer
ausspricht. Die Tobinsteuer ist eine logische und notwendige Maßnahme gegen schädliche Kurzfristspekulationen,
({7})
nicht weniger, aber auch nicht mehr. Unsere Empfehlungen im Finanzbereich gehen viel weiter. So müssen Gläubiger künftig in die Risiken von Finanzkrisen mit einbezogen werden, denn nur so kann gewährleistet werden,
dass sie verantwortungsvoller investieren.
({8})
Und es muss klar sein: Wer sich der Kontrolle und den internationalen Standards entzieht und von so genannten
Offshore-Zentren - die einen nennen das Steuerparadiese,
die anderen Geldwaschanlagen - aus agiert, muss härtere
Eigenkapitalanforderungen erfüllen und in ein spezielles
Unternehmensregister eingetragen werden. Das ist auch
ein Schritt dahin, die Geldwäsche wenigstens etwas mehr
einzudämmen.
({9})
Nicht nur die immense Beschleunigung der zum Teil
hoch spekulativen Transaktionen belastet die Finanzmärkte, auch die Verschuldung von Entwicklungsländern
ist ein sehr ernstes Problem. Deshalb fordert die Enquete,
die Entschuldungsinitiativen voranzutreiben, natürlich
nicht, Herr Schauerte, um Mittel für Rüstung freizumachen. Das will niemand, das war in der Enquete auch nie
Thema. Das kann vernünftigerweise auch niemand wollen. Vielmehr geht es natürlich um Mittel für Bildung und
anderes.
({10})
Ich kenne auch kein Entschuldungsabkommen, das nicht
genau an dieser Stelle die Bremse anzieht.
Deshalb fordert die Enquete, die Entschuldungsinitiativen voranzutreiben und ein internationales Insolvenzverfahren einzurichten, das im Fall schwerer Finanz- und
Schuldenkrisen Ländern einen wirtschaftlichen Neuanfang ermöglicht.
Stichwort öffentliche Güter. Ein Kernelement der
Globalisierung ist die Liberalisierung und Privatisierung
der Finanz-, Güter- und Dienstleistungsmärkte. Alles soll
zur frei handelbaren Ware werden. Nun gibt es Bereiche,
die zu den Grundbedürfnissen der Menschen oder der Gesellschaft gehören, und ihre Sicherstellung ist eine der originären Aufgaben der öffentlichen Hand, was - das sage
ich gleich dazu - übrigens nicht heißt, dass alle Dienste
staatlich organisiert werden müssen. Aber die letzte Verantwortung muss beim Staat verbleiben.
Die UNO zählt auf der internationalen Ebene zu den
öffentlichen Gütern, den so genannten „global public
goods“, neben Klima und Biodiversität zum Beispiel auch
Frieden, ökonomische, soziale und finanzielle Stabilität.
Globale öffentliche Güter haben eines gemeinsam: Alle
Menschen und Länder sind darauf angewiesen und kein
Land kann sie allein sicherstellen. Welche Güter eine
Gesellschaft als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge
versteht, muss letztlich in der Gesellschaft selbst breit diskutiert und entschieden werden und kann nicht den Profitinteressen transnationaler Konzerne überlassen bleiben
oder dem Gutdünken von Verhandlungsdelegationen, die
hinter verschlossenen Türen tagen.
({11})
Die wichtigsten Weichenstellungen für die Liberalisierung im Dienstleistungsbereich werden im Rahmen der
Verhandlungen zum GATS-Abkommen getroffen. Hier
empfiehlt die Enquete, keine weiteren Liberalisierungsverpflichtungen einzugehen, ohne die sozialen Folgen
vorher abzuschätzen, und die Betroffenen viel stärker in
den Entscheidungsprozess einzubeziehen.
({12})
Die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie
zum Beispiel Bildung und Kultur, sollten aus den Verhandlungen des GATS ganz ausgenommen werden.
Stichwort Global Governance. Die internationalen Institutionen müssen demokratischer werden. Die Staaten
aus dem Süden, in denen die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, müssen in den internationalen Institutionen
mehr Gewicht erhalten. Ohne ihre gleichberechtigte Teilhabe an Entscheidungen, also ohne Nord-Süd-Parität, können globale Probleme überhaupt nicht bewältigt werden.
Es geht aber auch um eine Verschiebung der Gewichte
zwischen einzelnen Institutionen. So ist der Vorrang, der
der Handelspolitik gegenüber anderen Feldern wie der
Umwelt- oder der Sozialpolitik eingeräumt wird, abzubauen. Die Enquete-Kommission fordert dementsprechend die Stärkung und die Aufwertung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, UNEP, indem man es
zu einer eigenständigen Weltumweltorganisation ausbaut,
sowie eine Stärkung der ILO. Die Enquete-Kommission
empfiehlt darüber hinaus, UNEP und ILO an den Streitschlichtungsverfahren der Welthandelsorganisation künftig zu beteiligen. Bei Konflikten über international gültige
handelspolitische Regeln, wie sie beispielsweise die
WTO aufstellt, und bei internationalen Konventionen zur
Durchsetzung von Menschenrechten, von Friedenszielen,
sozialpolitischen Zielen und Umweltzielen muss den
Letzteren Priorität eingeräumt werden.
Wir brauchen die Kohärenz zwischen den verschiedenen Politikbereichen, auf internationaler, aber auch auf
nationaler Ebene. Um das zu erreichen, müssen wir die
Debatten im Parlament anders organisieren und die Themen bündeln.
Zurück zur WTO. Die Welthandelsorganisation muss
insgesamt transparenter werden. Das ist die einhellige
Auffassung der Kommission. Ein erster Schritt wäre es,
Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und Verbänden einen Beobachterstatus und Zugang zu allen Sitzungen der Welthandelsorganisation einzuräumen.
Die Zivilgesellschaft und die Nichtregierungsorganisationen haben eine sehr wichtige Rolle dabei gespielt - ich
hoffe, dass sie sie weiterhin spielen werden -, das Thema
Globalisierung über die Kreise der Experten und Fachabgeordneten hinaus in die breite Öffentlichkeit zu tragen.
Sie haben durch ihre Demonstrationen und Proteste auf
der Straße die Tagesordnungen der internationalen Institutionen durcheinander gebracht. Zu Recht haben sie
dafür gesorgt, neben der Debatte über die Handelsliberalisierung auch eine Diskussion über die sozialen und ökologischen Folgen in Gang zu setzen. Wir sollten diese Veränderungen nutzen und auch in unserem Parlament
vollziehen. Im Zusammenhang mit der Diskussion über
die Gestaltung der Globalisierung haben wir der Zivilgesellschaft und insbesondere den Demonstrationen auf
der Straße sehr viel zu verdanken.
({13})
Unter dem Stichwort „Global Governance“ geht es
nicht allein um eine Reform der internationalen Institutionen, sondern auch um den Einbezug neuer Akteure. Die
tatsächliche Umsetzung von Kernarbeitsnormen, die in
der Welthandelsorganisation verankert werden sollen,
und von Umwelt- und Sozialstandards vor Ort hängen von
strategischen Allianzen zwischen Konsumenten und Produzentinnen einerseits und zwischen Nord und Süd andererseits ab. Die Absichtserklärungen multinationaler Konzerne, Umwelt- und Sozialstandards zu respektieren,
dürfen nicht zu einer folgenlosen Werbestrategie im NorAnnelie Buntenbach
den verkommen. Sie müssen genutzt werden, um konkrete Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen im Süden zu erreichen. Darüber war
sich die Enquete-Kommission weitgehend einig.
Auf die konkreten Arbeits- und Lebenssituationen von
Frauen wirkt sich der Globalisierungsprozess sehr unterschiedlich aus. Insbesondere die Frauen in den Entwicklungsländern laufen Gefahr, zu den Verliererinnen zu
gehören. Sie bilden mehr als zwei Drittel der in Armut lebenden Bevölkerung. Viele von ihnen arbeiten
im informellen Sektor ohne soziale Absicherung. Die
Enquete-Kommission fordert eine bewusste und aktive
Frauenpolitik mit dem Ziel, die Benachteiligung von
Frauen auf den unterschiedlichen Ebenen zu beseitigen.
In die gerechte, soziale, ökologische und menschliche
Gestaltung der Globalisierung sowie in die zivile Konflikt- und Gewaltprävention Energien und Finanzmittel zu
investieren hätte gerade den reichen Industrieländern wie
auch der Bundesrepublik Deutschland in den letzten
Jahren sehr gut angestanden. Im kommenden Haushalt
ist, entsprechend den Ergebnissen der Konferenz von
Monterrey, der Ansatz für eine Entwicklungszusammenarbeit zwar erhöht worden - ich begrüße das ausdrücklich -; wir sind aber immer noch sehr weit vom international vereinbarten Ziel eines Bruttoinlandsprodukts
in Höhe von 0,7 Prozent entfernt.
Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung in meiner letzten Rede im Bundestag: Ich hatte gehofft, dass
nach dem Ende des Kalten Krieges diejenigen Mittel freigesetzt würden, die früher in irrsinnige Rüstungsprogramme gesteckt wurden. Leider stehen jetzt neue umfangreiche Rüstungsprogramme auf der Tagesordnung,
die öffentliche Mittel bei gleichzeitig sinkender Staatsquote auf die Investition in neue Waffensysteme festlegen, und zwar in einer bislang unvorstellbaren Größenordnung. Während der US-Militärhaushalt 1998 noch
259 Milliarden Dollar betrug, so sind für 2007 450 Milliarden Dollar vorgesehen. Diese Mittel gehen zulasten
anderer öffentlicher Ausgaben: Soziales, Bildung, Gesundheit, Umwelt, Entwicklungszusammenarbeit. Kriege
scheinen wieder führbar und gewinnbar. Das ist die eine
zutiefst beunruhigende Nachricht.
({14})
- Der furchtbare Terroranschlag vom 11. September hat
den Prozess lediglich beschleunigt, er hat ihn nicht ausgelöst.
Die andere zutiefst beunruhigende Nachricht ist: Die
Rüstungsspirale dreht sich erneut, auch in anderen Ländern. Nicht nur die Bundesrepublik, Europa und die
NATO werden in diesen fürchterlichen Kreislauf einsteigen und ihre knappen Mittel in die besten und effektivsten
Systeme investieren, um Kriege zu führen, statt in die Zukunftsaufgaben der Menschheit. Das halte ich für eine
grundfalsche gesellschaftliche Weichenstellung.
({15})
Statt mehr Rüstung und einer Renaissance des Militärischen als Mittel der Politik brauchen wir eine gerechte
Weltwirtschaftsordnung und demokratische Teilhabe an
deren Gestaltung.
Herr Präsident, lassen Sie mich noch einen letzten Satz
sagen: Stabiler Frieden muss einen für alle Beteiligten
wenigstens halbwegs akzeptablen Interessenausgleich
zur Grundlage haben. Das ist eben nicht über Ausgrenzung, sondern nur über Teilhabe am Aushandlungsprozess zu erreichen. Interessen dürfen nicht unilateral
durchgesetzt werden; ein nachvollziehbares multilaterales Rechtssystem ist nötig, dessen Entscheidungen im Interesse der Schwächeren jeweils auch vernünftig überprüfbar sind. Schwächere gibt es leider mehr als genug,
denn unsere Welt ist trotz bzw. wegen der Globalisierung
gespalten. So international wie unsere Märkte ist unsere
Solidarität offensichtlich nicht. Das müssen wir verändern.
({16})
Frau Kollegin Buntenbach, nach Ihrer letzten Rede danke ich Ihnen im Namen des Hauses für Ihre kollegiale und engagierte Arbeit im Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen
für die Zukunft alles Gute.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Arbeit der Enquete-Kommission stand nach zweieinhalb Jahren unter keinem leuchtenden Stern mehr - so
habe ich es empfunden -, sondern vollzog sich eher in einem schwachen Schummerlicht, und zwar in einem
Schummerlicht längst überkommen geglaubter Uraltideologien. Wir haben das heute Morgen auch hier im Plenum schon vermerken können. In der Sache bestehen eigentlich wenige Unterschiede; es kann doch niemand
wirklich annehmen, liebe Sigrid Skarpelis-Sperk, dass
sich die FDP - unsere Partei wurde ja angesprochen tatsächlich für Kinderarbeit ausspreche,
({0})
Armut fördern oder die Entschuldung nicht zurückführen
wolle. Das ist doch pure Polemik; hier kommt ein gehöriger Schuss an Ideologie herein.
({1})
Das Ganze lässt sich dadurch erklären, dass in der einen Ecke des Hauses die Globalisierung mit einer hässlichen Fratze gezeichnet wird, während in der anderen Ecke
des Hauses - dazu gehört auch die FDP - versucht wird,
mit realistischen und vor allen Dingen auch freiheitlichen
Elementen die Globalisierung positiv zu gestalten.
({2})
Genau das ist unsere Aufgabe.
({3})
Was haben wir getan? Wir hatten am Anfang sehr langatmige Diskussionen, es gab heftige Kompetenzstreitigkeiten, wir haben einen gehörigen Zeitverlust bei unserer eigentlichen Arbeit, nämlich einer zielgerichteten und
intensiven Suche nach Problemlösungen, hinnehmen müssen. So ist es natürlich zu einer gewissen Enttäuschung
gekommen - das trifft auch auf mich zu -, weil wir einen
riesengroßen Fragenkatalog von wichtigen Themenkomplexen in der Enquete-Kommission überhaupt nicht mehr
behandeln konnten. Das müssen wir jetzt auf die nächste
Legislaturperiode verschieben. Das finde ich sehr bedauerlich, denn wir hätten mehr Kraft, mehr Zeit und mehr Effizienz in die eigentliche Arbeit stecken können und müssen.
({4})
Für die FDP steht schon seit langem fest, dass die Globalisierung viel mehr Chancen als Risiken bietet. Wir sind
uns der Risiken absolut bewusst, sehen aber, dass es nicht schon gar nicht auf Knopfdruck - totale Gerechtigkeit und
gerechte Verteilung aller Güter geben kann. Veränderungen
brauchen Zeit und dafür ist intensivste Arbeit vonnöten.
({5})
Insofern geht es hier darum, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Im Wege steht dabei aber die Ideologie
eines so genannten Gutmenschentums, mit der wir nichts
erreichen werden.
Als FDP-Fraktion haben wir zu dem über 600 Seiten
umfassenden Schlussbericht unser Minderheitenvotum
eingebracht. Ich nenne hier zwei zentrale Punkte, in denen wir uns sehr unterscheiden. Zum einen lehnen wir die
Devisentransaktionssteuer oder Tobin Tax als ungeeignetes Instrument für irgendwelche Regulierungen ab.
({6})
Diese Tobinsteuer beeinträchtigt den Handel mit Gütern
und Dienstleistungen. Eigentlich ist sie als zusätzliche
Einnahmequelle gedacht. Insoweit ist sie Sand im Getriebe des internationalen Finanztransfers. Sie ist ordnungspolitisch bedenklich. Vor allem zementiert sie die
Steueroasen und die Steuerflucht und bekämpft nicht die
Offshore Centers.
Zum anderen lehnt die FDP die Verbindung von Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards mit Handelsaktivitäten ab.
({7})
Damit befinden wir uns, wie ich ausdrücklich betonen
möchte, im Konsens mit den betroffenen Entwicklungsländern.
({8})
Sie sagen selbst, dass wir damit eine riesige Hürde aufbauten und Marktabschottung betrieben.
In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch fragen, inwieweit wir bereit und in der Lage sind, unsere eigenen Märkte zu öffnen. Ich denke hier an die Agrar- und
Textilmärkte. Hier passiert nicht viel. Ich habe auch keinerlei Kritik seitens des Bundeskanzlers oder des Außenministers daran gehört, dass die Vereinigten Staaten vor
kurzem entgegen dem auf der letzten WTO-Konferenz in
Doha geschlossenen Abkommen ihre Agrarsubventionen sukzessive um weitere 70 Prozent auf 180 Milliarden Dollar erhöhen werden. So etwas läuft den Bedürfnissen der Entwicklungsländer zuwider. Ich sehe dies als
einen so wichtigen Punkt an, dass ich fürchte, dass dadurch die WTO-Konferenz im Jahre 2003 gefährdet sein
könnte. Die Entwicklungsländer fühlen sich hier nicht
ernst genommen. Ein solches Gefühl dürfen wir ihnen
aber nicht geben.
({9})
Nur eine globale Handelsordnung kann gegen den protektionistischen Missbrauch von Antidumpingmaßnahmen wirksam sein und den Verbrauchern mehr Transparenz und Informationen liefern. Wir treten sogar - ich sage
„sogar“, weil das viele überrascht - für einen internationalen Wettbewerb mit geordneten Rahmenbedingungen,
also nicht etwa nach Wildwestmanier, ein. In vier Schritten soll das Ziel einer international funktionierenden
Wettbewerbsordnung erreicht werden: erstens erweiterte Notifizierungspflichten, zweitens eine Wettbewerbspolitik als Teil der WTO-Überprüfungsmechanismen,
drittens eine Vereinbarung gemeinsamer Wettbewerbsregeln und viertens die Errichtung eines Weltkartellamtes
mit eigener Klagebefugnis.
({10})
Zum Thema Entwicklungshilfe erinnere ich die Regierungsfraktionen daran, dass sie in den letzten vier Jahren ihr
hoch gestecktes Ziel von 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts - dieses Ziel war in ihren Wahlprogrammen enthalten - nicht erreicht haben. Im Haushalt 2002 kommt
Deutschland gerade einmal auf 0,27 Prozent,
({11})
während die Niederlande und Schweden sogar das RioZiel von 0,7 Prozent überschritten haben und bei 0,8 Prozent liegen. Großbritannien liegt bei 0,31 Prozent, die
Schweiz bei 0,34 Prozent.
({12})
- Die aufgeregten Zwischenrufe kann ich sehr gut verstehen, lieber Walter Hirche, denn es ist ein wunder Punkt,
wenn man einerseits hier predigt, was man alles tun muss,
die Worte und die Taten aber andererseits sehr weit auseinander klaffen. Das sehen wir sehr wohl.
({13})
Weil der Vorsitzende unserer Enquete-Kommission,
Herr von Weizsäcker, gleich noch sprechen wird, bitte ich
um eine Klarstellung. Ich musste gestern in einer Pressemitteilung lesen: „Wir müssen die Demokratie neu erfinden.“
({14})
Weiter fand sich der Satz: Die „Vorsitzenden der parlamentarischen Fachausschüsse müssen an internationalen
Verhandlungen beteiligt werden.“
Ich war einigermaßen geschockt. Ich finde diese Äußerung schädlich, denn wir leben in einer funktionierenden
Demokratie. Nicht überall auf der Welt gibt es demokratische Strukturen, aber gerade daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Dem dient auch die Globalisierung, weil sie
mehr Transparenz, mehr Menschenrechte, mehr Bildung
und mehr Wohlstand für immer mehr Menschen bringen
kann - bei allen Problemen, die ohne Zweifel bestehen.
({15})
- So ist es.
({16})
Zum Thema Arbeitsmarkt. Ich fand die Analyse der
Experten wirklich sehr interessant, wonach unsere Probleme auf dem Arbeitsmarkt in der Tat hausgemacht sind.
Dazu kann ich nur anmerken: Wer die Globalisierung als
Alibi für Untätigkeit in Sachen nationaler Reformen benutzt, der muss entlarvt werden; ich finde das sehr arrogant.
Fangen wir doch im eigenen Haus an! Bemühen wir
uns, den eigenen Markt in Ordnung zu bringen, und gehen
wir erst dann dazu über, anderen irgendwelche Vorschriften zu machen.
({17})
Frau Kollegin Kopp, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss und
richte meinen Dank für das sehr gute persönliche Miteinander in der Enquete-Kommission zum einen an die Kollegen, zum anderen aber auch an die Experten. Damit
meine ich ausdrücklich alle Experten gleichermaßen. Ich
mache keinen Unterschied, von welchen Fraktionen sie jeweils benannt wurden; politische Differenzierungen fände
ich in diesem Zusammenhang kleingeistig. Herzlichen
Dank für den Sachverstand, den Sie eingebracht haben.
({0})
Lassen Sie mich die Frage danach, wie es weitergeht
und ob wir eine neue Enquete-Kommission brauchen, folgendermaßen beantworten: Ich wünsche mir, dass wir in
der nächsten Legislaturperiode diesen Komplex Globalisierung, der uns weiter begleiten wird und den wir dringend gestalten müssen, zum Beispiel im Wirtschaftsausschuss behandeln,
({1})
nicht aber im Rahmen einer Kommission, die kaum wahrgenommen und von außen kaum ernst genommen wird;
({2})
dafür ist mir dieses Thema zu ernst und zu wichtig. Ich
hoffe, dass wir dann zu einem effizienteren Arbeiten kommen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ulla Lötzer von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen
und Kollegen! Der Endbericht macht zunächst einmal eines deutlich: Es war höchste Zeit. Die Demonstrationen
von Seattle bis Sevilla haben längst verdeutlicht, dass die
Gesellschaft die mit der Globalisierung verbundene Ungleichheit der Entwicklung zu Recht zunehmend als Problem empfindet. Die kritische Öffentlichkeit wächst und
stellt berechtigte Fragen. Das Weltsozialforum von Porto
Alegre hat eine intensive Diskussion von Alternativen begonnen.
Herr Kollege Schauerte, Ihre wie unsere Alternative
heißt nicht Rückzug ins Schneckenhaus, sondern kooperative, solidarische Internationalisierung, die allen eine
Chance gibt. Deshalb richtet sich Ihre wie unsere Kritik
auch nicht gegen Globalisierung an sich,
({0})
sondern gegen ihre neoliberale Deformation. Sie war von
Anfang an auch ein politisches Projekt, eng verbunden
mit Reagan, Thatcher und Kohl. Die G 8 bildet in diesem
Zusammenhang ein politisches Machtzentrum. Bedauerlich ist, heute feststellen zu müssen, dass sich die Gipfelteilnehmer in Kanada vor der kritischen Bewegung in ein
unzugängliches Bergdorf zurückziehen. Damit verfestigen sie eher die undemokratischen Strukturen.
Wer Transparenz und Demokratie durch den ständigen
Verweis auf Sachzwänge der Globalisierung ersetzt, der
befördert Politikverdrossenheit bis hin zu Rechtspopulismus. Das wird in Europa in den letzten Monaten mehr als
deutlich. Parlamente haben bisher die Rolle stummer
Zaungäste eingenommen. Deshalb war es höchste Zeit,
die Diskussion aufzunehmen und Schlüsse zu ziehen.
Jetzt haben wir gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern von Wissenschaft, Gewerkschaften, Verbänden
und NGOs die Entwicklung untersucht und 200 Empfehlungen vorgelegt. Mit ihrer Unterstützung ist ein Endbericht gelungen, der es ermöglicht, Handlungsfähigkeit für
uns im Parlament zurückzugewinnen. Der Diskussionsprozess um Alternativen in der Öffentlichkeit wird befördert.
In der Kürze nur einige für uns wichtige Ergebnisse:
Empfehlungen zur Stabilisierung der Finanzmärkte
und hier besonders zur europäischen Einführung der Tobinsteuer.
Empfehlungen zum Schutz öffentlicher Güter; Evaluierung hinsichtlich der sozialen Folgen und des Ausschlusses der Bildung und weiterer Leistungen der Daseinsvorsorge aus den folgenden GATS-Verhandlungen.
Sicherung der Nachhaltigkeit von Wissen gegenüber
zunehmendem privatwirtschaftlichen Verwertungsdruck.
Das erfordert unter anderem eine Revision des TRIPs-Abkommens und der EU-Richtlinie zur Patentierung unter
Federführung der UN. Hierbei haben Menschenrechtsabkommen, das Recht auf Gesundheit, Nahrungssicherheit
und biologische Vielfalt absolute Priorität.
Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Schutz sozialer
Standards und Rechte sowie Maßnahmen zur Umverteilung. Der Endbericht empfiehlt Maßnahmen zur koordinierten makroökonomischen Politik auf europäischer
Ebene.
Stärkung der Demokratie im globalen Maßstab. Dazu
gehören die Reform der Stimmrechte im IWF zugunsten
einer Nord-Süd-Parität und eine Vertretung aller Regionen im Weltsicherheitsrat mit Sitz und Stimme.
Mit einigen Analysen und Empfehlungen sind wir
leider in der Minderheit geblieben. Darum kümmern wir
uns nächstes Mal erneut. Wir betrachten die „disziplinierende“ Wirkung der großen Finanzmarktakteure als
Aushebelung von Demokratie und Gefährdung des Sozialstaats. Große Akteure auf den europäischen Finanzmärkten müssen wieder in nachhaltige Wirtschaftspolitik
eingebunden werden. Für uns gilt es zudem, die demokratische Gestaltungsmacht gegenüber transnationalen
Konzernen weiter gehend zu stärken. Die Bekämpfung
von Arbeitslosigkeit setzt neben einer engen europäischen
Koordinierung Schritte zur Binnenmarktorientierung in
der Wirtschaftspolitik voraus.
Um das zu erreichen, haben wir nicht nur intensiv am
Endbericht und seinen Empfehlungen mitgearbeitet, sondern auch ergänzende Analysen und Empfehlungen zu
diesen Schwerpunkten in unserem Minderheitenvotum
vorgelegt.
Die Umsetzung der Empfehlungen der Enquete-Kommission erfordert einen Politikwechsel auch der Bundesregierung. Nur ein Beispiel: Mehrere asiatische Staaten
haben sich mit Kapitalverkehrskontrollen vor Finanzmarktkrisen geschützt. Jetzt fordert die EU von ihnen das
Fallenlassen all dieser Schranken. Das ist Destabilisierung von Finanzmärkten statt der von uns gemeinsam geforderten Stabilisierung. Die EU fordert von den USA
Schritte zur Bildungsliberalisierung. Damit trägt sie nicht
zum Schutz öffentlicher Güter bei, im Gegenteil.
Ein Politikwechsel auf diesem Gebiet wäre allerdings
mit Ihnen von CDU/CSU und FDP nicht zu machen.
({1})
Sie singen im Wesentlichen das Hohelied von den Chancen der Globalisierung und der Fähigkeit des Marktes,
alle Probleme zu lösen.
({2})
In Ihrem Votum ignorieren Sie die Probleme und die Realität der Verlierer und stellen sich nur auf die Seite der Gewinner.
({3})
Das ist das Problem. Sie sind nicht für Kinderarbeit, aber
Sie verweigern die notwendigen Mittel, um sie zu
bekämpfen.
({4})
Eine Umsetzung der Empfehlungen in der Politik
kann auch nicht passives Abwarten heißen; sie setzt gemeinsames Handeln in der nächsten Legislaturperiode
voraus. Einem gemeinsamen, fraktionsübergreifenden
Antrag zur europäischen Einführung der Tobinsteuer
dürfte nach den gemeinsamen Empfehlungen eigentlich
endgültig nichts mehr im Wege stehen. Gemeinsam sollten wir dafür sorgen, dass die empfohlene Taskforce zur
Klärung einer angemessenen parlamentarischen Befassung in der nächsten Wahlperiode eingerichtet wird. Gemeinsam sollten wir auch dafür sorgen, dass der Dialog
mit den zivilgesellschaftlichen Kräften im Zusammenhang mit Fragen der Globalisierung eine ständige Einrichtung des Parlaments wird. Gemeinsam sollten wir im
Rahmen der GATS-Verhandlungen dafür streiten, dass öffentliche Güter den notwendigen Schutz bekommen, den
wir ihnen in unserer Empfehlung zugemessen haben.
({5})
Zum Schluss bleibt auch mir nur noch, den Sachverständigen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus
dem Sekretariat und den Fraktionen für die Zusammenarbeit zu danken. Es war nicht nur anstrengend, sondern
es hat auch Spaß gemacht und uns viele neue Erkenntnisse
gebracht.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dankbar
und mit ein wenig Stolz können wir dem Hohen Hause
den Abschlussbericht unserer Kommission - mit 600 Seiten und 200 Empfehlungen - überreichen. Wir, das sind
die 13 Abgeordneten mit ihren Vertreterinnen und Vertretern und die 13 sachverständigen Mitglieder. Diesen
möchte ich ganz herzlich danken. In diesen Dank einbeziehen möchte ich natürlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Sekretariat der Enquete-Kommission und in
den Fraktionen, die Gutachter, diejenigen, die zu unseren
Anhörungen gekommen sind, die Vertreterinnen und Vertreter der Ministerien, die uns sehr geholfen haben, und all
die anderen Beteiligten, die nur selten genannt werden.
Wenn man die Seitenzahlen all dessen, was produziert
worden ist, addiert, kommen wir wahrscheinlich auf mehrere tausend Seiten. Wir sorgen dafür, dass das über Internet sorgfältig strukturiert zugänglich wird.
({0})
Die Globalisierung hat die Welt radikal verändert, und
zwar - das ist gar keine Frage - in vielerlei Hinsicht zum
Guten. Eine Rückkehr ins Schneckenhaus gibt es nicht
und will auch niemand. Ich stimme Frau Kollegin Kopp
und der Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul vollständig zu, dass das, was die Amerikaner mit ihrer Farm Bill
machen, eine Katastrophe für den Freihandel ist.
({1})
Die Globalisierung hat auch die Firmen und die
Arbeitsplätze sehr verändert. Mit Software aus Indien,
Rohstoffen aus Indonesien, Zulieferteilen aus Kanada,
Krediten aus London produzieren deutsche Firmen in
Tschechien für den Export nach Saudi-Arabien und Brasilien. Man hat manchmal das Gefühl, dass dort niemand
mehr durchblickt.
({2})
Wer hat das alles noch unter Kontrolle? Vor allem für die
kleinen und mittleren Unternehmen ist das eine enorme
Herausforderung. Sie werden von den Großen mehr und
mehr in die Rolle der Zulieferer abgedrängt. Nun kommt
die Erschwerung der Kreditbedingungen, die man im Zusammenhang mit Basel II befürchtet, hinzu.
Vor diesem Hintergrund ist es kein großes Wunder, dass
sich viele Menschen im Land und insbesondere kleine und
mittlere Gewerbetreibende erst einmal verängstigt fühlen.
Lieber Kollege Schauerte, nicht wir sind es doch, die
Angst schüren!
({3})
Wir bemühen uns - hier versuchen wir, einen parteipolitischen Konsens herzustellen -, diese Angst abzubauen
und zu zeigen, wie die Wege erstens der eigenen Kompetenzverstärkung und zweitens der Gestaltung von Globalisierung sind.
({4})
Was mir als Demokraten allerdings Sorge macht
- nicht Angst! -, ist nicht die mangelnde Gemütlichkeit
- an Wettbewerb und Hektik bin ich ja gewöhnt -, sondern
eine Art Umkehr der Dominanz zwischen Demokratie
und Wirtschaft. In den 60er- und 70er-Jahren war es doch
noch völlig selbstverständlich, dass der Staat den Firmen
sagte, wie sie sich zu benehmen haben, damit sie in unserem Land willkommen sind. Heute ist es leider in vielen
Fällen umgekehrt.
Die internationalen Unternehmen sagen dem Staat, wie er
sich zu benehmen hat, damit sie gnädigerweise bei ihm
investieren.
({5})
Dies ist eine Besorgnis für die Demokratie. Darauf, liebe
Kollegin Kopp, bezog sich meine Aussage, wir müssten
die Demokratie neu erfinden. Natürlich bedeutet das
keine Kritik am heutigen Staat. Es bedeutet vielmehr, dass
wir demokratische Strukturen nunmehr auch auf Weltebene verstärken müssen, damit wieder eine Art Gleichgewicht entstehen kann.
({6})
Die Firmen sagen nicht nur unserem Staat, wie er sich
zu verhalten hat, sondern sagen es allen Staaten. So entsteht eine Art Steuerwettbewerb unter den Staaten, den die
OECD mit Recht als schädlich bezeichnet hat. Es kommt
eine Stimmung auf, wie sie am Anfang der 90er-Jahre mit
Beginn der Globalisierung zu beobachten war: Wer Steuern zahlt, ist selber schuld. Ulrich Wickert hat dies verallgemeinert und gesagt: „Der Ehrliche ist der Dumme.“
Die Globalisierung hat neben all den großen Vorteilen,
die sie geschaffen hat, und auch ohne dass es jemand gewollt hat, einem Verfall der guten Sitten Vorschub geleistet. Geldwäsche, Korruption, Steuerhinterziehung und
Umweltraubbau haben sich leider weltweit ausgebreitet.
Das ist eine der Herausforderungen, mit der wir es zu tun
haben.
({7})
Durch diese Situation wird die Pflege der öffentlichen
Güter - der Bildung, der Infrastruktur und der Umwelt gegenüber den, wie es scheint, nimmersatten Ansprüchen
des privaten Sektors erschwert. Die Nationalstaaten bekommen in dieser Situation, in der sie erpressbar sind, das
Problem der Balance zwischen öffentlichen und privaten
Anliegen einfach nicht mehr in den Griff. Sie müssen sich
zusammenschließen, gemeinsame Regeln schaffen und
sie im Sinne des Subsidiaritätsprinzips auf sehr unterschiedlichen Ebenen - einschließlich der Weltebene durchsetzen. Dort nennt man es globale Strukturpolitik
oder auch Global Governance.
Dazu gehört auch - wie beispielsweise Frau Ministerin
Wieczorek-Zeul oft betont - eine Demokratisierung der
internationalen Finanzorganisationen. Es geht doch
nicht an, dass nach dem guten alten Prinzip der Demokratie „ein Mensch - eine Stimme“ es nun auf einmal „ein
Dollar - eine Stimme“ heißt. Das ist doch oft die Realität
in der internationalen Wirtschaft.
({8})
- „Ein Dollar - eine Stimme“ soll Polemik sein? Das ist
die Realität.
({9})
Die Gestaltung der Globalisierung durch globale
Strukturpolitik ist der Inhalt des 10. Kapitels unseres Berichts, gewissermaßen die Summe unserer Arbeit. Wir
sind uns dabei klar geworden, dass die Kräfte des Staates
und der Staatengemeinschaft allein noch nicht ausreichen,
um die genannte Balance zwischen öffentlichen und privaten Anliegen wieder herzustellen.
Die Zivilgesellschaft muss eingeladen werden, mit der
Demokratie, mit Demokratinnen und Demokraten in allen
Staaten zusammenzuarbeiten. Da sind die Kirchen, die
Gewerkschaften, die Frauenorganisationen und die Umweltschutzverbände sowie die Millionen ehrenamtlich
Tätigen gefragt, die bereit sind, sich für ihre jeweiligen öffentlichen Anliegen einzusetzen. Auch auf die Einhaltung
von Regeln muss geachtet werden, die allerdings - das hat
der Kollege Schauerte ganz richtig zitiert - nur vom Staat
oder von der Staatengemeinschaft beschlossen werden
können.
Frau Kollegin Kopp, Sie haben mich danach gefragt,
was es mit dem Vorschlag auf sich hat, dass die Vorsitzenden der Fachausschüsse in den internationalen Verhandlungen dabei sein sollen. Das ist in den USA schlicht
Praxis und ist Gegenstand unserer Empfehlung 10-15. Sie
können es nachlesen.
Die Globalisierung erfordert den Einsatz aller demokratischen Kräfte. Wir rufen ihnen also zu: Nur Mut! Das
muss in der 15. Legislaturperiode auf der Basis unserer
200 Empfehlungen Wirklichkeit werden.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Thomas Rachel von der CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Angesichts des vorliegenden Berichts von
600 Seiten möchte ich dem Vorsitzenden unserer Enquete-Kommission, den Sachverständigen - ich sehe einige auf der Tribüne - und den Mitarbeitern des Sekretariats - denn sie haben dieses Werk unter besonderem
Einsatz zusammengestellt - herzlich danken.
({0})
Es wäre gut gewesen, wenn auch der Wirtschaftsminister, der letztendlich für die Wirtschaft zuständig ist, an
der Debatte über die Globalisierung der Weltwirtschaft
teilgenommen hätte.
({1})
Wir haben einen interessanten Bericht vorgelegt. Er
enthält viel Konsens im Hinblick auf Analysen und Vorschläge. Es bestehen aber auch gravierende Unterschiede.
Insofern spiegelt der Gesamtbericht mit dem rot-grünen
Mehrheitsvotum und den Minderheitsvoten von CDU/
CSU, FDP und PDS ein repräsentatives Bild des Parlamentes wider.
Dissens gab es vor allem in der Frage der Vor- und
Nachteile der Globalisierung. Aus Sicht der CDU/CSU
überwiegen eindeutig die Vorteile der Globalisierung gegenüber den zweifelsohne auch vorhandenen Nachteilen.
Es geht deshalb darum, die Vorteile der Globalisierung zu
nutzen und die Risiken zu minimieren. Die Globalisierung zu verteufeln oder sich national abzuschotten, dies
wäre ein Irrweg.
({2})
Eine Dämonisierung der Globalisierung hilft uns
nicht weiter. Auch Begriffe können Ängste erzeugen.
„Globalisierungsfalle“ ist zum Beispiel so ein Schlagwort, das das Bewusstsein einschläfert und eine sachgerechte und hilfreiche Diskussion eher verhindert.
Globalisierung ist nichts anderes als eine verstärkte internationale Arbeitsteilung, die durch neue Technologien beflügelt und beschleunigt wird. Ausdrucksformen
dieser Globalisierung sind die Zunahme des grenzüberschreitenden Handelsverkehrs, der weltweiten Investitionen, des internationalen Kapitalverkehrs und des Wissenstransfers. Globalisierung ist unabwendbar; aber sie
ist gestaltbar.
Im Mehrheitsbericht klingt es an vielen Stellen so, als
wenn die heutige Situation der Welt sehr negativ sei und
es vor der Globalisierung besser gewesen sei. Das ist
natürlich falsch.
({3})
Das Weltvolkseinkommen ist höher als jemals zuvor. Der
Anteil der in absoluter Armut lebenden Menschen ist geringer geworden.
({4})
Das Bildungsniveau ist höher geworden. Die Kindersterblichkeit hat abgenommen, aber natürlich noch nicht
ausreichend. Die Menschen werden älter und bleiben länger gesund. Internationale Arbeitsteilung und ein wirtschaftlicher Austausch tragen dazu bei, Demokratisierung
und Menschenrechte international zu verbreiten. Wahr ist
allerdings, dass auch in Deutschland die Außenpolitik
eine gänzlich neue Bedeutung und Dimension im Zeitalter der Globalisierung bekommen muss.
Der geschätzte Vorsitzende unserer Enquete-Kommission, Ernst Ulrich von Weizsäcker, hat mit Bezug auf die
Globalisierung folgende These aufgestellt: „Wir müssen
die Demokratie neu erfinden.“ Das ist falsch.
({5})
Wir dürfen den Menschen keine Angst machen. Die Demokratie ist durch die Globalisierung nicht gefährdet.
Zwar nimmt der Einfluss der Wirtschaft tendenziell zu,
aber dadurch wird die Demokratie eben nicht auf den
Kopf gestellt. Es bleiben in der nationalen Politik Handlungsoptionen bestehen, die allerdings richtig und klug
genutzt werden müssen. Dazu gehört, die richtigen
Rahmenbedingungen zu setzen, sodass der Wettbewerb
um die richtigen Lösungen und Ideen aufrechterhalten
bleibt.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz,
Karl Lehmann, hat den Sachverhalt vor einiger Zeit in
einer Rede zur Globalisierung auf den Punkt gebracht:
Die Macht allzu beharrender einheimischer Interessengruppen wird durch internationale Einflüsse
beschränkt. Weltoffene Märkte können eher Innovationen und Strukturwandel begünstigen.
({6})
Die Wahrheit ist: Viele Länder in der Welt profitieren
von der Globalisierung. Wachstum und Wohlstand haben
sich besonders in den Ländern ausgeprägt, die sich dem
internationalen Wettbewerb geöffnet haben, für Rechtsstaatlichkeit sowie stabile und ausgewogene Verhältnisse
sorgen und wirtschaftliche Freiheiten zulassen.
({7})
- Herr Ströbele, die Daten sind eindeutig. Volkswirtschaften, die sich dem Prozess der Globalisierung geöffnet haben, sind drei- bis viermal schneller gewachsen als
Volkswirtschaften, die sich diesem Prozess verschlossen
haben. Das gilt für Entwicklungsländer genauso wie für
Industriestaaten.
({8})
Deshalb ist die Empfehlung größerer Abschottung ein Irrweg; er ist sogar lebensgefährlich für die Entwicklung
dieser Völker.
Rot-Grün stellt die These auf, dass in einer Welt global
agierender Unternehmen die Fähigkeit nationaler Staaten
abnimmt, öffentliche Güter wie Infrastruktur, sozialen
Ausgleich und Gesundheit zu sichern.
Herr Kollege Rachel, entschuldigen Sie. Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Skarpelis-Sperk?
Aber gerne.
Bitte
schön.
Herr Kollege
Rachel, ist Ihnen bekannt, dass die UNCTAD vor knapp
zehn Tagen einen Bericht veröffentlicht hat, den World
Trade Report 2002, in dem sie genau auf diese Problematik eingegangen ist und sehr differenziert nachgewiesen hat, dass es eine Menge Länder gegeben hat, die ihre
Märkte geöffnet haben, aber gleichwohl an diesem
Wachstumsprozess nicht teilhaben konnten? Das Ergebnis war: Marktöffnung und übrigens auch gute Politik allein genügen nicht.
Liebe Frau Kollegin
Skarpelis-Sperk, natürlich ist mir das bekannt. Wenn Sie
aufmerksam zugehört haben, haben Sie gemerkt, dass ich
mehrere Bedingungen genannt habe. Ich habe gesagt: Die
Volkswirtschaften profitieren von der Globalisierung, die
sich dem internationalen Wettbewerb öffnen, die in ihren
eigenen Ländern Rechtsstaatlichkeit garantieren - das hat
auch etwas mit Investitionen von ausländischen Firmen
zu tun -, die für stabile politische und sozial ausgewogene
Verhältnisse sorgen - das hat etwas mit den autoritären
Regimes und den klassenkämpferischen Verhältnissen in
einigen Ländern Schwarzafrikas zu tun - und die auch
wirtschaftliche Freiheiten zugestehen.
({0})
All dies gehört zusammen. Die Zahlen zeigen eindeutig,
dass die Länder, die diese Bedingungen erfüllen, ganz erheblich profitieren und ihre Volkswirtschaften drei- bis
viermal schneller gewachsen sind als die anderer Länder.
Nach der These von Rot-Grün führt Globalisierung zu
einer Verlagerung von Geld aus dem öffentlichen in den
privaten Sektor. Dahinter steht der Glaube, der Staat
müsse alle Fragen selber regeln. Dem stellen wir allerdings entgegen, dass es Aufgabe der Politik ist, meine Damen und Herren, die Staatsquote zurückzuführen. Das
war übrigens auch einmal Ihre Auffassung; denn Bundeskanzler Schröder hat das im Zusammenhang mit der Idee
der Neuen Mitte selber als sein Ziel formuliert. Rot-Grün
ist aber nach links und damit von diesem Ziel abgerückt.
Richtig ist: Die Globalisierung erzwingt die Beantwortung der Frage, ob der Staat oder die private Wirtschaft ein
Gut, zum Beispiel das soziale Gut der Pflegedienstleistungen, anbieten soll. Im Zweifel soll es der machen, der
es besser macht, der es effizienter und für die Volkswirtschaft preisgünstiger anbieten kann.
({1})
Dies ist jedenfalls unsere Auffassung.
Meine Damen und Herren, eine wichtige Aufgabe der
Politik im Zeitalter der Globalisierung ist es, den Wettbewerb zu erhalten. Wir müssen verhindern, dass wir eine
Vermachtung weltweiter Märkte durch Unternehmenskonzentration bekommen. Dies ist tatsächlich eine enorme
Herausforderung. Wir müssen die Funktionsfähigkeit des
Wettbewerbs sichern; denn Wettbewerb verhindert Machtmissbrauch im politischen und wirtschaftlichen Bereich.
({2})
Deshalb brauchen wir eine internationale Wettbewerbspolitik.
Wir können auf die Erfahrungen unserer sozialen
Marktwirtschaft zurückgreifen. Ein Grundpfeiler ihres
Erfolges ist es, dass sie die Märkte von Vermachtung frei
hält. Die uns bekannten Strukturen müssen wir auf die
internationale Ebene übertragen.
Dazu gehören eine effiziente Wettbewerbsaufsicht und
das Kartellrecht. Sie sind die Chance für die Politik, den
Prozess der Globalisierung zu gestalten. Dafür brauchen
wir bilaterale, plurilaterale und multilaterale Ansätze.
Auch ein Weltkartellamt kann man nicht ausschließen,
aber es ist noch Zukunftsmusik. Jetzt geht es darum, dem
Gedanken der internationalen Wettbewerbspolitik zum
Durchbruch zu verhelfen und die existierenden Wettbewerbsbehörden international zu vernetzen.
Meine Damen und Herren, der Kollege Dautzenberg
wird nachher noch etwas zur Tobinsteuer sagen. Deswegen lasse ich das weg.
Ich will an dieser Stelle noch einmal Kardinal Lehmann
zitieren. Er hat gesagt:
Die verschärfte Wettbewerbssituation ist chancenreich für qualifizierte, flexible, mobile und risikofreudige Personen und problematischer für gering
qualifizierte, fehlqualifizierte Personen.
Ich denke, das ist eine nachdenkliche und richtige Analyse. Der Mensch gewinnt im Zeitalter der Globalisierung
an Bedeutung gegenüber den alten Produktionsfaktoren
Kapital und Rohstoffe, aber der Weg der Wissensgesellschaft und der Globalisierung führt dazu, dass wir hoch
qualifizierte Menschen brauchen. So haben wir auch in
der Bundesrepublik Deutschland von 1991 bis 1995
1 Million Arbeitsplätze für unqualifizierte Arbeitskräfte
verloren. Deshalb wird es besonders darauf ankommen,
dass wir im Prozess der Globalisierung erkennen: Die
Frage nach Gewinnern und Verlierern ist auch die Frage
nach Bildung und Qualifikation.
({3})
Deshalb muss unser ganz besonderes Engagement darauf
gerichtet sein.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Globalisierung
heißt auch Vergleichbarkeit, Transparenz und Offenlegung von Schwächen. Die Antwort darauf darf aber nicht
Angst sein, vielmehr sollten wir die Chancen erkennen,
uns für eine internationale soziale Marktwirtschaft einsetzen und unser Land und die Menschen in unserem Land
fit machen. Packen wir es an!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Als
nächster Redner hat der Kollege Ottmar Schreiner von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann zunächst an das anknüpfen, was die Kollegen Schauerte und Rachel gesagt
haben. Die Ausgangslage bezüglich des Themas Globalisierung und Arbeitsmärkte ist von uns einvernehmlich beschrieben worden. Wir waren gemeinsam der Auffassung,
dass der Wirtschaftsstandort Deutschland gut ist und es
keinen Anlass zur Sorge um die Konkurrenzfähigkeit der
deutschen Unternehmungen und ihrer Produkte auf den
Weltmärkten gibt.
Daraus haben wir geschlussfolgert, dass die Globalisierung im engeren Sinne nicht für die relative Schwäche
des deutschen Arbeitsmarktes im internationalen und insbesondere europäischen Vergleich ursächlich sein kann.
Darüber besteht Konsens.
Konsens besteht nach dem Beitrag des Kollegen
Rachel auch bezüglich der Funktion von Bildung und
Qualifikation. Ich will auf diesen Aspekt mit Blick auf
meine Redezeit nur kurz eingehen. Wir waren in der Arbeitsgruppe „Globalisierung und Arbeitsmärkte“ der Meinung, dass die Globalisierung den rasanten Strukturwandel in Deutschland sehr wohl beeinflusst. Eine genaue
Messung globalisierungsbedingter Komponenten ist zwar
nicht möglich, gleichwohl bestand Einverständnis darüber, dass die Globalisierung den Strukturwandel wesentlich beschleunigt.
Das wesentliche Kennzeichen dieser Entwicklung sind
die ständig steigenden Anforderungen an die Qualifikationen der Beschäftigten. Das ist völlig unbestritten. Die
Kehrseite dieser Entwicklung ist, dass die spezifische
Arbeitslosenquote Geringqualifizierter in Deutschland
seit geraumer Zeit wesentlich höher ist als die allgemeine
Arbeitslosenquote und in den letzten 25 Jahren spürbar
und nachhaltig gestiegen ist.
Die Globalisierung verschärft insoweit tendenziell die
Arbeitsmarktprobleme Geringqualifizierter. Darüber besteht absoluter Konsens mit dem Kollegen Rachel, der gerade gesagt hat, dass die Zugehörigkeit zu den Gewinnern
oder Verlierern wesentlich von der Bildung und Qualifikation abhängt.
Mit anderen Worten: Bildung und Qualifikation haben
als Antwort auf die Globalisierung eine Schlüsselfunktion auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Sie beeinflussen
nicht nur die internationale Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Volkswirtschaft und das Wirtschaftswachstum, sondern auch ganz wesentlich die Fähigkeit der Beschäftigten, dem Innovations- und Flexibilisierungsdruck positiv standzuhalten. Deshalb haben wir uns bei
den Empfehlungen zur Arbeitsmarktpolitik im Wesentlichen auf die Frage nach Qualifizierung und Bildung konzentriert.
Ich will kurz zwei Aspekte nennen: Ich halte es für
absolut überfällig, dass wir zu einer besseren vorausschauenden Abschätzung der Qualifizierungsbedarfe in
den Betrieben und Unternehmungen kommen. Es müsste
möglich sein, mittelfristige Voraussagen zu treffen, um
die notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen wesentlich
zielgenauer zu gestalten, als dies gegenwärtig der Fall ist.
Im Übrigen bin ich der festen Überzeugung, dass wir eine
ständige kritische Überprüfung der Wirksamkeit von
Qualifizierungsmaßnahmen auf dem deutschen Arbeitsmarkt brauchen.
({0})
Die Schlüsselfunktion von Bildung und Qualifikation
wird durch die widersprüchliche mittelfristige Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt eher noch bestärkt.
Wir werden es in etwa zehn Jahren aus demographischen
Gründen in der ganzen Breite des Arbeitsmarktes mit
Arbeitskräfteverknappungsproblemen, die es jetzt schon
in einigen Ballungsräumen und branchenspezifisch in einigen Bereichen gibt, zu tun haben. Die denkbar schlechteste Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes wäre,
wenn wir bei wachsender Arbeitskräfteverknappung
gleichzeitig eine hohe Zahl von unqualifizierten Arbeitslosen hätten. Deshalb sage ich es noch einmal: Qualifizierung und Bildung sind das Gebot der Stunde und der
zukünftigen Entwicklung.
({1})
Ich möchte jetzt zu einem zweiten Aspekt einige wenige Bemerkungen machen. Wir haben gefragt, inwieweit
Globalisierung dazu führen kann, die arbeits- und sozialpolitische Handlungsfähigkeit des Nationalstaates zu
beeinträchtigen. Kann man von einem potenziellen Verlust der staatlichen Autonomie in der Arbeits- und Sozialpolitik reden? Weltweiter Wettbewerb und starke Außenwirtschaftsverflechtungen sind historisch an sich nicht
neu. Während aber traditionell nationale Unternehmen
mit ihren an festen Standorten produzierten Gütern auf
den Absatzmärkten konkurrieren, hat sich nunmehr die
Produktion selbst internationalisiert, sodass international
operierende Unternehmen und Unternehmensketten weltweit nach den besten Standorten suchen. Dieser Globalisierungsprozess weist jedoch eine starke regionale
Komponente auf, da es sich überwiegend um einen Standortwettbewerb innerhalb verschiedener regionaler Integrationsgemeinschaften, insbesondere der Europäischen
Union, handelt.
Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat dazu schon 1997/98 in
seinem Gutachten geschrieben:
Es entsteht ein wachsender Standortwettbewerb zulasten der an einen Standort gebundenen Faktoren,
vor allem der überwiegend immobil bleibenden Arbeitskräfte, mit dem Ziel, die Attraktivität ihres Standortes für die mobilen Faktoren zu erhöhen.
Das ist nun ein ganz entscheidender Punkt, bei dem ein
Einvernehmen nicht mehr möglich war. Denn durch diese
Entwicklung sind die Staaten innerhalb der Europäischen
Union gezwungen, der drohenden Abwanderung der mobilen Produktionsfaktoren durch immer weitergehende
Steuererleichterungen, Deregulierungen, Umverteilung zu
ihren Gunsten, Druck auf die Löhne usw. entgegenzuwirken und die entsprechenden mobilen Produktionsfaktoren, also Unternehmen aus dem Ausland, anzulocken. Das
bezeichnen wir als tendenziell ruinösen Standortwettbewerb innerhalb der Europäischen Union.
Die Empfehlungen gehen - grob gesagt - dahin, dass
eine Harmonisierung insbesondere der europäischen Gewinnbesteuerung, der europäischen Unternehmensbesteuerung zwingend notwendig ist, um den tendenziell
seit Jahren beobachtbaren Rückgang endlich aufzuhalten
und zu einer gerechten Besteuerung zurückzukehren. Wir
fordern die Prüfung der Einführung einer europäischen
Mindestsozialleistungsquote, um angesichts dieses ruinösen Standortwettbewerbs zu verhindern, dass die soziale Einbettung der Marktwirtschaft auf der europäischen
Ebene immer problematischer wird.
({2})
Es ist geradezu ein humoristischer Beitrag - ich habe
eben auf die Ausführungen des Sachverständigenrates
hingewiesen -, wenn die FDP in ihrem Minderheitsvotum
den Hinweis von uns auf die tendenziell ruinösen Standortkonkurrenzen wie folgt qualifiziert: Sie spricht davon,
dass die Mehrheit eine ganz neue Dimension von sozialdemokratischem Werteimperialismus pflege. Das ist ein
interessanter Beitrag zur humorvollen Gestaltung von
Parlamentsdebatten, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der FDP.
Dritter und abschließender Punkt: Wir haben uns sehr
sorgfältig mit der Frage auseinander gesetzt, welche Rolle
eine europäische Beschäftigungspolitik zur Verbesserung der Wachstumsraten in Deutschland, aber auch in
Europa spielt. Die Voraussetzungen sind gut. Der europäische Gipfel 2000 in Lissabon hatte formuliert: Ziel der
Europäischen Union bis 2010 ist Vollbeschäftigung. Der
Kölner Gipfel hatte kurze Zeit vorher, 1999, empfohlen:
makroökonomischer Dialog. Das heißt, dass im Kern das,
was auf der nationalen Ebene an klassischen Beschäftigungselementen verloren gegangen ist, auf der europäischen Ebene wiederzugewinnen ist. Ein klassisches Beschäftigungsinstrument ist die Koordination zwischen
Finanzpolitik, Geldpolitik und den Tarifpolitiken. Das ist
auf der nationalen Ebene aufgrund der gewachsenen ökonomischen Integration in Europa nicht mehr möglich; das
muss auf der europäischen Ebene viel stärker wiedergefunden werden, als dies gegenwärtig der Fall ist.
Wir empfehlen, die vorhandenen Ansätze deutlich auszuweiten, um zu erreichen, dass gerade auf der Ebene der
Europäischen Union die klassische Beschäftigungspolitik
ihren Beitrag zu einem verstärkten Wachstum und damit
zu mehr Beschäftigung in Deutschland und in Europa
leisten kann.
({3})
Dazu gibt es auch einen kuriosen Beitrag der CDU/CSU
im Minderheitsvotum. Dort heißt es, bezogen auf die Vorschläge von uns: Die Mehrheit will die Aufgabenstellung
der Globalisierung mit nationalen und mehr oder weniger
sozialistisch-planwirtschaftlichen Antworten lösen.
({4})
Auch hier herzlichen Glückwunsch zum parlamentarischen Humor, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU.
({5})
Das gehört einfach zum Geschäft. Wir sind zwar noch
ein bisschen weit vom Fasching entfernt, aber man kann
sich ja rechtzeitig auf die jeweiligen Jahreszeiten vorbereiten.
Abschließend - da der Präsident mir ständig rote
Blinkzeichen zusendet - möchte auch ich mich sehr herzlich bei all den Kolleginnen und Kollegen, den Sachverständigen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken, die mit dazu beigetragen haben, dass wir während der
Beratungen ein sehr einvernehmliches Klima hatten und
dass wir, wie ich glaube, ein wirklich beachtliches Ergebnis vorzeigen können. Meine persönliche Schlussfolgerung ist: Trotz der Enge der Zeit hat es sich wirklich gelohnt, in dieser Kommission mitzuarbeiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Leo Dautzenberg von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In meinen Ausführungen für
die CDU/CSU-Fraktion möchte ich mich zum überwiegenden Teil auf die Struktur des Internationalen
Währungsfonds und der internationalen Finanzarchitektur konzentrieren. Dazu liegen uns drei Anträge vor. Mit
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für eine
mutige Reform des Internationalen Währungsfonds“ sowie mit den beiden Anträgen mit dem Titel „Reform der
internationalen Finanzarchitektur“ der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Fraktion der PDS liegen uns drei Anträge zur Reform des Internationalen Währungsfonds und der Finanzmärkte vor,
wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Uns liegt ebenfalls der Schlussbericht - dazu haben
sich die Hauptredner in erster Linie geäußert - der
Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten“ vor. Die Enquete-Kommission empfiehlt mehrheitlich die Einführung einer Devisentransaktionssteuer zunächst auf
europäischer, dann aber auch auf internationaler Ebene
sowie die Einrichtung eines internationalen Insolvenzverfahrens für die Entschuldung von in Finanzkrisen geratenen Staaten.
Die CDU/CSU-Arbeitsgruppe hat in ihrem Minderheitenvotum die Einführung einer Devisentransaktionssteuer
abgelehnt, da eine solche Steuer den Handel direkt träfe.
Bei Finanzkrisen sollten nach unserer Auffassung eher
Krisenprävention und -management von IWF und Weltbank gestärkt und darauf gesetzt werden.
({0})
- Dann hören Sie zu.
Der Antrag der PDS enthält Vorstellungen, die
der sozialistischen Steinzeit näher stehen, als dass sie
einem modernen, dynamischen Finanzmarkt gerecht
werden.
({1})
Ich nenne nur das Verbot bestimmter Derivatgeschäfte,
die Tobinsteuer, die Kapitalsteuer und deren Kontrolle
oder die Transaktionssteuer. Diese Vorschläge sind völlig
indiskutabel und führen sich selbst ad absurdum.
Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ist in
zentralen Punkten auch nicht besser und beinhaltet rückwärts gewandte Vorstellungen von Wirtschaftspolitik, die
den dynamischen Anforderungen der Weltwirtschaft und
den globalen Verflechtungen in einer zukunftsgerichteten
internationalen Finanzarchitektur nicht gerecht werden.
({2})
Ich erwähne hier beispielhaft die in Ziffer 6 des rot-grünen Antrags enthaltene Aufforderung an die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass eine weltweite, auf europäischer
Ebene abgestimmte Devisenumsatzsteuer eingeführt
wird. Frau Wieczorek-Zeul hat diese Prüfung für sich offenbar bereits positiv abgeschlossen und zeigt dies, indem
sie offensiv die Tobinsteuer fordert.
({3})
Hier lässt Tobin grüßen. Wer aber seine letzten Veröffentlichungen gelesen hat, muss feststellen, dass er seine
eigenen Vorschläge als „idiotische Idee“ bezeichnet hat.
Dem FDP-Antrag können wir deshalb nicht zustimmen
- wir werden uns der Stimme enthalten -, weil er unter
Ziffer 8 Vorstellungen enthält, die die Unabhängigkeit der
Bundesbank und der Europäischen Zentralbank auf europäischer Ebene gefährden könnten.
Die aktuelle Diskussion zur internationalen Finanzarchitektur - Stichwort Krueger-Plan, der sich für eine internationale Insolvenzordnung ausspricht - hat einen Vorlauf: Wir haben bereits im Jahre 2000 hier im Deutschen
Bundestag über IWF, Weltbank und Finanzarchitektur
diskutiert. Am 2. April 2001 diskutierten wir in drei
Ausschüssen mit Herrn Köhler vom IWF und mit Herrn
Wolfensohn von der Weltbank.
Die Globalisierung zwingt uns zur Weiterentwicklung der internationalen Finanzsysteme. Die Verschuldungskrisen der letzen Jahre haben uns die Notwendigkeit
von Reformen vor Augen geführt. Notwendig ist eine
Rückbesinnung des IWF auf seine Kernaufgaben. Dies
sind die Wachstumsförderung, die Wahrung der makroökonomischen Stabilität, die Sicherung stabiler globaler
Finanzmärkte, ferner eine wirtschaftspolitische Überwachung auch für die Offshoregebiete sowie die stärkere
Einbindung des Privatsektors in Bezug auf die Verhinderung und Lösung von Währungs- und Finanzkrisen.
IWF und Weltbank müssen sich stärker auf ihre eigenen Aufgaben konzentrieren. Der Aufgabenbereich des
IWF ist nun einmal die Sicherung der Finanzmarktstabilität
durch Krisenprävention. Wirtschaftsprofessor Meltzer hat
damals im Namen der Sonderkommission an den Kongress die Empfehlung gegeben, dass sich der IWF aus den
langfristigen Entwicklungs- und Strukturanpassungsfinanzierungen stärker zurückziehen und sich dafür durch die
Bereitstellung von kurzfristigen Liquiditätshilfen stärker
auf die in Not geratenen Staaten konzentrieren solle.
Dank des Krueger-Plans sind innerhalb des IWF Vorstellungen entwickelt worden. Wir müssen auf der anderen Seite aber auch sehen, dass es für Länder immer Individuallösungen geben muss. Es muss klar sein, dass die in
Bezug auf Investitionen, die unter Nichtbeachtung des Risikos getätigt werden - so genannter Moral-Hazard-Effekt -, und die verfügbaren Finanzmittel des Fonds keine
Mittel für die Lösung von Problemen eingesetzt werden
dürfen, die privat verursacht worden sind und bei denen
sich jeder darauf verlassen kann, dass die Verursacher für
die Risikoprävention selber aufkommen.
({4})
Wir brauchen weiterhin die Umsetzung internationaler
Standards. Wir brauchen die Weiterentwicklung einer
Weltwirtschaftsordnung, die durch unsere Grundlagen einer sozialen Marktwirtschaft gekennzeichnet sein muss.
Das ist nun einmal die richtige Symbiose zwischen dem
Markt als Ordnungsform der Wirtschaft und der Demokratie als Ordnungsform der Politik. Wenn wir uns dafür
einsetzen, dass dies Weltstandard wird, dann wird für die
Menschen durch die Globalisierung mehr Freiheit und
Selbstverwirklichung erreicht. Sie dagegen haben Angst
gesät und diesen Weg damit versperrt.
Vielen Dank.
({5})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Detlev von Larcher für die
Fraktion der SPD.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Verabschiedung unseres Antrages „Reform der internationalen Finanzarchitektur“ gleich nach meiner Rede werden wir aus
einigen Empfehlungen der Enquete-Kommission Beschlüsse des Deutschen Bundestages machen.
Mit großer Befriedigung stelle ich fest, dass in dem Bericht der Enquete-Kommission und in unserem Antrag
Themen und Forderungen aufgegriffen werden, die in
Nichtregierungsorganisationen und auf den Weltsozialforen, zuletzt in Porto Alegre, schon lange diskutiert werden. Es zeigt sich, dass beharrliches Bohren dicker Bretter nicht nur gute Politik auszeichnet, sondern letztendlich
zum Erfolg führt. Die Nichtregierungsorganisationen,
Dritte- und Eine-Welt-Bewegungen, Erlassjahr und
ATTAC haben dafür gesorgt, dass die Diskussion über ein
stabiles und sozial nachhaltiges Finanzsystem aus Expertenzirkeln in die Gesellschaft getragen wurde. Dafür gebühren ihnen großer Respekt und viel Dank.
({0})
Freilich muss auch festgestellt werden, dass sich dieser
Erfolg nur allmählich und für viele Millionen Menschen
zu spät einstellt. Viele Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission wurden zu Beginn meiner Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag Anfang der 90er-Jahre und
auch noch später als absurd bezeichnet. Ich denke beispielsweise an den Schuldenerlass oder an die Forderung
nach einem internationalen Insolvenzrecht, aber auch an
die Bekämpfung von Steueroasen oder die Beendigung
des ruinösen Steuerwettbewerbs. Leute wie ich, die solche
Forderungen auch im Finanzausschuss und im Plenum
vorgetragen haben, wurden als Illusionisten belächelt.
Heute beschließen wir dazu ganz in meinem Sinn. Sie
werden verstehen, dass mich das fröhlich stimmt.
({1})
Die Globalisierung löst zweifellos - hören Sie jetzt
zu! - einen Modernisierungsprozess aus. Er erfasst Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Er eröffnet Potenziale
und Chancen für mehr Wohlstand und Wachstum auf
der ganzen Welt. Allerdings realisieren sich diese Chancen heute längst nicht für alle Länder und erst recht nicht
für alle Menschen.
Der Abstand der 20 reichsten Nationen zu den 20 ärmsten Nationen hat sich von 1960 bis 1998 mehr als verdoppelt. Fast die Hälfte der Menschen lebt heute von weniger als 2 Euro pro Tag. Ein Viertel der Menschheit hat
keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Hunderte Millionen Kinder haben keine Chance, jemals eine Schule zu
besuchen. Täglich verhungern über 20 000 Menschen auf
der Welt, meist Kinder. Wir müssen national und international noch sehr viel tun, damit alle Menschen die Chancen der Globalisierung nutzen können.
({2})
Diesen Chancen stehen große Risiken gegenüber. In
den 90er-Jahren gab es schwere Finanzkrisen. Diese Krisen führten zur Verarmung von Millionen Menschen und
destabilisierten ganze Staaten. Es ist insofern kein Wunder, dass der Begriff Globalisierung in weiten Teilen der
Welt alles andere als Jubel auslöst.
({3})
Deswegen ist die Reform der internationalen Finanzarchitektur eine aktuelle Aufgabe der Politik, gerade auch wegen der ungelösten Verschuldungskrisen vieler Länder.
Der IWF ist berechtigter Kritik ausgesetzt. Mangelnde
Krisenprävention und die kaum entwickelte soziale und
politische Flankierung der IWF-Programme stehen im
Mittelpunkt der Kritik. Der IWF räumt selbst ein, dass die
Intervention durch seine Programme besonders in den
asiatischen Ländern die negativen Auswirkungen nicht
entscheidend vermindert habe.
({4})
Die Weltbank geht noch weiter. Sie spricht von einem
verlorenen Entwicklungsjahrzehnt für einzelne Länder.
Reformen sind also zwingend geboten.
({5})
Ich kann nun nicht zu allen 25 Forderungen in unserem
Antrag Stellung nehmen. Sie sind alle wichtig und gehören
zusammen. Ich kann jedoch leider nur einige herausgreifen, die mir besonders wichtig sind.
Die bisher weitgehend ungezügelte Dynamik der globalen wirtschaftlichen Entwicklung muss durch wirtschaftspolitische, soziale und ökologische Leitlinien politisch gestaltet werden.
({6})
Die Menschen, besonders die in den Entwicklungsländern, erwarten mit Recht, dass sie an den Chancen, die die
Globalisierung bietet, teilhaben.
({7})
In einem breiten Ansatz müssen alle Instrumente zur
Erreichung stabiler und nachhaltig funktionierender internationaler Finanzmärkte geprüft und bei positivem Ergebnis auch durchgesetzt werden. Dazu gehört auch die
Einführung einer Devisenumsatzsteuer.
({8})
Unser Antrag fordert die Bundesregierung auf, dieses
Instrument in einem offenen und transparenten Verfahren
auf der Ebene der EU und im Kontext der Weltwirtschaft
zu prüfen und sich im Falle eines positiven Ergebnisses
für eine international koordinierte Einführung einzusetzen. Ich gestehe freimütig: Ich selbst wäre für einen noch
mutigeren Beschluss.
Dass dieses Instrument machbar ist, beweisen viele
Studien, wie zuletzt die Studie von Professor Dr. Paul
Bernd Spahn. Er hält die Einführung dieser Steuer
zunächst in der europäischen Zeitzone für machbar und
erklärt:
Die wirklichen Probleme liegen nicht auf technischem Gebiet, sondern auf dem Gebiet des politischen Willens, der internationalen Kooperation zwischen Staaten und der legalen Durchsetzung.
({9})
- Herr Tobin hat auf die Schwierigkeiten der politischen
Koordination hingewiesen; er hat nicht seine Steuer ad absurdum geführt.
({10})
- Das zitieren Sie immer falsch.
Professor Spahn gibt denen, die dogmatisch bei ihrem
Nein bleiben, die richtige Antwort:
Die Gegner von Visionen haben bisher in der Regel
Unrecht behalten.
({11})
Von den täglich auf Devisenmärkten gehandelten
etwa 1,2 Billionen US-Dollar dienen allenfalls 5 Prozent der Finanzierung von Handelsgeschäften und
Direktinvestitionen. Der große Rest sind Arbitrageund Spekulationsgeschäfte zwischen den international operierenden Finanzinstituten. Sie haben nur
sehr vermittelt mit den realen Prozessen der Produktion zu tun.
Die Reregulierung vor allem der kurzfristigen Kapitalbewegungen ist für die Gesellschaft billiger als die Kosten der Finanzkrisen, die natürlich, anders als die Gewinne, sozialisiert werden.
Notwendig sind die verbesserte Koordination der
Geld- und Währungspolitik innerhalb und zwischen den
großen Währungsräumen und der Zusammenschluss
kleinerer Währungsräume. Eine Devisentransaktionssteuer kann die Volatilität der Finanzströme verringern.
Bei einem Steuersatz von weniger als 0,1 Prozent vom
Umsatz würden langfristige Investitionen die Belastung
kaum spüren. Kurzfristige Transaktionen, bei denen
große Summen oft mehrmals am Tage bewegt werden,
um minimale Geldhandelsspannen auszunutzen, wären
aber außer bei großen Kursveränderungen unrentabel
und würden daher unterbleiben. Das würde zur Beruhigung der Finanzmärkte beitragen. Auch kann, solange es
ein Aufkommen aus dieser Steuer gibt, damit ein Fonds
für die Entwicklung der unterentwickelten Länder aufgefüllt werden.
({12})
Ich empfehle, diesen Vorschlag ernsthaft weiterzuverfolgen. Er findet breite Unterstützung auf der ganzen Welt.
Mit der Entwicklung eines internationalen Insolvenzverfahrens sind wir inzwischen gut vorangekommen. Es geht dabei darum, den Ländern, die in einer
schweren Schuldenkrise stecken, einen wirtschaftlichen
Neuanfang zu ermöglichen.
Nach langem Widerstand von Gläubigerländern gegen
ein solches Verfahren gibt es jetzt eine breite Zustimmung. Nun muss dafür gesorgt werden, dass das Schiedsgericht wirklich unabhängig ist. Keinesfalls darf es vom
IWF als einem der Gläubiger berufen werden. Ich höre
von unserer Ministerin Wieczorek-Zeul, dass inzwischen
darüber Einigkeit besteht. Offenbar aber muss gegenüber
dem IWF noch durchgesetzt werden, dass das Schiedsgericht Herr des Verfahrens ist. Die Definition der Schuldentragfähigkeit und die Definition der Bedingungen für
den Schuldenerlass dürfen natürlich nur durch das
Schiedsgericht und nicht durch den IWF erfolgen, Frau
Ministerin.
({13})
An den Kosten einer Krisenbereinigung müssen sich
die Gläubiger beteiligen. Private Investoren sollen nicht
mehr damit rechnen können, dass die Kosten für die von
ihnen eingegangenen Risiken von den Steuerzahlern
übernommen werden.
({14})
Lange genug haben viele von ihnen Finanzhilfen des IWF
als kostenlose Kreditversicherung angesehen.
({15})
Für Entwicklungs- und Schwellenländer ist es von
großer Bedeutung, Instrumente zu haben, mit denen sie
kurzfristige Kapitalzu- und -abflüsse, die ihr Finanzsystem bedrohen, begrenzen können. Unser Antrag
spricht von marktkonformen Mitteln zur Kontrolle von
Kapitalflüssen, zum Beispiel Bardepotpflichten.
Am letzten Montag ist mir und Kollegen in der Europäischen Zentralbank gesagt worden, dass das, was sich
jetzt in Brasilien andeutet, nicht ein Überschwappen der
Krise Argentiniens ist, dass es sich vielmehr um Kapitalflucht vor der anstehenden Wahl handelt. Es muss uns allen, meine Damen und Herren, doch die Zornesröte ins
Gesicht treiben, wenn wirtschaftliche Macht darüber entscheidet, wer in einem demokratischen Staat in der Regierung sein darf und wer in die Opposition kommt.
Das Ziel aller Forderungen in unserem Antrag sind die
faire und nachhaltige Gestaltung des Weltwirtschaftssystems und die bessere Integration von Entwicklungs- und
Schwellenländern.
Die Menschen erwarten von der Politik mit Recht, dass
sie den ungebändigten Turbokapitalismus zähmt. Sie wissen aus Erfahrung, dass die Marktwirtschaft noch nie von
allein für das Wohl aller gesorgt hat. Es war und bleibt die
Aufgabe des Staates und der Staaten in weltweiter Kooperation, für ausgleichende Gerechtigkeit und für eine
breite Verteilung des erwirtschafteten Wohlstands zu sorgen. Dieser Aufgabe gerecht zu werden ist auch im Interesse der reichen Länder und der Reichen in dieser Welt.
Versagen wir, werden die Protestbewegungen weltweit
zunehmen, werden die Menschen ihre Menschenrechte
mit Macht einfordern.
Herr Kollege von
Larcher!
Ich bin beim Schlusssatz. - Eines ist gewiss: Die Macht der Millionen ist letztlich sehr viel größer als die Macht der Millionäre.
({0})
Es ist bekannt, dass
wir dann, wenn es um eine letzte Rede in diesem Parlament geht, bei der Redezeit ein wenig großzügiger sind.
Herr Kollege Detlev von Larcher, das war Ihre letzte Rede
im Plenum des Deutschen Bundestages. Im Namen aller
Kolleginnen und Kollegen danke ich für Ihre engagierte
Mitarbeit im vergangenen Jahrzehnt und wünsche Ihnen
alles Gute für den kommenden Lebens- und Arbeitsabschnitt.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich gehe davon aus, dass Sie den Schlussbericht
der Enquete-Kommission auf Drucksache 14/9200 mit
dem Titel „Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten“ zur Kenntnis genommen
haben.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/9590. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/9359 mit dem Titel „Reform der
internationalen Finanzarchitektur“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/3861 mit dem Titel „Für
eine mutige Reform des Internationalen Währungsfonds
({1})“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthal-
tung der CDU/CSU angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstube c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4069 mit dem
Titel „Reform der internationalen Finanzarchitektur“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c sowie
den Zusatzpunkt 14 auf:
25. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Riegert, Peter Letzgus, Dr. Klaus Rose, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Zur umfassenden und nachhaltigen Förderung
der Entwicklung des Sports in Deutschland
- Drucksachen 14/7114, 14/8865 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({2}) zu dem
Entschließungsantrag der Abgeordneten Klaus
Riegert, Friedrich Bohl, Peter Letzgus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU zu
der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus
Riegert, Friedrich Bohl, Peter Letzgus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Sicherung der Zukunft der Vereine durch wirt-
schaftliche und bürokratische Entlastung -
Erhöhung der Gestaltungsmöglichkeiten und
Freiräume
- Drucksachen 14/3680, 14/5445, 14/8035,
14/9327 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Freitag
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({3}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
9. Sportbericht der Bundesregierung
- Drucksachen 14/1859, 14/6122 Berichterstattung:
Abgeordnete Dagmar Freitag
ZP 14 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
10. Sportbericht der Bundesregierung
- Drucksache 14/9517 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({4})
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die
CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Klaus Riegert.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Bedeutung und Faszination des
Sports zeigt sich in diesen Tagen weltweit. Die Fußballweltmeisterschaft in Japan und Südkorea zieht zig Millionen Menschen in ihren Bann. Übermorgen werden wir
mit unserer Mannschaft fiebern und uns über die Mannschaft bewusst mit unserem Land identifizieren. Wir alle
hoffen auf ein gutes Endspiel und einen Sieg unserer
Mannschaft.
({0})
Solche sportlichen Großereignisse veranschaulichen
die gesellschaftliche Dimension des Sports in besonderer
Weise. Den Sport, die Sportvereine und Organisationen
ihrer gesellschaftlichen Bedeutung angemessen zu unterstützen, den Spitzensport, den Behinderten- und den Breitensport gleichermaßen zu fördern ist Anliegen einer
nachhaltigen Sportpolitik. Jeder Euro für den Sport ist ein
gut angelegter Euro, ist eine lohnende Investition in die
Zukunft.
({1})
Wir beraten heute den 9. Sportbericht der Bundesregierung aus der 13. Legislaturperiode. Er ist Beleg einer
auf Kontinuität und Verlässlichkeit angelegten Sportpolitik von 1994 bis 1998. Wir beraten auch die Antworten der
Bundesregierung auf die Großen Anfragen der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion. Diese Antworten zeigen keine
Perspektiven zur Entwicklung des Sports, zur Stärkung
der Vereine und zur Entlastung von Bürokratie auf.
({2})
Es sind Dokumente der Hilflosigkeit und der konzeptionellen Armut. Bei dieser Bundesregierung und bei RotGrün und Rot-Rot in den Ländern ist der Sport nicht gut
aufgehoben.
({3})
Der 10. Sportbericht der Bundesregierung, der uns vorgestern erreichte, gleicht mehr einer Bilanzfälschung als
einer Leistungsbilanz. Sie sprechen von Stabilisierung der
Spitzenförderung auf hohem Niveau.
({4})
Wahr ist: Für den Spitzensport in Deutschland wurden
2001 so wenig Mittel bereitgestellt wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr: ganze 107 Millionen Euro für
zentrale Maßnahmen des Sports, für IAT und FES, für Investitionen in Einrichtungen des Spitzensports,
({5})
0,048 Prozent des Gesamthaushalts oder 1,3 Euro pro
Kopf der Bevölkerung. Das ist ein Minusrekord.
({6})
1998 waren es noch 112,6 Millionen Euro, also über
5 Millionen Euro mehr.
143 Millionen Euro für die Stadien in Berlin und
Leipzig und den „Goldenen Plan Ost“ sind keine Mittel
für den Spitzensport. Vor der Wahl 1998 haben Sie 51 Millionen Euro im Rahmen des „Goldenen Plans Ost“ zusätzlich für den Sport versprochen. Keinen einzigen Euro
hat der Sport zusätzlich bekommen. Sie finanzieren den
so genannten „Goldenen Plan Ost“ ausschließlich durch
Kürzungen beim Spitzensport.
({7})
Hier gilt wieder: Versprochen - gebrochen.
({8})
Wenn der Herr Minister die Möglichkeit bekäme, seine
Investitionspolitik fortzusetzen, könnte er sich zukünftig
nicht mehr medienwirksam bei der Übergabe von Sportstätten ablichten lassen, sondern höchstens vor Plakatwänden. Er investiert in die Einrichtungen des Spitzensports in 16 Bundesländern noch nicht einmal so viel, wie
bis 1998 unter den CDU/CSU-geführten Bundesregierungen in die Einrichtungen des Spitzensports allein in den
neuen Ländern investiert wurde.
Die Bilanz in der Bekämpfung des Dopings müsste lauten: Es hat sich nicht viel geändert. Zwei Jahre Mindeststrafe für des Dopings überführte Sportler hat der Minister
1999 gefordert. Mehr Geld für Dopingforschung, mehr
Kontrollen und einheitliche Sanktionen hat er versprochen.
Zur Mindeststrafe haben die Juristen den Minister belehrt,
Vizepräsidentin Petra Bläss
zur höheren Mittelbereitstellung der Finanzminister. Keine
Mindeststrafe von zwei Jahren, nicht mehr Geld für Dopingforschung, geringfügige Ausweitung der Kontrollen,
keine einheitlichen Sanktionen - das ist die Bilanz.
({9})
Hervorgetan hat sich der Minister nur mit der Weigerung,
der WADA nationale Mittel zur Finanzierung zuzuweisen.
Das war peinlich und ein Armutszeugnis für eine der größten Sportnationen. Erst auf Druck sind 500 000 Euro bereitgestellt worden.
Wir begrüßen ausdrücklich die Gründung der Nationalen Anti-Doping-Agentur am 15. Juli. Wir erwarten
verstärkt Maßnahmen im präventiven Bereich, einheitliche Sanktionierungen bei Verstößen, zusätzliche Kontrollen vornehmlich im Nachwuchsbereich und gezielte
Forschungen. Statt eines vollmundig angekündigten Stiftungskapitals in Höhe von 30 Millionen Euro sind es nur
6 Millionen geworden. Wir bedauern, dass es dem Minister nicht gelungen ist, die Wirtschaft von der Notwendigkeit von Zustiftungen zu überzeugen.
Herr Schily hat unsere volle Unterstützung in seiner
ablehnenden Haltung, was ein eigens gegen den Sport gerichtetes Anti-Doping-Gesetz angeht. Das Achte Gesetz
zur Änderung des Arzneimittelgesetzes schafft den erforderlichen gesetzlichen Rahmen. Wir brauchen einen
strengen Vollzug und keine neuen Gesetze. Wer für die
Freigabe weicher Drogen plädiert, der sollte unsere Spitzensportler nicht in die Ecke der Kriminalität drängen.
({10})
Schön ist unsere große Übereinstimmung beim Behindertensport. Wir begrüßen die Erhöhung der Mittel für
den Leistungssport der Behinderten, die Sie durch Umschichtungen bei den zentralen Maßnahmen erreicht haben. Wir werden um eine echte Erhöhung der Mittel in
den nächsten Jahren jedoch nicht herumkommen. Dies erfordert die internationale Entwicklung im Behindertensport. Wir freuen uns auch über die stärkere Medienaufmerksamkeit bei internationalen Ereignissen. Das haben
wir durch gemeinsame Anstrengungen erreicht.
({11})
Die Förderung der Sportwissenschaft haben Sie allerdings gekürzt. Die Evaluierung des Bundesinstituts für
Sportwissenschaft war eher ein Vorwand zum kontinuierlichen Rückzug aus der Förderung der Sportwissenschaft. Die Belegschaft dieses Instituts konnten Sie nicht
schnell genug aus dem Gebäude treiben. Das Gebäude
steht seit einem Jahr leer. Ergebnis: Keine 5,1 Millionen Euro Verkaufserlös, sondern die Übernahme von
Renovierungskosten.
Kürzungen des Bundes bei den Olympiastützpunkten
und beim Bundesleistungszentrum um rund 2 Millionen Euro müssen die Länder tragen. Das heißt bei Ihnen
„effiziente Sportförderung“. Wir nennen dies „Sanierung
des Bundes zulasten der Länder“.
({12})
Zur Übungsleiterpauschale und zu den Neuregelungen
der 325-Euro-Jobs wird mein Kollege Link etwas sagen.
Herr Minister Schily, Ihre sportpolitische Bilanz ist ungenügend. Die Sportpolitik der 14. Wahlperiode hat der Finanzminister geprägt. Er hat diktiert und die Sportpolitiker
der Koalition haben abgenickt. Sie haben Initiativen der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die die Belange des deutschen Sports unterstützt haben, ausnahmslos abgelehnt.
Die Antworten der Bundesregierung auf Große Anfragen waren kein Eigentor der Opposition, wie Frau Kollegin Freitag gern glauben machen möchte;
({13})
sie waren vielmehr eine Steilvorlage. Die Kürzungen der
Mittel für den Spitzensport können Sie zwar schönreden,
aber nicht wegreden. Die Antwort auf unsere Große Anfrage zeigt, dass für die Förderung des Sports eine einfache Faustregel gilt: Wo CDU und CSU Verantwortung
tragen, geht es dem Sport am besten und die Pro-KopfAusgaben sowie die Investitionen für den Sport sind am
höchsten; wo rot-grüne oder rot-rote Regierungen Verantwortung tragen, sind die Pro-Kopf-Ausgaben und die Investitionen für den Sport niedrig. Je länger Sie Verantwortung tragen, desto schlechter geht es dem Sport. Die
Sportförderung ist Ihr zweites PISA.
({14})
Wir brauchen eine verlässliche und nachhaltige Sportpolitik. Wir wollen, dass in den Sport investiert wird und
dass der Sport nicht von den Launen des Finanzministers
abhängig ist. Die Förderung des Sports hat für die CDU
und für die CSU Priorität.
({15})
Minister Schily macht einen großen Bogen um den Sportausschuss. Auch was seine heutige Anwesenheit angeht,
gilt: Fehlanzeige! Er zeigt sich lieber als Propagandaminister.
({16})
Wir werden nach dem 22. September eine verlässliche
Politik für den und mit dem Sport machen. Dafür sind
CDU und CSU sichere Garanten.
({17})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie SonntagWolgast.
Frau Präsidentin!
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Kollege Riegert,
nachdem ich Ihnen so zugehört habe, habe ich doch stark
den Eindruck, dass Sie die letzten dreidreiviertel Jahre,
was den Sport betrifft, auf einer anderen Veranstaltung
gewesen sind.
({0})
Die Sportpolitik der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien ist nämlich eine Erfolgsstory. Sport ist bei
uns in den besten Händen.
({1})
Das ist unser Fazit dieser Legislaturperiode. Ich freue
mich deshalb sehr, dass wir das bei dieser Debatte heute
noch einmal darlegen können.
Wir haben 1998 nicht nur die Sportförderung als eines
unserer wichtigsten Ziele in die Koalitionsvereinbarung
aufgenommen;
({2})
wir haben auch gehandelt. Die Bundesregierung hat
grundlegende Verbesserungen sowohl für den Spitzen- als
auch für den Breitensport durchgesetzt. Paradebeispiel,
auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen, ist das Sonderförderprogramm „Goldener Plan Ost“, das von der
Vorgängerregierung stets abgelehnt wurde.
({3})
Mit Bundesmitteln in Höhe von 52 Millionen Euro werden Gesamtinvestitionen für den Sportstättenbau in den
neuen Bundesländern von über 200 Millionen Euro ermöglicht und 350 Sportbaumaßnahmen geschaffen.
Auch bei den Rahmenbedingungen für den Sport
- auch das ist ja wichtig - haben wir den Stillstand, der
vor 1998 herrschte, überwunden. So wurde der von Ihnen
in einer ganz anderen Art und Weise bewertete Übungsleiterfreibetrag um 50 Prozent auf 1 848 Euro im Jahr angehoben und auf Betreuer ausgedehnt. Außerdem können
Sportvereine die ihnen zugeflossenen Spenden nun selbst
quittieren. Das befreit sie von allerhand Bürokratie.
Ich bin froh, dass wir trotz knapper Kassen das hohe
Niveau der Förderung des Spitzensports sichern konnten. Bei den zentralen Maßnahmen haben wir drohende
Kürzungen abgewendet und die vom Deutschen Sportbund geforderten 140 Millionen DM halten können. Auf
anderen wichtigen Feldern des Spitzensports sieht der
Deutsche Sportbund seine Erwartungen sogar übertroffen, was ja nicht alle Tage vorkommt.
({4})
So wurden die Plätze für Grundwehrdienst leistende Spitzensportler von 704 um 40 auf 744 Stellen angehoben. Die
erfolgreiche Spitzensportförderung des Bundesgrenzschutzes haben wir um 29 Stellen für Polizeivollzugsbeamtinnen
und -beamte in drei Sommersportarten ausgeweitet.
({5})
Auch die Förderung des Leistungssports behinderter
Menschen wurde stark verbessert, und zwar nicht nur finanziell. Für den Behindertensport etwas zu tun - da sind
wir uns ja wohl einig - ist dieser Bundesregierung wichtig, zumal die Aktiven einen ganz besonderen Respekt
verdienen.
Die Erfolge bei den Olympischen Winterspielen und bei
den Paralympics in Salt Lake City, wo beide deutschen
Mannschaften den ersten Platz in der Nationenwertung erreichen konnten, bestätigen, dass wir mit unseren Sportförderungsgrundsätzen richtig liegen; die führende deutsche Rolle im Wintersport wurde ja eindrucksvoll
bewiesen.
({6})
Es gibt natürlich keinen Grund, sich selbstzufrieden
zurückzulehnen. Ein Blick auf die Olympischen Sommerspiele in Sydney im Jahre 2000 zeigt deutlich, dass
wir die Effizienz des Spitzensportsystems und damit auch
der Förderung weiter steigern müssen.
Die Bundesregierung hat aber ebenso erfolgreich auch
die Schattenseiten des Sports bekämpft. Doping bedroht
den Sport und die staatliche Förderung dafür. Deswegen
haben wir mit zusätzlichen Mitteln die Dopingkontrollen
erhöht und die Anti-Doping-Forschung ausgeweitet. Mit
einer Förderung von rund 5 Millionen Euro ermöglicht
der Bund die Gründung der Nationalen Anti-DopingAgentur, die ja, wie Sie erwähnt haben, in wenigen Tagen
aus der Taufe gehoben wird. Die Sportlerinnen und Sportler, die durch das staatlich verordnete Dopingsystem in
der ehemaligen DDR unwissentlich geschädigt wurden,
erhalten jetzt aus humanitären Gründen über einen eigens
eingerichteten Fonds finanzielle und moralische Unterstützung. Ich möchte an dieser Stelle dem Hohen Haus
dafür, dass es das erforderliche Gesetz nach einer sehr eindrucksvollen Debatte in der vorvergangenen Woche so
zügig verabschiedet hat, sodass es noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten kann, herzlich danken.
({7})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wer fordert, ist
zunächst selbst gefordert. Diese Messlatte gilt auch für
den politischen Forderungskatalog des deutschen Sports.
Ein Blick auf den Beitrag des deutschen Sports für die
Nationale Anti-Doping-Agentur und den DopingopferHilfefonds liefert eher ernüchternde Erkenntnisse. Beim
Hilfefonds ist er enttäuschend. Ich hoffe, dass über den
Beitrag des deutschen Sports noch nicht das letzte Wort
gesprochen ist.
({8})
Hier geht es ja auch um Glaubwürdigkeit.
Zurzeit befinden wir uns im Fussballfieber. Deshalb ist
es umso elektrisierender, auf kommende Großereignisse
zu schauen. Eines der herausragenden Ereignisse dieser
Legislaturperiode war die Vergabe der Fussball-Weltmeisterschaft 2006 an Deutschland.
({9})
Die Bundesregierung hat das Ihre zu diesem Erfolg beigetragen: sowohl mit den Bewerbungsunterlagen des
Deutschen Fussball-Bundes als auch bei der sportpolitischen Unterstützung.
({10})
Meine Damen und Herren, wir wollen heitere und
friedliche, sympathische und völkerverbindende Spiele,
von denen eine Welle der Gastfreundschaft und Internationalität ausgehen soll.
({11})
Dem wiedervereinigten Deutschland können dadurch
neue Freunde in aller Welt zuwachsen. Die Bundesregierung hat dafür die Weichen gestellt. Ich nenne zum Beispiel die Förderung der Stadien in Berlin und Leipzig, damit die Sportfans in den neuen Bundesländern Spiele auch
wohnortnah sehen können.
Die Bundesregierung setzt darauf, dass für die Olympischen Sommerspiele 2012 eine gleichermaßen überzeugende Bewerbung und Sympathiearbeit gelingt.
Olympische Spiele entfalten vielfältige positive Wirkungen. Zudem könnte Deutschland auch hier seinen Ruf als
weltoffenes, gastfreundliches und natürlich auch sportbegeistertes Land weiter festigen. Das Nationale Olympische Komitee kann auf die Unterstützung der Bundesregierung setzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bleibt mir nicht genug Zeit, um die erfolgreiche Sportpolitik der Bundesregierung in allen Einzelheiten darzustellen. Aber die Antworten
auf 90 Fragen der Großen Anfrage zur Sportförderung und
insbesondere der heute eingebrachte 10. Sportbericht der
Bundesregierung, der die erfolgreiche Sportpolitik der letzten Jahre bilanziert, geben darüber Auskunft. Die Lektüre
kann ich nur wärmstens empfehlen.
Bei dem Anliegen, den Sport zu fördern, gibt es im
Prinzip eine große Koalition. Angesichts der Erfolge, die
wir zu verbuchen haben, ist es für die Opposition natürlich nicht einfach, sportpolitisch wahrgenommen zu werden. Sicherlich ist es legitim, die Mittel der Großen Anfrage und von Entschließungsanträgen zu nutzen. Es wirkt
jedoch manchmal etwas hilflos, wenn geforderte Maßnahmen längst durchgeführt worden sind. Wenn dies beim
Entschließungsantrag zur Sicherung der Zukunft der Vereine deutlich wird, dann muss man es zumindest einmal
erwähnen.
Meine Damen und Herren, die rot-grüne Bundesregierung zieht am Ende ihrer ersten Amtszeit
({12})
eine positive Bilanz. Die Arbeit war von einer engen partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Organisationen
des Sports gestützt und von gegenseitiger Achtung und
Vertrauen geprägt. Die Bundesregierung ist und bleibt ein
verlässlicher Partner.
Diese Aussage verbinde ich mit dem Wunsch, am
Sonntag ein spannendes und faires Spiel zu erleben. Das
Ergebnis wird uns in jedem Falle Anlass zur Freude geben, gleich ob Deutschland Weltmeister oder Vizeweltmeister wird.
Ich danke Ihnen.
({13})
Nun spricht der Kollege Dr. Klaus Kinkel für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist das zwölftgrößte
Land der Welt. Wir sind Gott sei Dank immer noch die
drittgrößte Wirtschaftsmacht und die zweitstärkste Exportnation. Wir waren immer und bleiben hoffentlich
auch eine große Sportnation. Darauf sind wir gemeinsam
stolz.
Liebe Frau Staatssekretärin, aus meiner eigenen Regierungserfahrung weiß ich, dass die Regierung eigentlich relativ wenig zum Leistungsport beitragen kann. Wir
fördern ihn mit einem eher bescheidenen Beitrag. Ich
wäre also etwas zurückhaltender, wenn es um den Einfluss der Regierung geht.
Wir können auch stolz auf die Erfolge bei den Olympischen Spiele sein. Persönlich bin ich besonders stolz darauf, dass wir bei den Paralympics so gut abgeschnitten
haben.
({0})
Ich bin auch stolz darauf, dass wir uns im Sportausschuss
des Deutschen Bundestages des Behindertensports angenommen haben, über den man Menschen, die es schwerer als andere haben, helfen kann, ihr Leben besser zu
meistern und zusätzliche Freude zu gewinnen. Das war in
der zurückliegenden Legislaturperiode besonders positiv.
Wir dürfen nicht nur bei des Deutschen liebstem Kind,
dem Fußball, glänzen, auch wenn ich unserer Nationalmannschaft am kommenden Sonntag natürlich einen
großen Erfolg wünsche. Als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages sind wir für Leistungs- und Spitzensport zuständig und müssen über den Fußballhorizont hinaus
blicken. In diesem Zusammenhang kommt man nicht daran vorbei, festzustellen, dass im deutschen Sport einiges
im Argen liegt.
({1})
Erstens. Die finanziellen Leistungen des Bundes auf
diesem Gebiet sind nicht so toll. Ich will sie jetzt nicht generell kritisieren, weil ich auch an die Zeit unserer Regierung zurückdenke. Ich wünschte mir jedenfalls, dass „Vater Staat“ für das Aushängeschild Sport mehr aufbringen
könnte und mehr aufbrächte. Um so wichtiger ist es - ich
freue mich, dass heute Bundeswehrangehörige hier im
Hause sind -, dass die Sportfördergruppen von Zoll,
Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und Polizei so außerordentlich viel leisten. Sie müssen uneingeschränkt und
unbeeinflusst so erhalten bleiben, wie sie im Augenblick
bestehen,
({2})
denn diejenigen, die für uns herausragende Leistungen erbringen, kommen überwiegend aus diesem Bereich. Dank
und Anerkennung gelten ebenso den Bundesleistungszentren und den Olympiastützpunkten.
Zweitens. Ich mache mir allergrößte Sorgen über die
Kommerzialisierung; wir haben uns im Sportausschuss
darüber unterhalten und ich habe das die „Hollywoodisierung“ des Sports genannt. Der Profisport soll gut bezahlt
werden, wenn der Markt es hergibt, aber wenn Geld und
Vermarktbarkeit zur einzigen Messlatte für sportliche
Spitzenleistungen werden, führt das zu einer Schieflage
der ethischen Grundlagen des Sports.
({3})
Das müssen wir ansprechen und wissen.
({4})
Diese Kommerzialisierung hat schlimme Auswirkungen
auf die angestrebte Vorbildfunktion des Sports und hat
ohne Zweifel unerwünschte Nebenwirkungen im Hinblick auf Doping.
Wenn die Devise „Immer höher, immer schneller, immer weiter“ lautet, aber der Körper nicht mehr mitmacht,
nicht mehr die Leistungen erbringt, über die man Finanzen erwerben will, dann kommt man zwangsläufig zum
Doping, greift zur Pille und zur Spritze. Deshalb muss das
Doping, eine der Sportgeißeln, bekämpft werden. Ich bin
froh, dass jetzt endlich die NADA kommt, an der wir
lange gearbeitet haben. Leider hat die Wirtschaft da bisher relativ wenig getan.
Für meine Fraktion und auch für mich selber sage ich
deutlich und klar: Ich bin nach wie vor gegen ein staatliches Anti-Doping-Gesetz, weil für mich die Subsidiarität
des Sports absolut im Vordergrund steht. Der Staat sollte
beim Sport nur und erst dann eingreifen, wenn es tatsächlich nicht anders geht; anderenfalls bedeutete es, die Unabhängigkeit des Sports anzugreifen.
({5})
- Ich weiß, hinsichtlich dieses Punktes sind wir verschiedener Meinung, aber ich vertrete diese Auffassung.
({6})
Drittens. Die enorme Bedeutung des Breitensports
braucht nicht hervorgehoben zu werden. Der Einstieg in
den Breitensport läuft über den Schulsport. Damit sind
wir bei meinem Lieblingskind; die Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag wissen das. Wir sind angefeindet worden, weil wir uns um den Schulsport in Deutschland gekümmert haben. Das sei Ländersache und nicht
Sache des Bundes. Ich habe damals erklärt, sie sollten eigentlich froh sein, dass wir uns darum kümmern,
({7})
denn ohne Schulsport gibt es keinen Breitensport und ohne
Breitensport keinen Leistungssport. So einfach ist das.
Viertens. Im Schulsport liegt nun wahrhaftig vieles im
Argen. Ich will das nicht im Einzelnen aufzählen. Unsere
Kinder sind zu dick, sie haben Rückenleiden und Koordinationsstörungen; das ist wissenschaftlich nachgewiesen.
({8})
Wir haben zu wenig Sportstunden, eine überalterte Sportlehrerschaft und Kompetenzgerangel. Eigentlich müsste
der Schulsport in den Ländern absolute Chefsache sein.
Ich habe immer einen runden Tisch all derer gefordert, die
für den Schulsport Verantwortung tragen.
Fünftens. Den Behindertensport hatte ich bereits angesprochen.
Sechstens. Die Sportvereine in Deutschland sind nach
wie vor die tragenden Säulen. Sie haben gewaltige Probleme, die Ihnen bekannt sind. Dieser Problematik haben
wir uns im Sportausschuss angenommen. Das war auch
dringend notwendig. Auf diesem Gebiet muss in der
nächsten Legislaturperiode gerade seitens des Bundes einiges in Angriff genommen werden, angefangen vom Ehrenamt, das stärker hervorgehoben werden muss, bis hin
zu Haftungsfragen und steuerrechtlichen Hürden sowie
vielen anderen Problemen, die uns bekannt sind.
Zum Schluss: Ich habe die Arbeit im Sportausschuss,
die ich nach dem Ausscheiden aus der Bundesregierung
angepeilt habe, nicht bereut. Ich hatte das Gefühl, dass der
Sportausschuss, der immer ein wenig um seine Anerkennung ringen muss, etwas politischer sein könnte. Ich weiß,
dass ich darin parteiübergreifend Unterstützung habe.
(Beifall des Abg. Winfried Hermann ({9})
- Ja, wir sind auf einem guten Weg.
Wir können - das habe ich in den vier Jahren erfahren - vieles aufgreifen, anregen, manchmal auch konkret
helfen, aber vor allem immer versuchen, den Interessen
des Sports Gehör zu verschaffen. Die unzähligen Sportbegeisterten in Deutschland erwarten und würdigen das.
Ich meine, dass wir einiges voranbringen konnten. Ich
würde mich freuen, wenn der Bund weit mehr, als das bisher geschehen ist, natürlich im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten, für den Sport in Deutschland täte. Da
liegt leider Gottes noch einiges im Argen. Auf der anderen Seite können wir stolz auf das sein, was wir an Spitzenleistungen und durchaus auch im Breitensport insgesamt erreicht haben. Es möge so bleiben.
Vielen Dank.
({10})
Herr Dr. Kinkel, wir
gehen davon aus, dass das Ihre letzte Rede war.
({0})
- Dann sage ich: Ihre vorerst letzte Rede. Ihre Kolleginnen und Kollegen haben mir das so signalisiert.
({1})
- Es gibt sogar das passende Präsent dazu.
({2})
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich im Namen
aller Kolleginnen und Kollegen recht herzlich für Ihr
Engagement hier in diesem Hause zu bedanken. Ich
glaube, es würde viel Zeit kosten, all die Ämter aufzuzählen, die Sie bekleidet haben. Ganz gewiss haben wir
Sie vor allem noch als Außenminister unseres Landes
vor Augen. Vielen Dank für Ihr Engagement hier! Wir
gehen aber davon aus, dass Sie uns allen im Dialog erhalten bleiben. Alles Gute für den kommenden Lebensund Arbeitsabschnitt!
({3})
Wir fahren in der Debatte fort. Ich erteile jetzt dem Kollegen Winfried Hermann für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Lieber Kollege Kinkel, ich darf mich auch im Namen
meiner Fraktion - ich sehe, auch andere tun das gerade herzlich für die gute, kollegiale, erfrischende und faire
Zusammenarbeit bedanken. Es ist wahr: Sie haben ab und
zu Rauch reingelassen, waren ungeduldig wie der ExAußenminister und haben sicherlich dazu beigetragen,
dass der Sportausschuss insgesamt sich auch politisch
geäußert hat. Das war gut so. Vielen Dank!
({0})
Ich will nicht verhehlen, dass ich mich ziemlich freue,
dass die deutsche Mannschaft am Sonntag bei der Fußballweltmeinsterschaft im Endspiel steht.
({1})
Das ist schon jetzt ein Riesenerfolg. Ich sage: Alles Gute,
toi, toi, toi, damit es am Sonntag wirklich klappt!
Die Tatsache, dass die deutsche Mannschaft im Endspiel steht, könnte uns Politikerinnen und Politikern ein
Zeichen sein: Viele haben sie im Vorfeld abgeschrieben,
aber sie hat sich nicht abschreiben lassen, sie hat an ihre
Qualitäten und ihre Chancen geglaubt, sie genutzt und
sich ins Endspiel gespielt. Das richte ich an Sie, Herr
Riegert von der Opposition; man sollte uns nicht zu früh
abschreiben. Das ist unser Motto.
({2})
Kollege Riegert, Ihre Rede hat mich an die alten Derbys im Westen erinnert. Wenn Schalke gegen Borussia
Dortmund oder umgekehrt gespielt hat, hat die jeweilige
Auswärtsmannschaft eigentlich nie eine Chance gehabt,
weil der Gegner zu gut war. Dann hat man gesagt: Wenn
wir schon nicht gewinnen können, dann machen wir wenigstens ihren Rasen kaputt.
({3})
So kam es mir fast vor: Sie wollten partout unsere gute
Politik,
({4})
die Sie eigentlich nicht bestreiten können, kaputtreden;
aber da das nicht ging, mussten Sie mit diesen Zahlen allerhand schräge Rechnungen aufmachen und die Zahlen
verbiegen. Dabei ist schon bei den vielen Zahlenkolonnen
in Ihrer Großen Anfrage eines klar geworden - das sage
ich durchaus auch als Kompliment in Bezug auf Ihre Regierungszeit -: Sport ist in Deutschland immer auf hohem
Niveau gefördert worden und Rot-Grün hat hier weitergemacht und noch eins draufgesetzt.
({5})
Wir haben uns als rot-grüne Regierung zwei Bereiche
vorgenommen: den Spitzensport zu fördern, aber gleichermaßen auch auf den Breitensport zu setzen. Das war
uns wichtig. Wir wollten die Rahmenbedingungen im
Sport insgesamt verbessern. Ich will in beiden Bereichen
beispielhaft deutlich machen, was wir geleistet und erreicht haben und wo noch Zukunftsaufgaben bestehen.
Zunächst zum Breitensport. Auch das an die Adresse
der CDU/CSU: Alle haben in den 90er-Jahren davon
geredet, dass wir einen „Goldenen Plan Ost“ brauchen.
Sie haben zwar allerhand geschafft, aber das nicht. Wir
haben es geschafft, dass immerhin insgesamt 200 Millionen Euro im Osten in Sportstätten investiert wurden; davon waren 50 Millionen Euro Unterstützung durch den
Bund. Das war wirklich ein Erfolg.
({6})
Sie haben versucht, das Investitionsfördergesetz als besondere Leistung Ihrer Regierungszeit darzustellen. Man
kann über alle Jahre hinweg nachprüfen: Es ist
auch während unserer Regierungszeit viel geschehen. Es
wurde nichts reduziert. Wenn Sie sagen, wir hätten insgesamt weniger für den Spitzensport getan, dann müssen Sie
immer etwas - zum Beispiel die Millionen für die Stadien
in Berlin und Leipzig - herausrechnen, denn sonst stimmt
Ihre Rechnung nicht.
Wir haben insbesondere mit dem Goldenen Plan Ost
nicht nur Geld zur Verfügung gestellt, sondern auch Akzente gesetzt. Wenn man schon als Bund Sportstätten finanziert, dann muss man das beispielhaft machen. Wir
haben gesagt, wir wollen sozial und ökologisch modellhafte Vorhaben unterstützen, weil es für die Jugendarbeit
in den Kommunen, wo Jugendliche oft perspektivlos sind,
sinnvoll ist und weil es für den Sport insgesamt wichtig
ist, dass es modellhafte Vorhaben gibt, die man übrigens
auch im Westen realisieren kann. Insofern war der Goldene Plan Ost auch ein Modell für den Westen.
Meine Damen und Herren, Breitensport ist vielfältig.
Ich konnte mit einigen anderen unlängst in Leipzig das
Deutsche Turnfest besuchen. Zusammen mit Täve Schur
war ich, glaube ich, der erste Abgeordnete, der es geschafft hat, den ganzen Umzug mitzuerleben. Mehr als vier
Stunden lang sind 80 000 Menschen, junge, alte, behinderte, nicht behinderte Sportler aller Art, durch die Stadt
gelaufen und haben vorgeführt, was sie alles machen. Sie
haben deutlich gemacht: Die deutsche Turnbewegung ist
Vizepräsidentin Petra Bläss
nichts Historisches, sondern sie lebt, modernisiert sich
ständig. Sport ist Bewegung.
({7})
Uns ist klar geworden, dass die vielfältigen Bewegungen in der Gesellschaft ein gemeinschaftliches Kulturgut
sind, das es politisch zu unterstützen gilt, und zwar in
der Breite und in der Spitze. Das haben wir in den letzten
vier Jahren auch getan.
({8})
Wir haben auch die Spitzensportförderung kontinuierlich ausgebaut und verbessert. Ich will nicht behaupten,
dass Sie das schlecht gemacht haben. Wir haben die Spitzensportförderung auf hohem Niveau begonnen und das
Niveau gehalten, was nicht einfach war, weil wir Konsolidierungserfordernisse mit dem Haushalt insgesamt zu
beachten hatten. Herr Kinkel, als alter Hase werden Sie
wissen, dass es schwierig ist, in Zeiten, in denen überall
Finanzmittel gekürzt werden, die Sportförderung nicht
nur auf hohem Niveau zu halten, sondern - im Gegenteil sogar die Finanzmittel zu erhöhen. Hier haben wir Sportpolitiker gezeigt, dass wir durchsetzungsfähig waren.
({9})
Wir haben bewusst nach dem Motto gehandelt: Wir investieren im Sport in Steine, also in Stadien und Sportstätten, in Beine, also in die Sportler, und in Köpfe, also
in die Trainer und Wissenschaftler. Auch das ist geschehen. Herzlichen Dank an all diejenigen, die dafür sorgen,
dass daraus sportliche Erfolge werden!
Darüber hinaus haben wir kontinuierlich die Rahmenbedingungen für den Sport verbessert. Sie haben von der
Erhöhung der Übungsleiterpauschale immer nur gesprochen. Wir haben sie um 50 Prozent erhöht. Im Übrigen haben wir in vielen Details die Vereinsarbeit verbessert.
Beispielsweise können jetzt Jugendliche im Rahmen des
Freiwilligen Sozialen Jahres auch in die Sportvereine gehen. Wir haben die Spendenmöglichkeiten für Sportvereine verbessert und vereinfacht. Auch das ist von den
Sportorganisationen anerkannt worden.
Ich möchte jetzt etwas zu Ihren Gesetzentwürfen und
Anträgen sagen, die wir in der Tat immer abgelehnt haben.
Ein Grund dafür war, dass es im Grunde genommen immer Schattengesetzentwürfe waren. Sie waren aber nicht
wirklich finanziert. Das heißt, Sie haben nie ein seriöses
Finanzkonzept vorgelegt. Sie haben natürlich die Freiheit
der Opposition genutzt, etwas zu fordern, was man selber
in der Regierung nicht durchsetzen könnte. Sonst hätten
Sie das schon Jahre zuvor durchgesetzt. Das haben Sie jedoch nicht gemacht.
({10})
Insofern kann man sagen: Wir haben realistische Politik
betrieben und einiges durchgesetzt.
({11})
Ich möchte noch einen aus grüner Sicht wichtigen
Aspekt ansprechen. Wir haben auch die Bereiche Ökologie und Nachhaltigkeit unterstützt. Sie haben immer
wieder versucht, über den Sport eine Anti-ÖkosteuerKampagne hochzuziehen. Das hat übrigens nicht verfangen. Der Deutsche Sportbund hat in seinem neuesten
Forderungskatalog ausgeführt, dass nachhaltiger Sportstättenbau die Zukunft ist. Es kommt jetzt darauf an, dass
wir die Sportstätten ökologisch modern sanieren und dabei Energie und Wasser sparen, also insgesamt nachhaltig
entwickeln und nicht gegen die Ökosteuer wettern. Nachhaltige Sportentwicklung hat auf Dauer Erfolg.
Im Zusammenhang mit dem Naturschutzgesetz haben
wir dafür gesorgt, dass es endlich keinen falschen Konflikt mehr zwischen Sport und Umwelt gibt. Wir haben die
Versöhnung zwischen den Sportinteressen und den Naturschutzinteressen erreicht. Es gibt eine klare Definition,
was natur- und umweltverträglicher Sport ist. Darüber
hinaus haben wir es den Sportorganisationen mit diesem
Gesetz ermöglicht, dass sie sich im Naturschutzbereich
beteiligen können. Wenn sie naturverträglichen Sport treiben und naturverträgliche Jugendarbeit leisten, haben sie
die gleichen Mitspracherechte wie die Umweltverbände.
Das ist ein riesiger Fortschritt für die Sportorganisationen.
Auch das hat große Anerkennung gefunden.
({12})
Herr Kollege
Hermann, jetzt müssten Sie aber zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss.
Ich möchte noch darauf hinweisen, was wir im Doping-Bereich gemacht haben. Ich nenne drei Punkte: Wir
haben den Dopingopfer-Hilfsfonds geschaffen und haben
eine nationale Anti-Doping-Agentur durchgesetzt. Außerdem haben wir immerhin die Grundzüge eines Anti-Doping-Gesetzes verabschiedet. Wir haben also von drei
Punkten zweieinhalb erledigt. Das ist ein großer Erfolg.
Was steht noch an? Was müssen wir in der nächsten Legislaturperiode tun? Herr Kollege Kinkel hat es schon angesprochen: Wir werden den Vorschlag bezüglich einer
Verbesserung des Schulsports aufgreifen. Die PISA-Debatte ist doch sozusagen eine kopflastige Debatte; denn
der Sport wird in der Studie außen vor gelassen. Die
PISA-Studie hat die Köpfe untersucht. Die Körper der
Kinder hat man vergessen. Wir als Sportpolitiker müssen
die Schüler auch im Bereich des Sports fördern. Damit
wird sich der Sportausschuss in der nächsten Legislaturperiode befassen.
Herr Kollege Hermann,
Sie wissen, dass es auch und gerade im Sport auf die Zeit
ankommt.
({0})
Das weiß ich. Deshalb komme ich zum Schluss.
Ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit. Ich
freue mich auf die nächste Legislaturperiode. Wir werden
da weitermachen, wo wir jetzt aufgehört haben. Um im
Sportjargon zu bleiben: Die erste Spielhälfte von RotGrün war gut. Wir setzen darauf, dass Rot-Grün auch weiterhin gut spielen wird.
Vielen Dank.
({0})
Wir bleiben beim Rennen. Das Wort hat jetzt der Kollege Gustav-Adolf Schur
für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Hier in 240 Sekunden über
einen Entschließungsantrag, den 9. Sportbericht und den
10. Sportbericht etwas Entscheidendes zu sagen ist sehr
schwierig. Gelänge mir das innerhalb dieser 240 Sekunden, wäre das eine Eintragung im Guinnessbuch der Rekorde wert.
Die vorliegenden Berichte erwecken den Eindruck einer umfassenden und nachhaltigen, also einer zufriedenstellenden Förderung und Entwicklung des Sports in
Deutschland. Ist also alles seit über einem Jahrzehnt in
Ordnung und kann es deshalb heißen „weiter so!“? Ich
möchte warnend sagen: Nichts verleitet mehr zur Selbstzufriedenheit als Berichte über Erfolge. Als aktiver Sportler musste ich durch manche Erfahrung lernen, Ergebnisse zuerst zu analysieren, ehe ich sie bejubeln konnte.
Die Ergebnisse müssen am Weltniveau gemessen werden - sowohl hinsichtlich des Resultats als auch hinsichtlich des Weges, der dorthin führt. Wer das nicht so sieht,
nicht sehen will oder auch nicht sehen kann, sieht sich
ganz schnell mit überraschenden Niederlagen konfrontiert. Der Vergleich beider Sportberichte und die Kenntnis
unserer Sportlandschaft signalisieren mir: Es ist höchste
Zeit für wichtige, einschneidende Veränderungen - und
zwar auf allen Ebenen -, wobei den ursächlichen Zusammenhängen zwischen Kinder- und Jugendsport, Freizeitund Erholungssport, Nachwuchs- und Hochleistungssport - das alles gilt auch für den Behindertenbereich, wie
schon gesagt wurde - Rechnung getragen werden muss.
({0})
Tore beim Fußball sind ein Grund zur Freude; sie reichen aber nicht, um die deutsche Sportlandschaft zu verändern. Das belegen auch Expertenanhörungen im Sportausschuss. Es waren teilweise alarmierende Berichte, die
negative Tendenzen aufzeigten. Die Stellung des Sports
im Wertesystem der Gesellschaft ist schon seit langem
durch die Praxis neu definiert worden.
Verlässliche politische Rahmenbedingungen für den
Sport sind eine unabdingbare Forderung an den Staat. Mit
14,3 Milliarden DM an sportbezogenen Ausgaben von
Bund, Ländern und Kommunen jährlich war und ist der
Staat - auch das haben wir schon gehört - der bei weitem
größte Sponsor des Sports. Das ist eine stolze Summe. Sie
kann allerdings nicht optimal wirksam werden, weil der
Sport in unserem Lande nicht als Querschnittsaufgabe gesehen wurde und gesehen wird - sowohl vom Deutschen
Sportbund selbst als auch von der Politik. Sportliche Erfolge ohne Zusammenwirken mit der Gesundheits- und
Sozialpolitik, mit Senioren-, Frauen-, Familien-, Kinderund Jugendpolitik genauso wie mit der Außen-, Verteidigungs- und Bildungspolitik sind auf Dauer undenkbar.
Lassen Sie mich das abschließend an einem konkreten
Beispiel erläutern: In der auch gestern wieder viel diskutierten PISA-Studie, die ebenso heute angesprochen worden ist, war vom Sport, wie meine Kollegin sagte, kaum
die Rede. Eigentlich überhaupt nicht! Ich füge hinzu:
Welch ein Glück für Bayern! Denn wie wir durch den
Deutschen Sportlehrerverband wissen, steht es dort um
den Schulsport nicht sonderlich gut. Dort tendiert der
Sportunterricht zu zwei Stunden pro Woche. Dazu möchte
ich nicht mehr sagen; denn die Kollegen Kinkel und
Hermann haben sich dazu bereits geäußert.
Aber Folgendes muss ich feststellen: Für die allseitige
Entwicklung der Persönlichkeit eines jungen Menschen
- auch das ist letztlich ein Thema der PISA-Studie - spielen die körperliche Bewegung und die erzieherischen Elemente des Sports eine enorme Rolle.
({1})
Das bestätigen uns ständig Pädagogen und Wissenschaftler. Darauf hat zum Beispiel Professor Hollmann, bis vor
kurzem Präsident des Weltverbandes der Sportärzte,
nachdrücklich hingewiesen.
Als Langzeitstudent der Praxis kann ich nur bestätigen:
Sich noch zwingen zu können, wenn man schon längst
keine Lust mehr hat, sich selbst zu überwinden, all das übt
der Sport.
({2})
Roman Herzog forderte, durch Deutschland müsse ein
Ruck gehen. Dies erreicht man nicht mit einem Appell an
den guten Willen; für den Ruck muss man trainiert sein.
Man hat mich in letzter Zeit oftmals belehren wollen,
dass Schulprobleme Länderprobleme sind. Aber es wird
niemandem gelingen, mich davon zu überzeugen. Findet
man in irgendeinem Bewerbungsformular eine Spalte, in
der man eintragen muss, in welchem Bundesland man zur
Schule gegangen ist?
Herr Kollege Schur,
jetzt kommt der berühmte Ruck von hier oben: die Erinnerung an Ihre Redezeit.
Ich werde mich bemühen, Frau Präsidentin. - Wenn Sie eine solche Spalte
einführen wollen, würde ich gehörig dagegen opponieren,
und zwar mit Energie; und davon, liebe Kolleginnen und
Kollegen, habe ich nicht wenig, denn mich hat der Sport
auch in dieser Hinsicht gehärtet.
Ich bedanke mich herzlich.
({0})
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Dagmar Freitag für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute unter anderem mit der Großen Anfrage der CDU/CSU zur Förderung des Sports in Deutschland, wobei Sie, Herr Kollege
Riegert, einen völlig untauglichen Versuch unternommen
haben, der Bundesregierung schlechte Arbeit zu bescheinigen.
({0})
Im Gegenteil: Die sportpolitische Bilanz der Regierung
- das haben wir heute an vielen Beispielen gesehen - kann
sich sehen lassen, auch wenn Sie, Herr Kollege Riegert,
das offensichtlich wieder nicht verstanden haben. Ihr verbaler Rundumschlag hat mir das eindrucksvoll bestätigt.
({1})
- Ich sehe ihn nicht; aber seine Kollegen können ihm dies
vielleicht freundlicherweise ausrichten.
({2})
- Wir sollten nicht weiter darüber spekulieren, wo sich der
Kollege Riegert jetzt aufhält. Ich bin sicher, die Kollegen
aus dem Sportausschuss sind so freundlich und teilen ihm
meine Einschätzung mit.
Natürlich hätten auch wir uns vorstellen können, an
der einen oder anderen Stelle noch mehr für den Sport zu
tun, als das letztlich möglich war. Aber zu einer ehrlichen
Beurteilung der Bilanz gehört auch, die Lage des Bundeshaushaltes zu berücksichtigen. Dazu sage ich Ihnen
ganz deutlich: In Anbetracht des finanziellen Trümmerhaufens, den wir 1998 vorgefunden haben, sind wir wirklich stolz auf das, was wir für den Sport haben durchsetzen können.
({3})
Über den Umfang dieser Förderung, über notwendige,
aber eben auch vertretbare Einsparungen hat es, wie das
im Übrigen unter fairen Partnern üblich ist, eine enge Abstimmung mit dem Deutschen Sportbund gegeben.
({4})
Der organisierte Sport hat unser Konzept mitgetragen.
Dies geschah sicherlich nicht in ungeteilter Freude, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass auch der Sport
seinen Beitrag zu der unverzichtbaren Haushaltskonsolidierung leisten muss. Das unterscheidet die Entscheidungsträger im deutschen Sport sehr wohltuend von den
Sportpolitikern der Opposition.
Das hervorragende Abschneiden der deutschen Teams
bei internationalen Meisterschaften, bei den Olympischen
Spielen und den Paralympics ist ein durchaus deutlicher
Beweis für die effiziente Förderung durch die Bundesregierung. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Kollege Kinkel
- sehen Sie es mir bitte nach -, möchte ich diese Förderung durch die Bundesregierung nicht kleinreden,
({5})
auch wenn wir uns natürlich mit noch vorhandenen
Schwachstellen beschäftigen müssen.
Dies tun im Übrigen auch Fachleute in den Dach- und
Spitzenverbänden. Sie beschäftigen sich mit einem der
drängendsten Probleme, das wir zurzeit haben, nämlich:
Wie können wir unsere auf internationaler Ebene wirklich
erfolgreichen Nachwuchssportler ohne die bisherigen
Reibungsverluste - man nennt es auch Drop-out-Quote in die Seniorenklasse überführen?
Frau Kollegin Freitag,
bevor Sie diese Frage beantworten, gibt es eine Frage des
Kollegen Eckart von Klaeden. Ich frage Sie, ob Sie diese
zulassen.
Aber herzlich gerne.
Frau Kollegin,
nachdem Sie wie auch die Frau Staatssekretärin die Erfolge deutscher Sportler auch jetzt bei der Weltmeisterschaft so unmittelbar mit Ihrer Regierungspolitik in Verbindung gebracht haben, frage ich Sie, warum Sie den
Satz „Deutschland wird Fußballweltmeister“ aus Ihrem
Wahlprogramm wieder gestrichen haben.
Sie verwechseln mich jetzt
offensichtlich, Herr Kollege. Ich habe zum Thema Fußballweltmeisterschaft noch nichts gesagt, aber ich
komme zu gegebener Zeit noch darauf zurück.
({0})
Aber vielen Dank für diese Zwischenfrage. Im Übrigen
bin ich guten Mutes, was das Endspiel übermorgen angeht. Übermorgen um diese Zeit ist die erste Halbzeit vorbei und, Herr Kollege, Sie werden sehen, wir werden
Weltmeister.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich habe über
die Drop-out-Quote gesprochen. Sie betrifft die jungen
Spitzensportler und Spitzensportlerinnen, die ihre Erfolge
nicht in die Seniorenklasse überführen können. Wenn es
eine einfache Antwort auf diese Frage gäbe, hätten wir sie
mit Sicherheit bereits gefunden.
Sportbetonte Schulen, Eliteschulen des Sports sind
sicherlich Teil einer Lösung, aber eben nur ein Teil. An dieser Stelle sind die Bundesländer gefordert. NordrheinWestfalen hat mit der Sportstiftung, die der Nachwuchsförderung höchste Priorität einräumt, ein Beispiel gegeben,
das andere Bundesländer unbedingt nachahmen sollten.
Mit einer besonderen Förderung während der Schulzeit
allein ist es aus unserer Sicht jedoch nicht getan. Wir dürfen im Interesse unserer jungen Sportler nicht nachlassen,
an Wirtschaft und Hochschulen zu appellieren, jungen
Hochleistungssportlern Bedingungen zu bieten, die deren
besonderen Bedürfnissen gerecht werden.
Meine Damen und Herren, Spitzensportler sorgen mit
hervorragenden Ergebnissen und internationalen Erfolgen für Aufmerksamkeit bei den Medien und in der Bevölkerung. Die motivierende Funktion des Spitzensports
ist unbestritten. Aber Dopingvergehen bringen vor allem
den Spitzensport, in Teilbereichen jedoch auch den Breitensport immer wieder in Verruf.
Deshalb haben wir uns in der Tat zu fragen, liebe Kollegen von der Opposition, ob wir wirklich schon alles unternommen haben, um Doping wirksam zu bekämpfen.
Wir halten es im Gegensatz zu Ihnen durchaus für sinnvoll, in der kommenden Wahlperiode die Diskussion um
ein eigenständiges Antidopinggesetz erneut anzugehen,
offensiv anzugehen und es auch zu einem Abschluss zu
bringen.
({2})
Dabei lassen wir uns neben anderen Aspekten vor allem - dabei lege ich Wert auf die Betonung - von dem Gedanken leiten, den fairen Wettbewerb im Sport zu schützen; denn das sind wir denjenigen schuldig, die mit Fleiß,
Ehrgeiz, Motivation trainieren, die Einnahme von leistungssteigernden Mitteln aber konsequent ablehnen. Diesen Sportlerinnen und Sportlern sind wir verpflichtet. Ich
kann Sie nur auffordern, diesen Weg mit uns zu gehen.
({3})
Ein Wort noch in Richtung des Kollegen Riegert.
Hören Sie auf mit dem Gejammer, wir wollten Sportler
kriminalisieren. Das ist eine infame Unterstellung! Aber
ich nehme mit Interesse die Sorgen des Kollegen Riegert
um diejenigen zur Kenntnis, die dopen und betrügen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dem deutschen Sport
steht eine riesige Chance ins Haus. Fünf Regionen in unserem Land bewerben sich um die Austragung der Olympischen Spiele 2012.
({4})
- Auch Hamburg, aber auch Nordrhein-Westfalen. Schon jetzt bleibt festzuhalten, dass sämtliche Bewerbungen einen Schub in unseren Regionen ausgelöst haben.
Lassen Sie uns gemeinsam mithelfen, nach den World
Games 2005, nach der Fußball-WM 2006 nun auch die
Olympischen Spiele nach Deutschland zu holen!
Meine Damen und Herren, wir werden in den nächsten
vier Jahren unsere erfolgreiche Sportpolitik fortsetzen;
denn die SPD hat im Gegensatz zu Ihnen im Wahlprogramm eindeutige Aussagen gemacht. Sie sollten das zur
Kenntnis nehmen. Nicht nur uns ist aufgefallen, dass Sie
in Ihrem Wahlprogramm dem Sport nur einen lapidaren
Satz widmen. Auch in der DSB-Presse ist das entsprechend kommentiert worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende einer Wahlperiode blickt man zwangsläufig auch kurz zurück.
Das muss auch wirklich kurz geschehen, denn Ihre Redezeit ist schon abgelaufen.
({0})
Unser Ausschuss ist wieder
stärker in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Das ist der
engagierten Arbeit der Mitglieder, dem Aufgreifen von
Themen, die angeblich gar nicht unsere waren, und - das
erwähne ich ausdrücklich - dem engagierten und offensiven Auftreten unseres Vorsitzenden zu verdanken.
({0})
Herr Kollege von Klaeden, lassen Sie mich an dieser
Stelle der Nationalmannschaft für das Endspiel alles Gute
wünschen. Ich bin sicher, dass wir dort erfolgreich abschneiden werden.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Walter Link für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Freitag, ich
nehme zwar einem Mitglied der rot-grünen Koalition
nicht übel, wenn es versucht, die Erfolge herauszustellen,
die teilweise nicht vorhanden sind, aber wie Sie nicht nur
im Ausschuss, sondern auch hier im Parlament immer nur
in Gold zeichnen, ist fast unerträglich.
Ich will mich, nachdem sehr viel über den Leistungssport gesprochen worden ist, dem Breiten- und Vereinssport in den wenigen Minuten, die mir zur Verfügung stehen, widmen. Ohne das ehrenamtliche Engagement von
Millionen Mitgliedern gäbe es in Deutschland kein Vereinswesen.
({0})
Ich glaube, dem Deutschen Bundestag stünde es gut an,
in einer sportpolitischen Debatte den Millionen Ehrenamtlichen einmal ein herzliches Wort des Dankes für ihre
großartigen Leistungen in unseren Vereinen und Organisationen zu sagen.
({1})
Diese Menschen legen im Ehrenamt Woche für Woche
Geld aus ihrer eigenen Tasche hinzu. Hier muss in nächster Zeit etwas verändert werden.
Die Überbewertung einiger Spitzensportarten durch
ständige Ausstrahlung in den Medien sollte nicht darüber
hinwegtäuschen, dass ohne Breiten- und Vereinssport
Spitzensport nicht möglich ist. Darüber täuscht auch nicht
das fantastische Abschneiden unserer Fussballnationalmannschaft in diesen Tagen hinweg. Spitzen- und Breitensport bedingen einander.
„Sport tut Deutschland gut“ lautet das Motto des Deutschen Sportbundes für eine neue Gesellschaftskampagne. Der Deutsche Sportbund bewegt im wahrsten Sinne
des Wortes unsere Republik. Die Regierung scheint das
nicht zu begreifen. Ob Vorschulerziehung, Schulsport,
Elitebildung, Seniorensport, Sportstättenversorgung, Integration, Gesundheitspolitik oder Sozialengagement: Es
gibt riesige Arbeits- und Wirkungsfelder des organisierten
Sports. Ich denke, der Deutsche Sportbund hat richtig erkannt, dass hier in guter Zusammenarbeit von Politik und
Sportorganisationen viel herauszuholen ist.
Vereinssport ist für viele Menschen auch Kommunikation und Gesundheitsprävention. Behinderte Menschen
gewinnen durch Sport im Verein wieder Lebensmut und
Lebenssinn. Ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger
werden in Vereinen integriert, ältere Menschen finden im
Sport Lebenssinn und Lebensgewinn. Allein daran lässt
sich schon erkennen, wie notwendig es ist, dass Politik
und Sport in Zukunft noch enger zusammenarbeiten. Aber
dazu gehört auch Geld.
Keine Frage: Der Spitzensport ist mit seinen Vorbildern Anreiz, aber wir brauchen für unsere Vereine - ich
sage es noch einmal -, in denen Millionen von Menschen
im Breitensport über die sportliche Betätigung hinaus Lebensfreude finden, finanzielle Unterstützung.
Der rot-grünen Bundesregierung sind in den vergangenen dreieinhalb Jahren schwerwiegende Fehler unterlaufen.
({2})
- Peter, hör zu. - Sie betreibt eine Haushalts-, Finanz- und
Steuerpolitik auf Kosten der Kommunen und da liegt der
Hase im Pfeffer. Darum sehen sich immer mehr Kommunen gezwungen, Fördermittel für die Vereine zu reduzieren und Nutzungsentgelte für die Sportstätten einzuführen. Das ist das Problem.
({3})
- Frau Kollegein Freitag, ich weiß zwar, dass Sie alles
wissen und können und mit den Spitzen des deutschen
Sports arbeiten, aber ich bin seit 20 Jahren Vorsitzender
meines Kreissportbundes Diepholz mit fast 80 000 Mitgliedern in 270 Vereinen mit über 20 Sportarten.
({4})
Daher weiß ich aus eigener Anschauung vor Ort, welche
Lähmungen durch die Sportpolitik von Rot-Grün an der
Basis entstanden sind. Das hat etwas mit den Kommunen
zu tun, überhaupt keine Frage, die nicht mehr in der Lage
sind, den Vereinssport, den Breitensport, genügend zu unterstützen.
({5})
- Ich weiß ja, dass Sie das ärgert; soll es auch.
Die Bundesregierung hat die Vorschläge und Initiativen der CDU/CSU zur Verbesserung des Sports und der
Situation der Ehrenamtlichen abgelehnt. Die rot-grüne
Koalition preist die Erhöhung der so genannten Übungsleiterpauschale von 123 auf 184 Euro. Wir begrüßen
zwar die Anhebung, wollten aber eine Ausweitung auf
Vorstandsmitglieder und Organisationsleiter.
({6})
Das wollten Sie auch, Sie konnten sich aber in Ihrer Regierung nicht durchsetzen.
({7})
Dass es nicht zu noch schlimmeren Belastungen der
Vereine gekommen ist, ist dem massiven Druck des organisierten Sports in Deutschland zu verdanken. Rot-Grün
hat die Übungsleiter durch die Neuregelung der 325Euro-Jobs in die Sozialversicherungspflicht getrieben.
Jetzt preisen Sie teilweise die Rücknahme der selbst produzierten Fehlleistungen als sportpolitische Glanztat.
Dies ist mehr als dreist.
Wir, die CDU/CSU, werden in der nächsten Legislaturperiode die richtigen sportpolitischen Weichenstellungen vornehmen. Dazu gehören die Stärkung des Spitzenund Breitensports sowie des Behindertensports, die Stärkung der wirtschaftlichen Kraft unserer Vereine durch
steuerliche Anreize, der Abbau von Bürokratie, um ehrenamtliche Tätigkeiten attraktiver zu gestalten, die Veränderung der Neuregelung der 325-Euro-Jobs, die Erweiterung
der so genannten Übungsleiterpauschale auf Funktionsträger, die Einführung einer steuer- und sozialversicherungsfreien Ehrenamtlichkeitspauschale von 600 Euro für
ehrenamtlich Tätige und die Verbesserung beim Versicherungsschutz.
({8})
Wir wissen wie der DSB, Sport tut Deutschland gut;
denn Sport integriert, beugt Gewalt vor, fördert die Gesundheit, erzieht zu Gemeinsamkeit und Fairness. Die
Sportpolitik von Rot-Grün war gekennzeichnet von Kürzungen und Streichungen, wie es mein Kollege Riegert
hier sehr gut dargestellt hat.
({9})
Ich muss hier einmal nachfragen: Frau Staatssekretärin,
wenn die Sportpolitik so gut ist, wie Sie es darzustellen
versucht haben, warum trägt sie eigentlich der Sportminister heute nicht vor? Der hat sich nicht ein einziges Mal
in unserem Ausschuss blicken lassen und ist heute Morgen bei der Sportdebatte nicht anwesend.
({10})
Wir haben einen Showminister, der auf allen möglichen
Veranstaltungen vor dem Fernsehen herumturnt.
({11})
Walter Link ({12})
Wir brauchen aber einen Sportminister, der nicht nur die
große Show macht, sondern sich um die Basis kümmert.
Das werden wir nach dem 22. September ändern.
({13})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Wieland Sorge für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Reden von der Opposition hört, versteht man überhaupt nicht
mehr, dass noch so viel Gefühl für die Leistungen entwickelt wird, die bei uns im Sport erbracht werden.
({0})
Sie müssen mal bei Olympischen Spielen, bei Weltmeisterschaften, Europameisterschaften mit Sportpolitikern, mit Politikern anderer Ebenen oder mit den Sportlern selbst ins Gespräch kommen. Alle werden Ihnen
bestätigen, dass sie neidisch auf das sind, was in Deutschland in Sport getan und erreicht wird.
({1})
Deutschland wird überall als Gegner geachtet. Wenn es
darum geht, gegen Deutschland einen Sportwettkampf
auszutragen, dann hat das einen ganz besonderen Stellenwert. Wenn Sie jetzt bei der Fußballweltmeisterschaft die
Diskussionen gehört haben, wissen Sie, dass immer wieder mit Hochachtung von dem deutschen Sport gesprochen worden ist. In keinem Land der Welt gibt es eine so
enge Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft
und Sport. Das sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis
nehmen.
({2})
Wir hatten Gelegenheit genommen, bei den Olympischen Spielen mit den Verantwortlichen für Doping, für
Sicherheit zu sprechen. Was wurde von diesen Leuten, ob
das in Sydney, ob das in Salt Lake City war, immer wieder gesagt? - Die deutsche Sportwissenschaft hat für
uns einen riesigen Stellenwert. Wir kommen nach
Deutschland, um an Symposien teilzunehmen, weil wir
dadurch für unser Land sehr viel lernen können. Wir
führen Konferenzen und Austausche durch, insbesondere
mit Köln, um die neuesten Erkenntnisse über das Doping
zu erfahren und mit Deutschland auf diesem Gebiet eng
zusammenzuarbeiten.
Ich frage mich: Wieso sehen Sie dies alles nicht, wenn
doch die Menschen im Ausland dies so sehen? Es ist gut,
dass nur eine nationale Übertragung stattfindet, denn wenn
die Ausländer sehen würden, dass wir eine solch negative
Bilanz ziehen, würden sie über uns den Kopf schütteln.
({3})
Ich möchte aus dem 10. Sportbericht der Bundesregierung zitieren:
Keine andere gesellschaftliche Erscheinung bringt
Menschen aller gesellschaftlichen Schichten, Geschlechter und Altersgruppen so unkompliziert zusammen wie Sport und Spiel. Sie schaffen es fast
mühelos, die Grenzen unterschiedlicher Sprache,
Hautfarbe und Religion sowie gesellschaftlicher
Strukturen zu überwinden.
Dies trifft auch für die Leistungen zu, die der Sport
während des Einigungsprozesses geleistet hat. Ich darf
Sie noch einmal daran erinnern: Wir hatten damals am
Anfang der 90er-Jahre errechnet, dass es eine Diskrepanz
zwischen Ost- und Westsportförderung in Höhe von
25 Milliarden DM gibt. Wir haben es fertig gebracht,
diese Diskrepanz Schritt für Schritt zu verringern. Dies ist
in erster Linie den Sportpolitikern, den Leuten, die an der
Spitze der Sportverbände stehen, den Sportlern selbst,
dem Bund, den Ländern und den Kommunen zu verdanken. Man kann heute sagen, dass der Sport beim Einigungsprozess eine Vorreiterrolle gespielt hat.
({4})
Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, dass im
10. Sportbericht kein Wort mehr über Ost- und Westsport
steht, sondern dass man sich zu einem gesamtdeutschen
Sport bekennt, der auch nur gesamtdeutsch entwickelt
und vorangebracht werden kann. Ich finde, dies ist ausgezeichnet. Deshalb geht mein Appell als Sportpolitiker an
alle Politiker unseres Landes: Wenn wir dem Osten bei
seiner Entwicklung nach vorn helfen wollen, müssen wir
endlich aufhören, den Osten immer mit negativen Werten
zu belegen und dies so - auch über die Presse - nach
außen zu vertreten.
Ich frage Sie: Welcher Unternehmer, welcher Tourist
wird Lust haben, nach Ostdeutschland zu kommen, wenn
er hört, dass es dort die höchste Arbeitslosigkeit, keine Industrieanlagen gibt, dass dort die Bürokratie am höchsten
ist, die Menschen mürrisch und unzufrieden sind, dort
überhaupt nichts klappt und ständig davon geredet wird,
dass man keine Zukunft habe? Wenn man Jugendlichen
keine Perspektive für den Aufbau einer ihren Leistungen
entsprechenden Existenz gibt und wir ihnen dies nicht
vorpraktizieren, haben wir auch keine Chance, sie bei uns
zu halten. Deswegen sollten wir endlich mit diesem negativ besetzten Ostdeutschland-Begriff aufhören und zu einer besonderen Entwicklung von Gesamtdeutschland
übergehen.
({5})
Wir sollten uns auf die Stärken, die uns im Sport und in
der Politik gegeben sind, konzentrieren und daran arbeiten, diese auch umzusetzen.
Walter Link ({6})
Nun komme ich zu einigen Schwerpunkten, die eine
große Rolle spielen, und zwar zunächst zum Ehrenamt.
Dazu ist hier einiges gesagt worden. Ich teile die Meinung
unseres Kollegen Link. Das Ehrenamt ist eine der Stützen
unseres Sports. Ohne Ehrenamt können wir weder im
Breiten- noch im Leistungssport solche Leistungen erzielen, wie sie in der Vergangenheit erzielt worden sind. Deshalb richte ich genau wie Herr Link meinen Dank und
meine Anerkennung an die Leute, die täglich ehrenamtliche Arbeit leisten.
({7})
Die Bundesregierung hat sehr frühzeitig den hohen
Stellenwert des Ehrenamtes erkannt. Es wurde eine Enquete-Kommission eingesetzt. Diese hat Hunderte von
Gesprächen, Symposien und Befragungen durchgeführt
und uns ein Werk zur Verfügung gestellt, in dem sowohl
die positiven als auch die negativen Seiten des Ehrenamtes bei uns enthalten sind. Nun gilt es, diese Dinge Schritt
für Schritt aufzuarbeiten, zu bewerten und in die Tat umzusetzen, und zwar mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und nicht mit irgendwelchen Hirngespinsten.
Ein Wort zum Nachwuchs: Auch dazu wurde heute
schon viel gesagt. Der Nachwuchs ist für den Spitzensport
von entscheidender Bedeutung. Wir haben jetzt in allen
Bereichen Nachwuchskonzepte entwickelt. Wir sind stolz
darauf, dass auch die Sportpolitik einen kleinen Beitrag
dazu leisten kann.
Wenn wir nicht nur die Weltmeisterschaften oder die
Olympischen Spiele, sondern auch die Weltmeisterschaften oder Europameisterschaften der Jugendlichen ansehen, stellen wir fest, dass unsere Sportler immer
in den vorderen Positionen sind und Goldmedaillen, Silbermedaillen und Bronzemedaillen erringen. Wir sind
also auch auf dieser Ebene auf dem richtigen Weg. Ich
denke, daran sollten wir weiter arbeiten.
Heute wurde mehrfach die PISA-Studie erwähnt. Auch
ich bin der Meinung über das, was schon die alten Lateiner erkannt haben: mens sana in corpore sano, also ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Deshalb bedauere ich wie die Kollegen, die vor mir gesprochen haben,
dass man darauf in der PISA-Studie überhaupt keinen
Wert legt, obwohl überall immer davon gesprochen wird,
dass wir in der Schule dafür mehr tun müssen. Es wäre an
der Zeit, dass die PISA-Studie in allen Ländern das
körperliche Befinden der Jugendlichen, die in die
Schule gehen, untersucht.
({8})
Herr Kollege Sorge,
jetzt wäre es langsam Zeit, dass Sie zum Ende kommen.
Frau Präsidentin, ich möchte
mich am Schluss bei all meinen Kollegen, die mit mir in
den zurückliegenden zwölf Jahren gestritten haben, bedanken. Wir waren nicht immer einer Meinung und waren
über den Weg, den wir gehen wollen, unterschiedlicher
Auffassung. Aber es war immer eine faire Auseinandersetzung. Dafür möchte ich allen danken. Denjenigen, die
weiterhin im Bundestag arbeiten, möchte ich viel Erfolg
wünschen, dass all die Dinge umgesetzt werden, die wir
heute benannt haben.
Vielen Dank.
({0})
Herr Kollege Sorge,
Sie hören es am Applaus im ganzen Hause: Es ist ein symbolisches Dankeschön für Ihre zwölfjährige Tätigkeit im
Deutschen Bundestag. Dies war Ihre letzte Rede. Wir
wünschen Ihnen viel Erfolg für den neuen Lebens- und
Arbeitsabschnitt.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Sportausschusses zur Drucksache 14/9327 zu
dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zu
ihrer Großen Anfrage mit dem Titel „Sicherung der Zukunft der Vereine durch wirtschaftliche und bürokratische
Entlastung - Erhöhung der Gestaltungsmöglichkeiten
und Freiräume“. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/8035 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der
PDS angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Sportausschusses auf Drucksache 14/6122 zu dem 9. Sportbericht der Bundesregierung.
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des Sportberichts
auf Drucksache 14/1859 eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei
Enthaltung der PDS angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung des 10. Sportberichts auf Drucksache 14/9517 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe Einverständnis im gesamten Hause. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses
({1})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen
Bundestag
Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des
Deutschen Bundestages im Jahr 2001
- Drucksache 14/9146 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Am Pult hat bereits die
Vorsitzende des Petitionsausschusses, Heidemarie Lüth,
Stellung bezogen.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor allem liebe Bürgerinnen und Bürger auf der Tribüne und im ganzen Land! Ich
wende mich zunächst an Sie; denn Sie haben in den
vergangenen Jahren hohes Vertrauen in unsere Arbeit gesetzt. Sie haben darauf vertraut, dass der Petitionsausschuss der Ort sein möge, der Ihnen Hilfe bringt.
In der vergangenen Wahlperiode haben sich
960 000 Menschen einzeln, in Massenpetitionen oder per
Unterschrift an den Petitionsausschuss, an uns gewandt.
Sie haben darauf gehofft, dass ihnen die Abgeordneten
des Bundestages und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusses mit hoher Sachkenntnis, Engagement
und Zielstrebigkeit zu ihrem Recht verhelfen. Um das zu
erreichen, haben die Kolleginnen und Kollegen eine
ganze Reihe von Arbeitsweisen verändert, um für sie
noch besser wirksam werden zu können. Dazu gehört im
Einzelnen:
Erstens. Wir müssen bekannt und erreichbar sein. Wenn
wir Sie, liebe Petentinnen und Petenten, schon nicht alle
persönlich kennen lernen können, soll das doch wenigstens per Internet möglich sein. Deshalb ist die Startseite
des Petitionsausschusses neu gestaltet worden. Sie können
sich dort einen schnellen Überblick über Regularien und
Aktuelles verschaffen und finden ein Formular, das es Ihnen ermöglicht, sich sehr schnell an uns zu wenden.
Zweitens. Der lesende Zugriff auf die Petitionsdatenbank führt für die Abgeordneten und vor allem für unsere
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bis in die Wahlkreise hinein zu einer Verbesserung der Arbeitsabläufe. Allerdings
ist das nichts für Technikmuffel.
Drittens. Die Beherrschung der Datenbank wird in den
kommenden Jahren weiter vervollkommnet. Das wäre
auch jetzt schon möglich. Wenn uns die Ministerien ihre
Stellungnahmen als Datei übermitteln würden, müssten
sie nicht eingescannt werden.
Viertens. Der Ausschuss hat im vergangenen Jahr die
ihm mit den Befugnisrechten gegebenen Möglichkeiten
weitgehend ausgeschöpft. Ich denke dabei an die vielen
Berichterstattergespräche, die gemeinsamen Beratungen
der Obleute, Aktenvorlagen, die Ladung von Regierungsvertretern und Ortsbesichtigungen.
Wir haben festgestellt, dass es genau diese Mischung
aus allem war - auch wenn damit eine zusätzliche Arbeitsbelastung verbunden war -, mit der vieles zum Erfolg
geführt wurde. Das ist aber keine Arbeit für Parlamentsazubis, sondern dabei handelt es sich um Sacharbeit, die
der Arbeit der Fachausschüsse das Wasser reichen kann.
Diese Arbeit erfordert Erfahrung, Wissen, Kreativität und
die Erarbeitung von Argumentationsketten.
({0})
Fünftens. Wenn wir davon überzeugt sind, dass in den
Ministerien und Behörden, die den Ministerien zugeordnet sind, der Amtsschimmel mehrmals am Tag wiehert
und dass die Blüten der Bürokratie sprießen, und wenn die
Bearbeitung einer Bürgerangelegenheit deutlich macht,
dass ein Gesetz falsch angewendet worden ist, dann kann
es uns nicht nur darum gehen, im Parlament einen Beschluss zu fassen, sondern dann muss es darum gehen, gemeinsam mit der Regierung die Umsetzung dieses Beschlusses zu erreichen.
({1})
Das ist uns in der gemeinsamen Arbeit im vergangenen
Jahr besonders gut gelungen. Dafür bedanke ich mich bei
den Kollegen der Koalitionsfraktionen; denn das ist nicht
einfach.
({2})
Mit der gemeinsamen Lösung der einzelnen Fälle verbinden wir natürlich die Erwartung, dass in den Behörden
Vorsorge dafür getroffen wird, dass die aus diesen Einzelfällen abzuleitenden Schlussfolgerungen auch tatsächlich gezogen werden, sodass die alten Probleme nicht erneut auftreten.
Sechstens. In der ablaufenden Wahlperiode gab es eine
ganze Reihe von Bitten zur Gesetzgebung, deren Zahl
im Verhältnis zu den Beschwerden gleich geblieben ist.
Das ist ein gutes Zeichen für das bürgerschaftliche Engagement und dafür, dass Bürger an der Politik teilhaben
wollen. Darauf müssen wir unsere Arbeit im Petitionsausschuss ausrichten.
Siebtens. Nicht nur Bitten, sondern auch Beschwerden
geben uns Anlass, unsere eigene Gesetzgebung kritischer
und selbstkritischer zu hinterfragen und sie in einen
größeren Zusammenhang zu stellen. Denn Petitionsarbeit
ist seit jeher auch eine retrospektive, das heißt eine
zurückblickende Gesetzesfolgenabschätzung. Wenn wir
sie in der nächsten Wahlperiode ordentlich durchführen
wollen, brauchen wir auch die vorausschauende Gesetzesfolgenabschätzung der Regierung, zu der sich die Koalition in verschiedenen Bereichen auch bereits verpflichtet hat.
Achtens bedarf es einer verbesserten Zusammenarbeit mit den Fachausschüssen. Wenn nämlich die Fachausschüsse ihre Beschlussempfehlungen den Bürgern
genauso mitteilen müssten wie wir die Beschlussempfehlungen des Ausschusses, dann würden sie die
Petitionen in ihren Beschlussempfehlungen wenigstens
erwähnen und angeben, welches Anliegen aus der Petition
tatsächlich aufgegriffen wurde bzw. warum welche Anliegen nicht aufgegriffen werden konnten. Wenn es schon
in der Vergangenheit so war, kann es zumindest in der
nächsten Wahlperiode nicht mehr so bleiben.
({3})
Zum Ende dieser Wahlperiode, in der ich die Vorsitzende dieses Ausschusses war, gilt mein Dank besonders
allen 29 Mitgliedern des Ausschusses und vor allem auch
allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes für ihren Einsatz, ihre große Fachkenntnis, ihr
Engagement und vor allem auch für ihr Drängen. Ich bedanke mich auch bei den vielen Petentinnen und Petenten
für ihre Eingaben; denn sie sind ein lebendiger und unverzichtbarer Beitrag zur Demokratie.
Leider wird es nicht möglich sein, in der nächsten
Wahlperiode im Petitionsausschuss mit dem gleichen
Stamm von Kolleginnen und Kollegen zu arbeiten. Ich bedauere ganz besonders und ausdrücklich, dass die langjährige stellvertretende Vorsitzende, Frau Jutta Müller,
nicht mehr dabei sein wird. Ich bedauere genauso, dass
die Kollegin Deichmann und der Kollege Hiller von der
SPD-Fraktion, der Kollege Pfeifer von der CDU/CSUFraktion, der Kollege Wilhelm und die Kollegin
Buntenbach von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen nicht mehr im Ausschuss sein werden. Aber den
Angstschweiß treibt es mir ins Gesicht, dass der Kollege
Bernd Reuter nicht mehr dabei sein wird. Ich weiß noch
gar nicht, wie wir manche Ausschusssitzung und die Bearbeitung so mancher Petition ohne ihn gestalten werden.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt spricht für die
SPD-Fraktion der Kollege Klaus Hagemann.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Über den Jahresbericht des Petitionsausschusses diskutieren wir jetzt genau
um 14.30 Uhr, also zu einer Randzeit, obwohl doch das
Petitionsrecht ein wichtiges Recht ist, ein Grundrecht sogar - es ist in Art. 17 des Grundgesetzes niedergelegt -,
und obwohl gerade durch das Petitionsrecht immer wieder der direkte Kontakt zwischen den Bürgerinnen und
Bürgern auf der einen Seite und dem Parlament auf der
anderen Seite hergestellt werden kann. Es geht darum,
dass wir die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger aufgreifen und bearbeiten, den Petenten ernst nehmen und
sein Anliegen nach vorn bringen. Das trägt sicherlich mit
dazu bei, dass die Akzeptanz des Parlamentarismus und
der Demokratie verbessert wird. Hierbei geht es also um
ein wichtiges Element der Demokratie.
Ich bin in dieser Wahlperiode zum ersten Mal Mitglied
des Petitionsausschusses geworden. Was mich beeindruckt hat, ist die kollegiale Zusammenarbeit über die
Parteigrenzen hinweg, ist die Tatsache, dass das Anliegen
des Petenten oder der Petentin im Mittelpunkt der Auseinandersetzung und der Arbeit steht.
15 765 Eingaben sind im vergangenen Jahr an den Petitionsausschuss gerichtet worden. Das sind rund 5 000 Petitionen oder ein Viertel weniger als im Jahr davor. Das ist
die niedrigste Zahl von Petitionen seit 1989. In der Debatte des vergangenen Jahres hat der Kollege Deittert wie
folgt argumentiert: Dass so viele Petitionen eingereicht
worden sind, hängt sicherlich damit zusammen, dass die
Bevölkerung mit der Regierungspolitik unzufrieden ist.
Wenn ich Ihren Gedankengang weiterspinne, sehr geehrter Kollege Deittert, dann muss ich sagen: Die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Regierungs- und
Verwaltungsarbeit ist kräftig gestiegen.
({0})
Das ist sicherlich gut so. Wir sind da - das möchte ich
noch einmal unterstreichen - auf einem guten Weg. Im
Gegensatz dazu beobachten wir bei Ihnen - wer die Sportdebatte verfolgt hat, wird das festgestellt haben -, dass unser ganzes Land und alles, was hier geschieht, schlecht geredet wird, mies gemacht wird, dass Misstrauen gesät
wird und Verunsicherung betrieben wird. Das ist nicht der
richtige Weg. Das wollen auch die Bürgerinnen und Bürger nicht. Deswegen sollten wir so verfahren, wie wir es
im Petitionsausschuss tun.
Ich möchte das am Beispiel der Ökosteuer deutlich
machen. Über dieses Thema wurde sehr oft diskutiert. Es
lagen mehrere Petitionen dazu vor. Darüber wurde heftig
- heftig im Vergleich zur Gesamtstimmungslage im Petitionsausschuss - gestritten. Sie, verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der Union, haben sehr nachdrücklich gefordert, die Ökosteuer abzuschaffen. Jetzt liest man, dass Sie
die Ökosteuer gar nicht abschaffen wollen.
({1})
Sie wollen zwar die fünfte Stufe nicht realisieren, aber Sie
wollen sie nach Ihrem Programm bestehen lassen,
({2})
weil auch Sie erkannt haben, dass die Ökosteuer zur Finanzierung der Rentenversicherung wichtig ist, weil Sie
keine Alternative dazu haben und weil es ein sinnvoller
Schritt gewesen ist.
Es ist auch gut gewesen, dass wir im Petitionsausschuss mit den Landesparlamenten und deren Petitionsausschüssen sowie den Gremien auf EU-Ebene zusammengearbeitet haben. Dadurch konnte einiges erreicht
werden. Lassen Sie mich das an einem Beispiel deutlich
machen. Bei den gefährlichen Frontschutzbügeln an
Kraftfahrzeugen, den so genannten Kuhfängern, haben
wir aufgrund einer Petition, die bei uns eingereicht wurde
und die wir nach Brüssel weitergegeben haben, erreicht,
dass über ein Verbot nachgedacht wird. Hier wird eine andere EU-Richtlinie geschaffen und sogar die Industrie hat
Verbesserungen zugesagt. Hier ist ein Erfolg des Petitionsausschusses deutlich festzustellen und es zeigt sich
auch, dass etwas bewegt werden kann.
({3})
Eine Reihe von Petitionen hätte eigentlich gar nicht geschrieben werden müssen, wenn, wie Frau Kollegin Lüth
eben gesagt hat, der Amtsschimmel nicht so gewiehert
hätte und wenn die ausführenden Stellen und Verwaltungsbehörden ihren Spielraum, der nach dem Gesetz immer gegeben ist, etwas mehr genutzt hätten, wenn sie flexibler gewesen wären. Das heißt aber nicht, dass sie nach
Beliebigkeit hätten entscheiden sollen, sondern sie sollten
ihren Spielraum nutzen. Petitionen wären auch vermeidbar
gewesen, wenn man - diese Forderung ist sicherlich allgemein an die Administration zu richten - eine verständlichere Sprache gesprochen und geschrieben hätte, sodass
man hätte nachvollziehen können, was gemeint ist, und
nicht nur Juristen mit Einserdiplom diese Sprache verstehen. Das ist eine Forderung an die Regierung, die sie auch
an die nachgeordneten Behörden weitergeben sollte.
({4})
Der Petitionsausschuss war immer wieder auch Vermittler, wenn man in unterschiedlichsten Situationen in
eine Sackgasse geraten war. Das war oft nur durch Nachhaken und durch Bohren, aber auch durch Gespräche vor
Ort oder durch Akteneinsicht möglich. Ich will dazu einige Beispiele aus diesem Jahr nennen; sie beziehen sich
nicht auf das vergangene Jahr.
In einem Fall geht es um das Abschalten des US-Senders
im oberbayerischen Valley wegen der Strahlenbelastung.
Dazu hatten wir mehrere Sitzungen mit verschiedenen Regierungsvertretern. Schließlich konnte die Angelegenheit
auf Druck des Petitionsausschusses weiterverfolgt werden.
In einem anderen Fall hat sich die Kollegin Jutta Müller
- ich bin dankbar, dass sie noch hier ist - besonders engagiert. Es ging um die Rückübertragung einer ehemaligen
Firma im sächsischen Chemnitz auf den Altbesitzer. Die
Kollegin Müller hat mehrfach - man kann fast sagen, penetrant - nachgebohrt und zusammen mit den Kolleginnen
und Kollegen Berichterstattern auch eine Lösung gefunden. In diesem Fall war Akteneinsicht gefordert. Wir
haben gehört, dass drei Abgeordnete 30 Aktenordner
durchblättern mussten. Durch die Penetranz hatten wir
schließlich Erfolg im Interesse des Petenten.
Ich will noch einen Fall aus dem bayerischen Wahlkreis Fürth aufgreifen, in dem es um eine Lärmschutzmaßnahme an einer Bundesstraße ging. Auch hier konnten die Interessen eines Einzelnen gegen die bayerische
Straßenverwaltung durchgesetzt und dadurch konnte dem
Petenten zu seinem Recht verholfen werden. Er hatte sogar noch Schwierigkeiten, weil er es überhaupt gewagt
hatte, eine Petition einzureichen. Aber es konnte ihm geholfen werden.
Kollege Hiller, lassen Sie mich noch einmal die unendliche Geschichte der Ortsumgehung Ratzeburg ansprechen, mit der wir uns seit Jahrzehnten beschäftigen.
Dieser Fall ist ein deutliches Beispiel für das Beharrungsvermögen von Verwaltungen. Bisher haben wir trotz der
drei Beschlüsse im Petitionsausschuss immer noch keine
endgültige Lösung gefunden. Kollege Hiller wird leider
aus dem Parlament ausscheiden, aber ich kann dir versichern, dass wir an diesem Thema auch in der nächsten Legislaturperiode mit Penetranz dranbleiben werden und
dann hoffentlich zu einer Lösung im Interesse der Bürgerinnen und Bürger kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte
ich natürlich auch die positiven Seiten herausstellen und
dafür zwei Beispiele anführen. Es geht zunächst einmal
um das Kindergeld für diejenigen, die anstelle des Zivildienstes einen anderen Dienst im Ausland leisten. Hier haben wir durch Petitionen in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung - liebe Kollegin Dr. Niehuis, dafür haben wir
sehr lange gekämpft - erreicht, dass für diejenigen, die diesen anderen Dienst leisten, Kindergeld gezahlt wird.
Positiv zu erwähnen ist auch Folgendes: Ein junger
Mann, der lange Zeit arbeitslos war, wurde, unmittelbar
nachdem er eine Arbeitsstelle gefunden hatte, zum Wehrdienst einberufen. Das Verteidigungsministerium - man
kann es sich kaum vorstellen - konnte kurzfristig von einer
anderen Lösung überzeugt werden. Dass das erreicht
wurde, ist ein Ergebnis der Arbeit des Petitionsausschusses.
Jetzt müssen Sie wirklich zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Ich will mich dem Dank anschließen, den die Vorsitzende
des Petitionsausschusses schon ausgesprochen hat. Ich darf
mich insbesondere den Kolleginnen und Kollegen meiner
Fraktion zuwenden, die dem Deutschen Bundestag leider
nicht mehr angehören werden: Jutta Müller, die stellvertretende Vorsitzende, Frau Deichmann, der Kollege Hiller und
Bernd Reuter. Bernd, du wirst uns in der nächsten Legislaturperiode fehlen. Du hast die Arbeitsgruppensitzungen immer sehr ordentlich und sehr freundschaftlich geleitet, wodurch es zu einer guten Atmosphäre kam.
Herzlichen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschusssekretariats!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Sie machen es mir mit
Ihren langen Dankesreden sehr schwer; denn ich unterbreche diese Reden ungern.
Nächster Redner ist der Kollege Hubert Deittert für die
Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nach nur einem halben Jahr debattieren wir erneut in diesem Hohen
Hause über einen Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses. Ich begrüße es, dass wir es dieses Jahr in gemeinsamen Anstrengungen geschafft haben, die Debatte
über den Jahresbericht kurz nach dessen Fertigstellung
und Übergabe an den Bundestagspräsidenten zu führen.
Lassen Sie mich ganz kurz ein paar Gedanken zur Bedeutung des Ausschusses äußern. Ich denke, die Väter unseres Grundgesetzes haben mit der Einrichtung des Petitionsausschusses einen guten Schritt getan. Durch ihn
haben unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass ihre Probleme direkt an das
Parlament herangetragen werden und in die entsprechenden parlamentarischen Beratungen einfließen. Ich halte es
für außerordentlich positiv, dass die Anregungen zur Gesetzgebung immer mehr werden und dass wir dadurch
wichtige Bausteine für die Gesetzgebungsarbeit erhalten.
Ich glaube, dass der Petitionsausschuss insgesamt eine
gute Arbeit geleistet hat.
Ich will mich ein wenig auf die abgelaufene Wahlperiode und nicht allzu sehr auf das abgelaufene Jahr beziehen. Lassen Sie mich daher eine Vorlage nutzen, die der
Kollege Hagemann gegeben hat. Um die Anzahl der Petitionen zu verdeutlichen, habe ich im vergangenen Jahr ein
Bild entworfen. Sie sind heute anders vorgegangen. Vielleicht ist es so, dass die Bürger es aufgegeben haben, mit
Kleinigkeiten an diese Regierung heranzutreten. Sie wollen eine grundsätzliche Lösung und die wird es am
22. September geben.
({0})
Ich will das gute Miteinander in diesem Ausschuss besonders herausstellen. Dort ist es in der Tat so, dass wir
über Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam
nach der Lösung von Problemen in persönlichen Angelegenheiten, von Einzelnen oder von Gruppen suchen. Es ist
gut, dass wir wirklich ohne irgendwelche Scheuklappen
vernünftig an der Lösung von Problemen arbeiten.
Ich habe mir allerdings manchmal die Frage gestellt,
ob es denn der Bundesminister des Innern zu schätzen
weiß, dass er in Fragen des Asyl- und Aufenthaltsrechts
bei uns, also in der Union, stärkere Unterstützung als in
den Koalitionsfraktionen hat.
({1})
Diese Frage lasse ich einfach einmal so im Raum stehen.
Ich will nur andeutungsweise einige Themenfelder
nennen. In den vergangenen Jahren hat vor allem das
Thema Ökosteuer - Herr Kollege Hagemann, Sie haben
es angesprochen - eine Rolle gespielt. Daran wird deutlich, dass mit dieser Regelung der Nerv des Volkes getroffen wurde. Von dieser Steuer sind die Schwachen in
der Gesellschaft wirklich massiv betroffen. Bei Abstimmungen über Petitionen, die dieser Einsicht Rechnung
trugen, war es leider so, dass die Vertreter von Rot-Grün
ihrer Linie sehr treu waren, sodass wir von der Union
zweiter Sieger blieben.
({2})
Aus dem Bereich des Verkehrs will ich zwei Beispiele
anfügen. Wir haben uns in vielen Fällen mit Fragen des
Verkehrslärms auseinander gesetzt. Wir haben für die damit zusammenhängenden Probleme keine zufrieden stellenden Lösungen. Wir werden noch über Jahre an diesem
Problem arbeiten müssen, vor allem da, wo es sich um
Bundesautobahnen oder Bundesstraßen handelt, die vor
1974 planfestgestellt worden sind. Das wird eine Aufgabe
für die nächste Legislaturperiode sein, nicht nur für den
Petitionsausschuss, sondern auch - weil es sich um eine
grundsätzliche Frage handelt - für den Verkehrsausschuss.
Ich will einige Dinge, in die wir bei Ortsterminen Bewegung haben bringen können, ansprechen. Herr Kollege, Sie haben die Ortsumgehung Ratzeburg angesprochen. Ich denke, es hat sich hier wieder einmal
gezeigt, dass es richtig ist, in brisanten Fällen auch einmal
einen Ortstermin durchzuführen und vor Ort mit den
Menschen und den Betroffenen zu sprechen. Wir haben
hier die Fronten aufweichen können. Es wird intensiv an
Alternativlösungen gearbeitet. Ich hoffe, dass auch der
Bundesrechnungshof seinen Vorbehalt aufgeben wird
({3})
- das ist schon einmal schön - und wir zu einer vernünftigen Lösung kommen.
Ich nenne eine Bundesautobahn in Sachsen, die A 72.
Da konnten wir gemeinsam mit dem Petitionsausschuss
des Sächsischen Landtages erreichen, dass jetzt einvernehmlich an einer Linienführung gearbeitet wird. Ich
denke, das ist ein sehr gutes Zeichen.
Ich möchte hier auch einen nachdenklichen Ton anschlagen. In Verfahrensfragen bestand zwischen uns
bisher eigentlich immer Einvernehmen. Es war leider in
der letzten Zeit so, dass ein geplanter Ortstermin nicht zustande kam und dass ein schon gefundener Kompromiss
doch wieder infrage gestellt wurde. Ich mache die Ursache dafür ein wenig an der Nervosität, die vor Bundestagswahlen herrscht, fest und hoffe, dass das in Zukunft
wieder besser ablaufen wird.
Meine Damen und Herren, Danke möchte ich heute
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschussdienstes sagen. Angesichts der Tatsache, dass eine große
Zahl von Mitarbeitern gewechselt hat und viele von
Tauschbehörden hier in Berlin zu uns gekommen sind, ist
es umso höher zu bewerten, dass die Arbeit insgesamt reibungslos vonstatten gehen konnte.
({4})
Danke möchte ich auch den Kolleginnen und Kollegen
im Ausschuss sagen. Ich nenne hier stellvertretend zwei
Namen: einmal aus meiner Fraktion den Kollegen Anton
Pfeifer, der über die Fraktionsgrenzen hinweg, von allen
anerkannt, eine wichtige Arbeit leistete, und den verehrten Kollegen Bernd Reuter, mein direktes Gegenüber in
vielen Fällen. Wir haben trotz mancher Differenzen eine,
wie ich denke, sehr gute Zusammenarbeit pflegen können. Dafür möchte ich herzlich danken. Ich hoffe, dass
auch in der nächsten Wahlperiode das Klima im Ausschuss gleich bleibt.
({5})
Wir sollten uns Gedanken machen, ob wir in der nächsten Wahlperiode die Verfahrensgrundsätze überarbeiten.
Es wurde ja mit ganz großer Mehrheit festgehalten, dass
am Petitionsrecht keine Veränderungen vorgenommen
werden sollen. Wir sollten unbefangen die Verfahrensgrundsätze überprüfen und uns überlegen, ob wir da etwas
tun müssen.
Abschließend kann ich unsere Mitbürgerinnen und
Mitbürger nur ermuntern, ihre Probleme an das Parlament
heranzutragen, denn hier fallen sie auf fruchtbaren Boden.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Helmut Wilhelm für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch ich möchte am Anfang meiner Rede danken. Ich tue dies auch ausdrücklich im Namen meiner
Kollegin Annelie Buntenbach. Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Vorsitzende, für Ihre umsichtige, freundliche,
aber auch immer hartnäckige Verhandlungsführung, bei
Ihnen, den Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen im
Ausschuss, für die angenehme und außerordentlich
fruchtbare Zusammenarbeit und bei den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern in den Abgeordnetenbüros und den
Fraktionen, die im Hintergrund die parlamentarische Arbeit organisiert und vorbereitet haben.
Ganz besonders hervorheben möchte ich aber die gar
nicht hoch genug einzuschätzende Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ausschussdienstes.
({0})
Mit großem Fleiß und enormer Sachkunde setzen erst sie
uns Abgeordnete in den Stand, unsere Arbeit im Dienste
des Bürgers zu leisten.
Ich betone dies deshalb an dieser Stelle so ausdrücklich, weil die Lorbeeren zumeist andere ernten, nämlich
wir, die Politiker, die wir uns mit den Erfolgen gerne
schmücken. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
Ausschussdienst aber sehen nicht nur einen nie enden
wollenden Berg von Arbeit vor sich, sondern müssen oftmals auch die Prügel einstecken, die uns, den Abgeordneten, gelten. Darum noch einmal an dieser Stelle - ich
glaube, ich spreche im Namen aller Kollegen - meinen
herzlichen Dank.
Nun aber zum vorliegenden Jahresbericht. Meine Damen und Herren, der Jahresbericht des Petitionsausschusses ist Seismograph für die Stimmung in der Bevölkerung.
Er hat im zurückliegenden Berichtszeitraum deutlich ausgeschlagen. Dem Petitionsausschuss sind im Berichtszeitraum fast 25 Prozent weniger Eingaben zugegangen als
zuvor. „Die Zufriedenheit mit den Behörden und Gesetzen
in Deutschland hat im vergangenen Jahr zugenommen“,
({1})
interpretiert die Deutsche Presse-Agentur die Zahlen des
Jahresberichtes.
Diese Tatsache führt auch mich zu dem Fazit: Gut regiert ist halb beschwert. Wer sich bei der Politik einer Regierung und der sie tragenden Parteien gut aufgehoben
fühlt, hat weniger Grund, sich zu beschweren. In der Tat
sind viele Beschwerden und Eingaben aus den letzten Jahren hinfällig geworden, weil die Bundesregierung durch
entsprechende Gesetzesänderungen Abhilfe geschaffen
hat. Als Beispiele nenne ich die Forderung nach dem
Atomausstieg, das Klimaschutzprogramm - siehe die
massenhaften Petitionen zu den Ozonwerten -, das Naturschutzgesetz, die Erhöhung des Kindergeldes und die
Einführung der Elternteilzeit sowie die Gleichstellung
von gleichgeschlechtlichen Paaren. Das alles und noch
viel mehr lag einmal als Beschwerde auf dem Tisch des
Petitionsausschusses und ist heute Recht und Gesetz. Also
positiv erledigt.
Der Befund „Positiv erledigt“ findet sich auch im vorliegenden Jahresbericht immer wieder. Ich zitiere aus der
Kurzfassung:
Dieses Gesetz hat Verbesserungen für viele Betroffene gebracht.
Oder:
Dieses Gesetz hat einige Regelungen getroffen, die
den verschiedenen Forderungen der Petenten weitgehend entsprechen.
Meine Damen und Herren, da also die Forderungen der
Bürger aufgegriffen wurden, ist es nur logisch, dass sich
auch die Zahl der Bitten zur Gesetzgebung fast halbiert
hat. Der Ausschuss und die Bundesregierung haben gute
Arbeit geleistet.
Aber wir wollen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen; denn der Jahresbericht ist auch ein Leitfaden für
besseres Regieren, weil er auf Fehler aufmerksam macht.
Aus Fehlern wird man bekanntlich klug; das gilt auch für
Parlament und Regierung. Im Petitionsausschuss kommen diese Fehler ans Licht. Oder hätten Sie etwa gewusst,
dass ein Lebensretter der DLRG, der bei der Bergung eines Schwimmers seine teure Brille verliert, diese nicht
von der gesetzlichen Unfallversicherung erstattet bekommt? Durch diese Petition sind wir erst auf die unglaubliche Tatsache aufmerksam geworden, dass ausgerechnet
ehrenamtliche Helfer einen geringeren Versicherungsschutz genießen als jene, die ohne eine solche Zugehörigkeit helfend tätig werden.
Aber der Petitionsausschuss bringt auch Innovatives ans
Licht. Er ist eine wahre Fundgrube guter Vorschläge der
Bürger. Der Petitionsausschuss ist das Forum des Dialogs
von Parlament und Bürgern. Das ganz Besondere aber ist:
Es bleibt nicht beim Dialog. Die Umsetzung zahlreicher
Anregungen der Petenten in den Gesetzen zeigt: Der Petitionsausschuss ist als Organ dieses Parlamentes eine starke
Lobby für die Menschen außerhalb des Parlamentes.
Beispielhaft zeigt sich dies beim „Kampf gegen die singenden Töpfe“ - so der „Münchner Merkur“ - der Bürger
von Valley gegen die Sendeanlagen des International Bureau of Broadcasting. Hier legt sich ein bayerisches Dorf
mit der US-Regierung an. Was zunächst harmlos begann
- fremdsprachige Radioprogramme drangen aus Kochtöpfen und Spülbecken -, endete böse. Die Menschen in Valley
klagen seit Jahrzehnten über chronische Kopfschmerzen,
Müdigkeit, Herzrhythmusstörungen und Krebs. Für die
Menschen dort ist klar: Schuld ist der Sender, der mit gewaltiger Stärke in den Nahen und Mittleren Osten strahlt.
Nach intensiven Ermittlungen ist auch der Petitionsausschuss zur Auffassung gelangt, dass in Valley Funkstille
herrschen muss. Der Bundestag hat mit diesem Beschluss
der Bundesregierung mit Blick auf die diplomatischen Beziehungen zu den USA keinen Gefallen getan. Aber der Petitionsausschuss hat sich klar positioniert. Er ist Lobby und
Anwalt der Bürger und nicht der Bundesregierung.
({2})
Wir haben die Regierung auch in anderen Fällen nicht
mit Kritik und Arbeitsaufforderungen verschont. 457-mal
haben wir Beschlüsse zur Erwägung gefasst. So viele Arbeitsaufträge gab es noch nie. Weitaus häufiger als bisher
haben wir auch Vertreter der Bundesregierung zum eindringlichen Gespräch vor den Ausschuss gebeten, wenn
wir den Eindruck hatten, dass die Regierung unseren Voten nicht folgen wollte.
Hartnäckig am Ball bleiben wir zum Beispiel bei einer
Petition zur UN-Kinderkonvention. Wir haben dazu zahlreiche Anhörungen und Gespräche mit dem Innenministerium durchgeführt und sind zu dem Ergebnis gekommen:
Die Rücknahme der Interpretationserklärung ist notwendig, um eine bestmögliche Umsetzung zu gewährleisten.
Das Innenministerium tut sich schwer, doch der Ausschuss
wird auch hier nicht lockerlassen.
({3})
Helmut Wilhelm ({4})
Meine Damen und Herren, um unsere Ziele durchzusetzen, verhandeln wir mit Ministerien, sprechen wir mit
Behörden und Amtsleitern. Oft gleicht unsere Arbeit im
Petitionsausschuss dabei einem innerparlamentarischen
Marsch durch die Institutionen. Aber dieser Marsch ist
auch häufig - nicht nur bei Gesetzen - von Erfolg gekrönt.
Ein Beispiel eines erst kürzlich positiv abgeschlossenen
Falles: Ein Petent ist 1939 im Wege des Kindertransportes
vor der Verfolgung durch die Nazis nach England geflohen.
Später wurde er englischer Staatsbürger. Nunmehr begehrt er aufgrund der Verfolgungszeiten Leistungen aus
der deutschen Rentenversicherung. Diese Ansprüche
standen ihm zweifelsfrei zu, aber - so teilte ihm die Landesversicherungsgesellschaft mit -, er könne die Rente nur
erhalten, wenn er sich wieder einbürgern lasse. Das war für
den noch immer traumatisierten Mann ein nicht zu erfüllendes Ansinnen. Dafür hatte der Petitionsausschuss Verständnis und es ist gelungen, eine Lösung zu finden.
Es sind diese Erfolge in den vielen, vielen Einzelfällen,
die uns als Abgeordneten die größte Befriedigung hinsichtlich unserer Arbeit im Petitionsausschuss schaffen;
denn jene Bürger sind Multiplikatoren. Jeder, dem von
uns geholfen werden kann, ist ein Argument für die Demokratie und gegen Politikverdrossenheit.
Wenn Eisbären reden könnten, würden vielleicht auch
Kenneth und Boris ein gutes Wort für den Petitionsausschuss einlegen,
({5})
zwei Eisbären aus dem einstigen Staatszirkus der DDR.
Heute jedoch vegetieren sie unter untragbaren Bedingungen in der Karibik. Ihre ehemalige Dompteuse hatte sich
mit der Bitte um Hilfe an uns gewandt. Die Petition hat
bereits jetzt dazu geführt, dass sich das BMU und das
Auswärtige Amt darum bemühen, wie den beiden Eisbären ein artgerechter Lebensabend verschafft werden
kann. Ich hoffe, dass der Befund im nächsten Jahresbericht lautet: Positiv erledigt - Eisbären gerettet!
Sie sehen, die Arbeit im Petitionsausschuss ist bunt und
vielfältig wie das Leben selbst. Er ist ganz nah dran an den
Dingen, die die Menschen bewegen. Der Petitionsausschuss ist durchaus an lebensnahen Lösungen interessiert.
Meine Damen und Herren, nach vier Jahren Arbeit im
Petitionsausschuss kann ich rückblickend sagen: Die Arbeit hat sich gelohnt und sie hat Freude gemacht. Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die gute Zusammenarbeit
und wünsche denjenigen, die sich auch in der nächsten Legislaturperiode wieder dieser mühseligen, aber beseligenden Arbeit widmen, von ganzem Herzen Glück und Kraft.
({6})
Diesen Wünschen,
Herr Kollege Wilhelm, schließe ich mich an, aber ich
möchte sie im Namen des gesamten Hauses an Sie adressieren, denn dies war Ihre letzte Rede hier. Alles Gute für
Sie für das Kommende.
({0})
Für die Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege
Dr. Karlheinz Guttmacher.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Auch im Jahr 2001 wandten sich viele Menschen unseres Landes an den Petitionsausschuss, um ihre Sorgen
und Nöte vorzutragen und um darum zu bitten, ihre Probleme zu lösen. Dem Bundestag wurden im Berichtszeitraum 2001 mit 15 765 Eingaben fast 24 Prozent weniger
Beschwerden als im Berichtsjahr 2000 angetragen. Mit
5 029 Petitionen erfolgten wie in den früheren Jahren die
meisten Eingaben zur Arbeits- und Sozialordnung.
Ebenso konnte der Petitionsausschuss dem Deutschen
Bundestag 103 Sammelübersichten übergeben.
Eine Sammelübersicht stellt die Forderung nach Gesetzesänderungen, die Handwerksbetrieben bei Konkurs
des Auftraggebers eine Vergütung der erbrachten Leistungen unabhängig vom Rang der Forderung sichern. Diese
Petition wurde von 6 718 Unterschriften getragen.
Die Forderung nach Neuordnung des Rentensystems in
Bezug auf die Rente wegen verminderter Erwerbstätigkeit
wurde von 90 000 Betroffenen eingebracht.
Die Kritik an der Regelung, dass ehemalige Angehörige der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der
DDR verschiedenen rentenrechtlichen Begrenzungen unterliegen, brachten über 32 000 Menschen zum Ausdruck.
({0})
700 Eingaben beanstanden, dass die in der ehemaligen
DDR im Gesundheits- und Sozialwesen Beschäftigten im
Zuge der Rentenüberleitung benachteiligt worden seien.
Mit diesen Petitionen wird insbesondere geltend gemacht, dass bei einem Rentenbeginn nach dem 31. Dezember 1996 der besondere Steigerungssatz von 1,5 Prozent gemäß Art. 2 § 35 des Renten-Überleitungsgesetzes
bei der Rentenberechnung keine Berücksichtigung mehr
findet. Die Dienstjahre der Rentnerinnen und Rentner, die
im Gesundheits- und Sozialwesen der ehemaligen DDR
gearbeitet hatten, wurden nach geltendem DDR-Recht
aufgrund des sehr geringen Gehalts mit dem Faktor 1,5
multipliziert, um so eine höhere Rente zu erreichen.
In anderen Petitionen wird kritisiert, dass bei älteren
Bestandsrenten, die zum 1. Januar 1992 auf das Rentenrecht der alten Bundesländer übergeleitet worden sind,
der erhöhte Steigerungssatz von 1,5 Prozent zwar von
dem Auffüllbetrag abgedeckt worden sei, dieser aber abgeschmolzen werde und nicht an der jährlichen Rentendynamik teilnehme. Dies gelte entsprechend für einen
Rentenzuschlag bzw. Übergangszuschlag bei einem Rentenbeginn 1. Januar 1992 bis 31. Dezember 1996.
Der erhöhte Steigerungssatz von 1,5 Prozent pro Arbeitsjahr wurde auch für die Beschäftigten der Deutschen
Reichsbahn und der Deutschen Post im Zusammenhang
mit der Überführung der betrieblichen Alterssicherungssysteme in die allgemeine Sozialversicherung, speziell in
das Rentenrecht der DDR, vorgesehen, wenn eine mindestens zehnjährige ununterbrochene Beschäftigung nachgewiesen wurde.
Helmut Wilhelm ({1})
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages, der diese Petitionen zur Stellungnahme nach § 109 GO überwiesen bekam, lehnte diese ab.
Die Petitionen wurden, ohne Aussicht auf Erfolg, abgeschlossen.
Ähnlich wie in der 11. bis zur 14. Wahlperiode werden
sich auch in der 15. Wahlperiode Petenten mit Petitionen
gleichen Inhalts an uns, den Petitionsausschuss, wenden.
Insofern sollte die Zusammenarbeit des Petitionsausschusses mit dem A-und-S-Ausschuss und dem zuständigen Ministerium noch enger werden, um zu Recht
geforderte Änderungen im Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz auf den Weg zu bringen.
Ich möchte allen Kollegen, die in den letzten vier Jahren im Petitionsausschuss zusammengearbeitet haben, für
die kollegiale und sehr sachspezifische Arbeit, die sie geleistet haben, auch im Namen meiner Fraktion den allerherzlichsten Dank aussprechen.
({2})
Frau Vorsitzende, ich möchte aber auch den Dank an
Sie zum Ausdruck bringen. Sie haben mit großem Geschick die Regie im Ausschuss geführt und dazu beigetragen, dass Probleme in Fairness im Sinne der Petenten
ausgetragen worden sind. Daran haben sich alle Ausschussmitglieder beteiligt. Aber Sie waren es, die uns zusammengeführt haben.
Ich darf mich auch im Namen meiner Fraktion bei allen Mitarbeitern des Ausschusssekretariats bedanken, die
uns in einer ausgesprochen soliden, hervorragenden und
sehr schnellen Arbeitsweise mit Daten beliefert haben, sodass wir die Petitionen schnell abschließen konnten.
({3})
Meine Damen und Herren, vier weitere Jahre hat der
Petitionsausschuss gut gearbeitet. Vier weitere Jahre haben sich alle Mitglieder des Ausschusses bemüht, den
Eingaben der Petenten so gut es ging gerecht zu werden.
Lassen Sie uns im gemeinsamen Geist Hüter eines der
wichtigsten demokratischen Mitwirkungsrechte sein!
({4})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Auf den ersten Blick
ist eine Petitionsakte eine Akte wie viele, die parlamentarische Geschäftsabläufe begleiten. Doch schon der zweite
Blick lässt erkennen, dass es hier um etwas ganz anderes
geht: kein innovatives Gesetzesvorhaben, kein mutiger
Entschließungsantrag, kein seitenstarker inhaltsreicher
Bericht.
Bei einer Petition befasst sich der Bundestag unmittelbar mit der Bitte oder der Beschwerde eines oder einer
Einzelnen. Kein anderer Weg ist so kurz, so direkt zwischen Individuen und Parlament. In der Tat können wir
stolz sein auf dieses Grundrecht und froh darüber, dass es
von so vielen in Anspruch genommen und mit Leben erfüllt wird.
Die Reden zum Vorjahresbericht beschreiben den Petitionsausschuss als „Sprachrohr der Bürger und zugleich
Hörrohr des Parlamentes“ - so hat es der Kollege Wilhelm
ausgedrückt -, als „vorgeschobenen Posten des Bundestages“ und „Sensorium für legislative Fehlentwicklungen“ so benannte es der Kollege Hohmann - und als „aktive
Schnittstelle zwischen dem demokratischen Parlament
und den sich in Form von Petitionen demokratisch engagierenden Bürgerinnen und Bürgern“; so hat es die Kollegin Lüth beschrieben. Diese zutreffenden Beschreibungen
bringen auf den Punkt, was das Besondere an diesem Ausschuss ist. Dass die Arbeit des Ausschussdienstes hervorragend ist, der Vorsitz klar, sachlich und herzlich wahrgenommen wird und das Arbeitsklima der Abgeordneten
kollegial und lösungsorientiert ist, konnte ich in der kurzen
Zeit meiner Zugehörigkeit feststellen. Wenn fast alle Rednerinnen und Redner das so formulieren, dann ist das wie
der Refrain eines guten Liedes, in dem die Essenz an Komplimenten enthalten ist, und die sind sehr wahrhaftig.
Allerdings erfuhr ich ebenso, dass der Petitionsausschuss eine Art Mauerblümchen-Gremium sei. „Graue
Maus unter den Bundestagsausschüssen“ und „nicht gerade der Nabel der Welt im Sinne des parlamentarischen
Universums“, so lauteten die Formulierungen in der Debatte zum letzten Bericht. Als „Nachgerückte“ bin ich
eher überrascht über dieses verhaltene Selbstbewusstsein
und den zurückhaltenden Respekt, mit dem die Nichtausschussmitglieder unter den Parlamentariern den Petitionsausschuss würdigen. „Gut für Fleißige und/oder für
Neue“, so ließe sich das zusammenfassen.
Zutreffend ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Petitionen machen Arbeit. So ist das auch gedacht. Oftmals
haben Petitionen einen langen, schwierigen, konfliktreichen Vorlauf. Vielfach fühlen sich Petenten und Petentinnen mit ihrer Sicht der Dinge überhaupt nicht verstanden
von Ämtern und Behörden. Deshalb ist es kein Wunder,
dass nahezu die Hälfte aller eingehenden Petitionen bereits durch Informationen und Hinweise, Rat und Auskunft erledigt werden können. Dies spricht sehr für die
Qualität unseres Ausschussdienstes. Aber was lernen wir
noch daraus? Unsere Verwaltungen sind immer noch
nicht bürgerfreundlich genug. Es mangelt meiner Meinung nach nach wie vor an Kundenorientierung.
({0})
Über die Zahl der Petitionen wurde bereits gesprochen.
Beispiele für erfolgreiche Petitionen haben wir auch
gehört; mögen sie auch nicht alle so spektakulär sein wie
jene, die unlängst einer ganzen Gemeinde in Bayern wieder Hoffnung gab, dass die Sorge um ihre Gesundheit
ernst genommen wird. Nein, es ist eher die Ausnahme,
dass eine öffentliche Feier am Ende eines erfolgreichen
Abschlusses einer Petition steht. Dennoch wiegt es nicht
weniger, wenn in Einzelfällen geholfen werden kann.
Was aber folgt aus jenen Petitionen - es sind nicht wenige -, denen nicht entsprochen werden kann, wo am
Ende ein für die Petenten enttäuschender Brief aus Berlin
kommt? Vielfach haben sie einen richtigen Kern, ein
nachvollziehbares Anliegen. Dennoch bleiben sie unter
der Schwelle, überwiesen oder zur Kenntnis gegeben
werden zu können. Ich finde sie jedoch hilfreich für die
parlamentarische Arbeit, bilden auch diese Petitionen Lebenswirklichkeiten ab, spiegeln sie Alltag wider, den wir
Abgeordnete politisch gestalten.
Seien wir einmal ehrlich: Brauchen wir nicht geradezu
Rückmeldungen über schwierige Lebenssituationen und
komplizierte Sachlagen, die Einzelne bedrücken, um ein
realistisches Bild vom Alltag in unserem Land zu bekommen? Ich überspitze kaum, wenn ich sage, dass das ausgeübte Petitionsrecht ein Segen für das Parlament ist.
Schon deshalb scheint mir die Arbeit eines Ausschusses
für Petitionen im Vergleich zu der eines Ombudsmanns
sinnvoller zu sein. Sie ist damit nicht nur nahe am Parlament, sondern mittendrin. In dieser Einschätzung sehe ich
mich bestätigt auch durch Gespräche im Rahmen der Ombudsmann-Konferenz im Mai dieses Jahres in Krakau.
Dort war auch eine Delegation unseres Ausschusses zugegen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, die Pflege der
internationalen Kontakte zu loben. Gerade die sich entwickelnden neuen Demokratien verdienen Unterstützung
im Aufbau ihres Petitionswesens, bei ihrer Gestaltung des
Zusammenwirkens von Nichtregierungsorganisationen
und Staat sowie bei ihrem Ringen um die Wahrung der
Menschenrechte insgesamt und in einzelnen Fällen.
({1})
Wir sollten auch zukünftig bereit sein, hier unsere Erfahrungen zur Verfügung zu stellen und, wenn gewünscht,
mit Rat und Tat zu helfen.
Doch zurück zu uns und dem Bericht des Jahres 2001.
Das Studium der älteren Berichte lässt erkennen, dass
Petitionsarbeit große Kontinuität innewohnt. So ist zum
Beispiel in den vergangenen Jahren das zahlenmäßige
Verhältnis von Petentinnen zu Petenten gleich geblieben:
ein Drittel zu zwei Drittel. Ich verzichte an dieser Stelle
auf eine Kommentierung dieses Sachverhalts. Wir kennen ihn aus vielen Lebenslagen in unserer Gesellschaft.
So ist das auch bei Petitionen. Ich wünschte mir, es wäre
anders.
Personelle Kontinuität aufseiten der Abgeordneten hat
wesentlich zu der erfolgreichen Arbeit des Ausschusses
beigetragen. Über viele Legislaturperioden Petitionsarbeit zu machen verdient große Anerkennung - nicht nur
wegen des bereits erwähnten erforderlichen Fleißes, sondern wegen der anhaltenden Bereitschaft, jede Petition als
die für den Petenten wichtigste anzunehmen und mit
großer Erfahrung nach Lösungen zu suchen.
Einige dieser Abgeordneten werden - das ist schon
vielfach angeklungen - in der nächsten Runde nicht mehr
dabei sein. Das wird ein Verlust. Sie werden uns fehlen.
Darüber kann auch kein modernes „PetKom-System“
hinweghelfen.
Meine letzten drei Sätze: Petitionsarbeit ist unverzichtbar; Petentinnen und Petenten sind wichtige Akteure in
unserer Demokratie. Je besser es uns gelingt, dieses klassische Instrument direkter Kommunikation zwischen
Bürgerinnen und Bürgern einerseits und Parlament andererseits populär zu machen, umso öfter können wir der
Parlamentsferne und Politikverdrossenheit abhelfen. Das,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ist doch wohl unser aller
Ziel.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Günter Baumann von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich 1998 neu in
den Bundestag kam, wurde ich für den Innen- und Petitionsausschuss nominiert. Dem Petitionsausschuss eilte
kein guter Ruf voraus. Erfahrene Kollegen warnten mich
vor einem großen Arbeitsaufwand; andere klagten über
die Komplexität der Themen, die bis in die letzten Verästelungen unserer Gesetzgebung gehen.
Nach vier Jahren Ausschussarbeit kann ich - das gilt
insbesondere für den Bericht des Jahres 2001 - eine positive Bilanz ziehen. Zum einen hat die Themenvielfalt ein
Gutes. In keinem anderen Gremium haben Abgeordnete
die Möglichkeit, die Sorgen und Nöte unserer Gesellschaft, zum Beispiel das Rentenrecht, das Gesundheitssystem, Fragen der inneren Sicherheit und vieles andere
mehr, so umfassend kennen zu lernen. Zum anderen sind
in diesem Ausschuss - für diese Erfahrung bin ich besonders dankbar - sachorientierte Lösungen über Parteigrenzen hinweg möglich, was in anderen Ausschüssen fast unmöglich ist. Das hängt zweifellos mit dem starken
Sachbezug der Petitionen selbst zusammen.
Bekanntlich wird das Petitionsrecht von den Bürgern
in den neuen Bundesländern weitaus intensiver genutzt
als von den Bürgern in den alten Bundesländern. Zum
Beispiel in Sachsen kamen im Jahr 2001 auf eine Million Bürger 397 Petitionen; in Nordrhein-Westfalen waren es 131. Probleme der Bürger aus den neuen Ländern
bilden so einen Schwerpunkt unserer Ausschussarbeit.
Als ostdeutscher Abgeordneter bekomme meist ich
diese ostdeutschen Petitionen zur Bearbeitung. Oft geht es
hierbei um unbewältigte Probleme der DDR-Vergangenheit, zum Beispiel um offene Vermögensfragen. So hat
sich der Ausschuss in dieser Legislaturperiode einmütig
für eine gesetzliche Regelung der so genannten stecken
gebliebenen Entschädigungen eingesetzt. Es handelt sich
hierbei um Entschädigungen für enteignetes Vermögen,
die von der DDR zwar zugesagt, aber nicht ausgezahlt
wurden. Die betroffenen Bürger haben bis vor kurzem
vergeblich auf die Auszahlung gewartet und dafür
gekämpft. Jetzt haben sie einen Rechtsanspruch.
Außerdem beschäftigen den Ausschuss immer wieder
vermögensrechtliche Streitfragen, die mit der ehemaligen
Treuhandanstalt zusammenhängen. Dabei kann der
Ausschuss von seinen ganz besonderen Rechten profitieren. Bei unklarer Sachlage kann er Akteneinsicht beantragen und er kann Sachverständige laden. Als wertvoll hat
sich hierbei herausgestellt, dass eine Kooperation unseres
Petitionsausschusses mit den Petitionsausschüssen in den
Bundesländern möglich war und auch praktiziert wurde.
({0})
Diese Möglichkeiten haben wir in einem Fall ganz besonders intensiv genutzt. Der mittelständische Betrieb eines betroffenen Petenten wurde 1972 enteignet. Obwohl
nach der Wende alle Voraussetzungen für eine Rückübertragung vorhanden waren, hat der Alteigentümer seinen
Betrieb nicht zurückbekommen. Dank der hervorragenden Kooperation aller Berichterstatter, der Mitarbeiter der
Büros der beteiligten Abgeordneten und des Ausschussdienstes war es uns möglich, Licht in das Dunkel dieses
Falles zu bringen. In monatelangen Verhandlungen mit
den zuständigen Behörden konnten wir den Weg für eine
Entschädigung frei machen.
Ich möchte mich vor dem Hintergrund dieses Falles bei
den Mitstreitern im Ausschuss - das Engagement ging
über Parteigrenzen hinweg - ganz herzlich für die erfolgreiche Zusammenarbeit bedanken. Hier konnten wir etwas erreichen.
({1})
Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, als ob
der Petitionsausschuss eine Harmonieveranstaltung sei
und immer die gleiche Meinung herrsche. Gerade in den
Problemfeldern, in denen die jetzige Regierung bereits
gesetzgeberisch tätig geworden ist oder Anträge der Opposition abgelehnt wurden, sind die Ausschussmitglieder
der Koalition leider meist nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Insbesondere zwei Petitionsverfahren, die typisch für die Probleme in den neuen Bundesländern sind,
scheiterten am Willen von Rot-Grün.
Erstes Beispiel: Eine Kreishandwerkerschaft aus Finsterwalde hat einen Lösungsvorschlag gemacht, wie der
mangelnden Zahlungsmoral von Auftraggebern auf dem
Bausektor entgegengetreten werden könnte. Die Koalition weigerte sich, der Regierung diese Petition zumindest
zur Kenntnis zu geben. Sie hielt das bestehende Gesetz
zur Beschleunigung fälliger Zahlungen bereits für vollkommen. Jeder weiß: Das Gegenteil ist der Fall. Gerade
im Osten summieren sich weiterhin in Millionenhöhe die
Außenstände mittelständischer Handwerksbetriebe und
es gibt für die Betroffenen noch keine hinreichenden Mittel, drohende Firmenpleiten zu verhindern.
Das zweite Beispiel: Viele Petenten aus den neuen
Ländern beklagen die Gerechtigkeitslücke zwischen Tätern und Opfern des SED-Regimes. Durch höchtsrichterliche Entscheidungen wurden die Rentenansprüche ehemaliger Partei- und Stasi-Funktionäre schon mehrmals
nachgebessert; für die Verfolgten dagegen sind echte Verbesserungen zum Beispiel im Rentenrecht so gut wie ausgeblieben. Viele Opfer haben daher mit Petitionen eine
„Ehrenpension“ gefordert. Diese von der CDU/CSU
schon seit längerem erhobene Forderung scheiterte an der
parteipolitischen Konstellation.
Trotzdem fällt meine Bilanz der Ausschussarbeit insgesamt positiv aus. Bei den meisten Petitionen ist der
Ausschuss auch im Jahre 2001 zu pragmatischen und parteiübergreifenden Lösungen gekommen. Er bietet so auch
den Abgeordneten der Opposition in diesem Ausschuss
mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten als in anderen Ausschüssen. Das Wichtigste aber ist: Der Petitionsausschuss
wird von den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes
angenommen. Das beweist die hohe Anzahl an Bitten und
Beschwerden, die wir jedes Jahr bekommen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Bernd Reuter, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wer mich kennt, wird
wissen, dass es mich jetzt reizen würde, auf das eine oder
andere Argument insbesondere von der CDU/CSU einzugehen. Aber ich bin heute milde gestimmt.
({0})
Das Petitionsrecht, das die Väter und Mütter unseres
Grundgesetzes in unserer Verfassung verankert haben, ist
ein substanzieller Bestandteil unserer Demokratie. Es ist,
wie wir schon gehört haben, auch zum Exportschlager geworden. Viele Vertreter anderer Länder kommen zu uns
und suchen Rat, wie sie auf dem Weg zu einer funktionierenden Demokratie ein solches Instrument in ihre Verfassung aufnehmen können.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Petitionsarbeit heißt: viele Akten und wenig spektakuläre Öffentlichkeitswirkung. Mein Büro hat einmal ermittelt,
dass ich in den 22 Jahren, die ich nun dem Petitionsausschuss angehöre, mehr als 10 000 Petitionsakten bearbeitet habe. Es ging darin nicht immer um menschliche
Tragödien, obwohl auch solche dabei waren. In der Regel
haben die Menschen Schwierigkeiten mit der Bürokratie;
sie überschauen sie nicht mehr. Da ist es ganz wichtig,
dass sie die Chance und das Recht haben, sich direkt und
unmittelbar an den Deutschen Bundestag zu wenden. Gewiss, es ist nicht immer möglich zu helfen, aber es ist ein
gutes Gefühl für Politiker, für Abgeordnete, sich den Interessen der Menschen zuzuwenden und für sie da zu sein.
({1})
Es ist heute Nachmittag schon darauf hingewiesen
worden, dass man die Verfahrensgrundsätze möglicherweise weiterentwickeln sollte. Ich bin der Meinung, dass
man darüber in der nächsten Legislaturperiode nachdenken muss. Der Petitionsausschuss darf nicht zu einem Superuntersuchungsausschuss werden, sondern er muss ein
Gremium sein mit dem gemeinsamen Ziel, Menschen in
schwierigen Situationen zu helfen. Ich möchte auch nicht,
dass eine Massenpetition bei der Behandlungsweise überbewertet wird; denn es ist meist der einzelne Mensch, der
hilflos vor großen Problemen steht und um Hilfe nachsucht.
({2})
Wir haben neue Wege beschritten; das ist schon angeklungen. Wir haben es mit dem erweiterten Berichterstattergespräch erreicht - auch dank der Bereitschaft
der Regierung, hier mitzuwirken -, gerade in den letzten
Monaten eine große Anzahl von schwierigen Problemen
zu lösen. Ich will dem Ausschuss für die Zukunft an die
Hand geben, einmal über das so genannte Gutachterwesen bzw. Gutachterunwesen nachzudenken. Bei diesem
Stichwort will ich es bewenden lassen.
Ich will noch einen Appell an Sie richten: Wir brauchen
in diesem Ausschuss ein festes Gerippe erfahrener Abgeordneter, aber auch die Dynamik der Jugend. Ich kann jedem jungen Abgeordneten nur empfehlen, eine Lehrzeit
in diesem Ausschuss durchzumachen. Wir haben in allen
Fraktionen hervorragende Leute, die einmal dem Petitionsausschuss angehört haben.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
noch einen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen richten, mit denen ich über so viele Jahre zusammenarbeiten
durfte. Sollte ich jemanden geärgert haben - das kam bestimmt mal vor -, bitte ich heute dafür um Verständnis.
Manchmal war es auch Absicht, bei dem einen oder anderen Ärger hervorzurufen.
Ich will wie Herr Guttmacher unserer Vorsitzenden,
der lieben Heidemarie Lüth, danken. Sie hat sich würdig,
mit Kompetenz, Menschlichkeit, Erfahrung und Engagement in die Ahnengalerie der Petitionsausschussvorsitzenden eingereiht. Ich bin noch von Lilo Berger, einer
Berliner Abgeordneten, geprägt worden.
({4})
Danach habe ich Dr. Gero Pfennig und Christa Nickels
und zum Schluss Heidemarie Lüth erleben dürfen. Dass
wir hin und wieder etwas Streit miteinander hatten, ist
heute vergessen. Ihr werdet mir alle - das will ich deutlich
sagen - sehr fehlen.
Mein Dank gilt dem Ausschussdienst und an dessen
Spitze Frau Dr. Freifrau von Welck, die in wenigen Wochen in den wohlverdienten Ruhestand gehen wird. Ich
möchte mich auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unseren Büros bedanken und hier insbesondere
meine persönliche Referentin Gretel Stein erwähnen, die
in unnachahmlicher Art und Weise immer wieder nachgeforscht hat, was bei den Petitionen wichtig ist und worauf
es ankommt.
({5})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich kann mir
nicht so recht vorstellen, wie der Petitionsausschuss seine
Arbeit ohne mich bewältigen wird.
({6})
Ich gehe aber davon aus, dass Sie das nach dem 22. September probieren werden, und meine menschliche Erfahrung sagt mir, dass es gut werden wird. Ich wünsche allen,
die weitermachen, viel Erfolg.
Ich möchte an dieser Stelle sagen: Die Arbeit im Petitionsausschuss hat mir immer großen Spaß gemacht, weil
ich den Menschen unmittelbar helfen und ihre Sorgen und
Nöte kennen lernen konnte. Ich wünsche mir, dass noch
viele Generationen von Abgeordneten diesen Spaß mit
mir teilen werden. In diesem Sinne sage ich allen, die weitermachen: Glück auf!
Ich darf Ihnen versprechen: Von mir werden Sie keine
Petition erhalten. Ich komme persönlich vorbei und
schaue nach dem Rechten.
Vielen Dank.
({7})
Dies war die letzte
Rede des Kollegen Bernd Reuter, der immerhin 22 Jahre
lang Mitglied des Hauses gewesen ist. Ein herzliches
Dankeschön und unsere guten Wünsche für die nächsten
drei oder vier Jahrzehnte!
({0})
Damit erteile ich der Kollegin Heidemarie Lüth das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe, dass ich in der nächsten Wahlperiode zu dem Teil gehöre, den Herr Reuter gerade als Gerippe bezeichnet hat. Ich stelle mir das sehr
erheiternd vor, wenn ich mich so im Spiegel betrachte.
Ich möchte gern als Vertreterin der PDS-Fraktion einige Gedanken zu dem Thema der Legislativpetitionen
äußern und alle anderen Dinge etwas aussparen. Die Arbeit des Petitionsausschusses ist deshalb so wichtig - das
ist schon gesagt worden -, weil wir es hier mit einer
Schnittstelle des Parlaments zwischen staatlichem Handeln und den Bedürfnissen der Bürger, die uns gegenüber
artikuliert werden, zu tun haben. Anhand der Petitionen
merken wir, woran es in der Gesellschaft fehlt. Wir konnten den Betroffenen durch unsere gemeinsame Arbeit in
vielen Einzelfällen Hilfe zuteil werden lassen.
Im Berichtszeitraum - Herr Guttmacher hat es schon
erwähnt - mussten etwa 30 Prozent der Petitionen an das
Ministerium für Arbeit und Sozialordnung und 9 Prozent
an das Ministerium für Gesundheit geleitet werden. Das
belegt, dass es mit der sozialen Gerechtigkeit aus Sicht der
Bürger noch nicht ganz so weit her ist, wie man sich das
gerne vorstellen würde. So war der Fortfall der Betriebsrenten wieder Gegenstand von Petitionen und zahlreiche
Eingaben - teilweise wurden sie von mehreren Tausend
Bürgerinnen und Bürger unterstützt - wandten sich gegen
die fortwirkenden Ungerechtigkeiten bei der Überleitung
der Altersversorgung. Dabei ging es um Beschäftigte
von Bahn und Post, um Beschäftigte im Gesundheitswesen, um ingenieurtechnisches Personal und um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Schwelereien, Kokereien
und in der Karbochemie.
({0})
Vor allem nach der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung, die ja entscheidende Verbesserungen für die Betroffenen brachte, gab es weitere Petitionen, um die letzten Lücken bei den Renten im Bereich der Überführungen
zu schließen.
Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten gibt es weiterhin im Vermögensrecht, insbesondere bei den Nutzungsverhältnissen und den Nutzungsentgelten für so geBernd Reuter
nannte Datschengrundstücke. Auch das Thema werden
wir in der nächsten Wahlperiode wieder bekommen.
Es gibt auch eine ganze Reihe von Petitionen - die leider abgeschlossen wurden - zu dem Thema Einmalzahlungen. Dabei konnte nicht berücksichtigt werden, dass
trotz bestandskräftiger Bescheide rückwirkend die Möglichkeit gegeben ist, Erstattungsanträge zu stellen.
Wir hatten auch eine ganze Reihe von Petitionen im
Bereich der Legislative - die auch negativ beschieden
wurden - mit denen sich Bürgerinnen und Bürger aus Ost
und West gegen die zunehmenden Kriegseinsätze der
Bundeswehr wandten. Ich meine, auch das ist von entscheidender Bedeutung, weil viele Bürgerinnen und Bürger dem Bundestag ihre eindeutige Meinung mitgeteilt
haben, dass für sie Terror kein Mittel zur Lösung von
Konflikten, der Krieg aber letztlich auch nicht das Mittel
zur Bekämpfung von Terror ist.
Einen hohen Stellenwert haben für uns Eingaben - das
hat auch schon der Kollege Wilhelm gesagt -, in denen es
um das Recht von Flüchtlingen auf Zuflucht und Aufenthalt in der Bundesrepublik geht. Es ist nicht nur ein großes
Ärgernis, sondern fast schon eine Schande, dass es nicht
gelingt, endlich die Rücknahme der Vorbehalte gegen das
volle Wirksamwerden der UN-Kinderrechtskonvention
zu erreichen, obwohl es hierzu bereits drei Beschlüsse des
Bundestages gibt.
({1})
Ich finde, wir machen uns als Parlament auch auf internationaler Ebene bald lächerlich, weil es uns nicht gelingt,
die Regierung zu veranlassen, diese Vorbehalte zurücknehmen.
Unabhängig von diesen inhaltlichen Fragen haben wir
es immer wieder damit zu tun, dass sich Bürger über die
Verwaltung, über die Handhabung von gesetzlichen Regelungen beschweren. Wir sollten uns einmal überlegen,
ob es nicht möglich ist, den „Kodex für gute Verwaltungspraxis“, den der Europäische Bürgerbeauftragte,
Herr Söderman, für die EU-Behörden aufgestellt hat,
auch für die deutsche Verwaltungsarbeit zu verwenden.
Es geht darum, dass die Verwaltungen nicht nur unbürokratisch, freundlich, fair und zuvorkommend handeln sollen, sondern dass sie gegenüber den Bürgern geradezu
dazu verpflichtet sind.
Wenn es für all die Probleme, die ich hier benannt habe,
häufig keine Lösung gab, so liegt das auch daran, dass
sich die politischen Unterschiede im Parlament zwischen
den einzelnen Fraktionen auch im Ausschuss widerspiegeln. Die können im Ausschuss nicht aufgelöst werden.
Aber ich möchte dennoch unterstreichen, dass auch der
PDS-Fraktion, einer kleinen Fraktion, eine sehr kollegiale
Arbeit mit den anderen Fraktionen möglich war, gerade
bei Verfahrensfragen. Wenn die PDS einen guten Vorschlag für die Bearbeitung von Petitionen hatte, war es
möglich, dass bei Sachfragen auch andere Kollegen zugestimmt haben. Auch dafür möchte ich mich im Namen
der PDS-Fraktion bei allen ganz herzlich bedanken, vor
allem natürlich bei den Kolleginnen und Kollegen des
Ausschussdienstes sowie bei allen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern meiner eigenen Fraktion, aber auch aller anderen Fraktionen, da man als Mitglied einer kleinen Fraktion sie ja auch konsultiert hat.
Vielen Dank
({2})
Nun hat das Wort die
Kollegin Marion Seib, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! In Anbetracht der vielen letzten
Reden des heutigen Tages traue ich mich kaum zu sagen,
dass dies meine erste Rede in dieser 14. Wahlperiode ist.
({0})
Mein Vorgänger im Petitionsausschuss, Herr Klaus
Holetschek, wurde im März dieses Jahres zum Bürgermeister von Bad Wörishofen gewählt. An dieser Stelle
möchte ich ihm für die im Ausschuss geleistete Arbeit
ganz herzlich danken.
({1})
Seit Anfang Mai bin ich nun selbst Mitglied im Petitionsausschuss. Bereits in der 13. Wahlperiode war ich dort
Mitglied und konnte einige wichtige Erfahrungen und
Eindrücke sammeln. Schon damals haben wir mit dem
Kollegen Reuter gut und intensiv zusammengearbeitet.
Aus meiner jahrzehntelangen kommunalpolitischen
Arbeit weiß ich, wie wichtig es ist, dass die Bürger eine
direkte Anlaufstelle für ihre Sorgen und Anliegen haben,
auch auf Bundesebene.
Die Bundespolitik wird häufig als etwas Abstraktes
wahrgenommen. „Die in Berlin machen doch, was sie
wollen“, hört man nicht selten. Gegen diese Haltung leistet der Petitionsausschuss einen sehr wertvollen Beitrag.
Er stellt eine Rückkoppelung zwischen den Bürgern und
uns Politikern her. Es müssen keine umfangreichen Formulare ausgefüllt werden. Nach wie vor reicht ein formloser Brief. Dies schafft man auch ohne Kenntnisse des
Internets. Auf dem kurzen Dienstweg des Petitionsausschusses, der manchmal etwas kürzer und schneller sein
könnte, kann so manches Problem rasch gelöst werden.
Ich bin erst seit sechs Wochen im Parlament, aber auch
in der Kürze der Zeit konnte ich mich von der wichtigen
und erfolgreichen Arbeit im Ausschuss überzeugen. Dies
möchte ich gern anhand einiger Beispiele aufzeigen: Den
Fall der Gemeinde Valley haben wir heute bereits umfangreich besprochen. In der Anhörung - dies habe ich
schon mitbekommen, weil die Akte bei mir auf dem Tisch
lag - kam es zu einigen Widersprüchen. Dadurch hat sich
der Eindruck aufgedrängt, dass die Regierung die Sorgen
der Bürger nicht wirklich ernst nimmt und sich lieber hinter dem pauschalen Argument der außenpolitischen Rücksichtnahme versteckt.
So hat zum Beispiel die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post Messungen der Abstrahlleistungen im Bereich der bewohnten Gebiete mehrfach
abgelehnt, weil diese amerikanische Anlage angeblich
nicht der technischen Überprüfung durch deutsche Stellen
unterliege. Demgegenüber sagt das Auswärtige Amt,
ohne Nachweis der unzumutbaren Beeinträchtigung sei
ein Eingreifen in den Nutzungsvertrag nicht möglich.
Nach dem nun erreichten Etappensieg durch die einstimmige Abstimmung im Petitionsausschuss bleibt zu hoffen,
dass sich die Bundesregierung nicht auch weiterhin hinter
außenpolitischen Argumenten versteckt, sondern im
Sinne der Petenten handelt. Aufgabe des Ausschusses in
der nächsten Legislaturperiode wird sein, hier hartnäckig
nachzuhaken und nachzufragen.
Lassen Sie mich zu einem anderen ernsthaften Thema
kommen, das häufig bei Petitionen aufgegriffen wird:
Aussiedler aus den GUS-Staaten. In den vergangenen
Monaten wurde viel über das Zuwanderungsgesetz diskutiert. Dabei sind die Probleme der Aussiedler eher in den
Hintergrund gerückt. Die strenge Quotierung der letzten
Jahre und die Einführung der Sprachtests vor der Übersiedlung nach Deutschland haben dazu geführt, dass eine
missbräuchliche Einreise so gut wie ausgeschlossen ist.
Allerdings führen die strengen Kriterien zu teilweise
kuriosen Ergebnissen. In der kurzen Zeit seit meinem Eintritt in den Bundestag lagen mir bereits mehrere Petitionen vor, in denen Entscheidungen deutscher Behörden beklagt wurden. An dieser Stelle möchte ich ein besonders
krasses Beispiel nennen: Eine anerkannte Spätaussiedlerin, die hier bei ihren fünf Kindern lebt, kann ihre drei Enkelkinder sowie deren Mutter nicht nach Deutschland holen, weil ihr sechstes Kind, ihr Sohn, der wohl einen
Aufnahmeanspruch gehabt hätte, in Kasachstan ums Leben gekommen ist. Die unmündigen Kinder können ohne
ihre Mutter nicht ausreisen. So haben sie wohl wenig
Chancen, als Spätaussiedler anerkannt zu werden.
Natürlich sind die gesetzlichen Vorgaben kompliziert
und schnelle Problemlösungen nicht überall möglich. Ich
denke aber, in diesem Fall und in ähnlich krassen Einzelfällen muss der Petitionsausschuss sein parlamentarisches
Gewicht in die Waagschale legen, um kurzfristig Lösungen herbeiführen zu können.
Hinweise auf eine fehlgeleitete Politik der Bundesregierung erreichen den Bundestag oft erst durch den Petitionsausschuss. Als Beispiel möchte ich gern die Petition
der Ackermann-Gemeinde aufführen. Die AckermannGemeinde, eine katholische Gemeinschaft, gegründet von
sudetendeutschen Heimatvertriebenen, engagiert sich seit
Jahrzehnten sehr stark für die Pflege und Weiterentwicklung der deutsch-tschechischen Nachbarschaft.
Nun sind vonseiten der Bundesregierung die Gelder
gekürzt worden, sodass keine Mittel mehr für einen Kulturreferenten außerhalb musealer Tätigkeit zur Verfügung
stehen. Dies ist in Anbetracht der heftigen und nicht akzeptablen Äußerungen vonseiten tschechischer Politiker
zu den Sudetendeutschen und den Benes-Dekreten eine
mehr als verwunderliche Haltung. Hier kann und muss der
Petitionsausschuss seiner Rolle als Mahner der Bundesregierung gerecht werden.
({2})
Der Petitionsausschuss hilft mit, das Vertrauen der
Bürger in die Demokratie und vor allen Dingen in ihre
Kraft zur Aufarbeitung tatsächlicher und vermuteter Ungerechtigkeiten zu stärken. Ich wünsche mir, dass der Petitionsausschuss in der 15. Wahlperiode die Petitionen mit
dem gleichen Elan bearbeitet.
Ich bedanke mich an dieser Stelle sehr herzlich für Ihre
Aufmerksamkeit gegenüber meinem letzten Wort in dieser letzten Petitionsdebatte.
Herzlichen Dank.
({3})
Damit ist die Debatte
zu diesem Tagesordnungspunkt beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 f sowie
Zusatzpunkte 15 und 16 auf:
27 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Gerhard Friedrich ({0}), Thomas Rachel,
Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Forschungsförderung in Deutschland
- Drucksachen 14/7183, 14/8949 -
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit
Deutschlands 2001 und Stellungnahme der
Bundesregierung
- Drucksache 14/9331 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Förderung der Energiespeicherforschung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Birgit Homburger, Horst Friedrich ({3}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Gegen ein Forschungsverbot in der
Gashydratforschung
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Faktenbericht Forschung 2002 zum Bundesbericht Forschung 2000
- Drucksachen 14/5576, 14/9392, 14/8040,
14/8829 Nr. 1.6, 14/9586 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Dr. Gerhard Friedrich ({4})
Hans-Josef Fell
Wolfgang Bierstedt
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Wimmer
({6}), Dr. Peter Eckardt, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeodneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Reinhard Loske,
Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Mehr Frauen an die Spitze von Wissenschaft
und Forschung - durch Gender Mainstreaming
Frauen in Wissenschaft und Forschung stärken
- Drucksachen 14/7627, 14/8509 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Brigitte Wimmer ({7})
Dr. Reinhard Loske
Maritta Böttcher
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ressortforschung überprüfen - Effizienz der
Forschung steigern
- Drucksachen 14/5329, 14/8096 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Jörg Tauss
Dr. Gerhard Friedrich ({9})
Hans-Josef Fell
Angela Marquardt
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Walter Hirche, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Brennstoffzelle - Technik des 3. Jahrtausends
- zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({11}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: TA-Projekt „Brennstoffzellen-Technologie“
- Drucksachen 14/8282, 14/5054, 14/9496 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Ulrich Kasparick
Axel E. Fischer ({12})
Hans-Josef Fell
Wolfgang Bierstedt
ZP 15 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Friedrich ({13}), Thomas Rachel,
Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Eine neue Offensive für eine moderne Forschungspolitik
- Drucksache 14/9538 ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Birgit Homburger, Horst Friedrich ({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Wissenschaft und Forschung als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung und des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland nutzen
- Drucksache 14/9567 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und rufe als erste Rednerin
die Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion, auf.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Dies ist wohl die letzte Forschungsdebatte in
dieser Wahlperiode. Ich finde das schade; denn es ist eines der spannendsten Themen, das wir in diesem Bundestag behandeln können. Aber ich möchte die Gelegenheit
ergreifen, um für meine Fraktion Bilanz zu ziehen.
Eine hochwertige Grundlagenforschung und angewandte Forschung in Deutschland hängen von einem Ineinandergreifen von verschiedenen Faktoren ab: den Finanzen, den rechtlichen Rahmenbedingungen, der
Kooperation mit der Wirtschaft, der Nachwuchsförderung
und der Fähigkeit, Menschen für Technik, Wissen und vor
allen Dingen für das Neue zu begeistern.
Lassen Sie mich mit dem Finanziellen beginnen. Herr
Catenhusen, es ist gut, dass Sie und Frau Bulmahn zusammen den Trend Ihres Vorgängers gestoppt und die
Ausgaben für Bildung und Forschung zumindest bis
zur Bundestagwahl gesteigert haben.
({0})
Bei Rüttgers gab es viel heiße Luft und weniger Geld.
Aber Ihren eigenen Anspruch - das möchte ich an dieser
Stelle sehr deutlich machen -, eine Verdopplung zu erreichen, haben Sie nun einmal nicht erfüllt.
({1})
Strukturell haben Sie zudem gleich zu Beginn - das
möchte ich mit besonderem Ernst betonen - einen entscheidenden Fehler gemacht: Sie haben das Herzstück
jeder zukunftsorientierten Forschungspolitik, die Technologieförderung, ans BMWi, an das Wirtschaftsministerium, gegeben. Dort wird es seit nunmehr vier Jahren als
Steinbruch genutzt. Das wird die FDP ändern.
({2})
Präsident Wolfgang Thierse
Wir werden dieses Bildungs- und Forschungsministerium
in der nächsten Periode übernehmen und es wieder
schlagkräftig gestalten.
({3})
Die Technologieförderung muss wieder ins BMBF
zurück. Sie haben unser Wort, dass das so sein wird.
Hinzu kommt, dass man bei Steigerungen des eigenen
Haushaltes nicht nur auf diesen, sondern auch auf die von
Mitbewerbern schauen sollte. So hat zum Beispiel der
neue Präsident der Max-Planck-Gesellschaft zu Recht eine
verlässlichere und dauerhaftere Förderung der Grundlagenforschung gefordert. Nötig seien Zuwachsraten von
5 Prozent. Was Sie erreicht haben, Herr Catenhusen, ist
nach - wie immer - sehr elenden Verhandlungen mit den
Ländern eine Zuwachsrate von gerade einmal 3 Prozent.
Besonders im Vergleich zu den USA oder Großbritannien
ist diese Steigerungsrate natürlich mehr als unterdurchschnittlich.
Ich hatte gehofft, dass Sie fehlende Geldzuweisungen
zumindest durch politische Signale ersetzt hätten. Das
war Ihnen ganz offensichtlich in dieser Koalition nicht
möglich. Ich bedauere, dass ich Ihnen das nicht direkt ins
Gesicht sagen kann, aber ich werde es trotzdem von mir
geben. Lieber Herr Catenhusen, man kann sich nicht aus
der Verantwortung stehlen, indem man erklärt: Dass die
Mittel für die Energieforschung geschrumpft sind, liegt
nicht an meinem Haus. -Auch können Sie nicht sagen, die
Tatsache, dass die Biopatentrichtlinie nicht verabschiedet
wurde, liege nicht allein am BMBF.
In der Bundesregierung und der rot-grünen Koalition
gibt es massiven Dissens über wichtige Bereiche der Forschung. Egal ob bei der Gentechnik, der Fusionsforschung, der Gashydratforschung, der Energieforschung und der Mobilitätsforschung - überall blockieren
die Grünen.
({4})
Herr Fell hat sich vorgestern im Ausschuss - das sage ich
mit besonderem Zungenschlag - für ein Diktat des Klimaschutzes ausgesprochen. Was ist das für ein Verständnis von Forschung?
({5})
Wir wollen keine Diktate, sondern Freiheit der Wissenschaft, und zwar in Verantwortung für diese Gesellschaft.
({6})
- Forschungslandschaften werden übrigens auch durch
die Schaffung einer entsprechenden Atmosphäre gestaltet,
lieber Herr Röspel. Das wissen wir beide am allerbesten.
Sie haben aber nicht nur den grünen Klotz am Bein. Ich
glaube, es gibt auch in Ihren eigenen Reihen so manch einen Klotz, über den wir nachdenken sollten.
Deutschlands Forschung ist nach wie vor in politischer
und bürokratischer Hinsicht benachteiligt. Projektanträge
müssen schneller das Genehmigungsverfahren durchlaufen. In anderen Ländern wird bereits gearbeitet, während
bei uns nach wie vor über den Antrag nachgedacht wird,
mit dem etwas auf den Weg gebracht werden soll.
({7})
Sie haben zwei HRG-Novellen eingebracht. Die eine
haben Sie durchgesetzt, die andere angesetzt, aber eigentlich haben Sie beide in den Sand gesetzt.
({8})
Das Hochschuldienstrecht ist nicht entbürokratisiert und
entrümpelt worden. Im Gegenteil: Die Neuregelung der
befristeten Beschäftigungsverhältnisse demotiviert den
akademischen Mittelbau und wirft gute Wissenschaftler
aus dem System. Auch Ihnen sind sicherlich die Anzeigen
bekannt, die der akademische Mittelbau in der Presse
schaltet. Es ist schon bemerkenswert, dass der Mittelbau
den Rücktritt einer Ministerin fordert.
Sie haben auch den Wissenschaftstarifvertrag nicht zustande gebracht. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft bezeichnet den Forschungsstandort Deutschland als mäßig interessant. Das Arbeitsrecht ist nach wie
vor zu starr. Außerdem gibt es zu wenig interdisziplinäre
Ansätze, es gibt verregelte Zugangsverordnungen und
eine unflexible Personalbewirtschaftung.
({9})
Sie haben Transferstellen an den Hochschulen nur bis
2004 anfinanziert. Das ist typisch für das, was zurzeit auf
den Weg gebracht wird. Man stößt ein Rad an, überlegt
dann aber, wie die Nachfolger das Vorhaben weiter finanzieren können.
({10})
Sie haben die staatliche Ressortforschung nicht auf
den Prüfstand gestellt. Was wir den Forschungsverbünden
zumuten - das sage ich mit großem Ernst -, sollten wir
weiß Gott auch unseren eigenen Bürokratien zumuten.
({11})
Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze, Herr Catenhusen.
Ich nutze diese Gelegenheit - ich bin schließlich Vorsitzende des Ausschusses -, um Ihnen, Kollegin Sothmann
und Kollegen Dr. Schmidt bei Ihrer letzten Rede viel
Glück und Engagement zu wünschen. Ich habe mich gefreut, mit Ihnen zusammenarbeiten zu können. Es war
eine produktive und angenehme Zusammenarbeit. Es gibt
sicherlich Ausschüsse, in denen mehr gestritten wird als
in unserem. Wir waren uns wohl alle einig in dem
Bemühen, dieses Land vorwärts zu bringen. Ich wünsche
Ihnen allen alles Gute. Behalten Sie auch jenseits der Politik Ihren Optimismus und besuchen Sie uns gelegentlich. Wir würden uns freuen.
Ich danke Ihnen.
({12})
Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
das Wort.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verstehe, dass
die Opposition nach 16 Jahren bescheidener Bilanz mit
Macht versucht, an die Spitze des Fortschritts zu drängen,
indem sie das, was wir an Erfolgen auf den Weg gebracht
haben, als unzureichend kritisiert und fordert, es müsse
mehr getan werden. Diese Kritik halten wir gelassen aus.
Denn wir konnten nach den 16 Jahren nicht alle Fehlentwicklungen korrigieren und die unterlassenen Reformen
auf diesem Gebiet nachholen.
Lassen Sie mich deshalb deutlich sagen, liebe Frau
Flach: Es gibt einen kleinen Unterschied zu den USA.
Dort soll die Forschungsförderung innerhalb von fünf
Jahren verdoppelt werden. Dem ging aber eine erfolgreiche Konsolidierung des dortigen Bundeshaushalts voraus.
({0})
Wenn Sie von uns erwarten, Konsolidierungserfolge
durch schrumpfende Bundeshaushalte zu erzielen und
gleichzeitig den Forschungshaushalt zu verdoppeln,
nehmen Sie den Mund ein bisschen zu voll und vergessen
dabei das politische Erbe, das wir aufarbeiten müssen.
({1})
Dass wir es ohne finanzielle Konsolidierungsvorarbeiten unserer Vorgängerregierung geschafft haben, einschließlich des Entwurfs des Bundeshaushaltsplans für
das Jahr 2003 die Mittel für Bildung und Forschung im
Bundeshaushalt um 28 Prozent zu steigern,
({2})
stellt einen Maßstab dar, an dem sich alle Länder - ob
SPD- oder CDU/CSU-regiert oder mit Regierungsbeteiligung der FDP - messen lassen müssen.
({3})
Wir haben in dieser Beziehung einen Standard gesetzt.
Deshalb kann ich Ihre Kritik in diesem Zusammenhang
nicht ganz ernst nehmen.
({4})
Ich möchte einen zweiten Punkt hinzufügen. Wir haben
volles Verständnis für die Forderung der Max-PlanckGesellschaft nach einer mittelfristigen, verlässlichen und
internationalen Maßstäben gerecht werdenden weiteren
Finanzierung. Sie müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es nicht allein um den Bund geht. Ich weiß
nicht, wie Sie sich das vorstellen; Sie wollen vielleicht
manchmal die Länder abschaffen. Aber zumindest dort,
wo Sie mit regieren, haben Sie dann wieder viel Verständnis für die Position der Länder. Nehmen Sie doch
bitte zur Kenntnis: Wenn wir - durchaus mit der Unterstützung einiger Länder - eine Erhöhung der Mittel für die
Max-Planck-Gesellschaft in Höhe von 4 Prozent anbieten
und es zu einem Kompromiss von 3 Prozent kommt, dann
lassen wir uns nicht - so selbstbewusst sind wir - für dieses Ergebnis tadeln.
({5})
Ich will ein Drittes hinzufügen. Sie haben gesagt: „für
das Neue begeistern“. Wir sind die erste Leitung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die die Forderung an die Wissenschaft und in der Wissenschaft nach
Public Understanding of Science, also danach, neue Wege
im Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft vorzubereiten und zu gehen, ernst genommen hat.
({6})
Wir haben im Rahmen der Initiative „Wissenschaft im
Dialog“ durch die „Jahre der Wissenschaften“ und durch
andere Aktivitäten ein bundesweit wirksames Netzwerk
neuer Formen des Gesprächs zwischen Wissenschaft und
Öffentlichkeit geschaffen. „Für das Neue begeistern“ - jawohl, da haben wir in den vier Jahren große Erfolge erzielt.
({7})
Ich will ein Weiteres hinzufügen und das betrifft - ich
sage es ganz offen - das Thema Rot-Grün. Unsere Vorgängerregierung hat für den Bereich der Genomforschung
am Ende ihrer Amtszeit Mittel in Höhe von 25 bis 30 Millionen DM pro Jahr zur Verfügung gestellt. Wir haben das
im Bereich der Biotechnologie in kurzer Zeit verzehnfacht.
({8})
Wie kann man uns da Stillstand vorwerfen? Wir haben das
Programm der Pflanzengenomforschung gestartet. Bei
der Vorgängerregierung: Fehlanzeige.
Über Bio- und Gentechnik gibt es in unserem Land einen gesellschaftlichen Diskurs, der sich von den entsprechenden Diskursen in anderen Ländern in Europa, auch
konservativ regierten, nicht unterscheidet. Wir müssen
nüchtern zur Kenntnis nehmen: Es gibt eine stabile Zustimmung zur Notwendigkeit der Förderung von Grundlagenforschung in der Bio- und Gentechnik.
({9})
Es existiert in der Bevölkerung eine stabile Zustimmung
zu einem aktiven Engagement unseres Landes bei der
Nutzung der neuen Möglichkeiten in der Medizin.
Es gibt aber eine anhaltende europaweite Diskussion
über die Frage, ob auch der Verbraucher in den neuen
Möglichkeiten der Bio- und Gentechnik einen Fortschritt
und einen Nutzen für sich selbst sieht. Diese Akzeptanzkrise hat übrigens zu einem Gutteil die Industrie selbst
hervorgerufen, indem sie zwar an ihre Absatzmöglichkeiten und an die Vorteile für den Landwirt gedacht hat, aber
bei der Produktentwicklung den Verbraucher nicht im
Blick hatte. Sie muss diese Krise zu einem Gutteil auch
selbst lösen.
({10})
Unter Vorsitz des grünen Umweltministers Trittin haben wir in Brüssel den gemeinsamen Standpunkt für die
Richtlinie 220 erarbeitet, die Folgendes sicherstellt: Wenn
die Fragen der Kennzeichnung und der Rückverfolgbarkeit europaweit geregelt sind, dann kann auch europaweit
der Weg neuer kommerzieller Freisetzung gegangen werden - mit verschärften Sicherheitsanforderungen. Der Weg
zu einem offenen Marktzugang auf dem Gebiet ist nicht
durch nationale Alleingänge der Bundesrepublik versperrt;
diese Situation trifft für ganz Europa zu. Somit können wir
das nur durch europäische Entscheidungen auflösen. Darüber sind wir uns mit vielen Regierungen in der Europäischen Union - von Italien bis Großbritannien - einig.
Die Bildungs- und Forschungspolitik, zu der heute Bilanz gezogen werden soll, hat in den letzten Jahren einige
neue Akzente setzen und wichtige Fortschritte erzielen
können. Wir haben begonnen, in der Prioritätensetzung in
Bezug auf die Forschungsförderung stärker Fragen des
gesellschaftlichen Bedarfs aufzunehmen. Mit FUTOUR
haben wir einen Prozess gestartet, um mit breiter Rückkopplung zur Bevölkerung Leitvisionen für die zukünftige Forschungsförderung zu erarbeiten. Es geht darum,
auf diesem Wege auch Fragen des gesellschaftlichen Bedarfs in die Entwicklung neuer Forschungsfragen einzubeziehen.
Wir haben gerade in der Medizin viele Bereiche durch
die Entwicklung von Kompetenznetzen stärker auf Anwendungsfragen orientiert. Wir haben es auch geschafft,
die Genomforschung stärker auf wichtige Krankheitsfelder wie Krebs-, Rheuma- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu orientieren. Damit wurde eine Orientierung
eingeleitet, die übrigens auch das Verständnis in der Bevölkerung für die Notwendigkeit einer leistungsfähigen
und gut finanzierten Wissenschaft steigern wird.
Bei uns gehen Bildungs- und Forschungspolitik Hand
in Hand und wir sind neue Wege in der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gegangen. Ich sage Ihnen
ganz deutlich: Wenn sich die Juniorprofessuren einige
Jahre in der Praxis bewährt haben werden - wir freuen uns
über die positive Reaktion an unseren Universitäten -,
({11})
werden wir sehen, welche praktischen Vorteile dieser Weg
auch gegenüber früher haben wird. Damals hatten wir leider die Situation, dass der talentierte Nachwuchs nicht
- wie künftig - in der Regel mit Anfang 30 die Chance
hatte, eigenständig zu forschen und zu lehren, sondern
erst mit Anfang 40. Frau Flach, wenn wir jetzt nicht Wahlkampf hätten, könnten Sie es sich durchaus leisten, das zu
begrüßen.
({12})
Wir haben es ferner geschafft, die Forschungsförderung auf die entscheidenden Zukunftsfelder zu konzentrieren. Ich nenne die deutlichen Mittelsteigerungen im
Zeitraum von 1998 bis 2003 in folgenden Bereichen: umweltgerechte nachhaltige Entwicklung: Steigerung von
fast 27 Prozent; Informationstechnik: Steigerung 17 Prozent; Biotechnologie: Steigerung 39 Prozent; molekulare
Medizin: Steigerung 56,6 Prozent. Wer mehr Geld für die
Forschung fordert, ist an unserer Seite und unterstützt unsere Politik. Darüber freuen wir uns natürlich, auch wenn
Sie, Frau Flach, das anders sehen.
Ich denke, dass wir auch in der Innovation, im Transfer der Ergebnisse in die Anwendung, gerade im Biotechnologiebereich, mit dazu beigetragen haben, die ersten
Ansätze des BioRegio-Wettbewerbs auch strategisch weiterzuentwickeln. Wir haben eine leistungsfähige BiotechIndustrie, die natürlich unter den weltweiten Problemen,
die die Biotech-Industrie zurzeit hat - fehlende Eigenkapitalzufuhr, auch durch Betrügereien zerstörtes Vertrauen -, leidet. Diese aktuellen Schwierigkeiten sind aber
nicht strukturell. Wir werden unsere Forschungsförderung gerade für die Biotech-Unternehmen fortsetzen.
„Exzellenz schaffen - Talente sichern“ - das ist unser
Motto für die neuen Länder. Ihnen gilt unser besonderes
Augenmerk. In diesem Jahr fließen rund 1,8 Milliarden Euro aus dem BMBF-Haushalt in die neuen Länder.
Das sind 24 Prozent mehr als 1998. Wir haben, wie auch
die Wirtschaftsweisen feststellen, mit den Programmen
„Inno-Regio“ und „Innovative Wachstumskerne“ neuartige politische Förderinstrumente entwickelt. Die hatten
ihre Kinderkrankheiten und alle Beteiligten mussten lernen, aber wir sind nach den ersten Hinweisen auf Erfolgsbilanzen ganz sicher, dass diese nach drei, vier Jahren noch sehr viel deutlicher ausfallen werden. Ich glaube,
dass wir in diesem Bereich wie kaum ein anderes Ressort
einen Schwerpunkt bei der Förderung von Ostdeutschland gesetzt haben.
({13})
Meine Damen und Herren, da mir seit gestern klar ist,
dass diese Rede nach 22 Jahren meine letzte Rede als Parlamentarier ist, lassen Sie mich vielleicht mit zwei Anmerkungen schließen. Ich denke an die Zeit Anfang der
80er-Jahre zurück und meine, es ist gut, dass heute ein
breiter Konsens darin besteht, dass die Förderung von Innovationen, die Förderung einer leistungsfähigen Forschung und das Erreichen eines Spitzenplatzes Deutschlands in der Entwicklung neuer Technologien unsere
wirksamsten Beiträge zur Zukunftsvorsorge in unserem
Lande darstellen und dass dieses Thema auch in der Arbeit des Parlaments aus der hinteren Ecke auf den notwendigen Spitzenplatz gerückt ist.
({14})
Lassen Sie mich noch einen zweiten Satz sagen: Wir
dürfen bei dieser Arbeit aber nicht vergessen, dass in der
Wissensgesellschaft Wissenschaft und Forschung nur
dann die notwendige gesellschaftliche Unterstützung verdienen, wenn die Wissenschaft und die Forschung selbst
wissen, dass es ihre Aufgabe ist, Hilfe für die Gesellschaft
zu leisten. Wissenschaft und Technik ermöglichen uns,
unsere Vorstellungen für eine gesellschaftliche Zukunft
zu entwickeln und zu verwirklichen. Eine technik- oder
wissenschaftsgetriebene Zukunftsentwicklung deckt sich
nicht automatisch mit der Vorstellung der Bevölkerung
von einer lobenswerten und lebenswerten Zukunft. Dieses
zusammenzubringen ist die Aufgabe gerade von Wissenschafts- und Forschungspolitik.
Ich darf mich heute an dieser Stelle bei vielen
langjährigen Mitstreitern auf diesem Gebiet bedanken.
Ich nenne Bodo Seidenthal, aber ich denke auch an Jochen
Schmidt. Uns verbindet vieles in dieser gemeinsamen Anstrengung. Herzlichen Dank für die Zusammenarbeit.
Alles Gute!
({15})
Ich möchte Ihnen, lieber Kollege Catenhusen, für die 22-jährige Mitarbeit in
diesem Hause herzlich danken und Ihnen alles, alles Gute
für Ihren nächsten Lebensabschnitt wünschen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile nun der Kollegin Bärbel Sothmann,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie lange kann
Deutschland noch von seinem guten Ruf als Technikund Wirtschaftswunderland zehren? Professor Hubert
Markl, der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, stellt zu Recht fest: „Wir verjagen unsere Forscher.“ Sein Nachfolger, Professor Peter Gruss, sieht die
Wissenschaft im Würgegriff der Bürokratie. Ex-BDIChef Hans-Olaf Henkel
({0})
beklagt das Zurückfallen Deutschlands in wichtigen Sektoren wie der Informationstechnologie.
Es besteht Handlungsbedarf. Das bezeugen der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2001 und der Faktenbericht 2002 zum Bundesbericht Forschung 2000 ebenso wie die Antwort auf unsere
Große Anfrage zur Forschungsförderung. Sie alle bescheinigen Deutschland zwar eine hohe technologische
Leistungsfähigkeit in einigen Sektoren; aber insgesamt ist
der Anteil Deutschlands am Welthandel mit forschungsintensiven Waren gesunken. Vor allem die chemische und
die pharmazeutische Industrie haben Weltmarktanteile
verloren. Wir haben zu wenige Spitzenprodukte im Hightechbereich.
Eine der Ursachen ist: Deutschland investiert zu wenig
in die Forschung.
({1})
Mit einem Anteil von rund 2,4 Prozent am Bruttoinlandsprodukt liegen wir mit unseren F-und-E-Ausgaben nicht
nur hinter unseren Hauptkonkurrenten Japan und den
USA,
({2})
sondern auch hinter Schweden, Finnland und der
Schweiz. Defizite im Bereich der Bildung - die PISAStudie beweist das -, der schlechte Stellenwert der
Naturwissenschaften, der Fachkräftemangel, mangelnde
Weiterbildung und geringe internationale Attraktivität
deutscher Hochschulen sowie die Nachteile für Frauen in
Wissenschaft und Technik tragen wesentlich zu diesem
Dilemma bei.
({3})
Doch wir alle wissen: Bildung und Innovation sind
der Schlüssel zu unserer Zukunftsfähigkeit im globalen
Wettbewerb. Nur durch gut ausgebildete Fachkräfte, nur
durch innovative Produkte, Verfahren und Dienstleistungen können wir unsere Arbeitsplätze erhalten und neue
schaffen. Nur dadurch können wir unsere soziale Sicherheit und unseren Wohlstand bewahren.
Was hat die Bundesregierung zur Förderung unserer
technologischen Leistungsfähigkeit getan? Es gibt durchaus gute Ansätze und gute Absichten, die wir anerkennen:
zum Beispiel die Fortführung der von uns eingeleiteten
Hochschulreform, zum Beispiel die weitere Verstärkung
der von uns forcierten Frauenförderung in Wissenschaft
und Forschung,
({4})
zum Beispiel die Einführung der Programmsteuerung
bei der Förderung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen.
({5})
Doch Ihre Fehler und Versäumnisse gerade im Bereich
Forschung und Entwicklung, auf den ich mich hier beschränken will, überwiegen. Sie haben kein klares forschungspolitisches Konzept.
({6})
Sie behindern die Forschungstätigkeit der Wirtschaft
durch eine innovationsfeindliche Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik,
({7})
durch übermäßige Verbote und schwierige Genehmigungsverfahren sowie durch den kurzfristigen Einsatz
von Sondermitteln, die keine Planungssicherheit bieten siehe UMTS.
({8})
Sie haben die Ausgaben im Haushalt des BMBF zwar
in vier Jahren um 20 Prozent erhöht - Frau Flach hat es
schon gesagt -; aber die Ausgaben für Forschung und Entwicklung haben Sie nur um 10 Prozent erhöht. Das entspricht gerade einmal der Geldentwertung. Beides ist von
der versprochenen „Verdoppelung der Investitionen“ meilenweit entfernt.
Lieber Herr Catenhusen, Sie sagten, Sie könnten diese
Kritik einfach nicht mehr ernst nehmen. Wir können Ihr
Märchen von der Erblast aus 16 Jahren unionsgeführter
Regierung langsam ebenfalls nicht mehr ernst nehmen.
({9})
Sie haben eine optimale Technologieförderung unmöglich gemacht, indem Sie beispielsweise 1998 die Zuständigkeit für wichtige Technologiebereiche ins Wirtschaftsministerium verlagert haben.
({10})
Sie haben die Mittel für wichtige Hightechbereiche wie
die Fusionsforschung und die Weltraumforschung real
gesenkt.
({11})
Sie behindern aus ideologischen Gründen die Weiterentwicklung von Schlüsseltechnologien wie die Kernenergie, die grüne Gentechnik und den Transrapid, also Technologien, in denen wir Spitze sind bzw. Spitze sein
könnten.
({12})
Sie haben wichtige Bereiche der Vorsorgeforschung vernachlässigt. Sie haben die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Umgestaltung der Forschungslandschaft
nur zögernd umgesetzt. Sie sind auch dem bereits von uns
formulierten Ziel, den Anteil von Frauen bei Professuren
bis 2005 auf 20 Prozent zu erhöhen, kaum näher gekommen.
({13})
Mit anderen Worten: Sie sind Ihrer Verantwortung in
der Technologieförderung nicht gerecht geworden. Das
werden wir nach dem 22. September besser machen.
({14})
Wir werden uns nämlich die Technologieführerschaft
wieder zurückerobern. Wir werden für die Wissenschaft
wieder größere Freiräume schaffen und die Genehmigungsverfahren vereinfachen und beschleunigen.
({15})
Wir werden uns nicht nur auf die Risiken neuer Technologien konzentrieren, sondern vor allem ihre Chancen
nutzen. Wir werden zum Beispiel die Blockade in der grünen Gentechnik beenden, den Ausstieg aus der Kernenergie wieder rückgängig machen und dafür sorgen, dass der
Forschungsreaktor München II endlich in Betrieb genommen werden kann.
({16})
Wir werden die Mittel für die Fusions- und Weltraumforschung erhöhen. Wir werden die Vorsorgeforschung
verstärken. Wir werden die Technologiepolitik vom Wirtschaftsministerium ins Forschungsministerium zurückholen und endlich wieder eine Innovationsförderung aus einem Guss machen. Wir werden den Fachkräftemangel in
Deutschland abbauen, indem wir unseren Standort für
ausländische Experten attraktiver machen
({17})
und besonders auf die Förderung von Frauen in Wissenschaft und Technik noch mehr Gewicht legen.
({18})
Meine Damen und Herren, all diese notwendigen
Maßnahmen wird nur eine CDU-geführte Bundesregierung zügig und frei von ideologischen Beschränkungen
durchführen können. Sie haben es nicht gekonnt.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies war meine
letzte Rede in diesem Hohen Haus, denn ich werde mich
nach zwölf interessanten und wirklich ereignisreichen
Jahren aus der Bundespolitik zurückziehen. Ich bin sehr
dankbar dafür, dass ich Mitglied des ersten gesamtdeutschen Bundestages sein durfte und miterleben und mitgestalten durfte, wie sich Berlin zum Sitz von Parlament und
Regierung entwickelt - ein Prozess, der noch lange nicht
abgeschlossen sein wird.
Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, mit denen
ich in dieser Zeit zusammengearbeitet habe, für manche
Freundschaft, die entstanden ist. Ich danke allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Bundestages
für ihre Unterstützung und Hilfe. Ich wünsche all denen,
die weitermachen, und all denen, die kommen werden,
viel Erfolg bei ihrer politischen Arbeit für unser Land.
Meine Damen und Herren, für Deutschland wünsche
ich Frieden und Gottes Segen.
Ich danke Ihnen.
({20})
Auch Ihnen, liebe
Kollegin Sothmann, möchte ich ein herzliches Dankeschön im Namen des ganzen Hauses aussprechen und Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft wünschen.
({0})
Der Kollege Hans-Josef Fell hat seine Rede zu Proto-
koll gegeben.1) Somit erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Joachim Schmidt, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich möchte in meiner letzten Rede in diesem Hause noch
einmal auf einen Problemkreis eingehen, der mich zwölf
Jahre im Deutschen Bundestag besonders beschäftigt hat.
Es geht um die Situation und die Zukunft der ostdeutschen Forschung,
({0})
1) Anlage 2
die ich einer kurzen, kritischen Analyse unterziehen
werde.
Zuerst ist festzustellen, dass die außeruniversitäre Forschung und die Hochschulforschung seit längerem als
konsolidiert anzusehen sind. Es existieren kaum substanzielle Unterschiede in der staatlich geförderten Forschung
zu Westdeutschland, wobei die ostdeutschen Forschungseinrichtungen absolut satisfaktionsfähig sind und nationale und internationale Reputation gewonnen haben.
Einziges Defizit: Es fehlt ein Großgerät. Mit der Ansiedlung der europäischen Spallationsquelle im Raum
Leipzig/Halle könnte dies erfolgreich korrigiert werden.
Im Übrigen ist der Bund von Anfang an bis heute seiner
Verantwortung für die ostdeutsche außeruniversitäre und
Hochschulforschung im Großen und Ganzen gerecht geworden. Jährlich flossen etwa 3 Milliarden DM in diese
Forschungslandschaft.
Großes Sorgenkind bleibt die Industrieforschung. Ein
Hauptgrund für die unterentwickelte wirtschaftsnahe Forschung im Osten ist vor allem in der durch kleine bis mittelgroße Betriebe gekennzeichneten Wirtschaftslandschaft
zu suchen, denn diese kleinen Betriebe können sich kaum
eigene Forschungskapazitäten leisten. Im Freistaat Sachsen
zum Beispiel haben 98 Prozent der Unternehmen weniger
als 100 Mitarbeiter. Hauptträger der wirtschaftsnahen
Forschung sind Einrichtungen der externen Industrieforschung, häufig etwas verallgemeinert Forschungs-GmbHs
genannt, die in fachlicher und operativer Flexibilität von
keiner anderen Forschungsstruktur in Deutschland übertroffen werden. Sie sind aus den Forschungszentren der
ehemaligen volkseigenen Kombinate hervorgegangen.
Nach wie vor alarmierend bleibt der Umstand, dass
nur etwa 6 Prozent des Industrieforschungspotenzials in
Deutschland auf die neuen Bundesländer entfallen. Entschieden zu kritisieren ist in diesem Zusammenhang, dass
in den vergangenen vier Jahren die Forschungskapazitäten in der Industrieforschung - nicht zuletzt wegen willkürlicher Sperren im Bundeshaushalt und drastischer
Kürzungen in bewährten Förderprogrammen des Bundes
für die ostdeutsche Industrieforschung - stagnierten und
zum Teil existenziell in Gefahr gerieten. Hier hat die Bundesregierung eindeutig versagt.
({1})
Für die Zeit nach der Bundestagswahl gilt es, die berechtigten Forderungen des Verbandes innovativer Unternehmen der neuen Bundesländer konstruktiv aufzunehmen, die materielle Unterstützung wieder auf das Niveau
von 1998 anzuheben - das waren etwa 150 Millionen
Euro pro Jahr - und die bisher geplante Degression der
Unterstützung zu verhindern. Dabei geht es nicht nur um
die Erhaltung bestehender Einrichtungen, sondern vor
allen Dingen um die Neugründung industrieller Forschungskapazitäten.
Bei allem Lob und aller Anerkennung für die Leistungsstärke ostdeutscher Forschung haftet ihr doch ein
entscheidender Makel an: Sie trägt viel zu wenig zur
Wertschöpfung in den neuen Bundesländern bei. Das
muss sich deutlich ändern. Wir brauchen eine erheblich
stärkere Kooperation zwischen der kleinen und mittelständisch geprägten Wirtschaft und der leistungsstarken
Forschungslandschaft. Nur durch Innovation werden sich
die kleinen und mittelständischen Betriebe auf den nationalen und internationalen Märkten halten können. Die
Unterstützung dieser Betriebe liegt im Übrigen im Staatsinteresse, hängt von ihnen doch die politische und wirtschaftliche Stabilität im Osten in hohem Maße ab.
Bei der Evaluierung und der Zuteilung staatlicher Mittel wird man zukünftig weitaus stärker darauf achten müssen, welche Anstrengungen alle Forschungseinrichtungen
in den neuen Bundesländern im Hinblick auf diese unabdingbare Kooperation unternehmen. Dies hat überhaupt
nichts mit einer Einschränkung der Forschungsfreiheit zu
tun. Für die Hochschulen stellt sich neben der selbstverständlichen Gewinnung und Erhaltung nationaler und internationaler Reputation die Aufgabe einer stärkeren regionalen Verwurzelung. Mit der Forderung nach höheren
Wertschöpfungsanteilen für die neuen Bundesländer
muss die Erkenntnis einhergehen, dass Bildung, Forschung und Entwicklung höchste politische Priorität im
Osten erhalten müssen.
Meine Damen und Herren, als beste Methode für die
von mir beschriebene zwingende Kooperation bietet sich
in erster Linie die Bildung von Netzwerken an. Die Bundesregierung hat versucht, mit dem Programm Inno-Regio dieser Erkenntnis zu folgen. Die Ankündigung des
Programms mit einer modernen Philosophie der Bildung
von horizontalen und vertikalen - das heißt, über einzelne
Branchen reichende - Netzwerken hat in den neuen Bundesländern eine große Welle der Kooperationsbereitschaft
ausgelöst. In dieser Eröffnungsphase hat die Bundesregierung auch viel politischen Honig aus diesem Programm gesaugt: Inno-Regio als Wunderwaffe für den
Osten. Mittlerweile, in der Phase der Umsetzung dieses
Programms, ist große Ernüchterung und vielfach Enttäuschung eingetreten. Das vergangene erste Jahr der praktischen Verwirklichung, also der Phase 3 des Programms,
muss als ein verlorenes Jahr registriert werden.
({2})
Der Mittelfluss lief, wenn überhaupt, erst im zweiten
Halbjahr an. Inno-Regio ist leider nicht zu dem großen
Wurf geworden, den man sich erhofft hatte und der auch
sehr vollmundig angekündigt worden war. Ich selbst bedauere dies auch sehr, denn die Idee dieses Programms ist
ausgezeichnet. Wenn man heute mit den Betroffenen redet, wird eher abgewunken. Der Schwung und die große
Motivation sind, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, leider verloren gegangen.
Welche Gründe sind dafür verantwortlich? - Die
Hauptursache für den bisher eher bescheidenen Wirkungsgrad des Programms ist in dem Umstand zu sehen,
dass moderne Ideen nicht mit alten, tradierten Instrumentarien realisiert werden können. Die großen Freiräume,
die das Programm Inno-Regio richtigerweise bewusst zuließ, wurden praktisch ad absurdum geführt, weil für die
Umsetzung ausschließlich auf die alten, hochbürokratischen Förderinstrumentarien zurückgegriffen wurde. Die
moderne Idee wurde in alte Schablonen gepresst. Dabei
Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({3})
hatte ich den Eindruck, dass der politischen Führung im
BMBF diese grundsätzliche Divergenz nicht oder zumindest ganz sicher viel zu spät aufgefallen ist und sie den mit
der Realisierung beauftragten Apparaten offenbar auch
nicht vermittelt werden konnte.
Ein besonderes Hindernis bei der Verwirklichung moderner Vorstellungen - im Übrigen nicht nur bei der Forschungsförderung - ist die Tatsache, dass die Apparate in
Deutschland vor allem einem Motto folgen: Was ihr fordert, können wir nicht machen, denn so etwas haben wir
noch nie gemacht. - Als ich zu Zeiten der DDR mit
großem Respekt und großer Bewunderung via Fernsehen
in die alte Bundesrepublik geschaut habe, konnte ich mir
nicht vorstellen, dass genau diese fortschrittshemmende
Eigenschaft für dieses Land systemimmanente Bedeutung
besitzen könnte. Auch in dieser Hinsicht muss sich also
Wesentliches ändern, wenn wir nicht international weiter
zurückfallen wollen.
({4})
Besonders in Ostdeutschland wird die Kooperation
von Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung zukünftig
eine herausragende - um nicht zu sagen: existenzielle Bedeutung erhalten. Netzwerke werden dabei die wichtigsten Konstruktionen sein. Ich hoffe deshalb, dass es in
der nächsten Legislaturperiode gelingt, netzwerkorientierte Förderprogramme adäquat umzusetzen. Wenn dazu
gesetzgeberische Aktivitäten notwendig sind, müssen sie
konsequent angegangen werden.
Ich komme zum Schluss. Ich danke allen Kolleginnen
und Kollegen, den anwesenden wie den abwesenden, insbesondere denjenigen aus dem Bildungs- und Forschungsausschuss, für die faire Zusammenarbeit in all den
Jahren. Auch bei den temperamentvollsten und kontroversesten Debatten
({5})
blieb der gegenseitige Respekt unangetastet und stand nie
zur Disposition. Darüber habe ich mich sehr gefreut.
Ich danke den Mitgliedern meiner Arbeitsgruppe für
die langjährige Unterstützung meiner politischen Intentionen für die ostdeutsche Forschung. Ich wünsche Ihnen
allen für die Zukunft alles Gute und schließe mit einem
herzlichen Glück auf.
({6})
Auch Ihnen, lieber
Kollege Schmidt, sage ich einen herzlichen Dank. Alle
guten Wünsche für Ihre Zukunft!
({0})
Die Kollegen Maritta Böttcher1) und Jörg Tauss2) haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben. Ich kann damit die Aussprache schließen.
Tagesordnungspunkt 27 b: Bericht zur technologischen
Leistungsfähigkeit Deutschlands 2001 und Stellungnahme
der Bundesregierung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/9331 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 27 c: Beschlussempfehlung und
Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/9586. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung
die Ablehnung des Antrags der FDP auf Drucksache 14/5576 mit dem Titel „Förderung der Energiespeicherforschung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der
FDP bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
FDP auf Drucksache 14/9392 mit dem Titel „Gegen ein
Forschungsverbot in der Gashydratforschung“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Faktenberichts Forschung 2002 auf Drucksache 14/8040 eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 d: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache
14/8509 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Mehr Frauen
an die Spitze von Wissenschaft und Forschung - durch
Gender Mainstreaming Frauen in Wissenschaft und Forschung stärken“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/7627 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/
CSU gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der PDS
angenommen.
Tagesordnungspunkt 27 e: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/8096 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Ressortforschung überprüfen - Effizienz der Forschung steigern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/5329 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS
angenommen.
Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({1})
1) Anlage 2
2) Rede lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor; wird später abgedruckt.
Tagesordnungspunkt 27 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/9496. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis des Berichts gemäß § 56 a der Geschäftsordnung zum Technikfolgenabschätzungsprojekt
„Brennstoffzellen-Technologie“ die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP mit dem Titel „Die Brennstoffzelle - Technik des 3. Jahrtausends“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der FDP angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seiner
Empfehlung, in Kenntnis des genannten Berichts gemäß
§ 56 a der Geschäftsordnung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie eben angenommen.
Zusatzpunkt 15: Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Eine neue Offensive für eine moderne Forschungspolitik“. Wer stimmt für
den Antrag auf Drucksache 14/9538? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Zusatzpunkt 16: Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Wissenschaft und Forschung als Motor der gesellschaftlichen Entwicklung und
des wirtschaftlichen Aufschwungs in Deutschland nutzen“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache
14/9567? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS bei Enthaltung der CDU/CSU und Zustimmung der FDP abgelehnt.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Stasi-UnterlagenGesetzes ({2})
- Drucksache 14/9219 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4})
- Drucksache 14/9591 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Wiefelspütz
Hartmut Büttner ({5})
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Abgeordneten
Ludwig Stiegler, Cem Özdemir und Edzard SchmidtJortzig sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der
PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Reden der
Kollegen Wiefelspütz, Büttner ({6}), Özdemir,
Schmidt-Jortzig und Pau sind zu Protokoll gegeben1), sodass wir sogleich zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes auf Drucksache 14/9219 kommen können. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9591, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Es soll über Teile des Gesetzentwurfs getrennt abstimmt werden.
Ich rufe Art. 1 Nr. 1 auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Art. 1 Nr. 1 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Art. 1 Nr. 2 bis Nr. 11, Art. 2 sowie Einleitung
und Überschrift auf. Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Stiegler, Özdemir, Schmidt-Jortzig auf der
Drucksache 14/9641 vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP
gegen die Stimmen von CDU/CSU sowie bei Enthaltung
der PDS angenommen.
Ich bitte nun diejenigen, die Art. 1 Nr. 2 bis Nr. 11 mit
den soeben beschlossenen Änderungen, Art. 2 sowie der
Einleitung und Überschrift zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Art. 1 Nr. 2 bis Nr. 11, Art. 2, Einleitung und Überschrift sind mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Die dritte Beratung kann mit Rücksicht auf die
Annahme des Änderungsantrages in zweiter Beratung
heute noch nicht stattfinden. Über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS wird zusammen mit der dritten
Beratung in der nächsten Woche abgestimmt werden.
Damit kommen wir zum Tagesordnungspunkt 29:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Günther Friedrich Nolting, Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Rechtssicherheit für die bewaffneten Einsätze
deutscher Streitkräfte schaffen - ein Gesetz zur
Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei
Auslandseinsätzen der Bundeswehr einbringen
- Drucksache 14/9402 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist so beschlossen.
Präsident Wolfgang Thierse
1) Anlage 3
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
van Essen, der kaum noch zu halten ist, das Wort.
({8})
Es ist doch schön, wenn Abgeordnete um diese Zeit noch eine Spannkraft haben, die
dazu führt, dass sie ans Rednerpult drängen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil aus dem
Jahre 1994 die Mindestanforderungen für die parlamentarische Zustimmung zu einem Einsatz von Bundeswehrsoldaten im Ausland festgelegt. Es hat aber deutlich
gemacht, dass das Parlament die nähere Ausgestaltung
festlegen kann und muss. Es hat sich in den letzten Jahren
eine Praxis entwickelt, die dazu geführt hat, dass wir uns
in der Geschäftsordnung an den bestehenden Regelungen,
die beispielsweise für die Beratung von Gesetzen bestehen, entlanghangeln. Wir alle wissen aber, dass die Zustimmung des Parlaments zu dem Antrag der Bundesregierung natürlich kein Gesetzesbeschluss ist.
Es gibt weitere offene Fragen, die beantwortet werden
müssen, beispielsweise: Was ist eigentlich der Einsatz bewaffneter Streitkräfte? Die bisherige Praxis hat im Übrigen gezeigt, dass es in der Bundesrepublik eine Diskussion gibt, ob der Parlamentsvorbehalt in der Form, wie er
zurzeit besteht, weiter bestehen soll - aus Sicht der FDP
hat er sich bewährt - oder ob wir zu Modellen kommen
sollen, wie sie in anderen Staaten bestehen, wo das Parlament nur ein Rückholrecht hat, die Regierung also
zunächst einmal selbstständig entscheiden kann, ob
Streitkräfte eingesetzt werden oder nicht.
Wir als FDP legen sehr großen Wert darauf, dass wir es
bei der bisherigen Praxis des Parlamentsvorbehaltes belassen. Ich meine, dass es auch im Interesse unserer Soldaten ist, wenn das Parlament als Ganzes hinter den
Einsätzen der Bundeswehr steht. Trotzdem sind Fragen zu
stellen und zu beantworten. Wir wollen zu dieser Diskussion beitragen. Dazu gehören unter anderem Fragen der
Vorbereitung eines Einsatzes: Man hat etwa die Erfahrung
gemacht, dass die Bundeswehr Transportraum nicht anmieten oder Vorkommandos nicht schicken konnte,
während das andere Nationen getan haben und somit in
dem jeweiligen Einsatzland einen Vorteil hatten, weil sie
Gebäude, die nicht zerstört worden sind, früher als die
Soldaten der Bundeswehr für sich requirieren konnten.
Wir sind dort für Offenheit, um sicherzustellen, dass die
Bundeswehr nicht Nachteile gegenüber anderen Nationen
hat.
Eine zweite Frage, die wir bisher nicht beantwortet haben und die eine zusätzliche Brisanz durch ein Gutachten
bekommen hat, das in diesen Tagen bekannt geworden ist,
ist die Frage: Wie erfolgt eigentlich die Zustimmung,
aber auch die Unterrichtung bei geheim zu haltenden
Operationen? Die Operation kann ja insgesamt geheim zu
halten sein, weil es beispielsweise eine Überraschungsaktion geben soll. In diesem Fall können wir vorher nicht im
Bundestag die Einzelheiten wie beispielsweise die Größe
des Kontingents festlegen. Dann könnte sich nämlich der
potenzielle Gegner sofort darauf einstellen, womit die Geheimhaltung durchbrochen wäre.
Wir haben im Augenblick das Problem, dass die Soldaten des Kommandos „Spezialkräfte“ in Afghanistan in
einem geheimen Einsatz sind und bisher keinerlei Unterrichtung des Bundestages erfolgte. Das gerade von mir erwähnte Gutachten macht deutlich, dass das Parlament einen Anspruch auf diese Unterrichtung hat.
({0})
Da wir eine ähnliche Problematik im Bereich der Geheimdienste haben, schlagen wir Ihnen deshalb vor, dass
der Bundestag hierfür ein spezielles Gremium einrichten
soll, das unter Leitung des Bundestagspräsidenten steht
und das in geheimer Wahl zu Beginn einer Legislaturperiode gewählt wird. Dieses Gremium könnte die regelmäßige Unterrichtung des Bundestages bei geheimen
Operationen sicherstellen und auf der anderen Seite auch
die Zustimmung bei geheimen Operationen ermöglichen.
Was wir ebenfalls zusätzlich wollen, ist, dass die Geschäftsordnung des Bundestages um das Verfahren für
die Zustimmung des Bundestages erweitert wird und dass
es einen extra Abschnitt für diese Zustimmung gibt, in
dem beispielsweise Ansprüche von Fraktionen auf Unterrichtung und Information näher definiert werden. Es muss
beispielsweise auch darüber gesprochen werden, wie die
zeitlichen Abläufe sind, was ebenfalls zur parlamentarischen Mitsprache gehört. Wir haben daher den Antrag gestellt, dass es zu einer Ergänzung der Geschäftsordnung
des Deutschen Bundestages kommt.
Wir werden diese Diskussion nicht mehr in dieser Legislaturperiode führen können. Wir werden sie aber sofort
zu Beginn der neuen Legislaturperiode aufnehmen müssen. Wir haben bisher Glück gehabt. Bisher gab es nämlich keine Operationen, die insgesamt geheim zu halten
waren. Dieser Fall kann aber sehr schnell eintreten. Wir
müssen deshalb darauf vorbereitet sein. Die FDP sorgt mit
ihrem Antrag für die notwendige Diskussion.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Anni Brandt-Elsweier, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
ich im Jahre 1991 meine erste Rede im Bundestag hielt,
ging es um die Gleichstellung von Mann und Frau, ein
Thema, das mir stets am Herzen gelegen hat und das uns
vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der Bundeswehr beschäftigte. Damals hätte ich mir noch nicht vorstellen können, jemals als Abgeordnete des Deutschen
Bundestages über einen Einsatz unserer Bundeswehr im
Ausland entscheiden zu müssen, geschweige denn in meiner letzten Rede im Bundestag zu diesem Thema reden zu
dürfen.
Ich bin Jahrgang 1932. Der Ausbruch des letzten Weltkrieges 1939 überraschte meine Mutter und mich während
eines Ferienaufenthaltes bei den niederländischen Großeltern. Wir waren von heute auf morgen im feindlichen
Ausland. Als wir nach großen Schwierigkeiten unsere
Präsident Wolfgang Thierse
Wohnung in Duisburg erreichten, war der Vater als Soldat
eingezogen. Ich habe ihn bis 1945 nur während der kurzen Urlaubszeiten gesehen.
Wir verloren unsere Wohnung in Duisburg bereits 1942
durch Bomben. Das Ende des letzten Weltkrieges erlebte
ich auf dem Dorf. Ich war 13 Jahre alt. Die amerikanischen Besatzungstruppen holten die Zivilbevölkerung des
Dorfes aus den Kellern der Häuser. Wir mussten uns alle
auf dem nahe gelegenen Schulhof versammeln. Ich lief an
der Hand meiner Mutter an erschossenen deutschen Soldaten vorbei, die am Vortage noch mit uns geplaudert und
gelacht hatten. Das ist ein Erlebnis, das ich nie vergessen
werde.
Die damalige politische Entscheidung der jungen deutschen Republik „Nie mehr deutsche Soldaten“ war sicher
aus der Erfahrung der Menschen, die sie in diesem grausamen Krieg gemacht hatten, richtig. Erst 1968 beschloss
man eine Verfassungsänderung und regelte dann in
Art. 12 a Grundgesetz die Wehr- und Dienstpflicht für
Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an, und zwar für
den Fall der Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland. Auch diese Entscheidung war angesichts der politischen Entwicklung im Osten sicher richtig und notwendig.
Ab 1990 änderte sich die politische Weltlage rasant.
Nach der Wiedervereinigung und der Beendigung des
Kalten Krieges war auch der Ost-West-Konflikt beendet.
Aber die Bundeswehr wurde nicht überflüssig. Seit dem
Fall der Mauer gab es Schritt für Schritt auch außerhalb
der Grenzen Deutschlands Einsätze der Bundeswehr. Nur
beispielhaft sei daran erinnert, dass von Mai 1992 bis November 1993 Sanitäter nach Kambodscha geschickt wurden, um UNO-Soldaten zu betreuen. Von Juli 1992 bis
Oktober 1996 wurde in der Adria das Waffenembargo im
Hinblick auf die Staaten des früheren Jugoslawien mit
Zerstörern und Aufklärungsflugzeugen überwacht. Von
1993 bis 1995 beteiligten sich Bundeswehrsoldaten an der
NATO-Aktion zur Überwachung des Flugverbotes über
Bosnien.
Von August 1993 bis März 1994 schickte Deutschland
ein Heereskontingent zu einem humanitären Einsatz nach
Somalia und im Jahre 1995 waren Bundeswehrsanitäter in
Kroatien im Einsatz. Zur Sicherung des Dayton-Abkommens beteiligten sich 4 000 Soldaten am IFOR-Einsatz in
Bosnien.
Wieder Jahre später nahmen deutsche Tornadokampfflugzeuge an einem begrenzten Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien teil. Bundeswehrsoldaten sind zur Unterstützung einer Friedenstruppe im Kosovo und in
Mazedonien. Schließlich beteiligen sich bewaffnete deutsche Streitkräfte auch an dem Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan.
Die Entsendung deutscher Kontingente war stets
von Beschlüssen des Bundestages begleitet. Denn der
Parlamentsvorbehalt für den militärischen Einsatz von
Streitkräften entspricht seit 1918 deutscher Verfassungstradition. So sollte es auch bleiben.
Nicht immer waren diese Entscheidungen im Bundestag einstimmig. So habe ich seinerzeit gegen den Einsatz
der deutschen Truppen im Kosovo gestimmt, weil ich, wie
ich Ihnen bereits geschildert habe, den Krieg hautnah erlebt habe und weiß, was ein Krieg sowohl für die Soldaten als auch für die Zivilbevölkerung mit sich bringen
kann.
Die Beteiligung deutscher Streitkräfte in Mazedonien
hat meine Zustimmung gefunden, weil ich nach langer
und reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen bin,
dass es sich hier nicht um die Beteiligung an einem Krieg,
sondern um eine friedenserhaltende Maßnahme handelt.
Im Nachhinein ist dies ja auch bestätigt worden. Im Fall
Mazedonien gelang es durch Verhandlungen im Vorfeld
erstmalig, eine Krise zu entschärfen und einen von allen
Konfliktparteien unterstützten Friedensvertrag auszuhandeln. Damit stand keine kriegerische, sondern eine politische Lösung des Konflikts im Vordergrund.
Der 11. September 2001 hat die Situation weltweit entscheidend verändert. Der Terroranschlag in den USA
hat gezeigt, wie verletzlich die westliche Welt und damit
auch unsere Demokratie sein kann. Bei dem Kampf gegen
den internationalen Terrorismus handelt es sich nicht um
einen Krieg. Krieg führt man gegen Staaten; ein Staat erklärt einem anderen den Krieg. Hier bedrohen uns terroristische Kräfte, die nicht greifbar sind. Sie zielen auf eine
Destabilisierung der westlichen Welt - mit unabsehbaren
Konsequenzen auch für uns.
Deshalb habe ich mich seinerzeit entschlossen, dem
Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische
Angriffe zuzustimmen, auch wenn mir dies persönlich ungeheuer schwer gefallen ist. Dennoch möchte ich dafür
plädieren, dass dem Bundestag auch in Zukunft derartige
tief greifende Entscheidungen vorbehalten bleiben. Diesen Parlamentsvorbehalt hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 ausdrücklich bekräftigt und davon sollte man nicht abrücken.
({0})
Auch im vorliegenden Antrag der FDP wird davon ausgegangen, dass grundsätzlich der Deutsche Bundestag mit
der Mehrheit seiner Mitglieder über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte entscheiden soll. Die in diesem Antrag verlangte Kanzlermehrheit würde allerdings
eine Verfassungsänderung mit sich bringen. Denn nach
dem so genannten Adria-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes hat der Bundestag über Einsätze nach
Art. 42 Abs. 2 des Grundgesetzes zu beschließen, das
heißt mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, „soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt“, Herr
van Essen. Wollten wir also eine Kanzlermehrheit, müssten wir die Verfassung ändern.
Der Antrag geht von einem dringenden Handlungsbedarf aus. Ich vermag allerdings eine besondere Eilbedürftigkeit nicht zu erkennen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in dem oben genannten Urteil erklärt - Sie
sagten es bereits -, es sei Sache des Gesetzgebers, jenseits
der im Urteil dargelegten Mindestanforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalts für den Einsatz bewaffneter
Streitkräfte die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher zu gestalten. Für eine derartige gesetzgeberische Gestaltung, die sicherlich wünschenswert
ist, hat das Bundesverfassungsgericht jedoch weder eine
Frist gesetzt noch ein ausdrückliches Gebot aufgestellt.
Ich vermag deshalb nicht festzustellen, jedenfalls zurzeit
nicht, dass es hier einer unverzüglichen gesetzlichen
Regelung bedarf.
({1})
Ebenso wenig ist von einer Rechtsunsicherheit auszugehen. Wir sind ja bisher auch ohne eine ausdrückliche gesetzliche Regelung unseren Verpflichtungen nachgekommen, die international von uns erwartet werden. Das ist
auch richtig so. In Eilfällen muss eben wie bisher der Bundestag zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Wir haben das in der Vergangenheit ja schon mehrfach gemacht.
Inhaltlich habe ich bei einigen der im Antrag enthaltenen Vorschläge doch erhebliche Bedenken. Sie gehen - da
kann ich nur Sie ansprechen, lieber Kollege von der FDPFraktion - davon aus, dass dem Bundestag ein allgemeines Rückholrecht nicht zusteht. Dieses Thema ist in
der Debatte über den Vertrauensantrag des Bundeskanzlers am 16. November 2001 bereits kontrovers behandelt
worden. Damals betonte unser Fraktionsvorsitzender
Dr. Peter Struck ausdrücklich, dass der Bundestag jederzeit eine anders lautende Entscheidung treffen könne. Ich
teile diese Auffassung, aber letztlich werden wir hierzu
Sachverständige des Verfassungsrechts hören müssen.
Soweit der Antrag in Fällen der Geheimhaltungsbedürftigkeit eines Einsatzes vorschlägt, Entscheidungsbefugnisse an ein spezifisches Gremium zu übertragen, wirft
dies allerdings die Frage der Zulässigkeit der Delegation
parlamentarischer Befugnisse auf Untergremien auf.
Problematisch erscheint mir in diesem Zusammenhang
auch, wer gegebenenfalls befindet, ob eine Sache als geheimhaltungsbedürftig eingestuft wird und damit dem betreffenden Gremium zuzuweisen ist.
({2})
Bedenklich ist ferner, dass laut Antrag die Bundesregierung der Herr des weiteren Gesetzgebungsverfahrens
werden soll. Da es sich hier um ein Recht des Parlaments
gemäß dem so genannten Adria-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes handelt, muss das Parlament meines
Erachtens schon bei der Prägung der gesetzlichen Inhalte
entscheidend beteiligt sein. Wir werden wegen dieser Bedenken diesem Antrag heute nicht zustimmen können.
Ich habe allerdings auch Zweifel hinsichtlich der
Ernsthaftigkeit des Anlieges, Herr van Essen, da aufgrund
des späten Einbringens des Antrages in der vorletzten Sitzungswoche und aufgrund der komplexen und zahlreichen Rechtsfragen, die mit dieser Materie verbunden
sind, eine sachgerechte und fundierte Beratung und Entscheidung auf Ausschussebene sicherlich nicht mehr
möglich ist. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie in der damaligen Regierungskoalition von 1994 bis 1998 sicherlich auch schon reichlich Gelegenheit hatten, eine derartige Initiative zu ergreifen.
({3})
- Oh! Das höre ich jetzt.
Der nächste Bundestag wird ein solches Gesetzgebungsvorhaben sicherlich gründlich und sorgfältig zu prüfen haben.
Ich werde dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören, bin aber dankbar, dass ich heute die Gelegenheit
erhalten habe, zum letzten Mal in diesem Plenum in diesem schönen Reichstagsgebäude reden zu dürfen. Ich habe
zwölf Jahre spannender und interessanter parlamentarischer Tätigkeit erlebt. Ich danke allen, die mich in Bonn
und Berlin auf diesem Weg begleitet haben, insbesondere
denen, die in den Ausschüssen, in denen ich mitgearbeitet
habe, immer dabei waren. Herzlichen Dank auch denen,
die heute treu ausgeharrt und mir zugehört haben.
Danke schön.
({4})
Liebe Kollegin
Brandt-Elsweier, ich möchte auch Ihnen ein sehr, sehr
herzliches Dankeschön für Ihre zwölfjährige Arbeit sagen
und Ihnen im Namen des ganzen Hauses alles, alles Gute
für die nächsten Jahrzehnte wünschen. Herzlichen Dank.
({0})
Nun erteile ich dem Kollegen Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Auslandseinsätze der Bundeswehr sind kein Mittel der Politik wie viele andere. Sie
sind in der Regel besonders riskant und begründungsbedürftig. Die Entscheidung über den Auslandseinsatz der
Bundeswehr darf nicht in New York, in Washington oder
in Brüssel gefällt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 12. Juli 1994 klargestellt,
dass diese Verantwortung auch nicht allein der Bundesregierung überlassen werden darf; es ist der Deutsche
Bundestag, der konstitutiv über den Einsatz bewaffneter
deutscher Streitkräfte zu entscheiden hat.
Die parlamentarische Entscheidungshoheit über den
Einsatz der Streitkräfte ist eine fundamentale demokratische Errungenschaft. Das Parlament ist der Ort, an dem
über Einsätze der Bundeswehr entschieden und die Kontrollaufgabe wahrgenommen werden muss.
Die FDP hatte 1994 ein Entsendegesetz angekündigt,
den Worten aber keine Taten folgen lassen. Man muss sich
natürlich fragen, warum die FDP gerade jetzt, kurz vor
dem Ende der Legislaturperiode, mit einem Antrag
kommt, der keine Antworten gibt, sondern nur Fragen
stellt. Die Antwort steht im so genannten Regierungsprogramm der CDU/CSU. Dort heißt es:
Wir streben bei der Vorbereitung und Durchführung
von Beteiligungen der Bundeswehr an multilateralen
Friedenseinsätzen mehr Flexibilität an und werden
dafür die rechtlichen Grundlagen schaffen.
Die FDP steht in Gefahr,
({0})
sich als parlamentarischer Büchsenöffner des Kanzlerkandidaten Stoiber zu betätigen.
({1})
- Doch, Sie werden gleich feststellen, dass ich das getan
habe.
Wir sehen mit großer Sorge, dass innerhalb der CDU/
CSU Pläne geschmiedet werden, wie nach der Bundestagswahl die Rechte des Parlaments in diesem Zusammenhang
eingeschränkt werden können. Jeder Versuch, die Mitwirkungsrechte des Parlaments zu begrenzen oder die Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr auf Polizeiaufgaben im Innern auszuweiten, wird von uns rundweg abgelehnt.
Wir haben in den vergangenen Jahren, seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1994, umfassende Erfahrungen mit den jeweils sehr verschiedenen Einsätzen
der Bundeswehr gemacht. Kein Einsatz glich dem anderen. Vor allem nach dem 11. September gilt es, in Teilbereichen eine Klärung und Verständigung über Kriterien
und Verfahren, nach denen der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte erfolgen kann und soll, vorzunehmen.
Dabei muss es darum gehen, das Völkerrecht und die
Rechte des Parlaments zu stärken. Erste Anforderung an
die Rechtmäßigkeit von Auslandseinsätzen ist ihre
völkerrechtliche Legalität.
({2})
Diese war strittig im Fall der deutschen Beteiligung an
den NATO-Luftangriffen auf die Bundesrepublik Jugoslawien.
Konsens besteht bei den Koalitionsfraktionen und, wie
ich glaube, auch bei der Opposition darüber, dass das Übel
einer Nichtmandatierung durch den VN-Sicherheitsrat
nicht als Präzedenzfall, sondern als Ausnahme in einem
Wertekonflikt und bei einer völkerrechtlichen Regelungslücke verstanden werden darf.
Die rot-grüne Bundesregierung hat seitdem bewiesen
- ich betone: bewiesen -, dass sie bei Auslandseinsätzen
eine eindeutige völkerrechtliche Legitimation zur Voraussetzung macht und deshalb auch immer eine Mandatierung durch den VN-Sicherheitsrat angestrebt hat.
Neue Fragen ergeben sich allerdings im Kontext der
militärischen Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Hier gab der VN-Sicherheitsrat mit den einschlägigen
Resolutionen eine - so will ich es nennen - Einstiegslegitimation, indem er das naturgegebene Recht zur individuellen
und kollektiven Selbstverteidigung bekräftigte.
Immer deutlicher stellt sich aber die Frage, wo die
Grenzen dieses Selbstverteidigungsrechts sind. Wenn die
US-Regierung inzwischen das Recht für sich in Anspruch
nimmt, gegebenenfalls mit Präemptionsangriffen zu jeder
Zeit und an jedem Ort gegen terroristische Bedrohungen
vorzugehen, dann wird damit das allgemeine Gewaltverbot der VN-Charta unterhöhlt und seine Beachtung in das
Belieben der Stärksten gestellt.
Für die Bundesrepublik muss demgegenüber klar sein:
Militärische Bekämpfung des internationalen Terrorismus und anderer Bedrohungen wie zum Beispiel der
Piraterie muss Teil globaler Ordnungspolitik und Aufgabe
von Systemen kollektiver Sicherheit sein. Nur hierüber
erfährt sie völkerrechtliche Legalität und Begrenzung.
Der konstitutive Parlamentsvorbehalt ist nicht nur
verfassungsrechtlich vorgeschrieben, sondern auch politisch überaus sinnvoll. Er gewährleistete bisher eine besonders intensive parlamentarische Beratung und trug zu
einer breiten Konsensbildung bei. Der Parlamentsvorbehalt ist ein Eckstein der militärpolitischen Zurückhaltung
der Bundesrepublik und bleibt unverzichtbar.
Laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts liegt ein
Einsatz bewaffneter Streitkräfte von dem Punkt an vor,
wenn Bundeswehrsoldaten „in bewaffnete Unternehmungen einbezogen“ werden können.
Beobachtermissionen und unbewaffnete Hilfseinsätze
fallen also nicht darunter. Abgrenzungsprobleme stellen
sich aber in der Tat bei Hilfseinsätzen mit Selbstschutzkomponenten sowie bei bewaffneten Erkundungs- und
Vorauskommandos.
Bei einer Klärung dieser Fragen ist zweierlei zu
berücksichtigen. Erstens darf der konstitutiven Befassung
des Parlaments nicht vorgegriffen werden, sie darf nicht
präjudiziert werden. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass
nach aller Erfahrung mit VN-Friedensmissionen eine
schnelle Einsatzbereitschaft der nationalen Kontingente
von entscheidender Bedeutung für die Wirksamkeit von
Friedensmissionen ist.
Die Streitkräfte und das Regierungshandeln im militärischen Bereich unterliegen einer besonderen parlamentarischen Kontrolle durch den Verteidigungsausschuss, den Wehrbeauftragten und das Budgetrecht des
Parlaments. Der Einsatz von Spezialkräften erfordert zum
Schutz ihrer Operationen selbstverständlich besondere
Geheimhaltung. Seit Gründung des Kommandos „Spezialkräfte“ hat meine Fraktion auf den strukturellen
Konflikt zwischen dem Verfassungsgebot der parlamentarischen Kontrolle und den besonderen Geheimhaltungserfordernissen hingewiesen und eine Regelung angemahnt.
Seit der Beteiligung von Spezialsoldaten an „Enduring
Freedom“ ist der Regelungsbedarf offenkundig und dringlich. Einerseits agieren die Bundeswehrsoldaten im Kontext verdeckter und unkonventioneller Einsätze, wo sich
die Frage aufdrängt, wie dabei die Regeln des Kriegsvölkerrechts eingehalten werden können. Andererseits ist bisher eine parlamentarische Kontrolle durch den Verteidigungsausschuss nicht gewährleistet. Die unverzichtbare
parlamentarische Kontrolle ist meiner Meinung nach angemessen nur durch ein der Geheimdienstkontrolle vergleichbares Gremium zu gewährleisten.
({3})
Unter Bundeswehrangehörigen wie auch in der Bevölkerung insgesamt - da sollten wir uns keine Illusionen
machen - gibt es Verunsicherung über Kriterien und Perspektiven von Auslandseinsätzen. Hier mehr Klarheit zu
schaffen gehört zu den wichtigen Aufgaben des nächsten
Bundestages.
Danke schön.
({4})
Die Kollegin Kenzler
und der Kollege von Klaeden haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben.1) Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/9402 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage soll zu-
sätzlich an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität
und Geschäftsordnung überwiesen werden, bei dem ab-
weichend von der Tagesordnung die Federführung liegen
soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Vorsorge und Rehabilitation für
Mütter
- Drucksache 14/9035 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- Drucksachen 14/9563, 14/9611 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Detlef Parr
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Betreuung und Pflege schwerstkranker Kinder
- Drucksache 14/9031 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- Drucksache 14/9585 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Margrit Spielmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Die Reden sind zu Protokoll gegeben worden.2) Des-
halb kann ich die Aussprache sogleich schließen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Vorsorge
und Rehabilitation für Mütter, Drucksache 14/9035. Der
Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Gibt es Stimm-
enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 b: Wir kommen zur Abstim-
mung über den von den Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf
zur Sicherung der Betreuung und Pflege schwerstkranker
Kinder, Drucksache 14/9031. Der Ausschuss für Gesund-
heit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 14/9585, den Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Helga
Kühn-Mengel, Hildegard Wester, Regina Schmidt-
Zadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Monika Knoche,
Christa Nickels, Irmingard Schewe-Gerigk, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Brustkrebs - Mehr Qualität bei Früherken-
nung, Versorgung und Forschung - Für ein
Mammographie-Screening nach europäischen
Leitlinien
- Drucksachen 14/6453, 14/9122 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Widmann-Mauz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Dr. Dieter Thomae, Dr. Irmgard Schwaetzer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der
Versorgung bei Brustkrebs
- Drucksache 14/9099 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.3) Damit erübrigt
sich heute die Aussprache.
Wir kommen sogleich zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf
Drucksache 14/9122 zu dem Antrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Brustkrebs - Mehr Qualität bei Früherkennung, Versor-
1) Anlage 4
2) Anlage 5 3) Anlage 6
gung und Forschung - Für ein Mammographie-Screening
nach europäischen Leitlinien“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/6453 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 31 b: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/9099 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Monika Balt, Petra Bläss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Deutsche Einheit in der Bundeswehr herstellen
- Drucksache 14/8920 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
fünf Minuten erhalten soll. Der Kollege Wolfgang
Gehrcke nimmt sie in Anspruch, alle anderen Redner ha-
ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Bitte schön, Herr
Kollege Gehrcke.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß natürlich, dass man
sich nicht besonders viel Sympathie einhandelt, wenn
man freitags abends noch solch einen Tagesordnungspunkt gestaltet. Das Thema liegt mir aber sehr am Herzen.
Ich hätte vielleicht sogar darauf verzichtet, meine Rede zu
halten, wenn mir nicht heute Morgen ein Schreiben des
Verteidigungsministeriums auf den Tisch gekommen
wäre, das meine Absicht, Ihnen ein Problem vorzutragen,
nur noch erhärtet hat.
Bereits der Titel unseres Antrags „Deutsche Einheit in
der Bundeswehr herstellen“ macht darauf aufmerksam,
dass wir es in der Bundeswehr - und nicht nur dort - mit
Staatsbürgern erster und zweiter Klasse zu tun haben.
Dies wollen wir ändern. Deswegen beantragen wir, die
deutsche Einheit in der Bundeswehr herzustellen. Unser
Vorschlag ist moralisch berechtigt, rechtlich möglich und
finanzierbar.
Das Bundesverteidigungsministerium vertritt allerdings in einem Schreiben vom 10. April 2002 die Auffassung - ich zitiere -:
Das Bundesministerium der Verteidigung vermag
aber auch darüber hinaus, erst recht heute, elfeinhalb
Jahre nach Auflösung der NVA, kein überwiegendes
politisches oder gesellschaftliches Interesse ... zu erkennen.
Der Verteidigungsminister sagt also im Klartext: Es gibt
dort eigentlich kein Problem und kein öffentliches Interesse daran. Das ist nicht akzeptabel.
Der Kern, der geändert werden muss, ist die Einordnung der Dienstzeiten in der NVA als „gedient in fremden Heeren“. Dies ist der Kern aller Auseinandersetzungen. Ich glaube, dass dieser Begriff heute erst recht als
diffamierend empfunden wird. Es handelt sich im Übrigen um eine soziale Benachteiligung. Ich weiß mich hier
übrigens auch mit den Verteidigungsexperten der FDP in
Übereinstimmung, die dies genauso sehen.
Diese Feststellung führt dazu, dass zum Beispiel Vordienstzeiten zwar rentenrechtlich berücksichtigt, aber
nicht als Pensionszeiten anerkannt werden. Dies heißt im
Klartext: Ein Feldwebel der Bundeswehr, der mit 53 Jahren in den Ruhestand geschickt wird, liegt mit seinen Bezügen knapp über dem Sozialhilfesatz.
Ich habe vor kurzem einen Brief bekommen, der einen
konkreten Fall betrifft. Diesen möchte ich knapp darstellen: Ein Angehöriger der Bundeswehr wurde mit 53 Jahren in den Ruhestand versetzt. Er war insgesamt 13 Jahre
bei der Bundeswehr, davor bei der NVA. Er erhält für den
Zeitraum zwischen 53 und 65 Jahren 44 Prozent der Bezüge. Wenn er nur bei der Bundeswehr gewesen wäre,
hätte er 75 Prozent der Bezüge erhalten. Ihm gehen also
30 Prozent verloren. Dies ist moralisch, rechtlich und politisch nicht zu verantworten.
({0})
Hinzu kommt noch ein anderes Problem: Sie schicken
Soldaten aus Ost und West zu Auslandseinsätzen, die riskant sind, wie wir eben noch einmal gehört haben. Die Besoldung jedoch ist unterschiedlich. Ich finde, solche
Dinge dürfen nicht aufrechterhalten werden.
Angehörige der NVA, die in die Bundeswehr übernommen wurden, sind in ihrem Dienstrang herabgestuft
worden. Ehemalige Angehörige der NVA dürfen ihren erworbenen Dienstrang auch nicht mit dem Zusatz „außer
Dienst“ führen, anders als Angehörige der Bundeswehr
oder der ehemaligen Wehrmacht. Auch hierzu möchte ich
das Verteidigungsministerium zitieren, damit Sie erkennen können, mit welchem Problem wir es zu tun haben.
Das Verteidigungsministerium schreibt dazu:
Wer das Recht auf Führung von NVA-Dienstgradbezeichnungen fordert, tut dies vorwiegend, weil er
seine Privilegien eingebüßt hat und das Recht auf
Dienstgradführung ihm wenigstens die Möglichkeit
gäbe, nach außen hin seine einstige gesellschaftliche
Stellung zu dokumentieren.
Das ist Klartext Bundeswehr! Das ist schlichtweg eine
Diffamierung der betroffenen Menschen.
Ich will gar nicht über Privilegien reden. Ich finde, derjenige, der es möchte - das wäre niemals mein Problem;
ich bin Hanseat, wir machen das nicht -,
({1})
Präsident Wolfgang Thierse
1) Anlage 7
soll seinen Dienstgrad mit dem Zusatz „a. D.“ führen können, egal ob Bundeswehr, Wehrmacht oder NVA.
Mit dieser Begründung der Bundeswehr wird das
Ganze auf den Kopf gestellt. Man unterstellt, dass der
Betroffene nicht ruhen wird - ich zitiere wieder -, „bis
er die völlige rechtliche Gleichstellung mit den Soldaten der Bundeswehr auch in anderen Bereichen erlangt
hat.“ Erstens. Das ist eine Unterstellung. Zweitens. Ist
es eigentlich ein Verbrechen, dass jemand, der bei der
NVA war, seine völlige Gleichstellung mit anderen Angehörigen der Bundeswehr erlangen will? So argumentiert das Verteidigungsministerium. Ich habe korrekt zitiert.
Das wollte ich Ihnen vortragen. Ich finde, es ist nicht
akzeptabel, so mit Menschen umzugehen. Deswegen
muss das beraten und verändert werden. Eine rechtliche,
moralische und politische Gleichstellung für alle Angehörigen der Bundeswehr und ehemaligen Angehörigen
der NVA ist herbeizuführen.
Das kann rasch befördert werden, weil es ein überschaubarer Personenkreis ist. Wir könnten es ohne Probleme machen. Ich höre immer wieder von Leuten aus
dem Bereich der Verteidigung, dass eigentlich alle dafür
sind, es zu tun. Woran liegt es denn dann, dass dieses Verteidigungsministerium es nicht gewährleisten will? Fehlendes Geld kann nicht der Grund sein; denn Geld ist in
anderen Bereichen offensichtlich vorhanden.
Darum möchte ich Sie an diesem Freitagnachmittag
bitten. Ich weiß, dass ehemalige Angehörige der NVA dies
sehr aufmerksam und wach verfolgen. Ich weiß nicht, was
meine anderen Kolleginnen und Kollegen gesagt hätten,
wenn sie gesprochen hätten. Ich werde es nachlesen. Ich
hoffe, dass sie sich alle für den Vorschlag, den wir unterbreiten, zumindest im schriftlichen Text ausgesprochen
haben.
Herzlichen Dank für Ihre Mühe und dafür, dass Sie
mich am Freitagabend noch angehört haben.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8920 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 3. Juli 2002, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.