Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/27/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung, die die Bundesregierung dieser Debatte beimisst, ist daran zu erkennen, dass außer dem Verkehrsminister, der die Regierungserklärung abgegeben hat, kein anderer Minister anwesend ist. ({0}) Ich stelle das nur einmal fest. Gegenüber dem Anfang der Debatte hat sich die Zahl der anwesenden Staatssekretäre bereits vermindert. Der Prozess wird sich vermutlich so fortsetzen. Das zeigt deutlich, welchen Stellenwert Sie dieser Debatte beimessen. ({1}) Herr Bodewig, um Sie direkt anzusprechen: Ich denke in der letzten Zeit eigentlich immer, wenn ich Sie höre, dass ich offensichtlich in einem ganz anderen Land lebe. Sie sprachen gerade davon, wie attraktiv Deutschland sei, was Sie alles geleistet hätten und wie wunderschön diese Welt sei. Ich stelle fest: Die Menschen in Deutschland haben Angst vor Arbeitslosigkeit. Wir haben nach wie vor 4 Millionen Arbeitslose; Sie haben versprochen, diese Zahl auf 3,5 Millionen zu senken. Nichts ist passiert. Die Furcht vor Arbeitslosigkeit führt zu Angstsparen. Es gibt zurzeit keine Investitionen der Wirtschaft. Sie, Herr Bodewig, und die ganze Regierung reden immer wieder davon, der Aufschwung sei da. Wo bleibt er denn? Ich kann Ihnen 25 Zitate von Herrn Eichel liefern, in denen er sagte, es gebe jetzt die ersten Anzeichen und im nächsten Monat komme er. Wann ist dieser nächste Monat denn konkret? Ich sehe nichts als Traumtänzerei, nichts als Versprechungen, nichts als Ankündigungen. ({2}) Dann haben Sie gesagt, früher habe sich nichts bewegt. Ich war neulich bei einer Podiumsdiskussion über Infrastruktur mit dem Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft, Herrn Tacke. ({3}) Da wies er auf die Leistungen dieser Bundesregierung hin: Reformen im Telekommunikationsbereich, Reformen im Bereich der Post, Reformen im Bereich der Energiewirtschaft. ({4}) Das sind alles Reformen, meine Damen und Herren, die wir auf den Weg gebracht haben und die Sie zum Teil wieder rückgängig gemacht haben. Das heißt, er hat mit nichts werben können, was auf eigene Leistungen zurückgeht. ({5}) Genauso ist es mit Ihnen, Herr Bodewig. Ich will auch ganz deutlich sagen, warum. Indem Sie hier über Investitionen sprechen, versuchen Sie detailreich darüber hinwegzutäuschen, dass eigentlich das entscheidende Papier, die grundlegende Konzeption, die wir alle erwarteten, nämlich der Bundesverkehrswegeplan, nicht vorliegt. Sie haben das in Ihre Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben. Bereits vor gut einem Jahr stöhnten Kollegen von Ihrer Seite darüber, dass Sie all dies nicht erreichten. Damals war es eine Befürchtung, dass der Bundesverkehrswegeplan in dieser Legislaturperiode nicht mehr verabschiedet werden würde. Heute ist aus der Befürchtung Realität geworden, Herr Bodewig. Gleichwohl behaupten Sie, alles, was Sie auf den Weg gebracht hätten, sei wirklich neu und zukunftsweisend gewesen. Bundesminister Kurt Bodewig Wir müssen feststellen, dass der Bundesverkehrsminister die Umorientierung nicht so begreift, wie wir sie brauchen. Wir brauchen eine ganz deutliche Hinwendung zum Straßenverkehr. Wir brauchen wesentlich mehr Mittel für die Straße, als im Haushalt angesetzt worden sind. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor einem Jahr hat die Unionsfraktion das Konzept „Mobilitätsoffensive“ vorgelegt. In ihm haben wir deutlich gemacht, dass zusätzlich zu den im Haushalt veranschlagten Mitteln in den nächsten zehn Jahren 60 Milliarden ausgegeben werden müssen. ({7}) Wir haben das sauber durchfinanziert und im Haushaltsausschuss die entsprechenden Anträge gestellt. Das alles ist von Ihnen abgelehnt worden. Jetzt legt Ihre Partei - Sie stilisieren das zu einem Regierungsprogramm hoch - ein 90-Milliarden-Programm vor, bei dem ich aber nicht zu erkennen vermag, wie es konkret angelegt sein soll. Auch erstaunt mich, dass es im Gegensatz zu Herrn Eichels Finanzplanung steht, die für die nächsten Jahre ein Abschmelzen der Investitionsmittel im Verkehrsbereich vorsieht. ({8}) Was soll also die vollmundige Ankündigung von immer neuen Programmen, wenn schlussendlich nichts davon übrig bleibt? ({9}) Sie reden und kündigen an, aber Sie handeln nicht. Sie haben jetzt doch weiß Gott genug Zeit gehabt, um zu handeln. Meine Damen und Herren, so können wir das nicht durchgehen lassen. Ich will nur noch einen kurzen Satz zu den anderen Politikfeldern sagen, weil Sie behauptet haben, dass alles gut laufe. Sie haben keine Gesundheitsreform durchgeführt, obwohl Sie sie angekündigt hatten. Sie haben kein Energiekonzept vorgelegt, obwohl Sie es angekündigt hatten. Auch in allen anderen Bereichen nichts als Ankündigungen! So kann es nicht gehen, meine Damen und Herren. ({10}) Bei genauer Betrachtung all dessen, was Sie dargestellt haben, ist festzuhalten: Die Maut sollte längst auf den Weg gebracht sein. ({11}) Aber sie wird zum 1. Januar 2003 nicht kommen. ({12}) Dann haben Sie vollmundig gesagt, die Maut werde zur Verkehrsinfrastrukturfinanzierung gebraucht. Nun ist deutlich, dass der überwiegende Teil in die Sanierung des Haushalts von Herrn Eichel und nicht in die direkte Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur fließt. ({13}) Das ist wie bei der Ökosteuer, die Sie zum 1. Januar 2003 wiederum anheben wollen, ein reines Abkassieren. Das darf so nicht sein. Sie haben dem Verkehrsgewerbe Harmonisierungen zugesagt, diese Zusage aber nicht eingehalten. Das wird dazu führen, dass in diesem mittelständischen Gewerbe Betriebe Pleite gehen. Wir haben in diesem Jahr ohnehin einen Pleitenrekord. Es wird wegen Ihrer Politik noch mehr Pleiten geben. Wer keine Harmonisierung vorsieht - Herr Bodewig, Sie haben heute überhaupt nicht darüber gesprochen -, ({14}) trägt dazu bei, dass ein wichtiger Teil des deutschen Verkehrsgewerbes in die Pleite getrieben wird. ({15}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf andere Punkte eingehen. Zum Thema Transrapid ist zunächst festzuhalten, dass Sie es waren, die die Strecke von Hamburg nach Berlin eingestellt haben. Jetzt sprechen Sie von zwei neuen Projekten. Das ist sehr schön. Wo ist aber die Finanzierung dieser Projekte? Im Haushalt 2003 ist nichts enthalten und für die Folgejahre, Herr Bodewig, haben Sie noch nicht einmal eine müde Milliarde eingestellt. Das nennt eine Zeitung „Kainsmal für den Standort Deutschland“, eine andere titelt „Schnell ohne Geld“. Auch in dieser Frage sind Sie also absolut unglaubwürdig. ({16}) Die Projekte, von denen Sie sprechen, Herr Bodewig, betreffen stets Dinge, die Sie nicht gemacht haben. Davon wollen Sie jetzt ablenken. Das gilt auch für die Verlagerung von Verkehr von der Straße auf die Schiene. Sie haben nichts geleistet. Die Bahn hat Interregiostrecken abgebaut und Annahmestellen für Fracht geschlossen. Sie haben dem nur zugeschaut, und zwar - wie Ihr Vorbild mit einer ganz ruhigen Hand. Getan haben Sie nichts. Wie wollen Sie eigentlich die Bereitschaft wecken, Verkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen, wenn Sie eine solche Politik der Ausdünnung des Schienennetzes und der gleichzeitigen Schließung von Annahmestellen betreiben? Ihre Politik, Herr Bodewig, geht genau in die falsche Richtung. Deshalb werden wir das korrigieren müssen. Sie haben auch zugeschaut, als die Bahn Wettbewerb nicht zugelassen hat. ({17}) Sie müssen sich nur einmal mit denjenigen unterhalten, die Wettbewerb mit der Bahn möchten. Sie stellen dann fest: Die Bahn stellt Interregios ein, lässt aber nicht zu, dass andere diese Interregiostrecken nutzen. Lieber will Dr. Klaus W. Lippold ({18}) sie Wagen verschrotten, als sie anderen zur Verfügung zu stellen. ({19}) Lieber will sie, dass der Verkehr in bestimmten Regionen nicht mehr stattfindet. Gegen diesen Monopolisten tun Sie nichts. Wer ist eigentlich Verkehrsminister, Herr Mehdorn oder Sie? ({20}) Diese Frage beantwortet sich, wenn ich in die Gesichter Ihrer Kollegen sehe, ganz von selbst. Machen wir uns nichts vor: Das ist nicht die Politik, die wir brauchen. Es nützt auch nichts, wenn Sie in Vertretung des Bundeskanzlers nach Schanghai fahren und dort den Transrapid einweihen. Hier, in der Bundesrepublik Deutschland, sollten Sie ihn einweihen. ({21}) Das wäre eine Position, die wir brauchen könnten. ({22}) Weiter sprachen Sie davon, Sie hätten die Mittel für die Bahn erhöht. Sie müssten aber auch auf die Bahn einwirken, dass sie diese Mittel verausgabt. ({23}) Jahr für Jahr werden hohe Millionenbeträge, die der Bahn für Investitionen zur Verfügung stehen, nicht in Investitionen und damit nicht in Arbeitsplätze umgesetzt. Das ist ein Skandal. Sie haben ihn erst bestritten; als wir es Ihnen nachweisen konnten, wurde der zuständige Bahnvorstand gefeuert. Das sind Bauernopfer; die falschen Leute gehen. Wer etwas Richtiges will, muss auch dafür sorgen, dass die Mittel, die für die Bahn zur Verfügung gestellt werden, ausgegeben werden. Alles andere ist falsch. Das können wir so nicht akzeptieren. ({24}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie hörten, dass Herr Bodewig davon gesprochen hat, dass für den Flugverkehr etwas getan werden muss. Wenn Sie sich den entsprechenden Bericht des Ministeriums und der Bundesregierung ansehen, dann werden Sie feststellen, dass darin lediglich eine Situationsbeschreibung erfolgt. Daraus ist nicht zu erkennen, wo was nachdrücklich angeschoben werden soll, wo und wie diese Bundesregierung mit Nachdruck initiativ ist. Es handelt sich also auch hierbei um eine bloße Ankündigung, mit der Sie ablenken. Die deutsche Wirtschaft spricht nicht nur im Hinblick auf die Straße und auf die Bahn von einer Instandhaltungskrise. Die deutsche Wirtschaft macht das an Ihnen fest, weil in den letzten vier Jahren zur Beseitigung dieser Instandhaltungskrise nichts getan worden ist. ({25}) Wenn Brückenstücke einstürzen, Herr Bodewig, dann kann das nicht länger hingenommen werden. Das sind Positionen, über die Sie hinwegreden, als hätten andere das alles zu verantworten, nur nicht Sie. Ich sage Ihnen ganz deutlich: In dieser Form geht es wirklich nicht. Wir brauchen einen Verkehrsminister, der sich gegenüber der Bahn durchsetzen kann, der die notwendigen Mittel nicht nur ankündigt, sondern sie gegenüber dem Finanzminister auch durchsetzt, einen Verkehrsminister, der dafür sorgt, dass die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur der Bundesrepublik Deutschland nicht nur angekündigt, sondern auch jetzt sofort getätigt werden und damit ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geleistet wird. Bislang haben Sie dies nicht geschafft. Deshalb werden wir diesen Ansatz nach dem 22. September ohne jeden Abstrich verändern. Wir werden mehr Mittel für die Infrastruktur, für Straßenbau und für Schiene zur Verfügung stellen; wir werden beide gleichrangig fördern. Wir werden auch dafür sorgen, dass Wasserstraßen und Flughäfen besser bedient werden. ({26}) Wir werden die Grundlage für eine Politik schaffen, die den Aufschwung und Arbeitsplätze ermöglicht, also das, was mit Ihnen bedauerlicherweise nicht zu realisieren ist. Vielen Dank. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Reinhard Weis, SPD-Fraktion, das Wort.

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eben eine sehr schwache Rede in Reaktion auf die Regierungserklärung von unserem Minister Kurt Bodewig gehört. ({0}) Schlecht reden, Vorurteile schüren, das war der Inhalt dessen, was Herr Lippold uns hier angeboten hat. Es wird Ihnen in Ihrer giftigen Art nicht gelingen, das zu zerreden, was wir an Erfolgsbilanz aufzuweisen haben. ({1}) Ich freue mich, dass ich hier Gelegenheit habe, für meine Fraktion Bilanz über eine äußerst erfolgreiche verkehrspolitische Legislaturperiode zu ziehen. Bundesregierung und Koalitionsfraktionen haben die Verkehrspolitik endlich wieder vorangebracht, nachdem sie in 16 Jahren Kohl-Regierung buchstäblich zur Sparkasse der Nation gemacht wurde. Nach nur vier Jahren haben wir eine Trendwende geschafft. Vom absoluten Tiefststand der Verkehrsinvestitionen am Ende der schwarz-gelben Dr. Klaus W. Lippold ({2}) Regierungszeit 1998 geht es seit 1999 kontinuierlich wieder aufwärts, bis zu der Rekordmarke dieses Jahres von 1,5 Milliarden Euro für Verkehrsinvestitionen. ({3}) Wir haben die Weichen für ein modernes, effizientes und umweltverträgliches Verkehrsnetz gestellt, in dem alle Verkehrsträger - Straße, Schiene, Wasserstraße und Luftverkehr - ihren eigenen Schwerpunkt haben. Mit mehreren Investitionsprogrammen haben wir den Ausbau dieses integrierten Verkehrsnetzes vorangetrieben. Wir haben das Schienennetz überproportional mit Investitionsmitteln begünstigt: Es ist richtig, es gab Anfangsschwierigkeiten beim Einsatz dieser unerwartet zur Verfügung stehenden Mittel. Aber ich bin davon überzeugt: In diesem Jahr wird der Bahn auch die Punktlandung bei der Ausgabe dieser Mittel gelingen. ({4}) Wir haben ein Investitionsprogramm eingeleitet, mit dem endlich die Langsamfahrstellen im Schienennetz, im Bestandsnetz beseitigt werden. Besonders begrüßen will ich an dieser Stelle, dass es der Bundesregierung gelungen ist, den Ländern und den Abgeordneten des Deutschen Bundestages schon jetzt sämtliche Rohdaten für den nächsten Bundesverkehrswegeplan zur Verfügung zu stellen. ({5}) - Immer mit der Ruhe! - Wer sich mit diesen Daten näher beschäftigt hat, weiß, welcher Kraftakt hier zu leisten war. Über 1 900 Projekte waren von den Ländern angemeldet worden und sind vom Ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen in Zusammenarbeit mit externen Fachleuten hinsichtlich ihrer Kosten und Risiken, hinsichtlich ihrer verkehrlichen Bedeutung usw. bewertet worden. Gleichzeitig wurde ein völlig neues und ökologisch anspruchsvolles Bewertungsraster erstellt. Die Länder werden nun bis zum Ende des Sommers die vorhandenen Daten auf ihre Plausibilität und Vollständigkeit zu überprüfen haben. Sie werden auch - darauf warten wir alle mit Spannung - eine Prioritätenliste zu erstellen haben. Eine derartige Transparenz bei der Erstellung des Bundesverkehrswegeplanes hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bisher noch nicht gegeben. ({6}) Vor diesem Hintergrund ist jedes kleinliche Geningele darüber, dass der Bundesverkehrswegeplan noch nicht endgültig verabschiedet worden ist, doch albern. ({7}) Ich möchte Sie daran erinnern, wie vehement Sie am Anfang dieser Legislaturperiode die Notwendigkeit der Überarbeitung des Bundesverkehrswegeplanes bestritten und in Abrede gestellt haben. ({8}) Wir haben dafür gesorgt, dass der unrealistische Bundesverkehrswegeplan von 1992, den Sie zu verantworten hatten, zehn Jahre früher überarbeitet wird. Ab 2003 wird die gesetzgeberische Arbeit zu dem Bundesverkehrswegeplan abgeschlossen sein. In den letzten vier Jahren sind wir auch bei der Verkehrssicherheit entscheidend vorangekommen. Neben dem Handyverbot am Steuer haben wir endlich eine klare 0,5-Promille-Regelung eingeführt. In Ihrer Regierungsverantwortung konnten Sie sich dazu nie durchringen, sondern Sie pflegten augenzwinkernd die Vorstellung, eine Verletzung der 0,5-Promille-Grenze sei ein Kavaliersdelikt. Mit dem Programm „Mehr Sicherheit im Straßenverkehr“ schützen wir vornehmlich die schwächeren Verkehrsteilnehmer, die Kinder, die Älteren und mobilitätsbehinderte Menschen. Wir haben die Bahnreform aus der Sackgasse herausgeholt, in die sie einer Ihrer Bundesverkehrsminister, nämlich Kollege Wissmann, erst hineingefahren hat. Wir haben die Investitionsmittel für die Schiene um 59 Prozent gesteigert. Wir haben das Regionalisierungsgesetz verabschiedet. Wir haben in zähen Verhandlungen Einvernehmen über Höhe und Art der Dynamisierung der Regionalisierungsmittel erzielt und bereits im laufenden Haushaltsjahr werden die Regionalisierungsmittel des Bundes an die Länder auf 6,7 Milliarden Euro ansteigen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Weis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert von der PDS-Fraktion?

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lieber Kollege Weis, Sie sprachen gerade so euphorisch davon, dass Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, zum Beispiel behinderte Menschen, von Ihrem Bahnkonzept profitieren würden. Können Sie mir bitte einmal sagen, warum immer noch nicht festgelegt ist, dass jedes neue Verkehrsmittel, das angeschafft wird, und zwar egal von wem, zum Beispiel Deutsche Bahn AG oder Vivendi -, alle Menschen, die es wünschen, zum Beispiel Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, Menschen mit Kinderwagen, mitnehmen können muss? Warum um Himmels willen legen Sie nicht fest, dass ein Verkehrsmittel, das nicht jeden Menschen mitnehmen kann, kein öffentliches Verkehrsmittel ist? ({0})

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Seifert, Sie wissen, dass wir in dieser Legislaturperiode ein Gesetz Reinhard Weis ({0}) verabschiedet haben, das den Mobilitätsbedürfnissen behinderter Menschen gerecht wird. Das Prinzip der Barrierefreiheit ist verankert. Dieses Gesetz gilt seit dem 1. Mai dieses Jahres. Sie wissen auch, dass es zum Beispiel bei der DB AG Bemühungen und Abstimmungen mit dem eigenen Behindertenbeauftragten, den die DB AG hat, gibt, das Ziel, das Sie ansprechen, umzusetzen. Dieser Auftrag ist in dem neuen Gesetz verankert. Wir als Gesetzgeber werden natürlich die Wirkung dieses Gesetzes und die Abwicklung der Verkehre, sei es auf der Schiene oder auf der Straße, zu überprüfen und zu gegebener Zeit darauf zu reagieren haben. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Weis, gestatten Sie eine Nachfrage des Kollegen Seifert?

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Natürlich weiß ich, dass das Gleichstellungsgesetz erst seit dem 1. Mai diesen Jahres in Kraft ist. Aber ich weiß auch, dass in diesem Gleichstellungsgesetz nicht festgelegt ist, ab wann keine neuen behindertenfeindlichen Verkehrsmittel mehr eingeführt werden dürfen. Es steht nur darin, dass es irgendwann nicht mehr sein soll, aber nicht, ab wann, geschweige denn, dass es Übergangsfristen gibt. Außerdem sprachen Sie von dem Behindertenbeauftragten der Bahn AG. Mir wurde gesagt, dass die Bahn AG jetzt beginnt, ein Konzept zu erarbeiten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Seifert, Sie müssen eine Frage stellen.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Entschuldigung, Herr Präsident! - Warum haben Sie nicht vorgegeben, ab wann keine behindertenfeindlichen Fahrzeuge mehr angeschafft werden dürfen und bis wann die vorhandenen Fahrzeuge umgerüstet bzw. ausgetauscht werden müssen? Es reicht doch nicht aus, dass die Bahn AG jetzt beginnt, ein Konzept zu erarbeiten. Seit Jahrzehnten sind die

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Seifert, entschuldigen Sie, dass ich schon jetzt mit der Antwort beginne. Die Verantwortlichen für Verkehrsleistungen haben mit dem neuen Gesetz ein Datum gesetzt bekommen, nämlich den 1. Mai, sich dieser Aufgabe zu stellen. Das Ziel der Barrierefreiheit ist nicht auf Knopfdruck zu erreichen. Wir werden die Entwicklungen und die Reaktionen auf dieses Gesetz beobachten. ({0}) Im Zusammenhang mit dem Schienenverkehr und mit neuen Rahmenbedingungen für den Schienenverkehr haben wir mit der AEG-Novelle erstmals eine funktionstüchtige Wettbewerbsaufsicht für die Schiene geschaffen und zugleich Chancen für Streckenübernahmen durch nicht bundeseigene Bahnen verbessert. Hier geht zum einen natürlich der Dank in Richtung Bundesregierung. Wir als Parlamentarier der Koalitionsfraktionen wissen aber auch, dass wir an dieser einvernehmlichen Lösung ebenfalls einen erheblichen Anteil haben. Natürlich haben auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, in Ihrer Regierungszeit davon gesprochen, wie notwendig die Verlagerung von der Straße auf die Schiene ist. Getan haben Sie dafür allerdings nichts. Deshalb begrüßen wir ausdrücklich die Ergebnisse der Taskforce, eine stärkere Unabhängigkeit des Netzes durch transparente Leistungsverrechnungen, Bilanzen sowie Gewinn- und Verlustrechnungen, die zu veröffentlichen sind, innerhalb des Konzerns DB AG herzustellen und eine unabhängige Trassenagentur einzurichten, die die Diskriminierungsfreiheit von Trassenpreisen und Trassenvergabe kontinuierlich sicherstellen soll. Wir werden diese Ergebnisse so rasch wie möglich umsetzen. Sie haben immer nur von Wettbewerb geredet. Wir machen ihn möglich. ({1}) Es ist richtig, dass Sie an dieser Stelle ganz ruhig bleiben. Die Beiträge der Oppositionsparteien zum Thema Bahn waren nämlich Dokumente der Zerstrittenheit in Ihren Reihen. Ihr Fraktionsvorsitzender Herr Merz und sein Fraktionskollege Fischer haben noch Anfang April lauthals die konsequente Trennung von Netz und Betrieb der DB AG gefordert. Das hat Ihren Kanzlerkandidaten Herrn Stoiber allerdings wenig beeindruckt. Mit Schreiben vom 22. April dieses Jahres versichert er Herrn Mehdorn, eine Abtrennung des Schienennetzes aus der DB AG werde es mit ihm nicht geben. ({2}) Die Beschlüsse der Taskforce weisen in die richtige Richtung. Sie im so genannten Kompetenzteam sollten erst einmal untereinander klären, welche Verkehrspolitik Sie wollen und wer zu welcher Aussage berechtigt ist. ({3}) Ein weiterer Meilenstein der letzten Legislaturperiode war die Einführung der entfernungsabhängigen LKWMaut. Auch zu diesem Thema hat die Opposition ihre Rolle leider noch nicht gefunden. Eigentlich haben Sie das Vorhaben mit auf den Weg gebracht. Aber als es dann ernst wurde, schalteten Sie leider auf Populismus. Die entfernungsabhängige LKW-Maut nimmt eine Schlüsselrolle in unserer Verkehrspolitik ein. Sie beteiligt ausländische Fahrzeuge endlich angemessen an der Finanzierung unserer Verkehrsinfrastruktur. Die Wegekosten werden verursachergerecht angelastet. Das ist ein erster Schritt, Wettbewerbsverzerrungen auf dem europäischen Transportmarkt abzubauen. Zu dem Problem der Wettbewerbsverzerrungen werde ich später noch zurückkommen. Mit der LKW-Maut werden wir neue Investitionsspielräume erschließen. Mehr als die Hälfte der Mittel ist für zusätzliche Verkehrsinvestitionen zweckgebunden. Das Anti-Stau-Programm wird ab dem nächsten Jahr mit 756 Millionen Euro jährlich finanziert werden, übrigens unabhängig davon, dass die Maut voraussichtlich erst ab Reinhard Weis ({4}) Mitte 2003 erhoben wird. Entsprechende Verpflichtungsermächtigungen sind im Haushalt eingestellt, damit die Finanzierung des Anti-Stau-Programms schon zu Jahresbeginn gesichert ist. Auch für die nächste Legislaturperiode haben wir uns viel vorgenommen. Die Mobilitätsansprüche werden weiter wachsen. Deshalb bleibt der Ausbau des integrierten Verkehrsnetzes eine dauerhafte Aufgabe. Wir werden den Bundesverkehrswegeplan im Jahr 2003 verabschieden. Wir wollen das Volumen des Güterschienenverkehrs bis zum Jahr 2015 verdoppeln. Das ist ehrgeizig. Aber als das am stärksten belastete Transitland in Europa gibt es dazu keine Alternative. ({5}) Die Bahn muss in die Lage versetzt werden, ihre verkehrspolitische Rolle wahrnehmen zu können. Wir begrüßen ausdrücklich das 90-Milliarden-EuroInvestitionsprogramm, das der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Kurt Bodewig, vorgestellt hat. Bereits die Vorlage des Verkehrshaushaltes 2003 in diesen Tagen zeigt uns ein wachsendes Investitionsvolumen mit der neuen Rekordhöhe von rund 12 Milliarden Euro für 2003. Davon entfallen 4,6 Milliarden Euro allein auf die Schiene und 4,9 Milliarden Euro auf die Bundesfernstraßen. Kritik aus den Reihen der Opposition ist vor dem Hintergrund dieser Zahlen geradezu lächerlich. Angesichts des Ziels der Opposition, die Staatsquote auf 40 Prozent zu senken, möchte ich wissen, aus welchem Topf die Investitionen, die Sie fordern, bezahlt werden sollen. ({6}) Wir müssen uns überlegen, wie wir die Übergänge zwischen Straße, Schiene und Wasserstraße noch effizienter gestalten können. Der Kombiverkehr hat immer noch nicht die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt. Wir haben deswegen das bestehende Instrumentarium überprüft. Wir werden die Förderrichtlinien effizienter gestalten, damit wir die Verdoppelung des Mittelansatzes, die wir uns vorgenommen haben, auch erreichen können. Das kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass auch mobile Verladeeinrichtungen in den Kombiterminals finanziert werden können. Wir müssen auch darüber nachdenken, wie die Verantwortung für die kommunale Verkehrsinfrastruktur gestärkt wird. Das ist zwar keine originäre Bundesangelegenheit, aber zum Verkehrssystem gehören nicht nur Bundesautobahnen und Bundesstraßen. Mein Kollege Wolfgang Spanier hat in der vergangenen Sitzungswoche hier im Deutschen Bundestag das Problem der Stadtflucht angesprochen und vor einem Ausbluten der Städte gewarnt. Aus verkehrspolitischer Sicht möchte ich diese Warnung ausdrücklich unterstreichen. ({7}) Die städtische Infrastruktur ist Teil des öffentlichen Raumes, den wir für die Bürgerinnen und Bürger erhalten und pflegen und den wir dort, wo er vernachlässigt worden ist, zurückgewinnen müssen. Auch das gehört zu unserem integrativen verkehrspolitischen Ansatz. Obwohl der Bund hierfür keine originäre Verantwortung und Zuständigkeit hat, werden wir uns dieser Aufgabe in der Zukunft stellen müssen. ({8}) Wir haben uns vorgenommen, die Lebensqualität in den Städten und Gemeinden weiter zu verbessern. 300 Ortsumfahrungen stehen deshalb in unserem Investitionsprogramm. Es geht uns aber auch um die Bedingungen für den öffentlichen Personennahverkehr sowie für Fahrradfahrer und Fußgänger. ({9}) Schließlich werden wir uns weiter um die in den Städten bestehenden Umweltbelastungen durch den Verkehr kümmern müssen. Verkehrslärm ist immer noch ein Hauptproblem bei der Beeinträchtigung der Wohnqualität. ({10}) Noch ein Wort zur aktuellen Diskussion über die Bahnwerke: Wir haben großes Verständnis für die Sorgen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Werken, für die noch keine Bestandslösung gefunden wurde. Auch wissen wir, wie eine Schließung vor allem der drei sächsischen Werke auf die betroffenen Regionen wirken würde. Wir begrüßen es daher außerordentlich, dass im vergangenen Jahr auf Anregung des Bundeskanzlers Verhandlungen zwischen der Bahn und den Gewerkschaften in Gang gekommen sind. Diese Gespräche sind wegen des grundlegenden Strukturwandels in diesem Bereich schwierig. Aber ich bin sicher, dass die Bundesregierung weiterhin jedes realistische Konzept für den Erhalt dieser Werke konstruktiv begleiten wird. Es bleibt allerdings festzuhalten: Die wirtschaftliche Verantwortung für diese Werke liegt beim Vorstand der DB AG. Es führt deshalb überhaupt nicht weiter, zum Beispiel umfangreiche und nicht finanzierbare Programme zur Umrüstung des Wagenparks der Bahn zu fordern, wie das in einem Antrag der PDS getan wurde. Sie alle wissen, dass der Bund erhebliche finanzielle Anstrengungen unternimmt, um das System Schiene zu stärken. Darin wird die Lösung für die Probleme im Werkebereich bestehen. ({11}) Wir halten an unserem Ziel, die Wettbewerbsbedingungen für alle Verkehrsträger fairer zu gestalten, fest. Die Bahn ist nicht nur gegenüber dem Straßenverkehr, sondern auch gegenüber dem Flugverkehr benachteiligt. Das dürfen wir auf Dauer nicht so lassen. Im grenzüberschreitenden Schienengüterverkehr bestehen schlimme Wettbewerbsnachteile gegenüber dem Straßenverkehr. In diesem Bereich brauchen wir größere Fortschritte, weil hier das größte Zuwachspotenzial für den Schienengüterverkehr besteht. Manche Grotesken in Europa, zum Beispiel drei Spurweiten, zwölf Schienensicherungssysteme und fünf Stromsysteme, müssen wir überwinden. Hier mahlen die Mühlen auf EU-Ebene sehr Reinhard Weis ({12}) langsam. Zudem ist dies ein schwieriges technisches Problem. Auch hinsichtlich des Wettbewerbs auf dem europäischen Straßengüterverkehrsmarkt bleibt viel zu tun. Unsere EU-Partner sind in einen Subventions- und Dumpingwettlauf eingetreten, der beim deutschen Transportgewerbe eine schwierige Situation erzeugt hat. Auch wenn die Subventionen der Nachbarn zum Ende dieses Jahres definitiv auslaufen werden, müssen wir auf europäischer Ebene weiter die Initiative ergreifen, ({13}) um endlich das Problem der Wettbewerbsverzerrungen vom Tisch zu bekommen. In diesem Bereich wird eine Lösung gefunden werden müssen. In diesem Zusammenhang - auch wegen des Zurufes ein Wort an die Adresse von CDU/CSU und FDP: Sie mögen sich mit Ihrer Forderung, das deutsche Transportgewerbe um 1 Milliarde Euro zu entlasten, bei dieser Gruppe lieb Kind machen wollen. Das mag kurzfristig denkenden Gemütern genügen. ({14}) - 1 Milliarde haben wir nie versprochen. Das kommt von der CDU/CSU-Fraktion. - Mit dem Entlastungsvolumen, das aus den Einnahmen aus der Erhebung der LKW-Maut zur Verfügung steht, würden Sie das Mautprojekt zu einer sinnlosen Umverteilungsmaschine entarten lassen. ({15}) Neue Investitionsspielräume, wie Sie sie fordern, würden Sie auf diese Weise nicht gewinnen. ({16}) Zur Bilanz - das ist dann der Abschluss meines Beitrages, Herr Präsident - gehört ein Blick auf die Zusammenlegung der beiden bisher getrennten Ministerien für Verkehr einerseits und für Bau- und Wohnungswesen andererseits. Dieses Projekt halte ich für geglückt. Die Zusammenlegung der Ausschüsse allerdings müsste noch einmal überdacht werden; das ist bereits in der letzten Sitzungswoche im Rahmen der Wohnungsdebatte angesprochen worden. ({17}) Es ist nicht unüblich, dass ein einziges Ministerium von mehr als einem Ausschuss parlamentarisch begleitet wird. Aufgrund der Themenfülle aus beiden Politikbereichen haben uns die Ausschusssitzungen bisweilen über die Maßen strapaziert - in ihrer zeitlichen Dauer, in den nicht enden wollenden Tagesordnungen und auch in manchen nicht enden wollenden Diskussionsbeiträgen. Ich möchte mich deshalb bei Ihnen, Herr Vorsitzender, lieber Edi Oswald, für die Arbeit bedanken, die Sie für diesen schwierigen Ausschuss zu leisten hatten. ({18}) Sie haben die Sitzungen immer mit Humor und mit großer Fairness geleitet. Herzlichen Dank dafür. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Friedrich, FDP-Fraktion.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Verkehrsminister, ich habe mit großer Aufmerksamkeit und Anspannung Ihren Worten gelauscht - zumindest das hat eine Abschiedsregierungserklärung verdient -, aber die Ausführungen haben mich nicht erstaunt. Es war zum wiederholten Male der misslungene Versuch, eine in sich stimmige Systematik in der Verkehrspolitik darzustellen. ({0}) Herr Minister, Sie gehen ja schon von falschen Voraussetzungen aus. Sie haben Ihre Ausführungen mit der Aussage eingeleitet, Deutschland sei ein attraktiver Wirtschaftsstandort. Die Realität ist: Es hat noch nie so viele Pleiten in Deutschland gegeben wie in diesem Jahr unter Ihrer Regierung. ({1}) Sie haben ausgeführt, Sie hätten sichere Finanzen für die Verkehrswege gewährleistet. Ich erinnere nur an die Zusage von Bundeskanzler Schröder vor einigen Monaten in Thüringen, die ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt, das Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nr. 8, jetzt zügig umzusetzen. Ich bin gespannt, wie sich das in den Finanzplänen auswirkt. Ich sehe da noch nichts. Sie haben die Luftfahrtpolitik gelobt. Fakt ist: Alle anderen Luftfahrtgesellschaften in Europa, die vom Schließen des Luftraums in den USA vom 11. bis 15. September 2001 betroffen waren, haben ihre Ausgleichszahlungen bereits erhalten, nur die deutschen Luftfahrtgesellschaften noch nicht. Warum eigentlich nicht, Herr Minister? Der letzte Punkt: Sie haben die Tonnagesteuer gelobt. Das ist richtig. Diese Steuer haben wir ja noch beschlossen. Nur, Sie haben zwei Jahre gebraucht, um die Verordnung umzusetzen, damit endlich mit der Tonnagesteuer gearbeitet werden kann. ({2}) Das ist Ihre Regierungspolitik, Herr Minister! Dass Sie in dieser Zeit drei Minister und sagenhafte zehn Staatssekretäre brauchen, um diese schlechte Leistung an den Mann zu bringen, wundert im Endeffekt nicht mehr. ({3}) Herr Minister, Sie haben viele neue Programme mit immer neuen Überschriften aufgelegt, dabei aber im Grunde immer nur das gleiche Geld lediglich über andere Zeiträume verteilt, um nach außen zu signalisieren, Sie Reinhard Weis ({4}) würden mutig investieren. Ob im Investitionsprogramm, im so genannten Anti-Stau-Programm oder im Programm „Bauen jetzt“ - Sie verteilen Geld, das Sie noch nicht haben und wahrscheinlich zu dem von Ihnen selbst gesetzten Zeitpunkt nicht erhalten werden. Dadurch werden konsequenterweise auch Ihre Programme notleidend. Ich will das im Einzelnen erklären: Das Investitionsprogramm war der erste so genannte Wurf Ihres Hauses. In dem Zeitraum, der tatsächlich zur Verfügung steht, 1999 bis 2002, haben Sie 18,6 Milliarden DM für den Straßenbau zur Verfügung gestellt. Das ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als wir zur Verfügung gestellt hatten. Aber danach, ab 2003, läuft das Programm mit 22 Milliarden. Sie ziehen also bereits hiermit einen Wechsel auf die Zukunft, weil Sie noch gar nicht wissen, wie 2003 die Situation aussieht. Zum Anti-Stau-Programm: Die einzige und damit die Hauptfinanzierungsquelle dieses Programms ist die Umstellung der LKW-Maut von der zeitbezogenen Vignette auf die streckenabhängige Gebühr. Ja, liebe Kollegen und Kolleginnen, seit dem Jahre 2000 - ich sage nur: Landtagswahl Nordrhein-Westfalen; ein Schelm, wer Böses dabei denkt - tragen Sie dieses Programm gewissermaßen wie eine Monstranz als Lösung der Krise in der deutschen Bauindustrie und in der Infrastruktur vor sich her. Und was ist am Ende Ihrer Regierungszeit tatsächlich passiert? Ihr Haus, Herr Minister Bodewig, hat es aufgrund einer dilettantischen Verfahrensweise noch nicht einmal geschafft, das Ausschreibungsverfahren so hinzubekommen, dass es gerichtsfest war. ({5}) Sie mussten durch das Gericht gezwungen werden, einen weiteren Anbieter in das Verfahren zu nehmen, wodurch es natürlich zeitlich verlängert wird - und das bei dem Haus, das eigentlich für die Grundlagen der Ausschreibungen insgesamt zuständig ist. Das ist eine Blamage auf sehr hohem Niveau. Bis heute, Herr Minister, sind Sie nicht in der Lage zu entscheiden, welches Konsortium tatsächlich den Zuschlag für die Errichtung des Systems erhält. Ich sage Ihnen voraus: Das unterlegene Konsortium wird sicherlich gegen diese Entscheidung klagen, insbesondere deswegen, weil einige gewöhnlich gut unterrichtete Kreise bereits veröffentlicht haben, dass ein ganz bestimmtes Konsortium schon den Zuschlag erhalten hat. Wie sich das mit einer seriösen Vergabepolitik verträgt, müssen Sie selber entscheiden. Ich kann Ihnen nur sagen: Das war wirklich Dilettantismus auf hohem Niveau. ({6}) Wenn man seriöserweise annimmt - dazu verwende ich Ihre Zahl, Herr Minister -, dass für die Errichtung des Systems und die entsprechenden Probeläufe wenigstens ein Jahr anzusetzen ist, kann man davon ausgehen, dass der Beginn einer Mautpflicht zum 1. Januar 2003 absolut illusorisch ist. Ihr Haus weist nun mit Vehemenz auf den 1. Juli 2003 hin, auch diesen Termin sehe ich noch nicht. Wir sollten seriöserweise davon ausgehen, dass der 1. Januar 2004 der richtige Zeitpunkt ist, und zwar unabhängig davon, ob es einen passiven Widerstand gegen den Einbau der On-board-Units geben wird oder nicht. Ich glaube, vor diesem Zeitpunkt ist das nicht zu realisieren. Wenn sich aber, Herr Minister Bodewig, der Zeitpunkt für die Einführung der Maut verschiebt, dann verschieben sich selbstverständlich auch die daran hängenden Programme. Das gilt sowohl für das Anti-Stau-Programm als auch für das von Ihnen konzipierte Programm „Bauen jetzt“ - das soll der allseits selig machende Rundumschlag sein -, also den Anbau von dritten Streifen an bestehende Autobahnen durch private Vorfinanzierung. Da auch hier die Finanzierung mindestens zur Hälfte und vor allen Dingen initiativ durch die Abtretung von Mauteinnahmen erfolgen soll, wird auch dieses von Ihnen als große Unterstützung des deutschen Baugewerbes mit großem Trara vorgestellte Programm wahrscheinlich später, wenn überhaupt, starten. Vor allen Dingen - Herr Minister, das sollten Sie ernst nehmen - schließen Sie mit dieser Regelung weite Teile der mittelständischen Bauindustrie von diesen Modellen aus. Sie sind nämlich dank Ihrer konsequenten Steuerpolitik in dieser Wahlperiode nicht in der Lage, die Vorfinanzierung sicherzustellen. ({7}) Damit lassen Sie große Teile der mittelständischen Bauwirtschaft sehenden Auges an die Wand fahren. Das gleiche Desaster ist nun mit Ihrem Versprechen passiert, in der 14. Legislaturperiode einen neuen Bundesverkehrswegeplan aufzustellen; dies ist Inhalt Ihrer Koalitionsvereinbarung. Er ist sicherlich auch notwendig, um die von Ihnen ausgelöste Programmitis durch verlässliche Programmatik zu ersetzen. Was Sie uns und den Ländern jetzt allerdings auf einer CD abgeliefert haben, ist bestenfalls der Versuch eines neuen Bundesverkehrswegeplans. ({8}) Die schiere Auflistung aller angemeldeten Projekte mit der lapidaren Begründung „Einstufungsvorschlag: noch offen“ für alle Projekte ist keine Arbeitsgrundlage für die Bundesländer, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition. Das haben die Länder nach mir vorliegenden Informationen auch übereinstimmend so gesehen, egal von welcher Mehrheit sie derzeit noch regiert werden. Sie haben dazu Folgendes gesagt: Die Länder haben die Vorlage der Unterlagen mit Interesse entgegengenommen. Eine erste Durchsicht zeigt aber, dass viele der vom BMVBW vorgelegten Bewertungen unvollständig, fehlerhaft und nicht immer tragfähig sind. Aufgrund des Prüfvorgangs ist erwartbar, dass es zu einem Datenrückfluss an das BMVBW für neue Bewertungsläufe kommen wird, um eine stabile Datenbasis zu erreichen. Eine Priorisierung der Projekte auf Landesebene bedarf der politischen Absicherung und ist fachlich nur möglich auf fester Datenlage sowie in Kenntnis des künftigen Finanzrahmens, der Abschneidegrenze für den vordringlichen Bedarf und in Kenntnis des endgültigen Kollektivs indisponibler Maßnahmen. Deshalb wird Horst Friedrich ({9}) es nicht gelingen, noch vor Ende dieser Bundestagswahlperiode, geschweige denn in sechs Wochen, der Bitte des BMVBW um Priorisierung der Projekte seitens der Länder zu entsprechen. Herr Minister, alle diese Antworten sind Sie auch heute schuldig geblieben. ({10}) Vernichtender kann man die Vorarbeit Ihres Hauses zu diesem wichtigen Thema und zur Planbarkeit von Investitionen nicht ausdrücken. Ebenso ungelöst ist das Thema „Investitionen bei der Bahn“. Nach wie vor erhält die Bahn mehr Geld, als sie zeit- und bedarfsgerecht ausgeben kann. Ich fühle mich in meiner Kritik zu den Haushalten 2000, 2001 und 2002 bestärkt; denn auch in diesem Jahr kann die Bahn das Geld offensichtlich nicht ausgeben. Die Ausführungen des Bundesrechnungshofes zum Vergabeverfahren der Deutschen Bahn setzen die Kritik nahtlos fort. Herr Minister, eine vernünftige Schienenpolitik und eine konsequente Ausbaupolitik werden Sie nur erreichen, wenn Sie die Schiene nicht mehr ausschließlich nach den Geschäftsplänen der Deutschen Bahn ausbauen, sondern wenn es endlich zu Wettbewerb kommt. ({11}) Dazu ist es notwendig, die Trennung von Netz und Betrieb endlich umzusetzen, eine Aufgabe, vor der Sie zurückschrecken. Die Grünen haben ja schon einen Anlauf unternommen, sind dann aber gestoppt worden. Eines muss man Ihnen allerdings lassen, Herr Minister. Bei einem Thema haben Sie es geschafft, zwei Landesregierungen aufeinander zu hetzen, nämlich im Zusammenhang mit dem Transrapid. Dieses Projekt haben Sie angeblich ebenfalls gut finanziert; aber auch hier verteilen Sie nur virtuelles Geld. Die angeblichen 2,2 Milliarden Euro, die zur Verfügung stehen - der Kollege Weis hat sie als Landesmittel bezeichnet; ich frage mich dann aber, warum sie im Bundeshaushalt stehen müssen -, sind faktisch in keinem Haushalt gedeckt. ({12}) Der Höhepunkt aber ist, dass Sie ausgerechnet für das Projekt mit den schlechteren Wirtschaftsdaten, nämlich dem in NRW, mehr Geld bereitstellen, was dazu führen wird, dass keines der beiden Projekte zur konsequenten Umsetzung gelangt. Damit werden wir in die Situation kommen, dass nach den Blaupausen für die Strecke irgendwann auch die Blaupausen für die Technik in China sind und wir die Technik aus China zurückkaufen müssen. Das ist nicht das Gelbe vom Ei, Herr Minister. Eine große deutsche Zeitung mit vier Buchstaben hat zu Beginn der Amtszeit der Regierung Schröder geschrieben: Avanti dilettanti! Dem kann man sich nur anschließen. Eines aber haben Sie tatsächlich geschafft, Herr Minister: Die Belastung für den deutschen Autofahrer war noch nie so hoch wie unter Ihrer Regierung und der Rückfluss in die Straße war noch nie so niedrig wie unter Ihrer Regierung. ({13}) Mit Steuererhöhungen allein - das sollten Sie begreifen - löst man keine Probleme. Das aber ist Ihr Grundübel: Sie werfen jedem Problem in Deutschland eine Steuererhöhung hinterher. Es wird endlich Zeit, dass vernünftige Programme für Mobilität Wirklichkeit werden. Unser Antrag dazu liegt Ihnen heute vor. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mobilität ist Bewegungsfreiheit, eine Freiheit, die im Osten dieses Landes als Reisefreiheit erkämpft worden ist. In einer offenen Gesellschaft ist Mobilität eine Grundbedingung für individuelle Entfaltung und ebenso für soziale und wirtschaftliche Teilhabe. Mobilität ist aber mit Verkehr verbunden, Verkehr mit all seinen belastenden Faktoren: enorme Infrastrukturkosten, Lärm, Landschaftsund Energieverbrauch, CO2-Emissionen, Unfallopfer. Das ist die Kehrseite der Medaille. Kernaufgabe einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik ist es daher, Mobilität zu gewährleisten, zugleich aber die belastenden Folgen des Verkehrs zu begrenzen, zu verringern und die öffentlichen Haushalte zu schonen. Das ist die Herausforderung, der sich diese Regierung gestellt hat. ({0}) Sie mögen lachen, aber es ist schlichte Realität, dass wir die Investitionen für das Verkehrsnetz in Deutschland aus einem historischen Tief auf ein beachtliches Rekordniveau geführt haben: von 9,5 Milliarden Euro in 1998 auf 12 Milliarden Euro in 2003. Das entspricht einer Steigerung um 26 Prozent binnen vier Jahren. ({1}) Dies ist zum größten Teil das Ergebnis einer massiven Erhöhung der Schieneninvestitionen von damals 2,7 Milliarden Euro auf 4,6 Milliarden Euro im Jahre 2003, also einer Erhöhung um 70 Prozent binnen vier Jahren. Das bedeutet: Nach Jahren der Vernachlässigung wird das Streckennetz der Bahn endlich von Grund auf modernisiert. Wir führen die Bahn ins 21. Jahrhundert. ({2}) Das ist aber noch nicht alles, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dank der veranschlagten Bundesmittel hat auch das Unternehmen Deutsche Bahn AG eine in der Geschichte der Eisenbahn beispiellose Investitionsoffensive gestartet. Mit sage und schreibe 45 Milliarden Euro wird über fünf Jahre das Bestandsnetz saniert und technisch auf Vordermann gebracht, werden Bahnhöfe saniert und ausgebaut, werden moderne Fahrzeuge für den Nah- und Fernverkehr beschafft. Das ist - das sage ich als Grüner Horst Friedrich ({3}) mit besonderem Stolz - der größte Kraftakt pro Bahn, den es in diesem Land jemals gegeben hat. ({4}) Das gesamte System Bahn wird runderneuert, und zwar nicht, damit wir eine gute Bilanz haben, sondern für die Fahrgäste. An die Adresse der Fahrgäste möchte ich aber auch sagen, dass Hunderte von Baustellen unter dem rollenden Rad natürlich erst einmal Unannehmlichkeiten und Probleme verursachen. Aber mit jeder beseitigten Langsamfahrstelle, mit jedem neuen elektronischen Stellwerk und mit jedem schicken Nahverkehrszug, der in Betrieb geht, können die Fahrgäste buchstäblich Zug um Zug erfahren, was den Reiz einer modernen Bahn ausmacht, nämlich mehr Pünktlichkeit, mehr Sicherheit und mehr Attraktivität. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Rekordinvestitionen haben wir vorgenommen trotz einer Steuerreform, die die Steuerzahler in einem Umfang entlastet, wie es dies vorher noch nicht gegeben hat, trotz eines konsequenten Abbaus der Neuverschuldung und trotz Schuldenrückzahlung. Unter Waigel und Wissmann haben Sie das Gegenteil gemacht. Sie haben den Bahnbauetat hemmungslos zusammengestrichen und zugleich eine galoppierende Neuverschuldung zugelassen. Das ist der Unterschied zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb. ({6}) Wir investieren aber nicht nur mehr. Wir sorgen auch dafür, dass das Zugangebot in der Fläche, in Stadt und Land besser wird. Weil wir mehr und modernere Züge wollen, haben wir mit dem neuen Regionalisierungsgesetz, das die Opposition hier abgelehnt hat, Rekordsummen zur Verfügung gestellt, und zwar allein für das letzte Jahr 13,4 Milliarden DM. Das sind 600 Millionen DM mehr, als es das alte Gesetz verlangt hatte. Mit dem neuen Gesetz erhöhen wir diesen Betrag - gesetzlich garantiert bis zum Jahre 2007 nochmals um 100 Millionen Euro pro Jahr, damit das Zugangebot in Stadt und Land weiter verbessert wird und damit die Bundesländer - das sage ich als Grüner gerne dazu - auch Verbindungen vom Typ Interregio durch Bestellerzuschüsse erhalten und fortentwickeln können. Ich halte die ersatzlose Streichung von Interregio-Verbindungen für verkehrspolitisch falsch und für unternehmerisch fantasielos. ({7}) Der Erfolg des Interconnex-Zuges auf der Linie Gera-Berlin-Rostock zeigt doch, dass mit innovativen Konzepten auch auf angeblich unrentablen Linien attraktiver Bahnverkehr organisiert werden kann. ({8}) - Darauf komme ich noch, Kollege, keine Sorge. Am schlimmsten wirkt sich der Modernisierungsrückstand von Jahrzehnten bis heute beim Güterverkehr auf der Schiene aus. Ob schnelle Umschlaganlagen, moderne Fahrzeugtechnik oder Logistik - es fehlt beinahe an allem. Trotzdem haben wir auch hier die Aufholjagd aufgenommen, mit mehr Investitionen und einer ganz gezielten Förderung. Zum Konzept Mora C möchte ich deutlich sagen: Die betriebswirtschaftlich begründeten Entscheidungen von DB Cargo zur Schließung kleiner Güterverkehrsstellen, von denen wir alle irgendwie betroffen sind, sind verkehrspolitisch oft nicht nachvollziehbar und sorgen zu Recht für heftige Diskussionen vor Ort. Trotzdem können wir heute feststellen, dass die Transportleistung auf der Schiene seit 1998 klar zugenommen hat, und zwar von 74 Milliarden Tonnenkilometern auf heute 80 Milliarden Tonnenkilometer allein bei DB Cargo. ({9}) Innovative Privatbahnen verzeichnen pro Jahr zweistellige Zuwachsraten. Dies hat natürlich auch damit zu tun, dass wir dafür gesorgt haben, dass die Trassenpreise für kleinere Privatbahnen faktisch halbiert wurden und dass wir gezielt die Mittel des Förderprogramms für den kombinierten Verkehr erhöht und diese Fördermöglichkeit auch Privaten eröffnet haben. Das ist ein Anfang. ({10}) Die Umsetzung der Vorschläge der Taskforce für einen fairen und neutral überwachten Wettbewerb zwischen konkurrierenden Bahnunternehmen wird eine zusätzliche Dynamik auf die Schiene bringen. Am Ende dieser Entwicklung aber - das will ich hier ganz klar sagen, damit keine Zweifel aufkommen; das vertreten wir Grüne seit 1996 ({11}) wird und muss die eigentümerische und unternehmerische Entflechtung von Transportunternehmen und Schienennetz stehen. ({12}) Dies liegt in der Logik der europäischen Wettbewerbspolitik und in der Logik der Sache selbst. Es wäre eine Wiederholung des britischen Fehlers, mit dieser Infrastruktur - sei es auch in einem integrierten Konzern - an die Börse zu gehen; denn die negativen Folgen sind bekannt: Das Netz würde verschlissen und es würde zu wenig investiert. Außerdem würde der Staat - damit auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler - Jahr für Jahr Milliardenbeträge in ein Bahnnetz stecken, nur damit sich am anderen Ende des Goldesels die privaten Shareholder ihre garantierte Rendite abholen können. Das ist eine geradezu absurde Vorstellung, die mit Marktwirtschaft nichts zu tun hat. ({13}) Albert Schmidt ({14}) Umgekehrt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird ein Schuh daraus: Mit der Sanierung der Transportunternehmen im Bahnkonzern entstehen Anreize für eine echte private Beteiligung an den Transportgesellschaften. ({15}) Die Infrastruktur dagegen muss - wie die Straße auch als Teil der Daseinsvorsorge dauerhaft in öffentlicher Verantwortung bleiben. ({16}) Jetzt will ich an die Adresse der lieben Kolleginnen und Kollegen von der Union sagen: Wie ist denn dazu Ihre Position? Die Bundestagsdrucksache 14/6440 ist ein im wahrsten Sinne des Wortes bahnbrechender Antrag, unterzeichnet von Friedrich Merz, ({17}) Dirk Fischer und anderen. Die markige Überschrift lautet: Konsequente Trennung von Netz und Betrieb im deutschen Schienenverkehr. - Dort heißt es: Netz einerseits und Betrieb andererseits sind … zu trennen. - Gut gebrüllt, Löwe! Jetzt kommt aber der Löwe aus München. Mir liegt ein Brief des Kanzlerkandidaten der Union vom 22. April 2002 vor, in dem dieser an den sehr geehrten Herrn Mehdorn schreibt: Weder ich noch der Vorsitzende der CDUBundestagsfraktion Dr. Merz sind der Ansicht, dass unerlässliche Voraussetzung für eine optimale Vermarktung des Schienennetzes eine vollständige Trennung von Netz und Betrieb … ist. Was gilt denn nun, Herr Dr. Merz? Leider ist er jetzt nicht da. Trennung oder nicht? Hü oder hott? Herr Merz ist doch im Kompetenzteam. Er will doch regieren. Er kann uns an dieser Stelle aber nicht sagen, was er eigentlich will. ({18}) Es kommt noch viel besser. Der Kandidat Stoiber schreibt weiter: Vielmehr sehe ich eine konsequente Umsetzung der Vorschläge der Taskforce als einen ersten wichtigen Schritt. Verbunden mit einer Verstetigung und weiteren Erhöhung der Bundesmittel für das Schienennetz könnte damit bereits ein wesentlicher Teil der Netzproblematik gelöst werden. ({19}) Vielen Dank für die Blumen, Herr Stoiber! Das ist genau das, was wir gemacht und beschlossen haben. ({20}) Wenn Herr Stoiber so weitermacht, dann fülle ich meine Beitrittserklärung bei der CSU aus. Herr Stoiber beendet sein Schreiben mit folgenden Worten: Ich habe kein Interesse an der Neueröffnung dieser Diskussion im Bundestagswahlkampf. Ich sage Ihnen: Wir hingegen haben schon ein Interesse daran. Wir haben selten so gelacht. Die einzige Trennung, die die großen Bahnexperten Friedrich Merz und Dirk Fischer bisher hinbekommen haben, ist die Trennung zwischen der Bundestagsfraktion und dem Spitzenkandidaten. Das ist Ihre Bilanz. ({21}) Erwarten Sie bitte nicht, dass Sie nach dieser strategischen Meisterleistung auch nur ein Mensch in diesem Lande in der bahnpolitischen Debatte ernst nimmt. Einen entscheidenden Impuls für mehr Gütertransport auf der Schiene wird natürlich die von uns beschlossene LKW-Maut bringen. Sie schafft bei den Transportkosten endlich Waffengleichheit zwischen Straße und Schiene. Die schweren Trucks werden nicht länger über Deutschlands Autobahnen von Grenze zu Grenze rasen können, ohne für die Benutzung der Autobahn wenigstens Danke zu sagen. In Zukunft wird jeder LKW kilometergenau für die Autobahnnutzung bezahlen. Das ist verursachergerecht; denn wer Straßen verbraucht, soll dafür auch bezahlen. Die LKW-Maut wird die Straßen auf zweifache Weise entlasten, nämlich zum einen mit einem etwa verfünfzehnfachten Kilometerpreis im Verhältnis zum heutigen Niveau. Das heißt, dass alle logistischen Hebel in Bewegung gesetzt werden, um teure Leerfahrten zu vermeiden. Im Zweifel wird man die Ladung sogar auf die Bahn oder das Binnenschiff verlagern. Die Zuwächse im Straßengüterverkehr zu begrenzen und zu verlagern, das ist unser Ziel. Dazu wird die LKW-Maut beitragen. Jeder Gütertransport, den wir von der Straße auf die Schiene bringen, ist ein Anti-Stau-Programm für den besseren Verkehrsfluss auf Deutschlands Straßen. Die Urlauber werden sich das in diesem Sommer sehr genau überlegen. ({22}) Zum anderen wird aus den Nettoeinnahmen der LKWMaut ein Bauprogramm gegen den Stau finanziert, um im gesamten Verkehrsnetz Engpässe zu beseitigen, nicht nur auf der Straße, sondern zu gleichen Teilen auf Schiene und Wasserstraße. Wir haben in dieser Legislaturperiode eine Trendwende in der Klimabilanz des Straßenverkehrs erreicht. Seit Einführung der Ökosteuer 1999 sinkt der Spritverbrauch auf Deutschlands Straßen - und damit die CO2Belastung - erstmals deutlich und kontinuierlich. Das heißt, die Menschen fahren etwas weniger Auto. Sie fahren aber vor allem deutlich sparsamer Auto. Immer mehr benutzen auch Bus und Bahn. Genau das ist der Sinn der Ökosteuer und genau das ist die ökologische Lenkungswirkung, die wir immer wollten. ({23}) Aber wir haben nicht nur das erreicht. Durch die Einführung der Entfernungspauschale lohnt sich das Umsteigen umso mehr. Wer in diesen Tagen seine Lohn- und Einkommensteuererklärung für 2001 macht, wird feststellen, ({24}) dass er deutlich mehr steuerliche Entlastung zurückbekommt, wenn er mit Bus, Bahn oder Fahrrad zur Arbeit gefahren ist. Das heißt, die einseitige Bevorzugung des Autofahrens für den Weg zur Arbeit ist beendet. Auch das ist in der deutschen Verkehrspolitik neu. Wir haben mit einer Fülle weiterer Maßnahmen, die ich jetzt nur stichwortartig ansprechen möchte, den Verkehr umweltfreundlicher und menschenverträglicher gemacht. Erdgasbetriebene Fahrzeuge werden steuerlich begünstigt. Die Brennstoffzelle und der Solarwasserstoff sind hoffnungsvolle Entwicklungen, die wir sowohl im Zukunftsinvestitionsprogramm als auch in der verkehrswirtschaftlichen Energiestrategie fördern. Wir haben Treibstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen von der Mineralölsteuer befreit. Mit der vorzeitigen Einführung des schwefelarmen bzw. schwefelfreien Kraftstoffs haben wir den Ausstoß von Schadstoffen reduziert. Wir haben die Einrichtung von Tempo-30-Zonen erleichtert, die für eine höhere Lebensqualität in den Städten und in den Geschäftszentren, für Kinder, alte Menschen und Fußgänger wichtig sind. Außerdem haben wir durch die Absenkung der Promillegrenze, die Sie ebenfalls abgelehnt haben, für eine höhere Verkehrssicherheit gesorgt. Vor allem aber - das ist mir außerordentlich wichtig und dafür möchte ich mich bei dem Minister bedanken haben wir für den am meisten unterschätzten Verkehrsträger eine wesentliche Neuerung auf den Weg gebracht. Wir haben nämlich mit dem Nationalen Radverkehrsplan einen „Masterplan FahrRad“ nach holländischem Vorbild vorgelegt, mit dem wir die Länder und Kommunen dazu einladen, aus Deutschland ein fahrradfreundliches Land zu machen. ({25}) Endlich wird auch in Deutschland politisch für den Radverkehr in die Pedale getreten. Wir haben schon vorsorglich die Mittel für den Radwegebau im Bundeshaushalt verdoppelt. ({26}) Wir haben aber auch mit einer Grundsatzentscheidung der rot-grünen Bundestagsmehrheit eine Binnenschifffahrt zum Ziel erklärt, die die Flüsse naturverträglich nutzt, womit wir das verkehrswirtschaftliche Interesse und die Ökologie miteinander in Einklang bringen. Mit dem Beschluss zum sanften Ausbau der Donau - den der Minister heute noch einmal bekräftigt hat - unter Verzicht auf Kanalisierung und Staustufen haben wir dies beispielhaft umgesetzt. Für meine grüne Fraktion füge ich hinzu: Ein vergleichbar ökologisch sensibles Vorgehen erwarten wir auch an der Elbe, Oder, Havel und Saale. ({27}) Ich verbinde diese Erwartung sehr konkret mit dem Namen Matthias Platzeck, ({28}) dem ich an dieser Stelle herzlich gratuliere und eine glückliche Hand für seine neue Aufgabe wünsche. ({29}) Dass Brandenburg im Naturschutz mit an der Spitze steht, ist in großem Maß auch sein Verdienst. Deshalb hoffen wir, dass wir bei den anstehenden Entscheidungen auch mit seiner Hilfe umweltverträgliche Lösungen finden. Wir haben in der Verkehrspolitik viel bewegt und wollen nach 2002 das Erreichte stabilisieren und fortsetzen. Für uns Grüne steht dabei an oberster Stelle, dass Bahnfahren durch preiswertere Fahrkarten billiger werden muss. ({30}) Die Fahrpreise werden von den Unternehmen gestaltet, doch wir Politiker können und sollten nach dem Beispiel anderer europäischer Länder die Mehrwertsteuer im Fernverkehr endlich auf das Niveau absenken, das bereits im Nahverkehr gilt. Dann würde sich der Ticketpreis um 10 Prozent vermindern. ({31}) Wir werden auch dafür sorgen müssen, dass der öffentliche Verkehr aus Bus und Bahn durch einen qualifizierten Wettbewerb, der auch ökologische und soziale Standards festschreibt, noch weiter verbessert wird. „Qualität durch Wettbewerb“ muss hierbei das Leitmotto sein. Natürlich müssen wir auch die Herkulesaufgabe der Aufstellung eines neuen Bundesverkehrswegeplans zum Abschluss bringen. Wir verfolgen die klare Devise, dass die Verkehrswege in Deutschland bezahlbar und umweltverträglich sein müssen. Das heißt für uns, dass es wenig Sinn macht, allen alles zu versprechen, wie es früher der Fall war. Vielmehr wollen wir ehrlich angeben, was finanzierbar und ökologisch vertretbar ist. Das heißt, dass alle Projektvorschläge einer ökologischen Risikoeinschätzung nach dem aktuellsten Stand der Wissenschaft und des Umweltrechts unterzogen werden müssen, soweit sie nicht bereits in laufenden Programmen abgesichert sind. Das heißt auch, dass die Länder akzeptieren müssen, dass wir für jedes Projekt aktuelle Kosten-Nutzen-Berechnungen erstellen, um sicherzustellen, dass keine unrentablen Maßnahmen finanziert werden. Albert Schmidt ({32}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zusammenfassen, damit klar wird, worum es bei der Wahlentscheidung am 22. September auch gehen wird. In verkehrspolitischer Hinsicht besteht die Alternative entweder in einer Rückkehr zu der eindimensionalen Verkehrspolitik der Vergangenheit oder in der Fortsetzung der von uns eingeleiteten mehrfachen Trendwende von der Investitionskürzung zum soliden Ausbau der Verkehrswege, ({33}) von der einseitigen Bevorzugung des Straßenverkehrs zu größerer Chancengleichheit für Bus und Bahn, vom CO2Anstieg im Straßenverkehr zur CO2-Verminderung, von der Energieverschwendung zum Spritspar- und NullEmissionsfahrzeug. Diese Trendwende haben wir eingeleitet. Auf diese Leistung der Koalition bin ich stolz. Genauso werden wir weitermachen. ({34})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Dr. Winfried Wolf von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Wir erleben offensichtlich eine Generaldebatte zum Thema Verkehr. Offensichtlich wird eine Bilanz von vier Jahren der Politik von SPD und Grünen gezogen. Es ist eine Art Schaulaufen und ein bisschen wird auch eine Doppelstrategie der Kampa deutlich: Nach außen wird der Kanzler aller Autos präsentiert, zum Beispiel in der gläsernen Fabrik in Dresden, und nach innen, im Bundestag, gegenüber Verbänden, auch Umweltverbänden, und Gewerkschaften wird gesagt: Wir sind auch für die Bahn und für den öffentlichen Verkehr. Wenn man das auf einen Nenner bringt, dann muss man schon sagen, Kollege Lippold: Ein bisschen müssen Sie SPD und Grüne auch loben, weil sie zum Beispiel keinen neuen Bundesverkehrswegeplan aufgelegt, sondern Ihren Bundesverkehrswegeplan fortgesetzt haben. Da wurde ein bisschen „Weiter so“ praktiziert. ({0}) Allerdings muss man sagen, dass in starkem Maße nach der Devise „Links blinken, rechts abbiegen“ oder „Richtige Ansätze aufgreifen, sie aber so ausgestalten, dass sie konterkariert werden“ verfahren wird. Das gilt zum Beispiel für die Ökosteuer, deren Erlöse nicht in den sozialen und ökologischen Umbau geleitet werden. Das gilt auch ganz konkret, Kollege Ali Schmidt, für die LKW-Maut, die einen richtigen Ansatz darstellt, aber ganz eindeutig nicht zur Verlagerung auf die Schiene oder auf die Binnenschifffahrt, sondern vor allem zur Verlagerung auf andere Fernverkehrsstraßen und auf kleine LKWs führen wird. ({1}) Den Höhepunkt stellt das Projekt Transrapid dar. Es war richtig, das Projekt Transrapid auf der Strecke Hamburg-Berlin zu stoppen, aber es war falsch, neue Projekte wie Metrorapid im Ruhrgebiet und Transrapid in München zu propagieren. In den Schwerpunkten von Herrn Bodewig zum Thema Verkehr heißt es: „Diese innovative Technik Transrapid wird im Interesse des Industriestandorts Deutschland für den Einsatz als schnelles Regionalverkehrssystem angepasst.“ - Dazu kann ich nur sagen: Das ist einfach voll daneben. ({2}) Dieses System als Nahverkehrssystem, wie schnell auch immer, einzusetzen ist der falsche Weg. Der Bundesrechnungshof hat am 4. Juni in seiner Bilanz gesagt: Beide Magnetbahnstrecken sind selbst „nach den Kriterien des Bundesministeriums nicht realisierungswürdig.“ - Dennoch wollen Sie für diese Strecken bis zu 2,3 Milliarden Euro ausgeben. Das ist der völlig falsche Weg. Das widerspricht auch betriebswirtschaftlichen Kriterien. ({3}) Ich möchte nicht nur schwarz-weiß malen. Ich gebe zu, dass man zu einigen Aspekten, Kollege Ali Schmidt, sicherlich eine differenzierte Bilanz vortragen muss. Das gilt aber nicht für den Güterverkehr. Da ist der Anteil der Schiene eindeutig massiv zurückgegangen. Das gilt nicht für die Binnenluftfahrt. Deren Anteil ist massiv gestiegen. Das gilt aber beim Spritverbrauch und bei Teilen des Nahverkehrs. Sie haben gesagt, das sei zum ersten Mal passiert. Daraufhin habe ich mir die Zahlen gestern Nacht noch einmal angeguckt und festgestellt: Das ist nicht wahr. Es war 1980/82 und 1993/95 genauso. Immer dann, wenn rezessive Tendenzen und hohe Ölpreise gegeben waren, wurde gespart, was ja auch sinnvoll ist. ({4}) Entscheidend für uns von der PDS ist: Wohin geht die Verkehrsreise? Wohin lenken uns SPD und Grüne? Ich möchte in fünf Punkten klarmachen, warum es in die falsche Richtung geht: Erstens. Wir stellen fest, dass das Schienennetz von Jahr zu Jahr um 300 bis 400 Kilometer kürzer wird, während das Straßennetz von Jahr zu Jahr um 400 bis 500 Kilometer länger wird. Da öffnet sich die Schere immer weiter zuungunsten der Schiene. Zudem entstehen neue Binnenflughäfen, vor allem im regionalen Bereich. Sie sagen, es werde das Wegekostenprinzip eingeführt. Das ist ja gut und schön, aber wenn es primär bei der Schiene eingeführt wird, wenn primär bei der Schiene das Vollkostenprinzip gelten soll, wenn zudem - wie es heißt - ein Regionalfaktor auf die Trassenpreise aufgeschlagen werden soll und noch 3 000 Kilometer Nebenstrecken abgebaut werden sollen, dann ist das der falsche Weg. Da wird im falschen Bereich das Netz reduziert. ({5}) Zweitens. Ich behaupte, dass Sie im Fernverkehr eine eindeutige Konzentration auf Hochgeschwindigkeitsstrecken betreiben. Wir greifen nicht die Hochgeschwindigkeitsstrecken als solche an, aber wir kritisieren die Konzentration darauf. Wir müssen nämlich feststellen, dass gleichzeitig im Fernverkehr ganze Regionen abAlbert Schmidt ({6}) gehängt werden, sogar Landeshauptstädte, Magdeburg zum Beispiel, wichtige Hansestädte, Rostock zum Beispiel, der Raum Koblenz/Bonn/Mainz weitgehend, Ostfriesland, Oberschwaben und der Schwarzwald, weil Interregio-Verkehre eingestellt werden. Wenn Sie, Kollege Schmidt, sagen, auch Sie seien dagegen, dann frage ich: Warum haben Sie nicht für die Anträge zum Erhalt des Interregio gestimmt, die wir in den Bundestag eingebracht haben? ({7}) Wir bringen einen Antrag konkret zum Raum Mannheim ein; denn die Neubaustrecke Frankfurt-Stuttgart soll an Mannheim vorbei führen. Dies wird in der gesamten Region Mannheim kritisiert. Am 16. Juni hat der Stuttgarter Landtag einstimmig erklärt, dass in Mannheim weiterhin alle ICEs halten müssen. Ich als Schwabe sage: Wenn in Stuttgart die Badener und Kurpfälzer einstimmig verteidigt werden, dann heißt das etwas. ({8}) Trotzdem haben Sie, Herr Bodewig, im „Mannheimer Morgen“ argumentiert, dass Sie sich nicht auf eine Position gegen einen solchen Bypass festlegen wollen. Drittens. Wir meinen, dass bei der Bahn eine Politik betrieben wird, die letzten Endes diese verkehrte Verkehrspolitik noch einmal verstärkt. Ich habe hier keine Zeit, über Mitropa und Speisewagen, über den Tod einer Reisekultur zu reden. Ich möchte nur etwas sagen zum neuen Bahnpreissystem. Das ist kein Innerbahnthema. Herr Bodewig, Sie haben im Januar das neue Bahnpreissystem PEP genehmigt. Das System ist, erstens, weit weniger transparent als das jetzige System, es wird, zweitens, Millionen treue Fahrgäste, die Bahncard-Besitzer, durch die Halbierung des Rabattes vor den Kopf stoßen und es macht, drittens, den Vorteil der Bahn kaputt, dass man wirklich spontan zum Bahnhof gehen, einsteigen und fahren kann. Am 16. Mai war Herr Mehdorn bei uns in der Fraktion zu Besuch. Er hat es auf den Punkt gebracht und gesagt: Spontanfahren wird in Zukunft seinen Preis haben. Man wird zum Teil stehen müssen und es wird teurer sein. Das ist die Bilanz des neuen Bahnpreissystems. Viertens. Ich sagte, dass wir im Bereich der Binnenluftfahrt eine Negativentwicklung erleben und die Binnenluftfahrt in Konkurrenz zum Schienenfernverkehr tritt. Wir erleben, dass die Preise der Billigfluglinien - Stichworte: Preussag/TUI und Germania - zum Teil 30 bis 40 Prozent unter den Preisen der Deutschen Bahn AG liegen. Wenn ich dann noch feststelle, dass der Boss von Preussag/TUI, Herr Frenzel, gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bahn AG ist, möchte ich sagen: Honni soit qui mal y pense - verrucht sei, wer Böses dabei denkt. Fünftens und letztens. Wir sagen, dass die falsche Verkehrspolitik auch mit Blick auf die Arbeitsplätze benannt werden muss. Wir erleben bei der Bahn, dass Jahr für Jahr 10 000 Arbeitsplätze abgebaut werden. Wir erleben jetzt, dass fünf Bahnbetriebswerke geschlossen werden sollen, darunter drei in den ostdeutschen Regionen, wo wirklich ein Kahlschlag betrieben wird. Wenn von einem Wachstum bei der Schiene und sogar von einer Verdoppelung des Güterverkehrs gesprochen wird, weiß ich nicht, warum Bahnbetriebswerke geschlossen werden sollen und weiter Beschäftigung abgebaut wird. Wir haben deswegen einen Antrag eingebracht, in dem wir sagen: Wir wollen den Umbau des Wagenparks der Deutschen Bahn AG - sie sollen dann behindertengerecht und mit neuen Sicherheitstechniken ausgestattet sein besonders fördern. Das ist kein Innerbahnthema. Wir haben einen entsprechenden Auftrag in das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz geschrieben. Daran könnte man anknüpfen und man könnte beides verbinden: auf der einen Seite Arbeitsplätze sichern und auf der anderen Seite konkret etwas für die Bahn tun. ({9}) Zum Schluss: Kollege Weis, ich glaube, die Krönung Ihrer Politik ist nicht, dass Sie die Bahnreform aus der Sackgasse geführt haben, sondern dass Sie die Bahn gegen den Prellbock fahren werden, wenn Sie das wahr machen, was Mehdorn will, wenn Sie nämlich die Bahn börsenfähig machen. Das heißt konkret, sie an der Börse zu verkaufen. Herr Mehdorn war der Wunschkandidat von Kohl, er war der Mann von Schröder, und Stoiber sagt schon, er würde mit ihm weiter arbeiten wollen. Damit wird genau der falsche Weg beschritten. Der Weg der Bahn an die Börse ist ähnlich wie bei Telekom und gelber Post der falsche Weg. Wir glauben, dass damit Service abgebaut wird, die Einheitlichkeit des Bahnsystems zerstört wird und weitere Zehntausende Arbeitsplätze kaputtgemacht werden. Ich möchte mit einem Zitat aus der Resolution der Betriebsräte der Bahnbetriebswerke Ost schließen - in dem Zusammenhang begrüße ich, dass der Betriebsratsvorsitzende des Delitzscher Werkes hier anwesend ist -, ({10}) die geschrieben haben: Die Privatisierung der Bahn als Vernichtungsmaschine von Arbeitsplätzen muss gestoppt und zurückgenommen werden. Genau das ist richtig gesagt. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Iris Gleicke, SPD-Fraktion.

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vollendung der deutschen Einheit bleibt unsere wichtigste nationale Aufgabe. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, brauchen wir in Ost und West die möglichst rasche Angleichung der Lebensverhältnisse. Wir brauchen gleiche Chancen in Bildung und Ausbildung, wir brauchen gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Eine moderne Infrastruktur ist die unabdingbare Voraussetzung, um diese Ziele zu erreichen. Unsere Verkehrspolitik für die neuen Bundesländer ist Wirtschaftspolitik in besonderer und mehrfacher Bedeutung: ({0}) Die Investitionen in den Ausbau der Verkehrswege schaffen und sichern Arbeitsplätze im Osten. Gleichzeitig sichern sie die wirtschaftlichen Chancen Ostdeutschlands. Genau deshalb haben wir trotz aller Sparzwänge am zügigen Ausbau der Verkehrswege unbeirrt festgehalten. Diese Investitionen sind einfach unverzichtbar. ({1}) Aus dem gleichen Grund haben wir den zunächst nicht finanzierbaren Weiterbau der ICE-Strecke durch Thüringen aufgenommen, als es wieder möglich war. Herr Kollege Friedrich, wir gehen davon aus, dass dem EBA die Finanzierungsvereinbarung im Juli vorgelegt und schnellstens genehmigt wird, sodass die finanzielle Umsetzung zügig verankert werden kann. ({2}) Wir haben bewiesen, dass der Aufbau Ost für uns Vorrang hat: ({3}) Das Anti-Stau-Programm umfasst 3,8 Milliarden Euro; davon fließen 25 Prozent in den Osten. Das Zukunftsinvestitionsprogramm umfasst 4,5 Milliarden Euro; davon fließen mehr als 30 Prozent in den Osten. Das EFRE-Bundesprogramm Verkehrsinfrastruktur umfasst 3 Milliarden Euro, die komplett in den Osten fließen. Das Investitionsprogramm 1999-2002 umfasst 34 Milliarden Euro; davon fließt mehr als die Hälfte in den Osten. Das ist unsere Infrastrukturpolitik für Ostdeutschland, die wir konsequent fortsetzen werden. ({4}) Der nächste Bundesverkehrswegeplan, den wir im kommenden Jahr vorlegen werden, wird einen besonderen Schwerpunkt auf Ostdeutschland legen. Was die Ostdeutschen von einem Kanzler Stoiber zu erwarten hätten, steht im Wahlprogramm von CDU und CSU. ({5}) Sie haben angekündigt, die Staatsquote „schrittweise und dauerhaft auf unter 40 Prozent“ zu senken. Das muss man sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen! Im Moment liegt die Staatsquote bei 48 Prozent. Eine pauschale und undifferenzierte Absenkung auf 40 Prozent hätte eine Verringerung der öffentlichen Investitionen um 170 Milliarden Euro bei Bund, Ländern und Gemeinden zur Folge. Für den Bund würde das eine Kürzung der Ausgaben um etwa 80 Milliarden Euro bedeuten; das entspräche einer Kürzung des Bundeshaushalts um ungefähr ein Drittel. ({6}) Statt etwa 13 Milliarden Euro stünden im Investitionsetat des Bundesministers für Verkehr, Bau und Wohnungswesen nur noch 8,5 Milliarden Euro für Investitionen zur Verfügung. Sie wollen die Investitionen im Bereich Verkehr von 11,5 Milliarden Euro auf 7,5 Milliarden Euro senken. Das ist die Wahrheit! ({7}) Diese Kürzungen haben natürlich Konsequenzen: Kein einziges der mehr als 1 900 im Rahmen des Bundesverkehrswegeplanes angemeldeten Vorhaben könnte in diesem Jahrzehnt begonnen werden, keine Ortsumgehung, keine Schienenprojekte, keine Wasserstraße, rein gar nichts. Ein Drittel der Bundesmittel für den kommunalen Straßenbau und den öffentlichen Personennahverkehr nach dem Gemeindefinanzierungsgesetz würde ganz einfach wegfallen. ({8}) Auch die Regionalisierungsmittel müssten natürlich gesenkt werden, nämlich um 2,2 Milliarden Euro im Jahr, was Abbestellungen und Stilllegungen von öffentlichen Nahverkehrsleistungen in den Ländern in massivem Ausmaß zur Folge hätte. ({9}) Dieser Irrsinn würde den Osten völlig platt machen: keine A 14, keine A 72, keine Hochgeschwindigkeitsstrecke Halle/Leipzig-Erfurt-Nürnberg! ({10}) - Schreien Sie doch nicht so! Das Kompetenzteam rudert mittlerweile zurück, nach dem Motto: „War ja alles nicht so gemeint!“. Ich glaube nicht, dass das alles nicht so gemeint war. Ich glaube, Sie meinen das wirklich sehr ernst. Genau deshalb brauchen Sie Lothar Späth als Märchenonkel für den Osten. ({11}) Er soll die Leute beruhigen, indem er ihnen alle paar Tage erzählt, dass das Kompetenzteam die Ankündigungen im Wahlprogramm gar nicht so ernst meint. ({12}) Das konnten wir erst vor kurzem wieder feststellen, als Herr Stoiber die „geniale“ Idee vortrug, in Bundesgesetze zeitlich befristete Öffnungs- und Experimentierklauseln für Ostdeutschland zur Förderung von Investitionen einzubauen. Herr Späth sagte, dass es nach elf Jahren Einheit wohl zu spät sei, ganz Ostdeutschland zu einer Sonderwirtschaftszone zu erklären, und dass die EU da vermutlich nicht mitmachen werde. Damit hat Lothar Späth völlig Recht. ({13}) Diese Forderung steht allerdings in Ihrem Wahlprogramm. Und das sollen wir doch ernst nehmen - oder etwa nicht? Ich frage mich tatsächlich, was für eine Kompetenz dieses Team hat. ({14}) Ich jedenfalls nehme Ihr Wahlprogramm sehr ernst. Dieses Programm läuft darauf hinaus, dass Sie den Osten am langem Arm verhungern lassen wollen. Sie reden von Experimentierklauseln und meinen in Wirklichkeit Dumpinglöhne für die Ostdeutschen und zweierlei Recht in Deutschland. Sie reden von der Absenkung der Staatsquote und meinen in Wirklichkeit, dass es allmählich genug sei mit der Sonderförderung für den Osten. Diese Geisteshaltung kennen wir schon: Es ist noch gar nicht so lange her, da hat sich Herr Stoiber darüber beklagt, dass die Ostdeutschen zu wenig dankbar seien. Der Mann hat Recht. Wir sind keinem Bayern dankbar, dessen Freistaat über 30 Jahre lang satte Bundeshilfen kassiert hat. Wir sind überhaupt niemandem dankbar. Nein, wir sind stolz auf das, was wir zusammen mit Gerhard Schröder und dieser Bundesregierung für den Osten erreicht haben. Schönen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich fange einmal ganz ruhig an: Als eines der gravierendsten Standortdefizite der neuen Länder wird in vielen Regionen unzureichend ausgebaute Verkehrsinfrastruktur angesehen. So steht es schwarz auf weiß im jüngst veröffentlichten ersten Fortschrittsbericht zum Aufbau Ost, in einem Bericht, den sich die Bundesregierung bestellt hat und der ihr bescheinigen sollte, wie es Frau Gleicke hier anzudeuten versuchte, beim Aufbau Ost sei alles prima. ({0}) Dem ist nicht so. Fünf Wirtschaftsinstitute bestätigen, dass der Aufbau Ost in den letzten Jahren ins Stocken geraten ist. Die Bedingungen für stärkeres Wachstum in den neuen Ländern sind zu verbessern, die noch bestehenden Standortmängel sind zu beseitigen. Man muss sich einmal klar machen, dass es sich nicht lohnt, hier Reden zu halten, in denen man Herrn Späth persönlich beschimpft. ({1}) Meinen Sie nicht, dass es besser wäre, einmal den Konsens, der ja eigentlich in Ihren Reihen da ist, zum Thema zu machen? ({2}) Der „Tagesspiegel“ hat gestern geschrieben: Stolpe - Ihre angebliche Wunderwaffe gegen Lothar Späth - sagt, die SPD hat den Osten vernachlässigt. ({3}) Wenn wir das als Ausgangsbasis nehmen würden, um uns jetzt anzustrengen, und uns fragen würden, was beim Infrastrukturausbau zu tun ist, könnte das sehr viel mehr als solch eine Rede bewirken. Der Minister hat ja zumindest die neuen Länder erwähnt. Darüber ist man ja heute schon froh. Aber er hat nicht konkret gesagt, was das eigentlich bedeutet. ({4}) Ich habe von ihm Zahlen von irgendwelchen Finanzmitteln gehört, die in den Osten fließen. ({5}) Das reicht aber nicht. Schauen Sie sich die konkreten Projekte an. Die sich im ost- und mitteldeutschen Raum entwickelnden Wachstumszentren müssen doch miteinander verbunden werden, um die vorhandenen Potenziale auszuschöpfen. Sie müssten zum Beispiel die A 72 bauen; aber Ihr damaliger Verkehrsminister und heutiger Generalsekretär Müntefering hat das Projekt gestoppt. Pikanterweise fordern Sie, um von Ihren Versäumnissen abzulenken, jetzt, im Wahljahr - so geschehen auf Ihrem Sonderparteitag -, als Wahlgeschenk den Bau ebendieses Verkehrsweges mit höchster Priorität. Das ist doch nicht seriös; das überzeugt die Menschen doch nicht. Wenn die sich die konkreten Projekte anschauen, glaubt Ihnen das keiner. ({6}) Sie wollen damit doch bloß von den verloren gegangenen Milliarden für den Osten ablenken, die durch den Bau der Transrapid-Strecke von Hamburg nach Berlin geflossen wären. Dabei handelte es sich um ein Milliardenprojekt. Sie aber gehen in Berlin eine Koalition mit der PDS ein und verhindern das größte Infrastrukturprojekt in den neuen Ländern, den Großflughafen in Berlin-Schönefeld. ({7}) Da könnten Sie Zeichen setzen und sich wirklich einmal profilieren. Nichts dergleichen ist aber zu erkennen. ({8}) Sie beschäftigen sich hier in Berlin lieber mit der Durchfahrt durch das Brandenburger Tor und der Frage, ob die Französische Straße geschlossen bleiben soll, statt eine zukunftsgerichtete Politik zu machen. Nicht nur die großen transeuropäischen Ost-West-Trassen interessieren Sie nicht, selbst die Verbindungen im Bezirk Mitte hier in Berlin bekommen Sie nicht auf die Reihe. In diesem Zustand befindet sich Ihre Verkehrspolitik. ({9}) Lassen Sie mich noch darauf hinweisen, wie viel Bedarf es an Infrastrukturentwicklung im kommunalen Bereich insbesondere im Verkehrsbereich gibt. Wir haben natürlich in den neuen Ländern einen erheblichen Bedarf an Ortsumgehungen. Hier gab es nicht 40 Jahre lang wie in der alten Bundesrepublik eine relativ gute Entwicklung, sondern in früheren Zeiten Versäumnisse. Es wäre gut, wenn man sich diesem Problem stellen würde. ({10}) Die gravierenden Infrastrukturprobleme im kommunalen Bereich in Ostdeutschland können natürlich nicht gelöst werden, wenn die Kommunen das aus eigener Kraft schaffen müssen. Dazu brauchen Sie sich nur die Finanzlage der Kommunen anschauen. ({11}) Ihre Politik hat die Kommunen insgesamt, aber die im Osten besonders, ruiniert. Es ist kein Geld da; nicht einmal für die simpelsten und notwendigsten Dinge im Verkehrsbereich kann dort etwas getan werden. Lassen Sie mich noch etwas sagen: Angesichts der vielen Vorschläge, die wir hier zum Thema Aufbau Ost gemacht haben, sollten Sie sich bitte schön nicht über Öffnungs- und Experimentierklauseln in unserem Wahlprogramm lustig machen; denn das ist der einzige Weg, Bürokratie abzubauen, unnötige Gesetze abzuschaffen und endlich eine Entwicklung in Gang zu setzen, die den Leuten im Osten wieder Perspektiven gibt und das Gefühl vermittelt, dass es aufwärts und vorwärts geht und der Aufbau Ost wirklich stattfindet und nicht zu einer Nebensache, zum Abbau Ost, verkommt. ({12}) Schauen Sie sich einmal an, was wir in diesem Bereich vorschlagen. Von Ihnen ist in der Sache nichts gekommen. ({13}) Öffnungs- und Experimentierklauseln bedeuten, dass wir Deutschland modernisieren. Dazu sind wir im Osten als Erste bereit, weil das Wasser in Ostdeutschland noch viel höher als in anderen Teilen der Republik steht. Deshalb sind wir bereit, schneller voranzugehen. Wir wollen damit zeigen, dass es auch im Rahmen von Planungs- und Genehmigungsverfahren möglich ist, Verkehrsprojekte schnell zu realisieren. Sie sind nicht einmal bereit gewesen - ich habe die Grünen ja im Vermittlungsausschuss erlebt -, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zu verlängern und auf Westdeutschland auszudehnen, obwohl es sich in den neuen Bundesländern bewährt hat. Ohne dieses Gesetz hätten wir bei den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit noch nicht einmal den Stand erreicht, den wir jetzt erreicht haben. Wir werden uns auch weiterhin für dieses Gesetz einsetzen. ({14}) Es ist offensichtlich, dass wir in der Verkehrspolitik, insbesondere im Interesse der neuen Länder, einen Wechsel brauchen. Danke schön. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Hans-Günter Bruckmann, SPD-Fraktion, das Wort.

Hans Günter Bruckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003058, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit meinen Ausführungen möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf den Luftverkehr lenken, der seit dem 11. September national wie international eine Krise zu bewältigen hat, die nicht vorherzusehen war. Aufgrund der gemeinsamen Bemühungen der Bundesregierung und der Luftverkehrswirtschaft ist es uns gelungen, das Vertrauen in den Luftverkehr wieder herzustellen. Beispiele dafür sind die Hilfen bei der Versicherungsproblematik und beim Schadensausgleich sowie das Gesetz zur Erleichterung des Marktzugangs im Luftverkehr. Dies wird durch die Einschätzung der IATA gestützt, die prognostiziert, dass sich die Luftverkehrswirtschaft ab 2003 von den Rückschlägen erholen und überproportional wachsen wird. Damit besteht die Notwendigkeit, sich mit den Folgen dieser Dynamik auseinander zu setzen und zu klären, wie der Luftverkehr auf Dauer zukunftsfähig gestaltet werden kann. Nach den Anschlägen vom 11. September vergangenen Jahres ist jedem klar geworden, dass wir dieser neuen Herausforderung mit einer wesentlich effizienteren und weltweit lückenlosen Sicherheitskonzeption zu begegnen haben. Aufgrund der Internationalität des Luftverkehrs sind vor allem einheitliche und verbindliche Sicherheitsstandards zwischen allen am Luftverkehr beteiligten Staaten zu vereinbaren. Die Bundesregierung wird von der Koalition dahin gehend unterstützt, bei der Weltluftfahrtorganisation die weiter gehenden Sicherheitsstandards weltweit verbindlich zu machen. Sicherheitsmaßnahmen gelten gleichermaßen für alle. Sie dürfen nicht auf Umwegen zu Wettbewerbsverzerrungen führen. ({0}) Das gilt auch für unsere Partner in den USA, mit denen wir in solchen Fragen eigentlich immer partnerschaftlich zusammengearbeitet haben. Wir waren vor kurzem mit einer Delegation des Verkehrsausschusses in den Vereinigten Staaten und haben mit unseren amerikanischen Kollegen über das APIS-Programm diskutiert. Im Rahmen dieses Programms ist zu melden, wer demnächst an einem Luftverkehrsstandort landet; man geht dabei von einer 97-prozentigen Sicherheitsmarge aus. Diese ist derzeit so gut wie nicht erreichbar, weil dies über die geltenden Rahmenbedingungen hinausgeht. Wir haben unseren Partnern deutlich gemacht, dass wir gemeinsam eine verträgliche Lösung finden müssen. In diesem Zusammenhang will ich mich auch bei meinen Kollegen von der CDU bedanken. ({1}) - Bei Ihnen natürlich auch; so viel Zeit muss sein, Herr Oswald. Wir wollen die CSU nicht vergessen. ({2}) In diesem Punkt waren wir erfolgreich. Wir unterstützen das Programm, das unser Minister eine Woche zuvor mit den Amerikanern beraten hatte. Fairer Wettbewerb muss natürlich auch für die Zertifizierung unserer weltweit führenden Sicherheitstechnik durch amerikanische Aufsichtsbehörden gelten. Hier scheint es noch großen Abstimmungsbedarf zu geben. Allerdings begrüßen wir die Initiativen zu einem gemeinsamen transatlantischen Luftraum als einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Luftverkehrsbeziehungen zwischen Europa und den USA. Der von der EU-Kommission in die Verhandlungen mit den USA eingebrachte Verhaltenskodex zur Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen ist dabei - ich glaube, das dürfte unstreitig sein - ein wichtiger Baustein. Wir befürworten die Schaffung des „single european sky“. Mit diesem Konzept sind eine bessere Organisation, Überwachung und Nutzung der Luftraumkapazitäten in Europa verbunden. Der einheitliche europäische Luftraum ist ein wichtiger Schritt zur Zusammenarbeit im zusammenwachsenden Europa. ({3}) Die Dynamik im Luftverkehr und die daraus resultierende steigende Nachfrage nach Luftverkehrsleistungen macht es nötig, sich Gedanken über einen bedarfsgerechten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zu machen. Sicherlich ist ein weiterer Ausbau der Flughafenkapazitäten und der entsprechenden Infrastruktur nötig; nur kann dies allein nicht ausreichen. Unsere immer knapper werdenden Ressourcen erfordern auch im Bereich der Luftfahrt einen integrierten Ansatz, das heißt Kooperation und effektive Vernetzung der Verkehrsträger Luft und Schiene. Beide Maßnahmen sind in unserem Flughafenkonzept aus dem Jahr 2000 verankert. Verschoben, aber nicht aufgehoben ist die von der Regierungskoalition vorgesehene Novellierung des Fluglärmgesetzes. Wir haben die Eckpunkte dazu in unserer Fraktion verabschiedet. Unter Beteiligung des Umweltund des Verkehrsministeriums und in Gesprächen mit den am Luftverkehr Beteiligten haben wir einen Kompromiss gefunden, der auf der einen Seite den Fluglärm nachhaltig reduziert und auf der anderen Seite die Belastungen für die Luftverkehrswirtschaft in vertretbaren Grenzen hält sowie Rechtssicherheit für alle Beteiligten schafft. Unser Ansatz wird auch beim kombinierten Verkehr deutlich. Wir haben gemeinsam mit Vertretern der Verkehrswirtschaft und der Wissenschaft überlegt, wie man damit umgehen kann. Die SPD-Bundestagsfraktion hat ein Eckpunktepapier dazu verabschiedet. Ein Element daraus ist von besonderer Bedeutung: Die Treffsicherheit der Förderung in diesem Sektor muss erhöht werden; dazu haben wir in Zukunft ein nationales Förderprogramm ähnlich wie das europäische PACT-Programm auf den Weg zu bringen. An dieser Stelle erwarte ich mehr Mut von allen Beteiligten, die ausgetretenen Pfade von Infrastrukturförderung und/oder Ordnungspolitik zu verlassen und stattdessen innovative Finanzierungsmodelle ins Auge zu fassen, die den Marktanforderungen gerecht werden. ({4}) Der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen hat in seinem KV-Bericht ein deutliches Signal in diese Richtung gegeben, das wir unterstützen. Dort ist klar zu erkennen, dass wir die Mittel für Dritte in den letzten fünf Jahren von null auf 76,3 Millionen Euro gesteigert haben. Ich halte das für einen vernünftigen Ansatz. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr Mut würde uns auch beim Thema Transrapid gut zu Gesicht stehen. Das gilt für alle hier Anwesenden. Mit der Förderzusage unseres Bundesministers ist ein weiterer wichtiger Eckstein gesetzt worden, zum einen für Nordrhein-Westfalen und zum anderen für Bayern. Jetzt kommt es darauf an, auch alle weiteren Schritte zügig umzusetzen und nicht in kleinliche Kritik zu verfallen. Ich finde es manchmal schwer nachvollziehbar, mit welchen Argumenten Projekte totgeredet werden sollen. Manches erinnert mich daran, wie man der ersten Lokomotive in Deutschland, der „Adler“, gegenüberstand. Da wurden Befürchtungen laut, dass Menschen für so hohe Geschwindigkeiten wie 50 Stundenkilometer nicht geschaffen seien. Hätte man stets alle Bedenken gegen neue Technologien in den Vordergrund gerückt, dann hätten sicherlich auch die Gebrüder Wright von ihren ersten Flugversuchen Abstand genommen. Der Transrapid ist ein Technologiesprung. Solche Projekte sollte man nicht totreden, ({6}) sondern fördern. ({7}) Denn Innovationen müssen auch in Deutschland ihre Chance bekommen, sonst kann sich Deutschland als Hochtechnologieland verabschieden. ({8}) Die Bundesregierung hat mit ihrer Förderzusage den richtigen Schritt in Richtung Zukunft getan. Sie sollten wissen: Nur wer sich bewegt, kann etwas bewegen. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist die Kollegin Renate Blank.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich komme auf die Regierungserklärung des Ministers zurück. Herr Minister, bei Ihrer Abschiedsrede fehlte Ihnen eigentlich jeder Bezug zur Realität unserer Verkehrspolitik. Sie hat eine totale Überschätzung Ihres Handelns zum Ausdruck gebracht. Eigentlich muss man eher „Ihres Nichthandelns“ sagen, denn vier Jahre Rot-Grün bedeuteten in Deutschland Stillstand. ({0}) Nichts ist angepackt worden. Die Investitionen in die Infrastruktur sind zurückgefahren worden, obwohl sich doch mittlerweile eigentlich herumgesprochen haben müsste, dass 1 Milliarde Euro Investitionen circa 20 000 Arbeitsplätze erhalten bzw. schaffen. Die Harmonisierung auf europäischer Ebene hat keine Fortschritte gemacht, weder im LKW-Bereich - hier wird von der Bundesregierung sogar geduldet, dass die Niederlande, Frankreich und Italien ihr Gewerbe steuerlich begünstigen, obwohl das eigentlich ein Verstoß gegen EU-Recht ist, während bei uns bei der Ökosteuer zulasten des heimischen Gewerbes immer weiter draufgesattelt wird - noch beim Wettbewerb im ÖPNV noch auf der Schiene. ({1}) - Man muss es Ihnen öfter erzählen, damit Sie es im Laufe der Zeit irgendwann endlich kapieren. ({2}) Im Bereich Binnenschifffahrt ist ebenfalls nichts passiert, obwohl von Ihnen vor 1998 immer großartig getönt wurde, was Sie alles in Angriff nehmen wollen. Wir wollen die deutsche Binnenschifffahrt in Zukunft auf jeden Fall stärken. Von der Vorbereitung der deutschen Verkehrsinfrastruktur auf die EU-Osterweiterung ist ganz zu schweigen. Sie haben die Infrastrukturanbindung zu den Beitrittskandidaten verschlafen. Wir als Opposition mussten zum Beispiel den Bundeskanzler erst wachrütteln, damit er endlich Aussagen zum Weiterbau der A 6 macht. ({3}) Nun zum Trauerspiel Bundesverkehrswegeplan. Das Thema ist heute schon des Öfteren erwähnt worden. Wir haben in den Jahren 1991 und 1992, also innerhalb von zwei Jahren, einen Bundesverkehrswegeplan vorgelegt, der sich auch mit dem Zusammenwachsen Deutschlands beschäftigen musste. Sie haben das in vier Jahren nicht geschafft, obwohl Sie uns im Jahre 1999 wohltönend erklärt haben, Sie würden einen neuen und total überarbeiteten Bundesverkehrswegeplan erstellen. Jetzt haben wir eine CD-ROM erhalten, eine Sammlung von Rohdaten, die teilweise sogar falsch sind. Das Anschauen rentiert sich überhaupt nicht. Sie haben damit ein Versprechen gebrochen. Sie haben ein weiteres Versprechen gebrochen. Ich erinnere daran, dass Ihr Bundeskanzler gesagt hat, mit ihm seien nur 6 Pfennig Mineralölsteuererhöhung zu machen. Mittlerweile sind wir bei 15 Cent, also rund 30 Pfennig. Ich kann mir vorstellen, warum Sie keinen neuen Bundesverkehrswegeplan vorgelegt haben. Ihr erster Verkehrsminister, Müntefering, hat nach einiger Zeit gemerkt, dass auch rot-grüne Bundesländer Straßen bauen wollen. Bei der Länderverkehrsministerkonferenz im April zum Beispiel wurde einstimmig festgestellt, dass der Verkehrshaushalt für den Straßenbau um jährlich 2,1 Milliarden Euro aufgestockt werden müsste. ({4}) Wie ist es bei Ihnen? Der Verkehrshaushalt wächst nicht; 0,0 Prozent. Was haben Sie stattdessen gemacht? Sie haben die Straßenbaumittel gekürzt. ({5}) Im Gegensatz zu unserer mittelfristigen Finanzplanung haben Sie von 1998 bis 2002 4,9 Milliarden DM, rund 2,5 Milliarden Euro, weniger ausgegeben, obwohl Sie doch wissen müssten, dass der Straßenbau notwendig ist, um die wachsenden Verkehrsleistungen bewältigen zu können. Die Prognosen gehen davon aus, dass das Verkehrsaufkommen bis 2015 auf den Autobahnen um 25 Prozent im Personen- und 51 Prozent im Güterverkehr und auf den Bundesstraßen um 18 Prozent im Personenund 30 Prozent im Güterverkehr zunehmen wird. Die Prognosen hätten Sie eigentlich zum Handeln zwingen müssen, denn es ist doch bekannt - seriöse Gutachten belegen dies -, dass Staus einen volkswirtschaftlichen Schaden von mindestens 2 Prozent unseres Bruttosozialprodukts verursachen, von den Schäden für die Umwelt ganz zu schweigen. Man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass das Auto zunehmend an Bedeutung gewinnt. Fast jeder junge Mensch möchte den Führerschein machen und ein Auto haben, und die Mobilität ist auch für ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger ein hohes Gut. Ich erinnere mich daran, dass der Verkehrsminister Müntefering den älteren Verkehrsteilnehmern den Führerschein abnehmen wollte, ({6}) obwohl die Senioren unterdurchschnittlich an Verkehrsunfällen beteiligt sind. Meine Damen und Herren, um zu verschleiern, dass die Mittel für den Straßenbau gekürzt wurden, kam die Bundesregierung auf die Idee, verwirrende Programme zu erstellen und diese mit großem Getöse vorzustellen. Das Investitionsprogramm war eigentlich nur eine Fortsetzung unserer Verkehrspolitik. Wenn man genau nachrechnet - das wurde heute bereits gesagt -, dann stellt man fest, dass das Programm bis zum Jahre 2010 andauern würde. Anschließend hat uns der zweite Verkehrsminister, Klimmt, das Anti-Stau-Programm beschert, das eine eindeutige Wahlkampfhilfe für Nordrhein-Westfalen war. Baden-Württemberg und Bayern waren benachteiligt. Als Beispiel nenne ich die A 3, die höchst belastete Straße in Deutschland mit 90 000 Autos pro Tag. Diese hätte alle Kriterien erfüllt, um ins Anti-Stau-Programm aufgenommen zu werden, was aber leider nicht der Fall war. Das war also eine eindeutige Benachteiligung Bayerns und Baden-Württembergs. ({7}) Wie mittlerweile jedermann weiß, wird die Einführung der LKW-Maut zum 1. Januar 2003 scheitern. Wenn wir Glück haben, wird es vielleicht der 1. Januar 2004 werden. Mir ist nicht bekannt, warum der Verkehrsminister seinen Verordnungsentwurf zurückgezogen hat. Wahrscheinlich will er im Wahlkampf keinen Ärger mit dem Transportgewerbe haben und weitere Konflikte mit dem Transportgewerbe vermeiden. Das so genannte Zukunftsinvestitionsprogramm - übrigens das erste Programm von Minister Bodewig bringt zwar in den Jahren 2001 und 2002 für den Straßenbau rund 400 Millionen Euro mehr, aber es gleicht keinesfalls die vorgenommenen Kürzungen aus. Es ist also nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Mittel sollen für den Bau von Ortsumgehungen eingesetzt werden. Hierzu sage ich: Endlich begreifen Sie, dass Ortsumgehungen Menschen- und Umweltschutz bedeuten. ({8}) Übrigens: Der Verkehrsminister hat gesagt, dass er den Etat von 9,5 Milliarden Euro auf 11,5 Milliarden Euro erhöht hat und dass diese 2 Milliarden Euro in den Jahren 2001 und 2002 zusätzlich für Schienenwege ausgegeben werden sollen. Die Vorleistungen dafür, dass Sie diese 2 Milliarden Euro einsetzen können, haben wir mit unseren UMTS-Lizenzen ermöglicht. ({9}) Ich bin allerdings nicht davon überzeugt, dass die Deutsche Bahn AG das verbauen kann. Denn seit 1995 sind ständig Mittel an den Finanzminister zurückgeflossen, und zwar auch zu Ihrer Zeit. Der Finanzminister Eichel hat sich dieses Geld in die Tasche gesteckt, anstatt zum Beispiel die ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt weiter zu bauen. Hier ist eine Verzögerung von drei Jahren entstanden. Mittlerweile haben Sie gemerkt, dass dieses Projekt auch in den Transeuropäischen Netzen enthalten ist und Sie nach Europa Geld zurückzahlen müssten, wenn Sie diese Strecke nicht bauen. Was haben Sie jedoch gemacht? ({10}) Sie haben Ihren eigenen Bundeskanzler brüskiert, denn Sie haben in der letzten Sitzung des Verkehrsausschusses unseren Antrag zur ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt wieder einmal abgelehnt. Es herrscht eine totale Verwirrung bei der SPD: ({11}) Der Bundeskanzler wird brüskiert, Bayern sagt Nein, die beiden Nürnberger SPD-Abgeordneten sagen Ja. Sie müssen das in nächster Zeit ein wenig koordinieren, damit etwas daraus wird. Wir werden auf jeden Fall das Projekt 8.1 weiterbauen. ({12}) Der größte Gag des Ministers ist natürlich, dass er neulich gesagt hat, dass in den nächsten zehn Jahren 90 Milliarden Euro für die Verkehrsinfrastruktur ausgegeben werden sollen. Das ist weniger, als wir pro Jahr für die Verkehrsinfrastruktur ausgegeben haben. Wir haben in einem Jahr wesentlich mehr Geld ausgegeben. 90 Milliarden Euro in zehn Jahren ist wirklich keine Glanzleistung. Der Ausbau der Wasserstraßeninfrastruktur ging ebenfalls nicht voran. Ich verweise hier insbesondere auch auf die rechtlich und sachlich falsche Entscheidung zum Donauausbau. Die Umorganisation der Wasser- und Schifffahrtsverwaltungen steht ebenfalls im Stau. Es ist nur eine Verunsicherung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingetreten. Noch eine Bemerkung zu den Instandhaltungswerken Nürnberg und München. In München bleibt ein Teil erhalten. Das Aus des Ausbesserungswerkes Nürnberg war von Anfang an eine beschlossene Sache. Der Bundeskanzler wollte auf dem Parteitag in Nürnberg keine Demonstrationen. Deshalb hat er Hand in Hand mit Bahnchef Mehdorn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Narren gehalten. Das muss man einmal ganz deutlich sagen. Gott sei Dank sind der bayerische Wirtschaftsminister und die Firma Siemens in die Bresche gesprungen ({13}) und haben dankenswerterweise etwas dafür getan, wenigstens einen Teil der Arbeitsplätze zu erhalten. Allerdings werden dies andere Arbeitsplätze sein. Außerdem werden die derzeitigen Auszubildenden in alle Winde verstreut, was ihrer Ausbildung nicht unbedingt gut tun wird.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, nach dem 22. September werden wir den Anteil der Investitionen im Bundeshaushalt erhöhen und den Investitionsstau im Verkehrsbereich im Interesse der Mobilität der Bürgerinnen und Bürger auflösen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Als nächster Redner spricht der Kollege Klaus Hasenfratz für die SPD-Fraktion.

Klaus Hasenfratz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In den 16 Jahren, die ich dem Bundestag angehöre, konnte ich zwar viele Reden hören. Dennoch verwundert mich die Rede meiner Vorgängerin. Ihr Beitrag zeigte mir nämlich, dass Sie die Haushaltspläne nicht richtig lesen können. Vielleicht gibt es in Bayern PISA-Geschädigte. ({0}) - Herr Repnik, ich bin in der Lage, einen Haushaltsplan zu lesen. Da scheint es bei Ihnen erhebliche Defizite zu geben. Ich weiß nicht, wie man behaupten kann, dass die Verkehrsinvestitionen - wir reden über Verkehrsinvestitionen, Frau Kollegin Blank - von 1998 an heruntergefahren wurden. ({1}) Sie lagen 1998 bei 9,5 Milliarden Euro. In diesem Jahr liegen sie bei 11,5 Milliarden Euro und für das Haushaltsjahr 2003 werden sie bei 12 Milliarden Euro liegen. Wie kann man da behaupten, die Verkehrsinvestitionen seien heruntergefahren worden? Das müssen Sie mir einmal erklären. ({2}) Ich bin dem Verkehrsminister dankbar, dass er in seiner Regierungserklärung die gute und zukunftsweisende Verkehrspolitik der Bundesregierung dargestellt hat. Ich glaube - nein, ich bin fest davon überzeugt -, dass es der richtige Weg ist. Ich komme auf die LKW-Maut zu sprechen. Es gab Konsens darüber, dass wir eine entfernungsabhängige Maut einführen. Dann ging die Nörgelei los, dass dieses oder jenes nicht richtig sei, obwohl wir vor Jahren alle gemeinsam den Beschluss gefasst haben, diesen richtigen Weg zu gehen. Ich finde es in diesem Zusammenhang bedauerlich, dass Verbandsfunktionäre zum politischen Ungehorsam aufrufen, weil ihnen ein bestimmtes Gesetz nicht passt, das dieses Haus und der Bundesrat beschlossen haben. Was soll man davon halten, wenn sie dann von der Bundesregierung weitere Entlastungen erwarten? Ich stelle mir einmal vor, die Bürger würden den Solidaritätszuschlag nicht zahlen, weil man ihnen damit ins Portemonnaie greift. Was ist das für ein Demokratieverständnis, wenn ein Geschäftsführer eines großen Verbandes zu diesem Boykott aufruft? Ich habe Bedenken, wenn sich eine Fraktion oder eine Partei bei den Verbänden in dieser Frage einklinkt. Darüber sollten Sie einmal nachdenken. ({3}) Herr Kollege Friedrich, Sie hatten gesagt, unsere Bezeichnungen für die Investitionsausgaben seien wolkenhaft. Dazu stelle ich fest: Mir ist das letztendlich egal. Wichtig ist, dass etwas getan wird. ({4}) Wir haben ein Zukunftsinvestitionsprogramm formuliert, in dem der Bau von 300 Ortsumgehungen vorgesehen ist. Frau Kollegin Blank hat dazu gesagt: Endlich seid ihr einmal wach geworden. Warum haben Sie so etwas nicht in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit getan? ({5}) Wir werden an den dringlichsten Stellen, dort, wo die Menschen unter Lärm-, Staub- und Verkehrsbelastungen leiden, eine Entlastung durchführen. Auch verstehe ich nicht, wie man gegen die Erhöhung der Regionalisierungsmittel stimmen kann. Sie sollen angehoben werden. Nach geltendem Gesetz hätte der Finanzminister von den Ländern Rückzahlungen fordern müssen. Das ist nicht geschehen. Wir haben Mittel von 6,75 Milliarden Euro vorgesehen, mit einer Dynamisierung von 1,5 Prozent pro Jahr. ({6}) Herr Kollege Friedrich, wissen Sie, an was mich das erinnert? Unsere Nationalmannschaft nimmt jetzt am Endspiel teil. So genannte Experten sagen dazu, sie hätten in einer leichten Gruppe gespielt, die Schiedsrichter seien für uns gewesen und das alles beruhe nur auf Glück. ({7}) Freuen Sie sich doch einmal über ein Ergebnis, so wie wir das in Bezug auf unsere Politik gemacht haben, und darüber, dass unsere Fußballnationalmannschaft im Endspiel steht! ({8}) Sie aber nörgeln, reden alles mies und sagen, alles sei schlecht. ({9}) - Ich rege mich nicht auf. Ich beschreibe nur einen Zustand. Wir haben die Bahnreform durchgeführt. ({10}) - Wir, dieses Parlament, haben sie durchgeführt. - Sie ist noch nicht vollendet. ({11}) Herr Lippold hat in seiner Rede vorhin wieder einmal von einem Interregiozug gesprochen, der sehr schmutzig war und zu spät angekommen ist. In jedem Wahlkreis gab es einen Interregio- oder Nahrverkehrszug der DB AG, der stillgelegt wurde. Schon geht es wieder los, dass gefordert wird, dies rückgängig zu machen. ({12}) Dabei wird vergessen, dass wir 1994 die Privatisierung der Deutschen Bahn durchgeführt haben. ({13}) Viele wollen auch heute wieder in den Fahrplan, in die Fahrpreise und in die Gestaltung der Fahrstrecke der Züge eingreifen. ({14}) - Das ist richtig. Lassen Sie das doch den Vorstand regeln! Seine Aufgabe ist es, das Unternehmen zu führen. In Art. 87 e Abs. 4 des Grundgesetzes ist geregelt, welche Leistungen der Bund gegenüber der DB AG zu erbringen hat. Das haben wir auch getan. Für den Schienenverkehr stellen wir der Bahn 4,6 Milliarden DM zur Verfügung, während Ihre letzte Leistung 2,4 Milliarden DM war. ({15}) Die Politik sollte sich hier ein bisschen zurückhalten. Dass man allerdings aufpassen muss, dass nichts den Bach hinuntergeht, das versteht sich von selbst. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Hasenfratz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Winfried Wolf?

Klaus Hasenfratz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Kollege Hasenfratz, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass die Bahn eine Reform verabreicht bekommen habe und man deswegen nicht in dieses Unternehmen hineinregieren dürfe. Darf ich Sie fragen, warum Sie unseren Antrag nicht unterstützt haben, wonach der Fern- bzw. Interregioverkehr gemäß Art. 87 e des Grundgesetzes verteidigt werden soll, und darauf hinweisen, dass dieser Antrag identisch mit dem Antrag war, den die Bayerische Staatsregierung und die baden-württembergische Regierung eingebracht haben? Er hatte das gleiche Ziel, nämlich den Interregio zu verteidigen. Diese Regierungen werden wohl wissen, was Gesetzesgrundlage und was möglich ist. ({0})

Klaus Hasenfratz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dazu kann ich Ihnen sagen: Nur weil Sie diesen Antrag von der Bayerischen Staatsregierung und dem Land Baden-Württemberg übernommen haben, ist er noch lange nicht gut. ({0}) Es gibt unterschiedliche Rechtsauffassungen, ob der Bund nach Art. 87 e des Grundgesetzes aufgrund der Stilllegung von Interregios verpflichtet ist, Geld zur Verfügung zu stellen, um dies zu verhindern. Das ist nicht der Fall. Für den Nahverkehr erfüllt der Bund seine Verpflichtungen. Für den Fernverkehr ist die Bahn zuständig. So können Sie das auch in einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages nachlesen, der dazu Stellung genommen hat. Ich kann Ihnen die Quelle mitteilen und sagen, wann das veröffentlicht wurde. In diesem Falle geht das Rechtsverständnis zwischen der Bayerischen Staatsregierung, der Regierung des Landes Baden-Württemberg und der PDS einerseits und dem Wissenschaftlichen Dienst andererseits extrem auseinander. ({1}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nach 16 Jahren Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag ist das heute meine letzte Rede. Trotz aller kontroversen Diskussionen hat es viele Gemeinsamkeiten gegeben. Im Überschwang meiner Erregung ist mir vielleicht manchmal ein unbedachtes Wort entschlüpft. Liebe Renate, entschuldige, so war es nicht gemeint. ({2}) Wir kennen uns lange genug. In diesen Jahren hat es viele Gemeinsamkeiten gegeben, Kolleginnen und Kollegen. Ich erinnere nur an die Bahnpolitik. Manchmal sind die Instrumente und die Werkzeuge, die man anwenden will, unterschiedlicher Art, aber eine leistungsfähige Bahn, die für die Menschen da sein soll, ist unser gemeinsames Ziel. Ich muss auch sagen, über die Parteigrenzen hinweg sind in den 16 Jahren auch Freundschaften entstanden. Ich nehme exemplarisch den Ausschussvorsitzenden Eduard Oswald heraus, weil wir beide, Edi, 1987 im Verkehrsausschuss angefangen haben. Du bist heute Ausschussvorsitzender, ich bin dein Stellvertreter. Ich habe Dank zu sagen, auch vielen aus den anderen Fraktionen und insbesondere aus meiner Fraktion, für die gute und konstruktive Zusammenarbeit. Ich hoffe und wünsche, aber ich bin auch davon überzeugt, dass meine Fraktion nach dem 22. September auch weiterhin eine zukunftsweisende Verkehrspolitik machen wird. ({3}) Dazu wünsche ich allen alles Gute und viel Erfolg. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Lieber Kollege Hasenfratz, das war Ihre letzte Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Sie haben bereits daran erinnert. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen möchte ich Ihnen für Ihre Arbeit im Plenum und im Ausschuss danken. Jetzt kann, glaube ich, der ganze Saal klatschen. ({0}) Es gibt noch einen letzten Redner in dieser Debatte. Das ist der Kollege Dirk Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte dem Kollegen Klaus Hasenfratz nach seiner letzten verkehrspolitischen Rede im Namen meiner Fraktion und unserer Arbeitsgruppe, aber ich denke auch im Namen aller Kollegen unseres Ausschusses sehr herzlich dafür danken, dass wir trotz mancher kontroverser Auseinandersetzungen in der Sache doch ein sehr angenehmes Klima der Zusammenarbeit gehabt haben. Ich möchte dir, lieber Klaus Hasenfratz, persönlich für dein Wohlergehen alles erdenklich Gute wünschen. ({0}) Ich denke, auch in Zukunft werden wir uns über jeden Moment der Wiederbegegnung freuen, den wir haben können. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Regierungserklärung des Bundesministers war doch sichtbar Ausdruck eines schlechten Gewissens kurz vor Toresschluss. In dieser Legislaturperiode und auch heute wieder hat er uns viele Ankündigungen serviert, viel Zukunftsmusik, viel Propaganda. Dies kontrastiert doch in bedenklicher Weise mit sinkenden Finanz- und Bauleistungen. Das kann nicht das sein, was deutsche Verkehrspolitik und Infrastruktur voranbringt. Schauen Sie sich den Haushaltsentwurf 2003 an. Er dokumentiert erneut - und hoffentlich zum letzten Mal die dürftige Bilanz der rot-grünen Verkehrspolitik. Nachdem Ihre Regierung, Herr Minister Bodewig, in diesem Frühjahr die LKW-Maut mit einem unechten Vermittlungsverfahren durchgedrückt hat, konnte man eigentlich erwarten, dass für die Not leidende Verkehrsinfrastruktur mehr Geld zur Verfügung stehen würde. Aber weit gefehlt: Sie haben die Maut zur Abzocke des LKW-Gewerbes missbraucht und der größte Abzocker ist Bundesfinanzminister Hans Eichel. Er zieht dem Gewerbe die Maut aus der Tasche und vereinnahmt einen Großteil davon für den Schuldentopf einer verfehlten Finanzpolitik. ({2}) Demgegenüber steht bedarfsgerechte, ausreichende Mittelausstattung für die Verkehrsinfrastruktur nicht zur Verfügung. Besonders Not leidend sind mittlerweile schon die Bundesfernstraßen in den alten Bundesländern. Sie sind zwar die herausragenden Geldquellen des Staates, werden aber beim Substanzerhalt und der kapazitätssteigernden Investition sträflich vernachlässigt. Es gibt eine Fülle von Baurechten - die PällmannKommission hat da ein Zwischenvolumen von über 35 Milliarden DM errechnet - ohne Finanzierung. In Baden-Würtemberg zum Beispiel ist in der gesamten Legislaturperiode fast nichts neu begonnen worden. ({3}) Das ist ein wirkliches Drama. Die wenigen begonnenen, aber nicht durchfinanzierten Maßnahmen wie Ortsumgehungen aus dem ZIP können diesen Eindruck gar nicht schmälern; denn hier handelt es sich nur um An- und nicht um Durchfinanzierungen und das ist nicht das, was das Bauvolumen ausmacht. ({4}) Während dieser Legislaturperiode ist durch die Mineralölsteuer und die darauf entrichtete Mehrwertsteuer ein Volumen von etwa 340 Milliarden DM eingenommen worden. Im gleichen Zeitraum flossen dem Bundesfernstraßenbau allenfalls 40 Milliarden DM an Bundesmitteln zu. Viel Geld hat der Bund aus dem Netz gezogen. Bei weiter steigenden Verkehrsbelastungen ist bereits heute absehbar, dass der Substanzverzehr beim Verkehrsträger Straße weitaus größer ausfällt als der Substanzaufbau durch Reinvestitionen. Das wird auf Dauer nicht gut gehen. Meine Damen und Herren, jeder Landwirt weiß, dass er die Kuh, die er täglich melken will, auch anständig füttern muss, damit das wertvolle Tier nicht verendet. Die Verendung des deutschen Straßennetzes können wir uns nicht leisten, dann legen wir Hand an unsere Volkswirtschaft - das darf nicht sein - und schädigen auch Europa. Es war doch Ihr Forschungsministerium, das jährliche Staukosten von rund 100 Milliarden Euro errechnet hat. Jedem wirtschaftlich einsichtigen Menschen ist der Zusammenhang zwischen Prosporität und Verkehrssystem klar: Ein funktionierendes Verkehrssystem ist die notwendige Voraussetzung für Mobilität und Wohlstand. Nun sind Sie der Meinung, diese Probleme mit dem Verkehrsträger Schiene schon lösen zu können. Die Maut soll hier flankierend eingreifen, der Straße wird es genommen, der Schiene gegeben. Quersubventionierung heißt das. Hat aber das bei der Schiene angelegte Geld wirklich den verkehrspolitischen Mehrwert geschaffen? Während der Bund aus der Straße seit Beginn der Bahnreform fast 600 Milliarden DM netto erlöst hat, hat er im gleichen Zeitraum der Schiene knapp 300 Milliarden DM gegeben. Der überwiegende Teil floss in den Betrieb und nur wenig wurde investiert. Im Übrigen, Herr Schmidt: Das sind Investitionen des Steuerzahlers, nicht des Unternehmens. Dieses Unternehmen braucht dazu im Unterschied zu anderen wirtschaftlich Tätigen noch nicht einmal die Abschreibungen zu verdienen. Das ist wirklich eine Beletage, in der die Investitionen gemacht werden können. ({5}) Laut Geschäftsbericht der DB AG für 2001 ist das Unternehmen heute wieder mit rund 18,3 Milliarden Euro - das sind fast 37 Milliarden DM - verschuldet, nachdem es der Bund zum 31. Dezember 1993 von fast 70 Milliarden DM Altschulden befreit hatte. In nur acht Jahren seit dem Beginn der Bahnreform hat die DB AG mehr als die Hälfte der Schulden neu aufgebaut, die vorher in 32 Jahren - seit 1961 - entstanden sind. Das Tempo der Neuverschuldung hat ein erschreckendes Ausmaß angenommen. Es gibt keine heile Welt des Schienenverkehrs in Deutschland. Das muss jeder begreifen. Dabei stagnieren die Anteile der Schiene am Gesamtverkehrsmarkt bei rund 14 Prozent. Seit 1994, dem Beginn der Bahnreform, haben im Modal-Split die Marktanteile des Güterverkehrs auf der Schiene von 17 auf 14 Prozent abgenommen und die des Güterverkehrs per LKW von 65 auf 71 Prozent zugenommen. Und dann reden wir hier von mehr Verkehr auf die Schiene. Was ist denn die Realität? Genau das Gegenteil! ({6}) In einem solchen Zeitraum also fast 300 Milliarden Staatstransfer zuzüglich die Verantwortung für etwa 37 Milliarden Neuverschuldung, dann ab dem Haushalt 1994 Übernahme von 70 Milliarden Altschulden - das sind die gigantischen Finanzvolumina, die sich die Bundesrepublik Deutschland nicht länger erlauben kann, umso mehr als durch die Bahnreform der Aufwand des Steuerzahlers für die Schiene verringert werden sollte. In dieser Einschätzung befinden wir uns im Übrigen in Übereinstimmung mit dem sozialdemokratischen Altkanzler Helmut Schmidt, der als gelernter Ökonom zu folgender legendärer Erkenntnis gelangte: „Die Bundesrepublik Deutschland kann sich immer nur eines von beidem leisten: entweder eine Bundeswehr oder eine Bundesbahn.“ Das ist Originalton Helmut Schmidt. Für eine nachhaltige verkehrspolitische Öffnung der Schiene, um dort wettbewerblich organisierte, dauerhaft verkehrsmarktfähige Strukturen zu schaffen, fehlte Ihrer Regierung die Kraft. ({7}) Ursache dieser Kraftlosigkeit ist der mangelnde politische Gestaltungswille sozialdemokratischer Verkehrsminister. ({8}) Um es cineastisch auszudrücken: Nach Müntefering und Klimmt ist Bodewig „Der dritte Mann“ oder besser „Der unsichtbare Dritte“, eine niederrheinische Frohnatur ohne politische Durchsetzungskraft. ({9}) Herr Schmidt, zugegebenermaßen gab es auf dem Parteitag der Grünen im Frühjahr 2001 ja gute Ansätze. Die Grünen bejubelten den Minister Bodewig, als er sagte: Die Trennung von Netz und Betrieb ist nur noch eine Frage des Wie und nicht mehr des Ob; das weiß auch Herr Mehdorn. ({10}) Sie haben die Beschlusslage meiner Fraktion zutreffend zitiert. Sie haben mich, genau wie der Kollege Weis auch, auf ein Zitat hingewiesen. Ich kann Ihnen übrigens auch eines liefern. Am 22. Mai haben in Potsdam die Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Wirtschafts- und Verkehrsausschüsse aus Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Berlin getagt ({11}) und haben hinterher eine Potsdamer Erklärung zur Bahnpolitik abgegeben. Darin heißt es: Sie erklären anlässlich dieses Treffens, dass es zu einer Trennung von Netz und Betrieb kommen muss, ({12}) wobei die Errichtung einer unabhängigen Trassenagentur zur Herstellung und Sicherung eines diskriminierungsfreien Zugangs als sinnvoller Zwischenschritt erachtet wird. ({13}) Herr Schmidt, Sie werden jawohl noch Frau Sager kennen. Das war ja mal Ihre Bundessprecherin. Die war bei der Tagung dabei und hat das quergeschrieben. ({14}) Insoweit fand ich das, was Sie gesagt haben, ziemlich albern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Fischer, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Schwäche des deutschen Verkehrssystems ist die Schwäche des Verkehrsträgers Schiene, ({0}) weil damit das Straßensystem überlastet wird. Deswegen muss hier umgesteuert werden. Wir brauchen eine Zwischenbilanz, was die Bahnreform bisher gebracht hat, dann neue Zielbestimmungen? Es besteht extremer Handlungsbedarf. Die Monopole, die wir unverändert haben, müssen beseitigt werden. ({1}) Wir müssen dringend dafür sorgen, dass die Marktanteile größer werden. Sie haben das nicht zustande gebracht; im Gegenteil, bei Ihnen sind sie gesunken. Es muss der Substanzverzehr der Straße gestoppt werden. Auch das Gewerbe muss entlastet werden. Von Herrn Steinmeier im Bundeskanzleramt ist der höchstmögliche Harmonisierungsbeitrag versprochen worden. Steinmeier ist ein wahrer Schröder-Schüler: Es gilt das gebrochene Wort. Wir müssen es nach dem 22. September einlösen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Fischer, bitte kommen Sie zum Schluss.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sage zum Schluss, Frau Präsidentin: „Die Zeit verrinnt, wir seh’n Dirk Fischer ({0}) betroffen, der Vorhang fällt und alle Fragen offen.“ Am 22. September wird der Vorhang für die rot-grüne Bundesregierung fallen und sich nicht wieder heben. Dann gibt es für eine neue Mehrheit die Chance, die vielen Fragen auch wirklich schlüssig zu beantworten. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/9551 und 14/9546 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/9551 soll jedoch abweichend von der Tagesordnung nicht an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen. Zunächst rufe ich auf die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Drucksa- che 14/9559, zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Erhalt der Bahnwerke - behindertengerechte Umrüstung des Wagenparks der Deutschen Bahn AG“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/9365 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Frak- tion angenommen. Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/9592 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Innerdeutschen Luftverkehr auf die Bahn verlagern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/9255 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine. - Die Beschlussempfehlung ist ebenso gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/8528. Der Ausschuss empfiehlt die An- nahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/7179 mit dem Titel „Zukunft der Instandhaltungswerke der Deut- schen Bahn AG“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7147 mit dem Titel „Instandhaltungswerke der Deut- schen Bahn AG in Nürnberg und München erhalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung von FDP- und PDS-Fraktion angenommen. Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7282 mit dem Titel „Instandhaltungswerke der Deut- schen Bahn AG in Delitzsch, Chemnitz, Opladen und Zwickau erhalten - neue Investoren für Stendal, Leipzig- Engelsdorf und Neustrelitz“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU- und PDS-Fraktion bei Enthaltung der FDP angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/7158 mit dem Titel „Neues Konzept für Ausbesse- rungswerke der Deutschen Bahn AG vorlegen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 g sowie die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: 3. a) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU Situation und Perspektiven der Landwirtschaft in Deutschland - Drucksachen 14/8072, 14/9461 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({0}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Agrarbericht 2001 Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Marita Sehn, Ulrich Heinrich, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Agrarbericht 2001 Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Gudrun Kopp, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Agrarbericht 2001 Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung - zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Agrarbericht 2001 Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung - Drucksachen 14/5326, 14/6343, 14/6345, 14/6347, 14/7118 Berichterstattung: Abgeordneter Albert Deß Dirk Fischer ({1}) c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht 2002 der Bundesregierung - Drucksache 14/8202 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({2}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Lagebericht der Bundesregierung über die Alterssicherung der Landwirte 2001 - Drucksache 14/7798 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Rainer Funke, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Fleischvernichtung stoppen - hungernden Menschen helfen - Drucksache 14/5675 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({4}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Marita Sehn, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Maul- und Klauenseuche - Impfen statt töten - Drucksache 14/5691 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({5}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Ulrich Heinrich, Ina Albowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP MKS- und BSE-Erfahrungsbericht umgehend vorlegen - Drucksache 14/6176 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({6}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Ulrich Heinrich, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzenanbau in Ostwestfalen-Lippe - Drucksachen 14/3107, 14/4449 Berichterstattung: Abgeordnete Jella Teuchner ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({8}): - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Ulrich Heinrich, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Obstbauern vor dem Ruin retten - Plantomycin für Notfallmaßnahmen zulassen - zu dem Antrag der Abgeordneten Marita Sehn, Ulrich Heinrich, Walter Hirche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Pflanzenschutzpolitik neu ausrichten, heimische Produzenten unterstützen und Verbraucher schützen - Drucksachen 14/8180, 14/8430, 14/9366 Berichterstattung: Abgeordneter Gustav Herzog Zum Ernährungs- und agrarpolitischen Bericht 2002 der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Heinrich-Wilhelm Ronsöhr.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier wurde heute Morgen - dies kann natürlich auch nicht ausbleiben, weil das ganze deutsche Volk zurzeit über Fußball philosophiert - schon viel über Fußball gesprochen. Es wurde gesagt, wir sollten es doch begrüßen, wie die deutsche Nationalmannschaft spielt. ({0}) Ja, die leistet viel für Deutschland. Ich erwarte aber, dass eine Bundesregierung dies auch tut. Tut sie aber nicht. Gerade in dem Bereich, für den ich als Sprecher meiner Fraktion zuständig bin, sind in letzter Zeit mehr Eigentore als Tore geschossen worden. ({1}) Es gibt eine zunehmende Zahl von Lebensmittelskandalen, die von der Bundesregierung unzureichend aufgeklärt werden. Dann gibt es sich ständig verschlechternde Vizepräsidentin Petra Bläss Rahmenbedingungen für die deutsche Landwirtschaft. Es gibt keinen Dialog zwischen der Bundesregierung und der Landwirtschaft. Man stelle sich vor, wir würden für unser Land eine Wirtschaftspolitik konzipieren, ohne mit der Wirtschaft oder den Gewerkschaften zu sprechen. Jeder würde das als unmöglich bezeichnen. Wenn das aber für die Wirtschaftspolitik im Allgemeinen gilt, dann gilt das auch für die Agrarpolitik im Besonderen. ({2}) Stattdessen werden in ungerechtfertigter Weise ideologische Gräben - das hat der Nitrofen-Skandal deutlich gemacht - in der Landwirtschaft aufgerissen. ({3}) Ich werde niemals den Stab über den ökologischen Landbau brechen. ({4}) Ich finde, dass er seine Berechtigung hat ({5}) und dass wir ihn so fördern müssen, wie sich das Marktsegment ökologischer Landbau entwickelt. ({6}) Aber ich war in den letzten Tagen sehr viel bei Ökobetrieben in der Bundesrepublik Deutschland. Ich habe deren Ängste mitbekommen, die nicht nur wegen des NitrofenSkandals entstanden sind. Die Ökobauern haben einfach Angst, dass von der Ministerin ein Signal für Preisdumping für Produkte des ökologischen Landbaus ausgeht. ({7}) Die Sorgen dieser Bauern sind gerechtfertigt. Allerdings sind auch die Sorgen der Landwirte gerechtfertigt, die sich dem modernen, innovativen Prozess in der Landwirtschaft stellen wollen, wie das auch die ökologische Landwirtschaft tut. Aber im konventionellen Bereich ist das nicht anders. Im Grunde genommen hat man keine Möglichkeit, den heimischen Betrieb weiterzuentwickeln, weil die rot-grüne Agrarpolitik Folgendes macht: Sie setzt bestimmte europäische Vorgaben nicht eins zu eins um, obwohl auch diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen wissen müssen, dass es einen europäischen Binnenmarkt gibt. ({8}) Diesem europäischen Binnenmarkt hat sich auch die deutsche Landwirtschaft zu stellen. ({9}) Wir brauchen - das beweist unsere Große Anfrage zur Agrarpolitik - unbedingt eine Kehrtwende in der Agrarpolitik, keine Wende à la Künast. ({10}) - Ulrike, ich habe dir schon einmal gesagt: Wer sich ständig wendet, dreht sich im Kreis. Das gilt für Frau Künast im Verbraucherschutz und in der Agrarpolitik. Sie bringt nicht einmal den Verbraucherschutz nach vorne. Ich habe von Frau Künast wenigstens erwartet, dass sie ihn voranbringt. Bei der Agrarpolitik hatte ich diesen Erwartungshorizont allerdings nie. Im Grunde genommen dürfen der nationalen Agrarpolitik in Zeiten, in denen der Wettbewerbsdruck für die Landwirtschaft zunimmt, keine Klötze an die Beine gebunden werden, mit denen sie dann am europäischen Wettlauf mit den anderen EU-Partnern teilnehmen soll. Mit Klötzen an den Beinen kann ich diesen Wettlauf nicht gewinnen, auch wenn ich von meinem Können und meiner Ausbildung her dazu in der Lage wäre. Mit Klötzen an den Beinen geht das ungemein schwer. Unsere Große Anfrage hat zutage gebracht, welche ungeheuren Belastungen für die deutsche Landwirtschaft von Rot-Grün ausgegangen sind. Die Landwirtschaft ist wie der Mittelstand in diesem Lande zu einem Lastenträger der rot-grünen Politik geworden. ({11}) Nehmen Sie nur die ungeheuren Belastungen von fast 1 Milliarde DM, also fast 500 Millionen Euro, beim Agrardiesel. Gleichzeitig haben andere europäische Länder, mit denen wir im Wettbewerb stehen, den Agrardiesel von Abgaben befreit und damit dazu beigetragen, dass ihre Landwirtschaft wettbewerbsfähiger wird. ({12}) - Wir haben schließlich die Steuerbefreiung für Biodiesel eingeführt. Wenn ihr sie fortsetzt, ist das zwar richtig, ({13}) aber im Grunde genommen haben wir bereits im Zusammenhang mit dem Biodiesel die richtige Politik eingeleitet. Das gilt nach wie vor. ({14}) Das heißt aber nicht, dass die Landwirtschaft nicht durch den Agrardiesel und durch viele andere Maßnahmen zusätzliche Belastungen erfahren hat. ({15}) Auch kann es nicht angehen, dass wir ständig über Steuerentlastungen für die Wirtschaft reden, aber die bäuerliche Landwirtschaft - ich meine nicht die Aktiengesellschaften und die GmbHs in der landwirtschaftlichen Produktion, sondern die bäuerlich strukturierte Landwirtschaft, in der der Unternehmer seinen Betrieb in Eigenverantwortung bewirtschaftet ({16}) - ja, die bäuerliche Familie -, im Bereich der Einkommensteuer bis zum Jahr 2005 zusätzlich belastet wird. Auch das ist eine sehr negative rot-grüne Bilanz, die wir zu ziehen haben. ({17}) Es geht noch weiter: Auch im Rahmen der Agrarsozialpolitik sind zusätzliche Belastungen beschlossen worden. Ich habe es damals als einen Skandal bezeichnet - und es ist auch durch die Antwort auf unsere Große Anfrage offenbar geworden -, dass den landwirtschaftlichen Alterskassen 400 Millionen genommen und gleichzeitig der Bundesknappschaft zusätzliche Mittel in Höhe von 500 Millionen gewährt worden sind. Ich habe nichts dagegen - in meinem Wahlkreis gibt es auch Bergbau -, dass den Bergleuten etwas gegeben wird, aber ich habe etwas dagegen, dass es vorher den Bauern in dieser Republik genommen wird. ({18}) Von daher sind die Rahmenbedingungen für die deutsche Landwirtschaft verschlechtert worden. Der Verbraucherschutz ist nicht erneuert worden. Auch das ist offenbar geworden. Ich meine, dass im Sinne einer Erneuerung des Verbraucherschutzes und der Weiterentwicklung der Agrarpolitik, die für unsere Bäuerinnen und Bauern verlässlich und berechenbar bleibt, am 22. September unbedingt ein Wachwechsel erreicht werden muss. Die deutschen Bauern warten darauf, meine Damen und Herren. ({19})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Renate Künast.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fakten sind: Die Einkommen der landwirtschaftlichen Betriebe werden nach den erheblichen Gewinnsteigerungen in den beiden Vorjahren - im Jahr 2000 waren es 13,5 Prozent, im vergangenen Jahr 17,7 Prozent - auch in diesem Jahr im Durchschnitt in einer Größenordnung von bis zu 6 Prozent steigen. Besonders die neuen Bundesländer profitieren von den erwarteten Einkommenssteigerungen von teilweise bis zu 20 Prozent. Das ist doch eine gute Nachricht. ({0}) Auf diesem Schaubild sehen Sie zwei Kurven, die jeweils die Gewinnsteigerungen der Unternehmen und der Arbeitskraft zeigen. Bei dem kleinen Knick, der dabei sichtbar ist, handelt es sich um den so genannten Borchert-Knick. Als Borchert sein Amt antrat, ging die Kurve nach unten. Rot-Grün hat die Entwicklung wieder nach oben gebracht. ({1}) Wie Sie sehen, ist es immer wieder von Vorteil, sich mit den Zahlen auseinander zu setzen. Fakt ist, dass die Wettbewerbsstellung der deutschen Landwirtschaft insgesamt sehr gut ist. Allein der Außenhandel mit Agrarprodukten ist nach den vorläufigen Ergebnissen für 2001 um 8,1 Prozent auf 25,2 Milliarden Euro gestiegen. ({2}) Fakt ist weiterhin, dass die Bäuerinnen und Bauern nach anfänglicher Skepsis wegen der BSE-Krise wieder investieren. Die Erzeugung von Lebensmitteln ist wieder für alle ein Thema geworden. Die Menschen wollen gesunde und gute Nahrungsmittel von unseren Bäuerinnen und Bauern. Eines ist auch klar: Es wird gesellschaftlich immer mehr darüber diskutiert. Die Menschen lernen zunehmend, dass bäuerliche Landwirtschaft, dass Landwirtschaft überhaupt nicht etwas ist, was von ihnen distanziert ist, sondern etwas ist, was für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, für Wasser, Boden, Artenvielfalt sowie die Schönheit und Pflege unserer Kulturlandschaft unverzichtbar ist. ({3}) Das sind alles ({4}) - Sie reden doch bestimmt gleich ({5}) und haben von Ihrer Fraktion auch viel Redezeit bekommen, weil Sie so qualifizierte Ausführungen machen können ({6}) Güter, die sie nicht vom Weltmarkt importieren können. Da liegen die Zukunftschancen und das spüren auch die Menschen in der Landwirtschaft. Die junge Generation, die jungen Unternehmerinnen und Unternehmer diskutieren zum Teil anders, als das in den alten Strukturen oder den so genannten journalistischen Blättern der Landwirtschaft geschieht. Was macht die junge Generation in der Landwirtschaft? Sie investiert, sie geht neue Bündnisse ein. Da gibt es plötzlich junge Menschen vom Land, die zusammen mit der BUND-Jugend bei uns Anträge stellen, um gemeinsam Informationskampagnen und Multivisionsshows für die Schulausbildung zu machen. Sie sagen: Wir, Umweltschützer und Landjugend, tun uns zusammen und zeigen denen in der Stadt, was Sache ist. ({7}) - Das ist etwas Neues. ({8}) - Das ist neu. Vorher wurde ihnen immer eingeredet, dass die, die Umweltschutz machen wollen, ihre Feinde sind. Die Jugend hat erkannt, dass Zukunft gemeinsam organisiert wird. ({9}) Sie sehen genau, dass die Zukunft in sozialer, ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit liegt. Sie sehen, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten, dass Ziele gemeinsam entwickelt werden, zum Beispiel auch bei der artgerechten Tierhaltung. Das sind Zukunftsthemen. Die jungen Landwirte wissen, dass die Zukunft beim Pflanzenschutz in der Nachhaltigkeit liegt. Deshalb bauen wir die gesamte Forschung in diesem Bereich um. Wir forschen zunehmend über verträgliche Alternativen auch beim Pflanzenschutz. ({10}) Klar ist: Es muss Medikamente für Menschen geben, die auch wirken können. Deshalb haben Antibiotika in Lebensmitteln nichts zu suchen. ({11}) Deshalb haben Antibiotika auch im deutschen Honig nichts zu suchen. Da unterscheiden wir uns. Da liegen Welten zwischen Ihnen und uns. ({12}) Sie und CDU-Minister schreiben mir in Briefen immer noch, ich sollte Plantomycin wieder komplett zulassen und die zulässigen Rückstandshöchstmengen erhöhen. Ich sage: Niemand von uns würde solchen Honig den Kindern zum Frühstück anbieten. Deshalb lässt die Landwirtschaftsministerin das auch nicht zu. ({13}) - Ein wunderbarer Zwischenruf: „Aber Nitrofeneier lassen Sie zu.“ Lieber Herr Schindler, ({14}) mindestens seit 1999 wurde in der Halle in Malchin gelagert. Das hätten Sie alle miteinander weit vor meiner Zeit als Agrarministerin entdecken und beheben können. ({15}) Sie haben diese Aufgabe mir überlassen. Ich habe es Ende Mai angepackt und gemacht. ({16}) Wir wollen - das ist ein wichtiger Ansatzpunkt -, dass in der Lebensmittelpolitik genauer auf die Gesundheit der Menschen geachtet wird. Wir wollen insbesondere auf unsere Kleinsten achten. Dazu muss ich Ihnen ehrlich sagen: Ich verstehe gar nicht, wie Sie jahrzehntelang darauf verzichten konnten. Unter Ihrer Ägide sind die Rückstandshöchstmengen bezogen auf das Gewicht eines 35-jährigen Mannes berechnet worden. Ich weiß nicht, ob es für Sie ein Geheimnis war, dass ein dreijähriges oder fünfjähriges Kind nicht das gleiche Gewicht hat. ({17}) Bis zum sechsten Lebensjahr ist die Enzymbildung von Leber und Niere noch nicht so entwickelt wie bei Erwachsenen. Wir fangen deshalb damit an, das neu zu berechnen, und haben entsprechende Forschungsprogramme aufgelegt. ({18}) - Ich weiß, die Wahrheit ist hart. Zu einem modernen Wirtschaftskonzept gehört heutzutage auch der Verbraucherschutz, auch für unsere Kleinen. Wir können froh darüber sein, dass die jungen Unternehmerinnen und Unternehmer auf dem Land genau das erkannt haben. Ich will einen Satz zu Ihrem Antrag sagen. Sie erheben den Vorwurf, die Vorschläge der Bundesregierung in dem Halbzeitbilanzpapier seien voreilig und führten zu einer großen Planungsunsicherheit unserer Landwirte. Glauben Sie im Ernst, dass die jungen Landwirte und das Gewerbe im ländlichen Raum Lust haben, auf Dauer gemeinsam mit Ihnen den Kopf in den Sand zu stecken und betriebswirtschaftliche Chancen nicht zu nutzen? Gucken wir uns doch einmal an, worüber in der WTO diskutiert wird und worüber jetzt zum Beispiel in der Kommission diskutiert wird, nämlich über den FischlerVorschlag. Ich finde das schon lustig. Früher haben Sie Herrn Fischler in Ihre Fraktion eingeladen und gesagt, Frau Künast rede irgendwelche irrealen Dinge. Warum loben Sie den Fischler-Vorschlag jetzt eigentlich nicht? Er ist doch Ihr Mann. Aber Sie haben in der letzten Zeit ja immer den Schulterschluss mit Herrn Fischler gegen mich versucht. Die Konservativen halten zusammen; das war schon auffallend. ({19}) - Sie haben sich oft genug mit ihm gegen mich vereinigt. Da muss ja was dran sein. Jetzt sehen Sie, meine Damen und Herren: Die Vorschläge im Entwurf der Bundesregierung zur HalbzeitbiBundesministerin Renate Künast lanz finden sich in den Brüsseler Vorschlägen wieder. Sie sind genau das Angebot für gesellschaftlich gewünschte Arbeit der Landwirte und sie sind WTO-fähig. In unserem Papier beschreiben wir ein Modell zur Entkoppelung der Direktzahlungen von der Produktion und zur Verbindung der Direktzahlungen mit Umweltstandards. Das sind klassische Punkte. Sie finden darin auch die obligatorische Modulation, die Sie immer noch bekämpfen. In einer Erweiterung des Kataloges haben wir aufgeführt, was man insbesondere in den neuen Bundesländern im ländlichen Raum alles finanzieren könnte, bis hin zur vermehrten Förderung traditioneller regionaler Ursprungsprodukte in der Verarbeitung und Vermarktung, wodurch wir letztlich Qualität fördern. All diese Vorschläge sind mit einer extrem großen Schnittmenge in das Papier der Kommission eingeflossen. Deshalb kann man zu dem Fischler-Vorschlag heute eines sagen: Die Richtung stimmt, das ist wettbewerbsfähig auf dem Weltmarkt. Ich möchte mir allerdings an dieser Stelle noch die Rechnung anschauen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schindler?

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Bitte.

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin Künast, können Sie für den Fall, dass es so käme, garantieren, dass rot-grün regierte Bundesländer diese Ausgleichsmittel nicht schlucken und im eigenen Staatsetat vereinnahmen - wie in der Vergangenheit passiert -, sondern dass sie die Mittel wie in Bayern, in Baden-Württemberg und in anderen CDU-regierten Ländern tatsächlich an die Bauern weitergeben? Wir haben ja schlechte Beispiele aus der Vergangenheit. Garantieren Sie, dass diese Mittel der Landwirtschaft erhalten bleiben?

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Herr Schindler, das ist eine gute Frage. ({0}) Ich garantiere Ihnen, dass die Mittel, die nach allen Brüsseler Vorschlägen - bei denen wir viele Detailfragen noch werden klären müssen, gerade auch die Frage, wie die Betriebe in den neuen Bundesländern betroffen sind umgeschichtet werden, tatsächlich in den ländlichen Raum gehen. Dafür werde ich beinhart kämpfen und Sie haben bisher von der Bundesregierung dazu auch keinen anderen Satz gehört. ({1}) Da haben wir einen kleinen Unterschied. Ich sage Ihnen auch, warum. Wir alle wissen, dass es Landflucht gibt, und müssen uns deshalb genau fragen: Wo erzielen diese Brüsseler Gelder den höchsten Arbeitsplatzeffekt? Wenn beispielsweise Frauen Qualifikationen brauchen, um nicht als Bäuerin, sondern als Beraterin in der Verbindungsstelle zwischen Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu arbeiten, wenn Frauen auf dem Land Ausbildung in den Schulen machen sollen und wollen, könnte es auch Sinn machen, nicht den einzelnen landwirtschaftlichen Betrieb, sondern die Frauen bei dieser versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit zu fördern. ({2}) Der Kampf für diese Gelder im ländlichen Raum wird von mir immer geführt und ich habe nicht vor, auch nur einen Euro abzugeben. Da haben wir etwas Gemeinsames. ({3}) Noch einmal mit Blick auf die neuen Bundesländer und die Kappungsgrenze: Klar ist, dass die Richtung stimmt. Die Rechnung gucken wir uns sehr genau an, auch das in Richtung Brüssel. Es muss gerecht zugehen. Bei Umschichtungen müssen alle Mitgliedstaaten gleichermaßen belastet werden. Regionen, die abgeben, müssen dieses Geld für den Aufbau neuer Bereiche, wie ich sie zum Beispiel gerade in meiner Antwort auf Ihre Frage genannt habe, nutzen, beispielsweise für den Bereich Frauenausbildung und für die Förderung von Arbeitsplätzen auf dem Land. Ihr Konzept besteht meines Erachtens darin: Augen zu und weiter mit den alten Strukturen und mit den alten Geldflüssen. Sie werden aber ein Ende finden, spätestens durch die WTO-Verhandlungen. Deshalb ist es richtig, dass wir jetzt etwas Neues aufbauen. Ich frage mich: Wo sind eigentlich Ihr Angebot und Ihre Perspektiven für die jungen Leute? Ihr Schweigen, meine Damen und Herren von der Opposition, geht ja sogar noch viel weiter. Wo ist eigentlich Ihr Kandidat im so genannten Kompetenzteam? Seit Wochen blicke ich sehnsüchtig in die Zeitungen und frage mich: Wo ist er denn? Es kann eigentlich nur zwei Antworten geben: Entweder haben Sie Angst davor zuzugeben, dass es wieder einer des alten Schlages wird, Herr Sonnleitner zum Beispiel. Damit würden Sie alle Ihre Programmaussagen, Sie wollten das Wort Verbraucherschutz auch nur buchstabieren, ad absurdum führen, weil Sie sagen würden: Das ist die alte Politik, die für viele Krisen mit ursächlich war. Oder Sie haben Angst davor, offen zu sagen, dass Sie nicht mehr einen Kandidaten des alten Schlages, sondern einen Verbraucherschützer nehmen. Damit würden Sie natürlich die Stimmen vieler Bauern verlieren. Eines zeigt Ihr Verhalten meines Erachtens aber auf alle Fälle - das gilt auch für alle Ihre inhaltlichen Vorschläge -: Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihre Klientel sind nicht die Bauern, sondern die großwirtschaftlichen Verbände. ({4}) Ich sage Ihnen ganz klar: Mit dieser Politik haben Sie den Bauern in der Vergangenheit geschadet und Sie tun es noch heute, weil Sie in Wahrheit mit gezinkten Karten spielen, weil Sie den Leuten auf dem Lande nicht sagen, wie die internationalen Rahmenbedingungen, unter denen sie in den nächsten Jahren arbeiten werden, aussehen. ({5}) Sie wiegen die Bauern in Sicherheit und sagen ihnen nicht, worauf sie ihre Betriebe einstellen müssen. ({6}) Sie machen - ich wiederhole diesen Satz gern - keine Politik für die Landwirte. Auch der Ausschussvorsitzende hat sein Interesse deutlich formuliert. Mitten im NitrofenSkandal sagte er, er könne - Zitat - „aber auch klammheimliche Genugtuung nicht verhehlen, ({7}) dass der Öko-Landbau wieder auf den Teppich geholt wird“. Dies stand im „Nordfriesland-Tageblatt“ vom 29. Mai 2002.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Nein, ich möchte erst einmal in meiner Rede fortfahren. Ich sage Ihnen, Herr Carstensen, an dieser Stelle: Ich weiß, dass man in solchen Situationen schnell zu unbedachten Sätzen neigt. Aber in diesem Fall sollten Sie sich dafür schämen, Parteipolitik auf Kosten der Bauern, egal welcher Farbe und Sortierung, gemacht zu haben. ({0}) Wir dagegen sagen - und unsere Politik ist klar -: Erstens. Wir betreiben Aufklärung von Krisen und Missständen ohne Ansehen der Person und ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob wir es mit konventioneller oder ökologischer Landwirtschaft zu tun haben. Wir heben seit gut eineinhalb Jahren endlich den Teppich des Schweigens an und finden darunter vieles. Zweitens. Wir schaffen moderne Rahmenbedingungen, die für die Menschen vor Ort, die ländlichen Räume und die Umwelt gut sind. Außerdem schaffen wir nationale Rahmenbedingungen, die auch international, in der EU und in der WTO, Bestand haben. Drittens. Wir stehen für realistische Konzepte. Die Menschen - die Bauern, die Verbraucher und auch alle anderen - müssen informiert werden. Die Kinder stehen im Mittelpunkt unserer Politik; denn insbesondere sie brauchen eine gute Ernährung. ({1}) Für eine gute Ernährung müssen nicht nur alle Bäuerinnen und Bauern, sondern auch diejenigen, die Lebensmittel verarbeiten, Händler und weitere Personen an einem Strang ziehen. Herr Sonnleitner redet immer so gern vom so genannten Künast-Effekt. Auf dem Blatt Papier, das ich hier hochhalte, ist dargestellt, was wirklich geschehen ist. Man erkennt den so genannten Künast-Effekt, der direkt nach dem Borchert-Knick eingetreten ist. ({2}) Sie wollen den Bauern lieber keine Chance geben, sich auf das Neue einzustellen. Sie nähren das Kartell des Verschweigens. Wir stehen ganz klar für eine nachhaltige Landwirtschaft zum Wohle der Menschen, der Umwelt und der Tiere. Dafür steht Rot-Grün. Damit stellen wir sicher, dass unsere Kinder auch in Zukunft gesund leben. Dementsprechend sieht unser Programm für die nächsten vier Jahre aus. Sie werden sich wundern! ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Carstensen das Wort.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, da Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben, muss ich mich im Rahmen einer Kurzintervention äußern. Ich möchte Sie fragen, ob Sie auch das „Nordfriesland-Tageblatt“ - Sie lesen es offensichtlich gern des darauf folgenden Tages gelesen haben. Dort ist dieses Zitat richtiggestellt worden, indem ausgeführt wurde, dass ich eine klammheimliche Genugtuung darüber nicht verhehle, dass Frau Künast mit ihren Vorstellungen über den ökologischen Landbau auf den Teppich zurückgeholt worden ist. ({0}) - Doch, das ist qualitativ ein sehr großer Unterschied. Frau Künast, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dies zur Kenntnis nähmen. Ich möchte Sie bitten, darüber einmal mit Ihrem Kollegen Müller zu sprechen. Auch er hat mich mit diesem Zitat schon konfrontiert. Er hat aber akzeptiert, dass das, was ich wirklich gesagt habe, eine völlig andere Qualität hat. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Frau Bundesministerin Künast, bitte.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Sehr geehrter Herr Carstensen, ich finde es schön, dass Sie darauf hinweisen, dass das „Nordfriesland-Tageblatt“ am nächsten Tag eine Richtigstellung des Zitats vorgenommen habe. Es ist aber gar kein Zitat gewesen. Es handelt sich um ein Interview und ich gehe davon aus, dass Sie als erprobter Bundespolitiker und jahrelanger Vorsitzender des Agrarausschusses Interviews, die Sie geben, autorisieren, ({0}) sodass eine Zeitung nicht etwas schreiben kann, was Sie nicht gesagt haben. Wenn diese Zeitung bewusst etwas anderes als das, was Sie gesagt haben, geschrieben hat, dann erzählen Sie mir einmal, ob Sie schon einen Rechtsanwalt beauftragt haben, damit es eine Gegendarstellung gibt und Schadenersatz gezahlt wird. ({1}) Ich sage Ihnen ehrlich: Wenn Sie keinen Rechtsanwalt in Anspruch genommen haben, dann glaube ich Ihnen das, was Sie jetzt gesagt haben, nicht. Herr Vorsitzender, ein autorisiertes Interview ist nun einmal ein autorisiertes Interview. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der Kollege Ulrich Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Künast, das Niveau hier ist nicht besonders hoch. ({0}) Dann erdreisten Sie sich auch noch, sich hier hinzustellen und zu sagen, das sei der Borchert-Knick gewesen und das, was kommt, werde der Künast-Effekt sein. Sie müssten einmal zu den Landwirten gehen und mit ihnen reden. Die erzählen Ihnen dann, was sie von Ihrer Politik halten. ({1}) Sie sind total enttäuscht von dem, was vorgelegt wird, ({2}) und sehen sich aufgrund Ihrer Politik vor zusätzliche Schwierigkeiten gestellt. So ist es in Wirklichkeit. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt auch ein bemerkenswertes Bild des Kabinetts insgesamt ab, dass Herr Bundeskanzler Schröder jegliche Basis dafür, seine Vorstellungen von Agrarpolitik mit den französischen in Übereinstimmung zu bringen, verloren hat. Der künftige EU-Ratspräsident Rasmussen hat über den Vorschlag von Herrn Fischler, einen Sondergipfel über Agrarfragen einzuberufen, gesagt: Mit uns hat niemand geredet. - Also handelt es sich hier um einseitiges Vorpreschen. Sie loben den Fischler-Vorschlag, er geht Ihnen aber noch nicht weit genug, vor allen Dingen nicht bei den Einsparungen. Wenn Fischler ein nicht abgestimmtes Papier bzw. Dossier an die Zeitungen gibt, ruft das selbstverständlich auch entsprechende Reaktionen hervor. Die Bewertung dieses Dossiers können wir allerdings heute noch nicht endgültig vornehmen, denn bevor es nicht am 10. Juli ordentlich veröffentlicht wird, kann man auch nicht darauf eingehen. Ich will trotzdem die wichtigsten Dinge, die in der Diskussion sind, benennen: Wir sind damit einverstanden, dass Herr Fischler nun auch Reformen vorschlägt. Wichtig ist für uns allerdings, dass einschneidende finanzielle Maßnahmen erst nach Auslaufen der Agenda 2000 erfolgen. Planungssicherheit hat für uns alleroberste Priorität. Vertrauen in die Politik wird erschüttert, wenn von der beschlossenen Grundlage, der Agenda 2000, die vor drei Jahren beschlossen wurde und in den letzten anderthalb Jahren Gültigkeit hatte, jetzt schon wieder abgerückt wird und alles auf eine völlig neue Basis gestellt wird. ({3}) Herr Fischler erfüllt mit der Bereitschaft zur Entkopplung - das begrüße ich - nur eine der drei wesentlichen Forderungen der WTO. Zugleich muss aber die Osterweiterung bewältigt werden. Es muss uns ja heute beschäftigen, was an Forderungen vonseiten der WTO und durch die Osterweiterung auf uns zukommt. Wenn man wichtige Marktordnungsbereiche von Reformen ausklammert, werden darauf nur halbe Antworten gegeben. Die Frage der Exportbeihilfen wird nicht beantwortet. Nicht beantwortet wird auch die Frage, wie die osteuropäischen Staaten es schaffen sollen, mit der vorhandenen Agrarbürokratie fertig zu werden. Der europäischen Landwirtschaft muss durch eine massive Entbürokratisierung geholfen werden. Wir wollen und brauchen mehr Marktwirtschaft und weniger Marktregulierung. All das sind Dinge, auf die sich in Fischlers Papier keine Antworten finden. Fischlers Reformvorschläge sind Stückwerk. Verlangt werden müssen schlüssige Antworten, die alle Bereiche betreffen. Mutig ist Herr Fischler nur in Bezug auf die Großbetriebe im Osten. Eine Politik der generellen Kappung der Zuschüsse pro Betrieb auf 300 000 Euro ist einseitig und führt allenfalls zu Betriebsteilungen, was das Vorhaben an sich schon wieder ad absurdum führt. Wie schnell man nämlich aus einem 3 000-Hektar-Betrieb einen 1 500-Hektar-Betrieb machen kann, wissen wir angesichts der Verfassung, in der sich die Betriebe befinden, alle sehr genau. An der Entkopplung der Direktzahlungen von der Produktion führt unserer Meinung nach kein Weg vorbei. Es geht aber um das Wie. ({4}) Die FDP gibt hier die richtigen Antworten. Die Kulturlandschaftsprämie ist ein Honorar für aktuell erbrachte Leistungen im Bereich Erhaltung der Kulturlandschaften, im Bereich des Umweltschutzes, des Tierschutzes etc. ({5}) und wird auf die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche, inklusive des Grünlandes, ausgedehnt. ({6}) Fischlers Vorstellung, die Übernahme der Direktzahlungen mittels einer Referenzperiode zu berechnen, schließt beispielsweise ganze Grünlandregionen von zukünftigen Direktzahlungen aus. Bei einer notwendigen Reform der Marktordnungen, die irgendwann einmal kommen wird, würden diese Betriebe doppelt bestraft werden. Wer den Status quo nimmt, schließt von der Möglichkeit der Direktzahlung automatisch ganze Bereiche aus, die wir für eine flächendeckende Landbewirtschaftung als existenziell notwendig ansehen. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich vor diesem Hintergrund die aktuelle Agrarpolitik noch mit einigen Sätzen kommentieren. Wer auf die degressive Ausgestaltung der Direktzahlungen für die Landwirtschaft und auf neue Herausforderungen durch WTO und Osterweiterung sowie durch eine stärkere Marktorientierung und Liberalisierung mit einer zusätzlichen Wettbewerbsverzerrung und einer einseitigen Belastung der deutschen Landwirte reagiert, hat kein Interesse an der deutschen Landwirtschaft. ({8}) Hier muss das Einvernehmen mit dem ländlichen Raum gesucht werden. Was im ländlichen Raum an Wertschöpfung erarbeitet wird, hängt in erster Linie von der Bruttowertschöpfung der deutschen Landwirtschaft ab. Die Wertschöpfung lässt sich nicht korrekt ermitteln, wenn man nur die Urproduktion heranzieht. Deshalb reden wir hier nicht von 1,5 oder 2 Prozent, sondern von 10 bis 15 Prozent des Bruttosozialprodukts. Es geht nämlich um die gesamte Wertschöpfungskette von den vorgelagerten Bereichen über die Landwirtschaft bis hin zur Verarbeitung und Veredlung der Produkte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer dies ausblendet und mit einseitigen Wettbewerbsverzerrungen und Beschwernissen der deutschen Landwirtschaft die Zukunft verbaut, hat nicht verstanden, worum es geht. Er wird dann auch nicht mit noch so viel Geld für die ländlichen Räume diese Fehler korrigieren können. Ich bedanke mich. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, unterbreche ich die Debatte für einen Moment. Es soll eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf die Tagesordnung aufgesetzt werden. Diese Beschlussempfehlung in einer Immunitätsangelegenheit ist gerade an die Fraktionen verteilt worden. Sind Sie mit der Aufsetzung einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich rufe also Zusatzpunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zum Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse Berichterstattung: Abgeordneter Jörg van Essen - Drucksache 14/9610 Wir kommen sofort zur Abstimmung. Ich lasse über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 14/9610 abstimmen. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Wir kehren zur Debatte zurück. Die nächste Rednerin ist die Kollegin Marianne Klappert für die SPD-Fraktion.

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich habe mir die Reden von Heinrich-Wilhelm Ronsöhr und Uli Heinrich sehr genau angehört und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Opposition nörgelt. Zwar ist es das Recht der Opposition zu nörgeln; gleichwohl stellt sich immer die Frage des Stils. Ich bin geneigt, die Reden der Kollegen von der Opposition auf eine ganz einfache Formel zu bringen: Das, was Schwarz-Gelb in den vergangenen Jahren gemacht hat, war gut; das, was Rot-Grün macht, ist schlecht. ({0}) So einfach ist die Botschaft, die Sie zu transportieren versuchen. Dabei blenden Sie ganz viele Erfolge der rot-grünen Politik aus. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, in den Agrarbericht 1998, den letzten Bericht der alten Bundesregierung, zu gucken. Dort ist bei den bäuerlichen Haupterwerbsbetrieben von einem Gewinn in Höhe von 3,4 Prozent die Rede. Der diesjährige Agrarbericht weist einen Gewinn von 17,7 Prozent aus. ({1}) Das liegt bestimmt daran, dass wir die Milchquotenregelung endlich durchgesetzt haben. Wir haben drei Jahre lang im Ausschuss ernsthaft diskutiert und versucht, Lösungen zu finden. Sie waren nicht bereit zu einer Lösung. Die SPD-Regierung hat eine Milchquotenregelung geschaffen, die den bäuerlichen Betrieben tatsächlich zuverlässige Einnahmequellen garantiert. Deshalb weist der Agrarbericht eine so hohe Gewinnspanne aus. ({2}) - Doch. Sehen Sie sich aber einmal an, wie sich die Zahlen in den letzten Jahren verändert haben. Zum ersten Mal liegt ein Agrarbericht vor, der sehr deutlich macht, dass die Interessen der Verbraucher und die Sicherung der Lebensmittelproduktion in den Vordergrund gestellt werden. Das ist in Ordnung. Wir werden feststellen, dass die Verbraucher dies begrüßen und die Produzenten, unsere landwirtschaftlichen Betriebe, damit ebenfalls besser fahren. Seit dem ersten BSE-Fall haben wir den gesundheitlichen Verbraucherschutz in den Vordergrund gestellt. Das ist absolut richtig ({3}) und entspricht eindeutig den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, aber auch in anderen Ländern. Nach einer am letzten Dienstag veröffentlichten Umfrage der EU-Kommission unterstützen 90 Prozent der EU-Bürger die Erzeugung sicherer und gesundheitlich unbedenklicher Lebensmittel als vorrangiges Ziel der gemeinsamen Agrarpolitik. ({4}) - Dann sollte man nicht beim Verbraucherinformationsgesetz blockieren, wie Sie es gemacht haben. Sie blockieren nicht wegen inhaltlicher Mängel, sondern um der Blockade willen. ({5}) Eine gute Opposition muss aber in der Lage sein, zu manchen Dingen Ja zu sagen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Klappert, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jawohl.

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Klappert, hätte ein Verbraucherinformationsgesetz den letzten Skandal um Nitrofen verhindert? ({0})

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Gesetz hätte den Skandal nicht verhindert, aber es hätte schnellere Aufklärung gebracht. Der Verbraucher wäre dann sicherer gewesen. ({0}) Die Diskussion hat Ängste geweckt. Das halte ich in diesem Fall für nicht in Ordnung. Ich glaube, damit sollte man es belassen. ({1}) Ich bin sicher, wir werden in der nächsten Legislaturperiode ein sehr vernünftiges Verbraucherinformationsgesetz auf den Weg bringen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Klappert, bevor Sie fortfahren, frage ich Sie, ob Sie eine weitere Zwischenfrage zulassen.

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das tue ich jetzt nicht. Ich habe auch nicht mehr sehr viel Redezeit. Jeder wird Verständnis dafür haben, dass ich als Tierschutzbeauftragte der SPD-Fraktion auf die Erfolge hinweisen möchte, die in diesem Bereich erzielt wurden. ({0}) Dabei geht es um Haltungsformen, die wir teilweise gegen den Widerstand der Opposition durchgesetzt haben, aber auch darum, dass wir mit Ihnen gemeinsam das Staatsziel Tierschutz in die Verfassung aufgenommen haben. ({1}) In der zukünftigen Regierungspolitik wird sich zeigen, wie dieser eher abstrakte Grundsatz durch entsprechende Gesetzgebung mit Leben erfüllt werden kann. Das wird zwangsläufig Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben. Im Hinblick auf die Haltungssysteme im Rahmen der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung und auf Tiertransporte ist noch manches verbesserungsfähig. Ich weiß, dass diese Bundesregierung mit der Unterstützung der sie tragenden Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei dieser Gesetzgebung mit der nötigen großen Genauigkeit arbeiten wird. ({2}) - Ja, auch in Europa. Sie kennen meine Meinung. Ich bin eine Verfechterin dessen, die Forderungen im Hinblick auf Tier- und Umweltschutz nicht nur national, sondern europaweit durchzusetzen, ({3}) damit wir wirtschaftliche Nachteile für unsere landwirtschaftlichen Betriebe vermeiden. Das haben Frau Künast und ihr Vorgänger, Herr Funke, im europäischen Rahmen immer wieder sehr deutlich in den Vordergrund gestellt. Ich will noch etwas zu anderen Bereichen sagen, die in diesem Agrarbericht angesprochen werden. Wir haben eben von Ihnen einiges zur Entwicklung der ländlichen Räume gehört. Wichtig war zum Beispiel, dass diese Bundesregierung die Gelder im Agrarinvestitionsförderungsprogramm aufgestockt hat. Wir haben darüber hinaus beispielsweise Änderungen im Baurecht erreicht, sodass nicht mehr wie in der Vergangenheit nur 15 Betten pro Betrieb gebaut werden können, sondern mehr. Wir haben dazu auch die entsprechenden Gelder bereitgestellt. All das macht deutlich, wie man Vertrauen erweckende Maßnahmen durchführen kann. Denn was kann es Besseres geben, als wenn Familien aus der Stadt ihren Urlaub auf dem Bauernhof verbringen ({4}) und 14 Tage oder drei Wochen lang zum Beispiel die Produktion ihrer Lebensmittel verfolgen können? ({5}) - Nein, aber wir haben es verstärkt, das ist der Unterschied. ({6}) Ich habe noch 53 Sekunden. Ich möchte mich bei meiner letzten Rede im Bundestag bei den Kollegen und Kolleginnen recht herzlich bedanken. Ich war zwölf Jahre Mitglied im - ich muss bei der Bezeichnung noch immer aufpassen; ich nenne ihn jetzt einfach so - Ernährungsausschuss. Mir hat die Arbeit sehr viel gebracht und Spaß gemacht. Es waren zwölf spannende Jahre. Mein besonderer Dank geht an den Vorsitzenden Peter Harry Carstensen. ({7}) Ich war vier Jahre lang seine Stellvertreterin und wir haben in der Zeit gut zusammengearbeitet. Ich glaube, ich sage nichts Falsches, wenn ich behaupte, dass es in unserem Ausschuss ein gutes Miteinander gibt. Wir können in der Sache hart streiten, uns aber trotzdem anschließend wieder zusammensetzen, ohne dass es persönliche Verletzungen gibt. Ich denke, das ist bei einer solchen Arbeit wichtig. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Klappert, Sie hören es am Beifall aller Kolleginnen und Kollegen hier im Hause: Die guten Wünsche aller gehen an Sie. Für den bevorstehenden Arbeits- und Lebensabschnitt alles Gute! ({0}) Die nächste Rednerin ist für die PDS-Fraktion die Kollegin Kersten Naumann.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte zwischenzeitlich das Gefühl, dass ich bei der falschen Debatte bin. Bei mir steht in der Tagesordnung Agrarbericht, Welthunger, Pflanzenschutzmittel und Ähnliches; aber hier wird wieder über alles Mögliche geredet. Herr Kollege Heinrich, Sie werfen anderen vor, dass sie über die Fischler-Vorschläge, die noch gar nicht schriftlich vorliegen, diskutieren, haben diese dann aber selber alle auseinander genommen. Das ist mir unbegreiflich. ({0}) Ein Wort an den Kollegen Ronsöhr; es ist mal etwas Positives. Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie hier eine Lanze für den Ökolandbau gebrochen haben, und hoffe jetzt nur, dass das auch in Ihrer Politik Niederschlag finden wird und dass Sie die positiven Seiten bei Ihren Besuchen in den Ökolandbetrieben erkannt haben. ({1}) Ich versuche, zum Agrarbericht zu kommen. Frau Ministerin Künast, Sie sagten in Ihrer Regierungserklärung im Februar vorigen Jahres: Wir spüren alle, dass wir in einem langen und steinigen Tal sind ... Die neue Landwirtschaftspolitik braucht ihre Zeit. Das war sicher richtig. Man kann sich aber auch viel schönreden. Nach eineinhalb Jahren hat man jedenfalls das Gefühl, dass keiner so richtig an eine ökologisch und sozial ausgestaltete Neuausrichtung der Agrarpolitik glaubt. Im Gegenteil, vieles ist auf der Strecke geblieben. Gesetze und Verordnungen wurden oftmals von Aktionismus getrieben und voreilig und halbherzig gemacht. Das haben wir in unserem Ausschuss oft gespürt. Ökologisch scheint einiges auf den Weg gebracht, wenn auch vielfach inkonsequent und in manchen Bereichen sogar kontraproduktiv. Das beste Beispiel hierfür ist die im Jahr 2000 erfolgte Kürzung der Ausgleichszulage für Betriebe in benachteiligten Gebieten, die trotz der Agrarwende nicht zurückgenommen wurde. Ergebnis ist, dass trotz Ausgleichszulage das Ergebnis der Haupterwerbsbetriebe in den betroffenen Gebieten um 30 Prozent hinter dem Unternehmensergebnis in den nicht benachteiligten Gebieten zurückliegt. Das wird dazu führen, dass immer mehr Betriebe aus benachteiligten Gebieten ihre Tore schließen werden. Damit bleiben die viel gepriesenen Prinzipien von Multifunktionalität und flächendeckender Landbewirtschaftung nur populistisches Gerede. In diesem Zusammenhang spricht sich die PDS gegen eine weitere Kürzung des Agrarhaushaltes im Bereich der Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“ aus. ({2}) Für das Jahr 2003 fehlen etwa 100 Millionen Euro. Mit der Kürzung der Bundesmittel geht auch eine Kürzung der kofinanzierten Landesmittel einher. Zusammen mit den Landesmitteln fehlen dann schon 170 Millionen Euro. Was das für die Landwirte und die ländlichen Räume bedeutet, kann sich sicherlich jeder vorstellen. Honoriert werden zwar in der Landwirtschaft die Ausgestaltung umwelt- und tierartgerechter Produktionsweisen, aber das kleine Wörtchen „sozial“, das die größere Regierungsfraktion im Parteinamen führt, wurde fast völlig unter den Teppich gekehrt. Soziale Gesichtspunkte wie das Alterssicherungssystem, die Einkommenssicherung nach dem Landwirtschaftsgesetz, Arbeitsplatzsicherung im ländlichen Raum und die soziale Absicherung der Landwirte und ihrer Familien erhielten keineswegs ausreichende Unterstützung von der Regierung. Meine Damen und Herren, wie sozial die Bundesregierung denkt, zeigt sich in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion. Hier macht sie deutlich, dass weitreichende Veränderungen hinsichtlich des agrarsozialen Sicherungssystems vorgesehen sind. Der Verdacht liegt nahe, dass hier wieder staatliche Aufgaben auf die Landwirte abgewälzt werden sollen. Es wird zwar lediglich eine Lastenverschiebung betont, doch schon jetzt sind Eingrenzungen des Kreises der versicherungspflichtigen landwirtschaftlichen Unternehmen, Änderungen im Leistungsrecht und bei der Bundesmittelverteilung vorgesehen. Das Dilemma daran ist, dass eine Kürzung des agrarsozialen Sicherungssystems immer direkt einkommenswirksam ist. Wie schon in den vorangegangenen Berichten wurden auch im vorliegenden Agrarbericht keine Angaben zu sozialen Aspekten des fortschreitenden Schrumpfungsprozesses bei landwirtschaftlichen Betrieben und ihren Arbeitskräften gemacht. Die Aussagen zur positiven Entwicklung der Wertschöpfung in absoluten Zahlen relativieren sich gemessen an den Preisen von 1995. Hier zeigt der Trend der Bruttowertschöpfung jeweils im Vergleich zum Vorjahr zum ersten Mal seit 1996/1997 ein Minus von 5,6 Prozent. Im Gegensatz zu der 19,3-prozentigen Gewinnsteigerung in den alten Ländern war in den neuen Ländern ein Gewinnrückgang um 13,8 Prozent zu verzeichnen. Meine Damen und Herren, die ökonomischen und sozialen Auswirkungen - gerade im Jahr der BSE-Krise auf die betroffenen Mäster und Milcherzeuger, aber auch im Nachleistungsbereich der Fleischverarbeitung sind im Agrarbericht nicht zu erkennen. Wenn schon beim Agrarbericht eine Erweiterung um die Wortklausel „ernährungspolitischer Bericht“ erfolgt, dann erwarten wir auch, dass Angaben zur gesamten Kette der Ernährungswirtschaft gemacht werden. ({3}) In den Agrarberichten werden zwar die Bauernhöfe bis ins Detail durchleuchtet, dagegen aber keinerlei Aussagen über den Konzentrationsgrad und die Gewinnerwirtschaftung in der Nahrungsgüterindustrie und im Lebensmittelhandel getroffen. Die Landwirtschaft wird immer mehr von zwei Seiten umklammert, zum einen durch die Futtermittel- und Pharmaindustrie und zum anderen durch die zunehmende Konzentration in Verarbeitung und Handel. Die Landwirtschaft gerät somit immer mehr in den Sog der Kapitalverwertungsinteressen der industriellen Vor- und Nachleistungsbereiche. Um sich aus diesem Würgegriff zu befreien, bedarf es des Drucks der Bauern zum Beispiel zu einer Garantieerklärung der Futtermittelindustrie für die Sicherung ihrer Produkte oder zu einer Mehrgefahrenabsicherung für wirtschaftlich unverschuldete Schäden. Meine Damen und Herren, wer vom „magischen Sechseck der Agrarwende“ spricht, muss auch alle in der Ernährungskette beteiligten Wirtschaftsbereiche näher analysieren und bewerten. Der zügellose wachstumsorientierte Ausbau zentralisierter Versorgungsstrukturen durch Großanbieter von Futtermitteln, Saatgut, Pflanzenschutz- und Düngemitteln ist jedem Versuch, eine nachhaltige Landwirtschaft zu betreiben, abträglich. Wo ist denn der Nachweis, dass eine hohe Komprimierung von industriellen Inseln der Verarbeitung und des Handels für die Gesellschaft günstiger wirkt als die Ansiedlung mittlerer und kleinerer Gewerbebereiche in den Regionen? Frau Künast, wie verwirklichen Sie denn Ihre Aussage vom vergangenen Jahr - ich zitiere -: Die Agrarwende setzt auf regionale Strukturen. Künftig muss gelten: Regional ist erste Wahl. Bei der derzeitigen Politik ist regional doch eher dritte Wahl. Damit bin ich beim nächsten Problem. Im Agrarbericht wurde die regionale Untersetzung kaum ausgebaut. Fortschritte und Probleme bei der Verwirklichung der angekündigten stärkeren Regionalisierung der Agrarwirtschaft können demzufolge kaum verfolgt oder bewertet werden. Gerade für die noch immer vorhandenen spezifischen Probleme der Landwirtschaft und der ländlichen Räume der neuen Länder fehlen wichtige Aussagen. Ein besonderes Problem sieht die PDS im geringen Anteil der neuen Länder an der Ernährungswirtschaft. Ein beträchtlicher Teil der in Ostdeutschland produzierten landwirtschaftlichen Rohstoffe werden im Westen veredelt und von dort zurückgekauft. Nur bei ökologischen Produkten wird inzwischen vorrangig im Osten produziert und im Westen gegessen. Gerade im ostdeutschen ländlichen Raum werden finanzielle Mittel benötigt, die seine weitere Entleerung einschränken und den Schrumpfungsprozess in der Landwirtschaft aufhalten. Im Rahmen der Diskussion von Degressionsmodellen bezüglich Betriebsgrößen bzw. von Beihilfeobergrenzen bei der Förderung werden wir und sicherlich auch die Landwirte im Osten vehement Widerspruch einlegen. ({4}) Frau Ministerin, erinnern Sie doch einfach Ihren Chef an seine Sache „Aufbau Ost“. Im Moment scheint es doch mehr eine „Nebensache Ost“ zu sein. Die PDS fordert von der Bundesregierung folgende Maßnahmen: Die Ausgleichszulage ist in der Gemeinschaftsaufgabe wieder zu verdoppeln und dem Niveau von vor 2000 anzupassen. Weiterhin muss die Bundesregierung alles daransetzen, um ihren Verpflichtungen aus dem Landwirtschaftsgesetz nachzukommen, den in der Landwirtschaft Erwerbstätigen die Teilnahme an der allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsentwicklung zu ermöglichen. Die PDS fordert in den folgenden Agrarberichten die Analyse der Einkommenssituation der Landwirte für alle Rechtsformen und einen Einkommensvergleich mit anderen Berufsgruppen. Außerdem ist die gesamte Kette der an der Agrarwirtschaft beteiligten Bereiche stärker zu durchleuchten und zu bewerten. Insbesondere sind die ökonomische Stellung der Partner und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten im gesamten Agrarindustrie-Komplex auf den Prüfstand zu stellen. Notwendig ist eine Korrektur regionaler Disproportionen zwischen Ost und West in Produktion und Verarbeitung. Dazu bedarf es einer aktiven Strukturpolitik, einer stärkeren Regionalisierung sowie einer stärkeren Verzahnung der beiden Gemeinschaftsaufgaben „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ und „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. In ihrem Entschließungsantrag hat die SPD viele gute Vorschläge gemacht. Ich hoffe, dass sie auch Wege findet, diese umzusetzen. Abschließend bleibt, wie eine überregionale Tageszeitung heute titelt, festzustellen: „Der Agrarbericht ist ein Rapport mit bemerkenswerten Lücken.“ Die PDS-Fraktion hofft, dass diese Lücken in den nächsten Agrarberichten mit bemerkenswerten Inhalten gefüllt werden. Danke schön. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Heidi Wright für die SPD-Fraktion.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.“ Diese alte Weisheit ist bis heute nicht überholt. Der ernährungs- und agrarpolitische Bericht, den wir jetzt diskutieren, wird draußen im Lande auf besonderes Interesse stoßen. Deshalb möchte ich vorab einen Wunsch äußern: Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem entsprechenden Fachausschuss, sollten uns unserer Verantwortung bewusst sein - bis jetzt war das der Fall -, den Verbrauchern deutlich zu machen, dass unsere ganze politische Energie darin stecken muss, die Produktion gesunder Lebensmittel zu gewährleisten. ({0}) Dafür bedarf es des Bewusstseins, dass gesunde Nahrungsmittel einer durchgängigen Qualitätssicherungskette unterliegen müssen und dass die alte Weisheit absolut gilt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Es ist hier nicht entscheidend, ob diese Kontrollen von privater Seite oder von der öffentlichen Hand durchgeführt werden. Der Punkt ist vielmehr, dass sie besser sein müssen. Wir alle - ob im Bundesministerium oder in den Ländern - müssen leidvoll feststellen: Die Kontrollsysteme der Vergangenheit waren wie Käse. Entweder hatten sie Löcher oder sie stanken zum Himmel. Bevor ich mir den Protest der CDU/CSU einfange und mich der Forderung nach besseren Kontrollen aussetze, will ich Ihren „Oberkontrollminister“ Sinner aus Bayern zitieren, der laut „Süddeutscher Zeitung“ vom 17. Juni gesagt hat, die Kontrollsysteme seien bisher nicht ausreichend. Er hat dies aber auf die Ökoprodukte bezogen. Mir wurde damit klar - wie es mir auch bei Ihrer Rede vorhin klar wurde, Herr Carstensen -, dass Sie immer noch nicht kapiert haben, dass wir ohne die Kontrollsysteme bei den Ökoprodukten den Nitrofen-Skandal nicht aufgedeckt hätten. ({1}) Der Nitrofen-Skandal, der die Landwirtschaft insgesamt, aber insbesondere die Ökolandwirtschaft trifft, ist originär kein Biolandwirtschaftsskandal. Es ist ein Skandal der Futtermittelwirtschaft sowie der Betreiber von Futtermittellagerstätten und ihrer Versicherungen. Es ist also ein Skandal der richtig Großen, ({2}) die zulasten der Kleinen wieder einmal ihren Profit mehren wollten. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. - Ich muss deshalb sagen: Wo Herr Minister Sinner aus Bayern Recht hat, hat er Recht. Er weiß, wovon er spricht, wenn er sagt, die Kontrollen müssten besser werden. Es waren nämlich die fatalen Kontrolllücken in Bayern, die dieses Bundeslandes an die Spitze des Landwirtschafts-GAUs, nämlich BSE, gebracht haben. ({0}) Die Verbraucher, aber auch die Bauern müssen die Zuversicht gewinnen, dass die Futtermittelskandale über verbesserte Kontrollmechanismen und durch harte Sanktionen gestoppt werden. In diesem Zusammenhang, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, will ich feststellen, dass ich es absolut schofel finde, dass sich diejenigen, die den Skandal zu verantworten haben, nämlich die Branche der Futtermittelhersteller, dieser Verantwortung - zum Beispiel durch die Auflage eines Hilfsfonds - bisher verweigern. Vielleicht sollten wir gemeinsam an die Futtermittelindustrie und an den Raiffeisenverband nochmals den Appell richten, Solidarität mit den betroffenen Bauern zu zeigen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Wright, der Kollege meldet sich weiterhin hartnäckig. Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ganz bestimmt nicht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Dies war eine endgültige Antwort. Es wird also keine Zwischenfrage zugelassen.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Abschließend zum Thema Verbraucherschutz: Der Verbraucher und die Bauern müssen wissen, dass der Verbraucherschutz in der jetzigen Bundesregierung bestens aufgehoben ist. Verbraucheraufklärung findet bei uns ihren haushalterischen Niederschlag und Schwerpunkt: Im Jahr 2003 haben wir dafür 100 Millionen Euro bereitgestellt. Ich will auf einen gesonderten Bereich der Land- und Forstwirtschaft zu sprechen kommen, der durch unsere Regierungsarbeit so richtig Power bekommen hat: die nachwachsenden Rohstoffe und die Förderung der erneuerbaren Energien. Wir sind nicht nur dem Titel „FußballKersten Naumann weltmeister“ ganz nahe, sondern mit unserer Politik bereits Weltmeister in der Windenergie. Auch die Bauern an der Küste profitieren davon, was mich freut. ({0}) - Wir haben im Zusammenhang mit dem EEG dem Stromeinspeisegesetz, das zu Ihrer Regierungszeit beschlossen worden ist, den richtigen Drive gegeben. ({1}) - Erst mit dem EEG - das weiß das ganze Land - ist ein richtiger Boom entstanden. Schauen Sie sich doch einmal die entsprechenden Statistiken an! Mein Anliegen ist es, dass wir auch im Bereich der Biomasse und bei der Nutzung von Biogas Weltmeister werden. ({2}) Ich kann nur hoffen und dazu ermutigen, dass Landwirte und Forstbetriebe diese Perspektive erkennen sowie nutzen und sich hier ein festes Standbein erwirtschaften. Für mich ist es immer unverständlich geblieben, warum aus dem Bauernverband und den Verbänden der Forstwirtschaft diese - richtige - Zukunftsperspektive nie massiver vorangebracht und von der Politik eingefordert worden ist. Bei uns musste man eine solche Politik nicht einfordern. Sie war uns ein Anliegen und wir haben sie umgesetzt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen und insbesondere liebe Investoren im ländlichen Raum, damit es klar ist: Nur mit uns gibt es diese Option auf die Zukunft. ({3}) Die CDU/CSU hat weiß Gott nichts übrig für eine neue Energiepolitik, mit der die Ressourcen unseres Landes genutzt werden sollen. So hat die CDU-Vorsitzende Angela Merkel am Dienstag dieser Woche auf einem Parteikongress die Förderung erneuerbarer Energien nochmals kritisiert. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich muss jetzt dem Kollegen Carstensen sagen, dass die Kollegin Wright erklärt hat, dass sie keine Zwischenfragen zulässt.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Im Zuge der Gerechtigkeit muss ich das so handhaben. ({0}) Mit uns gibt es die Nutzung von Schwachholz und die Verwertung von Altholz durch Holzhackschnitzelanlagen und Pelletöfen, und zwar nicht nur ein bisschen hier und dort. Wir sorgen dafür - natürlich mit dem EEG -, dass es hier ein flächendeckendes Angebot gibt. Wir wollen eine moderne Energiepolitik, die im Hinblick auf die erneuerbaren Energien keine Alibipolitik betreibt, sondern sich an die Spitze in der EU stellt und die Weltmeisterposition anstrebt. ({1}) Es geht dabei um Energiepflanzen, um Raps, um Getreide, die Zuckerrübe, den nachwachsenden Rohstoff Nummer eins, das Holz, und um neue schnell wachsende Pflanzen. ({2}) All dies werden wir in unserer Regierungsarbeit mithilfe des EEG voranbringen. ({3}) Herr Kollege Heinrich, mir geht es um die Wertschöpfungskette in der Region, und zwar für die Bauern, für die Forstwirtschaft und für das Handwerk. ({4}) Mir geht es um das Konzept der ökologischen Modernisierung, in das die Land- und Forstwirtschaft zuvorderst mit hineingehört. Mir geht es um ökologische und ökonomische Win-win-Systeme und um Erfolge im internationalen Innovationswettbewerb. Zum Abschluss, Kolleginnen und Kollegen: Gestern hatten wir im Ausschuss unsere 100. Sitzung. ({5}) In feiner Kollegialität wurde die gute Zusammenarbeit gelobt. Marianne Klappert hat das eben sehr schön wiederholt. Es wurde von unserem gemeinsamen Streben für die Landwirtschaft gesprochen. Wenn von dieser Gemeinsamkeit auch in diese Debatte etwas hinübergerettet werden könnte und insbesondere bei den Lobbyverbänden und an den Vor-Ort-Stammtischen nicht die Schmähtiraden und die Jammerorgien fröhliche Urständ feiern würden, käme dies nicht zuletzt auch dem Ansehen der Landwirtschaft zugute. Ich persönlich möchte zum Schluss dieser Legislaturperiode und nach acht Jahren Einsatz für die Landwirtschaft sagen: Mein Bestreben war es, die Landwirtschaft wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken und aus ihrer Verbände- und Lobbygefangenschaft herauszuholen. ({6}) Ich fürchte, dies ist noch nicht gelungen. Ich denke, eine beherzte, offene und somit moderne Landwirtschaft, die sich mit einer mutigen Landwirtschaftspolitik verbündet, kann bei einem mündigen und anspruchsvollen Verbraucher nur gewinnen. Dies wünsche ich mir und ich danke allen, die dies schon ein Stück bewirkt haben. Vielen Dank. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Albert Deß.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch die heutigen Ausführungen von Frau Künast zeigen, wie ziellos die rot-grüne Agrarpolitik dieser Bundesregierung ist. ({0}) Die Agrarpolitik dieser Bundesregierung hat nichts mit einer Agrarwende zu tun; sie ist ein chaotischer Schleuderkurs: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Ein Musterbeispiel dafür sind die agrarpolitischen Kehrtwendungen von Bundeskanzler Schröder. Vor der Wahl 1998 hat er die nationale Kofinanzierung bei der europäischen Agrarpolitik gefordert und damit eine Forderung der Unionsfraktion übernommen. Auf dem Parteitag 1998 in Saarbrücken hat er die gleiche Forderung aufgestellt. In der „Süddeutschen Zeitung“ hat es damals geheißen - ich zitiere -: Schröder forderte, dass in der Agrarpolitik, welche die EU das meiste Geld kostet, zu einer nationalen Finanzierung zurückzukehren ist. Dann kam der Agenda-2000-Gipfel in Berlin, mit dem Ergebnis, dass von den großen Ankündigungen dieses Bundeskanzlers rein gar nichts übrig geblieben ist. Milliardenbeträge wurden in der Nacht der langen Messer in Berlin auf Kosten der deutschen Steuerzahler zusätzlich verteilt. Der Bundeskanzler konnte es nicht erreichen, dass auch nur im Ansatz eine Kofinanzierung in der europäischen Argarpolitik umgesetzt wird. Wer bei den Agenda-2000-Verhandlungen so dilettantisch versagt hat, ({1}) hat auch heute kein Recht, die Agrarfinanzierung aus wahltaktischen Gründen zu kritisieren, wie es der Bundeskanzler zurzeit wieder tut. ({2}) Selbst der „Spiegel“ schrieb damals - er steht wohl nicht im Verdacht, der Union nahe zu stehen -: Die EU-Ratspräsidentschaft endet, wie sie begonnen hat: mit großen Sprüchen. ({3}) Und wo der „Spiegel“ Recht hat, hat er Recht! Nicht nur dem „Spiegel“ sind damals die großen Sprüche unseres Bundeskanzlers aufgefallen. Auch immer mehr Wählerinnen und Wähler durchschauen, dass es nicht ausreicht, mit Sprüchen Politik zu machen. ({4}) Sprüche statt Sachpolitik waren dann auch die Antworten des Bundeskanzlers auf die ersten BSE-Fälle in Deutschland. Vollmundig forderte er an diesem Rednerpult die Abschaffung von Agrarfabriken und Massentierhaltung. Beides hat bis heute mit BSE nichts zu tun. Die Landwirte werden seitens der rot-grünen Bundesregierung als Sündenböcke der Nation benutzt ({5}) und von Frau Künast und Herrn Trittin in einer Art und Weise bevormundet, die unerträglich ist. ({6}) Wie ein roter, besser gesagt: ein grüner Faden ziehen sich die zusätzlichen nationalen Belastungen für die Landwirtschaft durch die gescheiterte Politik von RotGrün. Rot-grüne Agrarpolitik ist von einseitigen nationalen Benachteiligungen geprägt. Ich darf stichwortartig nur die Ökosteuer, das Agrardieselgesetz und den Agrarsozialbereich erwähnen. Man könnte aber noch eine ganze Reihe hinzufügen. ({7}) Die Frau Ministerin hat eine Agrarwende angekündigt. Übrig geblieben ist nur grüne Ideologie, ({8}) keine Fakten, keine Tatsachen, dafür Verdächtigungen und viel Schall und Rauch. ({9}) Der gesamte Wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ist zurückgetreten, weil eine sachliche Zusammenarbeit mit Frau Künast nicht möglich war. Unsere deutschen Landwirte produzieren den Großteil unserer Nahrungsmittel. Sie produzieren qualitativ hochwertige Waren und tragen durch leistungsfähiges Wirtschaften mit dazu bei, dass wertvolle Nahrungsmittel preisgünstig hergestellt werden können. Unsere Landwirte produzieren seit Jahrhunderten nachhaltig und wirtschaften weitgehend nach den Gesetzen der Natur. ({10}) Dabei brauchen sie keine Belehrungen. Alle Betriebszweige, ob moderne, nachhaltige oder ökologisch wirtschaftende Betriebe, verdienen Dank und Anerkennung und unsere Unterstützung. ({11}) Sie haben es nicht verdient, dass sie als Buhmänner der Nation benutzt werden. Ich möchte mich ausdrücklich bei unseren Land- und Forstwirten und bei unseren Bauern für den Erhalt und die Pflege unserer schönen, abwechslungsreichen Kulturlandschaft bedanken. ({12}) Welches Ziel verfolgt Frau Künast überhaupt? Einerseits fordert sie mit der Rückendeckung des Bundeskanzlers: keine Agrarfabriken und keine Massentierhaltung. Andererseits belastet sie aber genau die bäuerlichen Betriebe, die in regionalen Kreisläufen wirtschaften und keine Massentierhaltung betreiben. Unsere leistungsfähigen Familienbetriebe werden verunsichert. Die Investitionsquote in der Landwirtschaft hat im Jahr 2001 den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten erreicht. ({13}) Eine Weiterführung der rot-grünen Agrarpolitik würde dazu führen, dass in Zukunft Agrarfabriken entstehen. Das „Ökosiegel light“ fördert die Agrarindustrie im Ökobereich und gefährdet die bisherigen Ökobetriebe, wie das der Nitrofen-Skandal gezeigt hat. Die Schere zwischen dem, was Rot-Grün fordert, nämlich umweltgerechter Landwirtschaft und Schonung von Ressourcen, und dem, was sie da tun, wo sie politisch Verantwortung tragen, klafft weit auseinander. Das beweist ein Blick in den Agrarbericht, in dem unter der Rubrik „Umweltgerechte Landwirtschaft“ folgende Zahlen zu finden sind: Bayern fördert die umweltgerechte Landwirtschaft mit 143 DM je Hektar, Baden-Württemberg mit 130 DM, Thüringen mit 104 DM und Sachsen mit 94 DM. Schauen wir doch, um mit Ernst Hinsken zu reden, wer die rote Laterne in Deutschland besitzt. Die rote Laterne oder - besser gesagt - die rot-grüne Laterne besitzt Schleswig-Holstein mit lumpigen 2 DM pro Hektar. ({14}) Niedersachsen fördert mit 5 DM pro Hektar und Nordrhein-Westfalen mit 9 DM. ({15}) Das sind die Zahlen aus Ihrem Agrarbericht. Bei Betrachtung der 9 DM aus Nordrhein-Westfalen frage ich Sie: Ist das nicht im wahrsten Sinne des Wortes „höhnisch“? ({16}) Ich habe in den vielen Jahren meiner politischen Tätigkeit noch nie erlebt, dass eine Ministerin, die Verantwortung für einen ganzen Berufsstand trägt, ihrer Aufgabe so wenig gerecht wird. Statt Unterstützung erfahren die Bauern Diskriminierung und Missachtung ihrer Persönlichkeit. Sie werden von einer Ministerin entmündigt, die von der Sache selber wenig versteht ({17}) und auch nicht bereit ist dazuzulernen. Für jeden Handgriff der Landwirte, die ihren Beruf von der Pike auf erlernt haben, verlangen die Frau Ministerin und der Herr Trittin Sachkundenachweise. Diesen Sachkundenachweis sollten sie selber erst einmal erbringen. ({18}) Dafür wird die Zeit bis zum 22. September aber nicht ausreichen. Die CDU/CSU-Fraktion wird nach der Bundestagswahl dafür sorgen, dass die nationalen Benachteiligungen wieder abgebaut werden. ({19}) Unser Bestreben ist es, die Bürokratie zurückzuschrauben. ({20}) Unsere Landwirte sind auch ohne weitere Verordnungen schon immer bereit gewesen, ihren Beitrag zum Umweltschutz zu erbringen, und sie werden dies auch in Zukunft tun. ({21}) Ich möchte in aller Kürze noch einen Punkt ansprechen. Daran sieht man die Unglaubwürdigkeit der Verbraucherschutzpolitik. Es ist in Deutschland verboten, lebensmitteltaugliches tierisches Fett in der Kälbermast einzusetzen. Die Folge ist: Zehn Tage alte Kälber werden nach Belgien, Frankreich, Holland und Spanien transportiert, werden da mit diesem dort zugelassenen Fett gemästet und das Kalbfleisch kommt wieder nach Deutschland. Was hat das denn mit Verbraucherschutz zu tun? Wenn es eine Gefahr für die Verbraucher ist, dann müsste die Ministerin den Import dieses Kalbfleisches verbieten. Sie tut es aber nicht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Deß, ich muss Sie an die Redezeit erinnern.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Ich möchte nur noch anmerken, dass wir nach dem 22. September den Landwirten, den Forstwirten und auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern wieder den Stellenwert einräumen werden, den sie verdienen. ({0}) Ich möchte mich am Schluss bei der Kollegin Marianne Klappert für zwölf Jahre Zusammenarbeit im Agrarausschuss bedanken. Liebe Marianne, ich arbeite ebenfalls zwölf Jahre mit. Du warst immer eine faire Kollegin. Ich wünsche dir namens der CDU/CSU-Fraktion alles Gute für deinen weiteren Lebensweg. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen. ({0})

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Europa diskutiert zurzeit die Agrarpolitik. Die von Rot-Grün in Deutschland begonnenen Reformen finden nun ihre Fortsetzung auf europäischer Ebene. Dabei wird deutlich, dass der von Renate Künast und der rot-grünen Bundesregierung eingeschlagene Weg der richtige ist, ({0}) und dabei wird deutlich, dass die Union mit ihrem Kanzlerkandidaten Stoiber ohne Konzeption und ohne Ziel ist. ({1}) Renate Künast ist vorgeworfen worden, dass sie durch das Vorlegen eigener Vorschläge die deutsche Verhandlungsposition geschwächt habe. Aber nicht fehlende Ziele und Konzeptionen zeichnen eine gute Verhandlungsposition aus, sondern das Benutzen des eigenen Kopfes, so wie die rot-grüne Bundesregierung dies mit ihren Vorschlägen zur europäischen Agrarreform im Februar dieses Jahres getan hat. ({2}) Zu dieser Zeit war die CDU/CSU noch damit beschäftigt, ein jammervolles Bild von der deutschen Landwirtschaft zu zeichnen und Renate Künast vorzuwerfen, dass sie mit eigenen Vorschlägen in die Debatte gegangen ist. Abtauchen war aufseiten der Opposition angesagt. Deutlicher hätte sie nicht demonstrieren können, dass ihre Politik ohne eigene Ideen ist. Ihre Strategie heißt aussitzen und dies ist eine rückwärts gewandte Strategie. Wir setzen uns für eine konsequente Reform der Agrarförderung, einen zügigen Abschluss der Verhandlungen zur EU-Erweiterung und für einen gerechten Interessenausgleich zwischen den Beteiligten ein. Deshalb begrüßen wir die Vorschläge von Agrarkommissar Fischler im Grundsatz. Die Prämienzahlungen müssen von der reinen Produktion abgekoppelt und für die besonderen Leistungen der Landwirte im Umweltschutz und im Tierschutz sowie für die Schaffung von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum eingesetzt werden. Die in die Diskussion gebrachte Kappungsgrenze im ländlichen Raum für die Agrarförderung müssen wir uns noch einmal genau vornehmen. Das wird meiner Meinung nach so nicht gehen. Diese Kappungsgrenze wird nämlich für die ostdeutschen Betriebe Einkommenseinbußen mit sich bringen, die so nicht hinnehmbar sind. Deshalb wird sich Rot-Grün dafür einsetzen, dass diese Vorschläge von Agrarkommissar Fischler in dieser Form nicht umgesetzt werden. Meine Fraktion ist darüber hinaus der Meinung, dass wir für die neuen Bundesländer im ländlichen Raum ein spezielles Arbeitsplatzprogramm brauchen, um den jungen Menschen dort eine Perspektive zu geben und die Abwanderung zu stoppen. ({3}) Dafür sind die bisherigen Produktprämien gut eingesetzt. Wir haben in dieser Legislaturperiode wichtige Reformen in Gang gesetzt: im Tier- und Umweltschutz, im Naturschutzrecht, im Futtermittelrecht, im Tierarzneimittelrecht, in der Agrarsozialpolitik und nicht zuletzt in der Agrarforschung. Wir werden diese Arbeit fortsetzen; denn es wurde allerhöchste Zeit, den Heiligenschein, den Sie von der CDU/CSU und der FDP den bisherigen agrarpolitischen Strukturen in Deutschland verpasst haben, zu beseitigen. ({4}) Es ist an der Zeit, diese Strukturen, die den BSE- und den Nitrofen-Skandal überhaupt erst ermöglicht haben ({5}) und mit denen Sie eng verbandelt sind, zu durchleuchten, fragwürdige Praktiken an die Oberfläche zu holen ({6}) und ihnen ein Ende zu bereiten. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Lemke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr?

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Natürlich.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Ronsöhr, bitte.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hoffe, dass ich bei der Fragestellung sitzen bleiben darf.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Selbstverständlich.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Lemke, können Sie zugeben, ({0}) dass es beim Nitrofen-Skandal nicht allein um ein Versagen von zwei Unternehmen ging, nämlich eines Unternehmens, das in Malchin sitzt, und eines Unternehmens, das GS agri heißt, sondern dass es auch ein Versagen beispielsweise von Kontrolleuren, und zwar auch aus dem Ökobereich, gab? Es ging nämlich um Ökogetreidelager. Warum kritisieren Sie nicht die mangelnde Effizienz dieser Kontrollen, die nach dem Motto der drei Affen stattfand: nichts sehen, nichts hören und auch nicht darüber reden? Solange Sie dies nicht kritisieren und auch nicht das Versagen einer Bundesbehörde, die Frau Künast unterstellt ist, kritisieren, sind Sie für mich nicht glaubwürdig. Vielleicht können Sie dies eingestehen. ({1})

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Ronsöhr, da hatten Sie ja jetzt noch einmal einen billigen Lacher auf Ihrer Seite. Ich gestehe Ihnen gerne zu, dass Sie mir nicht glauben; ich weiß aber nicht, ob dies Ihre Position verbessert. Ich danke Ihnen für Ihre Zwischenfrage, weil Sie dadurch einen eindrucksvollen Beweis dafür geliefert haben, wie falsch Ihre Denkweise bei der Aufklärung von Lebensmittelskandalen ist. ({0}) Sie haben eben noch einmal dargelegt, dass es Ihnen nicht um die Aufklärung und Zerschlagung dieser verkrusteten und kriminellen Strukturen geht, die mit krimineller Energie, Schlampereien und Fahrlässigkeit den deutschen Bauern, und zwar den ökologisch wie konventionell wirtschaftenden Bauern, Schaden zugefügt haben. ({1}) Vielmehr stellen Sie sich schützend vor diese. Das ist das grundsätzliche Problem Ihrer Politik hinsichtlich der Aufdeckung von Lebensmittelskandalen. ({2}) Sie haben den Nitrofen-Skandal dazu benutzt, den ökologischen Landbau zu diffamieren. ({3}) Der Nitrofen-Skandal ist kein Skandal der Ökobranche. In dieser Lagerhalle ist sowohl ökologisches als auch konventionelles Getreide gelagert worden. Es war ein purer Zufall, dass ökologisches Getreide entdeckt worden ist, das mit Nitrofen belastet war. Es hätte genauso gut konventionelles Getreide treffen können. ({4}) Das schert Sie aber nicht. Sie haben mithilfe dieses Beispiels eine Ökodebatte angezettelt, statt sich damit auseinander zu setzen, dass man dort beim Raiffeisenverband und bei der Versicherung gewusst hat, dass mit Schadstoffen belastete Lebensmittel in den Umlauf gekommen sind, dass dieses Wissen verheimlicht worden und nicht an die Öffentlichkeit gebracht worden ist. Das ist der Kern dieses Skandals und nicht die Tatsache, dass Ökogetreide davon betroffen war. ({5}) Bauern und Verbraucher müssen gemeinsam wieder Vertrauen in die eigene Arbeit und in die Sicherheit von Lebensmitteln gewinnen. Dies gilt für die konventionelle und die ökologische Produktion und Verarbeitung gleichermaßen. Wir brauchen das Bündnis der Verbraucher mit den Bauern gegen kriminelle Strukturen und Schlampereien sowie für eine zukunftsorientierte Agrarpolitik. Für dieses Bündnis steht Renate Künast und steht RotGrün. ({6}) Wir sorgen dafür, dass Lebensmittel- und Futtermittelskandalen mit aller Konsequenz nachgegangen wird und sie nicht mehr totgeschwiegen und unter den Teppich gekehrt werden. Diese Regierung ist der Garant für Transparenz und Offenheit. Wir haben den Verbraucherinnen und Verbrauchern in Deutschland eine Stimme gegeben. Mündige Bürger erwarten sichere Lebensmittel und eine klare und verständliche Kennzeichnung der Konsumgüter. Deshalb ist uns eine transparente und kontrollierte Produktion wichtig. Das gilt für die konventionelle wie für die ökologische Landwirtschaft gleichermaßen. ({7}) Die konventionelle Landwirtschaft kann viel von der ökologischen Landwirtschaft lernen. Sie von der CDU/CSU und der FDP versuchen immer wieder, einen rein ideologisch geprägten Keil zwischen die Biolandwirtschaft und die konventionelle Landwirtschaft zu treiben. ({8}) Sie haben nicht gemerkt, dass Ihnen nicht einmal der Bauernverband folgt, wenn Sie weiterhin Gräben ausheben. ({9}) Der Bauernverband hat längst begriffen, dass dem Biolandbau die Zukunft gehört. Es versteht sich von selbst, dass sie ihm nicht allein gehört. Sie haben stets gesagt: Es gibt moderne Landwirtschaft und es gibt ökologische Landwirtschaft. Hören Sie endlich damit auf, den Bioanbau als unwirtschaftlich und unmodern darzustellen. Bioprodukte sind keine Nischenprodukte. Biobauern und die Menschen, die Biolebensmittel kaufen, sind keine Sonderlinge. Mit dem ökologischen Landbau hätte es BSE und den Nitrofen-Skandal nie gegeben. ({10}) Es wird Ihnen nicht gelingen, die ökologische Landwirtschaft zu diffamieren. Die Wirklichkeit hat Sie längst eines Besseren belehrt. Das gilt offenbar nicht für diejenigen, die heute hier auf den Bänken sitzen. Ohne Frage wird und muss sich auch die ökologische Landwirtschaft weiterentwickeln. Die Einrichtung eines bundesweiten Verbandes der ökologischen Lebensmittelwirtschaft war dazu ein wichtiger Schritt. Mit dem vor kurzem verabschiedeten Ökolandbaugesetz haben wir die Aufgaben und Pflichten der privaten Ökokontrollstellen umfassend geregelt. Vier Jahre reichen nicht aus, um die Agrarwende zu vollziehen, ({11}) um den Schaden und die Rufschädigung, die Sie der deutschen Landwirtschaft zugefügt haben, aufzuarbeiten, und um das Vertrauen in deutsche Lebensmittel wiederherzustellen. Nicht alles, was wir begonnen haben, ist bereits in trockenen Tüchern. Die Reform der Agrarsozialversicherung ist fortzuführen. Die Haltung und Transportbedingungen für die landwirtschaftlichen Nutztiere sind weiter zu verbessern. ({12}) Vieles muss noch angepackt werden, zum Beispiel die Weiterentwicklung der Standards zur guten fachlichen Praxis in der konventionellen und in der ökologischen Landwirtschaft. Die Landbaustandards von vorgestern können nicht die von heute sein. Unsere Aufgabe ist es - dazu werden wir in der WTO und in den europäischen Agrarverhandlungen gedrängt -, die Standards an die steigenden Anforderungen anzugleichen und somit zukunftstauglich zu machen. Hierzu zähle ich unter anderem auch die Debatte über gentechnisch veränderte Lebensmittel. Die absolute Mehrheit der Verbraucher will keine Gentechnik in Lebensmitteln haben. Deshalb hören Sie damit auf, eine ideologisch geprägte Diskussion um die Gentechnik anzuzetteln und gentechnisch veränderte Lebensmittel ohne Kennzeichnung in die Regale bringen zu wollen. Wir setzen uns für eine umfassende Kennzeichnung dieser Lebensmittel ein, solange wir sie nicht völlig ausschließen können. Wir nehmen die deutschen Verbraucher ernst. Auch dafür steht Bündnis 90/Die Grünen, auch dafür steht die rot-grüne Regierung. ({13}) Wir wollen den erfolgreichen Weg der Entwicklung von Labeln mit ökologischen und sozialen Standards in möglichst vielen verbraucherrelevanten Bereichen weiterhin beschreiten. Die guten Erfahrungen, die damit bereits bei der Holzproduktion oder im ökologischen Landbau gemacht worden sind, wollen wir fortführen, beispielsweise bei Fischereiprodukten, Holz, Blumen oder auch Textilien. Diese Beispiele sollten im Interesse der Verbraucher für eine klare und transparente Kennzeichnung Schule machen und auch im Interesse der Produzenten, die dann mit ihren hohen Standards werben können, weitere Verbreitung finden. Wir brauchen weitere Verbesserungen im Düngemittel- und Pflanzenschutzmittelrecht. Die von Ihnen verfolgte Politik, Pflanzenschutzmittel, die schädigend auf die Umwelt und eventuell auch auf die Gesundheit wirken können, weiter zuzulassen und die Grenzwerte entsprechend anzuheben, ist nicht unsere Politik. Wir wollen auch im Interesse unserer Kinder und Enkel Sicherheit. ({14}) Wir wollen die weitere Einschränkung der Patentierbarkeit von Pflanzen und Tieren. Wir brauchen eine grundlegende Neuausrichtung der EU-Fischereipolitik. Meine Damen und Herren von der Opposition, dieser Zug ist ohne Sie abgefahren. Sie haben nicht die Kraft und die Ideen, um eine neue Agrarpolitik zu entwerfen oder sie gar umzusetzen. ({15}) Sie sind mit den alten verkrusteten Strukturen verbandelt und können und wollen sich davon auch nicht lösen. ({16}) Immer mehr Bauern wissen, dass Sie sich jahrelang schützend vor Strukturen gestellt haben, die den Bauern in der Vergangenheit ökonomischen Schaden zugefügt haben. Auch den Verbrauchern ist das bekannt. Verbraucher und Landwirte haben deshalb kein Vertrauen in Ihre Politik. Von daher werden Sie dort bleiben, wo Sie zurzeit sitzen: auf der Oppositionsbank. Danke schön. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Frau Lemke, Ihre Fraktion hat mir mitgeteilt, dass dies zunächst einmal Ihre letzte Rede in diesem Parlament gewesen ist. Sie sind aber eine so junge Kollegin, dass das Parlament Sie vielleicht einmal wiedersehen wird. Bis dahin wünsche ich Ihnen im Namen des Hauses alles Gute und danke Ihnen für Ihre Arbeit. ({0}) Nun erteile ich der Kollegin Marita Sehn für die FDPFraktion das Wort.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesunde Lebensmittel gibt es nicht gegen, sondern nur mit den Bäuerinnen und Bauern. ({0}) Es freut mich außerordentlich, meine Rede mit einem Zitat aus dem Bundestagswahlprogramm des Bündnisses 90/Die Grünen beginnen zu können. Diese Stelle ist wirklich gut. Hier wird in einem Satz zusammengefasst, warum die grün-rote Agrarpolitik gescheitert ist. Mehr Lebensmittelsicherheit gibt es nur mit den Bauern und nicht gegen diese. ({1}) Deshalb sollten Sie endlich eine Politik für alle und mit allen - ich betone: allen - Bäuerinnen und Bauern machen und nicht gegen sie. Wie stehen Sie eigentlich zu den Skandalinszenierungen eines Herrn Graefe zu Baringdorf, Frau Künast oder Steffi Lemke? ({2}) Ist das der grüne vorsorgende Verbraucherschutz, wenn jetzt schon Lebensmittelskandale inszeniert werden? Erst Tiermehl unter das Futter mischen und dann hier wortreich alte Strukturen beklagen! Das sind Skandalinszenierungen statt Risikomanagement. Wer soll da noch Vertrauen in die grüne Verbraucherpolitik haben? Gleichzeitig betreiben Sie eine Ideologisierung des Einkaufskorbs. So schreiben Sie: Die Bürger sollen selbst entscheiden können, ob sie soziale oder ökologische Verantwortung übernehmen wollen. Die Bürger, die das, was Sie für richtig halten, nicht kaufen, handeln folglich sozial und ökologisch verantwortungslos. Der grün-rote Gesinnungscheck an der Ladenkasse, die ideologische Bevormundung der Bürger - das sind die verbraucherpolitischen Visionen von Künast & Co. ({3}) Auch das, was Sie als Perspektiven für die konventionelle Landwirtschaft bezeichnen, geht in dieselbe Richtung. Diese soll immer stärker an den Zielen des naturnahen Landbaus sowie der artgerechten Tierhaltung ausgerichtet werden. Gemeint ist damit nichts anderes als die Zwangsökologisierung der deutschen Landwirtschaft. Gesunde Lebensmittel nur mit den Bäuerinnen und Bauern ist bei Ihnen nur Theorie. In der Praxis stehen bei Ihnen Verordnen und Zwang vor Überzeugen. Zwischen den Forderungen der grünen Wahlprogrammphilosophen und Ihrer Realpolitik liegen Welten. So fordern Sie in Ihrem Wahlprogramm die angemessene Honorierung der Landwirte für den Erhalt der Natur und der Kulturlandschaft. Dabei waren Sie es, die diese Honorierung gestrichen haben. Oder haben Sie schon vergessen, dass Sie den Vorrang für den Vertragsnaturschutz im Bundesnaturschutzgesetz abgeschafft haben? ({4}) Die SPD steht in puncto Widersprüchlichkeit den Grünen kaum nach. Da wird die Neuausrichtung auf eine verbraucherorientierte, tierschutz- und umweltgerechte Landwirtschaft gefordert. Ich frage Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Sind unsere Bauern etwa die Feinde der Verbraucher, die obendrein Tiere quälen und außerdem die Umwelt kaputtmachen? Ihr Bild von unseren Bäuerinnen und Bauern ist von Vorurteilen, tiefer Abneigung und Ideologie geprägt. ({5}) - Das kann man so sagen. Sie überfrachten die deutsche Landwirtschaft mit einer Auflage nach der anderen. Ihnen fallen immer neue Aufgaben ein, die unsere Bäuerinnen und Bauern noch übernehmen sollen. Selbstverständlich soll dies zum Nulltarif erfolgen, weshalb die SPD die Landwirte auffordert, doch bitte wettbewerbsfähig zu sein und Ihnen nicht auf der Tasche zu liegen. ({6}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es reicht mit Ihrer Ideologie und Ihrer Politik der Bürokratie, der Auflagen und der Gesetze. SPD und Grüne stehen für eine Politik der Theorie. Wir brauchen aber eine Politik der Praxis, des Machens, der Initiativen und Konzepte - und das nicht nur in der Agrar- und Verbraucherpolitik. Unser Land braucht mehr liberale Politik. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Heino Wiese.

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dieser Agrarbericht zeigt, dass die Agrarwende im Jahr 2001 erfolgreich begonnen wurde. Frau Künast hat dargelegt, dass sich dies für die Landwirte in ökonomischer Hinsicht ausgewirkt hat. Wir sind in diesem Sektor ökonomisch erfolgreich. Entscheidend ist aber, dass wir die Landwirtschaftspolitik aus einer neuen Perspektive betrachten. Es geht nicht mehr nur um Produktivitätssteigerung und Einkommenssubventionen für die Produzenten, sondern es geht auch um Verbraucherschutz, Tierschutz und Naturschutz. Diese Bereiche haben mit unserer Politik einen neuen Stellenwert erhalten. Die Verbesserung der Lebensbedingungen im ländlichen Raum und ein vorsorgender Verbraucherschutz haben bei uns absolute Priorität. Als Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU, vor einem Jahr von Kommissar Fischler auf dem CDUAgrarkongress in Berlin die Leviten gelesen wurden, ({0}) stellte Ihr österreichischer Parteikollege Ihnen zwei Fragen, die Ihnen eigentlich hätten deutlich machen müssen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Er fragte: Sind die Schwerpunkte der gemeinsamen Agrarpolitik nicht zu sehr auf die Förderung der Produktionsmenge ausgerichtet, anstatt die Verbesserung der Produktionsqualität zu stimulieren? Warum werden nur 10 Prozent der verfügbaren Haushaltsmittel für die ländliche Entwicklung ausgegeben? Sie haben auf diese zukunftsweisenden Suggestivfragen bis heute keine Antwort. Wir haben mit dem Einstieg in die Modulation und mit den Modellregionen einen Anfang gemacht. Die Initiative „Regionen Aktiv - Land gestaltet Zukunft“ ist außerordentlich erfolgreich gestartet und hat in den betroffenen Landkreisen und Gemeinden sehr viel Zustimmung bekommen. ({1}) Wir werden das in der nächsten Legislaturperiode weiter steigern. ({2}) Die Ausgleichszahlungen an die Landwirte müssen sukzessive zurückgenommen werden. Wir müssen zur Stärkung der ländlichen Räume für alle dort lebenden Menschen eine attraktive und lebenswerte Perspektive gestalten. Jahr für Jahr verlieren durch den Produktivitätsfortschritt Menschen ihre Beschäftigung in der Landwirtschaft. Das gilt auch für weichende Erben. Wenn wir verhindern wollen, dass eine weitere Konzentration in den Ballungsgebieten stattfindet, müssen wir diesen Menschen Lebenschancen im ländlichen Raum eröffnen und erhalten. Ich glaube deshalb, dass die strengen Kriterien der EU für die Modulation deutlich erweitert werden müssen. Organisationen wie die Landfrauenverbände, die Evangelische und Katholische Landjugend haben das inzwischen auch erkannt und unterstützen die Regierung bei der Entwicklung und Umsetzung von zukunftsorientierten Projekten. ({3}) Vor allem im Bereich des Tourismus auf dem Lande sind wir einen großen Schritt weitergekommen. ({4}) - Das kann ich leider nicht; dazu fehlt mir die Zeit. Aber Sie können das im Agrarbericht nachlesen. Darin finden Sie ein ganzes Kapitel dazu, in dem das genau steht. ({5}) - Ich denke schon, dass der Agrarbericht korrekt ist. Wenn Sie meinen, dass etwas Falsches darin steht, dann müssen Sie das anzweifeln. Wie das geht, wissen Sie ja. Bislang haben Sie das nicht getan. Die FDP hat zum Agrarbericht einen Antrag mit dem Titel „Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in Ostwestfalen-Lippe“ eingebracht. Wir waren uns im Ausschuss darüber einig, dass kreative Lösungen aus allen Regionen begrüßt werden. Alle Fraktionen, mit Ausnahme der FDP, waren aber davon überzeugt, dass es sich hierbei nicht um ein realisierbares Projekt handelt. ({6}) Ausgerechnet die FDP, die immer die Kräfte des Marktes beschwört, will hier ein echtes Subventionsprojekt fördern. ({7}) Heilpflanzen gedeihen nun einmal in wärmeren Gegenden besser und sind deshalb im Lipper Land nie zu Weltmarktpreisen zu produzieren. ({8}) - Da wird das Wort zu einer Zwischenfrage gewünscht.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich danke Ihnen dafür, dass Sie diese Zwischenfrage gestatten. Bitte schön, Frau Kollegin.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Wiese, wenn Sie diesen Antrag, der ja schon ein paar Monate alt ist, richtig lesen, werden Sie feststellen, dass dort von einem Modellprojekt die Rede ist, wie es andere, zum Beispiel in Bayern, auch gibt. Sind Sie bereit, einmal selbst zu bewerten, was eine eigene Produktion in der Form, wie wir sie dort vorgeschlagen haben, bedeutet? Dadurch würden Landwirte in die Lage versetzt, sich als Marktteilnehmer zu entwickeln. Ziel dieses Antrags ist die Förderung des Anbaus von Heil- und Gewürzpflanzen in direkter Kooperation zum Beispiel mit der Kräuter verarbeitenden Wirtschaft. So etwas gibt es bereits und das möchten wir weiter kultivieren. Dieses Projekt ist kein Dauersubventionsprojekt, sondern sollte lediglich eine Anschubfinanzierung erfahren. Wissen Sie, dass der frühere Landwirtschaftsminister Funke dieses Projekt ausdrücklich befürwortet hat und bereit war, es zu fördern?

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der frühere Landwirtschaftsminister Funke hat meines Wissens gesagt: Das ist ein interessantes Projekt, aber leider ziemlich unrealistisch, weil es nie aus den Subventionen herauskommen wird. Die Bedingungen für den Anbau von Heilkräutern im Lipperland sind nun einmal nicht so, dass weltmarktfähige Preise erzielt werden könnten. ({0}) Das ist genauso, als wenn Sie in Lappland Kühe halten und eine Milchproduktion aufbauen wollten. ({1}) - Ja, das ist ein kleiner Unterschied. Aber im Großen und Ganzen ist es vergleichbar. ({2}) Man muss diese Projekte dort verwirklichen, wo sie sinnvoll sind, und im Lipperland ist es nicht sinnvoll. Die lippischen Bauern haben inzwischen selbst erkannt, dass sie eine andere Produktionslinie verfolgen müssen. Sie haben sich sehr intensiv auf die Erzeugung von Biomasse konHeino Wiese ({3}) zentriert und damit ihr Einkommen und Auskommen. Ich glaube, sie lachen inzwischen selbst über dieses Projekt mit den Heil- und Gewürzpflanzen. ({4}) Ich möchte noch ein paar Bemerkungen zu Herrn Ronsöhr machen. Herr Ronsöhr hat gesagt, es würde ökologisches Preisdumping stattfinden. Das, was wir machen, ist kein ökologisches Preisdumping, sondern wir versuchen, die Preise dadurch zu senken, dass mehr Produzenten auch ökologische Produkte produzieren. Das ist im Sinne des Verbrauchers. Das ist etwas, was wir alle wollen. Es geht nicht darum, irgendeine Nische für jemanden zu erhalten, der damit große Gewinne erzielen soll, sondern es geht darum, ökologisch produzierte Lebensmittel möglichst für alle herzustellen. Ich möchte an dieser Stelle meinen Redebeitrag mit der Bemerkung beenden, dass ich glaube, dass die Politik der Regierung in dieser Legislaturperiode deutlich gemacht hat: Man kann Landwirtschaftspolitik aus einer anderen Perspektive sehen und es ist im Sinne der Verbraucher, dieses auch zu tun. Ich möchte, weil es voraussichtlich für absehbare Zeit meine letzte Rede in diesem Hause gewesen ist, auch danken. ({5}) - Wenn ich wieder hereinkäme, würde das bedeuten, dass wir keinen Koalitionspartner mehr brauchen. ({6}) Deshalb kannst du dir das wünschen. ({7}) Ich möchte zum Abschluss auch Marianne Klappert danken, die im Ausschuss für mich so etwas wie ein Vorbild war. Marianne war immer sehr intensiv in der Sache und hat sich in ihrem Einsatz für den Tierschutz nie bremsen lassen. Trotzdem hat es immer Freude gemacht, mit ihr als Kollegin zusammenzuarbeiten. Sie ist anderen gegenüber nie verletzend gewesen. Ich glaube, sie ist ein gutes Vorbild für Politiker überhaupt. Danke schön. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Bei dieser sehr realistischen Vorausschau auf die Bundestagswahl wage ich natürlich nicht, Ihnen für die letzte Rede zu danken. Die Zukunft wird es zeigen. Nun gebe ich das Wort dem Kollegen Meinolf Michels für die CDU/CSU-Fraktion.

Meinolf Michels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001502, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über den Agrarbericht des letzten Jahres. Es liegt nahe, am Ende dieser Legislaturperiode den Diskussionsbogen etwas weiter zu spannen. Der Unterschied zwischen den beiden Ministern, mit denen wir es während dieser Zeit zu tun hatten, ist so groß, wie er größer kaum sein kann. Herr Funke war ein Fachmann, der es mit der SPD-Fraktion aber sehr schwer hatte. ({0}) Ihm folgte Frau Künast. Sie war berufsfremd. Sie wollte zeigen, dass sie wusste, wo es auf diesem wichtigen Feld von der Produktion bis zum Verbrauch langgeht. „Klasse statt Masse“ war das Losungswort. Bisher galt die gute fachliche Praxis. Sie wurde immer mehr durch Misstrauen ersetzt. Modulation bedeutet nichts anderes als eine Schmälerung der Einkommen der Landwirte, um die eingesparten Mittel dann anderswo einzusetzen. Richtig ist, dass wir es in den letzten Jahren mit einigen Krisen, ausgelöst durch BSE, MKS und zuletzt durch Nitrofen, zu tun hatten. Die Bauern waren daran ausnahmslos unschuldig; den Schaden hatten sie aber allein zu tragen. Erst gestern haben wir im Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft erfahren, dass von den seinerzeit eingelagerten 54 Tonnen Nitrofen nur 17 Tonnen behördlich entsorgt wurden. ({1}) Bis heute können keine Angaben zu dem Verbleib der restlichen Tonnen gemacht werden. Wir haben erfahren, dass die Behörden die Halle für die Lagerung von Getreide wissentlich freigegeben haben. Im Mai des letzten Jahres wurde von der Ökoprüfstelle „Grünstempel“ bestätigt, dass eine Lagerung von Ökogetreide in der Halle in Malchin unbedenklich ist. ({2}) Der Prüfer war vor Ort. Ihm standen alle Unterlagen zur Verfügung. Frau Ministerin, ich wäre sehr zurückhaltend, hier vor Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Prüfung Schuldzuweisungen, gleich gegen wen, auszusprechen. ({3}) Das Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung wird die Wahrheit in nächster Zeit zutage fördern. Frau Ministerin, vor wenigen Tagen war ein junges Landwirteehepaar bei mir zu Hause. Sie wollten einmal ihre große Sorge mit mir besprechen. Beide haben eine sehr gute Ausbildung absolviert und stehen mitten im Leben. Sie haben mit viel Energie und geliehenem Geld eine Legehennenhaltung aufgebaut. Und nun? - Das Verbot der Käfighaltung, aber nur bei uns in Deutschland, ({4}) Heino Wiese ({5}) und zwar Jahre, bevor die EU diesen Weg einschlagen will. ({6}) - Nicht in der EU. - Bei uns wird die Haltung in Käfigen verboten. In Polen und Tschechien wurden Käfighaltungen in großem Umfang aufgebaut. Mit Tankwagen werden immer größere Mengen Flüssigei nach Deutschland eingeführt. Das soll Tierschutz pur sein! ({7}) Ich empfehle dringend, sich angesichts dessen mit diesem Thema noch einmal zu befassen. Nach wie vor kommt aus Argentinien und anderen Ländern stammendes Rindfleisch auf unsere Märkte, ohne gemäß den in Deutschland geltenden gesundheitlichen Bestimmungen untersucht worden zu sein. Die Ungleichheit, die die deutschen Bauern ertragen müssen, gibt es auf keinem anderen Feld in der Wirtschaft. Dies sind nur zwei Beispiele von vielen, die meinen Berufskollegen das Leben so schwer machen. Ein Markt kann auf Dauer nur funktionieren, wenn die Marktzugangsbedingungen für alle Beteiligten gleich sind. Da die Osterweiterung, von der sich die Landwirte keine falschen Vorstellungen machen, in greifbare Nähe rückt, bitte ich Sie, alles zu tun, um von Anfang an wirklich faire Marktbedingungen sicherzustellen. Gleiche Standards für alle und keine deutschen Alleingänge! ({8}) Es gilt also, auch in Brüssel und nicht nur hier zu überzeugen. Auch bei einem Sportwettkampf hat derjenige keine Chance, dem ein zusätzliches Paket aufgebürdet wird. Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen, die jungen Leute sind gegenüber einer gedeihlichen - Sie haben es eben anders dargestellt - Weiterentwicklung in der Landwirtschaft so zurückhaltend geworden, dass sich allzu oft die Besten abwenden. Betrachten wir nur die Ausbildungsstatistiken. Dort sehen wir, wie viele junge Leute sich noch in landwirtschaftlichen Berufen ausbilden lassen. Ich wünsche mir, dass von dieser Debatte ein Signal nach außen geht - ein Signal der Hoffnung: ja, berechtigter Hoffnung gegen reale Resignation, Hoffnung auf weniger Bürokratie und - wie in der Vergangenheit mehr Vertrauen. Jedes Volk ist bisher verarmt, wenn die eigene Landwirtschaft heruntergekommen oder ruiniert war. Der gegenwärtige Investitionsstau ist als Ausdruck einer großen Vertrauenskrise zu sehen. Er schadet der Volkswirtschaft insgesamt. Agrarwende hin, Agrarwende her: Was falsch ist, sollten wir ändern. Die Möglichkeiten dazu sind vorhanden. Wir sollten darauf achten, dass die Landwirte nicht in gute und schlechte eingeteilt werden. Wir brauchen beide Produktionsrichtungen, die eine wie die andere. ({9}) Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, 22 Jahre durfte ich diesem Hohen Hause angehören. Wenn wir an die Wiedervereinigung unseres Volkes denken, so war das - da sind wir sicher alle der gleichen Meinung - eine bewegende und prägende Zeit. Ich danke allen, mit denen ich während dieser Zeit gut und gedeihlich zusammenarbeiten durfte. Mein ganz besonderer Dank gilt von dieser Stelle unserem langjährigen Bundeskanzler Helmut Kohl. ({10}) Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, alles erdenklich Gute und unserem Volk Gottes reichen Segen. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Lieber Kollege Michels, auch Ihnen sagen wir Dank für die sechs Legislaturperioden, die Sie im Deutschen Bundestag mitgearbeitet haben, und verbinden diesen Dank mit unseren guten Wünschen für Ihre ganz persönliche Zukunft. ({0}) Nun gebe ich das Wort für die SPD-Fraktion der Kollegin Waltraud Wolff.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Agrarbericht bietet eine gute Möglichkeit, Bilanz zu ziehen. Das haben wir schon gesehen. Auch ich beteilige mich daran sehr gerne. Herr Deß hat für die CDU/CSU gesagt, Rot-Grün habe sinnlose, chaotische Politik gemacht und nichts geschafft. Von der PDS ist bemängelt worden, dass wir nicht genug erreicht hätten. ({0}) Ich muss sagen: 16 Jahre schwarz-gelbe Politik sind natürlich in vier Jahren von Rot-Grün nicht aufzuholen. ({1}) Bevor ich mich daran beteilige, heute Bilanz zu ziehen, möchte ich noch auf ein Wort von Herrn Deß eingehen. Er hat gesagt, bei den Verhandlungen zur Agenda 2000 habe der Kanzler dilettantisch gehandelt und versagt. Ich werde Ihnen jetzt gleich ausführen, welch übergroßen Einsatz er gebracht hat und dass wir unserem Bundeskanzler Gerhard Schröder danken können; denn nur durch seinen Einsatz konnten die Rahmenbedingungen für eine gute Entwicklung der Landwirtschaft hier in Deutschland geschaffen werden. Ich denke hierbei zum Beispiel an die Einkommensentwicklung der Landwirte in den letzten beiden Jahren. Frau Künast hat darauf hingewiesen. ({2}) Lassen Sie mich einige Punkte kursorisch ansprechen: Erstens. Bis auf Ostberlin blieben alle neuen Bundesländer Ziel-1-Gebiete. Zweitens. Die Milchquotenregelung wurde reformiert. Aber wir haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass diese Quotenregelung nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag fortgeführt werden kann. Sie jetzt noch beizubehalten war eine richtige Entscheidung, um unsere aktiven Milchproduzenten zu unterstützen. ({3}) - Ich mache eine Bilanz auf, mit der ich Ihnen vermitteln will, Herr Carstensen, was Rot-Grün in den letzten vier Jahren geschafft hat. Hören Sie zu! Dann können Sie noch etwas lernen. ({4}) Drittens. Die landwirtschaftliche Produktion erfolgt gerade in den neuen Bundesländern zum großen Teil auf Pachtflächen. Wir haben durch langfristige Pachtverträge den Landwirten Sicherheit gegeben. Viertens. Wir haben die 90-Tiere-Obergrenze abgewehrt. So kommt es nicht zu Benachteiligungen der großen, effizienten Betriebe. Fünftens. Auch die größenabhängige und zeitlich gestaffelte Degression der Direktzahlungen ist verhindert worden. Dies alles ist unter sozialdemokratischer und grüner Politik erreicht worden. Für uns Sozialdemokraten ist vor allem die Beschäftigung im ländlichen Raum von entscheidender Bedeutung; denn die Landwirtschaft sichert viele Tausend Arbeitsplätze auf dem Lande, und zwar auch im vor- und nachgelagerten Bereich. Im Zuge der Halbzeitbewertung der Agenda 2000 ist vorab vieles durch die Medien gegeistert. Dies sind noch keine offiziellen Vorschläge, sondern Verlautbarungen. Unsere Diskussion dreht sich also mehr um Hörensagen als um Tatsachen. Deswegen sollten wir den Ball flach halten und hier sachlicher über die Agenda reden. Prinzipiell haben wir immer eine große Agrarreform innerhalb Europas gefordert. Noch wichtiger ist sie vor dem Hintergrund der Osterweiterung. Aber nun gilt es natürlich auch, deutsche Positionen zu vertreten. Wir müssen neue finanzielle Handlungsspielräume gewinnen. Doch nach den Fischler-Vorschlägen würden die Nettozahlungen Deutschlands explizit höher. Das können wir so nicht akzeptieren. Fachlich gesehen ist die Umverteilung von der ersten zur zweiten Säule zu begrüßen. Insgesamt hat Herr Fischler sehr anspruchsvolle Ziele. Fraglich ist nur, ob die gewählten Mittel die richtigen sind. Zum Beispiel heißt es, dass größere Betriebe mit Beihilfen über 300 000 Euro im Jahr einer Kappungsgrenze unterliegen sollen. Dabei darf man aber den Osten nicht vergessen. ({5}) Frau Künast hat schon gesagt, dass es dabei gerecht zugehen muss. Wir haben große landwirtschaftliche Betriebe im Osten und das ist gut so. Sie sind nämlich oft die einzigen Arbeitgeber am Ort. Zu dem eben genannten Vorschlag aus Brüssel kann ich nur sagen: Hier ist meine ostdeutsche Schmerzgrenze nicht nur erreicht, sondern schon überschritten. Umfangreiche Fördermittel der EU, des Bundes und der Länder wurden in der Vergangenheit bereitgestellt, um die großen, effizienten Strukturen zu stärken. Die von der EU angekündigten Kappungsgrenzen würden aber dazu führen, dass diese funktionierenden Strukturen gefährdet oder gar zerschlagen werden. Da fragt man sich nach der Logik. In Brüssel können doch keine Entscheidungen für einen speziellen Teil der Bundesrepublik getroffen werden. Das wären untragbare Wettbewerbsverzerrungen. Herr Heinrich hat das vorhin in seinem Beitrag ganz richtig dargestellt. Meine Damen und Herren, die Kommission beabsichtigt auch, die Modulation obligatorisch einzuführen. Der ländliche Raum sowie arbeits- und umweltschutzpolitische Maßnahmen sollen und müssen in der Zukunft mehr in den Vordergrund treten. Aber auch hier gilt: Die Modulation muss gerecht gestaltet werden. Gerade der Osten Deutschlands, der Mittel für die Entwicklung der ländlichen Räume dringend benötigt, darf nicht für seine bisherigen Anstrengungen bestraft werden. Finanzmittel sind gut und richtig, aber nicht alles. Deshalb möchte ich das Engagement der Frauen und der Jugend auf dem Lande hervorheben. Mit großem Interesse erwarten wir alle die Ergebnisse einer Studie, die das Bundesministerium für Verbraucherschutz in Auftrag gegeben hat. Darin wird nämlich der ökonomische Beitrag der Frauen zur Entwicklung der ländlichen Räume ermittelt. Hier wurde schon mehrfach auf die gute Ausbildung eingegangen. Wir brauchen gut ausgebildete Arbeitskräfte. Eine fundierte Ausbildung ist wichtig, um eine moderne und umweltgerechte Produktion zu gewährleisten, ({6}) die gleichzeitig die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher berücksichtigt. Das sind Berufe mit Zukunft. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben das Verbraucherinformationsgesetz vorgelegt, mit dem eine neue Informationskultur geschaffen werden sollte. Damit wäre es möglich gewesen, bei Verstößen Ross und Reiter genau zu benennen. Das Recht der Verbraucher auf Information durch die Verwaltung wäre damit gewährleistet. Im Bundesrat ist dieses so dringend benötigte Gesetz dem Wahlkampfkalkül der Opposition zum Opfer gefallen. Nun bleibt abzuwarten, ob auch das Neuorganisationsgesetz in die Mühlen des Oppositionswahlkampfes gerät. Mit diesem Gesetz soll die Koordinationsaufgabe des Bundes gestärkt werden, also der Part, den die Opposition im Ausschuss in jedem zweiten Satz einfordert ({8}) Waltraud Wolff ({9}) - dann müssen Sie unserem Gesetz zustimmen -, und die Trennung von Management und Bewertung im Sinne des vorbeugenden Verbraucherschutzes. Die Opposition scheint eine Landwirtschaft wie in Westdeutschland vor 50 Jahren anzustreben; Herr Deß hat sogar von mehreren Hundert Jahren gesprochen. Wen wollen Sie damit eigentlich erreichen? Doch viel wichtiger ist die Frage: Wie sehr verschließen Sie die Augen vor der Entwicklung und in welchem Maße lassen Sie den Berufsstand, den Sie immer zu vertreten vorgeben, im Regen stehen, anstatt an seiner Seite zu stehen und ihm zu helfen, den Weg nach Europa zu finden? ({10}) Sehen Sie ein, dass nur höchste Sicherheitsstandards unsere heimische Landwirtschaft stützen können! Oder haben Sie vielleicht auch hier - wie bei der Ökosteuer vor, unsere Politik fortzusetzen? Jede sich bietende Gelegenheit haben Sie genutzt, um uns bei der Durchsetzung der Ökosteuer zu torpedieren. Aber jetzt, im Wahlkampf, geben Sie zu, dass Sie die Ökosteuer übernehmen wollen. ({11}) Meine Damen und Herren, die deutsche Landwirtschaft hat große Potenziale und versteht sie zu nutzen. Das belegt der aktuelle Ernährungs- und agrarpolitische Bericht. Die Einkommen der landwirtschaftlichen Betriebe sind gestiegen, die Verbindlichkeiten haben sich verringert und die Eigenkapitalausstattung hat sich verbessert. ({12}) Auch im laufenden Jahr ist mit Einkommensverbesserungen zu rechnen. Wir haben diese Legislaturperiode genutzt, um den Reformstau aufzulösen. Ein Beispiel dafür ist die landwirtschaftliche Sozialversicherung, die Sie in 16 Jahren Ihrer Regierungsverantwortung nicht modernisiert haben. Ebenso haben Sie die Regelung der Altschulden in Ostdeutschland acht Jahre lang vor sich hergeschoben. Wir werden es schaffen, noch vor Ende dieser Legislaturperiode einen Entwurf auf den Tisch zu legen, der eine endgültige und abschließende Regelung dazu vorsieht. ({13}) - Er wird keiner Diskontinuität anheim fallen. ({14}) Ich möchte zum Schluss noch ein Wort an die Opposition richten. ({15}) Sie haben mehrfach gesagt, dass Sie in der nächsten Legislaturperiode viele Dinge anschieben wollen. Ich wünsche mir, dass Sie dann, auf den Oppositionsbänken sitzend, unsere Politik konstruktiv unterstützen. ({16}) Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich für die CDU/CSUFraktion dem Kollegen Michael Luther das Wort.

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland braucht seine Bauern. ({0}) Was die Bauern nicht brauchen, ist Frau Künast. ({1}) Sie ist offensichtlich vorsichtshalber schon gegangen. Unter Rot-Grün ist die Landwirtschaft zum Buhmann der Nation verkommen. Wer Frau Künasts Weg seit ihrem Amtsantritt genau verfolgt hat, weiß: Sie ist mit der BSEKrise gekommen und hat seitdem nur eines versucht, nämlich sich persönlich zu profilieren. ({2}) Seit dieser Zeit ist das Thema Landwirtschaft im Fachministerium an die letzte Stelle gerutscht. Zu Recht sagt der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Gerd Sonnleitner: ({3}) Deutschland läuft Gefahr, bei der Gestaltung der Standortbedingungen für eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft zum Schlusslicht Europas zu werden. Wir brauchen eine grundsätzliche Änderung in der Landwirtschaftspolitik. ({4}) - Ich will auf die unflätigen Zwischenrufe nicht weiter eingehen. Lassen Sie mich zu vier Punkten kommen: Erstens. Zuletzt am Montag wurden die Pläne des EUKommissars Fischler laut, die Fördergrenzen für die Landwirtschaftsbetriebe auf 300 000 Euro zu begrenzen. Auch wenn durch die Anhebung der Förderobergrenze entsprechend der Anzahl der Beschäftigten eine Abmilderung der Kürzungen erfolgen soll, bleibt es dabei: Von dieser Regelung sind in Europa am meisten Waltraud Wolff ({5}) Deutschland und in Deutschland zu mehr als 90 Prozent die neuen Bundesländer betroffen. Was heißt das? Das heißt im Klartext: Die neuen Bundesländer bekommen weniger Geld. Das hat Auswirkungen auf die Steuerkraft und die Kaufkraft in den neuen Ländern, insbesondere in den strukturschwachen, einkommensschwachen ländlichen Regionen. Das kann nicht einfach hingenommen werden. Frau Künast könnte sich an dieser Stelle profilieren. Aber was hört man von ihr? „Künast signalisiert vorsichtige Zustimmung zu Fischler-Vorschlägen.“ Frau Künast will das ist der zweite Punkt - das frei werdende Geld für die ökologische Agrarreform ausgeben und nimmt in Kauf - ich zitiere sie -: „Es wird einige Betriebe massiv treffen.“ Eine solche Aussage ist Ausdruck purer Arroganz. Frau Lemke, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, mit Rot-Grün werde das nicht passieren, kann ich nur erwidern: Ich weiß nicht, von welcher Partei Frau Künast sein soll. ({6}) Sie hat gestern gesagt, es werde einige Betriebe massiv treffen, das nehme sie hin, ihr sei egal, was mit ihnen ist. ({7}) Vielleicht sollten Sie das, bitte schön, erst einmal in der eigenen Partei klären. Dasselbe gilt im Übrigen für die künastsche Variante einer Modulation, nach der ab nächstem Jahr 2 Prozent der Marktstützungsmittel in den Ausbau einer ökologischen Landwirtschaft umgelenkt werden sollen. Dieses Geld - das muss man wissen - kann nur an Betreiber gezahlt werden, die ihre Produktionsweise neu umstellen. Bereits heute werden zum Beispiel in Sachsen 75 Prozent der Ackerfläche nach dem Programm „Umweltgerechte Landwirtschaft“ bewirtschaftet; dort fallen also 75 Prozent der Ackerfläche aus dieser Förderung heraus. Mein Kollege Deß hat das schon am Beispiel von Bayern, Baden-Württemberg und den anderen südlichen Ländern erläutert; dort ist die Situation ähnlich. Ich kann nur sagen: PISA- das ist auch ein Vorgriff auf die anschließende Debatte - lässt grüßen! ({8}) Drittens. In den Jahren nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit ist es in den neuen Bundesländern gelungen, eine stabile wirtschaftliche und wettbewerbsorientierte Landwirtschaft aufzubauen. Ich lese in den Agrarberichten, dass die Einkommenssituation in den neuen Ländern in den Haupterwerbsbetrieben und in den als juristische Personen geführten landwirtschaftlichen Betrieben 2001 rückläufig war. ({9}) Sicher gibt es dafür viele Ursachen. Es zeigt aber auch sehr deutlich, wie empfindlich das System Landwirtschaft ist. Landwirtschaftspolitik - das war bislang meine Meinung - hat die Aufgabe, die Landwirtschaft in Deutschland zu stärken. Die Operationen, die wir aus dem Hause Künast erleben, bewirken genau das Gegenteil. ({10}) Dadurch wird das entstandene Gleichgewicht insbesondere in den neuen Bundesländern erheblich gestört. Viertens. Am allermeisten kann man, wie ich meine, die Landwirtschaft durch Rufschädigung belasten. Das Handling beim Nitrofen-Skandal hat Folgendes bewirkt: Erstens. Sowohl Frau Künast als auch Herr Backhaus haben zugelassen, dass viele landwirtschaftliche Betriebe pauschal verdächtigt werden. Zweitens. Sie haben es geschafft, dass die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern pauschal verdächtigt wird. Drittens. Die kleinen Ökobauern, die sich darum bemühen, dass ihre frei laufenden Hühner das selbst angebaute Futter bekommen, sind enorm geschädigt worden. Viertens. Den Verbrauchern hat das Ganze überhaupt nicht genutzt. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Informationsmanagement von Frau Künast und Herrn Backhaus ist für mich ein Vorgeschmack auf die Art von Verbraucherinformationsgesetz, das von uns hier und im Bundesrat mit Mehrheit abgelehnt worden ist. ({12}) Es muss klar gesagt werden: Wer einen solchen von der Sache her richtigen Gedanken wie die Verbraucherinformation in ein Gesetz gießen will, darf Bauern nicht als seine ideologischen Feinde sehen. Wir brauchen einen Landwirtschaftsminister, der von der Landwirtschaft etwas versteht. ({13}) Für mich war sehr interessant, dass die Frau Ministerin im Kompetenzteam der CDU jemanden für den Bereich Landwirtschaft vermisst. Sie sieht sich wohl schon bei ihrem Abschied und hofft, dass die Landwirtschaft wieder in gute Hände gelegt wird. ({14}) Verbraucherschutz im Nahrungsmittelbereich und auch Naturschutz können nur mit den Bauern und nicht gegen die Bauern gemacht werden. Es wird Zeit: Wir brauchen einen Politikwechsel in der Landwirtschaft des Bundes. Die Landwirtschaft braucht wieder einen höheren Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein. Die Landwirtschaft ist ein großer Arbeitgeber in Deutschland. Die Landwirtschaft ist der Garant für unser täglich Brot. Die Landwirtschaft ist der Träger unserer Kulturlandschaften, an der sich viele Menschen gerade in der Sommer- und Urlaubszeit erfreuen. Wir als Union setzen uns für eine zukunftsfähige Landwirtschaft ein. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf der Drucksache 14/7118. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Agrarberichts 2001 der Bundesregierung auf Drucksache 14/5326 den Entschließungsantrag der FDP-Fraktion auf Drucksache 14/6343 zu dem genannten Bericht abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis des Agrarberichts 2001 den Entschließungsantrag der Frak- tion der FDP auf Drucksache 14/6345 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Stimmenmehrheit angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Verbraucher- schutz, Ernährung und Landwirtschaft unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Agrarberichts 2001 den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/ CSU auf Drucksache 14/6347 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit angenommen. Zu den Tagesordnungspunkten 3 c bis 3 g wird inter- fraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Druck- sachen 14/8202, 14/7798, 14/5675, 14/5691 und 14/6176 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent- schließungsanträge zum Ernährungs- und agrarpoliti- schen Bericht 2002 der Bundesregierung, und zwar zunächst zum Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/9580. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ent- schließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bünd- nis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/8725. Wer stimmt für diesen Ent- schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim- men von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9189. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Zusatzpunkt 7, Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/4449 zu dem Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflan- zen-Anbau in Ostwestfalen-Lippe“. Der Ausschuss emp- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3107 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange- nommen. Zusatzpunkt 8, Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/9366. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- trags der FDP-Fraktion auf Drucksache 14/8180 mit dem Titel „Obstbauern vor dem Ruin retten - Plantomycin für Notfallmaßnahmen zulassen“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der FDP-Fraktion auf Drucksache 14/8430 mit dem Titel „Pflanzenschutz- politik neu ausrichten, heimische Produzenten unterstüt- zen und Verbraucher schützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Stimmen- mehrheit wie vorhin angenommen. Wir kommen nun zu Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 c sowie die Zusatzpunkte 9 a bis 9 c auf: 33. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dirk Niebel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung der Rechtssicherheit beim Betriebsübergang - Drucksache 14/8496 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundes- rechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2001 - Einzelplan 20 - - Drucksache 14/9178 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Rainer Funke, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Betriebliche Altersvorsorge verbessern - Drucksache 14/4418 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 9 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung einer Übergangsregelung für die Umsatzbesteuerung von AltSportanlagen - Drucksache 14/9543 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Sportausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Gradistanac, Dr. Hans-Peter Bartels, Anni BrandtElsweier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Kerstin Müller ({3}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Durchführung des Bundeswettbewerbes „Ferien für Familien, in denen Angehörige mit Behinderung leben“ - Drucksache 14/9542 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rosel Neuhäuser, Maritta Böttcher, Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Aktionsplan zum Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland - Drucksache 14/9545 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({5}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/9542 - das ist Zusatzpunkt 9 b - soll jedoch abweichend von der Tagesordnung nicht an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist es so beschlossen. Wir kommen nun zur Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 34 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 20. Dezember 2001 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik zum Abkommen vom 21. Juli 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern - Drucksache 14/8982 ({6}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7}) - Drucksache 14/9549 Berichterstattung: Abgeordnete Hansgeorg Hauser ({8}) Jörg-Otto Spiller Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/9549, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 c: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Heinrich Fink, Heidemarie Ehlert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einkommenbesteuerung von ausländischen Künstlerinnen und Künstlern - Drucksache 14/6111 ({9}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({10}) - Drucksache 14/9268 Berichterstattung: Abgeordnete Jörg-Otto Spiller Klaus-Peter Willsch Der Finanzausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 34 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({11}) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Für die demokratische Erneuerung Pakistans - Drucksachen 14/5684, 14/7533 Berichterstattung: Abgeordnete Johannes Pflug Willy Wimmer ({12}) Ulrich Irmer Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt, den Antrag in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 34 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heidi Knake- Werner, Dr. Evelyn Kenzler, Petra Bläss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Aufgaben des jüngsten Mitgliedes des Deut- schen Bundestages - Drucksachen 14/8166, 14/9168 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Uwe Küster Eckart von Klaeden Dr. Evelyn Kenzler Jeder im Hause weiß, was damit gemeint ist. Der Aus- schuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses angenom- men.1) Tagesordnungspunkt 34 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Heidemarie Lüth, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Bestellung einer Amtsanklägerin/eines Amtsanklägers - Drucksachen 14/7227, 14/9291 Berichterstattung: Abgeordnete Dietrich Austermann Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Christa Luft Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 34 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 402 zu Petitionen - Drucksache 14/9386 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS ist die Sammelübersicht 402 mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 34 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 403 zu Petitionen - Drucksache 14/9399 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 34 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 404 zu Petitionen - Drucksache 14/9389 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 405 zu Petitionen - Drucksache 14/9390 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 34 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 406 zu Petitionen - Drucksache 14/9391 - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sam- melübersicht ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Zusatzpunkt 10: Weitere abschließende Beratung ohne Aus- sprache Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters 1) Anlagen 2 und 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({20}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung 62. Bericht der Bundesregierung über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäische Union ({21}) - Drucksachen 14/8565, 14/8829 Nr. 1.9, 14/9560 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Roth ({22}) Peter Altmaier Christian Sterzing Dr. Helmut Haussmann Uwe Hiksch Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 11 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Bildungsgefälle nach dem Ergebnis der PISAStudie und Forderungen aus der Bundesregierung nach deutschlandweiten Bildungsstandards Als erster Rednerin erteile ich der Ministerin für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg, Frau Dr. Annette Schavan, das Wort. Dr. Annette Schavan, Ministerin ({23}) ({24}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die nationale PISAStudie ist eine Bilanz über mehrere Jahrzehnte der Bildungspolitik in den 16 Bundesländern. Die zentrale Botschaft dieser Studie lautet: Wo kontinuierlich Leistung gefordert wird, wird zugleich soziale Gerechtigkeit gefördert. Leistung ist das Prinzip der Gerechtigkeit. ({25}) Die Studie zeigt ein dramatisches Nord-Süd-Leistungsgefälle, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Ergebnisse in den drei untersuchten Kompetenzbereichen. Dieses dramatische Nord-Süd-Gefälle besteht ebenso im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit. Die sozialen Disparitäten sind in den Spitzenländern des Südens niedrig und in den SPD-regierten Ländern des Nordens hoch. Die höchsten sozialen Disparitäten - so besagt es die Studie - bestehen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Bremen. Im Osten sind sie im Durchschnitt niedriger als im Westen. Im Vergleich zu den internationalen Ergebnissen liegt Bayern in allen drei Kompetenzbereichen im ersten Drittel der OECD-Länder. Baden-Württemberg und Sachsen erreichen in einzelnen Kompetenzbereichen ebenfalls Werte, die dem OECD-Durchschnitt entsprechen oder darüber liegen. Die Förderung ausländischer Jugendlicher gelingt in den unionsregierten Ländern besser als in sozialdemokratisch regierten Ländern. Der Jugendliche mit Migrationshintergrund erreicht in Bayern im Durchschnitt das Leistungsniveau eines deutschen Schülers in Bremen. ({26}) Die Schülerrisikogruppe ist im Süden deutlich geringer als im Bundesschnitt. Es zeigt sich: Wo die Risikogruppe niedrig ist, ist die Spitzengruppe hoch. ({27}) Unbestritten ist, dass Deutschland insgesamt mit diesen Ergebnissen nicht zufrieden sein kann. ({28}) Alle müssen besser werden und sich in die internationale Spitzengruppe bewegen. ({29}) - Jawohl, Herr Tauss. ({30}) Niemand hat Grund, sich selbstzufrieden zurückzulehnen. Und genau das tun Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen nicht - heute nicht und in den letzten Jahren nicht. Eigentümlich aber ist, dass vor allem jene jetzt angegriffen werden, die in Deutschland zur Spitzengruppe gehören. ({31}) Wären alle auf dem Niveau von Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen, so wäre die Ausgangsposition auf dem Weg in die internationale Spitzengruppe deutlich besser als jetzt. ({32}) Wenn die Bundesbildungsministerin erklärt, sie könne in Deutschland kein wirkliches Nord-Süd-Gefälle feststellen, so blendet sie damit einen Teil der nationalen PISA-Studie und ihrer Ergebnisse schlicht aus. Das aber ist ein schlechter Ratgeber für Verbesserungen in Deutschland. ({33}) Die Bevölkerung in Deutschland ist klüger. Nach einer Umfrage von Infratest dimap findet jeder zweite Bundesbürger, dass bayerische Bildungspolitik beispielhaft für Deutschland ist. Übrigens sind es 55 Prozent der SPD-Anhänger, die in dieser Umfrage sagen, sie fänden bayerische Bildungspolitik beispielhaft für Deutschland. ({34}) Wir brauchen einen Qualitätspakt für Bildung in den 16 Ländern, der internationalen Gesichtspunkten gerecht wird. Dazu gehören die Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz über vergleichbare Bildungsstandards; dazu gehören länderübergreifende Bildungsvergleiche, mit denen die Einhaltung der Standards überprüft werden kann, Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters und zwar von unabhängigen Experten, so wie dies zum Beispiel beim Max-Planck-Institut der Fall ist. ({35}) Schließlich gehören dazu zentrale, vergleichbare Abschlussprüfungen in allen Schularten, die standardbildend wirken können. Wir brauchen im Rahmen dieses Qualitätspaktes den konsequenten Abbau von Sprachbarrieren und eine entsprechende Sprachförderung für ausländische Kinder und Jugendliche, beginnend in der Zeit vor der Schule, die Stärkung der Grundschule als der wichtigsten Phase in der Schullaufbahn von Kindern, mehr soziale Gerechtigkeit überall in Deutschland im Blick auf Bildungsbeteiligung und Bildungsstandards und die Verminderung der Risikogruppe. ({36}) Wir brauchen die konsequente Weiterentwicklung der Unterrichtskultur in unseren Schulen mit dem Ziel nachhaltigen Lernens. Wir brauchen die bedarfsorientierte Weiterentwicklung von Ganztagsschulen und die strategische Ausrichtung aller Landeshaushalte auf Bildung und Wissenschaft. Was wir überhaupt nicht brauchen, ist die von der Bundesregierung angezettelte Zuständigkeitsdebatte. Statt mit uns über Inhalte und Konzepte zu sprechen, spricht die Bundesregierung über Zuständigkeit und provoziert einen Streit, der schädlich ist und in der Öffentlichkeit mit Kopfschütteln aufgenommen wird. ({37}) Deshalb muss Schluss sein mit dem Gezänk über Zuständigkeit. Qualität entscheidet sich nicht an Zuständigkeit, sondern entscheidet sich an überzeugenden Konzepten. ({38}) Der Angriff des Bundeskanzlers erinnert an die Rede des früheren Kulturstaatsministers Naumann über „Kulturhoheit als Verfassungsfolklore“. Er geschieht nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“. Er lenkt ab vom desaströsen Ergebnis für die SPD-Länder. Die SPD steht vor einem Desaster und sie will mit einer völlig überflüssigen und schädlichen Zuständigkeitsdebatte davon ablenken. ({39}) Wir streiten nicht über Zuständigkeiten. Sie sind im Grundgesetz geregelt. Wer sie so verändern will wie der Bundeskanzler, der muss sich mit dem Grundgesetz auseinander setzen. Was wie ein populistischer Angriff auf Kultusminister aussieht, ist letztlich ein Angriff auf die Ordnung, wie sie im Grundgesetz festgelegt ist. ({40}) Wir setzen stattdessen auf Konsens über die Inhalte eines Qualitätspaktes in 16 Ländern, der wirklich inhaltlich und konzeptionell internationalen Maßstäben gerecht wird. Ich danke Ihnen. ({41})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile nunmehr das Wort der Bundesministerin für Bildung und Forschung, der Kollegin Edelgard Bulmahn. Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung ({0}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Die PISA-Studie und der PISA-Ländervergleich haben die zentralen Schwächen unseres Bildungssystems aufgedeckt und damit die Bildungspolitik endlich in das Zentrum der politischen Debatte gerückt. Dass die Bildungspolitik endlich im Zentrum der politischen Debatte steht, ist gut und auch notwendig. ({1}) Wir können uns jetzt aber nicht zurücklehnen. Einige haben das leider gemacht und gleichzeitig mit dem Finger auf andere gezeigt. Man kann sich nämlich nicht selbstgefällig auf die Lederhose klopfen und gleichzeitig für das Informatikstudium und die Jobs in der Hightechindustrie Abiturienten und Informatiker aus Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen importieren. ({2}) Damit ich nicht missverstanden werde: Ich habe gar kein Problem, ({3}) die Leistungen und die Erfolge in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen, aber auch in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz anzuerkennen. Wir müssen aber trotzdem der Realität, dass kein Bundesland international in der Spitzengruppe ist, ins Auge blicken. ({4}) Wenn wir nach Modellen für die Verbesserung und Modernisierung unseres Bildungssystems suchen, dann müssen wir uns international an den ersten Plätzen und nicht an den Plätzen 10, 11 oder 9 orientieren. ({5}) Wir müssen in zehn Jahren wieder unter den ersten fünf sein. Das muss unsere Messlatte sein. ({6}) Erlauben Sie mir, hierzu den Leiter der deutschen PISA-Studie, Professor Jürgen Baumert, zu zitieren. In Ministerin Dr. Annette Schavan ({7}) der heutigen Ausgabe der „Zeit“ führt er unter anderem aus: Im Übrigen kann man das beste deutsche Bundesland nur begrenzt am durchschnittlichen Standard einer ganzen Nation messen. Würden wir etwa Bayern mit den Provinzen Kanadas vergleichen, dann bliebe es hinter dem erfolgreichsten Landesteil Alberta um Längen zurück. ({8}) Bayern würde in diesem Wettstreit nur etwas besser abschneiden als die strukturschwächste kanadische Provinz. ({9}) An anderer Stelle führt Professor Baumert aus: In Bayern hat ein Kind aus der Oberschicht bei gleichen Fähigkeiten eine mehr als sechsmal höhere Chance, ein Gymnasium zu besuchen, als ein Kind aus einem Facharbeiter-Haushalt. ({10}) In keinem anderen Bundesland ({11}) schlägt sich die Herkunft so krass in der Bildungslaufbahn nieder. ({12}) So weit Professort Baumert, der Leiter der PISA-Studie. Frau Schavan, wenn Sie das als Modell für ganz Deutschland wollen, dann sage ich: Nein! ({13}) Worum geht es wirklich? Wir müssen unser gesamtes Bildungssystem in Deutschland nach vorn bringen. Wir brauchen Schulen, in denen Leistungen gefordert und gefördert werden. ({14}) Da gibt es gar keinen Dissens. Leistung und Förderung gehören zusammen, sie sind zwei Seiten einer Medaille. Wir brauchen Schulen, in denen Qualität und Chancengleichheit einen gleich hohen Stellenwert haben. Wir wollen die bestmögliche Bildung für alle Kinder in unserem Land und wir wollen, dass alle Kinder in allen Bundesländern die gleichen Bildungschancen haben. ({15}) Unser Ziel ist es, unter die ersten fünf der Bildungsnationen zurückzukommen. Das können wir nur schaffen, wenn wir die notwendigen Reformen gemeinsam anpacken. Es kommt deshalb jetzt darauf an, gemeinsam Wege aus der Krise zu suchen, ohne die Verantwortung der Länder und Schulträger infrage zu stellen. Es geht darum, Bildung und Erziehung bundesweit auf eine neue Grundlage zu stellen und aus den Verkrustungen einer ideologischen, auf Zuständigkeiten fixierten Debatte zu lösen. ({16}) Die Weichen für die Erneuerung des Bildungssystems müssen jetzt und nicht erst in einigen Jahren gestellt werden. Frau Schavan, bisher habe ich keine konkreten Vorschläge von Ihnen dazu gehört, was wir bundesweit tun können und müssen, ({17}) um genau diese Ziele zu erreichen. Ich freue mich, dass Sie das, was ich seit Tagen und Wochen immer wieder fordere - das höre ich hier zum ersten Mal von Ihnen -, heute ausdrücklich unterstützen. Das ist ein Anfang, ein erster Schritt. ({18}) Was wir brauchen, um diese Ziele zu erreichen, sind nationale Bildungsstandards, die für alle Länder gleichermaßen verbindlich gelten. ({19}) Die Qualität unserer Schulen und Bildungseinrichtungen, aber auch die Bildungschancen unserer Kinder dürfen nicht vom Wohnort abhängig sein. Deshalb: Wir brauchen einheitliche Leistungsstandards für Schülerinnen und Schüler. Wir brauchen eine Verständigung über Bildungs- und Erziehungsziele. Wir brauchen verbindliche Vereinbarungen über die Verbesserung der Lehrerausund -fortbildung. Wir brauchen einen gemeinsamen Rahmen für die Sicherung der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schulen. Wenn wir mehr Qualität erreichen wollen, müssen wir unseren Schulen mehr Verantwortung übertragen und sie von bürokratischem Ballast befreien. Ich halte nichts davon, auf die 888. Vorschrift noch eine 889. Vorschrift zu packen. Das macht unsere Schulen nicht besser. Vielmehr muss der Staat die Ziele vorgeben und die Schulen selber müssen gemeinsam mit Lehrern und Eltern entscheiden, wie sie diese Ziele erreichen. Das halte ich für den richtigen Weg. ({20}) Darüber hinaus muss die Einhaltung nationaler Leistungsstandards regelmäßig überprüft werden. Das geht nur mit einer unabhängigen nationalen Einrichtung für Evaluierung, wie sie in den bei PISA erfolgreichen Ländern bereits existiert. Die von der KMK vorgesehenen jeweils landesweit durchzuführenden Orientierungs- und Bundesministerin Edelgard Bulmahn Vergleichsarbeiten sind dazu wichtige Schritte. Sie können aber eine unabhängige bundesweite Evaluation der Bildungseinrichtungen nicht ersetzen. ({21}) Die PISA-Studie hat gezeigt, wie dringend wir genau so etwas brauchen. Wir können es nicht länger zulassen, dass wir erst durch internationale Studien auf Mängel in unserem Bildungssystem hingewiesen werden, sondern wir müssen uns regelmäßig selbst ein objektives Bild über den Stand unserer Bildungseinrichtungen und auch über die Weiterentwicklung unserer Schulen machen. ({22}) Dazu brauchen wir eine nationale Bildungsberichterstattung, die von einem unabhängigen Rat von Bildungsweisen erstellt wird. Wir müssen es schaffen - es gibt ja entsprechende Beschlüsse -, dass wir in der gemeinsamen Bund-Länder-Förderung nicht nach dem Gießkannenprinzip verfahren. Deshalb müssen wir, wie ich gesagt habe, unsere Förderung gezielt auf die zentralen Defizite unseres Bildungswesens ausrichten. Wir brauchen Schulen, in denen unsere Kinder mit Freude und mit Neugier lernen; Schulen, in denen ihr Wissensdurst am Leben gehalten wird; Schulen, in die auch Lehrerinnen und Lehrer gern gehen und wo sie mit Motivation bei der Sache sind; Schulen, in denen Lehrer, Eltern und Schüler ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander haben und in denen Vermittlung von Werten und Wissen selbstverständlich ist - Schulen also, in denen Leistung gefordert wird und in denen man, statt auf Selektion und Auslese zu setzen, alle Kinder nach ihren individuellen Fähigkeiten bestens fördert. Dafür aber müssen wir den Schulen Zeit geben. Wir müssen ihnen nicht nur Zeit geben, sich zu reformieren, sondern wir müssen ihnen auch Zeit geben, die Inhalte zu schaffen. Deshalb sind Ganztagsschulen so wichtig; dort lässt sich das einfach besser erreichen. ({23}) Die Bundesregierung hat deshalb den Ländern angeboten, sie in den nächsten vier Jahren mit insgesamt 4 Milliarden Euro zu unterstützen. Mit dem Programm „Zukunft Bildung“ können rund 10 000 Schulen zu Ganztagsschulen ausgebaut werden. Meine Damen und Herren von der Union, hier müssen Sie jetzt schon einmal Farbe bekennen. Unterstützen Sie nun die Bereitstellung von Haushaltsmitteln für den Ausbau von Ganztagsschulen, so wie wir es in unserem Haushaltsplan für das Jahr 2003 vorgesehen haben, oder nicht? Wenn ich Sie so höre, habe ich manchmal den Eindruck, dass Sie das nicht wollen - nach dem Motto: Weiter so! ({24}) Das aber, meine sehr geehrten Herren und Damen, geht nicht. Für mich sind die PISA-Studien die Chance zu einem gemeinsamen Aufbruch in der Schul- und Bildungspolitik. Dass es gemeinsam gehen kann, haben die Vereinbarungen in der Bund-Länder-Kommission gezeigt. Im Mittelpunkt der verabredeten Maßnahmen steht die flächendeckende Verbesserung der Sprach-, Lese- und Schreibfähigkeiten sowie der mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenz von Kindern. Beschlossen haben wir darüber hinaus eine bessere Förderung von Kindern aus sozial benachteiligten Familien und Migrantenfamilien. Leider haben die Wahlkampfstrategen in der Union diese Entscheidungen nachträglich wieder infrage gestellt. ({25}) Wer auf die PISA-Ergebnisse mit Zuständigkeitsstreitigkeiten reagiert, lieber Herr Merz, der hat den Ernst der Lage nicht erkannt. ({26}) Wir brauchen nationale Bildungsstandards und wir brauchen nationale Bildungsvergleiche. Daran geht kein Weg vorbei; denn wir wollen eine zukunftsweisende Reformpolitik. Dafür warte ich auf ein eigenes Konzept von Ihnen für die Modernisierung unseres Bildungswesens. Wir haben ein solches vorgelegt. Vielen Dank. ({27})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher für die FDPFraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man wundert sich schon etwas darüber, ({0}) dass wir am Ende einer Legislaturperiode erfahren, wie Bildungspolitik gemacht werden soll. Das kann doch wohl nicht sein. ({1}) Man wundert sich aber auch darüber, dass sich solche Erkenntnisse, die etwa die Kultusministerkonferenz seit langem hätte haben können - es gab die TIMSS-Studie -, jetzt plötzlich offenbaren und nun alle wissen, wie es richtig geht. ({2}) Bundesministerin Edelgard Bulmahn Wir hatten doch längst die Gelegenheit dazu, hier die Weichen anders zu stellen. ({3}) Wir diskutieren heute über die Ländervergleichsstudie und führen eine Diskussion über Föderalismus, Vereinheitlichung und über alles mögliche andere. Angesagt ist aber eine Qualitätsverbesserung. Darum geht es, und zwar nach der Ländervergleichsstudie genauso wie vorher. ({4}) Deshalb möchte ich noch einige Punkte ansprechen, die sonst leicht in Vergessenheit geraten. Wir brauchen zunächst eine solide Finanzierung. Wir brauchen mehr Kohle für die Bildung. Daran führt kein Weg vorbei. Das müssen sich alle ins Stammbuch schreiben lassen. ({5}) Wir dürfen Schule und Eltern jetzt nicht allein lassen. Gefragt ist ein Kraftakt, an dem sich alle, Schule, Lehrer und vor allem Eltern und Gesellschaft, beteiligen. Alle müssen jetzt mit ins Boot und ihre Aufgabe erkennen. Wir brauchen natürlich auch ein größeres Angebot an Ganztagsbetreuung. Wir müssen über die Situation von Kindern mit Migrationshintergrund nachdenken. All diese Themen fallen nicht plötzlich weg, nur weil wir jetzt festgestellt haben, dass die Situation in den Ländern unterschiedlich ist. Frau Bulmahn, Sie haben gerade wieder über die Wissensfächer geredet. Wir sollten etwas anderes nicht vergessen: Kreativität, Eigenverantwortung, aber auch Selbstbeherrschung und Teamfähigkeit. Der Wert der musischen und künstlerischen Bildung darf in dieser Diskussion nicht einfach vergessen werden. ({6}) Die genannten Punkte gelten ohne Anspruch auf Vollständigkeit für alle Bundesländer. Aber in der Tat, Frau Schavan, müssen nach der PISA-Ländervergleichsstudie jetzt neue Fragen gestellt werden. ({7}) Dazu gehören: Wie schaffen wir die grundgesetzlich verbürgte Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen? ({8}) Wie gewährleisten wir Mobilität zwischen den Bundesländern? Vor allem aber muss die Frage gestellt werden: Wie kommen die schwächeren Länder aus dem Keller und wie kommen alle Bundesländer hinsichtlich der Bildungsqualität einen erheblichen Sprung nach vorn? Eine Antwort vorweg: Durch die Forderung des Kanzlers nach einem nationalen Rahmengesetz für die Schule sicherlich nicht! Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten Anfang der 70er-Jahre ein nationales Rahmengesetz gehabt. Wo wären wir mit unserem Schulsystem heute? Ich will die Frage gar nicht beantworten. Die FDP hat einen anderen Ansatz. Wir wollen die Freiheit und den Wettbewerb im Bildungswesen stärken. Das ist der entscheidende Ansatz. ({9}) Dazu gehört zuallererst die Gewährung einer weitgehenden Personal- und Budgethoheit der einzelnen Schulen. Darüber hinaus aber muss es für die einzelne Schule möglich sein, weg von Vorgaben der Landesregierung zu kommen und ihr eigenes Profil zu entwickeln. Man muss der Schule mehr Freiheit geben. Dazu gehört auch - das wurde noch gar nicht angesprochen -, dass wir die Privatschulen gleichberechtigt neben den öffentlichen Schulen fördern. ({10}) Privatschulen sind in ihrer Reaktion oft schneller. Der Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Schulen, aber auch der Wettbewerb zwischen den öffentlichen Schulen ist ein wesentliches Element. Liebe Frau Schavan, damit dieser Wettbewerb tatsächlich funktioniert, brauchen wir Standards, die länderübergreifend anerkannt und überprüft werden. Das war eine FDP-Forderung. Wir freuen uns, wenn sie jetzt von einigen übernommen wird. ({11}) Nun kommt der Ruf nach der Kultusministerkonferenz. Das Einstimmigkeitsprinzip geht offenbar so weit, dass die beiden Länderministerinnen im Partnerlook erscheinen. ({12}) Sie müssen sich aber sagen lassen: Die Kultusministerkonferenz hat in ihren langen Jahren des Bestehens die Probleme offenbar nicht gelöst; sie ist vielmehr Teil des Problems. ({13}) Die Kultusministerkonferenz hat bewiesen, dass sie die Probleme, die uns durch PISA schwarz auf weiß präsentiert wurden, nicht lösen konnte. Deshalb können wir nicht weiter auf die Kultusministerkonferenz setzen, sondern wir müssen auf den Wettbewerb zwischen den Schulen, auf Autonomie, auf die Einhaltung von Standards und deren Überprüfung durch eine bundesweit tätige Qualitätssicherungsagentur setzen. Dazu brauchen wir einen nationalen Bildungsbericht, der uns die notwendigen Daten zur Verfügung stellt. ({14}) Ich fasse zusammen: Weder mit nationaler Gleichmacherei noch mit staatlicher Gängelung befreien wir unser Bildungssystem aus seiner Schieflage. Wir setzen auf Freiheit, Autonomie und Wettbewerb und wir setzen auf mehr Kohle für die Bildung. Das ist der Weg, den wir miteinander gehen sollten. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht der Kollege Reinhard Loske.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Burgbacher, wenn ich Ihren zustimmungsfähigen Ausführungen lausche und das dann mit dem segensreichen Wirken Ihres Konteradmirals in Hamburg vergleiche, dann fallen mir schon gewisse Unterschiede auf. ({0}) Sie reden von „mehr Kohle“. Offenbar kommt aber etwas ganz anderes heraus: Es ist noch keine zwei Jahre her, als Herr Möllemann sozusagen mit Kohlenstaub in den Mundwinkeln heldenhaft für die deutsche Kohle gekämpft hat. Auch das haben wir in bester Erinnerung behalten. ({1}) Insofern ist das, was Sie hier erzählen, gar nicht so schlüssig. Jetzt aber will ich - in den wenigen Redeminuten, die ich habe - zum Thema kommen. Zunächst einmal: Ich glaube, dass die Ergebnisse von PISA-E für niemanden ein Grund zur Selbstgefälligkeit sind. ({2}) Es ist sicherlich erfreulich, dass die Schüler aus Bayern leicht über dem OECD-Durchschnitt liegen. Aber im internationalen Vergleich liegen sie eben sehr weit hinter der Spitzengruppe. Wir können keineswegs damit zufrieden sein, dass die soziale Durchlässigkeit unseres Bildungssystems so gering ist. Das ist kein Ruhmesblatt für uns. Besonders schlecht sieht es in Bayern aus; das muss man ganz klar sagen. Diese geringe soziale Durchlässigkeit können wir uns beim besten Willen nicht zum Vorbild nehmen. ({3}) Um es einmal in der Sprache des Sports auszudrücken: So sehr sich Bayern über seinen Spitzenplatz in der zweiten Liga freuen darf, so traurig auch Bremen über die rote Laterne sein muss, umso mehr gilt es, dass wir alle gemeinsam besser werden. Wir als Bundesrepublik Deutschland müssen den schnellen Wiederaufstieg schaffen. Daran sollten wir jetzt arbeiten. Es ist nicht die Zeit der kleinen Münze, sondern die Zeit der großen Herausforderungen und des beharrlichen Arbeitens. Wir werden in zwei Jahren den nächsten Test haben. Dann werden wir sehen, wer besser geworden und wer stehen geblieben ist. Ich will nun jenseits des Wahlkampfgeklingels zu ein paar inhaltlichen Aussagen kommen. Wo besteht relativ hohes Einvernehmen? Wir sind uns darüber einig - das kann man als ersten Punkt summarisch festhalten -, dass die soziale Auslese verhindert werden muss und dass wir Chancengerechtigkeit sicherstellen wollen. Wir wollen und können uns keine hoffnungslosen Fälle leisten. Darüber sind wir uns einig und das ist gut so. Es ist mittlerweile auch - dies ist der zweite Punkt - ein gewisses Einvernehmen darüber vorhanden, dass wir zentrale Standards brauchen. Das sollte man nicht infrage stellen. Möglicherweise sollten diese gar durch Zentralprüfungen gesichert werden. Aber zentrale Qualitätsstandards, die regelmäßig evaluiert werden, sowie Freiheit und Autonomie sind keine Widersprüche, sondern zwei Seiten einer Medaille. Dies gehört zusammen. Das sollten wir nicht gegeneinander, sondern miteinander diskutieren. Man kann also sagen: klare Ziele, aber Pluralität der Wege. Das sollte unsere Richtung sein. ({4}) Einvernehmen besteht, wenn man den Presseverlautbarungen folgt, auch darin - dies ist der dritte Punkt -, dass wir mit der frühkindlichen Bildung früher anfangen, schon im Kindergarten das Lernen fördern und den Bildungshunger unserer Kleinsten im Kindergarten stillen müssen. Das hat Auswirkungen auf die Ausbildung unserer Pädagoginnen und Pädagogen. Wir müssen unsere Kindergärten stärker zu Einrichtungen der frühkindlichen Bildung machen. Wir brauchen viertens einen größeren Praxisbezug in der Lehrerausbildung. Die diagnostischen Fähigkeiten der Lehrer müssen gestärkt werden, damit sie erkennen, wo die Stärken und Schwächen eines Kindes liegen, und - das ist ebenfalls wichtig - gezielte Förderung betreiben können. Des Weiteren brauchen wir - darüber wird Marieluise Beck gleich sprechen - frühe Hilfen für Einwandererkinder beim Deutschlernen und mehr Ganztagsschulen. Diese dürfen natürlich nicht reine Verwahranstalten sein und nur dem Zweck dienen, die Kinder „loszuwerden“, sondern müssen eingebunden werden in ein pädagogisches Konzept, bei dem sich Phasen der Ruhe, der Anstrengung und der Konzentration über den Tag verteilt abwechseln. Das heißt, wir haben im Wesentlichen kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit. Deshalb müssen wir nicht nur reden, sondern handeln. Was das Thema Bund und Länder angeht, schwingt unterschwellig mit - auch bei Frau Schavan -, ({5}) dass die Kultusministerkonferenz prima ist und eigentlich alles gut gemacht hat. Das trifft aber nicht zu. Die Kultusministerkonferenz hat in der Vergangenheit Kleinstaaterei betrieben. Das hat uns allen nicht gut getan. Diese Kritik muss auch deutlich ausgesprochen werden. ({6}) Was die zukünftige Rolle des Bundes betrifft, sind wir in der Koalition uns über zwei Maßnahmen einig, die wir durchsetzen wollen und auch werden. Erstens brauchen wir einen Sachverständigenrat für Bildung und eine regelmäßige nationale Bildungsberichterstattung, um klare Vergleiche zu bekommen und zu erfahren, an welcher Stelle wir stehen und was wir erreichen müssen. Diese Maßnahme werden wir durchsetzen. Zweitens wollen wir eine Anschubfinanzierung für die Ganztagsschulen. Ganztagsschulen sind keine Patentlösung, aber PISA zeigt, dass die Ergebnisse dort, wo Ganztagsschulen zahlreich vertreten sind, durchschnittlich besser sind. Deswegen setzen wir uns für die Förderung von Ganztagsschulen ein. Ich würde mich freuen, wenn die Union diese beiden bundespolitischen Maßnahmen unterstützen würde. ({7}) Wenn über die bundespolitischen Kompetenzen diskutiert wird, sollten wir darüber nachdenken - wir als Grüne wollen das jedenfalls -, ob der Bund in der nächsten Legislaturperiode nicht Mittel für den frühkindlichen Bereich bzw. für die Sprachförderung zur Verfügung stellen sollte. Denn in diesem Bereich sind die Ergebnisse besonders schlecht ausgefallen. Wir brauchen - Stichwort Einwanderungsgesellschaft - eine Politik des Bundes für die gezielte Integration von Migrantinnen und Migranten. In diesem Zusammenhang haben Sie von der Union Nachhilfeunterricht dringend nötig. Das haben Sie bis heute nicht erkannt. ({8}) Mein letzter Punkt: Ich meine, dass auf Bundesebene positive Modellversuche - wie der Modellversuch SINUS zur Verbesserung des naturwissenschaftlichen Unterrichts oder das Programm zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung - stärker gefördert werden müssen. Vonseiten des Bundes müssen diese Modellprojekte gezielt gefördert und muss anschließend versucht werden, die guten Erfahrungen auf die gesamte Bildungslandschaft auszudehnen. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Ich meine, wir sollten uns vor Augen führen, dass wir zwar nicht gut genug sind, aber das nötige Potenzial besitzen. Wir können und sollten besser werden. Deshalb sollten wir das gemeinsam angehen. Danke schön. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht die Kollegin Maritta Böttcher.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Der Sprengsatz kam nachts per E-Mail“, „Niedersachsen abgeschlagen“, „NRW ist Mittelmaß“, „Bayern klar an der Spitze“ lauteten einige Schlagzeilen der letzten Tage. Die Rede ist nicht etwa von Terror oder Fußball. Die Rede ist von der PISA-Vergleichsstudie der deutschen Bundesländer. Darin soll es bekanntlich um Bildung gehen. Immerhin haben wir das Material nun auch offiziell, nachdem die CSU-Strategen schon seit zwei Wochen zum Bildungswahlkampf rüsten. Ob das deutsche Bildungssystem davon besser wird, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. ({0}) Was haben Schülerinnen und Schüler davon, wenn sich Länderminister in Siegerlaune präsentieren oder Parteien Glaubenskriege von vorgestern führen, liebe Frau Volquartz? Was haben Schulen davon, einen Wettlauf gewonnen oder verloren zu haben, wenn sich im Gefolge zwar Politiker profilieren, aber ansonsten alles beim Alten bleibt? Wahlkampf auf dem Rücken der Schülerinnen und Schüler - nein danke! ({1}) Ich meine, weder PISA noch PISA-E haben es verdient, in provinziellen Wahlkampfauseinandersetzungen und bildungspolitischer Kleinstaaterei unter die Räder zu kommen. ({2}) Es geht nicht um Gewinner und Verlierer, ({3}) sondern um die sachgerechte Nutzung von Erkenntnismöglichkeiten, die in solchen Vergleichen liegen. Dazu bieten die Studien genügend Material und auch das Instrumentarium für vernünftige bildungspolitische Schlussfolgerungen. Man muss sie nur lesen können, die Befunde ernst nehmen und Schlussfolgerungen ziehen wollen. Bereits der internationale Vergleich hat im Mittel unterdurchschnittliche Leistungen, einen deutlichen Abstand zur Spitze, eine ungewöhnliche Leistungsstreuung und einen besonders stark ausgeprägten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Leistung zutage gefördert. Genau das wird durch PISA-E für alle Länder bestätigt. Statt sich jetzt in der Interpretation der teilweise unterschiedlichen Ausprägungsformen dieses Grundbefundes zu verzetteln, gilt es, mit Reformbemühungen eben dort anzusetzen. Eine möglichst gleichmäßige Förderung aller Schülerinnen und Schüler gelingt hierzulande nicht. Höhere Schulabschlüsse setzen vor allem eine Herkunftsfamilie der oberen Dienstklasse voraus. Das Bildungssystem fördert weniger als es selektiert. Auch das gilt für alle Länder. Also niemand, weder eine Landesregierung noch eine Partei, hat das Erfolgsrezept in der Tasche. Klar ist aber: Die Bundesrepublik Deutschland ist weit davon entfernt, ihren Bürgerinnen und Bürgern gleiche Bildungs- und Lebenschancen zu geben. Auch das zeigt PISA-E: Die Differenzen zwischen den einzelnen Bundesländern sind sowohl hinsichtlich des Leistungsniveaus als auch hinsichtlich der Bildungsbeteiligung erheblich. Schon deshalb muss die überfällige Bildungsreform von Bund und Ländern gemeinsam in Angriff genommen werden. Wir brauchen eine gründliche Auswertung der vorliegenden Daten, der Vorzüge und Nachteile in den einzelnen Bundesländern sowie der internationalen Erfahrungen. Diffamierungen wie „Kuschelpädagogik“ oder „Leistungsstress“ helfen da nicht weiter. ({4}) Einbezogen werden müssen ebenfalls die offenkundigen sozialen Unterschiede zwischen den Ländern. Wirtschaftskraft, Arbeitsmarktlage und Sozialstruktur der Bevölkerung sind wichtige Einflussfaktoren, wenn es um die Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen geht. Nicht zuletzt sind die gravierenden Unterschiede in den Schulsystemen, die immerhin zu Differenzen von bis zu zweieinhalb Jahren in der Unterrichtsversorgung führen, auch durch den Föderalismus nicht mehr zu rechtfertigen. Alles, was jetzt im Einzelnen vorgeschlagen und unternommen wird, sollte sich an dem prinzipiell notwendigen Neuanfang in der Bildungspolitik orientieren. Wenn Deutschland das vom Kanzler gesteckte Ziel erreichen soll, in zehn Jahren unter den ersten fünf Bildungsnationen zu sein, muss die bestmögliche individuelle Förderung aller zum obersten Prinzip werden. Das bedeutet: Schluss mit Selektion. Tests, die die selektiven Grundstrukturen verfestigen, werden auf keinen Fall weiterhelfen. Wenn der PISA-Impuls nicht verpuffen soll, müssen die notwendigen Maßnahmen in zentralen Problemfeldern wie Lesefähigkeit, Sprachförderung, Lehrerbildung, Ganztagsschulen, frühkindliche Entwicklung in ein Gesamtkonzept zur Qualitätsentwicklung eingebunden werden. ({5}) - Natürlich gehört auch Qualitätskontrolle dazu, Herr Dr. Friedrich. ({6}) Dazu gehört ebenfalls eine entsprechende Ressourcenausstattung. Nur in diesem Kontext machen nationale Bildungsstandards oder ein inzwischen auch vom Kanzler gefordertes Schulrahmengesetz Sinn. Wenn der Bildungs-TÜV eine neue Aussortiermaschine und nicht ein Frühwarnsystem wird, wird sich nichts ändern. ({7}) Standards und auch ihre regelmäßige Überprüfung sind nur dann in Ordnung, wenn daraus kein neues Monster bürokratischer Knebelung entsteht. Schulen brauchen Freiräume und eine Ausstattung, die das Nutzen der Freiräume möglich macht. Qualität in der Pädagogik kann weder befohlen noch herbeigetestet werden; dafür braucht es die Motivation und Partizipation der Betroffenen. Zwischen den 16 deutschen Bildungskleinstaaten liegen Welten. Offensichtlich hat der Föderalismus bei der Herstellung von Chancengleichheit in Sachen Bildung versagt. Wagen wir endlich einen Neubeginn! ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Jörg Tauss das Wort. Er spricht für die SPD-Fraktion. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Friedrich, ich bin immer anständig; so weit kennen Sie mich doch. Sie müssen aber schon aushalten, dass man den Kleinmut anspricht, mit dem Sie hier darüber debattieren, wer wie warum im unteren Drittel plaziert ist. ({0}) Liebe Frau Schavan, Sie führen Zuständigkeitsdiskussionen. Es findet Verantwortungsschieberei statt. Sie sollten jetzt wirklich einmal sagen, was Sie eigentlich wollen; denn das ist auch in der zweiten Debatte, in der Sie hier als Mitglied des Kompetenzteams reden, nicht deutlich geworden. Ich will ein Beispiel nennen. Der Bundeskanzler hat beispielsweise gesagt: Wir machen es nicht wie Sie damals bei den Kindergärten. Sie haben Gesetze auf Bundesebene gemacht und hinterher gesagt, wie es finanziert wird, sei wurscht. Er hat gesagt: Wir stellen das Geld für Ganztagsschulen zur Verfügung, weil wir wissen, dass in allen Ländern, die bei der Studie gut abgeschnitten haben, eine vernünftige Ganztagsbetreuung stattfindet. Was ist von Ihnen gekommen? - Eine kleinliche Debatte innerhalb von CDU und CSU. Erst wollten Sie das Geld überhaupt nicht, Frau Schavan. Dann gab es Widerstand aus Ihren eigenen CDU-regierten Bundesländern. Insbesondere im Osten haben sie gesagt: Seid ihr mit dem Klammerbeutel gepudert? Das ist ein hervorragendes Angebot des Bundes. Nehmt es wahr! Dann haben Sie gesagt: Jetzt machen wir doch vielleicht mit. Sie sind in Ihren eigenen Reihen unter Druck geraten. Mit diesem Auf und Ab findet Ihre bildungspolitische Debatte statt. Das ist Fakt und darüber haben wir zu reden. ({1}) Frau Schavan, eines nehme ich Ihnen wirklich übel. Ich nehme Ihnen nicht übel, dass Sie jetzt versuchen, ein bisschen Kompetenz darzustellen. Das ist Ihr Job. Ich hätte Sie anstelle von Herrn Stoiber nicht berufen; darüber haben wir schon diskutiert. Aber dass Sie nicht die Wahrheit sagen, nehme ich Ihnen übel. Sie haben hier im Bundestag beispielsweise behauptet, die SPD-regierten Länder hätten PISA verhindern wollen. Wir haben noch einmal nachgeschaut, Frau Schavan. Es stimmt nicht. Es war Rheinland-Pfalz. Herr Zöllner hat den Antrag gestellt. Ich finde, Sie sollten jetzt auch die Größe besitzen, sich für diese Falschaussage hier im Deutschen Bundestag zu entschuldigen. ({2}) Nun ist ja bekannt, dass Wahlkampfzeiten die Zeiten von Vereinfachung sind. Ich finde das bedauerlich, weil für mich als Demokrat Wahlkampf nichts ist, Frau Böttcher, was in irgendeiner Form negativ wäre, sondern weil Wahlkampf die Chance bietet, tatsächlich über Konzepte zu reden und um die besseren Lösungen zu ringen. Also machen Sie es nicht in dieser Form. Was Sie machen, ist Wahlkampfgetöse. Das werfe ich Ihnen vor. Es war doch kein Zufall, dass Sie entgegen den Absprachen an einem Sonntagmorgen um 3 Uhr die PISAErgebnisse veröffentlicht und in Ihrem Sinne interpretiert haben, weil Sie genau wussten, dass Ihre Interpretationshoheit weg ist, wenn Sie nicht rechtzeitig früh entgegen den Absprachen auf den Markt gehen Jetzt reden wir mal über das, was Sie hier erzählen. Sie erzählen, Bayern und Baden-Württemberg seien Spitze. Ich will doch überhaupt nicht leugnen, dass es an der einen oder anderen Stelle auch hier erfreuliche Lichtblicke gibt. Ich selbst bin in Baden-Württemberg zur Schule gegangen. Das erfreuliche Ergebnis sehen Sie vor sich. ({3}) Aber Ihr Land, Frau Schavan, ist eben an keiner Stelle Spitze. Das ist Ihr Problem. In der Lesekompetenz bei den Gymnasien liegen Sie hinter Bayern, in der Mathematik liegen Sie hinter Schleswig-Holstein und hinter Mecklenburg-Vorpommern. Ich halte es für eine Sauerei, wie Sie über andere Länder herziehen. Baden-Württemberg liegt in der Mathematik im Vergleich hinter Mecklenburg-Vorpommern. Was Sie hier tun, ist unanständig gegenüber anderen Bundesländern. ({4}) In den Naturwissenschaften, Frau Schavan, liegen Ihre Schülerinnen und Schüler in den Gymnasien hinter Schleswig-Holstein. Ich sage Ihnen: Wenn Ihre Mathematikreform kommt, die Einheitsprimitivmathematik, die Sie in Baden-Württemberg einführen wollen, wird sich dieser Abstand noch weiter vergrößern. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, es ist sinnvoll, dass wir ein bisschen stärker differenzieren, was in der Studie steht. Es geht um ein ganzes Bündel von Ursachen. Die Studie legt - das sagen die Autoren der Studie - eben nicht dar - lieber Herr Rachel, das sage ich, weil Sie es vorher gerade wieder im Fernsehen behauptet haben -, dass die Ursachen in der jeweiligen Landespolitik liegen, sondern dass sie vor allem in strukturellen Unterschieden der Bundesländer zu sehen sind. Wir sollten darauf achten, dass diese strukturellen Unterschiede in den Bundesländern nicht zulasten der Kinder und Jugendlichen gehen. Genau deshalb hat der Bund gesagt: Es ist eine nationale Aufgabe, an diesem Punkt etwas zu ändern, und deshalb will der Bund auch hierfür Verantwortung übernehmen. ({5}) Darüber sollten wir miteinander reden. Wir haben die Bildungsberichterstattung angeregt. Herr Westerwelle, der zu dem Thema immer Sonntagsinterviews gibt, ist schon wieder weg. Keine bildungspolitische Debatte mit Westerwelle. Wo ist er denn? ({6}) - Ich bleibe bei der Wahrheit. Ich sehe ihn schon wieder nicht. In der „Welt am Sonntag“ hat er Bildungsberichterstattung gefordert. Frau Flach, ich habe Sie vorher gefragt. Sie haben sich bei unserer Forderung nach Bildungsberichterstattung ja wenigstens der Stimme enthalten. Das ist okay, das würdigen wir auch. Aber stellen Sie bitte nicht solche Forderungen, sondern machen Sie es gemeinsam mit uns. ({7}) Ich kann Ihnen nur sagen: Was Sie hier im Zusammenhang mit PISA tun, ist provinziell, das verstellt und verhindert den Blick auf tatsächliche Ursachen und Zusammenhänge. Frau Schavan, an Ihre Adresse gerichtet möchte ich Peter Ustinov zitieren. Er hat wörtlich gesagt: Bildung ist wichtig, vor allem wenn es gilt, Vorurteile abzubauen. ({8}) Wenn man schon ein Gefangener seines eigenen Geistes ist, kann man wenigstens dafür sorgen, dass die Zelle anständig möbliert ist. Möblieren Sie anständig in Baden-Württemberg! Dann halten wir weiterhin Ihre interessanten bildungspolitischen Debatten aus. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe der Kollegin Angelika Volquartz für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.

Angelika Volquartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Tauss, Lautstärke ersetzt nun einmal nicht Qualität. ({0}) Ihre Rede war wieder ein hervorragender Beweis dafür. Nachdem ich die Beiträge von Rot-Grün gehört habe, kann ich nur feststellen: Nackte Angst und nichts weiter ist Ihr Begleiter in dieser Debatte. ({1}) Frau Bulmahn, wenn Sie heute, am 27. Juni 2002, feststellen, dass die Bildungspolitik endlich in das Zentrum der bildungspolitischen Debatte gerückt ist, ({2}) dann muss ich Sie allerdings fragen: Wo sind Sie eigentlich in den letzten Jahren gewesen? Was haben Sie sowohl als Landesvorsitzende der SPD in Niedersachsen als auch als Bildungspolitikerin eigentlich geleistet? ({3}) Ihre Antwort auf diese Frage muss lauten: Nichts. Anderenfalls würden Sie nun nicht sagen, dass die Debatte heute beginnt. ({4}) Herr Tauss, es gibt immer eine Wahrheit. ({5}) Wahrheit ist, dass die CDU-Fraktion im SchleswigHolsteinischen Landtag nach Veröffentlichung der TIMSSStudie einen Antrag gestellt hat - Herr Rossmann wird sich erinnern -, mit dem auf Vergleichbarkeit der Leistungen abgehoben wurde. Dieser Antrag ist von Rot-Grün in Schleswig-Holstein abgelehnt worden. ({6}) - Am Gymnasium. Erst als die Kultusministerkonferenz wenige Wochen nach der Einbringung des CDU-Antrages gesagt hat, dass wir diese Vergleichbarkeit herstellen müssen, hat Rot-Grün in Schleswig-Holstein reagiert. Vorher hat man dort wörtlich gesagt: Abfragbares, vergleichbares Wissen als Leistung zu deklarieren, greift zu kurz. Das war die Meinung der Sozialdemokraten und der Grünen in Schleswig-Holstein. ({7}) Um die Lesekompetenz und die vernachlässigte Spracherziehung zu stärken, brauchen wir aber nicht nur die Politik und nicht nur die Schule, ({8}) sondern auch Eltern, die den Kindern wieder vorlesen und mit ihnen sprechen müssen. Wir brauchen insgesamt eine Erziehungsoffensive. Ohne Erziehungsoffensive gibt es keine Bildungsoffensive. Dessen muss man sich bewusst sein. ({9}) Außerdem brauchen wir eine Stärkung der Grundschulen. Sie müssen sich vor Augen führen, dass der Wortschatz der Kinder in den Grundschulen auf 700 Wörter zurückgegangen ist. Wir müssen die Kinder ab der ersten Klasse an die Prinzipien Anstrengung sowie Leistung gewöhnen und wir müssen uns wieder auf die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen besinnen. Diese Kulturtechniken zunächst einmal hintanzustellen und der „Kuscheleckenpädagogik“ Priorität einzuräumen war ein ideologisches Mittel der Sozialdemokraten und der Grünen. ({10}) - Wahrheiten sind manchmal problematisch. Ausländerkinder müssen selbstverständlich besser integriert werden. Auch auf diesem Gebiet sind Bayern und Baden-Württemberg beispielhaft. Die deutsche Sprache muss als Fremdsprache der ausländischen Kinder mehr gefördert werden. ({11}) - Herr Tauss, in Schleswig-Holstein findet das nahezu überhaupt nicht mehr statt. Sie sollten schon in die unionsregierten Länder schauen. ({12}) Wir brauchen aber nicht nur in diesen Fragen eine Veränderung, sondern auch in der Lehrerbildung. Die Lehrerbildung muss stärker darauf abzielen, Schwächen der Kinder zu erkennen und dadurch die Schwächen der Kinder zu beseitigen. Wir brauchen aber keine flächendeckende Einführung von Gesamtschulen. ({13}) Frau Bulmahn, eine komplette Verstaatlichung der Erziehung ist nicht wünschenswert. Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuung sollen für Kinder mit problematischem Familienhintergrund und für Kinder mit berufstätigen Müttern angeboten werden. ({14}) Vor allem aber, Herr Tauss, brauchen wir ausreichenden Unterricht in den Schulen. Man muss sich da doch fragen lassen, warum in Schleswig-Holstein ein Kind während der Grundschulzeit ein komplettes Jahr weniger Unterricht hat als in Bayern und warum die Hauptschüler in Schleswig-Holstein statt 30 Unterrichtsstunden 25 pro Woche haben. Diese Beispiele zeigen: Es geht den Schülern und Schülerinnen in den Grund- und Hauptschulen in Bayern und Baden-Württemberg einfach besser als beispielsweise in Schleswig-Holstein. Angesichts dieser Situation hilft es nicht weiter, wenn der Kanzler und, in seinem Kielwasser, die Bundesbildungsministerin Zuflucht zu einem überfallartigen Entreißen der Länderkompetenzen nehmen. ({15}) Da helfen nur mehr Qualität und mehr Unterricht, aber kein nackter Opportunismus ({16}) und vor allen Dingen nicht eine Bundesregierung, die nach dem Motto handelt: Hauptsache eine Reform; egal, was dabei herauskommt. Das ist das Credo, das Sie seit Jahrzehnten praktiziert haben. Wir brauchen weiterhin föderale Strukturen. Bester Beleg dafür ist der erfolgreiche föderale Weg in Kanada, das im internationalen Vergleich in der Spitzengruppe liegt. Wir brauchen auch die Erkenntnis, dass sich die Einstellung der Gesellschaft insgesamt zur Bildung verändern und sie an dieser Diskussion beteiligt werden muss. Wir brauchen auch Eliten in unserer Nation; wir müssen die Menschen begabungsgerecht fördern und fordern.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Angelika Volquartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Freude und Leistung widersprechen sich nicht, sondern bedingen einander. ({0}) Das ist unser Motto. Danke. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Ernst Rossmann.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle mir vor, Bildungsforscher aus Finnland, Bildungspraktiker aus Kanada würden diese Debatte mitverfolgen. Sie würden sie inhaltlich nicht verstehen, sondern nur als Ausdruck der Misere ansehen, die wir in Deutschland haben. Nachdem uns von PISA International der Spiegel vorgehalten worden ist, suchen wir jetzt wieder die Zuflucht zu dem, was mit die Ursache gewesen ist, nämlich zu kleinkariertem föderativem Streit und zu föderativer Genügsamkeit, die wir in der Vergangenheit hatten. ({0}) In dieser Debatte darf zwar das, was in einigen Ländern positiv festgehalten wurde, nicht weggewischt werden, es muss aber auch daran erinnert werden, was der eigentliche Bezugspunkt ist. Der Bezugspunkt für Bildungsreformen in Deutschland darf nicht PISA Deutschland sein, sondern muss PISA International bleiben. ({1}) Das sollten wir hier als Erstes festhalten. Ein nationaler Bezugspunkt ist auch deshalb wichtig, weil er das Ganze und nicht nur Teile mit in den Blick nimmt. Ich will nicht nachkarten, aber wir hatten eine Chance: Das war der nationale Bildungsgipfel 1992. Es ist eigentlich bedauerlich, dass das Zeichen, das damals gesetzt wurde, versandet ist. Vor diesem Hintergrund bleibt nur die Chance, mit einem nationalen Aufbruch überall wieder die Kräfte zu mobilisieren. Wir können uns darüber freuen, dass das vorbereitet wurde, jetzt muss das aber auch entsprechend geschehen. ({2}) Ein zweiter Punkt: Es ist auch wichtig, sich jetzt nicht nur auf die Schulpolitik zu beziehen, so wichtig das momentan erscheinen mag. Auch bei dem damaligen Bildungsgipfel und in den Vorbereitungen des Forums Bildung werden ja von der frühkindlichen Pädagogik, die bisher aus der schulischen Perspektive ausgeblendet war, bis hin zur Weiterbildung alle Bereiche angesprochen. An dieser Stelle möchte ich noch einmal dafür werben, auch bei Ihnen, Frau Schavan, dass Linien durchgehalten werden. Sie haben ja im Zusammenhang mit Schulbildung und Weiterbildung, aber auch Bildung generell einen Sachverständigenrat Bildung in die Diskussion eingebracht, analog zum Sachverständigenrat Wirtschaft und zum Sachverständigenrat für Umweltfragen. Darin liegt nämlich eine Chance, sich national nicht nur für Teile, sondern für das Ganze den Spiegel vorzuhalten. Ich habe fast die Sorge, dass wir eigentlich jetzt schon einen internationalen Vergleich in Bezug auf frühkindliche und berufliche Bildung sowie Hochschul- und Weiterbildung brauchen. Deshalb werben wir dafür, dieses Instrument im Konsens zu schaffen. Ein dritter Punkt: Brauchen wir Wettbewerb oder Vergleich, wenn es darum geht, etwas weiterzuentwickeln? Ich plädiere dafür, dass wir uns im Vergleich und nicht im Wettbewerb neu orientieren. ({3}) - Ich erläutere es Ihnen gern an zwei Beispielen. Man kann jetzt dafür plädieren, dass Schulen mehr Gestaltungsfreiheit bekommen sollen. Diese Gestaltungsfreiheit müssen sie aber im Hinblick auf die verschiedenen Voraussetzungen bekommen, unter denen sie arbeiten. ({4}) Wenn am Ende nämlich herauskommt, dass sich die Grund- und Hauptschule oder die Realschule in Hamburg-St. Pauli in den Ergebnissen mit einer Schule in Hamburg-Blankenese vergleichen muss, dann braucht sie gar nicht erst anzutreten. Sie kann aber bei einem Vergleich der didaktisch-methodischen Zugänge oder der Organisation des Umfeldes antreten. Im Bereich der Schulabschlüsse und des Outputs kann sie sich nicht messen. Deswegen ist die Wettbewerbslatte zu einseitig. Gerade wenn man für institutionelle Gestaltungsfreiheit ist, ist der Vergleich, das Voneinander-Lernen, wie man sich in einer Bildungseinrichtung entwickelt, der entscheidende Bezugspunkt. ({5}) Dasselbe gilt unseres Erachtens im Hinblick auf die Bundesländer: Ist dort das Leitmotiv der Zukunft die Kooperation oder die Konkurrenz? Wir sind dafür, es als kooperatives Verhältnis anzulegen, wobei der Bund in die Kooperation einzubinden ist. Nur mit einer Kooperation mobilisiert man alle Kräfte. ({6}) Dies ist die Nagelprobe, die auch die Öffentlichkeit beobachten wird: Bekommen Bund und Länder zusammen den Ausbau der Ganztagsschulen hin? Man muss auch einmal festhalten, was unstreitig ist. Uns ist dies deshalb so wichtig, weil es sich hier um ein freiwilliges Angebot handelt, das die Länder jetzt zusammen mit dem Bund ausgestalten können, und zwar möglichst qualitativ hochwertig, zielgerichtet und auf mehrere Nutzen ausgerichtet. Weshalb schaffen wir es zum Beispiel noch nicht, im Bereich der Grundschulen die Elementarförderung, die Basisförderung und die stärkere Integrationswirkung auch in Bezug auf zugewanderte Kinder und Jugendliche sowie auf Menschen aus sozial entfernteren Bildungsschichten zu vereinigen und dies in das Zentrum einer gemeinsamen Initiative von Bund und Ländern zu rücken? Hierzu müssen wir wirklich einen Plan entwickeln. ({7}) Dies würde eine andere Qualität in die Schule hineinbringen, in der dann andere Kompetenzen - auch durch das Umfeld - aktiviert werden könnten. Unsere Hoffnung ist, dass Bund und Länder in einem kooperativen Verhältnis ein Projekt der nationalen Bildungsanstrengung entwickeln. Dazu sollten wir das aufnehmen, was Johannes Rau zum Abschluss des Forums Bildung gesagt hat: Es geht jetzt um wirkliche Veränderung, um neues Gestalten, nicht aber um kleinkariertes Vergleichen von Ergebnissen, hinsichtlich deren wir uns ohnehin mit besseren Vorbildern messen müssen. Danke schön. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Thomas Rachel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst bringe ich meine Freude zum Ausdruck, dass mit Frau Schavan und Frau Hohlmeier zwei Kultusministerinnen der Union hier heute anwesend sind. Zugleich frage ich, wo eigentlich die SPD-Kultusminister sind. ({0}) Offensichtlich wussten die SPD-Kultusminister, warum sie nicht gekommen sind. Frau Bundesbildungsministerin Bulmahn hat öffentlich gefordert - das war eine knallige Aussage -, dass im Wahlkampf nicht über Bildung gesprochen und debattiert werden soll. ({1}) Es ist schon ein besonderes Amtsverständnis, wenn eine Bildungsministerin das Thema Bildung in der öffentlichen Debatte zum Tabu erheben will. ({2}) Das Gegenteil ist notwendig: Die Ergebnisse der PISA-EStudie sind, so sehr sie Sie auch schmerzen, Anlass für grundlegende Weichenstellungen in der Schulpolitik. ({3}) Die nationale PISA-Studie ist eine Bankrotterklärung für die Schulpolitik der Sozialdemokraten in Deutschland. ({4}) Dort, wo die Union lange regiert, sind die Schulen besonders gut. Dort, wo die Sozialdemokraten lange regieren, sind die Schulen leider besonders schlecht. ({5}) Insofern ist es eine besondere Kühnheit, dass gerade die sozialdemokratische Bundesbildungsministerin Bulmahn anderen - auch denen, die besser abgeschnitten haben ihre nationale Bildungspolitik verordnen will. Es sind Generationen von sozialdemokratischen Bildungsministern gewesen - ich nenne von Oertzen aus Niedersachsen, ich nenne Girgensohn aus NordrheinWestfalen und Friedeburg aus Hessen -, ({6}) die sich über Jahrzehnte an der Zukunft unserer Kinder versündigt haben. ({7}) Deshalb, Herr Tauss, ist es jetzt auf sozialdemokratischer Seite nicht an der Zeit, ({8}) die flotte Lippe zu riskieren; vielmehr sind Demut, Bescheidenheit und Bereitschaft zur Umkehr angesagt. ({9}) Natürlich müssen die Schulen in allen Bundesländern besser werden. Aber zur Wahrheit gehört auch: Wenn das Niveau Süddeutschlands an allen Schulen der Bundesrepublik für die Bildung maßgeblich wäre, zählte Deutschland zum ersten Drittel der OECD. Wenn das Niveau der SPDregierten Bundesländer Standard der Schulen in Deutschland wäre, lägen wir im letzten Viertel. Mit dieser Realität haben wir es zu tun. Deshalb, Frau Bulmahn, ist Ihre Forderung nach Einheitlichkeit in den Schulverhältnissen keine Lösung. Nein, sie bedeutete eine Verschärfung des Problems, denn die Schüler und Eltern aus den anderen Bundesländern wollen keinen solchen nationalen Bildungsstandard, denn dies wäre für ganz Deutschland der Abstieg in die Verlierergruppe, die aus Bremen, Nordrhein-Westfalen und anderen SPD-dominierten Bundesländern besteht. ({10}) In allen drei Kompetenzbereichen erreichen jeweils ein oder zwei Bundesländer Leistungswerte oberhalb des OECD-Durchschnitts; dies sind Bayern und Baden-Württemberg. ({11}) Auch für diese beiden Länder gilt, dass der Abstand zur internationalen Spitze eine Herausforderung bleibt. Die Schüler in meinem eigenen Bundesland, dem SPDregierten Nordrhein-Westfalen, liegen in allen Kompetenzbereichen unterhalb des OECD-Durchschnitts und unterhalb des Bundesdurchschnitts. Ein Viertel aller 15-jährigen Schüler werden in Bezug auf die Lesekompetenz als zur Risikogruppe gehörend eingestuft; in Bezug auf Mathematik sind es 28 Prozent und in Bezug auf die naturwissenschaftliche Grundbildung 30 Prozent. Diese Jugendlichen werden später größte Probleme haben, ihr Berufsleben zu meistern. In Nordrhein-Westfalen sind rund 35 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund dieser Risikogruppe zuzuordnen. Damit ist bei mehr als einem Drittel der Jugendlichen die berufliche Karriere durch mangelnde Lesefähigkeit gefährdet. Das ist das reale Ergebnis der angeblich so sozialen und ausländerfreundlichen Politik der SPD im größten Bundesland Deutschlands. ({12}) Ganz anders ist es in Bayern, gegen dessen Politik Sie ständig Vorurteile pflegen. ({13}) 95 Prozent der Schüler aus Zuwandererfamilien erreichen in Bayern ein Niveau, das deutlich über dem deutscher Schüler in Bremen und in Nordrhein-Westfalen liegt. Mit diesen Tatsachen sollten Sie sich auseinander setzen. ({14}) Die soziale Selektion ist bei der angeblich sozialen SPD-Bildungspolitik höher als bei den Unionsländern. In keinem Bundesland ist der Leistungsabstand zwischen den schwächsten und den besten Schülern größer als in Nordrhein-Westfalen, wo Herr Clement regiert. Die ausgeprägte Leistungsstreuung zeugt von einer geringen Breitenförderung. Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Lesekompetenz ist in NRW deutlich enger als in anderen Bundesländern. ({15}) Nordrhein-Westfalen ist Schlusslicht bei der Entkopplung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb. Dieses Bildungssystem ist unfair und ungerecht. Deshalb brauchen wir eine bessere Bildungspolitik. Die Kinder sind in allen Bundesländern in gleichem Maße begabt. Aber einigen von ihnen wird durch eine falsche Schulpolitik die Chance vorenthalten, weil sie nicht so gefordert und gefördert werden, wie es notwendig wäre. ({16}) Deshalb sage ich abschließend: Wir brauchen eine Kultur der Leistung. Wir brauchen Bildungsstandards, die zwischen den Ländern vergleichbar sind. Wir brauchen zentrale Abschlussprüfungen. Wir brauchen eine empirische Schul- und Bildungsforschung an den Hochschulen sowie Sprach- und Leseförderung bereits in einem frühen Stadium. Wir benötigen eine Novellierung der Lehrerausbildung; da könnten wir aus den Erfahrungen der Finnen lernen. Wenn wir diese Reformen im fairen Miteinander der Bundesländer und nicht von oben herab anpacken, dann hat die PISA-Studie den notwendigen Durchbruch in Gang gebracht. Die künftigen Schüler werden es uns danken. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Michael Müller.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Am Beginn der Regierungserklärung von 1969 stand das Thema Bildungspolitik. Wir hatten dann Anfang der 70er-Jahre eine gute Phase von Bildungsreformen. Ich erwähne das deshalb, weil die Konsequenz von PISA nicht sein darf, dass sich die Diskussion, die wir in den 70er-Jahren hatten, heute wiederholt. Dann hätten wir die Lektion nämlich nicht gelernt. ({0}) Ich will deutlich sagen: Es darf nicht sein, dass die einen in ihrer ideologischen Verfestigung am alten wilhelminischen Gymnasium als größtem Ziel jedes Lernens festhalten ({1}) - na, na, Sie haben mit die größte Auslese in diesem System; das müssen Sie schon zugeben - und auf der anderen Seite Bildungsreformen stecken bleiben. ({2}) Wir brauchen qualitative Maßstäbe: erstens das pädagogische Konzept, zweitens die schulischen Leistungen, und zwar auch unter dem Gerechtigkeitsgesichtspunkt der Chancengleichheit, und drittens die Öffnung für die zukünftigen Aufgaben, also für die Herausforderungen unserer Wissensgesellschaft. Das müssen die zentralen Maßstäbe sein, an denen der Erfolg gemessen wird, nicht ein kleinkarierter Streit. ({3}) Ich erinnere mich noch sehr genau, mit welcher Verklemmtheit damals die ganze Bildungsdiskussion abgelaufen ist. ({4}) Deshalb sollten wir uns hier auf ein Konzept besinnen. Die entscheidende Frage dafür lautet: Wie machen wir unser Land fit für die Aufgaben der Zukunft? Die Bildungsministerin hat Recht: Der Maßstab hierfür ist unser internationales Abschneiden. ({5}) Daran müssen wir unsere Reformen orientieren. ({6}) In dieser Herausforderung liegen drei zentrale Punkte. Erstens. Es gibt in der Bundesrepublik deutlicher als in jedem anderen Land einen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und Bildungschancen. Die Selektion sowohl nach unten wie nach oben, die wir in unserem Land haben, ist nicht vertretbar. Hinzu kommt, dass sie je nach Schulsystem im Laufe der Schulkarriere sogar kumuliert. Das weist die Studie sehr exakt nach. Das darf nicht sein. ({7}) Zweitens. Bildung kann nicht nur Verschulung heißen. Es muss auch Förderung von Kreativität, Verantwortung, Vielfalt, musischen Begabungen, Reflexivität gegenüber Zusammenhängen, vernetztem Denken und vielem anderen heißen. Bildung muss modern sein. Modern heißt eben nicht nur Lernen um des Lernens willen - so wichtig das ist -, sondern bedeutet, dass Bildung vor allem zu einem selbstständig denkenden und sich selbstständig fortentwickelnden Menschen befähigen muss. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. ({8}) Drittens. Wir müssen dies vor allem im internationalen Zusammenhang sehen. Unser deutsches Schulsystem hinkt im Vergleich zu vielen anderen Ländern der internationalen und auch der europäischen Entwicklung hinterher. Das ist kein gutes Zeichen. ({9}) - Jetzt fängt er schon wieder so an. Mein Gott, das ist ja furchtbar! ({10}) Es ist wirklich furchtbar, wie kleinkariert bisweilen in diesem Haus diskutiert wird. Welches Elternpaar soll dafür Verständnis haben? Ich kann das nicht nachvollziehen. ({11}) Sie müssen doch sehen, dass das ein Schuss vor den Bug war, der uns alle trifft. Deshalb müssen wir gemeinsam nach vorne schauen. Es muss eine gemeinsame Kraftanstrengung geben, sonst schaffen wir es nicht. Herr Friedrich, ich weiß doch, dass Sie ein ganz vernünftiger Kerl sind. Machen Sie doch mit! ({12}) Fördern und fordern, das ist das, was wir tun müssen. Das Schlimmste, was in der PISA-Studie deutlich geworden ist, sind die Mechanismen sozialer Selektion, sowohl von den Schulformen her als auch beispielsweise zwischen Jungen und Mädchen oder zwischen Deutschen und Ausländern. Das ist ein Riesenproblem. Wir müssen wissen: Motivation, Leistungsbereitschaft, auch Übernahme von Verantwortung für die Gesellschaft ergeben sich nur aus dem Zusammenhang zwischen Chancen, Fördern, Fordern und Motivation. Deshalb sagen wir an dieser Stelle: Wir bitten alle bei dieser Gemeinschaftsanstrengung mitzumachen. Wir möchten auch, dass die Lehrer wieder eine höhere Wertschätzung in unserer Gesellschaft genießen; denn wir brauchen sie bei dieser Gemeinschaftsaufgabe. Das ist ganz wichtig. ({13}) - Das sage ich allen. Ich kenne die Biersprüche von vielen und ich kenne auch viele der Kollegen aus den anderen Fraktionen und deren schreckliche Vorurteile. Nein, es geht darum, dass wir alle motivieren, bei dieser Gemeinschaftsanstrengung mitzumachen, und das können wir auch. Johannes Rau hat in seiner Rede zur Bildungsreform deutlich beschrieben, dass die Schulen Häuser des Lernens werden müssen. Ich möchte zum Schluss deshalb folgende Bemerkung machen. Es ist völlig richtig, dass Bildung nicht alleine von den Finanzen abhängig ist. Aber es ist auch richtig, dass entsprechende Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden müssen. ({14}) Wir müssen Prioritäten setzen. Das gilt für alle, für Bund, Länder und Gemeinden. Wenn wir wollen, dass unser größtes Kapital, die Bildung, gepflegt wird, dann müssen entsprechende Prioritäten dafür gesetzt werden. Wir müssen dafür eintreten, dass die Bildung mehr Geld bekommt, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ilse Aigner. Michael Müller ({0})

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe der Debatte sehr aufmerksam zugehört und mir die ganze Zeit überlegt, wie die Debatte ausgefallen wäre, wenn die Ergebnisse im nationalen Bereich zwischen den einzelnen Bundesländern anders ausgefallen wären. ({0}) Ich könnte mir vorstellen, dass Sie kübelweise Hohn und Spott über die unionsregierten Länder ausgekippt hätten, wenn wir nicht an der Spitze, sondern am Ende gestanden hätten. ({1}) - Ich muss Sie enttäuschen. Es ist nicht so, dass wir uns selbstgefällig auf die Schulter klopfen und sagen, es ist alles in Ordnung. Wir sind uns selbstverständlich bewusst, dass sich noch vieles tun muss und dass ausnahmslos alle Länder zulegen müssen. ({2}) Wir werden uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen und sagen, dass uns die Platzierung im oberen Drittel ausreicht. Es ist selbstverständlich, dass wir an die Spitze kommen wollen. Wir wollen nicht nur an der Oberfläche schwimmen, sondern wir wollen in der Spitzengruppe mitschwimmen. Mir ist bei dieser Debatte aufgefallen, dass Sie krampfhaft versuchen, die Ergebnisse schlecht zu reden. Das halte ich für mehr als peinlich. Ich lasse mir die guten Ergebnisse - auch im Interesse der Schülerinnen und Schüler, der Lehrkräfte in Bayern, Baden-Württemberg und anderen Ländern - nicht schlecht reden. ({3}) Es hat, Herr Müller, etwas mit Wertschätzung der Lehrkräfte zu tun, dass man die Leistungen, die erbracht wurden, würdigt. Ich finde, sie haben einiges geleistet. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf zwei Länder verweisen, nämlich auf Sachsen und Thüringen, die es nach 1990 mit Sicherheit nicht einfach gehabt haben, die Umstellung zu schaffen. Die Lehrkräfte dort haben sich eminent angestrengt. Beide Länder haben sich an den Modellen orientiert, die erfolgreicher waren, nämlich an den Modellen von Baden-Württemberg und Bayern, und sind - wenn Sie sich die Tabelle genau ansehen, werden Sie das feststellen - an den westdeutschen Ländern vorbeigezogen. Das ist eine große Leistung dieser Länder gewesen. Eines verstehe ich allerdings nicht: Sie sagen völlig richtig, wir müssen uns international vergleichen. Warum sollen wir uns dann nicht auch national vergleichen? ({4}) Warum ist das eine anständig und das andere nicht? Das verstehe ich überhaupt nicht. Ich weiß auch nicht, Frau Ministerin, ob Sie das Leistungsniveau nach unten oder nach oben nivellieren wollen. Wo ist oben? Wenn Sie es nach oben nivellieren wollen, würde ich sagen: Das ist wunderbar. Schauen Sie auf die Länder, die es geschafft haben. Dann können Sie sich dementsprechend nach oben orientieren. Ich komme jetzt zu der sozialen Auslese bzw. zu den Kompetenzen der einzelnen Länder. Leider ist der Bundeskanzler - verständlicherweise ist er in Toronto - nicht da. Die Lesekompetenz ist eine der Grundkenntnisse der Schülerinnen und Schüler. Wenn ich mir in der Liste diejenigen anschaue, die nur die unterste Kompetenzstufe erreichen oder diese nicht einmal erreichen, dann muss ich Sie, Frau Ministerin, bzw. den Bundeskanzler direkt fragen, warum Niedersachsen in der Liste, in der unsere Länder plus 23 ausgewählte Staaten enthalten sind, auf Platz 33 steht. Hinter Niedersachsen sind nur Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Luxemburg, Bremen und Mexiko. Ich frage Sie ganz ehrlich - es ist leider kein Ministerpräsident eines SPD-regierten Landes da -: Warum strengen sich eigentlich die Minister und Ministerinnen aus den SPD-regierten Ländern nicht an, wenigstens das auszugleichen? Das ist soziale Auslese, wenn die Schülerinnen und Schüler nicht einmal vernünftig Lesen und Schreiben lernen können. Niedersachsen ist das Land, das Sie, Frau Ministerin, repräsentieren. Sie sind Vorsitzende der SPD Niedersachsen und hätten durchaus Einfluss. Hier könnten Sie einiges unternehmen. ({5}) - Ich kann Ihnen die Liste zeigen, Herr Tauss. ({6}) - Herr Loske, ich zeige es Ihnen nachher gerne. Ich sprach von der untersten Kompetenzstufe. Ich möchte noch kurz auf die Abiturquote eingehen. Es wird immer darauf abgehoben, dass Bayern die geringste Abiturquote hat. Dabei wird aber verkannt, dass es gerade in Bayern ein sehr ausgeklügeltes System von weiterführenden Schulen, Fachoberschulen, Berufsoberschulen und Fachakademien gibt. Es gibt auch sehr viele, die die berufliche Weiterbildung durchlaufen. Zum Vergleich: In Bayern machen 30 Prozent mehr ihren Meister als in Nordrhein-Westfalen. Bei uns ist man nicht erst dann Mensch, wenn man Abitur hat. Frau Ministerin, ich finde es sehr bitter, dass Sie in Interviews immer nur im Zusammenhang von Abiturienten von Fachkräften sprechen. Ich meine, dass all diejenigen, die die berufliche Bildung durchlaufen, ebenfalls Fachkräfte sind. ({7}) Zum Schluss kann ich nur noch sagen: Die Kinder in SPD-regierten Ländern sind nicht schlechter und dümmer als in anderen Bundesländern. Sie werden nur falsch regiert. Diese Gerechtigkeitslücke zu schließen ist eine der wichtigsten Aufgaben. Wir müssen uns gemeinsam anstrengen, wieder in die Weltspitze vorzustoßen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Barthel.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt zwei Möglichkeiten - das ist schon angeklungen -, mit dem Impuls der PISAStudie umzugehen: Entweder wir nehmen die Chance endlich wahr, die Ergebnisse und die freigesetzte Energie jenseits von Wahlkampf und Parteitaktik, aber auch jenseits von selektiver Wahrnehmung, die es bei manchen gibt, in die richtigen Reformen umzusetzen, oder wir begeben uns wieder dorthin, wo wir nach der großen Bildungsreform und Bildungsexpansion der 60er- und 70er-Jahre gelandet sind und wo wir uns bis vor kurzem befunden haben, nämlich in der strikt nach Ländern sortierten Erstarrung, die mit zur jetzigen Situation geführt hat. ({0}) Das ist übrigens genau die Situation, die uns die Union heute als Rezept anbieten will, nämlich ein von zukunftsorientierten, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Überlegungen ungestörter föderaler Wettbewerb nach dem Motto „Jeder für sich und alle gegen alle“, Hauptsache, die Zuständigkeit bleibt unberührt. Es ist symptomatisch für die Politik der Union und ihres Kandidaten, die Politik von gestern als Lösung anzubieten, obwohl sie gescheitert ist. In Richtung FDP muss ich sagen, dass der Wettbewerb nicht dadurch besser wird, indem man ihn privatisiert, anstatt ihn auf Länderebene auszutragen. ({1}) Wohin uns dieses Politikmodell geführt hat, können wir ganz klar sehen: in das untere Drittel der Industriestaaten. Dieser Tatsache müssen wir uns alle stellen, auch wir in Bayern. ({2}) Wir bestreiten nicht, sondern wir begrüßen es, dass einzelne Bundesländer bessere Ergebnisse erzielen, aus denen wir das Richtige und Sinnvolle herausfiltern können. Der Maßstab für die ganze Republik kann aber nicht das obere Mittelmaß Bayerns oder Schleswig-Holsteins an der einen oder an der anderen Stelle sein. Maßstab für uns müssen die weltweit Besten sein. Maßstab sind außerdem die Ziele, die Leitideen und die Zukunft unserer Gesellschaft. Es hilft nicht weiter, die Scheinalternativen aufzuwärmen, wie es die Union tut. Ich nenne beispielsweise die Scheinalternative Leistung durch Auslese einerseits und hohe Bildungsbeteiligung, Integration und Förderung andererseits. Die PISA-Studie hat doch belegt, dass die führenden Staaten beides schaffen: hohes Leistungsniveau und hohe Beteiligung auch an akademischen Abschlüssen. ({3}) Deutschland insgesamt und Bayern im Besonderen, Frau Hohlmeier, leisten sich den Luxus, die Begabungsund Leistungsreserven brachliegen zu lassen. Es gibt außerdem einen unterdurchschnittlichen Anteil an Hochschulzugangsberechtigten und Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen. Im Faktenbericht der Bundesregierung ist nachzulesen: Trotz des Anstiegs der Studienanfänger auf 32 Prozent liegt Deutschland im internationalen Vergleich weit hinter dem Möglichen. Die USA haben inzwischen einen Anteil von 44 Prozent an Studienanfängerinnen und Studienanfängern; in Finnland sind es 58 Prozent. Wenn dieser Trend weitergehen würde, würden bei uns in der Bundesrepublik bis zum Jahr 2010 über eine Viertel Million Akademikerinnen und Akademiker fehlen. Länder mit einem hohen Anteil abiturähnlicher Abschlüsse - in Finnland, Japan und Korea beträgt er über 50 Prozent; in der Bundesrepublik nur 33 Prozent - erkaufen sich diese breite Bildungsbeteiligung gerade nicht mit einem niedrigen Leistungsniveau. Sind denn die Bayerinnen und Bayern, weil sie weniger Hochschulabschlüsse erzielen, wirklich dümmer als die Menschen in Schweden und in anderen Ländern? ({4}) Ich zitiere den Kanzlerkandidaten. Er sagt, dass sich zukünftig jedes Kind entsprechend seinen Fähigkeiten und Neigungen entwickeln kann. Warum ist dann in Bayern die Absolventenquote bei höheren Abschlüssen niedriger? Sind denn die Menschen in Bayern dümmer als anderswo? ({5}) Ausgerechnet die Zuwanderungsverweigerer der Nation - damit kommen wir jetzt zur bayerischen Politik machen es zum Dauerzustand, dass jährlich allein 4 400 Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen nach Bayern geholt werden müssen, ({6}) weil die bayerischen Universitäten und das Schulsystem davor diese Absolventinnen und Absolventen nicht hervorbringen. Diese Zuwanderung ist nötig, weil in Bayern entsprechende Leistungen nicht erbracht werden. Bayern bräuchte eine zusätzliche Hochschule von der Größe der Ludwig-Maximilians-Universität in München, die eine der größten Hochschulen in der Republik ist, um seinen Akademikerbedarf zu decken. ({7}) Das sind die Tatsachen, ganz zu schweigen von den fehlenden Kapazitäten im schulischen Bereich. Wenn das - übrigens ohne Zutun von Herrn Stoiber - „reiche“ Bayern den gleichen Anteil seines Haushaltes für Bildung ausgeben würde wie das „arme“ Sachsen-Anhalt, müsste Bayern doppelt so viel Geld für die Schule auf den Tisch legen. ({8}) Da zeigt sich die Peinlichkeit Ihrer Auslesepolitik, die Sie mit Leistungsansprüchen begründen. Wenn die Staatsregierung sagt, die Hamburger und die nordrhein-westfälischen Schülerinnen und Schüler hätten es beim Abitur zu leicht - das heißt, sie sind den Bayern zu schlecht - und sie würden es in Bayern nicht schaffen, weil sie die dort erforderliche Leistung nicht erbringen könnten, dann frage ich mich, Frau Hohlmeier: Wenn Ihnen diese Absolventinnen und Absolventen nicht gut genug sind, warum sind sie dann gut genug für Siemens, BMW, den öffentlichen Dienst in Bayern, das DLR und andere? ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass Sie eine Redezeit von nur fünf Minuten haben.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin fertig. ({0}) Der Vorsitzende des Städtetages, Josef Deimer, der nicht unserer Partei angehört, sagte: Kellerkinder bleiben Kellerkinder, auch wenn sie auf der obersten Stufe der Kellertreppe stehen. Das sollte für uns Anreiz und Motivation sein, die Diskussion anders zu führen, als Sie das tun. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Axel Fischer. ({0})

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kaum waren die Ergebnisse der PISA-Studie vor etwas mehr als einem halben Jahr bekannt, pilgerten Karawanen von SPD-Bildungspolitikern in das gelobte Bildungsland Finnland, um von dort zu lernen, wie man es besser macht. ({0}) Nun haben wir einen internen Vergleich für Deutschland und stellen fest: Sie hätten gar nicht so weit reisen müssen. Sie hätten nach Bayern gehen können. Dort hätten Sie sehen können, was man im restlichen Deutschland besser machen könnte. ({1}) Denn Bayern spielt zwar nicht auf den ersten Plätzen, aber immerhin in der ersten Liga. ({2}) Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen spielen in der dritten Liga. ({3}) Wenn man sich den Ländervergleich genauer anschaut, stellt man einige interessante Dinge fest. Im Rahmen der deutschen Einheit wurden von den alten Ländern Patenschaften für die neuen Länder übernommen. Die Ergebnisse, die in den Ländern im Bildungsbereich erzielt wurden, korrelieren: Nordrhein-Westfalen und Brandenburg sowie Niedersachsen und Sachsen-Anhalt erzielten schlechte Ergebnisse; Bayern und Sachsen erzielten gute Ergebnisse. Daran sehen Sie, dass die Bildungspolitik in den neuen Ländern damit etwas zu tun hat, wer welche Patenschaften übernommen hat. ({4}) Die schlechten Ergebnisse liegen an Ihrer Ideologie, an Ihrer Gleichmacherei, die Sie zugrunde legen. ({5}) Ich zeige Ihnen das an einem konkreten Beispiel: Wenn Sie im Bereich des Hochsprungs erreichen wollen, dass die Elite zwei Meter überspringt, dann gibt es nach dem Training bestimmte Personen, die das schaffen und die dann zur entsprechenden Elite gehören. Andere schaffen es nicht, üben aber, möglichst hoch zu springen. ({6}) Sie machen es umgekehrt. Sie sagen, 50 Prozent müssen zu unserer Elite gehören, und hängen die Latte Stück für Stück so weit hinunter, bis 50 Prozent darüber springen können. Das ist der falsche Weg. ({7}) Das Ergebnis, das dadurch zustande kommt, sehen Sie auch, wenn Sie genauer hinsehen. Es wurde vorhin schon angesprochen: Der Ausländer in Bayern hat eine bessere Sprachkompetenz als der Deutsche in Bremen oder Nordrhein-Westfalen. Das müsste Ihnen eigentlich die Augen öffnen. ({8}) Ich möchte an dieser Stelle einen herzlichen Dank an alle Eltern aussprechen, die sich die Zeit nehmen, mit ihren Kindern zu lernen. Häufig merkt man, dass gerade dann entsprechende Leistungen erzielt werden können, wenn sich Eltern Zeit nehmen, sich um ihre Kinder zu kümmern, ihnen vorzulesen. Ihnen, Herr Barthel, werfe ich noch etwas vor - Sie haben es angesprochen -: Hören Sie endlich auf, so zu tun, als seien nur studierte Leute und Leute mit Abitur wichtige und gebildete Leute! Auch Handwerker und Arbeiter können gebildet sein. Es kann nicht unser Ziel sein, ständig zu erzählen, alle sollten das Abitur machen und studieren. Das wäre der falsche Weg. ({9}) Nun hat der Kanzler das Thema Bildungspolitik entdeckt. In der heutigen Ausgabe der „Zeit“ zieht er seine Konsequenzen aus der PISA-Studie. Er spricht von Klaus Barthel ({10}) bundeseinheitlichen Bildungsstandards, von Bundeskompetenz, die gestärkt werden müsse. ({11}) Als Vater von zwei Kindern sage ich Ihnen ganz egoistisch: Nein, das möchte ich nicht haben. Ich bin sehr froh, dass meine Kinder in Baden-Württemberg zur Schule gehen, wo Frau Schavan Bildungsministerin ist, ({12}) und ich möchte nicht, dass meine Kinder von Bundespolitikern, von linker, von SPD-geführter Seite in der Schule die entsprechende Ideologie beigebracht bekommen. ({13}) Es hat ja, meine Damen und Herren, schon fast den Anschein, als wolle der Bundeskanzler die Bildungspolitik zur Chefsache machen. Ich sage dazu: Nur das nicht! Chefsache Arbeitsmarkt - Schröder ist gescheitert. Chefsache Aufbau Ost - Schröder ist gescheitert. Herr Schröder, Sie haben als Ministerpräsident in Niedersachsen keine vernünftige Bildungspolitik zustande gebracht. Lassen Sie bitte jetzt als Kanzler auf Bundesebene die Finger davon! ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marieluise Beck. ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den deutschen Schulen bei 10 Millionen Schulkindern inzwischen 1 Million Kinder mit Migrationshintergrund, - ich werde Ihnen gleich erklären, weshalb ich diesen Zungenbrecher benutze -, deren Elternhäuser eher nicht deutschsprachig sind, sondern in denen andere Muttersprachen gesprochen werden. Das ist eine ganz große Herausforderung für ein Schulsystem. Wenn Sie in die Schulen gehen, stellen Sie fest, dass die Schulen schon lange über das Bescheid wissen, worüber wir im politischen Raum lange gestritten haben, ob wir nämlich ein Einwanderungsland sind oder nicht. Den Lehrern und den Eltern in den Schulen ist seit langem bekannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Es ist in der Tat so, dass es da sehr viele Herausforderungen, sehr viele Schwierigkeiten und sehr viele Konflikte gibt. Ich glaube, es gibt inzwischen fast eine Enttäuschung unter Lehrern, unter Kindergärtnern, auch unter Eltern darüber, dass sich das Problem des Spracherlernens nicht einfach von selbst erledigt hat, obwohl die Einwanderung im Wesentlichen jetzt schon die zweite und dritte Generation umfasst und wir es kaum noch mit Kindern zu tun haben, die neu zuwandern, sondern eher mit Kindern, die schon hier geboren sind, der Statistik nach allerdings ausländisch sind. Das aber weist uns auf ein Defizit hin, das unsere Institutionen pädagogisch und auch von den Curricula her offensichtlich nicht ausreichend abgebaut haben, nämlich Deutsch als Zweitsprache. Diese Aufgabe, die für ein Zehntel unserer Kinder gilt, durchzieht den gesamten Bildungsweg vom Kindergarten, über insbesondere die Grundschulen bis hinein in unsere Berufsschulen. Wir müssen auch im eigenen Interesse diesen Weg verfolgen, wenn wir uns klar machen, dass es im Jahre 2050 nicht mehr 82 Millionen Bewohner dieses Landes geben wird, sondern nur noch 57 Millionen. Das macht uns nicht nur klar, dass wir eine älter werdende Gesellschaft sind, sondern dass wir auch immer weniger Kinder haben werden. Daher wird es immer notwendiger, das Potenzial jedes einzelnen Kindes so optimal und so weit zu fördern, wie es geht. Deshalb müssen wir den Blick auf die Migrantenkinder werfen. ({0}) Deutsch als Zweitsprache ist die zentrale Aufgabe. Da führen oberflächliche Vergleiche - ich bekomme Probleme, wenn Sie nur eine Seite aus der dicken Studie herausreißen und sie präsentieren ({1}) nicht weiter. Da muss man sehr viel tiefer gehen. In Schleswig-Holstein zum Beispiel leben 14 Prozent Migrantenkinder, in Bremen 40 Prozent. Das führt zu gänzlich unterschiedlichen Bedingungen, ({2}) wobei die Kategorie Ausländer gar nicht mehr weiterhilft; denn die Spätaussiedlerkinder haben zwar den deutschen Pass, sprechen aber oft nur russisch und die hier geborenen türkischen Kinder kommen oft mit der Muttersprache Türkisch in die Schule. Die Kategorie Ausländer spiegelt gar nicht mehr wider, womit wir es in den Schulen real zu tun haben. Klar ist: Es geht darum, Deutsch als Zweitsprache zu fördern. Dazu müssen wir viel stärker als bisher den Blick auf die frühkindliche Förderung lenken. ({3}) Das, was wir uns zum Teil im Gegensatz zu anderen Ländern an intellektueller Unterernährung in unseren Kindergärten leisten, passt nicht mehr zu einer modernen Erziehung. ({4}) Wir schulen im sechsten, oft erst im siebten Lebensjahr ein. Das ist sehr spät; denn in vielen anderen Ländern wird Axel E. Fischer ({5}) die frühkindliche Förderung bereits ab dem dritten oder vierten Lebensjahr begonnen. Auch wir sollten das tun. Schließlich sind die Kinder wissbegierig und wenn wir sie unterfordern, tun wir ihnen keinen Gefallen. Das bedeutet, auch die Erzieherinnen müssen eine andere Ausbildung erhalten, auch für sie muss das frühkindliche Erziehungsziel „Deutsch als Zweitsprache“ eine wichtige Aufgabe im Spiel werden. Deswegen ist es sinnvoll, Sprachstandserhebungen zu machen. So kann rechtzeitig gefördert werden. Denn nur von der Einschulung eines Kindes, das nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt, abzusehen, ist nur eine reine Abgrenzungsstrategie, die uns nicht voranbringt. ({6}) Die Grundschule wird in unserem Bildungswesen stiefmütterlich behandelt. Das sehen wir allein schon an den Ressourcen, die dafür vorgesehen sind. Dort aber geht es um die Grundlagen. Man baut ein Haus schließlich von unten und nicht von oben auf. Wir brauchen die Förderung der Sprachkompetenz in allen Fächern, nicht nur in Deutsch. Dazu gehört auch, dass wir in Schulen mit einem hohem Anteil von Kindern, die einen anderen religiösen und kulturellen Hintergrund haben, die nötige Wertschätzung dafür aufbringen. Lernen geht nicht nur über die Ratio, sondern auch über die Seele. Wenn die Kinder das Gefühl haben, dass das, was sie an Traditionen - Feste, religiöse Feiertage und ihre Muttersprache - mitbringen, etwas wert ist, werden sie sich schneller und leichter mit unserem Land und der Sprache unseres Landes identifizieren können. Es liegt an uns, ein Angebot zur Identifikation und Förderung zu machen. Wir brauchen den Kopf und den Geist jedes einzelnen Migranten, jedes einzelnen Kindes in diesem Land. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Staatsministerin für Unterricht und Kultus des Freistaats Bayern. Monika Hohlmeier, Staatsministerin ({0}): Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich darf zunächst einmal meine kurze Redezeit nutzen, um die Dinge geradezurücken, die geradegerückt werden müssen. Als Erstes möchte ich gerne wissen, Frau Bundesministerin, ob Sie wie der Bundeskanzler die Bundeskompetenz anstreben oder nicht. Das wüsste ich gern genau, denn dann könnte man dazu Stellung nehmen. ({1}) Ich halte beide Linien für falsch; denn ich glaube, wir wären schon in den vergangenen 20 Jahren wesentlich weiter gekommen, wenn die SPD-regierten Länder auch die Qualitätskriterien erfüllt hätten, die in den unionsregierten Ländern angelegt wurden. ({2}) Zweitens. Sie haben gesagt, unsere Kinder dürften nicht vom Wohnort abhängig sein. Das ist in der Tat wahr. Aber es sind doch nicht München oder Stuttgart oder Dresden, wo sie die größten Probleme haben, sondern Bremen steht auf dem Platz kurz vor Mexiko, und der Stadtstaat ist doch wohl lange genug von Ihnen regiert worden. Das heißt, die Anschuldigungen laufen in die völlig falsche Richtung. Ich halte es für notwendig, einmal darüber nachzudenken, dass Kinder aus Bremen, aus Niedersachsen, aus Nordrhein-Westfalen, aus Sachsen-Anhalt und aus Brandenburg eigentlich dieselbe Begabung haben wie Kinder in den Ländern Bayern und BadenWürttemberg oder Sachsen und dass sie denselben Anspruch auf Förderung haben. ({3}) Herr Tauss hat dann die Worte von Annette Schavan streitig gestellt, dass die SPD Qualitätsstandards über Jahre hinweg abgelehnt habe. Es ist richtig, was Annette Schavan sagt. Ich erinnere mich noch gut daran, dass Hamburg, als wir in der Kultusministerkonferenz darum gekämpft haben, ein fünftes Abiturfach einführen zu dürfen, damit gedroht hat, das bayerische und das badenwürttembergische Abitur nicht mehr anzuerkennen. ({4}) Das sind die Tatsachen, die sich in der Kultusministerkonferenz ereignet haben. Hinzu kommt, dass die Union dann für Eisenach die Qualitätsstandards vorgelegt hat und die SPD schließlich nach langjährigen Diskussionen zugestimmt hat, endlich länderübergreifende Qualitätsstandards zu akzeptieren, die die Union über Jahre hinweg verlangt hat. ({5}) Ich darf Ihnen auch etwas über die Begeisterung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Parteivorstand, Arbeitsgemeinschaft für Bildung in der SPD, vorlesen. Das dürfte ja nicht eine Untergruppierung bei Ihnen sein. Daran wird deutlich, was Sie von PISA und einem länderübergreifenden Schulformvergleich gehalten haben. Dort heißt es: Diese Stichprobe ermöglicht also keinen Länder-, sondern nur einen länderübergreifenden Schulformvergleich. Hier scheinen sich Wünsche der CDULänder durchgesetzt zu haben, die offenbar beweisen wollen, dass ihre Schulformen „besser“ sind. ... Es ist ohne Test vorherzusagen, dass Länder mit selektiven Schulsystemen, die den Strukturreformen der letzten 30 Jahre widerstanden haben, bessere Schülerleistungen in allen Schulformen haben werden. ({6}) So das Zitat aus einem Brief Ihres Parteivorstandes! ({7}) Marieluise Beck ({8}) Wenn man zentrale bundeseinheitliche Standards haben möchte und plötzlich vonseiten der SPD Bundeskompetenz für sich beansprucht, dann ist das nur ein Vertuschen dessen, was an Standards in den SPD-regierten Ländern gegolten hat. Jetzt gebe ich Ihnen auch mal schöne Beispiele, ({9}) damit man weiß, wovon man redet, und zwar ganz konkret. „Struwwelpeter“ oder „Faust“? Überlegungen zum Literaturunterricht in der gymnasialen Oberstufe für Kollegschüler in Nordrhein-Westfalen. In Nordrhein-Westfalen wurde für immerhin 19-jährige Abiturienten vorgeschlagen, man möge als Literatur den „Struwwelpeter“ wählen. ({10}) Dort ist zu lesen, dass sich Kinderbuchtexte für den Unterricht besonders gut eigneten, vielleicht besser als wissenschaftliche und literarische Texte. Ich zitiere: „Kinderbuchtexte sind relativ kurz und bieten wegen ihrer einfachen Struktur kaum Verständnisschwierigkeiten.“ ({11}) Weiter ist dort zu lesen: „Das hat den Vorteil, dass der Schüler bei der Arbeit nicht die Übersicht verliert und nicht alle seine Kräfte dafür einsetzen muss, den Wortlaut überhaupt einigermaßen zu begreifen.“ ({12}) Außerdem - so steht hier - „ermuntern Kinderbuchtexte wie keine anderen Texte zur Umarbeitung und zu Gegenentwürfen.“ Die Rezensentin weist dann natürlich auch darauf hin, dass Generationen von Gymnasiasten aufbegehrt haben - ({13}) - Ich weiß, dass Sie das stört, Herr Tauss, aber man muss ja mal Fakten vorlesen. Vielleicht sind Sie mal ein bisschen still. Wenn Sie angesichts Ihrer Standards nervös werden, verstehe ich das. Aber Demokratie heißt zuhören können, wenn ein anderer redet. ({14}) Es steht dann auch noch darin, dass Gymnasiasten in Nordrhein-Westfalen aufbegehrt hätten, weil der „Faust“ zu Tode geritten worden sei und die Behandlung doch etwas länger dauere als beim „Struwwelpeter“. ({15}) In den hessischen Rahmenrichtlinien - darum will ich keine Bundesrichtlinien der SPD haben - steht so schön zur Rechtschreibung, die normalerweise doch zu den Grundlagen gehört: „Daraus folgt, dass die Überbewertung der Rechtschreibung in Schule und Öffentlichkeit korrigiert werden muss und dass die Schule die Beherrschung der Rechtschreibung nicht zum Kriterium für Eignungsbeurteilungen und Versetzungen machen darf. Mangelnde Rechtschreibleistungen in der Schule sind bei genügenden sprachlichen Kommunikationsfähigkeiten kein Grund für die Benachteiligung eines Schülers.“ Sie haben Rahmenrichtlinien gemacht, die die Ursache dafür waren, dass die Schüler in den von Ihnen langjährig regierten Ländern so schlecht bei der PISA-Ländervergleichsstudie abgeschnitten haben. Auf solche Richtlinien kann ich verzichten. ({16}) Nun komme ich zum nächsten Klischee: Ganztagsschule. Frau Bundesministerin, ich stelle mir die Frage, warum die in Bayern in der halbtägigen Hauptschule geförderten Schülerinnen und Schüler besser abschneiden als der Durchschnitt der ganztägig geförderten Gesamtschüler in Nordrhein-Westfalen. ({17}) Diese Frage stelle ich mir schlicht und einfach. Wenn Sie in Ihren Ländern Unterricht von schlechter Qualität liefern, können Sie halbtags oder ganztags unterrichten, die Schüler werden nicht besser gefördert. Was wir hauptsächlich brauchen, ist, die Qualität des Unterrichts zu steigern. Hierbei ist der Nachholbedarf in den langjährig von Ihnen regierten Ländern fünfmal so hoch wie bei uns. ({18}) Wir lehnen uns aber nicht selbstzufrieden zurück. Wir arbeiten weiter. Die Qualitätsoffensiven in Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg sowie jetzt auch in Hessen und Sachsen-Anhalt, die jetzt mit einer neuen Regierung aufzuholen versuchen, sind fulminant. Ich bitte Sie, Herr Tauss, erst einmal nachzulesen, bevor Sie versuchen, allein durch Lautstärke zu überzeugen. ({19}) Es gibt eine Fülle von Programmen, um die Qualität zu verbessern. Aber eines will ich in dem Zusammenhang schon sehr deutlich zum Ausdruck bringen: Es gibt gar keine ideologische Debatte um Ganztagsschulen. Wir akzeptieren mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Förderung von Kindern und Jugendlichen Ganztagsangebote wie die Ganztagsschule. ({20}) Ich finde es aber nicht besonders innovativ, wenn vonseiten der SPD in den 70-er Jahren ein nationaler Bildungsplan und Ganztagsschulen gefordert worden sind und jetzt nach der PISA-Studie wiederum ein nationaler Bildungsplan und Ganztagsschulen gefordert werden. Mit PauschalStaatsministerin Monika Hohlmeier ({21}) rezepten kommen wir nicht weiter, sondern nur mit einer präzisen Analyse von PISA sowie exakten Maßnahmen. ({22}) - Ja, für Sie, Herr Tauss, und Ihre Nachbarn mache ich mit der präzisen Analyse gleich weiter: Migrantenkinder. Herr Loske, hinsichtlich dieses Punktes leiden Sie unter einer gewissen Wahrnehmungsstörung. ({23}) Die Migrantenkinder in Bayern oder auch in Baden-Württemberg stehen auf einem durchschnittlichen OECD-Niveau und damit wesentlich höher als die Kinder in langjährig von SPD und Grünen regierten Ländern. Integration funktioniert in diesen Ländern also dreimal so gut wie bei Ihnen. Wir nehmen auch Migrantenkinder ernst und wollen sie fördern, weil sie ansonsten nicht am Bildungswesen teilhaben können. ({24}) Es waren doch Ihre Parteien, die ununterbrochen gesagt haben: Zwangsgermanisierung. Wenn man aber Kindern kein Deutsch vermittelt, können sie in Deutschland am Bildungswesen auch nicht teilnehmen. Dann haben sie keine Chance. ({25}) Nun zur Abiturientenquote: Sie machen sich regelrecht lächerlich. Bayern hat eine Abiturientenquote nicht von 20 Prozent, sondern von 30 Prozent. Die Bundesministerin weigert sich aber, diejenigen wahrzunehmen, die über die berufliche Bildung das Abitur erlangen und über die Fachoberschulen und Berufsoberschulen weitergebildet werden, und sie als Abiturienten anzuerkennen. Das halte ich für eine Beleidigung dieser jungen Menschen. ({26}) Des Weiteren bilden der Freistaat Bayern und auch Baden-Württemberg 50 Prozent mehr Meisterinnen und Meister im Handwerk aus. Wir bilden wesentlich mehr aus! Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir junge Menschen nach ihren Begabungen fördern. Wenn bei uns über 50 Prozent der jungen Menschen entsprechend mehr gebildet und gefördert werden und dann einen höheren Abschluss haben, dann nenne ich dies wirkliche Bildung. In dem Zusammenhang wünsche ich mir, dass wir wirklich einmal sachlich debattieren und keine Pseudodiskussionen führen, um letztendlich zu verschleiern, wie schlecht Sie Bildungspolitik betrieben haben. ({27})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Hohlmeier, Sie haben ein Musterbeispiel für Reden geliefert, die vielleicht im Bayerischen Landtag und bei Ihren Parteifreunden große Heiterkeit erregen, aber etwa beim Bundeselternrat Unwillen auslösen und bei den betroffenen Familien, vor allem bei denjenigen, die auf Mobilität angewiesen sind, und bei Firmen, die bundesweit vertreten sind, Ratlosigkeit hervorrufen. ({0}) Eines steht doch fest: Das deutsche Bildungssystem steht insgesamt auf dem Prüfstand. Wir alle müssen uns im europäischen Bildungsraum und darüber hinaus dem vergleichenden Wettbewerb stellen. Spätestens hinter den deutschen Grenzen ist die Frage des Vergleichs zwischen Hessen und Rheinland-Pfalz nicht mehr so spannend. Wir stehen im internationalen Vergleich. Deshalb stehen - das ist das Neue gegenüber der Bildungsdiskussion der 70erund 80er-Jahre - länderübergreifende Schwerpunkte und Schritte zur Bildungsreform an, im schulischen Bereich wie in der vorschulischen Erziehung, aber auch in anderen Bereichen, bei denen der Bund eine Mitkompetenz hat. ({1}) Wir sind in dieser Legislaturperiode von einer Phase des Nichtverhältnisses zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik weggekommen. Das Scheitern des großen Bildungsgipfels von Helmut Kohl - viel heißer Wind, aber nichts passiert - ist noch in Erinnerung. Bildungsminister Rüttgers hat außer einigen schlauen Zeitungsaufsätzen nichts zustande gebracht. ({2}) Wir haben 1999 die Länder zu einem Forum Bildung eingeladen, in dem ohne das Pochen auf verfassungsrechtliche Zuständigkeit gemeinsame Zielsetzungen in einer länderübergreifenden Bildungsreform erarbeitet worden sind. ({3}) Eine der zentralen Aussagen war: Das deutsche Bildungssystem hat seinen Hauptmangel darin, dass wir nicht in der Lage sind, zu einer frühzeitigen Ermittlung der individuellen Begabung und zu einer angemessenen Förderung der unterschiedlichen Begabungen unserer Kinder vor allem in den ersten zehn Lebensjahren zu kommen. Hier haben wir ein Strukturdefizit, von dem sich kein Bundesland im internationalen Vergleich frei machen kann. ({4}) Wenn es um die Rolle des Bundes geht, kann ich dazu sagen: Wir haben in diesen Jahren begonnen, notwendige Entwicklungen zu fördern. Wir haben das Berufsschulprogramm aufgelegt, um die IT-Ausstattung zu fördern. Das haben die Länder dankbar aufgenommen. Wir haben jetzt das Angebot zur Förderung der Ganztagsschulen mit Staatsministerin Monika Hohlmeier ({5}) einem 4-Milliarden-Euro-Programm gemacht. Der Bundeskanzler hat heute angekündigt, dass wir in der nächsten Legislaturperiode ein spezielles Programm zur Unterstützung der Bemühungen der Länder im Bereich der frühkindlichen Erziehung auflegen wollen. ({6}) Hier ist der Bund ohne verfassungsrechtliche Debatten zur Förderung bereit. Aber eines muss klar sein: Auch der Bund muss seine Rolle in seiner Formulierung bildungspolitischer Zielvorstellungen und Forderungen wahrnehmen: fördern und fordern. Deshalb geht es zum Beispiel auch um eine nationale länderübergreifende Evaluationsagentur. Wir haben die Akkreditierungsagentur für die Hochschulen mit ins Leben gerufen, und zwar ohne verfassungsrechtliche Zuständigkeiten. Wir haben sie mit gefördert. Warum sollen wir nicht denselben Weg im Bereich einer bundesweiten Evaluationsagentur gemeinsam gehen? ({7}) Wenn es um die verfassungsrechtlichen Fragen geht, dann kann man auch den Möchtegernkanzler, Herrn Stoiber, der in den letzten Tagen von der letzten Chance für die Kultusministerkonferenz gesprochen hat, fragen: Was passiert denn, wenn die KMK diese letzte Chance nicht nutzt? Diese Frage wirft auch Gerhard Schröder in seinem Zeitungsartikel auf. Ich ende mit einem letzten Satz. Frau Hohlmeier, Sie hätten besser daran getan, uns zu erklären, ({8}) warum ein Bildungssystem mit einem Anteil von 43 Prozent Hauptschulabschlüssen und 9 Prozent fehlenden Bildungsabschlüssen ein zukunftsorientiertes Bildungssystem darstellt. Danke. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Lensing.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Einlassung des Herrn Parlamentarischen Staatssekretärs Catenhusen veranlasst mich, etwas nicht nur festzustellen, sondern geradezu an- und einzuklagen: Obwohl Schuluntersuchungen in den 60er- und 70er-Jahren für Deutschland bereits ähnlich schlechte Ergebnisse wie TIMSS und PISA heute ausgewiesen haben, wurden diese nicht zum Anlass genommen, die Leistungen von Schulen in den Blickpunkt der weiteren Diskussionen, Bildungsplanungen und der Professionalisierung zu nehmen. Nein, man entschied sich stattdessen lieber dafür, an weiteren Tests gar nicht teilzunehmen, schloss die kurzsichtigen Augen und frönte seinen tradierten Bildungsvorstellungen. Das taten vor allem diejenigen, die als Ideologen andere Ideologen der Ideologie bezichtigten. ({0}) Ich stelle nicht nur fest, sondern klage auch an: Während im europäischen Ausland intensive Entwicklungsprozesse eingeleitet wurden, stützten sich so manche Schulpolitiker in Deutschland in den letzten 30 Jahren auf ideologische Überzeugungen und Annahmen, die im Wesentlichen in Strukturfragen oder in der Dauer der Schulzeit bis zum Abitur ihre jeweilige unterschiedliche Ausprägung erhielten. Inzwischen ist uns bis auf wenige Ausnahmen bekannt, zu welch unterschiedlicher Ausprägung und zu welchen katastrophalen Ergebnissen diese Strategie geführt hat. Deswegen nutzt es nichts - so verständlich es auch sein mag, Herr Michael Müller -, wenn Sie jetzt versuchen, die Einheit zu beschwören. Ein gemeinsames Handeln basiert auf einer soliden Analyse, zu der wiederum eine sorgfältige Ursachenforschung gehört. Als Mitbürger aus Nordrhein-Westfalen möchte ich Folgendes anmerken: Dort und in anderen SPD-regierten Bundesländern wurde die Schule vielfach so dargestellt, als sei sie für unsere Kinder nur eine Bedrohung. Ich möchte das anhand einiger trauriger Fakten belegen: Erstens. Der Begriff Leistung verfiel zu einem PfuiWort. ({1}) Zweitens. Eliteförderung galt als ebenso verpönt wie eine solide Hauptschulbildung. Drittens. So problematisierte man lieber, statt zu lernen. Viertens. Das Bildungswesen wurde stattdessen bis tief in die Hochschulen hinein weitestgehend kollektiviert. Fünftens. Kant beispielsweise diente primär zur Kapitalismuskritik. ({2}) Sechstens. Die Erdkundestunde mutierte zum DritteWelt-Laden. Siebtens. Der Religionsunterricht verkümmerte viel zu häufig zu alltagsethischen Betrachtungen und soziologischen Studien. Achtens. Eine wachsende Bildungsbürokratie presste den so genannten Bildungskanon in Rahmenrichtlinien, die unter anderem in den Hauptschulen wegen der Unerreichbarkeit ihrer Unterrichtsziele nur als „Blaues Wunder“ firmierten. Neuntens. Der Finanzminister diktierte mit seinem Einsparprogramm in weiten Bereichen die Schulpolitik. Zehntens. Die Klassen wurden größer und die Lehrer immer älter, wobei zusätzlich deren Motivation durch den heutigen Bundeskanzler bekanntlich dadurch ungemein gefördert wurde, dass er diese nicht primär als menschliche Wesen begriff, sondern als Verbrauchsware, nämlich als „Säcke“, angereichert durch ein vernichtendes Beiwort, das mit dem Begriff Fleiß nichts mehr zu tun hatte. ({3}) So simpel kreiert man Vorbilder und einen Ansporn für die lernende Jugend. Damit die Nivellierung im allgemeinbildenden Schulwesen nicht so schamlos offenbar wurde, schuf man mit reichlich ideologischem Eifer eine neue - sprich: vierte Schulform, in der ein jeder zunächst einmal ohne Versetzung bis in die 9. Klasse aufsteigen kann. Das ist wirklich klasse. ({4}) Insofern frage ich: Ist es denn wirklich ein Wunder, wenn mehrere Studien klar erbracht haben, dass Gesamtschüler gegenüber Gymnasiasten und Realschülern in Englisch, Mathematik, Physik und Biologie Leistungsrückstände von mehr als zwei Schuljahren aufweisen? ({5}) Ist es nicht auch schlimm, dass gerade dort, wo die Hauptschule sträflich vernachlässigt wurde, ein zentrales Reservoir der Betriebe für die Rekrutierung von Facharbeitern weggebrochen ist? Deswegen stelle ich fest: Im Gegensatz hierzu ist an den Ländern mit den besseren Ergebnissen, wie Bayern und Baden-Württemberg, die Debatte um die Gesamtschule als Einheitsschule vorübergegangen. ({6}) Schließlich hat PISA ebenso eindeutig wie beeindruckend bewiesen: Im deutschen Bildungskontext begünstigen erst leistungsstarke Haupt- und Realschulen ein starkes Gymnasium. Deswegen betone ich im Hinblick auf alle Fragen, über die wir uns verständigen wollen, dass es wichtig ist, zu erkennen, dass Benachteiligtenförderung und Begabtenförderung zusammengehören, da sich gezielte Förderung und Leistungsansprüche nicht ausschließen, sondern wechselseitig bedingen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Lensing, auch Ihre Redezeit ist weit überschritten.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist zwar ein Jammer für das deutsche Volk, aber ich sehe es durchaus ein. ({0}) Gestatten Sie mir noch einen Satz: Allein aus diesem Grunde ist die lebensferne Forderung nach nationalen Antworten aller Art schon vom Ansatz her verfehlt, Frau Bundesministerin Bulmahn, weil sie nicht umsetzbar ist. Eine neue zusätzliche Bundeskompetenz bringt gar nichts.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das war schon mehr als ein Satz. Ich muss Sie jetzt wirklich bitten aufzuhören.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin am Schluss. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Dr. Jürgen Meyer ({0}), Erika Simm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({2}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts - Drucksache 14/9358 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Joachim Stünker.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der Bildungsdebatte jetzt zur Justiz! Die PISA-Studie wurde eine Stunde diskutiert. ({0}) - Ja, länger. - Vielleicht sollten wir so etwas Ähnliches wie die PISA-Studie auch einmal zum Zwecke des Rechtsvergleichs innerhalb der EU und zur Qualität der Rechtsprechung in der EU machen. ({1}) Möglicherweise würden wir dabei wiederum einige Überraschungen erleben. ({2}) Heute Nachmittag, zum Ende der Legislaturperiode hin, wollen wir noch einmal auf das geltende Sanktionensystem im Strafrecht zurückkommen, das Geld- und Freiheitsstrafen als Hauptstrafen vorsieht. Diese Beschränkung auf Geld- und Freiheitsstrafen als Hauptstrafen gibt den Gerichten zu wenig Gestaltungsmöglichkeiten im Rechtsfolgenausspruch. Insbesondere im Bereich kleinerer und mittlerer Kriminalität kann mit diesen Sanktionsmitteln zunehmend nicht mehr in geeigneter Weise mit spezialpräventiver Zielrichtung auf Straftäter eingewirkt werden. Wenn für ein bestimmtes Delikt eine Geldstrafe ausgesprochen wird, dann wird diese einen Täter mit weißem Kragen nicht sehr beeindrucken; dem Täter, der wirtschaftlich sehr schlecht gestellt ist, droht dagegen letztlich die Ersatzfreiheitsstrafe. Seit Mitte der 80er-Jahre hat es daher wiederholt Initiativen zu einer Umgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems gegeben. Bereits in der 10. Legislaturperiode hatte der Rechtsausschuss die Bundesregierung in einer Beschlussempfehlung aufgefordert, darüber zu berichten, ob der Katalog der staatlichen Sanktionen zu verändern ist. Die damalige Bundesregierung sah keinen Handlungsbedarf. Dennoch empfahl bereits der 59. Deutsche Juristentag in Hannover im Jahr 1992 Ergänzungen und Modifikationen des geltenden Rechts. Schon seinerzeit wurden verstärkte Anreize für Wiedergutmachung und Täter-OpferAusgleich gefordert und ebenso die Ausweitung des Anwendungsbereichs der Verwarnung mit Strafvorbehalt und auch die Erhebung des Fahrverbots zur Hauptstrafe. In der 12. und der 13. Legislaturperiode gab es Gesetzentwürfe der SPD-Fraktion, die jeweils der Diskontinuität unterfielen. Die damaligen Regierungskoalitionen sahen keinen Handlungsbedarf. Das BMJ hat noch in der letzten Legislaturperiode eine Expertenkommission zu diesem Themenbereich eingesetzt, die einen Bericht vorgelegt hat. ({3}) - Aber eben sehr spät, Herr van Essen. ({4}) - Das bezog sich auf die 10. Wahlperiode. Ich habe ein bisschen Historie gemacht. Wenn Sie richtig zugehört hätten, ({5}) hätten Sie das verstanden, Herr Kollege van Essen. ({6}) Wir haben nunmehr einen Entwurf vorgelegt, der die ambulanten Sanktionsmöglichkeiten für Straftaten im Bereich der kleinen und mittleren Kriminalität erweitern und dabei insbesondere der Vermeidung von kurzen Freiheits- und Ersatzfreiheitsstrafen dienen soll. Wir wollen damit unerwünschte Nebenwirkungen von Freiheitsstrafen vermeiden oder abschwächen und vor allem den Strafvollzug entlasten. Darüber hinaus soll mit dem Entwurf für eine bessere Berücksichtigung der Opferinteressen im Rahmen des Geldstrafensystems gesorgt werden. Es handelt sich hierbei im Einzelnen um vier Bereiche, die ich kurz skizzieren möchte: Erstens ist die Erweiterung des Anwendungsbereichs der gemeinnützigen Arbeit zu nennen. Zukünftig soll die gemeinnützige Arbeit die primäre Ersatzstrafe bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe sein. Hierdurch werden kurze Freiheitsstrafen für wirtschaftlich schlecht gestellte Personen respektive Täter vermieden. Gegenwärtig verbüßen etwa 20 Prozent der Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland Freiheitsstrafen von weniger als sechs Monaten. Ein Großteil hiervon sind die genannten Ersatzfreiheitsstrafen. Ich denke, die in der Justiz und im Strafvollzug Tätigen sind sich darin einig, dass dieser Personenkreis letzten Endes nicht in den Vollzug gehört. ({7}) Sowohl von der Gewichtung des Deliktes als auch von der Täterpersönlichkeit her sind das keine Knackis, wie man im Jargon sagen würde. Zweitens: Erweiterung des verkehrsstrafrechtlichen Fahrverbots. Das Fahrverbot soll in seinem bisherigen Anwendungsbereich zur Hauptstrafe heraufgestuft werden. Die zeitliche Höchstdauer soll von jetzt drei Monaten auf sechs Monate ausgedehnt werden. Außerdem soll für so genannte Zusammenhangstaten, für Straftaten durch Benutzung eines Pkws, das Fahrverbot in Zukunft Regelsanktion sein. Wer bei der Vorbereitung oder Begehung einer Straftat, welcher Art auch immer, ein Kraftfahrzeug benutzt, muss zukünftig damit rechnen, dass gegen ihn ein Fahrverbot verhängt werden kann. Damit schließen wir eine Lücke, die in der Praxis über die letzten 10, 15 oder 20 Jahre immer wieder beklagt worden ist. ({8}) Das Dritte ist die Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt, § 59 a StGB. Diese Vorschrift scheint insbesondere in süddeutschen Ländern weitgehend unbekannt zu sein, wenn man die Statistiken betrachtet. Wir schlagen vor, diese jetzige Kann-Vorschrift zu einer Muss-Vorschrift umzugestalten. Das klingt vielleicht so, als wäre es kein besonders großer Schritt, aber indem wir daraus eine Muss-Vorschrift machen, nach der bei Vorliegen der Regelbeispiele, die im Tatbestand stehen, geprüft werden muss, ob Verwarnung mit Strafvorbehalt zu verhängen ist, und nach der auch zu begründen ist, wenn man einen anderen Weg geht, und weil das Urteil ja revisibel ist, wird genau diese Änderung in der strafrichterlichen Praxis große Bedeutung bekommen und zu einer großen Veränderung führen. Der vierte Bereich ist der Hauptansatzpunkt in dem vorliegenden Reformpaket, nämlich Verbesserungen im Bereich der Geldstrafe. Im Vordergrund und letztendlich im Mittelpunkt des gesamten Gesetzentwurfes steht die bessere Berücksichtigung von Opferinteressen. Bereits seit mehr als 20 Jahren befürworten Kriminologen und Strafrechtswissenschaftler mit wachsendem Nachdruck eine Verbesserung der Stellung von Verbrechensopfern. Mit dem vorliegenden Entwurf soll dieser Schritt nun konsequent umgesetzt werden. Wir sind der ÜberzeuJoachim Stünker gung, dass Verbrechensopfer und ihre Interessen in den Mittelpunkt der Rechtspolitik gehören. ({9}) Teil dieser stärken Berücksichtigung der Opferinteressen ist die stärkere Förderung von Opferhilfeverbänden. Sie sollen nach dem Vorschlag zukünftig ein Zehntel aller Geldstrafen erhalten, die wegen der Schädigung anderer Personen gezahlt werden müssen. Zudem ist in dem Gesetzentwurf eine Stärkung der direkten Schadenswiedergutmachung durch den Täter gegenüber dem Opfer vorgesehen. Zukünftig soll der Täter zunächst die verhängte Geldstrafe nicht bezahlen müssen, wenn er aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage dem Opfer ansonsten keine Entschädigung zahlen könnte. Auch dies ist, wie ich meine, ein ganz wichtiger neuer Schritt und ein richtiger Ansatz. ({10}) Damit wird den Wiedergutmachungsansprüchen des Opfers bei der Vollstreckung von Geldstrafen der Vorrang eingeräumt. Darüber hinaus soll das Gericht anordnen können, dass die Vollstreckung der verhängten Geldstrafe ganz oder zum Teil unterbleiben kann, wenn der Täter durch Wiedergutmachungsmaßnahmen gegenüber dem Opfer aktiv geworden ist und die nunmehrige Vollstreckung für ihn wegen der erbrachten Leistungen gegenüber dem Opfer unter Berücksichtigung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eine besondere Härte darstellen würde. Hierdurch wird verhindert, dass der Anspruch des Staates auf die Geldstrafe in eine das Opfer benachteiligenden Konkurrenz zu dessen Anspruch auf Schadenersatz tritt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle, die seit Jahrzehnten im Bereich des Strafrechts tätig sind - das gilt aber auch traditionell im deutschen Strafrecht -, kennen die Strafprozessordnung zu Recht als Magna Charta des Beschuldigten, wonach der Beschuldigte mit der Unschuldsvermutung bis zu einer Verurteilung mit Rechten ausgestattet ist, die in einem Rechtsstaat unumgänglich sind. Das ist keine Frage. Mithilfe der Vorschläge, die wir Ihnen heute vorlegen, verändern wir einiges: Die Strafprozessordnung wird zu einem Gesetz zum Schutz von Opfern von Straftaten. Das ist eine notwendige Ergänzung, die rechtzeitig vorgenommen wird. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Die Legislaturperiode geht zu Ende. Im Laufe dieser Legislaturperiode hat sich gezeigt - ich habe das hier, im Plenum, schon ein paarmal gesagt -, dass die Rechtspolitik über den kleinen Kreis der Interessierten, der Fachleute hinaus wieder als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen wird. Die Rechtspolitik wird inzwischen nicht mehr nur in Fachzeitschriften diskutiert. Wir haben in diesen vier Jahren sehr viel bewegt. An dieser Stelle möchte ich der Justizministerin ausdrücklich den herzlichen Dank der Koalitionsfraktionen für ihr Engagement und den Mut, mit dem sie diesen Weg mit uns gemeinsam gegangen ist, aussprechen. ({11}) Wir haben vieles auf den Weg gebracht. Ich denke, dass wir diese Politik werden fortsetzen können. Der vorliegende Gesetzentwurf gehört zu dem großen Aufgabengebiet „Modernisierung der Justiz“. Dieses Aufgabenfeld ist noch lange nicht abschließend bearbeitet; allerdings sind wir schon ein gutes Stück auf diesem Weg vorangekommen. Nach dem 22. September werden wir diesen Weg in der Regierungsverantwortung konsequent weitergehen. Schönen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rechtspolitik ist sicherlich von großer Bedeutung. Es erfolgen Weichenstellungen, die vielleicht erst in ferner Zukunft wirken. Rechtspolitik ist nicht spektakulär und erfährt deshalb kein großes Interesse. Das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. Das stellen wir auch fest, wenn wir hier in die Runde schauen. Dennoch sind die Themen, die wir zu behandeln haben, sehr wichtig. Sie betreffen die Öffentlichkeit, selbst dann, wenn die Öffentlichkeit diese Themen nicht immer so wahrnimmt, wie wir das gerne hätten und wie es der Sache gerecht würde. Das Sanktionensystem ist ganz gewiss ein solches Thema. Darüber wurde lange diskutiert. Eine Kommission wurde eingesetzt, die zur Mitte der Legislaturperiode einen Bericht vorgelegt hat. Es wurde ein Referentenentwurf erstellt, über den diskutiert wurde. Letztendlich wurde er allerdings zu großen Teilen abgelehnt. Leider liegt der eigentliche Gesetzentwurf erst jetzt vor. Er wird der Diskontinuität verfallen, das heißt, dieser Gesetzentwurf kann keine Rechtswirksamkeit mehr erlangen. Wir wissen, dass sich die Koalition nicht einig geworden ist. Die Buschtrommel hat uns mitgeteilt, ({0}) dass die Grünen, vor allen Dingen Sie, Herr Ströbele, blockiert haben. Deswegen liegt uns heute eigentlich nicht mehr als ein Diskussionsentwurf vor. Wir können darüber zwar diskutieren; wenn wir ihn aber verabschieden wollten, müssten wir das schon in der nächsten Woche tun. Das würde der Sache nicht gerecht werden. Die Grünen haben in den vergangenen vier Jahren insgesamt ziemlich viel blockiert. ({1}) Es gab Ansätze, die wir als beachtenswert beurteilt haben. Die Grünen haben aber versucht, möglichst viele ihrer ideologischen Vorstellungen in der Rechtspolitik durchzusetzen. Sie haben viele Gesetzentwürfe schon im Ansatz blockiert und sich damit ganz gewiss als regierungsunfähig erwiesen. Lassen Sie mich zur Sache zurückkommen. Dieser Gesetzentwurf enthält immerhin nicht mehr die Punkte des Referentenentwurfs, die wir am heftigsten attackiert haben. So wurde die Ausweitung des Halbstrafenerlasses herausgenommen. Auch auf den Ersatz von Gefängnisstrafen bis zu sechs Monaten durch gemeinnützige Arbeit, das so genannte Schwitzen statt Sitzen, wurde verzichtet. Andere Überlegungen wurden in den Referentenentwurf gar nicht erst aufgenommen: das „polizeiliche Strafgeld“ oder die Ausdehnung der Bewährung von zwei auf drei Jahre Gefängnisstrafe. All diese Überlegungen sind in diesem Entwurf jetzt nicht mehr vorhanden. Da hat sich offenbar die öffentliche Debatte gelohnt. Es hat sich aber auch der Widerstand von unserer Seite gelohnt. Insoweit als hier Vernunft eingekehrt ist, können wir unsererseits einen Erfolg verzeichnen. Aber auch das, was jetzt noch vorliegt, kann unsere Zustimmung zunächst einmal nicht finden. Es ist ja, wie gesagt, ein Diskussionsentwurf. Deshalb brauchen wir uns keine Gedanken darüber machen, wie wir darüber eines Tages abstimmen. Wir werden darüber nicht mehr abstimmen. ({2}) Die Vorschläge jedenfalls, die jetzt gemacht werden, finden nicht unsere Zustimmung. Das gilt ganz gewiss für die Ableistung gemeinnütziger Arbeit anstelle einer Ersatzfreiheitsstrafe. Im Augenblick haben wir die Regelung, dass der, der keine Geldstrafe bezahlt, mit einer Ersatzfreiheitsstrafe rechnen muss. Das geht insbesondere auf das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969, damals noch unter dem Justizminister Heinemann, zurück, mit dem man den Versuch gemacht hat, die vielen kürzeren Freiheitsstrafen, die damals aufgrund der zahlreichen Verkehrsstraftaten überhand genommen hatten, durch Geldstrafen zu ersetzen. Das ist auch gelungen. Heute haben wir bei einem Strafmaß von bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe fast nur noch Geldstrafen. Die Geldstrafe ist also im Grunde genommen das wichtigste Sanktionsmittel in unserem gesamten Sanktionssystem. Das war gewollt. Es gab aber damals gerade von unserer Seite her Warnungen. Man sagte: Vorsicht, das führt unter Umständen zur Aufweichung des Strafrechts. - Die Entwicklung hat gezeigt, dass dies so nicht der Fall gewesen ist, wir die Geldstrafe in ihrer Bedeutung unterschätzt haben und die Geldstrafe durchaus ein vernünftiges Mittel im Sanktionssystem ist. Aber alle, die damals die Geldstrafe als wichtiges Sanktionsmittel eingeführt haben, waren sich darüber einig - das finden Sie auch in jedem Kommentar -: Das Rückgrat der Geldstrafe muss immer die Ersatzfreiheitsstrafe bleiben; sie muss im Hintergrund stehen und drohen, wenn der Täter nicht bereit ist, seine Geldstrafe zu bezahlen. Nun kehren Sie das aber um: Sie setzen an die Stelle der Ersatzfreiheitsstrafe nunmehr als Strafe - wenn man das so bezeichnen will - die Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit. Das ist eine als viel weniger einschneidend empfundene Sanktion. Wir wissen ja, wie so etwas abläuft. Oft ist das nicht mehr als ein überwachter Arbeitsdienst. Angesichts dessen, wie schlecht das im Strafvollzug organisierbar ist - es ist ja nicht ganz einfach, immer auch eine adäquate Arbeit zu finden -, haben wir große Bedenken, die wir natürlich gegenüber Ihrem Vorschlag geltend machen müssen. Wir halten diese Bedenken aufrecht und glauben, dass das, bevor hierüber entschieden wird, im Rahmen einer Anhörung genau geprüft werden muss. Wir meinen, dass die Ersatzfreiheitsstrafe immer noch ein besserer Ersatz für eine Geldstrafe ist als gemeinnützige Arbeit. ({3}) Sicherlich ist auch uns bewusst, dass es Probleme bezüglich ganz reicher und ganz armer Täter gibt. Dessen waren sich die damaligen Initiatoren auch bewusst. Deswegen haben wir dann ja auch den Tagessatz eingeführt, um hier zu mehr ausgleichender Gerechtigkeit zu kommen. Wir wissen, dass es sich bei der Geldstrafe nicht um eine ideale Strafform handelt; aber es gibt ja überhaupt keine ideale Strafform. Sie werden nie eine ideale Strafform finden, wenn Sie beim konkreten Einzelfall ansetzen. Es steht ja der Vorwurf im Raum, dass die ganz Reichen sich mit dem Zahlen einer Geldstrafe leicht tun und die ganz Armen nicht zahlen könnten. Man sollte aber nicht unterschätzen, dass auch die ganz Reichen aufgrund des Tagessatzes die Geldstrafe spüren. Die ganz Armen, die wirklich nicht in der Lage sind, die Geldstrafe zu leisten, können ja die dann drohende Ersatzfreiheitsstrafe schon nach heutigem Recht durch gemeinnützige Arbeit abwenden. In besonderen Härtefällen, also wenn jemand körperlich dazu beispielsweise nicht in der Lage ist, kann schon heute der Straferlass erfolgen. Da wir jetzt schon über entsprechende gesetzliche Regelungen verfügen, treffen Ihre Überlegungen nur teilweise das Problem. Auch Ihre Umrechnung von Tagessatz in Arbeitsstunden führt nach meiner Auffassung zu einer weiteren Aufweichung. Im Augenblick gilt, dass ein Tagessatz Geldstrafe durch sechs Arbeitsstunden ausgeglichen werden kann. Nun wollen Sie aus den sechs Arbeitsstunden drei machen. Damit weichen Sie das Sanktionsmittel Geldstrafe zweifellos weiter auf. Dann wollen Sie auch noch für einen Tag Freiheitsstrafe zwei Tagessätze Geldstrafe vorsehen. Im Moment entspricht ein Tagessatz einem Tag Freiheitsstrafe; 30 Tagessätze entsprechen also 30 Tagen Freiheitsstrafe. Nach Ihrem Modell würden 30 Tagessätze 15 Tagen Freiheitsstrafe entsprechen. Das bedeutete wiederum eine Aufweichung. ({4}) - Das liegt auf der Hand: Sie haben einfach die Hälfte weniger. Hier stellt sich die Frage nach dem Warum gar nicht. ({5}) - Es ist doch eine Aufweichung, wenn die Ersatzfreiheitsstrafe nicht mehr in dem Maße droht, wie es im Augenblick der Fall ist. Was soll das denn anderes als eine Aufweichung sein? Wir meinen, dass auch darüber ernsthaft und gründlich nachgedacht werden muss. Wir haben heute nicht darüber zu entscheiden. Ich bringe hier nur eine Gegenvorstellung zu Ihrem Diskussionsentwurf vor; mehr ist uns ja nicht vorgelegt worden. Die täterfreundliche Ausgestaltung der Verwarnung mit Strafvorbehalt kann unter Umständen ebenfalls zu einer Aufweichung führen. Wir müssen sehr aufpassen, dass die Strafverfolgung, also das Ermittlungsverfahren und der Strafprozess, nicht zur Farce wird. Anderenfalls fragen sich zum Schluss nämlich die Polizeibeamten, die sich viel Mühe gegeben haben, einen Täter dingfest zu machen, ob ihre Ermittlungen überhaupt noch einen Sinn haben. Da muss man sehr aufpassen. Deswegen muss man auch darüber noch einmal gründlich nachdenken. ({6}) - Herr Hartenbach, ich bitte hier um nichts anderes als darum, noch einmal hierüber nachzudenken. Sie haben einen Diskussionsentwurf vorgelegt, ich mache einen Gegenvorschlag. Jetzt bitte ich Sie, in der Sommerpause darüber nachzudenken. Die Aufwertung des Fahrverbotes als Hauptstrafe begrüßen wir. Wir haben eine weiter gehende Vorstellung. Wir wollen das Fahrverbot nicht nur für Straftaten, die mit Verkehrsdelikten in Verbindung stehen, sondern generell einführen. Aber auch darüber wird man noch einmal diskutieren und nachdenken können. Auch begrüßen wir es, dass das Opferinteresse im Vordergrund steht und vor der Geldstrafe rangiert; darin stimmen wir mit Ihnen ebenfalls überein. Dass aber der Täter-Opfer-Ausgleich vor dem Urteil mit dem Täter-Opfer-Ausgleich nach dem Urteil, wenn also der Täter weiß, wohin die Reise geht, und wenn er kalkulieren kann, dass er um eine vom Gericht erlassene Strafe vielleicht noch herumkommt, wenn er sich am Täter-Opfer-Ausgleich beteiligt, gleichgestellt werden soll, halten wir für weniger gut. Auch hier zeigt sich nach unserer Auffassung wieder eine Aufweichung, gegen die wir uns wenden werden. Aber darüber müssen wir ebenfalls noch diskutieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der kommenden Legislaturperiode wird die Reform des Sanktionensystems zu einem wichtigen Thema werden, dem sich alle Parteien stellen müssen. Darüber müssen wir, wie ich meine, in der kommenden Legislaturperiode heftig streiten. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition hat keinen Diskussionsentwurf und auch keinen Referentenentwurf, sondern einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten intensiv über die Reform des Sanktionensystems diskutiert. Deshalb sind wir für diese Debatte auch gut präpariert. Wir stellen unserem Entwurf für das Gesetz zur Reform des Sanktionenrechts zwei Punkte voran. Zum einen stärken wir durch ganz verschiedene Maßnahmen den Gedanken der Opferhilfe. Wir helfen den Opfern von Straftaten. Zum anderen wollen wir darauf achten, Sanktionen zielgenauer und effizienter einzusetzen. Sie sollen zielgenauer eingesetzt werden, um dem Täter das Unrecht seiner Tat wirklich vor Augen zu führen, aber auch effizienter, indem wir die Ressourcen des Strafvollzuges nicht unnütz zum Beispiel für Ersatzfreiheitsstrafen vergeuden und damit auch die Justizvollzugsbeamten frustrieren, weil sie wegen der mit den Ersatzfreiheitsstrafen zusammenhängenden Bürokratie überproportional belastet werden und dadurch zum Eigentlichen ihrer Arbeit, nämlich zur Resozialisierung, zur Betreuung und Beaufsichtigung von Mittel- und Langzeitstraflern, nicht kommen. Das neue Sanktionenrecht bedeutet einen Durchbruch für den Opferschutz in Deutschland. 10 Prozent der Geldstrafen müssen künftig an anerkannte gemeinnützige Einrichtungen der Opferhilfe geleistet werden. Dies wird die Betreuung der Opfer in unserem Land qualitativ enorm verbessern. Viele dieser Opferhilfeeinrichtungen funktionieren überhaupt nur, weil sich Bürgerinnen und Bürger dort ehrenamtlich engagieren. Mit dem neuen Sanktionenrecht leisten wir einen Beitrag zu einer noch effizienteren Betreuung. Von daher ist es kein Wunder: Nicht nur die vielen kleinen Opferhilfeinitiativen unterstützen dieses Gesetz; auch der Weiße Ring begrüßt unsere Reform nachdrücklich. Aber den Opfern helfen wir nicht nur dadurch, dass wir den Einrichtungen einen Teil der Geldstrafen zufließen lassen, sondern auch dadurch, dass wir geregelt haben, dass bei der Vollstreckung von Geldstrafen die Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer klar im Vordergrund steht. Wir wollen nicht, dass das Opfer einer Straftat nur deshalb keinen Schadensersatz erhält, weil der Staat auf die Begleichung der Geldstrafe pocht. Hier muss das Opfer Vorrang haben. ({0}) Genau das regeln wir in unserem jetzt vorgelegten Entwurf. Meine Damen und Herren, ein gut funktionierendes System von Sanktionen muss die Gerichte in die Lage versetzen, im Einzelfall zielgenau auf das Unrecht zu reagieren. Das geltende Sanktionenrecht, soweit es Erwachsene betrifft, hat sich hier als viel zu starr erwiesen. Nur Geld- und Freiheitsstrafen als Hauptstrafen reichen hier nicht aus, um in geeigneter Weise mit spezialpräventiver Zielrichtung auf Straftäter einzuwirken. Das, was wir an unserem Jugendstrafrecht so schätzen, ermöglichen wir jetzt auch im Erwachsenenstrafrecht. Wir geben den Gerichten ein breiteres Spektrum von Sanktionen an die Hand - nicht sanfter, aber dafür treffsicherer und manchmal auch schmerzhafter bzw. schweißtreibender. Wir erweitern den Anwendungsbereich der gemeinnützigen Arbeit unter dem Motto: Schwitzen statt sitzen. Gemeinnützige Arbeit soll mehr als bisher zur Vermeidung von kurzen Freiheitsstrafen herangezogen werden. Wir wollen, dass so die entsozialisierende Wirkung des Strafvollzuges denjenigen erspart bleibt, die ursprünglich „nur“ zu einer Geldstrafe verurteilt worden sind. Ein Tagessatz bei der Geldstrafe entspricht künftig drei Arbeitsstunden. Dieser Umrechnungsmaßstab ist für die Betroffenen auch deutlich attraktiver als das, was in den meisten Ländern heute auf Grundlage von Art. 293 EGStGB der Fall ist. ({1}) - Nein, Herr van Essen, es geht hier nicht um Täterschutz, sondern tatsächlich darum, in solchen Fällen, in denen die Leute anderenfalls in den Strafvollzug gehen würden, die Konsequenz zu vermeiden, dass sie womöglich nur wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe von ein, zwei oder drei Wochen auch noch Nachteile im Beruf haben oder ihre Stelle verlieren. In diesen Fällen werden die Leute nicht einfach laufen gelassen, sondern es wird etwas mit ihnen gemacht. Es ist äußerst unangenehm, nach Feierabend noch drei, vier, fünf oder sechs Stunden abzuarbeiten oder dadurch das Wochenende zu verlieren. Aber wir verhängen keine Strafe, die eine Karriere als Straftäter noch wahrscheinlicher macht, indem wir darüber hinaus seine Existenzgrundlage beschädigen. Wir müssen reagieren, aber dabei beachten, dass diese Leute mit verunsichernden Lebensläufen in Richtung Kriminalität abzurutschen drohen. Bei ihnen müssen wir korrigierend eingreifen und nicht aus symbolischer Härte mehr Schaden anrichten, als wir Nutzen für die Gesellschaft erzielen. ({2}) Wir tun auf diese Weise etwas dafür, dass unsere überfüllten Gefängnisse künftig nicht mehr von Menschen belegt werden, die auch vom Unrechtsgehalt ihrer Tat her da nicht hineingehören. Nicht Eierdiebe gehören in den Knast, sondern Schwerverbrecher. Zudem erweitern wir den Anwendungsbereich des Fahrverbots, denn wir wissen: Selbst ein nur kurzfristiger Führerscheinentzug kann mehr wehtun als eine Geldstrafe, die mancher mal eben auf die Schnelle begleicht. ({3}) Deshalb werten wir das Fahrverbot zur Hauptstrafe auf. Das heißt, dass es nicht, wie bislang, nur neben, sondern auch anstelle einer Geldstrafe verhängt werden kann. Wir erhöhen die mögliche Zeitdauer eines Fahrverbotes von drei Monaten auf sechs Monate. Damit es häufiger angewandt wird, erstrecken wir es auch auf solche Taten, bei denen das Auto zum Beispiel als Tatmittel benutzt wurde. Dieser Zusammenhang ist aus unserer Sicht auch geboten, um letztlich kein Sonderrecht für Führerscheininhaber zu schaffen und um den inhaltlichen Konnex zwischen Tat und Sanktion zu wahren. Herr Geis, lassen Sie uns doch erst einmal diesen Schritt gemeinsam gehen, bevor wir in einem weiteren Schritt diskutieren, ob man diese Regelungen unabhängig von den genannten Voraussetzungen anwenden will. Darüber lässt sich sicher diskutieren; ich meine aber, das birgt zusätzlich einige verfassungsrechtliche Probleme, die bei dem, was wir hier geregelt haben, nicht bestehen. Unter pädagogischen Gesichtspunkten bin ich - zum Leidwesen mancher Kollegen in meiner Fraktion - bei diesem Punkt sogar relativ nah an Ihren Überlegungen. Aber verfassungsrechtlich gibt es da ein Problem, das mich scheuen lässt, diesen Gedanken rechtspolitisch weiter zu verfolgen. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt nach den §§ 59 ff. StGB ist in der Praxis deutlich zu selten angewandt worden. Wir erweitern deshalb jetzt ihren Anwendungsbereich und integrieren in den Auflagenkatalog die gemeinnützige Arbeit, schaffen also auch hier mehr Flexibilität für die Gerichte. Sie erhalten nun die Möglichkeit, auf den konkreten Fall mit individuellen Auflagen und Weisungen besser zu reagieren. Wir haben unseren Kurs einer am Opferschutz orientierten Kriminalpolitik bereits zu Beginn dieser Wahlperiode mit der verfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleiches aufgenommen. Wir haben diesen Kurs in den letzten Monaten konsequent fortgesetzt. Mit dem Gewaltschutzgesetz und dem Kinderrechteverbesserungsgesetz haben wir die Opferrechte vor allem von Frauen und Kindern gestärkt. Der Weiße Ring begrüßt ausdrücklich auch unsere Lösung bei der Sicherungsverwahrung als effektiven und rechtsstaatskonformen Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Straftaten. Mit der Reform des Sanktionenrechts gehen wir jetzt einen weiteren Schritt hin zu mehr Opferschutz. ({4}) In der nächsten Legislaturperiode werden wir als Koalition im Rahmen der Strafprozessreform gemeinsam die Verletztenrechte weiter verbessern. Sie kennen unser Eckpunktepapier hierzu, das zurzeit in Gesetzesform gegossen wird. Wir wollen zum Beispiel, dass das Adhäsionsverfahren im Strafverfahren häufiger Anwendung findet als bisher. ({5}) Das ist eine Forderung, die auch auf das Wohlwollen der FDP trifft; es macht es ja nicht schlechter, sondern eher besser, wenn man eine breitere Unterstützung für diese Gedanken hat. Außerdem wollen wir, dass Opferzeugen durch den Einsatz technischer Mittel quälende Mehrfachvernehmungen erspart bleiben. ({6}) Es gibt eine Menge in dieser Richtung zu tun, um die Rechtspolitik der Koalition fortzusetzen. Daran wollen wir nach dem 22. September gemeinsam weiterarbeiten. ({7}) Ich denke, gerade das, was wir in der Rechtspolitik vorgelegt haben, zeigt, dass diese Koalition auf dem richtigen Weg ist, und dass wir bei der Bekämpfung der Kriminalität, für die Opfer von Straftaten und für einen effizienteren Einsatz der Ressourcen der Strafrechtspflege viel erreicht haben. Vielen Dank. ({8}) Volker Beck ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Kollege van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Beck hat eben die Taten der Koalition gerühmt und das Gesetz, das wir gerade beraten, unter deren Pluspunkte eingereiht. Jeder, der ein bisschen genauer hinschaut, sieht, dass der Gesetzentwurf heute hier eingebracht wird, ohne dass er irgendeine Chance hat, tatsächlich verabschiedet zu werden. ({0}) Ich bedaure das Ganze außerordentlich; denn die Vorschläge der Kommission, die von FDP-Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig eingesetzt worden ist, liegen seit März 2000, also seit über zweieinviertel Jahren, vor, ohne dass irgendwelche Vorschläge in den Bundestag eingebracht worden sind. Ich bedaure das sehr, weil wir in der Beurteilung übereinstimmen, dass wir tatsächlich eine Reform des Sanktionenrechts brauchen. Ich bedaure auch, dass die Art und Weise, wie das Ganze präsentiert worden ist, die Möglichkeit der Umsetzung nicht gerade erhöht hat. Wenn eine Justizministerkonferenz in Weimar stattfindet, dort alle Länderjustizminister versammelt sind, die Bundesjustizministerin gegenüber ihren Länderkollegen kein einziges Wort über ihre Vorstellungen verliert und wenige Stunden später in Berlin die entsprechenden Vorschläge verkündet werden, dann ist klar, dass das natürlich zu Widerstand bei den Ländern führen wird, deren Mitwirken wir in diesem Zusammenhang in besonderer Weise brauchen. ({1}) Die dürfen nicht vor den Kopf gestoßen, sondern müssen mit einbezogen werden. Dass sogar die SPD-Justizminister eine Resolution mit unterschrieben haben, in der sie gegen diese Vorgehensweise protestieren, ist ein deutliches Signal dafür, dass hier nicht richtig reagiert worden ist. ({2}) Was den Gesetzentwurf anbelangt, möchte ich zunächst mit dem beginnen, was mir außerordentlich gut gefällt. Der Kollege Stünker hat aus dem Wahlprogramm der FDP zitiert, dass Opfer in den Mittelpunkt des Strafverfahrens gehören. Genauso ist es. Das ist genau unsere Linie. ({3}) Ich finde, dass die Vorstellungen, die hier entwickelt worden sind, genau der richtige Weg sind. Eine Vorstellung ist, dass Opferschutzorganisationen einen Teil der Geldstrafe bekommen. Außerordentlich gut gefällt mir auch, dass es einen Vorrang dahin gehend geben soll, dass zunächst die Schäden beim Opfer beglichen werden sollen, bevor die Geldstrafe gezahlt wird. Es wird immer wieder kritisch danach gefragt, wieso der Staat derjenige ist, der zunächst seinen Anteil einfordert. Häufig ist dann das Geld für die Entschädigung der Opfer nicht mehr vorhanden. Auch das scheint mir ein richtiger Ansatz zu sein, der unsere ausdrückliche Unterstützung findet. Bei anderen Punkten bin ich skeptischer; das will ich deutlich machen. Über den Ansatz bezüglich der gemeinnützigen Arbeit kann und muss man sicherlich nachdenken. Wir müssen nur feststellen, dass wir diesen Ansatz in vielen Bereichen haben, nämlich zum Beispiel bei der Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit unter einer Auflage - beispielsweise kann die Auflage sein, gemeinnützige Arbeit zu leisten -, bei der Strafaussetzung zur Bewährung - hier wird in aller Regel ebenfalls etwas auferlegt, damit derjenige merkt, dass er etwas Falsches getan hat - und bei der Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung. Damit schaffen wir natürlich eine erhebliche Konkurrenz für die Stellen, die von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt werden müssen. Das Ganze konkurriert natürlich auch mit dem Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und geht immer mehr in den Bereich hinein, in dem auch privatwirtschaftliche Betriebe arbeiten, beispielsweise im Landschaftsschutz. Wir müssen sehen, dass wir durch diese Erweiterung nicht dazu beitragen, dass versicherungspflichtige Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft auf einmal eine staatliche Konkurrenz bekommen, an der uns nicht gelegen sein kann. ({4}) Deshalb werden wir sorgfältig prüfen, ob nicht diese Drittwirkungen eintreten. Das muss uns große Sorgen machen. Bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt bin auch ich ehrlich gesagt sehr zögerlich, was mit meinen beruflichen Erfahrungen in der Justiz zusammenhängt. ({5}) Wenn man bei Jugendlichen eine jugendrichterliche Ermahnung ausgesprochen hat, dann haben die Jugendlichen auf dem Flur immer gesagt: Ich bin freigesprochen worden. - Das bloße „Du, du, du!“, das der Richter gegenüber den Jugendlichen ausgesprochen hat, ist bei denen so angekommen, dass keine Strafmaßnahme verhängt worden ist. ({6}) Sie kamen mit der Erwartung, für ihr Fehlverhalten eins auf den Deckel zu bekommen. Stattdessen hat es eine bloße Ermahnung gegeben, die von den Jugendlichen als Freispruch empfunden worden ist. Ich habe die große Sorge, dass die Verwarnung mit Strafvorbehalt ähnliche Folgen haben könnte, dass wir damit zu einer Entkriminalisierung beitragen - eine Tendenz, die wir ohnehin schon haben. Wir erleben bei den Ordnungswidrigkeiten, dass immer mehr Sanktionsmöglichkeiten bestehen, und wir erleben im Bereich des kriminellen Unrechts - dazu haben wir durch die Erweiterung der Anwendungsvorschriften, was die Einstellung wegen Geringfügigkeit anbelangt, beigetragen -, dass wir eine schleichende Entkriminalisierung haben. ({7}) Das ist etwas, woran wirklich niemand Interesse haben kann, weil es nämlich die Abschreckungswirkung, die Strafrecht haben soll, schwächt. ({8}) Sehr skeptisch bin ich auch bezüglich des Fahrverbots. Der Bereich des Fahrverbots - das ist meiner Meinung nach richtig - ist zunächst einmal so geregelt worden, dass die Verbindung zu der Benutzung des Autos nicht aufgegeben worden ist. Das ist uns Liberalen immer besonders wichtig gewesen. Ich bin trotzdem skeptisch. Man muss doch nach dem Strafzweck fragen. Der Strafzweck ist wahrscheinlich die Einschränkung der Mobilität. Wenn dem so ist, dann frage ich, warum es eine Beschränkung auf die Benutzung des Autos geben soll. Man muss nämlich auch Drittwirkungen beachten. Diejenigen, die auf dem flachen Land wohnen, dort eine Arbeitsstelle haben und den öffentlichen Nahverkehr nicht benutzen können, sind auf das Auto angewiesen. In diesem Fall kann das, was Herr Beck vorhin im Zusammenhang mit kurzfristigen Freiheitsstrafen gesagt hat, selbstverständlich auch beim Fahrverbot als selbstständige Strafe eintreten, nämlich dass dem Betroffenen die Arbeitsstelle gekündigt wird. ({9}) Das kann nicht der Zweck dieser Reform sein. ({10}) Deswegen muss über diesen Aspekt neu nachgedacht werden. Mich wundert nicht, dass die Grünen das Fahrverbot besonders loben. ({11}) Für den, der das Auto als Feindbild hat, wie es bei den Grünen der Fall ist, ({12}) ist das Fahrverbot als Strafe natürlich das Nonplusultra der Reform des Sanktionensystems. Wir als Liberale stehen natürlich für eine rationale Strafrechtspolitik. Mit uns ist das deshalb nicht zu machen. Die heutige Debatte ist ein erster Schritt auf dem Weg zu einer notwendigen Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems. Wir werden uns daran beteiligen. Wir brauchen diese Reform möglichst schnell. Deshalb wird die neue Bundesregierung sie auch möglichst schnell angehen. Vielen Dank. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Kollegin Kenzler hat gebeten, ihre Rede zu Protokoll geben zu dür- fen.1) Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren wir so. Jetzt hat die Bundesjustizministerin Herta DäublerGmelin das Wort. - Herr van Essen, Sie dürfen die Ministerin jetzt nicht am Reden hindern.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Herrn van Essen nur kurz mitgeteilt - er muss uns in Kürze verlassen -, dass seine Annahme, die er vorhin vorgetragen hat, nicht richtig ist. Dieser Punkt ist aber nicht besonders wichtig. Wenn das alles ist, was Sie gegen ein modernes Sanktionensystem einzuwenden haben, dann liegen wir schon richtig. ({0}) Lassen Sie mich mit der Frage beginnen, was eigentlich die Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft im Bereich der Kriminalpolitik ist. Die Menschen können von ihrem Staat zu Recht mehr Sicherheit verlangen. Diese Sicherheit kann man im Rahmen einer rationalen Kriminalpolitik durch vier Elemente erreichen: Erstens geht es darum, Straftaten mit vernünftigen Straftatsvorschriften und angemessenen Sanktionen entschlossen entgegenzutreten. Zweitens geht es darum - das ist der präventive Aspekt -, die Ursachen von Kriminalität ebenso entschlossen zu bekämpfen. Drittens muss es darum gehen, dass wir einen vernünftigen Strafvollzug sicherstellen, der nicht allein die Gesellschaft schützt, sondern auch die Strafvollzugsbediensteten in die Lage versetzt, mit den Straftätern in den Gefängnissen so zu arbeiten, dass möglichst wenige von ihnen rückfällig werden. Das ist das Grundprinzip der Resozialisierung. ({1}) Viertens geht es darum - das ist ein ganz wichtiger Punkt -, die Hilfe für die Opfer sicherzustellen, wenn der Staat die Sicherheit nicht gewährleisten konnte. Wer ist der Staat in diesem Fall? Das sind der Bund und die Länder mit ihren im Grundgesetz festgelegten Zu- ständigkeiten. Gerade im Bund haben wir in den vergan- genen vier Jahren in diesem Bereich eine Menge erreicht. Das zeigt nicht nur der gemeinsame Periodische Sicher- heitsbericht sehr deutlich, den wir neu aufgelegt haben. Das erkennt man auch an der Kriminalstatistik und an der Strafverfolgungsstatistik. Ich halte es für gut, dass im Jahr 2001 nicht nur die Zahl der Delikte von Kindern und He- ranwachsenden, sondern auch die Zahl der Delikte im Be- reich des gefährlichen Raubes gesunken ist. Ich halte es ebenfalls für wichtig, dass sich die Menschen in ihrer Um- gebung sicher fühlen. Das sagen nach Umfragen über das Sicherheitsgefühl immerhin 70 Prozent der Befragten. 1) Anlage 6 Ich halte es auch für wichtig - ich hätte mir da allerdings ein wenig mehr Unterstützung gerade von den Kolleginnen und Kollegen der Opposition gewünscht -, dass wir entschlossen gegen die Ursachen von Gewalt angegangen sind. ({2}) Es war gut, dass Sie sich beim Gewaltschutzgesetz dazu durchgerungen haben, mitzumachen. Wir können in der Tat feststellen, dass dieses Gesetz eine wirklich vernünftige Weichenstellung verstärkt, weil die Täter, die Schläger, mittlerweile verstehen, dass es sich nicht lohnt zu prügeln. Denn die gemeinsam bezogene Wohnung bekommen sie nicht; die bleibt beim Opfer und bei den Kindern. Diese Opfer müssen in einer solchen Situation nicht mehr in das Frauenhaus. In anderen Bereichen hätte ich mir noch mehr Unterstützung gewünscht, zum Beispiel bei der Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Ich weiß, Sie sagen, Sie hätten gerne eine andere Lösung gehabt. ({3}) Aber irgendwann muss man sich entscheiden. 20 Jahre Diskussion, verehrter Herr Kollege Geis, waren einfach genug. Den in diesem Zusammenhang bestehenden Teufelskreis der Gewalt müssen wir durchbrechen. Hilfe für Opfer, der Täter-Opfer-Ausgleich, ein Fonds für Opfer von Rechtsextremismus und Hilfe für die Opfer von terroristischen Anschlägen, all das sind gute Dinge. Ich hoffe, dass wir im Bundesrat am 12. Juli dieses Jahres auch mit Ihrer Hilfe im Hinblick auf die vorbehaltene Sicherungsverwahrung so weit kommen, dass er dem zustimmt, was wir in diesem Haus beschlossen haben. ({4}) Auch das ist eine kleine Nagelprobe, bei der man beweisen kann, ob man ein Vorhaben wirklich ernst nimmt. Der Gesetzentwurf, über den wir heute diskutieren, weist nicht nur auf das, das wir gemacht haben, sondern auch auf die Zukunft. Eine rationale Kriminalitätspolitik muss in vier Punkten, über die aus unterschiedlicher Warte diskutiert wurde, fortgesetzt werden. Lassen Sie mich bei der Hilfe für die Opfer beginnen. Ich finde es wirklich gut, dass auch Sie der Meinung sind - ich habe Sie da, glaube ich, richtig verstanden -, dass 10 Prozent der Geldstrafen für Zwecke der Opferhilfe verwandt werden sollen. ({5}) Das ist einer der Punkte, die wir mit den Ländern - ich darf Sie darauf hinweisen, dass es nicht ganz einfach sein wird - unter verschiedenen Gesichtspunkten in zeitlich vernünftiger Form besprechen müssen. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Wir wissen ganz genau, dass die Länder ebenso wie der Bund an einer vernünftigen, rationalen Kriminalitätspolitik zu beteiligen sind und dass sie dafür über die entsprechenden Mittel verfügen müssen. Deswegen werden wir kluge und zeitlich verzahnte Vorschläge machen müssen. Wenn wir dies nicht tun, fehlen die genannten 10 Prozent, ohne dass die Einsparungen, die sich durch gemeinnützige Arbeit ergeben werden, tatsächlich vorhanden sind. Das sind Dinge, auf die ich sehr ausdrücklich aufmerksam mache. Hierüber müssen wir unmittelbar nach den Wahlen weiterdiskutieren. Dass der Weiße Ring, die Arbeitsgemeinschaft der Opferhilfen, die Frauenhäuser und die anderen Organisationen, die sich um Kriminalitätsopfer kümmern, eine hervorragende Arbeit machen und von uns ermutigt und unterstützt werden sollten, will ich ganz ausdrücklich betonen. Dem entspricht der vorliegende Gesetzentwurf in besonderer Art und Weise. ({6}) - Wenn das so ist, dann könnten auch Sie, verehrter Herr Kollege, klatschen. Ich finde deren Arbeit ganz hervorragend. ({7}) - Danke sehr. ({8}) Nun komme ich zum zweiten Element, zur gemeinnützigen Arbeit als primärer Ersatzstrafe. Sie ist übrigens genauso wichtig, verehrter Herr Gehb, wie die Verwendung von 10 Prozent der Geldstrafen für die Organisationen der Opferhilfe. ({9}) Verehrter Herr Geis, ich will Ihnen noch einmal deutlich machen, worum es eigentlich geht; denn ich habe den Eindruck, dass Sie hier, ohne es zu wollen, einen falschen Weg vorgeschlagen haben. Es geht nicht darum, für Menschen, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurden und die zahlen könnten, aber nicht zahlen wollen, eine andere Art der Sanktion zu schaffen. Wenn die Richter jemanden zu einer Geldstrafe verurteilen, dann muss diese Geldstrafe selbstverständlich bezahlt werden. Dies wird nur dann zu einem Problem, wenn es Menschen trifft, die sie nicht zahlen können. ({10}) - Nein, wenn es Menschen trifft, die zahlen wollen, aber nicht können. Das ist Ihr fundamentaler Irrtum. ({11}) - Nein, wie der Kollege Stünker schon sagte, handelt es sich im Uneinbringlichkeitsfall - auch Sie wissen das; aber lassen Sie es mich für die Öffentlichkeit ganz deutlich sagen - um Personen, die die Richter wegen einer kleineren Straftat zu einer Geldstrafe verurteilt haben und die nicht bezahlen können. Wir sind der Meinung, dass in diesem Falle die Ersatzfreiheitsstrafe nicht das richtige Mittel ist, sondern die gemeinnützige Arbeit. ({12}) - Ich habe mir übrigens gerade sagen lassen, es sei ein Zeichen von Demokratie, dass man auch zuhören könne, verehrter Kollege Geis. ({13}) Lassen Sie mich das einfach wiederholen. Es geht hier um Menschen, die die Geldstrafe, zu der sie aufgrund kleinerer Delikte verurteilt wurden, nicht zahlen können. Jetzt stellt sich die Frage: Warum sollen die eigentlich in Haft? ({14}) - Entschuldigen Sie, heute ist die primäre Ersatzstrafe selbstverständlich die Haft. Ich kann es nicht ändern; so steht es im Gesetz. Wenn Sie das nicht wollen, lieber, verehrter Herr Geis, dann seien Sie doch so freundlich und begeben Sie sich auf unsere Seite. ({15}) - Ja, ich weiß. Ich wollte nur ein bisschen freundlicher sein, damit er einmal anfängt zu denken. Er denkt gelegentlich und dazu will ich ihn jetzt ermutigen, weil er auch uns dazu ermutigt hat. Jetzt komme ich zur gemeinnützigen Arbeit. Gemeinnützige Arbeit als primäre Ersatzstrafe hat nur Vorteile gegenüber dem heute höchst unbefriedigenden Zustand: Die Ersatzfreiheitsstrafe ist ungerecht, weil es sich hier um Menschen handelt, die von den Richtern eben nicht zu einer Haftstrafe verurteilt worden sind. Diese Regelung ist auch deswegen außerordentlich wenig befriedigend, weil wir ganz genau wissen, dass gerade bei dieser Klientel vorhandene soziale Bindungen durch eine Freiheitsstrafe vollends abreißen: Das Arbeitsverhältnis wird aufgelöst, die Wohnung aufgegeben, die Familie muss vom Staat unterhalten werden. Dies ist teuer und hinterher stehen auch noch die Reintegrationskosten zur Zahlung an. Das alles wird noch dadurch übertroffen, sehr geehrter Herr Kollege Geis, dass den Staat ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe heute zwischen 80 und 100 Euro kostet. Wir sagen: Das ist falsch. ({16}) Wir wollen nicht, dass diese Menschen ins Gefängnis müssen, obwohl sie nicht ins Gefängnis gehören, dort lernen, was sie nicht lernen sollen, die Strafvollzugsbediensteten belasten, sodass diese weniger Möglichkeiten haben, zur Resozialisierung beizutragen, und schließlich den Strafvollzug belasten. Wir möchten, dass sie positive Arbeit leisten in Form von gemeinnütziger Arbeit, die vernünftig organisiert werden muss und organisiert werden kann, übrigens zu Preisen, die wesentlich niedriger sind als das, was wir heute an Gefängniskosten zahlen müssen. Wenn Sie sich damit befasst hätten, meine Damen und Herren, würden Sie jetzt zu Recht fragen, woher wir das wissen. - Das ist auch einer der Gründe, warum wir die Weichenstellung für die nächste Legislaturperiode jetzt angehen. - Wir wissen dies, weil in den letzten Jahren im Lande Mecklenburg-Vorpommern alle Ersatzfreiheitsstrafen im Wege eines durch eine Stiftung finanzierten Versuches nicht nur sehr sorgfältig beurteilt wurden, sondern weil auch ausprobiert wurde, welches das vernünftigste Organisationsprinzip ist, was an Positivem zu beobachten ist, was man dazu braucht und was das kostet. Diese Überlegungen liegen jetzt vor. Die wissenschaftliche Begleituntersuchung wird gerade geschrieben. All das führt in eine vernünftige Richtung. Wichtig ist Hilfe für die Opfer und dass wir als primäre Ersatzstrafe nicht die Freiheitsstrafe, sondern die gemeinnützige Arbeit haben. Sinnvoll - das ist ein Punkt, an dem ich Herrn van Essen, wenn er noch da wäre, widersprochen hätte; vielleicht sagen Sie es ihm - ist auch unsere Vorgehensweise bei der Ausweitung des Fahrverbotes. Die Ausweitung ist behutsam; das sage ich an die Adresse der CDU/CSU. Wir wissen ganz genau, dass man hier sehr sorgfältig abwägen und auch bedenken muss, dass eine solche Strafe durchgesetzt werden muss. Da gibt es Probleme. Nun in Richtung FDP gesagt: Wir halten das für sehr vernünftig, weil wir nicht einsehen, dass bei Menschen, die zu einer Geldstrafe verurteilt werden und sich sehr leicht damit tun, diese Strafe zu bezahlen, der Denkzetteleffekt einer vernünftigen rechtsstaatlichen Strafe ausbleiben soll. Wir sind der Meinung, dass gemeinnützige Arbeit oder ein Fahrverbot, in diesen Fällen den Richtern an die Hand gegeben, die rechtsstaatliche Denkzettelfunktion haben kann, die wir wollen. Meine Damen und Herren, wir stellen damit die Weichen für die kommende Legislaturperiode. Wir laden Sie wie immer ein, mit uns zu diskutieren. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Ihnen in den kommenden Jahren. Die Richtung stimmt. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, ich will mit drei Anmerkungen auf Ihre Ausführungen reagieren. Erstens finde ich die Art und Weise, mit der Sie auf einzelne Kollegen des Deutschen Bundestages eingehen, angesichts der bisher sachlichen Debatte völlig unangemessen. ({0}) Zweitens finde ich Ihre Argumentation im Zusammenhang mit der Ersatzfreiheitsstrafe unter Verweis auf die Kosten, die damit verbunden sind, systemwidrig; denn wenn Sie dieses Argument einführen, müssen Sie immer Strafe und Kosten im Zusammenhang mit der Unterbringung von Häftlingen diskutieren und das würde denklogisch stets zur Freiheit der Betroffenen führen. ({1}) Drittens sollten wir nicht versuchen, dort Unterschiede zu machen, wo es gar keine gibt. Sie haben gerade die Oppositionsfraktionen aufgefordert, bei der Ächtung von Gewalt den Vorschlägen der Regierung zu folgen. Ja, jetzt reibe ich mir doch die Augen. Im Verlauf dieser Legislaturperiode wurde mit den Stimmen der Oppositionsfraktionen des Deutschen Bundestages ein Gewaltschutzgesetz verabschiedet. Sie haben als Beispiel die Gewalt in der Erziehung genannt. Da reibe ich mir wieder die Augen. In der vergangenen Legislaturperiode - übrigens bei anderen Mehrheitsverhältnissen - ist unter Führung der damaligen Bundesregierung mit den Stimmen der Sozialdemokratie eine Bestimmung in das Zivilrecht aufgenommen worden, die wir gemeinsam getragen haben. Es gibt in dieser Frage überhaupt keine Unterschiede. Mit Blick auf die Neuregelung, die jetzt für das Bürgerliche Gesetzbuch gefunden worden ist, haben wir in den entsprechenden Debatten deutlich gemacht, dass wir diese Regelung aus bestimmten Gründen für zu weit gehend gehalten haben. Dabei ging es aber nicht darum, dass wir bei der Ächtung von Gewalt unterschiedlicher Auffassung sind. Ich wünsche mir, dass wir, wo es Unterschiede gibt, darüber streiten, aber nicht künstlich Unterschiede produzieren, wo es keine gibt. Das sollte auch die Bundesjustizministerin begreifen. ({2}) Vieles, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber leider nicht alles, was wir hier im Deutschen Bundestag beschließen, werden wir den Bürgerinnen und Bürgern erklären können. Das gilt auch für den vorliegenden Gesetzentwurf, davon bin ich überzeugt. Wir werden die Bürgerinnen und Bürger wahrscheinlich nicht in Gänze von der Richtigkeit der beabsichtigten Regelungen überzeugen können; denn dieser Gesetzentwurf läuft darauf hinaus, das Vorurteil in der Bevölkerung zu bestätigen, dass diejenigen, die in der Bundesrepublik Deutschland rechtskräftig als Straftäter verurteilt worden sind, auf dieser Strecke - ich werde versuchen, das zu erläutern - womöglich mit immer milderen Reaktionen rechnen können. Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition scheint auf den ersten Blick zu einer Ausweitung und Verschärfung der Strafsanktionen zu führen - man denke beispielsweise an den populären Begriff der gemeinnützigen Arbeit -, die Haken und Ösen sind gut versteckt. Ich will dafür Beispiele nennen. So soll die gemeinnützige Arbeit bei uneinbringlichen Geldstrafen als primäre Ersatzstrafe die bisher vorgesehene Haftstrafe ablösen. Hier sind wir in der Tat unterschiedlicher Auffassung. Wir sind nämlich der Meinung, dass dies im Grundsatz bereits nach den bestehenden Regelungen möglich ist. Unsere Kritik geht in eine ganz andere Richtung. Sie bezieht sich auf den Umrechnungsfaktor, den Sie vornehmen. Sie sagen nämlich: Ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe wird in drei Stunden gemeinnütziger Arbeit umgerechnet. Bei Menschen, die draußen sieben oder acht Stunden am Tag arbeiten, werden Sie dafür kein Verständnis finden. Sie werden diesen Umrechnungsschlüssel für nicht angemessen halten. ({3}) Wir kritisieren, dass dieser Schlüssel letztlich eine Privilegierung darstellt und in diesem Bereich insgesamt zu einer milderen Behandlung führt. ({4}) - Lautstärke ersetzt keine qualifizierten Gegenargumente. Sie sollten wenigstens versuchen, meine Argumente anzuhören. Ich will auf weitere Probleme hinweisen, die sich im Zusammenhang mit der gemeinnützigen Arbeit ergeben. Darauf hat die Ministerin erstaunlicherweise zum Teil schon hingewiesen. Gemeinnützige Arbeit wird zu organisieren sein. Sie muss aber auch kontrolliert werden. Der Deutsche Richterbund kritisiert genau dies. Er spricht von nicht organisierbarer und nicht finanzierbarer Bereitstellung von gemeinnütziger Arbeit und deren Überwachungsinstitutionen. Ich meine, wenn der Deutsche Richterbund schon auf Probleme hinweist, die sich in der Praxis ergeben, sollten wir uns auch einmal darüber unterhalten, dies nicht von heute auf morgen, sozusagen von Null auf Hundert, umzusetzen, sondern zu versuchen, die Umsetzung in verschiedenen Stufen erfolgen zu lassen. Noch eine Anmerkung zur Erweiterung des verkehrsstrafrechtlichen Fahrverbots. Die Beschränkung auf Delikte, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr und dem Kraftfahrzeug stehen, halten wir für falsch. Wir meinen, dass, wenn Fahrverbote als Bestrafung von Tätern ausgesprochen werden können, dies auch auf andere Delikte erstreckt werden sollte. Aber darüber können wir ja zu gegebener Zeit im Rahmen der Ausschussdebatten streiten. Ich möchte noch etwas zur Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt sagen. Uns erscheint diese Erweiterung unnötig. Zum einen gibt es bereits Regelungen, nach denen in der Praxis bei so genannten Einmal-Tätern die Verfahren eingestellt werden können. Ich denke an §§ 153 und 153 a StPO, an § 37 Betäubungsmittelgesetz und die Möglichkeit des Absehens von Strafe nach § 46 a StGB. ({5}) Zum anderen könnte diese neue Sanktionsart dazu führen, dass das bisher gestufte Sanktionensystem von Geldstrafe, Freiheitsstrafe mit Bewährung und Freiheitsstrafe um eine weitere unnötige Stufe, die Verwarnung mit Strafvorbehalt, erweitert würde, Herr Stünker. ({6}) Bei dem Täter, dem Opfer und den rechtstreuen Bürgerinnen und Bürger würde so - letztlich nicht zu Unrecht - der Eindruck erweckt, dass aufseiten der Justiz noch mehr als bisher die Verhängung einer Freiheitsstrafe gemieden wird. Dieser Eindruck sollte im Sinne der Kriminalprävention sowie des Sühnegedankens vermieden werden. Schließlich sieht der Gesetzentwurf als weiteren Hauptpunkt Änderungen im Bereich der Geldstrafe vor. Auch diese Änderungen sind nicht, zumindest nicht in Gänze, zu befürworten. Zwar ist die Berücksichtigung der Opferinteressen bei der Vollstreckung der Geldstrafe zu begrüßen. Jedoch ergibt sich aus dem Gesetzentwurf die Möglichkeit, aufgrund der Opferinteressen völlig auf die Vollstreckung einer Geldstrafe zu verzichten. Das kann nicht gewollt sein; denn dann würde eine strafrechtliche Würdigung einer kriminellen Handlung zugunsten einer mehr oder minder zivilrechtlichen Ausgleichsregelung, die gegebenenfalls ohnehin besteht, entfallen. Das halten wir für falsch. ({7}) Bestünde die Strafe lediglich in der Begleichung des zivilrechtlichen Anspruchs des Opfers, ist darin keine Bestrafung mehr zu sehen. Die strafrechtliche Sanktion würde gleichsam aufgehoben. Warn- und Sühnefunktion der Strafe gingen bei dieser Änderung nach unserer Auffassung völlig verloren. ({8}) Es ist weiterhin zu bedenken, dass die geplante zwingende Zuweisung eines Teils der Geldstrafe an gemeinnützige Organisationen der Opferhilfe zu einem von den Richtern kaum zu bewältigenden Verwaltungsmehraufwand führen würde. Alles in allem bleibt also festzuhalten, dass dieser Gesetzentwurf noch der intensiven Überarbeitung bedarf, bevor er die Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion finden könnte. Da dieser Gesetzentwurf sowohl im Vorfeld in Teilen Ihrer Koalition umstritten war und auch nach wie vor umstritten ist, ist die Einbringung ins Plenum in erster Lesung ohnehin Makulatur. Jeder der hier Sitzenden weiß, dass dieser Gesetzentwurf während dieser Legislaturperiode nicht mehr im Bundesgesetzblatt landen wird. ({9}) Erlauben Sie mir noch die Anmerkung: Angesichts der jetzt vorliegenden Fassung halten wir dies auch für richtig. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das heutige Gesetzesvorhaben veranlasst mich zunächst einmal, der Ministerin ganz herzlich Dank zu sagen, ({0}) die uns auch durch ihre Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit in dem Vorhaben unterstützt hat, diesen Gesetzentwurf noch einzubringen. ({1}) Ich bedanke mich auch ganz herzlich bei meinem Kollegen Professor Dr. Meyer, der eigentlich an meiner Stelle hier reden sollte, der aber, wie wir wissen, in Brüssel die Grundrechte-Charta ausarbeitet. Ich bedanke mich auch sehr ausdrücklich bei unserem ehemaligen Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Herrn Eylmann, der diese Kommission, die von Herrn Schmidt-Jortzig geleitet worden ist, begleitet hat ({2}) und mehr Verständnis und Verstand für Strafrecht aufgebracht hat, als Sie alle, die Sie da sitzen, zur Verfügung haben. ({3}) Alle, die in dieser Kommission gearbeitet haben, haben nämlich erkannt, dass es ganz wichtig ist, die Interessen des Opfers wieder in den Vordergrund zu stellen. Dies ist - insbesondere unter Ihnen - jahrelang vernachlässigt worden. ({4}) - Mensch, nun halt doch einmal den Mund! Wir tun das Unsere dazu, indem wir die Opferverbände stärken, und ihnen die Geldbußen zukommen lassen. Sie sind es nämlich, die die Menschen unterstützen, die von einer Straftat betroffen sind. Es sind nicht die staatlichen Institutionen, sondern gerade diese Opferschutzverbände. Wir stärken die Interessen der Opfer und verschaffen ihnen Genugtuung. Was hat denn ein Opfer davon ({5}) - ich rede jetzt zu den anderen, er versteht es sowieso nicht -, ({6}) wenn es hinterher nur die Genugtuung hat, dass der Täter verurteilt worden ist? Viel besser ist es doch, wenn zum Beispiel der psychische Schaden ausgeglichen wird. Genau das Gleiche gilt, wenn wir hier über gemeinnützige Arbeit reden. Auch hier zeigen Sie, dass Sie über keinerlei Erfahrung verfügen; ({7}) denn sonst wüssten Sie, was es bedeutet, gemeinnützige Arbeit zu leisten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Herta Däubler-Gmelin?

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Thema „gemeinnützige Arbeit“ bringt mich zu der Frage: Finden Sie nicht auch einige der Bemerkungen mehr als merkwürdig, dies sei schwer oder nicht zu organisieren, nachdem wir in Mecklenburg-Vorpommern jahrelang den flächendeckenden Versuch gemacht haben, alle Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit zu ersetzen? Könnten Sie so freundlich sein, aus Ihrer persönlichen Erfahrung als Direktor eines Amtsgerichts vielleicht etwas zur gemeinnützigen Arbeit zu erzählen? ({0})

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich sehr für diese Frage, Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin. Mecklenburg-Vorpommern hat gezeigt ({0}) - ihr seid eine Rasselbande -, dass man dies sehr wohl über privatrechtliche Institutionen organisieren kann. Ich kann Ihnen aufgrund meiner beruflichen Erfahrung sagen, dass das Bundesland Hessen bereits vor 17 Jahren unter dem damaligen Justizminister Dr. Herbert Günther ({1}) - ein sehr guter Mann - den Feldversuch „gemeinnützige Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafe“ gestartet hat. Ich habe damals als Staatsanwalt an diesem Feldversuch sehr aktiv mitgewirkt. Wir haben gesehen, dass dieser Feldversuch in der Öffentlichkeit sehr gut angekommen ist und dass insbesondere die Betroffenen, also diejenigen, die eine Geldstrafe hätten zahlen müssen, sie aber nicht zahlen konnten - es war nicht so, dass sie sie nicht zahlen wollten, Herr Geis -, sehr wohl gemerkt haben, dass es sich hierbei um eine ganz massive Sanktion gehandelt hat. Wenn Sie mich nach meinen Erfahrungen fragen, dann sage ich Ihnen, dass das Fahrverbot so, wie es jetzt ausgestaltet ist, genau der richtige Weg ist. Sehr viele Strafrichter - ich spreche jetzt aus meiner richterlichen Erfahrung - haben vor der Überlegung gestanden: Wenn ich jetzt die Fahrerlaubnis einziehe, dann muss der Betreffende den Führerschein neu beantragen und machen. ({2}) Ich weiß nicht, ob Sie es schaffen würden. Viele hätten es niemals geschafft, den Führerschein erneut zu bekommen. Wir als Strafrichter wussten immer, dass wir diesen Menschen damit einen Bärendienst erweisen. Diese Spanne, die Möglichkeit der Verlängerung des Fahrverbots - das ist immer noch Antwort auf die Frage - auf sechs Monate, ist genau der richtige Weg.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie sollten Ihre Antwort nicht zu sehr ausweiten. ({0})

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich für die Frage. ({0}) - Ich bedanke mich für den Beifall. Sie haben gesehen: Es klappt. ({1}) Wir haben diesen Gesetzentwurf heute eingebracht, um deutlich zu machen, dass im strafrechtlichen Bereich mehr als die von Ihnen bisher gehandhabte Knüppel-ausdem-Sack-Politik kommen muss. ({2}) Wir wollen mit diesem Gesetz deutlich machen: Einerseits liegen uns die Belange der Opfer sehr am Herzen; andererseits wissen wir ganz genau, wie wir die Täter zu behandeln haben. ({3}) Sie werfen uns immer vor, wir würden etwas durchpeitschen. Jetzt beraten wir etwas in aller Ruhe und großer Übereinstimmung, aber wir machen es wieder nicht richtig. Der liebe Herr van Essen, er hat behauptet, Herr Stünker habe aus dem FDP-Parteiprogramm abgeschrieben. Wenn ich das richtig sehe, heißt der letzte Satz im FDP-Parteiprogramm: Wenn morgen früh die Sonne lacht, hat das die FDP gemacht! Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/9358 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Vereinfachte Debatte Aufgaben und Perspektiven der transatlantischen Zusammenarbeit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Volkmar Schultz von der SPD-Fraktion das Wort.

Volkmar Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002792, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich vor 47 Jahren zu meiner ersten Reise nach Amerika aufbrach, wusste ich zwar nicht genau, was mich erwarten würde. Aber ich habe gespürt, dass diese Reise mein Leben nachhaltig beeinflussen würde. Inzwischen sind es fast 50 Reisen über den großen Teich geworden. Doch die USA sind für mich neben Deutschland das schwierigste Land geblieben. Das mag mit den gelegentlichen Enttäuschungen eines Liebhabers zu tun haben, hat aber wohl stärker mit der Widersprüchlichkeit der Traditionen in der amerikanischen Politik, insbesondere der Außenpolitik, zu tun. Auf der einen Seite ist das, was wir als Isolationismus zu bezeichnen pflegen, spätestens vorgegeben seit der Abschiedsrede von George Washington. Auf der anderen Seite ist dieser missionarische Eifer, mit dem die Gedanken der Freiheit und der Demokratie vorangetrieben werden, um „Gottes heiligem Experiment“ - so nannten es die Pilgerväter - in der ganzen Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Jeder amerikanische Präsident versucht, zwischen den beiden Extremen Idealismus und Pragmatismus eine neue Balance zu finden, so auch jetzt George W. Bush. Die Tatsache, dass beide Strömungen miteinander in einem Dauerstreit liegen, führt in anderen Teilen der Welt immer wieder zu Irritationen, Missverständnissen und gelegentlich auch zu unreflektiertem Antiamerikanismus. Es ist aber nicht so, dass nur wir Europäer die Amerikaner mit unberechtigten Stereotypen überziehen, sondern auch wir müssen uns manchmal von amerikanischer Seite Dinge vorwerfen lassen, die nicht stimmig sind. Robert Kagan hat kürzlich auf die Schwarz-Weiß-Malerei in den transatlantischen Beziehungen hingewiesen. Ich kann an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, möchte aber jedem, der sich ernsthaft mit Amerika beschäftigt, empfehlen, sich intensiv mit der Geschichte und dem institutionellen Gefüge des Landes auseinander zu setzen. Wir Europäer sehen Amerika zu oft als einen monolithischen Block. Wir geben uns der Illusion hin, dass die von Henry Kissinger einst bei den Europäern eingeforderte einheitliche Telefonnummer auf der anderen Seite tatsächlich existiert. Aber es gibt sie nicht. ({0}) Stattdessen vernehmen wir, wenn wir genau hinhören, eine ganze Kakophonie von Stimmen in der amerikanischen Regierung, im Kongress und auch zwischen den beiden. Dabei wird die Rolle des Kongresses von vielen Europäern sträflich vernachlässigt. Warum hatten etwa das Kioto-Protokoll oder der Internationale Strafgerichtshof auch zu den Zeiten der ClintonRegierung keine Chance? - Weil diese Verträge im Senat keine Chancen haben und hatten. Was ein von Wahlkampfinteressen gesteuerter Kongress zustande bringt, zeigt das soeben verabschiedete Gesetz zum Schutze amerikanischer Soldaten, das einerseits die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof kategorisch untersagt, andererseits aber internationale Anstrengungen zur Bestrafung von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fordert, zum Beispiel im Fall von Milosevic. Das passt nicht zusammen. Es untergräbt die Glaubwürdigkeit der westlichen Führungsmacht und erleichtert den Gegnern Amerikas das Geschäft. Die Vereinigten Staaten sollten akzeptieren, dass neuartige Verbrechen nicht nur neuartige Bekämpfungsmethoden, sondern auch eine Weiterentwicklung des internationalen Strafrechts erfordern. ({1}) Warum erwähne ich das? - Weil es zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ungeheuer wichtig es ist, dass auch der nächste Deutsche Bundestag und die Parlamentarier anderer europäischer Länder noch intensiver und kontinuierlicher auf Tuchfühlung mit dem amerikanischen Kongress gehen und dass wir intensiv an einem Netzwerk von Kontakten zu den dortigen Kollegen, zu deren Mitarbeitern und den sie beratenden Think Tanks arbeiten sollten. Es sind dicke Bretter, die dort gebohrt werden müssen, damit wir die europäische Sicht der Dinge einfließen lassen können. Wir haben vor wenigen Tagen das 30-jährige Bestehen des German Marshall Fund begangen und an die transatlantische Nachkriegsgeschichte erinnert. Marshall-Plan, NATO und die europäische Integration waren damals Ausdruck einer klugen Politik, die es verstand, eigene Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen mit einem Friedens-, Freiheits- und Demokratiebündnis zu verbinden. ({2}) Wie uns der Balkan-Stabilitätspakt lehrt, ist es bis zum heutigen Tag eine kluge Politik geblieben. Seit Jahrhunderten ist es Europa niemals so gut gegangen wie heute und einiges davon verdanken wir Amerika, das wir doch so gerne kritisieren. Europa und Amerika können ihre Interessen langfristig nur gemeinsam verwirklichen. Dies gilt auch für die Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Wir müssen uns selbst, aber auch den Amerikanern immer wieder verdeutlichen, dass der Kampf gegen Hass und Terror, gegen menschenverachtende Diktaturen, gegen Hunger, Armut und Seuchen keineswegs nur mit militärischen Mitteln geführt werden kann, sondern dass er auch nachhaltige und geduldige zivile Strategien erfordert. ({3}) Andererseits müssen wir Europäer einsehen, dass es Situationen gibt und geben wird, in denen auch eine militärische Option notwendig sein kann. Dabei darf es keine Arbeitsteilung nach dem Motto „Amerika fürs Grobe und Europa für den Verputz“ geben. Frieden wird Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms nicht allein auf dem Schlachtfeld und Demokratie nicht allein mit dem Scheckbuch erreicht. ({4}) Die berufsmäßigen Kaffeesatzleser der transatlantischen Beziehungen haben immer wieder geglaubt, tief greifende Dissonanzen und Krisen feststellen zu müssen. Lassen Sie mich daran erinnern, dass es schon auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, nämlich 1963, zwischen Amerika und Europa den so genannten Hähnchenkrieg gegeben hat, dem später der Bananenkrieg und in jüngster Zeit der Stahlkrieg gefolgt sind. Ich kann nur sagen: glückliches Europa, das solche Kriege führen, gewinnen oder auch mal verlieren kann; denn sie sind nichts weiter als Ausdruck der intensivsten Beziehungen, die jemals zwei große Weltregionen miteinander verbunden haben. Wer an einem einzelnen Tag Waren und Dienstleistungen im Wert von etwa 1,25 Milliarden Euro austauscht, wer jeden Tag Hunderttausende von Menschen hin- und herreisen lässt, der sollte gelegentliche Reibereien im Grenzbereich wirtschaftlicher und politischer Überlegungen nicht allzu dramatisch bewerten. ({5}) Dissonanzen liegen weniger in den Zielen, sondern mehr in den Methoden des Vorgehens begründet. Aufgrund seiner Geschichte und in realistischer Einschätzung seiner eigenen Möglichkeiten sieht Europa seine Chancen im multilateralen Vorgehen und in der Kooperation mit internationalen Organisationen. Das ist für die USA jedoch nur eine von mehreren Optionen. Sie könnten eben auch anders. Kooperation durch internationale Regime und Organisationen ist langfristig angelegt. Einseitiges Handeln geht schneller, ist deshalb verführerischer, kann aber auch kurzlebiger und riskanter sein. In der transatlantischen Beziehung wird gelegentlich mit zwei Geschwindigkeiten gearbeitet. Wer das weiß, kann sich darauf einstellen. Die Amerikaner wissen, dass sie ihre Werte und ihre Interessen am besten gemeinsam mit uns vorantreiben können; umgekehrt gilt das genauso. ({6}) Nehmen wir Präsident Bush doch beim Wort! Amerika, so sagte er hier an dieser Stelle, wünscht sich ein starkes, konsolidiertes Europa, ein demokratisch erneuertes Russland und eine handlungsfähige NATO. Er forderte Europa zu einer engen partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf. Das Feindbild des muskelstrotzenden Rambo, der unüberlegt aus der Hüfte schießt, sollte bei uns wirklich keinen Platz mehr haben. Was also ist unsere Aufgabe? Stärken wir Europa, damit es in entscheidenden Momenten mit einer Stimme sprechen kann! Helfen wir Russland beim Aufbau weiterer demokratischer Strukturen und setzen damit die kluge Politik der vergangenen 50 Jahre fort! Begreifen wir aber auch, dass wir Europäer als Wirtschaftsweltmacht uns nicht einfach von den schmutzigen Händeln dieser Welt fernhalten können, dass wir also über den europäischen Tellerrand hinausschauen müssen. Auch kluge Politik braucht Macht. Aber große Macht braucht auch kluge Politik. ({7}) Vor zehn Jahren haben viele von uns geglaubt, die Welt werde einfacher werden. Stattdessen ist sie schwieriger geworden. Wir tun gut daran, die transatlantischen Beziehungen nicht nur als kulturelle Beziehungen, als Wertebeziehungen, als wirtschaftliche Beziehungen, als militärische Beziehungen, als Allianzbeziehungen zu begreifen, sondern die transatlantische Allianz auch als eine wirklich komplexe Lerngemeinschaft zu begreifen. Im Deutschen Bundestag und im amerikanischen Kongress treten die alten Riegen der erfahrenen Transatlantiker langsam ab. Beide Parlamente sollten sich bemühen, Nachwuchs zu rekrutieren. Nichts ist für die transatlantischen Beziehungen gefährlicher als Gleichgültigkeit. ({8}) Als Letztes ein Wort der Entschuldigung dafür, dass ich in meinem Redebeitrag nichts über Kanada gesagt habe. Wir neigen dazu, Kanada nur am Rande zu behandeln. Aber Kanada ist ein freundlicher, ein uns geneigter Partner, mit dem es kaum Konflikte gibt. Deswegen neigen wir dazu, Nordamerika oder auch Amerika als die USA zu begreifen. Die Kanadier sollten wissen, dass das bei mir durchaus nicht der Fall ist, ({9}) sondern dass ich ihre Freundschaft und ihre Partnerschaft sehr wohl zu schätzen weiß. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schultz, wie ich höre, war das Ihre letzte Rede in diesem Hause. Ich darf Ihnen im Namen des Hauses für Ihre kollegiale und fruchtbare Zusammenarbeit danken. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Lamers von der CDU/CSU-Fraktion.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Angriff des transnationalen Terrorismus vom 11. September auf die wirtschaftlichen und militärischen Symbole Amerikas, das WTC und das Pentagon, ist der radikalste, aber keineswegs der einzige Ausdruck der Auflehnung gegen die von den USA als dem Protagonisten des Westens geprägte heutige Weltordnung. Er ist Zeichen ihrer tiefen Krise. Der Beifall für dieses monströse Ereignis bei den Massen in der islamischen Welt, aber auch Reaktionen in anderen ihrer Teile sind das eigentlich politisch Volkmar Schultz ({0}) Beunruhigende. Der Westen, nicht nur seine Vormacht Amerika, ist herausgefordert. Der Westen muss deswegen eine grundlegende Neubewertung des Zustandes, in dem sich die Welt befindet, und eine Neubestimmung seiner Verantwortung für sie vornehmen, um die unerlässlichen militärischen und anderen operativen Maßnahmen in einen ebenso unerlässlichen, aber noch nicht vorhandenen, noch nicht definierten politischen Rahmen stellen zu können. Der 11. September 2001 demonstriert die Verletzlichkeit der heutigen Zivilisation und er demonstriert, dass auch Amerika verwundbar ist. Der Westen muss sich neu formieren und die tiefen Differenzen überwinden, die seit diesem Datum offenkundig geworden sind. Dieses hat in brutaler Deutlichkeit die Notwendigkeit, ja die Unausweichlichkeit eines noch engeren europäisch-amerikanischen Zusammenwirkens demonstriert. Zu diesem Zweck müssen Europa und Amerika erstens vorab und vor allem das ganze Ausmaß des Aufruhrs gegen die heutige Weltordnung und dessen Ursachen wahrnehmen, es sich bewusst machen, die Herausforderungen wirklich annehmen, ihre Politik davon bestimmen lassen - alle Politik, nicht nur die äußere, sondern auch die innere - und vor allem die Prioritäten anders setzen. Außenpolitik hat Vorrang, ({1}) weil unser Wohl und Wehe, das der Völker des Westens, immer mehr vom Wohl und Wehe aller seiner Nachbarn abhängt. Und Nachbarn sind heute alle. ({2}) Der konkrete Ausdruck der Prioritäten eines Landes ist sein Haushalt. In Deutschland, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sind die Ausgaben für auswärtige Zwecke, so wie sie sich in den Haushalten des Auswärtigen Amtes, des Entwicklungshilfeministeriums und des Verteidigungsministeriums widerspiegeln, von 1990 bis 2002 von einem Anteil von mehr als 21 Prozent auf einen Anteil von weniger als 12 Prozent am Gesamthaushalt zurückgegangen. ({3}) Ich sage in aller Deutlichkeit: Unser Land setzt seine Prioritäten falsch. ({4}) Wenn nach dem 11. September nichts mehr so wäre, wie es vorher war, was oft behauptet worden ist, dann müsste das ja in allererster Linie für das Bewusstsein gelten. Davon aber ist in unserem Lande nichts zu spüren, in Europa übrigens auch nicht, denn sonst würde Europa endlich jetzt, spätestens jetzt mit einer Stimme sprechen. Zweitens. Der Westen darf die Welt nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Terrorismus sehen. ({5}) Er darf nicht nur die Gefahren, sondern muss auch die Chancen für eine etwas bessere Welt wahrnehmen. ({6}) Wenige Wochen nach dem 11. September sagte ein radikaler islamistischer Politiker über Amerika: Das Land, das wir am meisten hassen, ist unser Paradies. - Das zeigt die ganze Ambivalenz selbst der radikalsten Gegner der USA. Selbst sie sehnen sich nach gewissen Errungenschaften des Westens, weil nur sie ein besseres und freieres Leben versprechen. Der ganz überwiegende Teil der Menschheit weiß, dass er die Zusammenarbeit mit dem Westen braucht, und er will sie. Der Hass auf Amerika geht oft auf enttäuschte Hoffnung und auch auf Zuneigung zurück. Noch hat der Westen die Mittel, die Welt so zu gestalten, dass sie ihm nicht feindselig wird. Die Völker, die nach einem besseren Leben, nach einem „Platz an der Sonne“ streben, sind nicht seine „natürlichen Feinde“. Drittens. Der Westen darf nicht alles über den Kamm des Terrorismus scheren und er darf nicht zulassen, dass seine Verbündeten es tun. ({7}) Es gilt - so schwer das ist -, legitimen Widerstand auch mit gewaltsamen Mitteln gegen illegitime Herrschaft gegenüber illegitimem Terrorismus abzugrenzen. Der Westen selbst, nicht zuletzt die USA, hat viele solcher Widerstandsbewegungen unterstützt. Die Mittel im Kampf gegen den Terrorismus dürfen den Terrorismus nicht fördern. Die tieferen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ursachen müssen beseitigt werden, wenn Terroristen nicht wie Fische im Wasser schwimmen und dann, wie wir aus ungezählten Erfahrungen wissen, unbesiegbar werden sollen. Nationaler wie transnationaler Terrorismus lässt sich nur besiegen, wenn zwei Elemente die Strategie bestimmen: Druck durch militärische bzw. polizeiliche Maßnahmen und Isolierung innerhalb der eigenen Gesellschaft. Viertens. Der Westen darf den Kampf gegen den transnationalen Terrorismus sich nicht zur Feindschaft mit dem revolutionären Islam entwickeln lassen, um die Flamme der Revolution nicht weiter anzufachen. Die teuflische Alternative, vor die uns der Terrorismus stellen will, lautet: Kapitulation oder totale Feindschaft. In diese Falle dürfen wir nicht laufen. Polarisierung, Feindschaft und totaler Krieg sind die Antriebselemente von Terroristen aller Art. Mit ihnen wollen sie die Massen gewinnen. Demokratien hingegen sind diese Elemente wesensfremd und eine Bedrohung ihrer Eigenart. Fünftens. Der Westen muss versuchen, die Welt und sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen. Verstehen ist die erste Voraussetzung für Verständigung. Erkenntnis der eigenen Fehler ist die Voraussetzung für Lernen. Manichäismus führt zu totaler Feindschaft, die mit allen Mitteln verhindert werden muss. Sechstens. Der Westen muss auch seine eigene ideelle Position in historischer Perspektive klären. Das Ergebnis ist: Der Westen muss nicht seine Prinzipien ändern, sonKarl Lamers dern nach ihnen handeln, um seine Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. ({8}) Eine Lösung des Israel-Palästina-Konfliktes, die auch Palästinenser und Araber als gerecht empfinden, wäre dazu ein entscheidender Beitrag. Siebtens. Der Westen muss eine Vorstellung von einer etwas besseren, von einer etwas gerechteren, von einer etwas friedlicheren Weltordnung entwickeln. Ich sage es in aller Klarheit: Wir brauchen eine Vision von einer besseren Welt, um den Hass zu überwinden. ({9}) Das muss eine Welt sein, die institutionalisiert zusammenarbeitet, das heißt eine Welt, in der sich eine globale Rechtsordnung entwickelt. Bis dahin - das heißt: noch eine sehr lange Zeit - bedarf es einer Führungsnation, die nur die USA sein können. Die Richtung aber, in welche Amerika führt, muss eine Rechtsordnung sein. Dazu muss es bereit sein, auch sich selbst dem Recht zu unterwerfen und Ausnahmen nur zu beanspruchen, wo sie sich zwingend seiner Rolle als Führungs- und Sanktionsmacht und nicht eigensüchtigen Interessen verdanken. Von der Weisheit, das heißt davon, wie maßvoll Amerika diese Rolle spielt, hängt nach meiner festen Überzeugung die Zukunft der Welt entscheidend ab. Inwieweit Amerika dieser Rolle gerecht wird, hängt wiederum entscheidend von dem Einfluss Europas auf Amerika ab. Auch deswegen muss sich der Westen neu formieren. Die NATO muss in ein Bündnis zwischen Amerika und Europa als handlungsfähige Einheit umgestaltet werden. Die EU als solche muss im NATO-Rat vertreten sein. Der politische Charakter der NATO muss ausgebaut werden. Sie muss einen globalen Auftrag bekommen. Davon hängt die Zukunft der NATO ab, nicht von ihrer Osterweiterung. Eine Allianz, die sich nicht um die großen Fragen kümmert, hat keine große Zukunft. Entweder bleibt die NATO eine regionale Organisation zur sicherheitspolitischen Rückversicherung ihrer Mitglieder gewissermaßen für alle Fälle und vor allen Dingen zur Absicherung der globalen Rolle Amerikas oder sie wird selbst ein globaler Akteur, der seine europäischen Mitglieder nicht nur für die USA Hilfsdienste leisten lässt, sondern ihnen auch erlaubt, die Welt mitzugestalten. Ob das gelingt, hängt natürlich von beiden Seiten ab, vor allen Dingen aber von den Europäern. Sie könnten schon heute von den Amerikanern Mitentscheidungsrechte bei ihrer Strategie gegen den transnationalen Terrorismus einfordern, da sie zumindest in allen Phasen nach der militärischen gefordert werden. Das geschieht im Übrigen ja zum Teil auch mit militärischen Mitteln. Die Arbeitsteilung, dass Amerika alleine Entscheidungen trifft und Europa die Folgen, die sich daraus ergeben, automatisch mitträgt, ist auf Dauer inakzeptabel. ({10}) Erfolg verspricht diese Forderung nur, wenn Europa mit einer Stimme spricht und alle seine Kräfte, die militärischen wie die politischen, zusammenführt. Es hat mir zu denken gegeben, dass in der bedeutenden Rede des amerikanischen Präsidenten in West Point Europa überhaupt nicht vorkam. Ob Europa zu der notwendigen Einheit findet, ob es den Weg seiner Schicksalsgemeinschaft mit Amerika nur miterleidet oder ob es diesen auch mitgestaltet, darauf muss der soeben begonnene Verfassungsprozess eine Antwort finden. Sie wird aber nur gefunden werden, wenn es ein inhaltliches Einvernehmen über die Rolle Europas in der Welt, vor allem über sein Verhältnis zu Amerika gibt. Dies wiederum hängt entscheidend von einem deutschfranzösischen Einvernehmen ab. Dies wiederum liegt keineswegs in erster Linie an Frankreich, wie das Opinio communis in Deutschland zu sein scheint. Wenn es nämlich Meinungsverschiedenheiten zwischen Amerika und Europa gibt, gibt es gewissermaßen drei idealtypische Positionen: eine britische, die der Amerikas am nächsten steht, eine französische, die gegenüber Amerika am kritischsten ist, und die Deutschlands, das am liebsten nicht gefragt werden möchte. Eine solche Vorstellung aber von unserem, vom europäischen Verhältnis zu der übrigen Welt ist nicht nur für die Selbstbehauptung Europas, sondern auch für das Selbstverständnis, für die Identität Europas - ich sage es ganz uneingeschränkt - wichtiger als alles andere. Hätten wir eine solche gemeinsame Vorstellung, dann würde sich auch manch interner Zwist leichter auflösen lassen. Europa muss und kann nicht werden wollen wie Amerika, um ein selbstständiger Akteur und ebenbürtiger Partner zu sein; das ist weder möglich noch - ich sage es in aller Deutlichkeit - wünschenswert. Europa muss vielmehr seine spezifischen Stärken entwickeln. Es muss nicht gleichartig wie, sondern gleichwertig mit den USA werden. Amerika seinerseits braucht einen Partner, der immer auch Widerlager sein muss. Grenzenlosigkeit, auch scheinbar grenzenlose Macht, führt immer zum Selbstverlust. Europa muss in den Augen der nicht westlichen Welt als eigenständiger Akteur innerhalb des Westens erscheinen und nicht nur als ein Anhängsel oder bestenfalls als Juniorpartner der USA, sonst kann es die Rolle nicht spielen, die von ihm zu Recht erwartet wird und die den Westen insgesamt stärkte. Es muss ein zuverlässiger Partner der Länder jenes Bereichs sein und ihre Sichtweise Amerika zu vermitteln versuchen, ohne sich gegen Amerika in Stellung bringen zu lassen, und es muss die Sichtweise Amerikas ihnen zu vermitteln versuchen. Europa und Amerika haben die gleichen grundlegenden Interessen, weil sie die gleichen Ansichten vom Menschen, von der Natur des Menschen und von der Art seines Zusammenlebens haben. Das ist das starke Fundament der transatlantischen Gemeinsamkeit, von der Präsident Bush zu Recht vor wenigen Wochen von dieser Stelle aus gesprochen hat. Dennoch gehen die Meinungen, wie der Westen seine Stellung in der Welt verteidigen und gestalten soll - Sie haben es schon erwähnt, Kollege Schultz -, zwischen Europa und Amerika zunehmend auseinander. Im Vordergrund steht dabei häufig die Rolle der militärischen Macht. Ob und inwieweit man über sie verfügt, bestimmt die Weltsicht natürlich wesentlich mit. Dies tun aber auch historische Erfahrungen: Das Lebensgefühl einer Gesellschaft, die ohne jeden Zweifel die erfolgreichste der Gegenwart ist, muss zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass das, was gut für Amerika ist, auch gut für die Welt sei. Hier ist nicht der Ort, um alle tieferen Gründe für alle Facetten der unterschiedlichen Lebensgefühle auf beiden Seiten des Atlantiks zu analysieren. Vielmehr ziehe ich hier nur die Schlussfolgerung: Europa darf ihretwegen nicht immer stärkere Ressentiments entwickeln, also das Lebensgefühl dessen, der sich im Leben als zu kurz gekommen vorkommt, sondern muss die Ursachen für diese unguten Gefühle überwinden. Kritik an amerikanischer Politik ist zwar oft angebracht. Solange Europa aber nur weiß, was es nicht will, nicht jedoch, was es will, und solange es auch keine ausreichenden Mittel hat oder diese nicht einsetzt, klingt seine Kritik hohl. Solange es sich damit begnügen muss, Amerika zu kritisieren, dann aber doch mitmacht, wenn Amerika entschieden hat, wie es - ich wage es kaum zu sagen - im Falle des Irak wahrscheinlich wieder der Fall wäre, darf es seinen Vasallenstatus nicht beklagen. Europa muss die Ursachen für seine Ressentiments gegenüber Amerika beseitigen: die zu große Abhängigkeit heute in Fragen der globalen Sicherheit wie früher in denen der europäischen Sicherheit sowie das Gefühl, keinen angemessenen Einfluss auf Entscheidungen nehmen zu können, die es gleichwohl betreffen, und keine unmittelbare Verantwortung und keinen Entscheidungszwang zu haben. Einen solchen Entscheidungszwang müssen sich die Europäer selber schaffen, um Unentschlossenheit und Uneinigkeit zu überwinden. Der Starke und Selbstbewusste hat keine Ressentiments; nur er ist ein verlässlicher Partner. Europa hat auch keinen Grund, Ressentiments zu entwickeln. Es hat Stärken, über die Amerika nicht verfügt. Europa hat einen außerordentlichen Schatz an Erfahrungen in allen Teilen der Welt. Es hat aus seinen Niederlagen gelernt. Die nicht westliche Welt erwartet geradezu sehnsüchtig ein stärkeres Engagement Europas auf allen Feldern der Politik, hat Europa doch alles, was dieser Teil der Menschheit braucht, ohne hegemonialer Absichten verdächtig oder zu ihnen überhaupt fähig zu sein. Schließlich meistert Europa etwas, was in der ganzen Welt und in vielen ihrer Regionen notwendig ist, soll der Frieden dauerhaft, das heißt institutionell, gesichert sein: die Entwicklung einer Rechtsordnung, der sich alle seine Mitglieder als freie und selbstbewusste Nationen freiwillig unterwerfen. Auch bemüht sich Europa im Inneren, für seine Bürger eine Ordnung zu entwickeln, in der Freiheit und Solidarität gleichermaßen gelten. Dies ist das Wertvollste, was Europa vorzuweisen hat und was die europäischen Staaten über Jahrzehnte geschaffen haben. Diese Ordnung ist modern und zukunftsweisend. Amerika bleibt ein faszinierendes Land mit einem ganz eigenen Charakter. Diesen Charakter haben die Amerikaner nach dem 11. September wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Europa muss bereit sein, diesen Charakter Amerikas anzunehmen, auch wenn es manchmal schwer ist. Umgekehrt muss Amerika bereit sein, das Wesen Europas zu verstehen und damit seine Modernität zu begreifen. Amerika muss in seinem eigensten Interesse bereit sein, Europa nicht nur als irgendeinen unter vielen Verbündeten, sondern als den wertvollsten Partner mit dem ihm eigenen Charakter zu akzeptieren. Die Amerikaner werden dies aber nur tun, wenn sie es tun müssen, wenn also Europa stärker wird, als es derzeit ist. Es kann keinen Zweifel geben, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Die USA sind der mächtigste Akteur in der heutigen Welt; Europa aber ist der modernste. Jean Monnet hat einmal gesagt: „Europa ist ein Beitrag zu einer besseren Welt.“ Nichts ist vordringlicher, als dieses Wort Jean Monnets noch sehr viel stärker als bisher zur Geltung zu bringen. Wir, die Deutschen, haben in den vergangenen Jahrzehnten zu diesem Bau Europas einen maßgeblichen Beitrag geleistet. Ich sage ohne Einschränkung: Das ist für mich ein wesentlicher Grund, weshalb ich stolz bin, ein Deutscher zu sein; denn das ist eine Leistung, die wir vollbracht haben. ({11}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte, dass wir auch in Zukunft in diesem Sinne stolz sein können, Deutsche zu sein. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Lamers, ich darf auch Ihnen im Namen aller Kollegen für Ihre letzte Rede in diesem Hause, für die außenpolitische Grundsatzrede, die Sie soeben gehalten haben, und für Ihre langjährige kollegiale und erfolgreiche Arbeit in diesem Hause danken. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Rita Grießhaber von Bündnis 90/Die Grünen.

Rita Grießhaber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer Welt im Umbruch sind die Vereinigten Staaten von Amerika die einzig verbliebene Macht, die die Größe und die Möglichkeit hat, eine Ordnungsstruktur zu entwickeln. Aber gleichzeitig fragen wir uns: Was wollen sie im Nahen Osten, im Irak und anderswo? Und vor allem: Mit welchen Mitteln wollen sie es erreichen? So sehr das transatlantische Verhältnis zum Fundament der Bundesrepublik gehört, ist es doch auch Teil der im Umbruch befindlichen Welt. Ja, Herr Kollege Lamers, hier stellt sich die Frage: Welche Partnerschaft hat Europa zu bieten? Wir werden nur weiterkommen, wenn es uns gelingt, Europa als echten Partner zu konstituieren. Mich erschreckt allerdings, wie leicht man viel Beifall bekommen kann, wenn man auf die US-Politik einschlägt. Nur: Die jetzige US-Regierung macht es uns nicht immer leicht, solche Kritik zu widerlegen. Liegt das an der Rhetorik? - Zum Teil. Für uns macht es einen Unterschied, ob die so genannten States of Concern als „strategische Herausforderung“ oder als „Achse des Bösen“ bezeichnet werden. Auf der einen Seite ist unsere Sichtweise zum Beispiel auf den Iran eine wesentlich differenziertere. Aber wer realisiert auf der anderen Seite schon, dass die Verurteilung des großen „amerikanischen Satans“ normaler Bestandteil vieler Freitagspredigten im Iran ist? Machen wir uns eines klar: Bei allen Gemeinsamkeiten bezüglich Werten und Interessen gibt es wesentliche Unterschiede, nicht nur im Hinblick auf die Tradition. Auch unsere militärischen Fähigkeiten sind bei weitem bescheidener und unsere Stärken liegen auf anderen Gebieten, nämlich im mühsam trainierten Ausgleich unseres europäischen Modells. Kollege Lamers, Sie haben darauf hingewiesen. Meine Damen und Herren, die USA haben sich in Separation von der europäischen Staatenwelt gegründet, die damals ihren Multilateralismus sehr kriegerisch gelebt hat. Sie haben sich in Abgrenzung von ihr als freieren, besseren Staat verstanden und halten ihre Ordnung per se für die gerechtere. Nach dem Ende der bipolaren Welt sind auch sie als verbliebene Supermacht mindestens langfristig darauf angewiesen, dass eine geordnetere Staatenwelt auch die entsprechende Legitimation braucht. Deshalb ist ihr Kampf gegen die Bemühungen um internationale Verrechtlichung äußerst kontraproduktiv. Den Vorstellungen, amerikanische Eingreiftruppen könnten den Gerichtssaal in Den Haag stürmen wollen, sollten schnellstmöglich alle Grundlagen entzogen werden; das Gesetzesvorhaben einer „Hague Intervention“ sollte verschwinden. ({0}) Aber wir haben keinen Grund zur Überheblichkeit. Wir Europäer waren nicht in der Lage, die Balkankrise ohne die USA zu bewältigen. Es ist eine schlichte Tatsache, dass wir auf das Engagement der USA angewiesen sind. Darum ist es auch so bitter, wenn die USA quasi mit Erpressung das Recht des Stärkeren durchsetzen wollen wie bei der Immunitätsfrage der Friedensmissionen. Denn, seien wir ehrlich, wenn sich die USA an einem Brennpunkt heraushalten, ruft mindestens die halbe Welt: Amerika, wo bleibst du? Besonders schwierig wird es, wenn aus der Handlungsunfähigkeit heraus geradezu Allmachtsfantasien entwickelt werden, als müssten die USA nur mit dem Finger schnippen und alle Probleme wären gelöst. Das zeigt sich nicht zuletzt im Nahostkonflikt. Da hielt sich die Bush-Administration erst einmal zurück und alle warteten sehnsüchtig auf ein Wort aus Washington. Die letzte Rede von Präsident Bush konnte diese Erwartungen nicht erfüllen. Eine schnelle Lösung ohne den Willen der Beteiligten gibt es nicht. ({1}) So notwendig es auch prinzipiell ist, die Palästinenserverwaltung von Grund auf zu reformieren und demokratische Strukturen zu fordern - das dauert sehr lange -, so wenig akzeptabel ist es dabei, ein personelles Wahlergebnis vorzuschreiben. ({2}) Israel braucht Sicherheit, aber auch in Israel zweifeln zu Recht immer mehr Menschen daran, dass dem palästinensischen Terror mit militärischen Mitteln beizukommen ist. Die Binsenweisheit, dass alle Beteiligten auf einen Frieden hinarbeiten müssen, bleibt, ebenso wie die große Sorge, wo die Spirale der Gewalt letztlich endet. Nach dem 11. September gab es in der Welt neben Entsetzen, Trauer und Solidarität auch erschreckend viel klammheimliche Freude derjenigen, die in den USA die Wurzel allen Übels sehen und dabei ignorieren, dass sich viele Menschen auf der Welt nach einem freien amerikanischen Leben sehnen, auch wenn einige paradoxerweise die USA dafür verantwortlich machen, dass es ihnen verwehrt ist. Diese Hassliebe - es ist nicht nur enttäuschte Liebe, Kollege Lamers - beweist doch zugleich, wie groß letztlich die Faszination von Freiheit ist. Beim Kollegen Schultz und besonders bei Ihnen, Herr Kollege Lamers, möchte ich mich für die stets gute und faire Zusammenarbeit bedanken. Im Auswärtigen Ausschuss durften wir Sie nicht nur als kompetenten, sondern auch als äußerst integren Menschen kennen lernen. Sie haben stets die Sache in den Mittelpunkt Ihrer Arbeit gestellt und das sensible Feld der Außenpolitik nie innenpolitisch instrumentalisiert. Wohl aber hat Sie oft die Sorge umgetrieben, wie wir im Land die notwendige Akzeptanz für die oft schwer vermittelbaren Zwänge der Außenpolitik erreichen können. Ich möchte mich hier von Ihnen mit einem allerherzlichsten Dankeschön verabschieden. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt von der FDPFraktion.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den wenigen Minuten, die ich in einer viel zu kurzen Debatte über transatlantische Herausforderungen habe, eine Konzentration auf einige Feststellungen: Wir kennen alle die Irritationspotenziale, die es im transatlantischen Dialog gibt. Das gilt für manche unterschiedliche Bewertungen von strukturellen Instabilitäten auf dieser Welt und zuweilen auch für die Frage, wie man sich der Lösung eines Problems nähert. Es gilt hinsichtlich eines anderen Gefühls von uns Europäern in Bezug auf ein internationales Herangehen an manche Themen und es gilt vor allem bei der Bevorzugung der europäischen Haltung, doch mehr Vertrauen in unsere historischen Erfahrungen, in internationale Gremien, in die Vereinten Nationen, in multinationale Annäherung und auch in das Thema Rule of Law bis hin zum Internationalen Strafgerichtshof zu setzen. Das ist keine Meinungsverschiedenheit, das ist eine andere, eine europäische Haltung. Auch wenn unsere amerikanischen Freunde die einzig übrig gebliebene Supermacht sind, ist ihre Haltung, zu glauben, dass sie durch internationale Institutionen eher an dem gehindert würden, was sie ihrer Überzeugung nach zur Verteidigung der Freiheit unternehmen sollten, nicht legitimer als die europäische Haltung, nur weil das Land größer ist. Deshalb ist das kein Meinungsstreit, es ist ein Haltungsunterschied. Guten Gründen, die unsere amerikanischen Freunde für ihre Haltung haben und die wir respektieren, können wir ebenso überzeugende eigene historische Erfahrungsgründe für unsere Haltung gegenüberstellen. Dabei muss aber klar sein, dass dieses Irritationspotenzial nicht im entferntesten in die Nähe der Störung einer wirklichen Partnerschaft kommt. ({0}) In der Handelspolitik haben wir zwar eine lange Liste von Themen, aber der Bereich des Stahlexports, wo es Probleme gab, macht ja weniger als 5 Prozent des Handelspotenzials aus. Europa und Amerika haben trotz dieser Irritationspotenziale bedeutend mehr Gemeinsamkeiten als ein Land alleine mit irgendeinem anderen Partner auf der Welt. Sie sind die beiden mit Abstand wichtigsten Akteure der Weltpolitik und haben ein unglaubliches ökonomisches und politisches Potenzial. Man vergegenwärtige sich allein, dass 40 Prozent des Weltsozialprodukts in diesen beiden Regionen beheimatet sind. Wenn wir klug sind, setzen wir dies zum strukturellen Frieden in der Welt ein. Das ist unverzichtbar. ({1}) Wir müssen wissen, mit welcher politischen Chance wir es transatlantisch zu tun haben. Hier heißt „transatlantisch“ nicht nur USA, sondern Kanada gehört dazu. Wir haben es im letzten Jahrtausend zustande gebracht, transatlantisch ein Stück Partnerschafts- und Sicherheitssystem zu entwerfen. Mit diesem ökonomischen Potenzial sollten wir so etwas Ähnliches wie eine transatlantische Freihandelszone aufbauen, die WTO-konform ist und uns in wirtschaftlicher Hinsicht nicht die täglichen Irritationspotenziale liefert. Ich sage das aus folgendem Grunde: Die ökonomischen und politischen Chancen dieser beiden größten Akteure der Weltpolitik sind überragend, wenn ihre jeweiligen politischen Eliten und ihre politischen Verantwortlichen sorgfältig damit umgehen und sie in internationalen Organisationen und im transatlantischen Dialog vernünftig einsetzen. Wir können viel mehr bewirken, als wir uns das heute vorstellen. Unseren amerikanischen Freunden erschließt sich - Herr Kollege Lamers hat das eindringlich geschildert - der europäische Prozess nicht so einfach. Der frühere Außenminister Kissinger hat immer nach einer einheitlichen europäischen Telefonnummer gefragt. Einer meiner Vorredner hat zu Recht gesagt, dass auch wir in außenpolitischen Fragen oft nach einer einheitlichen amerikanischen Telefonnummer suchen. Das dortige Präsidialsystem, auch wenn es europäische Kommunikationsschwierigkeiten in der Art nicht kennt, liefert uns nicht in jedem Fall eine einheitliche Haltung. Im Pentagon anzurufen kann etwas anderes ergeben, als wenn man im White House anruft. Wenn Sie im Außenministerium anrufen, können Sie durchaus eine europäischere Antwort bekommen, als das im Pentagon der Fall wäre. Das ist nicht der Punkt. Unsere amerikanischen Freunde müssen begreifen lernen, dass sie als einzig verbliebene Supermacht in ihrer Organisationsform, in ihrer politischen Verfassung nicht die einzige Antwort für den Frieden in der Welt sind, sondern dass die Europäer auch einen Teil der Antwort geben können. Deshalb ist es das Wichtigste bei den transatlantischen Beziehungen, dass wir beide wissen, was wir aneinander haben. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir Europäer erkennen müssen, dass wir zwar ungeheure politische und ökonomische Potenziale haben, aber weltpolitisch noch nicht richtig Laufen gelernt haben. ({2}) So sehr die Amerikaner als Supermacht eine begleitende Abstützung durch die Europäer brauchen, so sehr brauchen wir Amerika. Uns fehlt dieser Schuss weltpolitischen Kalküls, den wir uns mühsam wieder erarbeiten und legitimieren müssen, der aber notwendig ist. Das heißt, wir brauchen uns gegenseitig und müssen uns miteinander einlassen. Für uns Europäer besteht darin die Chance, in Weltordnungen liberale Akzente zu setzen, die so von unseren amerikanischen Freunden nicht in jedem Fall bevorzugt würden. Es kann sich in vielen Formen vollziehen, solche Impulse zu setzen. Hierbei sollte man nie aufgeben. Unsere amerikanischen Freunde haben oft die Tendenz, ungeduldig zu werden, wenn es nicht mehr darum geht, Terroristen mit Raketen aufzuspüren. Sie überlassen zweifellos den Aufbau von Zivilgesellschaften gerne ihren europäischen Partnern, und zwar mit großen Teilen in der Verantwortung der deutschen Politik. Das ist aber nicht ein geringerer Beitrag für Stabilität und für Frieden als der militärische. Allein schon deshalb macht das transatlantische Bündnis und der transatlantische Zusammenhalt Sinn. Dieser Aufbau von Zivilgesellschaften ist die Grundlage für ein Stück dauerhaften Friedens auf dieser Welt. Ich will deshalb sagen: Der transatlantische Handlungsbedarf liegt in dem klaren Bewusstsein, uns miteinander einzulassen. Wir sind miteinander verbündet, nicht nur im formalen Sinne. Es handelt sich nicht um ein Bündnis, das nur dadurch zusammengehalten wird, weil die Bundesrepublik Deutschland Unterschriften unter Verträge gesetzt hat. Dieses Bündnis ist für uns kein taktisches Spiel und nicht nur eine strategische Chance. Die transatlantische Zusammenarbeit beruht im Kern trotz unterschiedlicher nationaler Ausprägungen und unterschiedlicher Temperamente auf gemeinsamen Wertebezügen. Es gibt auch Unterschiede bei Bewertungen von Sachverhalten, wie beispielsweise im Falle des Irak. Es gibt aber aufgrund dieser gemeinsamen Wertebezüge keinen Streit über den Charakter dieses Regimes. Die Chancen, die in der Zusammenarbeit zwischen beiden Kontinenten liegen, sind weitaus höher als die Risiken. Wir würden in Kenntnis der geschichtlichen Abläufe des letzten Jahrhunderts einen gewaltigen Fehler machen, wenn wir nicht begreifen würden, dass die positiven Potenziale - klug zusammengefügt, perspektivisch eingesetzt sowie auf einem transparent demokratisch legitimierten Weltbild und auf den Menschenrechten basieDr. Wolfgang Gerhardt rend - von entscheidender Bedeutung sind. Wenn wir diese Errungenschaft nicht fahrlässig verspielen wollen, dann müssen wir unseren Freunden sagen: Wir kennen die Irritationspotenziale; aber wir kennen auch die Chancen. Jede Seite würde einen gewaltigen Fehler machen, wenn sie es an Zusammenhalt fehlen lassen würde. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat der Kollege Wolfgang Gehrcke von der PDS-Fraktion das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Karl Lamers, ich finde es wirklich ärgerlich und ich empfinde es als einen Verlust, dass ich nur eine Legislaturperiode die Gelegenheit hatte, mit Ihnen häufiger zu reden. Ihre Art eines aufgeklärten und aufklärenden Konservativen, Ihre Art, zu debattieren und zu denken, hat mir ganz persönlich den Wert eines Konservativen, wie Sie einer sind, für unsere Demokratie sehr nahe gebracht. Diese Erfahrung, die wichtig ist, möchte ich persönlich nicht missen; sie hat mich wirklich bereichert. Dafür bedanke ich mich. ({0}) Ich habe Ihre Reden im Deutschen Bundestag nachgeschlagen. Wenn ich es richtig recherchiert habe, haben Sie Ihre erste Rede am 26. November 1981 gehalten. Wenn man Ihre gesamten Reden liest, dann erkennt man, dass sie ein Nachschlagewerk - sozusagen ein „Who’s who“ der Außenpolitik sind. Das ist erwähnenswert. Ich würde mir wünschen, dass Kolleginnen und Kollegen auch künftig in Ihren Reden nachschlagen, auch wenn ich sagen muss: Wir haben zwar oft gleiche Fragen gestellt, aber in den Schlussfolgerungen waren wir uns selten einig. Vielleicht hätten wir mehr Zeit für Gespräche gebraucht. An der geschichtlichen Frage, wie selbstständig die deutsche und die europäische Politik gegenüber den USA ist, haben sich in Deutschland immer die Geister geschieden und hat sich die Gesellschaft polarisiert. Es ist nicht verkehrt, aus diesem Anlass die Debatten noch einmal nachzuzeichnen - ich will es an drei Punkten tun -, um zu begreifen, dass die heutigen Auseinandersetzungen tiefere gesellschaftliche Wurzeln haben. Erstens. Es waren die Debatten in den 50er-Jahren, vielleicht besonders zugespitzt in der Debatte um die damalige Stalin-Note zur deutschen Einheit - deutsche Einheit für Neutralität -, die zur Folge hatten, dass es die Europäische Verteidigungsgemeinschaft geben sollte und die NATOMitgliedschaft, Remilitarisierung und die feste Westbindung gab. Das hatte die CDU/CSU gegen die damalige Opposition durchgesetzt. Zweitens. Ich erinnere an die Debatten in den 60er- und 70er-Jahren. Da erschütterten die Auseinandersetzungen um den Vietnam-Krieg und um Chile die deutsche wie die amerikanische Gesellschaft gleichermaßen. Meine Generation im Westen empfand die USA kulturell als den Befreier vom Förster vom Silberwald. Gleichzeitig empfand sie sie aber politisch, festgemacht an Vietnam und Chile, als unterdrückend. Die Spuren des Vietnam-Krieges und der Chile-Auseinandersetzung finden sich in unterschiedlicher Art und Weise in unserer wie in der amerikanischen Gesellschaft wieder. Ich erinnere drittens an die Auseinandersetzungen Ende der 70er-Jahre um die Nachrüstung, die von der Regierung Schmidt und später von der Regierung Kohl gegen die Bevölkerungsmehrheit, wie ich bei Herrn Schäuble habe nachlesen können, durchgesetzt wurden. Ich glaube, das waren wichtige Einschnitte. Sie haben unsere Werte und unser Verhalten in unterschiedlicher Art und Weise geprägt. Trotzdem können sie nicht mehr Maßstab für die Beantwortung der heutigen Fragen sein. Auch hier kann ich nur stichwortweise an das Ende der Blockkonfrontation, an die deutsche Einigung und die europäische Integration erinnern. Ich erinnere aber auch an die wachsende Armut und die weltweit steigende Tendenz, Kriege zu führen. Das heißt, heute muss das Verhältnis zu den USA in einer anderen Art und Weise bestimmt werden. Ich glaube nicht, dass das über die einfache und simple Losung von der uneingeschränkten Solidarität oder dadurch, dass jedwede Kritik vermieden wird, zu leisten ist. Stichworte, wie sie hier gefallen sind, zum Beispiel Wettrüsten, alleinige Weltmacht, Herrschaftsansprüche in allen Teilen der Welt und Rechtsbrüche, bestimmen das Verhältnis der heutigen Generation zu den USA. Dabei täuschen wir uns im Hinblick auf die tatsächlichen Stimmungslagen, wenn wir davon ausgehen, dass die in diesem Hause bestehende Vorstellung über das Verhältnis zu den USA die gesamte Gesellschaft prägt. Ich habe sehr bewusst an den Demonstrationen aus Anlass des Besuchs des amerikanischen Präsidenten Bush in Berlin teilgenommen. Diese Demonstrationen waren ein Ausdruck für die Position großer Teile unserer Gesellschaft. Deswegen möchte ich anraten, beim Blick in die Geschichte darüber nachzudenken, ob gegenüber den USA nicht eine andere europäische Politik möglich ist. Dies kann ich leider nur in Stichworten tun; denn meine Redezeit ist fast zu Ende. Ich rate, sich die USA-Politik von de Gaulles - unter Ausschluss der Force de Frappe und der kolonialen Geschichte - und in punkto Zivilcourage die Politik von Olof Palme anzuschauen, der während des Vietnam-Krieges amerikanische Deserteure aufgenommen hat. Ich rate, sich die Politik von Willy Brandt und dessen Nord-Süd-Dialog anzusehen und sich die Pläne des polnischen Außenministers Adam Rapacki noch einmal vor Augen zu führen. Aus all dem könnte eine neue, moderne Politik gegenüber den USA entstehen, wobei die uneingeschränkte Solidarität und das Hinterherlaufen durch Partnerschaft ersetzt würde. Das würde sich lohnen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Dank an den Kollegen Lamers und an den Kollegen Schultz! Es war angenehm, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen von der SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist mir wieder einmal das Lutherische an Karl Lamers deutlich aufgefallen. ({0}) Er ist zwar Katholik und kommt aus dem Rheinland, aus der Bastion des aufgeklärten Katholizismus. Trotzdem konnte man an seiner heutige Rede das lutherische „Ich stehe hier, ich kann nicht anders“ wieder einmal ganz deutlich sehen. Lieber Karl Lamers, ich finde, dass Sie in den letzten 22 Jahren die Debatten dieses Hauses mitgeprägt haben. Sie waren einer der ganz Nachdenklichen, einer derjenigen - Frau Süssmuth hat es mir gerade noch einmal deutlich gemacht -, die das politische Handeln reflektieren. Als eigenständiger und manchmal auch kritischer Kopf in den eigenen Reihen können Sie auch als einer derjenigen bezeichnet werden können, der, wie Sie es am Schluss Ihrer Rede formuliert haben, als Baumeister an der - wenn ich es ein wenig überzogen formulieren darf - Kathedrale eines gemeinsamen Europas mitgearbeitet haben. Diese richtige Konsequenz haben die Konservativen sehr wohl aus dem schrecklichen und fürchterlichen vergangenen Jahrhundert gezogen. Sie sind einer derjenigen, die daran mitgearbeitet haben. Wir danken Ihnen dafür. ({1}) Sie haben auf den wichtigsten Punkt aufmerksam gemacht. Er hängt mit dem 11. September des letzten Jahres zusammen. Sie haben auf das aufmerksam gemacht, was die USA gegenwärtig lernen, nämlich dass sie verwundbar sind - ein Gedanke, an den sie sich erst gewöhnen müssen. Seitdem es diese junge, stürmische, vorantreibende Nation gibt, ist sie in ihrem Selbstbewusstsein erst jetzt so im Mark getroffen worden. Wie kann das verarbeitet werden und welche Schlüsse zieht diese große Nation daraus? Das ist etwas, glaube ich, was im transatlantischen Dialog wirklich ernst genommen werden muss. Wir haben eine andere Erfahrung, lieber Kollege Gehrcke. Das muss man noch einmal betonen. Ich nehme nur die Weimarer Republik. Als hier Debatten geführt worden sind, gab es noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts die große Kontroverse, an der sich dann selbst solche damals Konservativen wie Thomas Mann beteiligt haben. Es hieß, es gehe um Kultur gegen Zivilisation; es gehe um das Hehre, um das, was die europäische und ganz besonders die deutsche Tradition ausmachte gegenüber dem, was die Zivilisation des Westens bedeutete; es gehe darum, dass Inhalte, Gehalte gegen die Form gerichtet würden. Das war das Verhängnis einmal der Konservativen und nicht zuletzt am Ende, weil sie sich gegen die USA gewendet haben, auch das Verhängnis derer, die sich links verstanden haben und sich jetzt immer noch in einer merkwürdigen Allianz mit ganz Rechtsaußen, mit Rechtspopulisten vereinen in diesem merkwürdigen Zerrbild des Antiamerikanismus. Dies ist das Eigentliche, was wir gelernt haben, was wir besonders nach 1945 wirklich gelernt haben: dass die USA etwas anderes sind. Die USA sind das Land, das Projekt, das Modell der Moderne, das von uns allen verlangt, mit diesem modernen Projekt sorgsam umzugehen und überhaupt erst zu lernen, was es bedeutet, in dieser Form die unterschiedlichen kulturellen Herkünfte im Inneren zu verarbeiten, um ein attraktives Modell zu werden und manchmal eben auch das, wovon es dann selbst glaubt, als außergewöhnliche Nation gegenüber allen anderen übermächtig zu sein. Das ist jetzt im Kern, im Mark getroffen. Das trifft die USA im Innersten. Ich finde, wenn wir den transatlantischen Dialog, die Beziehungen, die wir beiderseits des Atlantiks beobachten und auch selber mitgestalten, wenn wir diese Debatte gemeinsam führen, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, dann haben wir aus dem 11. September vielleicht das Wichtigste gelernt. Dabei ist wichtig, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, etwa auf den, der sich auch in der amerikanischen Diskussion in manche hegemoniale Irrtümer verrennt, sondern zu schauen, ob es gelingt, dass die Stärken, die beiderseits des Atlantiks durch die Werte verbunden sind, zu nutzen, die Stärken, die beiderseits verbunden sind durch das gemeinsame Lebensgefühl, das natürlich akzentuiert unterschiedlich ist, wobei es jedoch beiderseits des Atlantiks viel mehr Gemeinsamkeiten gibt, als diejenigen, die sich auf den Antiamerikanismus berufen, meinen. Diese innere Verbindung ist stark, sie muss stark bleiben und sie wird stark bleiben. Dafür werden wir alle gemeinsam sorgen. ({2}) Worin liegen die Chancen eines solchen Dialogs? Die erste Chance ist, dass die Staatenwelt die Gefahr erkennt, der sie ausgesetzt ist: Gruppen organisierter krimineller Gewalt versuchen schwache Staaten zu besetzen und der Bevölkerung ihren Willen mit terroristischen Mitteln aufzuzwingen. Schließlich zielen dann die Terroristen, die diese Territorien erobert haben, auf die Machtzentren der zivilisierten Welt. Symbolisiert werden diese Machtzentren durch die globale ökonomische und kulturelle Dominanz der USA. Früher war das anders. Früher gab es England als die starke dominante Macht und vorher Spanien. Das ist nichts Neues in der Geschichte. Es kommt darauf an, wie versucht wird, die Stärken jener Gruppierungen, die es auf dieser Welt gegenwärtig gibt, aufeinander zu beziehen. Natürlich ist die Stärke Europas einerseits das, was wir verarbeitet haben in dieser ungeheuer schrecklichen Geschichte und in den fürchterlichen Bürgerkriegen, mit denen wir uns überzogen haben. Wir haben daraus eine harte Konsequenz gezogen. Wir haben gelernt - das ist für uns das Wichtigste -, gute Nachbarn zu sein und das wollen wir auch bleiben. Wir sind prinzipiell zum multilateralen Handeln verpflichtet. Das haben wir uns selbst aufgegeben und davon können wir nicht loslassen. ({3}) Die USA haben diese Erfahrungen nicht gemacht und es wäre gut, wenn sie die Erfahrungen aus der schrecklichen Zeit der Bürgerkriege, die wir uns gegenseitig zugefügt haben, auch nie machen müssten. Insofern glaube ich, dass wir uns jene unterschiedlichen historischen Erfahrungen, die auf beiden Seiten des Atlantiks gemacht worden sind, nicht gegenseitig vorwerfen dürfen. Manchmal hört man den Vorwurf aus den USA: Ihr Europäer betreibt Beschwichtigung gegenüber den Herausforderungen des Terrorismus. Es ist aber keine Beschwichtigung, wenn wir sagen, die Zivilmacht muss gestärkt werden, die Terroristen haben sich in einer falschen Ideologie verrannt. Haben wir das nicht selbst in unserer nicht allzu lang zurückliegenden bundesrepublikanischen Geschichte erlebt? Wir müssen die Stärken, die wir aufgrund unserer langen Erfahrung erworben haben, in eine vernünftige Arbeitsteilung einbringen, damit die Welt - so hat es der amerikanische Präsident gesagt - ein besserer Platz wird. Ich kann mich gut erinnern, wie die Kolleginnen und Kollegen von der PDS auf die Rede reagiert haben. Die meisten, natürlich nicht diejenigen, die die Fahne hochgehalten haben - ich glaube, der Integrationsdruck, der von dieser Rede ausgegangen ist, war einer der Gründe für ihr Verhalten -, haben positiv reagiert. Nein, wir müssen dafür sorgen, dass aus der Welt ein guter Platz für Menschenrechte, Demokratie und Selbstbestimmung wird. Daran müssen wir arbeiten, anders geht es nicht. Dazu brauchen wir Europäer die USA, und das wissen auch diejenigen, die sich kritisch gegenüber den USA verhalten. Auch der französischen Debatte - Karl Lamers kennt sie genau - entnehmen wir, dass sich die USA, wenn es ernst wird, wenn es um ihre Substanz oder Essenz geht, auf Europa verlassen können. Genauso können wir Europäer uns auf die USA verlassen. Darüber müssen wir nicht debattieren und brauchen uns keine Sorgen zu machen. ({4}) Nein, wir müssen die Stärken finden, ausarbeiten, gestalten und zueinander führen. Unsere Stärken sind andere als die der USA. Bei der selbstkritischen harten Debatte, die jetzt ausgelöst durch die Entscheidung der obersten amerikanischen Gerichte über die Todesstrafe geführt wird, sehen wir, dass ein Teil dessen, was wir in die Diskussion einbringen, sein Echo in der amerikanischen Elite findet. ({5}) Ist die Todesstrafe dort jetzt nicht auch umstritten? Haben sie nicht viele Bundesstaaten in den USA mittlerweile abgeschafft? Ich glaube, die Zerrbilder, die manchmal so schnell herbeigeschrieben oder -geredet werden, helfen uns nicht. Wir müssen eine Gemeinschaft bilden und gemeinsam lernen, die notwendigen Schlüsse zu ziehen, um den Menschen zu helfen und aus dieser Erde einen besseren Platz zu machen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die transatlantischen Beziehungen sind einerseits in die Diskussion geraten - zu Recht. Sie bedürfen der Erneuerung. Die Welt hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges und auch jetzt seit dem 11. September letzten Jahres ein weiteres Mal geändert. Wir stehen vor einer völlig neuen Situation. Auf der anderen Seite ist aber völlig klar: Wer sich auch nur etwas den Sinn für Geschichte bewahrt hat, wird begreifen, dass die transatlantischen Beziehungen der entscheidende Eckpfeiler der globalen Sicherheit, für Frieden und Stabilität nicht nur in Europa, nicht nur in den USA, sondern weltweit sind. Diesen Eckpfeiler infrage zu stellen wäre mehr als töricht. In der Debatte gab es viele historische Bezüge. Bei der Zuordnung der Politik der USA, wie man sie sieht, wo es vieles kritisch anzumerken gibt, wo es in der Debatte aber auch viele Solidaritätsbekundungen gegeben hat, ist mir eines aufgefallen. Gerade in diesem Gebäude wundert es mich schon, dass es überhaupt keinen Bezug zum Aufstieg der USA als schließlich der einzigen globalen Macht, die heute noch existiert, im Zusammenhang mit der Geschichte unseres eigenen Landes und dem Kampf Deutschlands um die europäische Hegemonie und schließlich im Dritten Reich unter Adolf Hitler um die Weltherrschaft, um die weltweite Hegemonie, um die weltweite Vorherrschaft gab. Es war Deutschland, das - nicht allein, aber als wesentlicher treibender Faktor - im August 1914 mit den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war die führende Macht noch das Vereinigte Königreich, war die globale Bedeutung Europas noch eindeutig definiert. Am Ende dieses Weltkrieges purzelten die Kronen, gab es Revolutionen, gab es auch die große Russische Revolution, die FebruarRevolution und schließlich den bolschewistischen Putsch, die Oktober-Revolution. Die Konsequenz, die Deutschland aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg gezogen hat, war ein radikalisierter hegemonialer Anspruch, so radikalisiert, dass er amoralisch wurde, dass er die Moral hinter sich ließ, dass er meinte, auf die Weltherrschaft setzen zu können, auch mit den Mitteln des Massenverbrechens. Die Konsequenz war auch die Zerstörung dieses Gebäudes, die Anti-Hitler-Koalition. Die Anti-Hitler-Koalition war die zweite Stufe des Aufstiegs Russlands in Gestalt der Sowjetunion und der USA zu den beiden entscheidenden globalen Mächten auf den Trümmern Deutschlands, in einem geteilten Berlin. Wenn wir heute über die Rolle der USA sprechen, ohne diese eigenen Anteile daran kritisch mit zu reflektieren, dann blenden wir einen ganz wesentlichen Teil der transatlantischen Beziehungen und des deutschen Anteils an den transatlantischen Beziehungen aus. Es gibt keine transatlantischen Beziehungen à la carte, wo man sich aussuchen kann: Wir hätten gern etwas Schweden - dann müssen wir in der Rolle Schwedens sein. Wir hätten gern etwas Frankreich - dann müssen wir in der Rolle Frankreichs sein. Nur, für Frankreich gilt: Jedes Mal, wenn die Interessen von Frieden und Freiheit, wenn die Interessen Gert Weisskirchen ({0}) der USA aufgerufen waren, stand selbst das gaullistische Frankreich immer an der Seite der USAund die USA immer an der Seite Frankreichs. Das dürfen wir nicht vergessen. ({1}) Ich sage manchmal: Reisen bildet. Bei meinem privaten Besuch in Washington habe ich einmal einen Ausflug nach Mount Vermont zum Haus des ersten Präsidenten George Washington gemacht. Da gab es eine kleine Sache, die mich mehr beeindruckte als lange historische Vorlesungen. Dort hängt ein Schlüssel, der Schlüssel der Bastille, das Geschenk von Lafayette an George Washington. Das sagt mehr über die Beziehungen dieser beiden Länder als viele dicke Bücher. Das sollten wir nie vergessen. Unser Verhältnis ist eben ein anderes; das müssen wir begreifen. Deutschland käme ohne die transatlantischen Beziehungen in Europa, auch im gegenwärtigen Europa, sofort in eine Rolle, die wir gar nicht anstreben sollten. Das würde uns überfordern. Die USA balancieren nicht nur global, sie balancieren bis auf den heutigen Tag auch in Europa. Reden Sie mal mit unseren polnischen Freunden darüber, wie die, historisch eingeklemmt zwischen Deutschland und Russland, die USA sehen. Sie haben da eine ganz spezifische Sicht. Sprechen Sie mal mit unseren französischen Freunden, sprechen Sie mal mit anderen unserer Nachbarn. Die Sicht auf uns ist auch immer aufs Engste verbunden mit der Sicht auf die Rolle der USA. Aber das sind historische Erinnerungen, das sind historische Bezüge, die allerdings, wenn Deutschland den Irrtum begehen würde, diesen transatlantischen Teil zu unterschätzen, sofort aktualisiert würden. Kollege Lamers, so sehr ich manche Ihrer Ausführungen schätze, andere teile ich nicht. Ich kenne Sie. Nichts würden Sie so wenig schätzen, wie wenn man Widerspruch nicht anmelden würde, selbst wenn Sie hier Ihre letzte bedeutende Rede als Abgeordneter des Deutschen Bundestages gehalten haben. Ich sehe vor allen Dingen die Entwicklung im Nahen Osten mit großer Sorge, weil wir direkter Nachbar sind. Wir haben gegenüber Israel bezüglich des Existenzrechts nicht nur historische Verpflichtungen und strategische Interessen als Land, aber auch als Europäische Union - dies gilt beides auch für die USA -, sondern wir sind direkter Nachbar. Wenn der Nahe Osten explodiert, wird uns das direkt und unmittelbar betreffen. Einige unserer Landsleute mussten bereits den Terroranschlag in Djerba, Tunesien, mit dem Leben oder schweren Verwundungen bezahlen. Für mich ist es aber wichtig, die unterschiedliche Sichtweise bezüglich des Nahostkonflikts - das hat auch mein letzter Besuch in Washington gezeigt - zu begreifen. Wir müssen Acht geben, dass diese unterschiedliche Sicht des Nahostkonflikts in der emotionalen Tiefe der transatlantischen Beziehungen nicht zu einer Trennung zwischen den USA und Europa führt. Wir insistieren zu Recht immer darauf, dass die globale Verantwortung, dass die globale Verpflichtung für die Rechtsordnung auch für die mächtigste Macht, die USA, gilt, dass sie sich nicht eine eigene Rechtsordnung schaffen kann, die zwar für andere, nicht aber für sie gilt, sondern dass wir einer gemeinsamen internationalen Rechtsordnung unterworfen sind. ({2}) Wir insistieren auch darauf, dass es eine gemeinsame Verpflichtung für die eine Welt gibt - Stichwort Klimaschutz -, dass es auch ein gemeinsames Interesse an einer gerechteren Verteilung der Lebenschancen in der Welt des 21. Jahrhunderts gibt. Wir insistieren zu Recht darauf, dass die Europäische Union in der Frage der Todesstrafe auch gegenüber unserem wichtigsten Bündnispartner grundsätzlich anderer Meinung ist und diese Position auch vertritt. ({3}) Die Bundesregierung hat vor dem Internationalen Gerichtshof erfolgreich gegen eine Verletzung der konsularischen Rechte von Todeskandidaten mit deutscher Staatsangehörigkeit, die hingerichtet wurden, geklagt. Genauso ernst müssen wir nehmen, was in den USA über uns diskutiert wird. Wenn dort die Gefahr eines neuen Rechtspopulismus aufgrund europäischer Wahlentscheidungen ernsthaft diskutiert wird - als ich das letzte Mal dort war, ging es gerade um Le Pen -, müssen wir dies ernst nehmen. Wenn dort Bezüge zu einem neuen Antisemitismus hergestellt werden, müssen wir dies genauso ernst nehmen, wie wir erwarten, dass die Diskussionen, die hier in Europa über die USA geführt werden, auf der anderen Seite ernst genommen werden. Wir können dies nicht einfach nur als eine amerikanische Stimmungslage abtun. So wird der Transatlantismus nicht funktionieren. ({4}) Nein, für mich steht Folgendes im Vordergrund: Wenn die transatlantischen Beziehungen im 21. Jahrhundert funktionieren sollen, werden wir die politische Einigung Europas, werden wir das politische Europa herbeiführen müssen. Die USA sind eine globale Macht auf dem Zenit, eine Hegemonialmacht wider Willen. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Neuzeit, dass wir eine Hegemonialmacht ohne Gegengewicht haben. Dies schafft ganz spezifische Probleme. Die Zeit lässt es nicht zu, dass ich dazu einiges sage. Aber die einzige Möglichkeit, nicht dagegenzuhalten, sondern in Partnerschaft die Möglichkeit der Balance zu eröffnen, wird der europäische Einigungsprozess sein. ({5}) Europa ist keine Macht, sondern eine Macht im Werden. ({6}) - Sie können dies dort, wo wir bereits eine Macht sind, so etwa in Wettbewerbs- oder Handelsfragen, feststellen. Wenn Pascal Lamy oder Monti nach Washington kommen, ist dieser Termin ein Muss. Wenn andere kommen, wo diese Integration noch nicht besteht - dies mache ich nicht an den Personen fest -, ist dies nicht der Fall. Aber Besuche beispielsweise der jeweiligen Präsidentschaft sind Pflichttermine, wo sich die US-Seite fragt, was diese eigentlich repräsentiert. Die Konsequenz daraus muss für uns sein, dass wir die politische Integration Europas schaffen. Dies wird noch einige Zeit dauern, aber es wird wichtig sein, dass wir Europäer unsere eigene Sicht der Dinge in die Welt des 21. Jahrhunderts einbringen, dass wir auch zum Beispiel unseren breiteren, nicht militärisch verengten, sondern die ganze Gesellschaft umfassenden Ansatz in der Sicherheitspolitik einbringen, dass wir die Fragen der ökologischen, ökonomischen, sozialen oder kulturellen Entwicklung einbeziehen, wie wir es auf dem Balkan gemacht haben und wie wir es in Afghanistan im Begriff sind zu tun. Diese Dinge müssen wir als Europäer in der internationalen Politik des 21. Jahrhunderts durchsetzen. Dies setzt den europäischen Einigungsprozess voraus. Deswegen wünsche ich mir für die Zukunft der transatlantischen Beziehungen auch und gerade in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Kollege Lamers, dass die Europäische Union, nicht die NATO, die Rolle, die Sie vorhin angesprochen haben, spielen sollte. Ich glaube nicht, dass die NATO sie aufgrund des spezifischen Bündnischarakters und der Interessen der Mitglieder wird spielen können, während das vereinte Europa mit einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die diesen Namen verdient, dieser Aufgabe gerecht wird. Allerdings wird sie sich in spezifisch europäischer Perspektive und auf europäischer Grundlage entwickeln. Das ist meines Erachtens die Voraussetzung, dass die transatlantischen Beziehungen erneuert werden. Wir brauchen Solidarität, aber auch ohne jeden Zweifel eine kritische Debatte. Demokratien müssen sich offen austauschen, aber auf der Grundlage des gegenseitigen Verständnisses und des Wissens der Interessen. Das ist gegeben. Wir Europäer müssen darauf achten, dass wir nicht zurückfallen. Wenn wir den Einigungsprozess bis Ende des Jahrzehnts nicht schaffen, dann werden wir feststellen, dass wir für unseren transatlantischen Partner zunehmend uninteressant werden. Also wird es ausschließlich an uns liegen. Bei den transatlantischen Beziehungen geht es vor allem um die Zukunft von Europa, also um die Zukunftschancen unserer eigenen Menschen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2002 - Drucksache 14/8950 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mit einem individuellen Ausbildungspass durchs Leben - für ein liberales, duales und modulares Berufsausbildungssystem in Deutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Rainer Jork, Dr. Gerhard Friedrich ({2}), Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Lehrstellenmangel in den neuen Bundesländern bekämpfen - Reformen in der beruflichen Bildung vorantreiben - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2001 - Drucksachen 14/5984, 14/7281, 14/5946, 14/7910 Berichterstattung: Abgeordnete Willi Brase Hans-Josef Fell Cornelia Pieper Es liegen zwei Entschließungsanträge vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen das Wort.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute nicht nur über den Bildungsbericht 2002, der sich schwerpunktmäßig mit der Entwicklung des vergangenen Jahres befasst, sondern zugleich auch abschließend über die Ergebnisse des Jahres 2001. Dies gibt Gelegenheit, Bilanz zu ziehen und zu zeigen, welche wichtigen Veränderungen in der beruflichen Bildungspolitik in den letzten Jahren auf den Weg gebracht worden sind. Der positive Trend am Lehrstellenmarkt hat sich im letzten Jahr fortgesetzt. Wie im Jahr 2000 ist es auch im Jahr 2001 gelungen, die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage zu schließen. Seit 1995 sind wir damit zum zweiten Mal in eine Situation gekommen, dass es bundesweit mehr freie Ausbildungsplätze als unvermittelte Bewerberinnen und Bewerber gab. ({0}) Dahinter stehen 614 000 neue Ausbildungsverträge in Deutschland. Die Anzahl der bei der Bundesanstalt für Arbeit als unvermittelt gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber hat sich Jahr für Jahr deutlich verringert. Zwischen 1998 und 2001 sank diese Zahl um 43 Prozent. Nicht zu verschweigen ist, dass es nach wie vor große regionale Unterschiede gibt. Auch 2001 gab es in den neuen Ländern immer noch erheblich weniger betriebliche Ausbildungsplätze als Bewerber. Vor diesem Hintergrund sind 2001 in den neuen Ländern und Berlin 16 000 zusätzliche Lehrstellen geschaffen worden. Diese betriebsnahen Ausbildungsplätze werden vonseiten des Bundes mit über 50 Millionen Euro für die Dauer der Ausbildung gefördert. Sie wissen: Die aktuelle Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt ist gegenüber der des Vorjahres wieder etwas angespannter. Bundesweit hat sich bis Ende Mai die Lücke zwischen noch nicht vermittelten Bewerbern und unbesetzten Ausbildungsstellen leider wieder um etwa 17 000 vergrößert. In Ostdeutschland ist sie - Gott sei Dank - geringfügig zurückgegangen. Die Bilanz für den Monat Mai 2002 - das wissen wir ist eine Momentaufnahme. Vieles passiert im Vermittlungsgeschäft. Auch ein Teil der noch als unvermittelt gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber hat heute einen Ausbildungsplatz gefunden. Aber keine Frage: Wir nehmen diese Entwicklung ernst. Bundesministerin Bulmahn hat deshalb für den 12. Juli Vertreter der Spitzenverbände der Wirtschaft nach Berlin eingeladen, um über zusätzliche Aktivitäten zur Mobilisierung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen zu sprechen; denn die von der Wirtschaft im Ausbildungskonsens gegebene Zusage, das Ausbildungsplatzangebot entsprechend der demographischen Entwicklung zu steigern, gilt nach wie vor. Hierauf müssen sich die jungen Menschen auch in diesem Jahr verlassen können. ({1}) Alle Beteiligten müssen sich auch in diesem Jahr der Aufgabe stellen, für die Jugendlichen in unserem Land ausreichend Ausbildungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Deshalb muss der eingeschlagene Weg zur Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation konsequent fortgesetzt werden. Dies bedeutet auch Weitsichtigkeit für die Wirtschaft. Denn in wenigen Jahren werden die Schulabgängerzahlen zunächst in Ostdeutschland drastisch, aber insgesamt auch in ganz Deutschland zurückgehen. Langfristig wird es deutlich weniger Bewerberinnen und Bewerber um Ausbildungsplätze geben. Die Betriebe müssen daher jetzt schon beginnen, vorzusorgen und die Chance zu nutzen, möglichst viele Jugendliche gerade für den eigenen Fachkräftebedarf auszubilden, auch wenn dieser erst in den nächsten Jahren entsprechend ansteigen wird. Wir müssen alle Potenziale nutzen und auch unseren Blick auf die Jugendlichen richten, die unsere Hilfe brauchen, um den Weg in Ausbildung und Beruf zu finden. Seit 1999 haben über 400 000 Jugendliche am Sofortprogramm JUMP und an ausbildungs- und beschäftigungsfördernden Maßnahmen teilgenommen. Allein im vergangenen Jahr waren es über 84 000. Dass das Sofortprogramm bis Ende des Jahres 2003 verlängert wurde, hatte gute Gründe. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz ist sichergestellt, dass ab dem Jahr 2004 bewährte Maßnahmen des Programms in die dauerhafte Förderung übernommen werden. Benachteiligten Jugendlichen und jungen Migrantinnen und Migranten zu einer Ausbildung zu verhelfen ist eine wichtige Herausforderung, die für die soziale Stabilität in unserer Gesellschaft und für unsere wirtschaftliche Zukunft von sehr großer Bedeutung ist. Wir haben deshalb im vergangenen Jahr das Programm „Kompetenzen fördern - Berufliche Qualifizierung für Zielgruppen mit besonderem Förderbedarf“ entwickelt. Mit einem Etat von insgesamt 52 Millionen Euro werden wir die Strukturen und die Effizienz der Benachteiligtenförderung in der beruflichen Bildung deutlich verbessern und damit einen wirksamen Beitrag dazu leisten, dass mehr Jugendliche eine qualifizierte Berufsausbildung erhalten können. ({2}) Es geht aber nicht nur um quantitativ ausreichendes Ausbildungsplatzangebot, sondern wir müssen auch dem strukturellen Wandel gerecht werden. Denn in den einzelnen Ausbildungsbereichen hat sich die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Jahr 2001 recht unterschiedlich entwickelt. Es gab erhebliche Rückgänge im Handwerk - um 6,9 Prozent - wie auch Rückgänge in der Landwirtschaft: um 3,8 Prozent. Dem stehen glücklicherweise erhebliche Zuwächse, etwa in den IT- und Medienberufen, gegenüber. In diesem Bereich hat sich die Zahl der Ausbildungsplätze seit 1998 von 14 000 auf mehr als 70 000 erhöht. Damit sind die erheblichen Rückgänge im Handwerk mehr als kompensiert worden. ({3}) Der beschleunigte Wandel in der Wirtschaft und die demographische Entwicklung stellen die Bildungs- und Berufsbildungspolitik vor neue Herausforderungen. Denn neue und höhere Qualifikationsanforderungen müssen zukünftig von immer weniger jüngeren und mehr älteren Menschen bewältigt werden. Daraus ergeben sich für uns folgende Aktionsfelder: Die Bundesregierung hat den Modernisierungsprozess des dualen Systems der Berufsausbildung vorangetrieben und wird ihn konsequent fortsetzen. In den letzten drei Jahren sind insgesamt 43 Ausbildungsberufe aktualisiert und zehn neue Berufe geschaffen worden. Wichtig ist dabei, dass wir auch im Dienstleistungsbereich neue Berufe geschaffen haben. ({4}) Für weitere 19 Berufe können die Ausbildungsordnungen zum 1. August 2002 in Kraft treten. Wir haben darüber hinaus im vergangenen Jahr die Ausstattung der Berufsschulen mithilfe der UMTSZinserlöse zu einem Schwerpunkt im Zukunftsinvestitionsprogramm gemacht. In den Jahren 2001 und 2002 flossen Mittel in Höhe von 130 Millionen Euro als Finanzhilfen in die Länder. Damit konnten die Berufsschulen mit modernen Technologien und Medien einschließlich der erforderlichen Software ausgestattet werden. ({5}) Offenkundig stellt ein solches Vorgehen mit einem etwas größeren Abstand zu bestimmten Wahlterminen für alle Länder eine hochwillkommene Hilfe und Unterstützungsmaßnahme des Bundes dar. Am 1. Januar dieses Jahres ist das neue Meister-BAföG in Kraft getreten. Wir wollen damit den Anreiz für den Schritt in die Selbstständigkeit erhöhen und den in Deutschland auftretenden Fachkräftemangel verringern. Die finanziellen Mittel für die Aufstiegsförderung sind mit dem neuen Reformgesetz verdoppelt worden. Die ersten Rückmeldungen vonseiten der Kammern sind sehr ermutigend. Die Kammern werben engagiert für dieses Programm, weil sie von seiner Wirksamkeit und Attraktivität überzeugt sind. Wir gewinnen übrigens durch dieses Programm auch wieder mehr Ausbilder für unsere jungen Menschen. ({6}) Weiterbildung und Nachqualifizierung sind wichtige und notwendige Voraussetzungen, um im Berufsleben Schritt zu halten. Lebenslanges Lernen gewinnt damit für den Einzelnen und die Unternehmen eine immer größere Bedeutung. Hierbei geht es darum, immer mehr Menschen an beruflicher Weiterbildung - das geht von traditionellen Kursen über E-Learning bis zum Lernen am Arbeitsplatz teilhaben zu lassen. Deshalb ist unser Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ mit über 250 Millionen Euro bis zum Jahr 2006 auch ein hilfreicher Beitrag zur beruflichen Weiterbildung in unserem Land. ({7}) Wir müssen uns im Bereich der beruflichen Weiterbildung in Deutschland, vor allem im Bereich der außerbetrieblichen beruflichen Weiterbildung, natürlich auch verstärkt um die Qualität kümmern. In einer ersten Erprobungsphase wird dazu die neue Abteilung „Stiftung Bildungstest“ bei der Stiftung Warentest eingerichtet. Ab Juli werden die ersten Kursangebote, zunächst im Bereich der beruflichen Weiterbildung, untersucht und bewertet. Es geht aber auch darum, die berufliche Aus- und Weiterbildung für höhere Qualifikationen zu nutzen. Der Bedarf an Fachkräften mit hohen Qualifikationen wird nach den vorliegenden Prognosen weiter steigen. Natürlich unterstützen wir das zunehmende Interesse von Schulabgängerinnen und Schulabgängern, ein Hochschulstudium zu beginnen. Der Anstieg der Zahl der Studienanfängerinnen und Studienanfänger in den letzten beiden Jahren um 50 000 auf bundesweit 340 000 ist auch eine Reaktion auf unsere hochschulpolitischen Reformmaßnahmen. ({8}) Es muss aber auch die Notwendigkeit gesehen werden, die Attraktivität des dualen Systems durch bessere Verknüpfung von beruflicher Erstausbildung und Hochschulausbildung zu steigern. Wir müssen uns für die nächsten Jahre vornehmen, eine Vielzahl von kreativen Versuchen und Modellen der Verknüpfung von dualer Erstausbildung und Fachhochschulausbildung zu entwickeln, möglicherweise auch in einem geordneten Bildungsgang im etablierten System, eine Mischung aus dualer und Hochschulausbildung. Wir müssen dazu natürlich auch das große Potenzial derjenigen, die sich über eine duale Berufsausbildung, Erwerbstätigkeit und berufliche Weiterbildung qualifiziert haben, stärker als bisher nutzen, und zwar durch Öffnung unserer Hochschulen. Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine Bemerkung zu der Debatte von heute Nachmittag. Wir vergessen nicht, dass der Freistaat Bayern eines der letzten Bundesländer war, die ihren Widerstand gegen die Öffnung der Hochschulen für - ich sage es einmal so - kundige und qualifizierte Menschen aus dem Bereich der beruflichen Bildung aufgegeben haben. ({9}) Ich denke, dass wir gut beraten sind, die Strukturen zum Erwerb von Höchstqualifikationen über die berufliche Aus- und Weiterbildung zu stärken. Dabei geht es nicht um die Akademisierung der beruflichen Bildung, sondern um die Anerkennung ihres Qualifikationsniveaus, das über eine qualifizierte Berufstätigkeit und Aufstiegsfortbildung im Vergleich zu einem akademischen Studium erreicht werden kann. Die zusammen mit den Tarifpartnern zustande gebrachte IT-Fortbildungsverordnung realisiert dieses Vorhaben, nämlich Höchstqualifikationen im Bereich der beruflichen Fortbildung zu erreichen, in vorbildlicher Weise. Lassen Sie mich zum Schluss auch den Blick auf Europa lenken. Auch durch deutsche aktive Unterstützung hat der Bildungsministerrat in diesem Jahr begonnen, nach dem Hochschulbereich und dem Bereich des lebenslangen Lernens den Bereich der Berufsausbildung zur dritten Säule der Entwicklung des europäischen Bildungssystems zu gestalten. In diese Zusammenarbeit gehen wir mit eigenen Initiativen, mit eigenen Vorschlägen, mit einer nachhaltigen Unterstützung und einer Strategie, die darauf abzielt, das hohe Qualifikationsniveau des deutschen Berufsausbildungssystems auch im europäischen Kontext zu erhalten. Es geht um Förderung der Mobilität. Es geht natürlich auch um die Anerkennung von Qualifikationen, die bei im Ausland absolvierten Teilen der Berufsausbildung erworben worden sind. Es geht aber natürlich vor allem darum, europäische Qualitätsstandards für die berufliche Bildung zu entwickeln. Wenn wir auf diesem Gebiet erfolgreich sind, dann werden wir uns nicht wie bei PISA die Frage stellen müssen, an wem wir uns in Europa messen müssen, sondern dann haben wir die Chance, dass das Qualifikationsniveau der deutschen Berufsausbildung in Europa zur Messlatte wird. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rainer Jork von der CDU/CSUFraktion.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht beschreibt sehr realistisch die Situation beim Lehrstellenangebot und Schwerpunkte bei den Maßnahmen, die für die Verbesserung erforderlich sind. Es ist gut, dass wir über den Bericht jetzt und nicht erst, wie im vorigen Jahr, nach der Sommerpause diskutieren. ({0}) - Das habe ich eben gesagt. Weniger wirklichkeits- und problemnah stellt sich allerdings der Beschluss des Bundeskabinetts zum Berufsbildungsbericht 2002 dar, und zwar mit Aussagen wie „Die Ausbildungschancen der Jugendlichen haben sich seit 1998 kontinuierlich weiter verbessert“ und „Der eingeschlagene Weg wird konsequent fortgesetzt“. Ich höre Ihren Kollegen Rixe, der früher sagte: Weiter so. Dann steht da noch etwas von einer „beispielhaften Entwicklung“. Ich frage mich: Für wen eigentlich? Leider muss ich in Anbetracht der begrenzten Zeit auch heute wieder schwerpunktmäßig auf die neuen Bundesländer eingehen; denn dort liegen die signifikanten Probleme bei der Bereitstellung von Lehrstellen im dualen System. ({1}) Darum geht es mir, Herr Catenhusen. Der Kollege Heinz Wiese wird auf die anderen Fragen eingehen. Ich habe noch im Kopf, wie der Sprecher der Arbeitsgruppe der SPD in der ersten Sitzung des Ausschusses einen Epochenwechsel ankündigte. Es ist, nicht nur im Interesse der Bewerber, legitim und auch notwendig, am Ende der Wahlperiode Ernsthaftigkeit und Wahrheitswert dieser Proklamation zu prüfen. Wie sieht heute die Wirklichkeit für Lehrstellenbewerber aus? Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist gegenüber dem Vorjahr um 15,6 Prozent gestiegen, ({2}) mehr als doppelt so stark wie die allgemeine Arbeitslosigkeit. Das war fürwahr ein Jump nach oben. Im Mai waren 453 000 Jugendliche unter 25 Jahren arbeitslos und - das ist besonders interessant - die Arbeitslosenquote der Jugendlichen unter 25 Jahren lag im Bundesgebiet West bei 7,2 Prozent, im Bundesgebiet Ost bei 14,5 Prozent. ({3}) Am 11. Juni stand in der „Frankfurter Rundschau“: Zehntausende Lehrstellen fehlen, Jugendarbeitslosigkeit besonders gestiegen. In der „Sächsischen Zeitung“ vom 13. Juni konnte man lesen: Zwei von drei Bewerbern ohne Lehrstelle. Deutsche Einheit bedeutet für mich in der Praxis vergleichbare Chancen für die Jugendlichen in Ost- und Westdeutschland. Wer die innere Einheit will, muss Lehrstellenbewerbern in den neuen Bundesländern eine Lehrstelle im dualen System bieten, ({4}) also eine betriebliche Stelle und ein schulisches Angebot. ({5}) Nur so ist die Verbindung möglich zwischen der Qualität einer guten Ausbildung, der Praxisnähe und - das ist besonders wichtig - der Chance, später einen Arbeitsplatz in dem gelernten Beruf zu bekommen. ({6}) Schulische Ausbildung allein kann das nicht leisten, vor allem nicht in wertschöpfenden Berufen bzw. in der materiellen Produktion. Mit theoretisch gebackenen Brötchen ist noch niemand satt geworden. ({7}) Am Montag, dem 24. Juni, also in dieser Woche, wurde auf einer Veranstaltung mit dem VDI deutlich und klar gesagt: Wer das duale System kaputtredet - dazu komme ich noch -, zerstört den Industriestandort Deutschland. Ich sage bewusst auch mit Blick auf die Diskussion, die wir heute Mittag hatten: Praxisbezogenes Fördern ist eine Chance und führt zu Erfolgserlebnissen, die man niemandem verwehren sollte. Das geht bereits in der Schule los. ({8}) Es ist absurd, aus dem Fehlen betrieblicher Stellen eine Strukturänderung des Ausbildungssystems abzuleiten, ({9}) wie die Grünen es immer wieder machen. In den neuen Bundesländern haben sich die Voraussetzungen für die Wirtschaft als Träger betrieblicher Stellen katastrophal verschlechtert. Die gezielte Abwanderung mobiler und kreativer junger Menschen aus den neuen Bundesländern wird naturgemäß erhebliche Probleme bei den sozialen Strukturen, bei der Steuerkraft und bei der Integrationsfähigkeit mit sich bringen. Auf diesem Gebiet ist tatsächlich ein Epochenwechsel erforderlich. ({10}) - Ich würde Ihnen gern bescheinigen, dass Sie sich nach Ihren Möglichkeiten - das ({11}) gilt vor allem für Ihre Ministerin - engagieren; aber Sie haben ein Problem: Ihnen fehlen für ein komplexes, vernetztes und dynamisches System der dualen Bildung in dieser Regierung einfach die Partner. ({12}) Es fehlt an einer ganzheitlichen Grundsatzpolitik im Interesse der Lehrstellenbewerber und der Wirtschaft. ({13}) Das gilt insbesondere für die neuen Bundesländer. Aus meiner Sicht diente JUMP mehr der Selbstdarstellung der Bundesregierung als der stabilen Lebensgestaltung der Jugendlichen. ({14}) Für die Bildung gilt eben: Nicht viel hilft viel, Qualität und Partnerschaft sind gefragt. Ich muss noch einmal klar sagen: Wo Wirtschaft kaum präsent ist, da nützen auch Appelle an die Wirtschaft überhaupt nichts. ({15}) Herr Tauss, ich finde übrigens, das Positive an der bildungspolitischen Debatte am 13. Juni 2002 in diesem Haus war, dass Zusammenhänge angesprochen worden sind, die man in der Diskussion über Lehrstellen und berufliche Bildung so leider nicht sieht. Wenn es um die Schaffung von Lehrstellen geht, dann berücksichtigen Sie diese Zusammenhänge bitte. Die Praxis zeigt nämlich: Die Anzahl der betrieblichen Stellen und die Anzahl der vermittelten Bewerber gehen deutlich zurück; fast 500 000 Jugendliche sind arbeitslos. ({16}) Ich stelle fest: In dem genannten Beschluss der Bundesregierung wird die schlechte Bilanz nach dem Prinzip „Hoffnung als Politikersatz“ schöngeredet. ({17}) Von einer guten Epoche für Lehrstellensucher in den neuen Bundesländern kann keine Rede sein. Die Vergangenheit ist Ihre Sache. Das werden wir in Kürze merken. ({18}) Angesichts dieses existenziellen Grundproblems habe ich kein Verständnis dafür, wenn mit Blick auf die Novelle zum Berufsbildungsgesetz über Mitbestimmung in außerbetrieblichen Einrichtungen gesprochen wird; schließlich gibt es in den neuen Bundesländern sechsmal mehr außerbetriebliche Einrichtungen als in den alten Bundesländern. Hier geht es um die neuen Bundesländer. ({19}) Die Jugendlichen in den neuen Bundesländern, die gar keine Lehrstelle haben, interessiert zum Beispiel die Frage, ob die Zeit für den Weg zwischen Schule und Betrieb als Arbeitszeit angerechnet wird, wirklich sehr wenig. Das ist das Problem. Es ist durchaus normal, dass ein Gewerkschaftsfunktionär davon ausgeht, Partner zu vertreten, die in einem Betrieb arbeiten. Mitbestimmung ist sinnvoll, ja notwendig und sie ist mit der Wirtschaftsdynamik verbunden. Nur, in den neuen Bundesländern gibt es nicht so viele Betriebe. Dort müssen erst einmal Betriebserhalt und Betriebsgründung unterstützt werden. Mitbestimmung als praxisferner Trockenschwimmkurs hat doch für Lehrlinge wenig Sinn. ({20}) Ich fordere: Das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen muss vor allem in den neuen Bundesländern erhöht werden. Steuermittel sollten vorrangig in Lohnkosten- und Ausbildungszuschüsse fließen statt in staatliche Ausbildungszentren und in betriebsferne Ausbildungswarteschleifen. Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung ehrlich und nicht nur mit Worten und Demonstrationen das tut, was die IG Metall am 14. Juni in Leipzig gefordert hat: Neue Wege wagen! ({21}) Wir erleben jedoch Folgendes: Erstens. Sie geben mehr Geld aus und erklären das zum Leistungskriterium, aber Sie sagen nichts zum Effekt. Zweitens. Sie bemühen sich im Einzelnen, aber Ihnen fehlen die Partner in dieser Regierung. Drittens. Sie fördern die außerbetriebliche Ausbildung, aber Sie missachten den Praxiskontakt und die Praxispartner. Viertens. Sie versuchen - wie wir wieder einmal gehört haben - mit Durchschnittsangaben Anerkennung zu finden, aber Sie vertuschen die Hauptprobleme in den neuen Bundesländern. ({22}) Ich habe eine Vision: Es könnte einmal nicht mehr zeitgemäß und sinnvoll sein, im Berufsbildungsbericht auf die Spezifik „neue Bundesländer“ einzugehen. Dann wird über die Berufsbildung, auch über die im tertiären Bereich - ich denke auch an die Berufsakademien -, im geeinten Deutschland allein unter dem Aspekt beraten, wie wir uns alle gemeinsam für in ausreichender Anzahl angebotene, zukunftsfähige Lehrstellen einsetzen. Es gibt keine ideologischen Blockaden beim Streben nach diesem Ziel. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Abschluss meiner letzten Rede nach zwölf Jahren als Abgeordneter des Bundestags drei Gedanken zum Ausdruck bringen. Es war eine für mich früher so nie erwartete wunderbare Zeit, etwas für die äußere und innere Einheit Deutschlands tun zu können. Die Arbeit hat mir oft Probleme, aber auch Freude gemacht. Ich bin dankbar für die Partnerschaft, auch über Parteigrenzen hinweg, und dafür, dass ich Freunde fand. Danke schön. ({23})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Lieber Kollege Jork, auch ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses für die langjährige, gute Zusammenarbeit und die erfolgreiche Arbeit, die Sie im Sinne der deutschen Einheit geleistet haben, danken. Wir wünschen Ihnen für die nächsten Jahre alles Gute. ({0}) Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Reinhard Loske vom Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Herr Kollege Jork, auch mir ist es leicht gefallen, zum Schluss Ihrer Rede zu klatschen. Aber es ist wirklich notwendig, dass man noch einmal sagt, wofür man klatscht, nämlich für die Zusammenarbeit der vergangenen Jahre. Die inhaltlichen Ausführungen Ihres Beitrages lassen das Klatschen nicht ohne weiteres zu. Das muss ich bei aller Freundschaft zugeben. Zunächst einmal möchte ich Sie auf folgende Aussagen von Ihnen ansprechen: „Wer das duale System kaputtredet, zerstört den Industriestandort Deutschland.“ Ich frage Sie ernsthaft: Sehen Sie irgendjemanden, der das duale System kaputtreden möchte? Bauen Sie da nicht vielleicht einen Popanz auf, den es so gar nicht gibt? ({0}) Zweitens habe ich eine wirklich ernst gemeinte Frage, obwohl ich nicht erwarte, dass Sie sie jetzt beantworten. Es ist doch klar: Wünschenswert ist, dass wir möglichst viele junge Menschen im dualen System direkt in den Betrieben unterbringen; das ist gar keine Frage. Aber was geschieht, wenn solche Arbeitsplätze aufgrund der regionalen Unterschiede nicht vorhanden sind? Da gibt es vonseiten der Politik verschiedene Möglichkeiten: Man gibt Mobilitätshilfen und versucht, die jungen Leute dazu zu bewegen, dahin zu gehen, wo die Lehrstellen sind; das ist eine vernünftige Strategie. Eine andere vernünftige Strategie ist die, dass man überbetriebliche Ausbildungsstätten einrichtet und versucht, einen größtmöglichen betrieblichen Kontakt herzustellen. Genau das ist in solchen Situationen sinnvoll. Dem können auch Sie sich nicht in den Weg stellen; denn einzig und allein das ist vernünftig. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Loske, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jork?

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, obwohl meine Frage an den Kollegen Jork mehr rhetorisch gemeint war.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben mich indirekt gefragt und zwei Vorschläge, die ich richtig finde, gemacht. Könnten Sie sich vorstellen, dass es vielleicht noch einen dritten Vorschlag gibt, und zwar den, dass man diejenigen stärkt, die Lehrstellen bereitstellen, also die Wirtschaft? Das war immer mein Anliegen. Dazu gehören auch das Handwerk und der Mittelstand. Wenn Sie das ergänzen könnten, würde ich mich freuen. Ist das denkbar? ({0})

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist ohne weiteres denkbar. ({0}) Ich bin mit meinen Ausführungen allerdings noch nicht fertig gewesen. Ich hatte gerade erst begonnen und versucht, zwei Möglichkeiten zu skizzieren. Selbstverständlich ist es so - das hat der Herr Staatssekretär, wie ich finde, sehr zutreffend ausgeführt -, dass wir bei den Unternehmen einmal durch reale Rahmensetzungen steuerlicher und sonstiger Art, aber natürlich auch durch einen Appell an ihr Verantwortungsbewusstsein die Bereitschaft wecken müssen, Auszubildende einzustellen. Das ist völlig klar. Man kann nicht einerseits über Fachkräftemangel klagen und andererseits selbst keine Lehrlinge ausbilden. Das passt nicht zusammen. Man muss das ganz klar sehen. ({1}) Deswegen möchte ich von dieser Stelle aus gerne noch einmal die Wirtschaft bitten, zu ihren Zusagen im Rahmen des Ausbildungskonsenses auch tatsächlich zu stehen. Denn Weitsicht ist erforderlich, um den Fachkräftemangel von morgen zu verhindern. Ich wollte mich in meinem Beitrag auf den Kollegen Catenhusen konzentrieren, der sich im Wesentlichen auf die Bilanz gestützt hat, und noch ein paar Worte zur beruflichen Weiterbildung sagen. Wir in diesem Hohen Hause sind uns einig, dass in einer Gesellschaft, in der die Halbwertzeit von Wissen rapide gesunken ist und weiter sinkt, der beruflichen Weiterbildung ein ganz hoher und vor allen Dingen wachsender Stellenwert zukommt. Uns allen ist klar, dass eine Erstausbildung allein nicht mehr ausreichend ist, um den künftigen Anforderungen der Wissensgesellschaft gewachsen zu sein. Deshalb muss berufliche Fort- und Weiterbildung immer selbstverständlicher werden. Wir müssen versuchen, die Rahmenbedingungen dafür zu setzen. Ich glaube, es ist nicht nur erforderlich und sinnvoll, über Zahlen, Programme, Geld usw. zu sprechen, sondern wir sollten auch alles dafür tun, dass sich wirklich eine Kultur des lebenslangen bzw. lebensbegleitenden Lernens verbreitet. Denn es ist so, dass viele Menschen immer noch glauben, dass nebenberufliche Weiterbildung doch eher eine Last ist und weniger eine Chance. Die Einsicht, dass Bildung dem Menschen weiterhelfen kann und die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist, müssen wir fördern. ({2}) Wenn man über berufliche Aus- und Weiterbildung redet, kristallisieren sich vier Bereiche besonders heraus. Erstens müssen wir dafür Sorge tragen - das wurde bereits angesprochen -, dass bei dem notwendigen quantitativen Ausbau von Weiterbildung die Qualität nicht auf der Strecke bleibt. Zweitens müssen wir Chancengerechtigkeit beim Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen sicherstellen. Drittens müssen wir - auch das wurde angesprochen - die internationale Dimension fest im Blick haben, vor allem die wechselseitige Anerkennung von Abschlüssen. Wenn wir wollen, dass sich unsere jungen Menschen international stärker orientieren, dann müssen auch ihre Abschlüsse oder Teilabschlüsse in anderen Ländern anerkannt werden. Viertens müssen wir uns darüber klar werden, in welchem Verhältnis die duale Ausbildung in Zukunft zur Hochschul- und Fachhochschulausbildung stehen soll. Nach meiner Auffassung müssen wir diese beiden Ausbildungswege stärker verzahnen. Qualitätssicherung in der Weiterbildung ist eine elementare Aufgabe des Verbraucherschutzes. Es geht beim Verbraucherschutz darum, nicht nur im Hinblick auf Rabatte oder Nahrungsmittel, sondern auch im Hinblick auf die Bildung eine stärkere Transparenz sicherzustellen. Deswegen setzen wir uns für eine Institution „Bildungstest“ ein, die für Beobachtung und Evaluation sowie für die Veröffentlichung der Ergebnisse sorgt, sodass die Menschen wissen, woran sie sind. Nach unserer Meinung ist Transparenz im Bildungsbereich ein Wert an sich. ({3}) Ab Juli 2002 - auch darauf ist schon hingewiesen worden - wird es bei der Stiftung Warentest eine Abteilung „Bildungstest“ geben, die die verschiedenen Weiterbildungsangebote auf ihre Qualität hin untersucht. ({4}) Wir werden diese Untersuchungen eine Zeit lang beobachten und dann Schlüsse daraus ziehen, wie wir dieses Instrument weiterentwickeln wollen. Es geht aber nicht nur um bessere Information und Transparenz, sondern auch um bessere Beratungsstrukturen. Wir wollen die Bürger aktiv darin unterstützen, an Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen, und allen die Chancen des lebensbegleitenden Lernens zukommen lassen. Zum Thema Chancengerechtigkeit: Heute ist leider folgende Entwicklung zu beobachten. Diejenigen, die bereits hoch qualifiziert sind, beteiligen sich überproportional an Weiterbildungsmaßnahmen, während die geringer Qualifizierten diese Angebote kaum wahrnehmen. Wir müssen versuchen, diese Schere wieder zu schließen, ({5}) und zwar vor allen Dingen dadurch, dass wir Anreize schaffen, Hindernisse abbauen und den Menschen ein Gefühl dafür geben, dass die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen eine Investition in ihr eigenes Humankapital ist. Im Hinblick auf die wechselseitige Anerkennung von Abschlüssen hat die Bundesregierung erste Schritte gemacht. Ich nenne hier den Europass. Diese Initiative geht in die richtige Richtung, muss aber weiterentwickelt werden. Das müssen wir so, wie wir es bei den Hochschulen gemacht haben - seit der BAföG-Reform kann das BAföG ins Ausland mitgenommen werden; zu denken ist ferner an die wechselseitige Anerkennung von akademischen Abschlüssen bzw. Teilabschlüssen -, auch bei der beruflichen Bildung hinbekommen, damit die jungen Menschen besser ausgestattet sind. Beim letzten Tagesordnungspunkt war davon die Rede, dass Europa die tragende Idee unserer Politik sei. Dann müssen auch die Abschlüsse in Europa wechselseitig anerkennungsfähig sein. ({6}) Der letzte Punkt bezieht sich auf das Verhältnis des dualen Systems und der Hochschulen bzw. Fachhochschulen; das wurde auch vom Kollegen Catenhusen angesprochen. Es ist in der Tat erfreulich, dass Bayern seinen Widerstand aufgegeben hat. Besonders wichtig ist aber, dass wir den Fachhochschulen und Universitäten in Zukunft auch die Möglichkeit geben wollen, sich an diesem Weiterbildungsmarkt aktiv zu beteiligen. Es soll also nicht mehr nur unmittelbar für den Beruf nützliches Wissen an den Fachhochschulen und Hochschulen abgerufen werden können. Vielmehr sollen sich die Berufstätigen parallel in den Hochschulen weiterbilden können. Dafür wollen wir die Universitäten und Fachhochschulen öffnen. Der Zugang soll allen möglich sein, die eine solide berufliche Qualifikation hinter sich haben. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Burgbacher von der FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben vor circa drei Stunden über PISA diskutiert. Wenn ich mich daran erinnere, wie viele Klagen über das Niveau der Schulabgänger gerade von den Ausbildern in den Betrieben seit vielen Jahren vorgebracht werden, dann muss ich heute sagen: Hätten wir früher auf sie gehört, hätte man vor allem in manchen Bundesländern früher auf sie gehört, könnten wir uns heute manche Diskussion sparen. ({0}) Diese Klagen bezogen sich genau auf die mangelnde Lesefähigkeit, auf das mangelnde Verständnis, auf mangelnde Rechenfähigkeiten; wir alle haben diese Klagen gehört, wo immer wir hinkamen. Hier ist sicherlich etwas versäumt worden. ({1}) Wenn wir heute über berufliche Bildung reden, dann wird das Schlagwort von der Gleichwertigkeit der allgemeinen und der beruflichen Bildung wieder in den Vordergrund treten. Diese Forderung ist Allgemeingut. Leider hapert es mit ihrer Umsetzung. Die Verwirklichung dieses Projektes pausiert; manchmal sage ich: Es ist schon Feierabend. Wir haben einen Antrag vorgelegt, der einen anderen Weg beschreibt. Wir wollen den Bildungspass, wir wollen ein modulares Ausbildungssystem. Ich werde nachher auf einige Punkte hierzu eingehen, möchte aber zuvor einige Bewertungen im Hinblick auf den Berufsbildungsbericht der Bundesregierung vornehmen. Dieser Bericht, der die Situation des vergangenen Jahres beschreibt, zeichnet ein zumindest zwiespältiges Bild. Er ist in keiner Weise Anlass, ein Loblied auf die Regierung zu singen. ({2}) Herr Catenhusen, die Gewerkschaftsvertreter, auf die sich diese Regierung so gern stützt, kritisieren den Bericht der Bundesregierung mit herben Worten - ich zitiere -: Die Bilanzen wurden schöngeredet, kritische Zahlen ausgeblendet, das Prinzip Hoffnung zum Politikersatz gemacht und im Übrigen darauf vertraut, dass die Öffentlichkeit schon nichts merken werde. ({3}) So lautet das Minderheitenvotum der Arbeitnehmervertreter im Bericht. Herr Tauss, das sind Ihre Freunde. Wer solche Freunde hat, braucht sich um Feinde eigentlich gar nicht mehr zu kümmern. ({4}) Wir sehen das nicht ganz so krass. Die Situation hat sich 2001 gegenüber dem Jahr 2000 geringfügig, aber viel zu wenig verbessert. Die Angebot-Nachfrage-Relation stieg von 100,3 auf 100,6. Die Anzahl der rein betrieblich abgeschlossenen Ausbildungsverträge sank jedoch um knapp 8 000. Die Lage in den neuen Ländern - dazu wurde schon Stellung genommen - verschlechterte sich erneut. ({5}) Die Gewerkschaftsvertreter kommentieren die Lage so: Die Ausbildungssituation in den neuen Bundesländern ist weiterhin eine Katastrophe. So äußern sich Ihre Freunde von den Gewerkschaften. ({6}) Meine Damen und Herren, man kann es auf einen einfachen Nenner bringen: Wäre die wirtschaftliche und konjunkturelle Lage besser und hätten wir eine mittelstandsfreundliche Wirtschaftspolitik, dann hätten wir auch eine bessere Situation bei der Berufsausbildung. Das ist der eigentliche Schlüssel, um das Problem zu lösen. ({7}) Die kleinen und mittleren Unternehmen bieten den weitaus größten Anteil an Ausbildungsplätzen. Wir müssen uns die Zahlen schon einmal vor Augen führen: Betriebe mit unter 500 Beschäftigten bilden 83 Prozent aller Auszubildenden aus, Betriebe mit unter 10 Beschäftigten bilden mit immerhin noch fast 25 Prozent erheblich mehr aus als alle Großbetriebe mit über 500 Beschäftigten. ({8}) Das zeigt den Fehler in Ihrer Politik. Sie haben eine in grober Weise mittelstandsfeindliche Politik gemacht. ({9}) Wir können alle Facetten dessen aufführen. Betriebe bilden zum Teil weniger aus, weil sie es schlichtweg nicht können. Lieber Herr Loske, wenn Sie vorher anmahnten, dass die Wirtschaft zu ihrem Versprechen stehen solle, ({10}) halte ich Ihnen entgegen: Die Wirtschaft steht dazu, wenn sie es kann. Wenn ein Betrieb nicht mehr das nötige Geld verdient, dann hapert es eben auch an der Möglichkeit auszubilden. Deshalb geht der Weg zu mehr betrieblicher Ausbildung nicht über irgendwelche Gespräche, sondern über die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen. ({11}) - Ich bin immer korrekt. ({12}) Außerdem wissen Sie genau, dass ich insgesamt nur fünfeinhalb Minuten Redezeit habe. Sonst würde ich Ihnen jetzt genau aufzählen, worin Ihre mittelstandsfeindliche Politik liegt. ({13}) - Bitte machen Sie das; ich beantworte sie gern. Ich will noch einiges zu unserem Antrag sagen - das ist auch ein wesentlicher Vorwurf an Sie -: Die Reform des Berufsbildungsgesetzes ist schlichtweg verschlafen worden. ({14}) Wir brauchen diese Reform aber. Das duale Ausbildungssystem, das sich grundsätzlich bewährt hat - das ist überhaupt keine Frage - und das weltweit anerkannt ist, muss weiterentwickelt werden; es kann nicht statisch so bleiben, wie es jetzt ist. Wir haben in Wirtschaft und Gesellschaft eine erhebliche Dynamik. Neue Berufe entstehen in einer Geschwindigkeit, wie wir es nie gekannt haben. Das muss sich in der Berufsausbildung widerspiegeln. Deshalb empfehlen wir das Konzept der Modularisierung. ({15}) Wir dürfen kein starres System schaffen. Wir brauchen Module, die aufeinander aufbauen. Ich sage ausdrücklich: Das geht nicht in die Richtung, dass wir nur noch Kurzberufe wollen. Wir wollen die derzeitigen Berufe, aber mit einem flexibleren System. ({16}) Wir wollen den Ausbildungspass, der dem jungen Auszubildenden etwa erlaubt, in verschiedenen Betrieben zu lernen. Dieses Erfordernis wird weit stärker kommen, als wir alle das heute noch glauben, weil ein Betrieb allein das oft nicht mehr kann. ({17}) Der Auszubildende kann damit einen Teil seiner Ausbildung im Ausland machen; über die Europäische Union wurde in diesem Zusammenhang schon gesprochen. Er bekommt das dokumentiert. So entsteht eine neue Form der Ausbildung. Das kann sich natürlich später in der Weiterbildung fortsetzen. Zusammengefasst: Mit dem individuellen Ausbildungspass wollen wir die Chancen und Möglichkeiten der Berufsbildung deutlich verbessern. Wir wollen den Weg öffnen - und fordern Sie noch einmal auf, diesen Weg endlich mit uns zu gehen - für ein liberales, duales und modulares Berufsbildungssystem in Deutschland. ({18}) Herzlichen Dank. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Maritta Böttcher von der PDS-Fraktion.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren vor allem von der Koalition, ich sage es gleich zu Beginn: Ich bin nicht hier, um Lob zu verteilen. ({0}) Stattdessen sage ich: Ihre Weitsicht ist schon bewundernswert. Als der Berufsbildungsbericht 2001 vorlag, haben Sie offensichtlich gedacht, dass auf dem Gebiet der Berufsbildung bis zum nächsten Bericht ohnehin nicht viel passiert. Mit dieser Vermutung liegen Sie richtig; die Probleme vom vorigen Jahr existieren leider im Prinzip fort. Es bestand deshalb für uns auch keine Veranlassung, den Entschließungsantrag zum Bericht 2001 zurückzuziehen; denn sowohl die dort dargestellte Lage, besonders ihre Ausmaße in Ostdeutschland, als auch die Eckpunkte für eine Reform des Berufsbildungsgesetzes haben nicht an Aktualität verloren. ({1}) Der Bericht 2002 macht deutlich, dass die derzeitigen statistischen Grundlagen nicht geeignet sind, den Ernst der Lage zu erfassen. Der Bericht konstatiert für 2001 eine Angebot-Nachfrage-Relation von 100,6. Obwohl das noch weit vom verfassungsgerichtlich fixierten Wert von 112,5 entfernt ist, wird das als Erfolg gefeiert. Hinter dieser formalstatistischen Ausgeglichenheit bleiben viele gravierende Probleme verborgen. Bürstet man die Erfolgsberichterstattung weiter gegen den Strich, kommt noch mehr zum Vorschein. Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsverträge ging weiter zurück und fiel zum Beispiel in Sachsen-Anhalt auf einen historischen Zehnjahrestiefpunkt. Entsprechend stieg die Zahl derer, die am Ende in Ersatzmaßnahmen und Warteschleifen landeten. Viele verschwinden nur aus der Statistik. Sie besuchen aufgrund der Schulpflicht mangels Alternative Berufsvorbereitungs- oder Grundbildungsjahre, sind aber real nicht weniger vorhanden und nicht weniger an einer qualifizierten Ausbildung interessiert. Gewachsen ist dafür die Mobilitätsbereitschaft der Jugendlichen. Allein 19,7 Prozent aus dem Osten finden ihren Ausbildungsplatz außerhalb ihrer Region. 41 Prozent der Ausbildungssuchenden 2001 waren so genannte Altbewerber aus den Vorjahren. Herr Jork, bei aller Wertschätzung, mir ist neu, dass Sie hier nun doch noch für die Ausbildungsplatzumlage werben, ({2}) indem Sie Betriebe, die sich besonders verdient machen und auch über Bedarf ausbilden, stärken möchten. Schade, dass Sie jetzt aus dem Parlament ausscheiden. Sie könnten mit mir gemeinsam in der nächsten Wahlperiode diesen Gesetzentwurf umsetzen. Schade, aber vielleicht werden das Ihre Kollegen übernehmen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Tendenzen in der Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit sind leider Besorgnis erregend. Ein Anstieg der Anzahl der Arbeitslosen unter 25 Jahren um mehr als 10 Prozent und ein deutlicher Anstieg der Anzahl der Jugendlichen, die länger als sechs Monate arbeitslos sind, sind wirklich keine Erfolgsmeldungen. Welche Schlussfolgerungen sind allein aus diesen wenigen Tatsachen zu ziehen? Erstens. Eine grundlegende Reform des Berufsbildungsgesetzes ist überfällig. Diese Reform muss darauf gerichtet sein, die Berufsausbildung von den konjunkturellen Schwankungen zu entkoppeln und den individuellen Rechtsanspruch auf eine qualifizierte berufliche Ausbildung zum Ausgangspunkt aller einzelnen Bestimmungen zu machen. Zweitens. Alle existierenden beruflichen Ausbildungsgänge müssen in den Geltungsbereich des BBiG einbezogen werden. Drittens. Für die Gesamtheit dieser Ausbildungsgänge muss das reformierte BBiG gemeinsame Standards zum Beispiel für Zugang, Qualitätssicherung, Prüfungswesen und Durchlässigkeit festlegen. Auf diese Weise soll das duale System als Kern unserer beruflichen Ausbildung erhalten und fortentwickelt werden; zugleich soll aber die gesamte nicht akademische berufliche Bildung zu einem gleichwertigen pluralen Ausbildungssystem ausgestaltet werden, in dem das duale Prinzip, nämlich die Verbindung von Theorie und Praxis, durchgängig praktiziert wird. ({4}) Viertens geht es darum, im Berufsbildungsgesetz eine Finanzierung zu verankern, durch die die Unternehmen und Verwaltungen verbindlich verpflichtet werden, ihrer Verantwortung für die berufliche Ausbildung gerecht zu werden. Diese Finanzierung muss in der nahen Perspektive allen Auszubildenden eine eltern- und partnerunabhängige Existenz ermöglichen. Schließlich und fünftens muss das reformierte Berufsbildungsgesetz die Grundlage dafür legen, dass die Auszubildenden, die Berufsschulen und das gesellschaftliche Umfeld größere Mitgestaltungsmöglichkeiten in der Ausbildung erhalten. Wie dringlich das ist, zeigt der skandalöse Umstand, dass das im Deutschen Bundestag beschlossene bescheidene Sondergesetz für ein Mitspracherecht der Auszubildenden in außerbetrieblichen Einrichtungen im Bundesrat von der Unionsmehrheit vorerst blockiert worden ist. ({5}) Wenn es uns nicht gelingt, meine Damen und Herren, unser Berufsbildungssystem zu reformieren, dann werden wir große Schwierigkeiten haben, es der europäischen Entwicklung anzupassen. Ich erwarte, dass wir gemeinsam nach Lösungen suchen, um die Situation zu verändern, und nicht in erster Linie, um Berichte zu beschönigen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Willi Brase von der SPD-Fraktion.

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! WolfMichael Catenhusen hat nach meiner, nach unserer Auffassung das Notwendige zur aktuellen Entwicklung der Ausbildungsstellensituation gesagt. Ich will versuchen, einige Punkte anzusprechen, die auch bereits in der Debatte deutlich wurden und gezeigt haben, wo wir in diesem Bereich stehen. Vorab möchte ich Folgendes sagen: Lieber Herr Dr. Jork, der DGB hat kürzlich in einer Stellungnahme zum JUMP-Programm sehr offensiv ausgeführt, dass das absolut Positive an diesem Programm war, dass wir vor allem junge Leute, die sich aus dem Arbeitsmarktgeschehen verabschiedet hatten, wieder hoch geholt und ihnen eine Perspektive mit vielfältigen Aktivitäten gegeben haben. ({0}) Ich sehe das als eine sehr soziale und vernünftige Angelegenheit an. Deshalb freuen wir uns über dieses Lob. Wir haben in den letzten vier Jahren versucht - nach meiner Auffassung ist uns das gelungen -, einige Eckpunkte in der Diskussion über die berufliche Bildung zu beachten und voranzutreiben. Erstens. Wir halten an der Bundeseinheitlichkeit der beruflichen Bildung fest. Wir sind gegen Versuche, das System der beruflichen Erstausbildung durch modularisierte Teil- und Zusatzqualifikationen oder durch gestufte Bildungsgänge zu ersetzen. Wir sind gegen Konzepte in Richtung Basisberufe und gegen Kurzausbildungsberufe. Wir sind auch gegen eine Verkürzung der Ausbildungsdauer auf zwei Jahre. Wir halten uneingeschränkt am Berufsprinzip fest. Dieses Prinzip hat sich bewährt. Das hohe Qualifikationsniveau unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den unterschiedlichen Branchen belegt dies sehr deutlich. ({1}) Deshalb brauchen wir kein System modularisierter Tätigkeiten und keine Schmalspurberufe, und zwar nicht im Interesse der Wirtschaft und schon gar nicht im Interesse der Jugendlichen. Das zeigt auch die aktuelle Situation. Zweitens. Unser Land kann auch gerne auf die Ausdifferenzierung der Ausbildungsordnungen und Berufsbilder in eine Vielfalt von Spezialberufen verzichten, weil sie die berufliche Mobilität behindern und oft nur modischen Trends des Stellenmarktes folgen. Ich nenne als Beispiel den Info-Broker oder den Content-Manager. Diese Berufsbilder können schnell überholt sein, wie der Zusammenbruch der so genannten New Economy deutlich gemacht hat. Ich erwähne auch die klassische, nach meiner Auffassung abschreckende Liste von 100 neuen Spezialberufen der IHK Hamburg und nenne beispielsweise den Aufzugsportier und die Garderobefachfrau. Da wir uns in Europa informationstechnologisch mittlerweile an erster Stelle befinden, brauchen wir keinen Aufbruch in die Nostalgie, sondern den Ausbau der Spitzenposition. Entsprechende Maßnahmen werden wir weiterhin umsetzen. ({2}) Wir haben über 70 000 Ausbildungsplätze in den neuen IT-Berufen. Ich will darauf hinweisen, dass sich mit der Neuordnung der Metall- und Elektroberufe vor allen Dingen die davon betroffenen Branchen weiterentwickeln konnten. Nehmen Sie nur einmal die Spitzenstellung des Maschinenbaus. Es war genau richtig, dass wir diesen Weg gegangen sind. ({3}) - Das ist doch uninteressant. Wir haben die Maßnahmen bezüglich der IT-Berufe weiter vorangetrieben. Sie können reden, wie Sie wollen: Es gibt 70 000 Ausbildungsplätze mehr als zugesagt wurden. ({4}) Lassen Sie mich einen Bereich ansprechen, der häufig erwähnt wird, wenn es darum geht, bestimmte Probleme in den Griff zu bekommen. Wir haben eine Zunahme von Ausbildungsverhältnissen außerhalb des BBiG und der HWO. Herr Dr. Jork, Sie müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass selbst in Ihrem Heimatbundesland Sachsen über 9 Prozent dieser Ausbildungsverhältnisse ausgeweitet wurden. Wenn Sie das ursprüngliche duale Ausbildungssystem fordern, dann muss ich sagen: Wir müssen aufpassen, dass in den Bundesländern nicht zu stark auf der Basis von Ausbildungsordnungen außerhalb des BBiG und der HWO ausgebildet wird; denn das kann für die zukünftige Entwicklung der dualen Ausbildung möglicherweise negativ sein. Ich glaube, es hat Sinn zu schauen, wie in diesem Bereich die Ausbildung läuft. Es ist wichtig, dass wir auch die Tätigkeit der Berufsschule, die Anerkennung der Berufsschulleistung in den Prüfungssystemen und auch die Einbeziehung der Berufsschule im BBiG insgesamt intensiver diskutieren. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass es im Gutachten von Professor Ossenbühl, das im Auftrage des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit auf den Weg gebracht wurde, dazu eine detaillierte und differenzierte Betrachtung gibt. Wenn Sie wie auch wir von der Richtigkeit des Gutachtens überzeugt sind, dann müssen wir uns daranmachen, entsprechende Regelungen über einen Staatsvertrag zwischen den Bundesländern und dem Bund zu treffen: Wie kann zukünftig das, was in den berufsbildenden Schulen und in den Berufsfachschulen erarbeitet und den Schülerinnen und Schülern gelehrt wird, möglicherweise in die Abschlussprüfung einbezogen werden? Welchen Stellenwert hat das? Ich weise darauf hin, dass es noch ein langer Weg ist. Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn wir uns an dieser Stelle im Ausschuss noch einmal auseinander setzen würden. ({5}) Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der nach unserer Auffassung schon umgesetzt wurde. Das ist der Ausbildungskonsens. Ich glaube, es ist richtig, dass wir die Verantwortlichkeit der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen erhöht haben und dass wir ihnen Chancen und Möglichkeiten gegeben haben. Aufgrund des Ausbildungskonsenses können Angebot und Nachfrage in den Regionen besser bewertet werden. Somit sind wir in der Lage, Maßnahmen zur Bereitstellung ausreichender Angebote für alle Jugendlichen wesentlich konkreter umzusetzen. ({6}) In den Regionen selbst kann eine Umsetzung viel besser erfolgen, weil man dort weiß, welche Branchen es gibt und wie hoch die Zahl der betroffenen Jugendlichen ist. Man weiß dort auch, was man möglicherweise an vorbereitenden und ergänzenden Aktivitäten beschließen muss, damit das, was im Ausbildungskonsens vereinbart wurde, auch umgesetzt wird: Wer kann und will, der bekommt ein entsprechendes Angebot unterbreitet. ({7}) In der Debatte spielte die Frage der benachteiligten Jugendlichen zunehmend eine große Rolle. Ich glaube nicht, dass es hilft, wenn man diesen jungen Menschen die Modularisierung oder auch die schon angesprochenen Kurzzeitausbildungsgänge anbietet. Es scheint mir wichtiger zu sein, dass wir sie auch an eine bundeseinheitliche Beruflichkeit mit dem Ziel einer umfassenden beruflichen Handlungskompetenz heranführen und dass wir uns in Bezug auf die Tätigkeit der Jugendberufshilfen überlegen - sie ist in diesem Bereich vielfach zu verzeichnen und sorgt häufig mit dafür, dass die Berufsreife und die Befähigung zur Beruflichkeit verbessert wird -, ob wir zukünftig die Jugendberufshilfe so akzeptieren, wie sie ist - sie gibt soziale und aufbauende Hilfestellungen -, und ob wir sie regional stärker mit den Maßnahmen, die im Rahmen des Berufsbildungsgesetzes vorgesehen sind, verzahnen. Ich glaube, da tun wir etwas wirklich Gutes. Ich will einen letzten Punkt ansprechen, den ich für sehr nachdenkenswert halte. Die Ablehnung der kleinen Novelle zum Berufsbildungsgesetz, also die Ablehnung von mehr Beteiligung und Mitsprache der jungen Menschen durch die Mehrheit des Bundesrates kann doch nicht richtig sein, wenn man gleichzeitig davon spricht, dass auch junge Menschen Rechte und Gestaltungsmöglichkeiten haben sollen, und wenn man sich die Tatsache vor Augen führt, dass sie zukünftig vor allen Dingen in Berufen tätig sein werden, die, wie die Betrachtung unserer Leitbranchen in der Bundesrepublik Deutschland zeigt, mehr Kompetenzen im Bereich des sozialen Handelns erfordern. Deshalb kann ich nur sagen: Man kann nicht in Sonntagsreden mehr Beteiligung von jungen Menschen einfordern und dann, wenn es konkret darum geht, an der Ausbildungssituation etwas zu ändern, 135 000 jungen Menschen in öffentlich geförderten Ausbildungseinrichtungen ein Stück Interessenvertretung versagen. Das passt nicht zusammen; das ist rückwärts gewandt. Das müssen wir zurückweisen. ({8}) Wir brauchen ein modernes und durchlässiges System der beruflichen Bildung. Wir werden es auch nach dem 22. September weiterentwickeln. Wir werden aber nicht zulassen, dass sich die berufliche Ausbildung zukünftig nur noch an betrieblichen Interessen orientiert oder dass der Weg der Entstaatlichung vorangetrieben wird. Wir werden dafür sorgen, dass die Jugendlichen durch Bundeseinheitlichkeit, durch eine bessere Verzahnung der Aus- und Weiterbildung und durch eine Weiterentwicklung der Ausbildungsordnungen die Chancen bekommen, die sie in unserem Lande brauchen, und das sind gute Chancen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Kollege Heinz Wiese von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Heinz Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man kann heutzutage keine bildungspolitische Debatte mehr führen, ohne auf die PISA-Studie einzugehen. Ich denke aber, der Schlagabtausch zu PISA-E hat in diesem Hohen Hause schon heute Nachmittag stattgefunden. Zu der immer noch durchaus unbefriedigenden Lehrstellensituation in den neuen Bundesländern, zu dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Reform der beruflichen Bildung und zum Berufsbildungsbericht hat mein Kollege Dr. Jork ausführlich Stellung genommen. Deshalb lassen Sie mich kurz einige Perspektiven im Hinblick auf die Reform der beruflichen Bildung, auf das, was wir noch vor uns haben und was die Redner in dieser Debatte bereits angedeutet haben, aufzeigen. Wir wissen, dass in den Bundesländern, in denen eine solide Bildungspolitik betrieben wird, auch das duale Ausbildungssystem intakt ist. Es hat sich dort bewährt und ist nach wie vor international konkurrenzfähig, anerkannt und erfolgreich. ({0}) Dass wir aber als rohstoffarmes Land, dessen wichtigstes Kapital bekanntlich die Köpfe unserer Bürger sind, insgesamt im Ausbildungsbereich neue Konzepte und Strukturen brauchen, ist unbestritten. Die Lage ist zwar ernst, aber wir dürfen nicht mit Schnellschüssen reagieren. In der Vergangenheit hat sich immer wieder gezeigt - denken Sie an die so genannte Greencard -, dass Schnellschüsse nicht wirksam und nicht nachhaltig sind und auf Dauer zu wenig Substanz beinhalten. ({1}) Deshalb ist eine gründliche und schonungslose Analyse der Misere an unseren Schulen bis hin zum beruflichen Schulwesen gefordert. Es gibt auch bereits Anzeichen dafür, dass wir diese Diskussion verstärkt ohne ideologische Scheuklappen führen können und dass in konkreteren Diskussionen Tabus teilweise verschwinden. Dazu sollten wir alle unseren Beitrag leisten. ({2}) Was wir brauchen - das haben wir erkannt, Herr Tauss -, ist nicht einfach nur mehr Geld. Es ist auch nicht nur eine bessere Ausstattung der Schulen. Es ist nicht nur eine bessere Ausstattung mit Computern und Laptops. ({3}) - Ich sage: nicht nur! - Es geht nicht nur um eine zeitgemäße Lehrerausbildung. ({4}) Ich denke, das Entscheidende ist viel elementarer: Wir brauchen ein Umfeld, in dem sich Leistung und Wettbewerb wieder lohnen! ({5}) Das ist in der Wirtschaft und in der Bildungspolitik auch durchgängig wie ein roter Faden erkannt. Wir brauchen ein gesellschaftliches Klima, in dem Leistung mehr Anerkennung findet als bisher. Das ist, glaube ich, der richtige Ansatzpunkt. Wir müssen die jungen Menschen, die in die Betriebe kommen, vorher entsprechend fordern und fördern. Schon auf dem Weg zur Berufsausbildungsreife - das ist ja die entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufsreife, die danach kommt - müssen bereits in der Schule an dieser Schnittstelle neben Wissen auch solche Werte vermittelt werden wie Teamfähigkeit, Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Disziplin, Zuverlässigkeit. ({6}) Früher hat man gesagt, das sind Arbeitstugenden. Heute sagt man, das sind Schlüsselqualifikationen. Gut, wie man das Kind tauft, ist am Ende egal. Hauptsache ist, wir kommen dort hin. Das ist konsensfähig, denke ich. Das ist die Grundlage für eine erfolgreiche Schulzeit, für ein berufliches Fortkommen und zugleich entscheidend für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen. Meine Damen und Herren, auch bei den Berufsschulen müssen wir das noch mehr als bisher berücksichtigen. Wir müssen die unterschiedlichen Begabungen zur Kenntnis nehmen. Wir müssen die Veranlagungen, die Interessen der Jugendlichen in unsere Fördermaßnahmen einbauen. Derjenige, der mehr gefordert werden kann, der soll auch mehr gefordert werden. Deshalb, glaube ich, müssen wir diejenigen, die mehr theoretisch begabt sind, gezielter fordern. Andererseits sollte unser besonderes Augenmerk denen gelten, die benachteiligt sind, die vielleicht eher praktisch begabt sind. Das ist ja auch eine Begabung, die nicht zu kurz kommen sollte. ({7}) Deshalb glaube ich durchaus daran, dass es einige Berufsbilder mit vermindertem theoretischen Anforderungsprofil, wie es so schön heißt, geben sollte, damit auch diejenigen, die mehr praktisch begabt sind, mit solchen Modellen, mit solchen Berufsbildern ihren Weg gehen können. Wir sollten natürlich auch das, was die FDP hier beantragt hat, in unser Denken aufnehmen. ({8}) Das betrifft die modularen Ausbildungsgänge und die Anerkennung von Teilzertifikaten. Das alles kann man, denke ich, auch in einem Ausbildungspass verankern, der europaweit mehr Anerkennung und mehr Propaganda verdient. Im europäischen Bereich und auch im Zusammenhang mit der Osterweiterung, Herr Staatssekretär, sollten wir das gezielt im Auge haben und in einem solchen Ausbildungspass die Ausbildungsabschnitte und die Zusatzqualifikationen festhalten. Zur Weiterbildung: Dr. Loske hat ebenso wie der Kollege Brase von der SPD davon gesprochen, dass wir auch neue Wege in der Verzahnung von Aus- und Weiterbildung gehen müssen; denn wir wissen ja, dass gerade der Kompetenz des lebensbegleitenden Lernens eine höhere Bedeutung zukommt. Wir brauchen Fremdsprachenkompetenz. Wir brauchen den verantwortungsbewussten Umgang mit den neuen Medien und wir brauchen die Befähigung zu lebensbegleitendem Lernen - und das von der Pike auf, wie man sagt. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wiese, kommen Sie bitte zum Schluss.

Heinz Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich meine, dass wir auch in diesem Bereich in Baden-Württemberg den richtigen Weg eingeschlagen haben: die Förderung der interkulturellen Kompetenz mit einem flächendeckenden Fremdsprachenunterricht in Englisch demnächst - so hoffe ich, Herr Tauss - im ganzen Lande bis zum Berufsabschluss. Das, denke ich, muss gesehen werden. Auch die Berufsschulen dürfen beim Fremdsprachenunterricht nicht außen vor bleiben. ({0}) Meine Damen und Herren, ich darf ein Letztes sagen. Wir sind in dem Bereich -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wiese, keine langen Ausführungen mehr, bitte! Sie sind weit über der Zeit.

Heinz Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich wollte das nur noch einmal aufgreifen. Die Zahlen sind genannt worden. Ich kann deshalb auf nähere Erläuterungen verzichten. Wir sollten auch in Zukunft, gerade um die Misere im Osten zu bekämpfen, dem Grundsatz treu bleiben: Bildung, Ausbildung und Qualifizierung junger Menschen sind der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. Das war ein sehr schöner Schlusssatz.

Heinz Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Berufsbil- dungsberichts 2002 auf der Drucksache 14/8950 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Der hierzu vorliegende Entschließungsantrag der Frak- tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf der Drucksache 14/9581 soll zur federführenden Bera- tung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Aus- schuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuss für Familie, Se- nioren, Frauen und Jugend und an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung auf der Drucksache 14/7910. Der Ausschuss emp- fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis des Berufsbildungsberichts 2001 der Bundesregierung auf Drucksache 14/5946 die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/5984 mit dem Titel „Mit einem individuellen Ausbildungspass durchs Leben - für ein liberales, duales und modulares Berufsausbil- dungssystem in Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Gegen- stimmen der FDP und Enthaltung der CDU/CSU ange- nommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des Berufsbildungsberichts 2001 die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU zur Bekämpfung des Lehr- stellenmangels in den neuen Bundesländern auf der Drucksache 14/7281. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/ CSU und FDP angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der PDS auf der Drucksache 14/9550 zum Berufsbildungsbericht 2001. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der PDS- Fraktion abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 e auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulf Fink, Wolfgang Lohmann ({0}), Maria Eichhorn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verstärkung der Personalausstattung in Pflegeheimen ({1}) - Drucksache 14/8364 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3}) - Drucksache 14/9561 - Berichterstattung: Abgeordnete Monika Knoche b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Seehofer, Wolfgang Lohmann ({5}), Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Gesundheitswesen patientenorientiert, freiheitlich und zukunftssicher gestalten - Drucksachen 14/8595, 14/9570 Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Lohmann ({6}) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Pflege reformieren - Lebensqualität in Gegenwart und Zukunft sichern - Drucksachen 14/6327, 14/9569 Heinz Wiese ({8}) Berichterstattung: Abgeordneter Dieter Thomae d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({9}) zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fortentwicklung der sozialen Pflegeversiche- rung - Drucksachen 14/8864, 14/9562 - Berichterstattung: Abgeordnete Marga Elser e) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/ CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP Medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen sichern und verbessern - Drucksache 14/9544 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel von der SPD-Fraktion das Wort.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag, über den wir heute debattieren, ist mit starken Worten gespickt. Er enthält, wie nicht anders zu erwarten, ausschließlich negative Bewertungen rot-grüner Gesundheitspolitik. ({0}) Aus der Weitsicht der CDU/CSU sind die apokalyptischen Reiter über ein einstmals blühendes Gesundheitswesen hergefallen. Ihrer Meinung nach haben wir in dieser Legislaturperiode die Qualität der Versorgung der Patienten verschlechtert und das System ({1}) - warten Sie ab, es kommt noch mehr - in den finanziellen Ruin getrieben. ({2}) Das, was Sie hier bieten, bezeichnet man in der Medizin - hören Sie gut zu - als Wahrnehmungsstörung und Gedächtnisverlust. ({3}) Unser Gesundheitssystem krankt seit Jahren und Jahrzehnten an Qualitäts- und Effizienzdefiziten. Gegen diesen Mangel haben die unionsgeführten Bundesregierungen nichts, aber auch gar nichts unternommen. Strukturelle Überkapazitäten haben CDU und CSU als ebenso gottgewollt angesehen wie Über-, Unter- und Fehlversorgungen in den Behandlungsprozessen. Die Union, meine Damen und Herren, hat nie die Kraft gefunden, Leistungserbringer in die Pflicht zu nehmen. Diskussionen über die Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, gefürchtet wie der Teufel das Weihwasser. ({4}) Für Sie war es viel bequemer, die gesetzliche Krankenversicherung zum Selbstbedienungsladen für Leistungserbringer verkommen zu lassen. ({5}) Nichts anderes steckt hinter Ihrem hochtrabenden Begriff des Paradigmenwechsels aus dem Jahr 1997. ({6}) - Der war gut, sicher. - Von der Notwendigkeit, die Qualität und Effizienz der medizinischen Versorgung zu verbessern, war bei Ihnen damals keine Rede. Ihr damaliger Gesundheitsminister hat noch im Frühjahr 1997 Wirtschaftlichkeitsreserven von 25 Milliarden DM im Gesundheitswesen ausgemacht, ({7}) verkündete aber im Herbst 1997 mit stolzgeschwellter Brust: Jetzt ist kein Geld mehr vorhanden. Richtig war und ist hingegen, dass in unserem Gesundheitssystem nach wie vor erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven stecken. ({8}) - Suchen Sie sie mal! Dann haben Sie eine Aufgabe. ({9}) Da ist es doch viel einfacher, die Patienten mit Forderungen nach Zuzahlung und in Form von Leistungsausgrenzungen zur Kasse zu bitten. Um Ihre Politik zu bemänteln, haben Sie einen Paradigmenwechsel - so heißt das so schön - erfunden: Die finanziellen Aufwendungen der gesetzlichen Krankenversicherung sollen sich am medizinischen Bedarf orientieren, ({10}) und nicht umgekehrt. ({11}) Wir wollen das Kind aber dennoch beim Namen nennen. Abzockerei ist und bleibt Abzockerei! An diese Politik wollen Sie anknüpfen. ({12}) Ihr Wahltarifmodell soll es erlauben, den konzeptionierten Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine - so nennen Sie das ja in Ihrem Antrag - maßgeschneiderte individuelle Risikovorsorge abzulösen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({13}) Die Zeche für die neuen Freiheiten hätten die kranken und hier vor allem die chronisch kranken Menschen zu zahlen. Das wollen Sie! Nur Junge und Gesunde - hören Sie gut zu - könnten es riskieren, Wahloptionen auszuüben. Sie würden dafür mit Beitragsnachlässen belohnt, hören wir fast jeden Tag. Dadurch käme aber weniger Geld ins System - das haben Sie bisher nicht gesagt - und die Gesundheitskosten würden nicht sinken. ({14}) Ende vom Lied: Kranke, Rentner und ältere Arbeitnehmer müssten zwangsläufig eine größere Last schultern. Besonders gebeutelt wären - ich will noch einmal darauf hinweisen - die chronisch Kranken. Wahltarife - das will ich Ihnen auch noch einmal ins Stammbuch schreiben - sind zudem frauen- und familienfeindlich. ({15}) Wie sich das mit Ihrer Familienpolitik verträgt, bleibt Ihr Geheimnis. ({16}) - Sie haben nicht hingehört, was ich gesagt habe. ({17}) CDU/CSU reden unser Gesundheitssystem schlecht. Sie tun das in der Absicht, das Solidarsystem mittel- und langfristig zu beseitigen. ({18}) Sie wollen an seine Stelle ein System der individuellen Risikovorsorge setzen. Das Risiko „Krankheit“ soll privatisiert werden. Sie wollen mit Ihrem Programm den Zugang zu medizinisch notwendigen Leistungen in Zukunft vom Geldbeutel des Einzelnen abhängig machen. ({19}) Die Rundumversorgung, die die solidarische Krankenversicherung für alle Versicherten gewährleistet, soll zum Luxusgut werden, das sich dann nur noch Reiche leisten können. ({20}) Sie sind auch mit Ihrem Antrag auf dem Weg in eine Zweiklassenmedizin. Diesen Irrweg kann und wird die SPD nicht mitgehen. ({21}) Wir setzen weiterhin auf das Solidarprinzip. Wir wollen, dass die Jungen für die Alten, die Gesunden für die Kranken, die Besserverdienenden für die finanziell Schwächeren und die Singles für die Familien eintreten. Das Solidarprinzip war und ist ein Eckpfeiler in diesem Land. Es gehörte und gehört zum Grundkonsens unserer Gesellschaft. ({22}) Dieser Grundkonsens, meine Damen und Herren - das will ich ausdrücklich noch einmal betonen -, darf nicht aufgekündigt werden. Betrachten Sie diesen Wunsch und diese Aufforderung von mir als mein gesundheitspolitisches Vermächtnis. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({23})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich höre gerade, verehrte, liebe Frau Kollegin SchmidtZadel, dass dies Ihre letzte parlamentarische Rede gewesen ist. Ich darf Ihnen im Namen der Kolleginnen und Kollegen für Ihre Arbeit, die Sie in diesem Parlament auf einem wichtigen Feld der Politik geleistet haben, danken. Ich wünsche Ihnen persönlich alles Gute für Ihre Zukunft. ({0}) Nun gebe ich einer Kollegin das Wort, die sicherlich nicht beabsichtigt, jetzt ihre letzte Rede in diesem Parlament zu halten, nämlich der Kollegin Annette WidmannMauz. Sie spricht für die Fraktion der CDU/CSU.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich bin versucht, an dieser Stelle zu sagen: „Salve Regina!“, wie man das in der katholischen Gegend, aus der ich komme, tut. ({0}) Frau Schmidt-Zadel, was Sie erzählt haben, erinnert mich schon ein bisschen an die Märchen, die mir meine Großmutter manchmal erzählt hat. ({1}) Ihre Rede enthielt viel Märchenhaftes, viele Fabelfiguren, aber wenig Reelles und Reales. ({2}) Deshalb muss ich leider ein wenig in die Niederungen hinabsteigen und auf das, was uns wirklich beschäftigt und besorgt macht, zu sprechen kommen. Was wir seit vier Jahren erleben, ist der aufhaltsame Abstieg des deutschen Gesundheitswesen. Ministerin Schmidt hat nichts getan, was uns vor der dramatischen Situation, in der wir heute stecken, bewahrt hätte. Im Gegenteil: Diese Bundesregierung hat diese Situation durch ihre Plan- und Orientierungslosigkeit maßgeblich zu verantworten. Nach wie vor - das, was Sie hier zum Besten gegeben haben, unterstreicht dies ganz deutlich - ignorieren Sie schlichtweg die riesigen Herausforderungen des Gesundheitswesens, nämlich die sinkenden GeburtenraRegina Schmidt-Zadel ten, die Steigerung der Lebenserwartung und den wachsenden medizinischen Fortschritt. Die Konsequenz ist völlig klar: Die Ausgabenexplosion wird sich noch erheblich beschleunigen. Alle Fachleute prognostizieren uns Beitragssätze von 20 Prozent in absehbarer Zeit. Die finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung ist desolat. Die Versorgung der Patientinnen und Patienten sowie der Pflegebedürftigen verliert Tag für Tag systematisch an Qualität. Die Ärzte und das Pflegepersonal sind vielfach überlastet und die Krankenversicherungsbeiträge steigen. Dazu kam von Ihnen kein Wort. ({3}) Ich wäre schon vorsichtig, das Wort „Abzockerei“ überhaupt in den Mund zu nehmen. Sie müssen sich die von Ihnen zu verantwortenden Defizite schon genau ansehen: Im Jahre 2001 betrug das Defizit 2,8 Milliarden Euro. Die durchschnittlichen Beitragssätze sind im letzten Jahr um 0,5 Beitragssatzpunkte gestiegen. Im ersten Quartal dieses Jahres liegt das Defizit bei 0,86 Milliarden Euro. Rechnen Sie einmal Ihren Ablasshandel mit der Pharmaindustrie hinzu, - da kam ja eine Menge Geld rein -, dann stellen Sie fest, dass das Defizit wie im Vorjahr bei deutlich über 1,1 Milliarden Euro liegt, ({4}) und dies, obwohl Sie zusätzliches Geld durch die Beitragssatzerhöhungen, die Selbstverpflichtung der Ärzteschaft und die gestiegenen Kassenrabatte, die Sie ebenfalls zu verantworten haben, bekommen haben. Trotz dieses Mehr an Einnahmen haben wir erneut dieses hohe Defizit in der GKV. Sie haben die Probleme nicht erkannt und haben vor allen Dingen keine Lösungen. ({5}) Durch vermurkste Gesetze und zahlreiche Verschiebebahnhöfe haben Sie die gesetzliche Krankenversicherung seit dem Jahr 2000 mit jährlich 2,5 Milliarden Euro belastet. Weitere Kostenschübe stehen bevor. Ich denke dabei zum Beispiel an die Reform des Risikostrukturausgleichs und an die Aufhebung der Arznei- und Heilmittelbudgets ohne gleichzeitige Einführung von Instrumenten zur wirksamen Ausgabensteuerung. Dazu kommt jetzt die überstürzte und fehlerhafte Einführung des Fallpauschalensystems in den Krankenhäusern. Wenn Sie mit Ihren Maßnahmen wenigstens die Qualität verbessert hätten! Aber zum Beispiel bei der Umsetzung der so genannten Disease-Management-Programme hapert es gewaltig. Der Leiter der Konzertierten Aktion Brustkrebs-Früherkennung in Deutschland, Professor Schulz, schreibt Ihnen ja warnend in einem offenen Brief ins Stammbuch: In der derzeitigen Form ist das ... Disease-Management-Programm unbrauchbar und - man höre verschlechtert die Versorgung an Brustkrebs erkrankter Frauen. Beim Diabetes mellitus schließen Sie teilweise ja sogar faktisch innovative Arzneimittel aus. Alle führenden Wirtschaftsforschungsinstitute fordern eine grundlegende Reform im Gesundheitsbereich. Nach allen Umfragen sind zwei Drittel der Bevölkerung mit der gegenwärtigen Gesundheitspolitik wirklich unzufrieden. Die Studien liegen auf dem Tisch. Nur bei den Damen und Herren von Rot-Grün scheint diese Erkenntnis noch nicht angekommen zu sein. Wir sind auf dem besten Weg in die Zweiklassenmedizin, unter der unter Ihrer Regierung vor allem die sozial Schwachen zu leiden haben. Den gesetzlich Krankenversicherten werden im Gegensatz zu Privatversicherten oder Sozialhilfeempfängern zunehmend Leistungen und Arzneimittel verweigert und bestimmte Behandlungen nur nach längerer Wartezeit angeboten. Budgetierung, Rationierung und dann am Ende Selbstzahlung - das ist die Reihenfolge Ihrer Politik. Sie untergraben damit die von Ihnen so vielfach beschworene Solidarität. ({6}) Jetzt wollen Sie es den Menschen auch noch erschweren, sich privat zu versichern. Aber Ihre angedachte Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze wird den Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung kaum Entlastung bringen. Sie kennen doch die Untersuchungen, die auf dem Tisch liegen. Danach dürften die Kasseneinnahmen nahezu unverändert bleiben. Im ungünstigsten Falle ist sogar eine Mehrbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung möglich. Ich will Ihnen sagen, warum das so ist. Bei einer höheren Versicherungspflichtgrenze müssten die gesetzlichen Krankenkassen zum Beispiel deutlich mehr beitragsfrei mitversicherte Kinder verkraften. Die Gruppe, die Sie am Wechsel hindern wollen, gründet gerade Familien. Ich fordere Sie auf: Lassen Sie von diesem Angriff auf die Friedensgrenze zwischen der privaten und der gesetzlichen Krankenversicherung ab! Ich gehe davon aus, dass Sie uns nicht glauben. Aber selbst der frühere Präsident des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen, Dr. Müller, hat Ihnen unbezahlbare Beitragssatzanhebungen in der PKV für den Fall prognostiziert, dass Sie diesen Unsinn nicht lassen. Ich sage es Ihnen ganz klar: Wer es nicht schafft, die Beiträge von 90 Prozent der Krankenversicherten stabil zu halten, der wird es auch bei einer Quote von 92 Prozent nicht schaffen. ({7}) Hören Sie auch auf, ständig von Entsolidarisierung zu schwätzen. ({8}) Sogar Kardinal Lehmann hat Ihnen ganz deutlich gesagt - ich zitiere -: Das Einwirken des Staates und seine Ansprüche sind mehr und mehr gewachsen. Schon der demographische Wandel zwingt uns zu mehr Eigenverantwortung in der sozialen Ordnung. Deshalb müsse umgesteuert werden. Eine Marktwirtschaft umso sozialer zu definieren, je mehr umverteilt werde, sei ein „unhaltbares Missverständnis“. Wenn Sie es uns und der Kirche nicht glauben, dann hören Sie doch auf Ihren Bundeskanzler. ({9}) Er hat schon im Jahr 2000 ausgeführt - ich zitiere wieder -: Andererseits sind die Möglichkeiten, aber auch die Kosten der modernen Medizin so komplex geworden, dass ein Gesundheitswesen ohne finanzielle, geistige und in diesem Fall buchstäblich körperliche Selbstbeteiligung der Versicherten nicht mehr vorstellbar ist. ({10}) Ich will Ihnen darüber hinaus sagen, warum Sie Ihren Laden einfach nicht im Griff haben: Sie denken zu einseitig, zu engstirnig. Sie müssen in der Gesundheitspolitik in Zusammenhängen denken und vor allen Dingen auch die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Impulse sehen. 1 Prozent mehr Wachstum beim Bruttoinlandsprodukt entspricht bei den Sozialversicherungen einer Entlastung von 4 Milliarden Euro. Das sind etwa 0,5 Prozentpunkte und würde eine Mehreinnahme von rund 1,6 Milliarden Euro für die GKV bringen. 100 000 Arbeitslose weniger würden allein der Arbeitslosenversicherung 800 Millionen Euro Entlastung und der GKV eine zusätzliche Mehreinnahme in dreistelliger Millionenhöhe bringen. Diese Regierung aber bekommt eben auch auf dem Arbeitsmarkt nichts in den Griff. Was haben Sie an dieser Stelle nach Ihren dreieinhalb Jahren Regierungsverantwortung überhaupt vorzuweisen? Ich verstehe, dass bei Ihnen die Nerven blank liegen. ({11}) Was wir uns in den letzten Tagen von Frau Schmidt haben anhören müssen, ist eine wirkliche Frechheit. Die abfälligen Äußerungen gegenüber Horst Seehofer sind ein Sammelsurium von falschen Aussagen und Halbwahrheiten. Die Ausführungen von Ulla von Münchhausen stellen in ihrer Hilflosigkeit ganz offensichtlich die letzten Reserven der rot-grünen gesundheitspolitischen Argumentation dar. Angesichts der Heftigkeit wollen Sie doch nur vom eigenen Versagen ablenken. ({12}) Wir brauchen - das haben wir in unserem Antrag deutlich gemacht - ein Umsteuern im Gesundheitswesen. Wir brauchen ein patientenorientiertes, freiheitliches und zukunftssicheres Gesundheitswesen mit den Schwerpunkten Prävention, Transparenz und mehr Selbstbestimmung für die Beteiligten. Ich sage Ihnen ganz klar: Mit uns wird es das, was Sie wollen, nicht geben. ({13}) Wir wollen mehr menschliche Zuwendung statt Bürokratismus. Wir halten an der freien Arztwahl anstelle einer Staatsmedizin fest. Wir wollen auch in Zukunft die Therapiefreiheit ({14}) anstelle einer Zunahme der Listenmedizin gewährleisten und wir wollen mehr Wettbewerb und bessere Leistungen statt Einheitsversorgung. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Monika Knoche. ({0})

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Herren und Damen! Ich nehme nicht an, dass Sie mich mit einbezogen haben, Frau Widmann-Mauz, als Sie meinten, die Nerven lägen blank. Mir geht es eigentlich gut. ({0}) Ich bin ruhig und auch zuversichtlich und ich bin mir sicher, dass wir das freiheitlichste Gesundheitssystem haben, das es hier gibt. ({1}) Wie oft habe ich schon ausgeführt - ich werde auch nicht müde, es zu wiederholen -, dass die größte Stabilität und Sicherheit in der Gesellschaft und der größte gesellschaftliche Zusammenhalt dadurch erreicht werden, dass alle Menschen die Gewissheit haben, im Falle einer Krankheit unabhängig von ihrem sozialen Status die bestmögliche Versorgung zu bekommen. ({2}) Das ist der Ausgangspunkt für individuelle Freiheit, weil es im Zustand der Krankheit zwar Freiheit in Form von Selbstbestimmung gibt, aber ein kranker Mensch bedarf der Fürsorge. Deshalb muss sichergestellt werden, dass der Staat, die Gesundheitspolitik und die Akteure des Gesundheitswesens all ihr Können und ihre Kompetenz darauf ausrichten, den Menschen eine optimale Versorgung nach innovativen Verfahren zu bieten, ohne sie in die Zwangslage zu bringen, über etwas entscheiden zu müssen, das nicht im Bereich ihrer Autonomie liegen kann, nämlich darüber, welche Indikation welche Leistungen erfordert. Dabei handelt es sich ausschließlich um eine ärztliche Aufgabe, die möglich bleiben muss. ({3}) Deshalb ist das Sachleistungsprinzip genau das richtige und geradezu idealtypische Prinzip. Ich bin es ziemlich leid, dass hier wider besseres Wissen immer wieder gebetsmühlenartig der Mythos von der Kostenexplosion angeführt wird. Frau Widmann-Mauz hat das wieder getan. ({4}) Es wäre vielleicht hilfreich, wenn Sie sich mit dem ehemaligen Gesundheitsminister Herrn Seehofer darin abstimmen würden. Er hat diese Aussage schon zum Ende seiner Amtszeit revidiert und erst kürzlich festgestellt, dass die ökonomisch verengte Sichtweise auf das Gesundheitswesen falsch ist. ({5}) - Doch, sie hat von einer Kostenexplosion gesprochen. Ich wäre schon sehr zufrieden, wenn alle, die sich auskennen - das sind sehr viele in diesem Hause -, einräumen würden, dass die Mär von der Kostenexplosion widerlegt ist. Die Leistungsfähigkeit und der Erfolg von Gesundheitspolitik lassen sich nun einmal nicht an der Höhe der aktuellen Beitragssätze messen. Das ist der inadäquateste Parameter, um die Leistungsfähigkeit und Qualität der Gesundheitsversorgung zu beurteilen. Wenn ich rekapituliere, was alles seit zwölf Jahren bzw. seit der Wiedervereinigung zu leisten gewesen ist und in welchem Umfang es möglich war, in den neuen Bundesländern in außerordentlich kurzer Zeit einen enormen Anstieg der Versorgungsqualität sicherzustellen, und dass, obwohl das Problem der hohen Arbeitslosigkeit nicht bewältigt werden konnte, die Beitragssteigerungen gemessen an der Bruttoinlandsquote nicht zu einer Kosten- und Beitragssatzexplosion geführt haben, dann muss ich feststellen, dass das bestehende System außerordentlich flexibel und leistungsfähig ist. Diese Erkenntnisse - ich will keine Illusionen wecken; ich selbst hatte auch keine, zumindest die Fachwelt ist da einmütig - werden mittlerweile auch quer durch die Reihen von Sachverständigen bestätigt. Für mich ist deshalb erstaunlich, dass die CDU nicht an den Kern ihrer wahlpolitischen Aussagen herangeht und der Bevölkerung offen sagt, was sie eigentlich will. ({6}) Sie sagt nämlich nicht, warum sie nicht mehr von Wahlund Regelleistungen spricht. Das wäre zu offenkundig. Sie hat es einmal getan und auch das hat sie die Regierungsverantwortung gekostet. Das Thema wird nicht mehr angerührt. Hier werden Begriffe wie „Autonomie“, „Selbstbestimmung“ und „Freiheit“ herangezogen, ({7}) obwohl es tatsächlich darum geht, aus der paritätischen Finanzierung auszusteigen. ({8}) Was soll es denn anderes bedeuten, wenn Sie sagen, dass es individuell zugeschnittene Eigenbeteiligungen usw. geben soll? Was soll es bedeuten? ({9}) Hat ein Mensch, der erkrankt ist, die Wahlfreiheit, Leistungen nicht in Anspruch zu nehmen? Er muss sich doch darauf verlassen können, dass er die Leistungen bekommt, die er zur Überwindung seiner Krankheit braucht. Genau die Frage, wie Sie mit den euphemistischen Begriffen von Eigenverantwortung und Freiheit den Ausstieg aus dem Sachleistungsprinzip begründen wollen, können Sie nicht beantworten. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland niemanden, der argumentieren kann, wie man verantwortbar aus dem Sachleistungsprinzip aussteigen kann, ohne diskriminierend zu sein. Es geht nicht. ({10}) Wenn Sie den Ausstieg aus der Parität auf andere Weise vollziehen wollen, dann begründen Sie das, sozialstaatspolitisch oder auch ökonomisch. ({11}) Sagen Sie, aus welchen Gründen Sie es für zukunftsfähig halten, dass sich angesichts der gesunkenen Beschäftigungsquote die Arbeitgeber immer weniger an der Finanzierung des Sozialstaats respektive des solidarisch aufgebauten Gesundheitssystems beteiligen. ({12}) - Das genau ist die Konsequenz Ihres Papiers, das ich gelesen habe und das Herr Seehofer vorgestellt hat. ({13}) Es wird einfach nicht Tacheles geredet. Sie dürfen nicht glauben, dass die Bevölkerung so uninformiert ist, dass Sie Ihnen da nicht auf die Schliche kommt. ({14}) Jede und jeder versteht, was gemeint ist, wenn im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung von Eigenverantwortung und Wahlfreiheit die Rede ist: Es geht immer um monetäre Aspekte. ({15}) Sie wollen damit aus dem festen Konstitut, das wir haben und durch das sich die Sozialstaatlichkeit überhaupt erst so erfolgreich hat entwickeln lassen, nämlich aus der paritätischen Finanzierung, ({16}) auf Umwegen und ohne den Mut zu haben, Tacheles zu reden, aussteigen. ({17}) - Sie wissen ganz genau, dass ich dieser Rentenreform aus diesen Gründen nicht zugestimmt habe. ({18}) - Es gibt durchaus die Möglichkeit, als einzelne Abgeordnete zu sagen, warum man einen bestimmten Weg für falsch hält. ({19}) Jetzt bin ich bei einem anderen Punkt. Sie sprechen in anderen politischen Aussagen immer wieder von dreimal 40 Prozent und reklamieren zugleich - nicht zu Unrecht -, dass sich über die Absenkung bei der Arbeitslosenhilfe und über immer mehr Verschiebebahnhöfe der Beitragsdruck bei den gesetzlichen Krankenkassen erhöht hat. Dabei muss man sehen, dass der Staat zur Reduzierung der Staatsverschuldungsquote, nicht zuletzt wegen der Euro-Kriterien, eine bestimmte Steuer- und Einnahmepolitik betreiben muss, die es gar nicht zulässt, die Mindereinnahmen bei den gesetzlichen Kassen auszugleichen. ({20}) Angesichts dessen können Sie nicht mehr sagen, dass die Höhe des Beitragssatzes ein Ausweis für den Erfolg oder Misserfolg von Gesundheitspolitik ist. Sie müssen selber sagen, wie Sie mit diesem Problem und Phänomen umgehen wollen. ({21}) - Das sage ich Ihnen: Ich bin dafür, die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung für alle Erwerbstätigen zu etablieren. ({22}) Dafür bin ich in der Tat, weil die Zuwächse im interessanten und wichtigen tertiären Bereich, in dem es Arbeitsplatzzugewinne gibt, bisher nicht der Solidarpflicht unterliegen. Wenn man das Solidarsystem angepasst weiterentwickeln will, dann muss man auch die Beschäftigungsentwicklung auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen und die Arbeitsplätze, die neu entstehen, in das System der GKV einbinden. Deshalb bin ich dafür, die Pflichtversicherungsgrenze anzuheben, weil es gerecht ist. Das geht konform mit den Entwicklungen am Arbeitsmarkt und ist nicht so kontraproduktiv, wie wenn eine immer kleinere Zahl von Beschäftigten die Solidarlast finanzieren und tragen muss. Das geht in der Tat über den reinen Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus. ({23}) Das große Problem dieser Debatten - das geht zulasten der Verständlichkeit - ist doch, ({24}) dass überhaupt nicht mehr über die Zusammenhänge zwischen Sozialpolitik und der Wirtschaftspolitik und der allgemeinen Wirtschaftslage gesprochen wird. Wenn ich von Zukunftsfähigkeit rede und von immer neuen Vorschlägen zu Kostenerstattung und anderem höre, ({25}) dann weiß ich sehr wohl, wie Sie die Frage der Finanzierung, die durch die geringe Lohnquote aufgeworfen worden ist, in Zukunft beantworten wollen: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die Versicherten, sollen Zug um Zug die Zeche bezahlen. ({26}) Das will ich nicht. Aber darauf geben Sie keine wirklichen Antworten. Sie versuchen zu verschleiern. Ich bin mir sicher: Man kommt Ihnen auf die Schliche. ({27})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Auch dies war eine letzte Rede. Auch Ihnen, Frau Kollegin Knoche, spreche ich unseren Dank und alle guten Wünsche für die Zukunft aus. ({0}) Nun spricht der Kollege Dr. Dieter Thomae für die Fraktion der FDP.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aufgrund der Gesetzgebung der SPD und der planwirtschaftlichen Instrumente wird heute ein großer Anteil der Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung in die Überwachung des Systems gesteckt. ({0}) Es werden immer mehr Mitarbeiter eingestellt, um das Budget zu kontrollieren. Der medizinische Dienst wird ganz eindeutig ausgeweitet. ({1}) Die Zahl der Mitarbeiter bei den Krankenkassen wird aufgrund der Gesetzgebung erhöht. Sie werden permanent zusätzlich mit gesetzlichen Aufgaben belastet, die der Staat einführt, um das Budget halbwegs im Griff zu halten. Aber es bricht auseinander. Sie haben selber zugegeben, dass das Arzneimittelbudget nicht zu halten war. Es war völlig idiotisch, ein solches System zu etablieren. ({2}) Dann stellen Sie fest, dass das Arzneimittelbudget zu großen Problemen führt. Die Honorarsituation in der Bundesrepublik Deutschland, gerade in den neuen Bundesländern, ist dramatisch. ({3}) Sie werden mit diesem Honorarsystem keine Stabilisierung der Situation der freiberuflichen Ärzte erreichen, weder in den neuen noch in den alten Bundesländern. ({4}) Das ist der Kernpunkt der Budgetierung. ({5}) Bei der Budgetierung im Krankenhausbereich werden Sie ebenfalls Probleme bekommen, wenn Sie nicht endlich verstehen, dass es mit der Planwirtschaft vorbei ist. In vielen anderen Bereichen hat man sich von der Planwirtschaft verabschiedet. Wir hatten in der letzten Wahlperiode das Glück, dass wir die Bereiche Telekommunikation und Energieversorgung öffnen und aus der Planwirtschaft herausführen konnten. Dies wird ebenfalls in vielen Bereichen des Gesundheitsbereichs erfolgen. Sie haben es mit den DRGs gewagt, aber Sie müssen es richtig wagen und die Budgetierung abschaffen. Andernfalls werden Sie keine Wettbewerbsstrukturen schaffen. Immer wieder müssen Sie doch feststellen, dass Sie mit Ihrer Politik das System nicht im Griff halten. Sogar Beitragssatzsteigerungen helfen Ihnen kaum, weil Sie nicht an die Strukturen herangehen. Dabei gibt es gar nicht so viele Lösungen. Es gibt nur die Fragen: Wie sieht der Leistungsumfang aus? ({6}) Wie wollen Sie an die Vertragsgestaltung herangehen? Wie wollen Sie die Freiberuflichkeit sichern? Auf diese Fragen geben Sie keine Antwort. Die Politiker von Rot-Grün haben sehr unterschiedliche Aussagen gemacht. Wie ich gelesen habe, hat die Ministerin gesagt: Wir wollen das Leistungspaket konzentrieren. Ich möchte wissen, was das heißt. Sagen Sie es doch einmal! Wenn die Gesundheitsministerin sagt: „Ich will das Leistungspaket konzentrieren“, dann möchte ich wissen, was das heißt. Man muss wissen: Wir sagen nichts anderes. Sie sollten aber einmal klarstellen, was mit dieser Aussage der Ministerin gemeint ist. Sagen Sie uns doch einmal genau, wie Sie Ihre Vorstellungen von Vertragsgestaltungsmöglichkeiten in die Praxis umsetzen wollen! Auch auf die damit verbundenen Fragen gibt es keine klaren Antworten. Es gibt lediglich sehr unterschiedliche Aussagen. Wie stehen Sie zur Freiberuflichkeit? Ich war sehr erstaunt, als die Staatssekretärin gesagt hat, sie sei eine große Anhängerin der Polikliniken und sie könne sich vorstellen, dass die ganze Problematik in den neuen Bundesländern durch die Schaffung neuer und den Ausbau der bestehenden, traditionellen Polikliniken gelöst wird. ({7}) - Wenn Sie dafür sind, dann ist das korrekt. Einverstanden, Sie haben mir eine Antwort gegeben. Wir sehen das anders. Wir wollen die Freiberuflichkeit stärken. ({8}) Wir wollen dieses System mit freiberuflichen Ärzten stabilisieren. Wir glauben, dass das der richtige Weg ist. ({9}) Mittlerweile haben Sie das Thema Pflege entdeckt. Uns liegen mehrere Gesetzentwürfe vor. Ich glaube, alle wissen: Wie in der Rentenversicherung wird es in der Krankenversicherung nach einer Steuerreform neben einer solidarisch finanzierten Säule sicherlich eine kapitalgedeckte Säule geben müssen. Wir sind nämlich fest davon überzeugt, dass die Folgen von Alterspyramide und technischem Fortschritt sonst nicht aufzufangen sind. Was die Rente angeht, so haben Sie das erkannt. Da haben Sie Mut bewiesen. Sie werden diese Entwicklung auch im Hinblick auf die anderen Bereiche akzeptieren müssen. ({10}) Wenn es zu dieser Akzeptanz nicht kommt, dann wird es so sein, dass moderne technische Entwicklungen vom System nicht mehr angeboten werden. Schon heute ist es so, dass viele moderne Entwicklungen in unser gesetzliches Krankenversicherungssystem überhaupt nicht oder erheblich verspätet überführt werden. Sie müssen den Patienten und den Bürgern im Lande einmal erklären, warum moderne Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nicht angewandt werden. - Weil die Budgets dafür nicht ausreichen. ({11}) - „Nur für die Privatpatienten“ ist sehr wenig. - Sie sollten den Bürgern erklären, warum moderne Methoden zur Krebsbehandlung - das können Arzneimittel, bestimmte Untersuchungsmethoden oder moderne RehabilitationsDr. Dieter Thomae methoden sein - in diesem System nicht mehr finanziert werden. ({12}) Aufgrund der Budgetierung fällt der sozial Schwache heute durch das Netz. ({13}) Da gibt es überhaupt kein Entkommen: Der chronisch Kranke ist in der Bundesrepublik Deutschland am schlechtesten versorgt. An diesem Punkt sind wir fairer und ehrlicher. Wir sind für Selbstbehalte, also für Selbstbeteiligungen. Auf der anderen Seite sind wir auch für Härtefallregelungen. Die Budgetierung muss abgeschafft werden. Nach unseren Vorstellungen ist der sozial Schwache daher abgesichert und bekommt immer eine vernünftige medizinische Versorgung. ({14}) - Wir haben heute aufgrund Ihrer Politik eine Zwei- oder Dreiklassenmedizin. ({15}) Aufgrund Ihrer Politik werden heute viele Bürger von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Fragen Sie einmal die Selbsthilfegruppen! Fragen Sie einmal die Parkinsonkranken! Fragen Sie einmal die Demenzkranken! Sie können die Folgen Ihrer Politik nicht mehr vertuschen. Die Bürger haben gemerkt, was los ist. Sie lehnen Ihre Gesundheitspolitik zum Glück in einem hohen Maße ab; denn sie wissen, dass Sie sie in den letzten vier Jahren betrogen haben. ({16})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht nun der Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine lieben Damen und Herren! Drei der fünf Anträge, die jetzt zur Debatte stehen, beschäftigen sich mit Fragen der Pflege. Ich erlaube mir, nachdem so lange über die GKV gesprochen wurde, jetzt einmal zur Pflege überzugehen. Es ist nicht zu leugnen: Wir haben einen Pflegenotstand. Wer da wegschaut, macht sich mitschuldig. ({0}) Wir kommen um diese Tatsache nicht herum. Es handelt sich nicht um Einzelfälle, wenn wir erfahren, dass es nicht einmal gewährleistet ist, dass jeder pflegebedürftige Mensch täglich seine Mahlzeiten und ausreichend Flüssigkeit bekommt. ({1}) Es ist heute keine Selbstverständlichkeit, dass pflegebedürftige Menschen ihr Essen in einem Tempo gereicht bekommen, in dem man kauen und schlucken kann. Es ist heute keine Selbstverständlichkeit, dass sie täglich und so oft zur Toilette gebracht werden, wie es nötig ist. Man muss sich einmal klar vor Augen führen, wie Menschen, die von anderen abhängig sind, gepeinigt werden. Es ist nicht selbstverständlich, dass jeder, so oft er es wünscht oder wenn er es wünscht, täglich wenigstens einmal gewaschen, angezogen und gekämmt wird und dass er vielleicht das Gebiss in den Mund bekommt oder Mundpflege betrieben wird. Es ist heute nicht selbstverständlich, auf Wunsch täglich die Möglichkeit zu erhalten, das Bett zu verlassen und an die frische Luft zu kommen. Es ist heute auch nicht selbstverständlich, dass jeder pflegebedürftige Mensch die Möglichkeit hat, seinen Zimmerpartner oder seine Zimmerpartnerin zu wählen oder auch einmal abzulehnen. Ich könnte noch viele andere Beispiele nennen. Auch in der Todesstunde ist nicht gewährleistet, dass jemand da ist und die Hand hält. Insofern haben alle, die in der Pflege arbeiten, meine volle Hochachtung. ({2}) Aber sie sind strukturell nicht in der Lage, ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie können sich abstrampeln, wie sie wollen, und Überstunden machen, wie sie wollen, sie werden die Aufgabe nicht erfüllen können, wenn nicht mehr gut ausgebildetes und gut motiviertes, das heißt auch: gut bezahltes Personal eingesetzt wird, und zwar nicht dort, wo Sie dies in den letzten vier Jahren bestens organisiert haben, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den Grünen, nämlich in der Qualitätssicherung, also im bürokratischen Bereich, sondern am Bett. ({3}) Da gehören die in der Pflege arbeitenden Menschen hin und dort werden sie gebraucht. - Ich habe noch gar nicht von soziokulturellen Mindeststandards gesprochen, die meines Erachtens selbstverständlich zu einer menschenwürdigen Pflege gehören. ({4}) Wir haben einen Antrag mit dem Titel „Pflege reformieren“ eingebracht. Ich wundere mich, dass Sie von der CDU/CSU und der SPD sagen: Es sind zwar viele vernünftige Dinge in ihm enthalten, aber wir müssen ihn leider ablehnen, weil das Finanzierungskonzept fehlt. ({5}) - Liebe Frau Schmidt-Zadel, lesen Sie doch einmal, was wir gefordert haben! Wir fordern nichts anderes, als dass die Regierung einmal Eckpunkte vorlegt, wie eine Pflege vernünftig organisiert werden kann. Zu diesen Eckpunkten gehört natürlich auch ein Finanzierungskonzept. Wir haben nur einige paar Punkte aufgeführt, die in diesen Eckpunkten enthalten sein müssten. ({6}) - Liebe Frau Schmidt-Zadel, Sie hätten doch wenigstens der Aufforderung an die Regierung zustimmen können, dass sie einmal Eckpunkte vorlegt. ({7}) Wir sagen: Das Wichtigste ist, dass wir von diesem somatischen Pflegebegriff „Satt, sauber, trocken“ wegkommen. Aber nicht einmal „Satt, sauber, trocken“ ist gewährleistet. ({8}) In diesem Zusammenhang möchte ich drei Kriterien nennen: Erstens: Die Würde des Menschen ist unantastbar, auch im Pflegebedarfsfall. Zweitens: Selbstbestimmung darüber, wie ich meinen Tagesablauf gestalten möchte, im Bett oder außerhalb des Bettes. Drittens: gesellschaftliche Teilhabe auch im Pflegefall. Die Teilhabe wird andere Formen annehmen, als man sie 30 oder vielleicht auch 80 Jahre lang in seinem Leben gewohnt war. Aber auch dann ist man Teil der Gesellschaft und hat selbstverständlich Anspruch auf diese Teilhabe. Wenn wir einen solchen Pflegebegriff etablieren - damit wende ich mich an Frau Schmidt-Zadel, aber auch an die Ministerin und die Staatssekretärin -, dann wird das Konsequenzen haben und deutlich machen, dass man alles in diese Bereiche hinein umsteuert. Das muss genauso wie jetzt bei der Bildung diskutiert werden. Ich würde mir fast wünschen, dass es einmal auch für den Pflegebereich eine PISA-Studie gibt. Vermutlich würde die Bundesrepublik Deutschland nicht besonders gut abschneiden. Anschließend sollte genauso heftig darüber diskutiert werden, wie man es erreichen kann, dass Pflegebedürftige menschenwürdig leben. Herr Präsident, erlauben Sie mir noch wenige Bemerkungen zu dem vierten Antrag, der heute noch gar keine Rolle gespielt hat, nämlich zu dem Antrag zur medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Endlich liegt hier im Hause ein substanzieller Antrag zur besseren medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen vor. Er hat die volle Zustimmung der PDSFraktion. Teile dieses Antrags - darauf weise ich gerne hin - sind auf Initiative und unter maßgeblicher Beteiligung meiner Fraktionskollegin Rosel Neuhäuser entstanden, die zurzeit auch Vorsitzende der Kinderkommission ist. Die in der Kinderkommission geleistete Arbeit verdient nicht zuletzt deshalb allerhöchste Anerkennung, weil dort nicht Fraktions- und Parteiinteressen, sondern die Interessen der Kinder und Jugendlichen im Vordergrund stehen. ({9}) Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, konnten Sie Ihre lächerliche Haltung wieder einmal durchsetzen, dass Sie einen so wichtigen Antrag nur dann unterstützen, wenn die PDS nicht zu den Antragstellern zählt. Ich kann nur sagen: plump und dumm. Das haben Sie einfach nicht nötig, Herr Zöller. Die Wählerinnen und Wähler werden sich davon ein Bild machen und bemerken, wie Stoibers Mannschaft mit unfairen Mitteln kämpft. Solche Kulturlosigkeit hat keinen Zweck, denn sie ist auf die Vergangenheit und nicht auf die Zukunft gerichtet. Die Zukunft sind unsere Kinder. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe, dass wir weiter gut zusammenarbeiten werden. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nunmehr der Kollegin Marga Elser das Wort. Sie spricht für die Fraktion der SPD.

Marga Elser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003113, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Pflegeversicherung gibt es jetzt seit sieben Jahren. Sie ist ein wichtiger Bestandteil unserer Sozialversicherung. Die Menschen vertrauen darauf und wir möchten, dass das so bleibt. Vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung müssen wir die Pflegeversicherung für die Zukunft fit machen. Daher darf kein Stillstand entstehen. Wir entwickeln die Pflegeversicherung weiter. ({0}) Dazu gehört, dass Schwachstellen ausgemerzt werden müssen. Vor allem aber muss die Pflegeversicherung noch besser auf die Bedürfnisse und Wünsche der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen ausgerichtet werden. In Zukunft wird es sicherlich immer mehr ältere Menschen mit Demenzerkrankungen geben. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, die Pflege und ihre Rahmenbedingungen zukunftsorientiert zu gestalten. Wir haben in den letzten vier Jahren wichtige Gesetze verabschiedet und mit ihnen der Pflegeversicherung neue Anstöße gegeben. Nun richten wir unser Augenmerk auf die zügige praktische Umsetzung der neu geschaffenen Instrumentarien. Unser heutiger Antrag „Fortentwicklung der sozialen Pflegeversicherung“ fordert in Zukunft ein noch effizienteres und zielorientiertes Zusammenwirken aller Beteiligten - also von Bund, Länder, Kommunen, Kosten- und Einrichtungsträgern - bei der Qualität der Pflege. In diesem Zusammenhang setzen wir uns für die Entwicklung von Qualitätsstandards in der Pflege ein, was auch von den Fachverbänden und der Altersforschung seit längerem immer wieder gefordert wird. Des Weiteren zielt der Antrag auf weitere Verbesserungen bei der Pflege von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz ab. Das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz hat durch die Erprobung neuer modellhafter Vorhaben hier ganz eindeutig Pilotcharakter. Ich nenne beispielhaft die Vernetzung von Versorgungsstrukturen oder die Erprobung neuer Wohnkonzepte im häuslichen, teilstationären sowie im stationären Bereich. Dabei darf es keine Entscheidung gegen den Wunsch der Pflegebedürftigen geben. Die Information und die Einbeziehung in notwendige medizinische und pflegerische Entscheidungen werden wir weiter stärken. ({1}) Wir wollen auch eine bessere Überleitung vom Krankenhaus in die häusliche Pflege erreichen. Dazu müssen wir natürlich neue, sinnvollere Strukturen schaffen. Viele Pflegebedürftige würden nach ihrem Krankenhausaufenthalt sehr gern häuslich anstatt dauerhaft stationär weiter gepflegt werden, wie das zurzeit noch viel zu oft gehandhabt wird. Um diesem Wunsch vieler zu entsprechen, muss die Überleitung von der Klinik in die häusliche Pflege besser betreut und organisiert werden. Wir stellen uns als neuen Einrichtungstyp eine Art Überleitungspflegeeinrichtung vor. Hier gilt es, neue Wege zu beschreiten. Zudem ist das so genannte Casemanagement zu forcieren, eine integrierte, auf die Personen zugeschnittene Versorgung. Gerade Pflegebedürftige in häuslicher Umgebung könnten so von Leistungen sowohl aus der Krankenversicherung als auch aus der Pflegeversicherung profitieren. Personenbezogene Budgets für eine effektive und wirtschaftliche Versorgung sind vor allem vor diesem Hintergrund ins Auge zu fassen. Diese integrierten Versorgungssysteme dienen in erster Linie dem Wohl der Pflegebedürftigen, um das es uns allen geht. Ein wichtiger Punkt unseres Antrages ist, dass in Zukunft die Rehabilitation im Kontext der medizinischen und pflegerischen Versorgung sehr viel stärker beachtet werden muss. Es geht um den Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“. Das hat die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ uns allen als Empfehlung ins Stammbuch geschrieben. Wir werden zur Erfüllung der Aufgabe beitragen, die Pflege zu sichern und gezielt weiterzuentwickeln. ({2}) Darüber hinaus setzen wir uns für eine noch stärkere Gewichtung geriatrischer Rehabilitation ein. Dies kann zu einer zusätzlichen bedeutsamen Erhöhung der Pflegequalität führen. Wir werden in diesem Zusammenhang auch die von der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ im Hinblick auf die geriatrische medizinische Rehabilitation empfohlene Einführung des SGB-V-finanzierten Budgets in der Pflegeversicherung näher prüfen. ({3}) Schließlich werden wir den Familienlastenausgleich in der Pflegeversicherung gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, wonach Kinder erziehende Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung beitragsmäßig zu entlasten sind. ({4}) Hier sollte eine Freibetragsregelung angestrebt werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, da wir heute auch über Ihren Gesetzentwurf reden, kann ich Sie auf zentrale Punkte unserer Politik verweisen. Sie haben Ihren Antrag von dem der Bayern abgeschrieben, der seinerzeit im Bundesrat keine Mehrheit fand. ({5}) Darin sind auch sachliche Fehler enthalten. Sie wollen nicht nur entgegen dem Grundsatz des Vorrangs häuslicher vor stationärer Pflege zusätzliche Mittel der Pflegeversicherung einseitig für die stationäre Pflege aufwenden. Ihre vorgesehene Finanzierung ist einfach unsolide; ({6}) denn die von Ihnen in Aussicht gestellten zusätzlichen Leistungen können auf Dauer nicht aus den laufenden Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung finanziert werden, sodass nach derzeitiger Modellrechnung ab 2006 eine Beitragssatzanhebung erforderlich wäre. - Dies ist nur einer der völlig unfinanzierbaren Vorschläge aus Ihrem Entwurf. Meine Damen und Herren, wir von der SPD wollen schrittweise wirksame und nachhaltige Verbesserungen für pflegebedürftige Menschen erreichen. Wir dürfen unsere sozialen Sicherungssysteme jedoch nicht völlig überfordern. Das kennen wir ja von der Opposition auf der rechten Seite des Hauses: ungedeckte Schecks ausstellen, zumal in Wahlkampfzeiten, ohne den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen, wie das bezahlt werden soll. Eine solche Politik machen wir nicht mit. ({7}) Zur Personalfrage bei der Pflege: Das Qualitätssicherungsgesetz beinhaltet bereits wirkungsvolle Instrumente für die Festlegung einer ausreichenden Personalausstattung. Ich gehe noch kurz auf Ihre Forderung ein, eine Schiedsstelle in der häuslichen Krankenpflege einzurichten. Diese Forderung ist so nicht realisierbar. Die Schiedsamtslösung, wie Sie sie fordern, würde uns verfassungsrechtliche Probleme bereiten; ({8}) denn nicht alle Pflegedienste sind in Verbänden organisiert. Wie wollen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, die nicht repräsentierten Dienste in ein solches Verfahren einbeziehen? ({9}) Nach unserer Meinung und auch nach Ansicht des Bundesgesundheitsministeriums würden das Bundesinnenministerium und das Bundesjustizministerium eine derartige Lösung nicht akzeptieren. ({10}) Weil wir die immer wieder auftretenden Streitigkeiten im Bereich der häuslichen Krankenpflege zwischen Kassen und Diensten gar nicht abstreiten - da sind wir Ihrer Meinung -, werden wir die Möglichkeiten eines Schiedsstellenverfahrens, das im Gegensatz zu Ihrem Vorschlag auch den rechtlichen Ansprüchen genügen würde, prüfen. Da wir heute drei Anträge zu diesem Bereich zu diskutieren haben, möchte ich noch etwas zum PDS-Antrag sagen. Wir werden auch diesen Antrag ablehnen, obwohl er in einigen Passagen - Herr Seifert hat es schon dargestellt - einen guten Diskussionsbeitrag leistet. Aber in dieMarga Elser sem Antrag wird nichts darüber gesagt, wie das Ganze finanziert werden soll. Ich denke, ein Vorschlag, von dem wir nicht wissen, wie es finanziert werden soll, genügt nicht. Deshalb setzen wir uns für die kontinuierliche Fortentwicklung der Pflege ein, ({11}) die qualitätsorientiert, wirtschaftlich und finanziell solide kalkuliert ist. Danke. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Kollegen Aribert Wolf. Er spricht für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie gehen wir in Deutschland, in einem der reichsten Länder der Welt, mit älteren pflegebedürftigen Menschen um? Der Kollege Seifert hat diese Frage bereits gestellt. Sie wird auch in der Öffentlichkeit zu Recht immer wieder diskutiert. Wir müssen leider feststellen, dass es hier viel Licht, aber bedauerlicherweise auch viel Schatten gibt. Wer Pflegeheime von innen kennt, dem werden die Bilder der Frauen und Männer, die dort ihren Lebensabend beschließen, und die Umstände, unter denen das manchmal geschieht, nicht so schnell aus dem Kopf gehen, wenn er ein bisschen Herz hat. Insbesondere wir Jüngeren dürfen nicht vergessen, dass die Generation, die heute in Alten- und Pflegeheimen versorgt wird, eine Generation ist, die Schweres zu ertragen hatte und die auf der anderen Seite Großartiges für unser Land geleistet hat; ({0}) denn diese Generation hat das zerstörte Deutschland aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs geholt und wieder zu einem prosperierenden Land in Europa aufgebaut. Darum ist es mir persönlich, aber, wie ich weiß, auch vielen Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion wichtig, dass wir unser Augenmerk nicht nur auf Wirtschaft, Arbeitsplätze, Globalisierung, Außenpolitik oder Umweltschutz richten, sondern immer auch ein offenes Ohr und ein offenes Herz für die Sorgen der älteren Generation haben. ({1}) - Das weiß ich, das nehme ich auch gerne zur Kenntnis, aber ich spreche jetzt von den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion. Deswegen nehmen wir von der Union Berichte und Meldungen über Missstände in Alten- und Pflegeheimen sehr ernst. Wir gehen den Ursachen nach und meinen, dass dort, wo es nötig ist, politische Veränderungen in Angriff genommen werden müssen. Deswegen kann es nicht hingenommen werden, dass mitten in Deutschland alte Menschen austrocknen, weil sie zu wenig zu trinken bekommen, dass alte Menschen wund liegen, an Dekubitus erkranken, weil sie in Pflegeheimen nicht ordnungsgemäß umgebettet werden oder aus ihren Pflegebetten nicht wenigstens einmal am Tag herausgeholt werden, und dass Zeitungen und Fernsehsendungen voll sind von Berichten, dass Altenpflegerinnen und Altenpfleger ihre Arbeit unter schwierigsten Bedingungen leisten müssen. Was mich ungeheuer ärgert und aufregt, ist, dass jetzt eine Bundesregierung an der Macht ist, die nichts, aber auch gar nichts macht, um die Situation der Pflegebedürftigen und der Arbeitsbedingungen der Altenpflegerinnen und Altenpfleger zu verbessern. ({2}) Ich ärgere mich gewaltig über diese unglaubliche Untätigkeit von SPD und Grünen. Bei Veranstaltungen, bei Podiumsdiskussionen hört sich das immer ganz anders an. Da hat man viel Verständnis für die Sorgen der Pflegebedürftigen und der Pflegekräfte und macht immer gleich Versprechungen. Im Parlament kommt es jedoch darauf an, welche Taten auf den Weg gebracht werden. Wo sind die Taten dieser rot-grünen Bundesregierung, um den Pflegebedürftigen zu helfen und ihre Situation zu verbessern? Leider ist in diesem Bereich nichts oder nahezu nichts passiert. Deswegen legt die CDU/CSU heute einen Gesetzentwurf vor, der insbesondere dort ansetzt, wo viele Pflegeverbände und Angehörige immer wieder den Finger in die Wunde legen, damit die personelle Ausstattung in Altenpflegeheimen endlich schrittweise verbessert wird. ({3}) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Worte sind schnell gesprochen, aber stimmen Sie dann, wenn es ernst wird, wenn wir etwas für die Menschen tun können, im Parlament auch entsprechend ab! Das wahre Bekenntnis, das Ihnen abverlangt wird, ist, ob Sie etwas tun oder nur reden. ({4}) Ich persönlich bin stolz darauf - ich war damals nicht im Bundestag -, dass die CDU/CSU die Pflegeversicherung auf den Weg gebracht hat. ({5}) Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung und der Name Norbert Blüm sind untrennbar mit der Pflegeversicherung verbunden. ({6}) Nach 30 Jahren mühsamer und quälender Diskussion haben wir den Knoten durchschlagen und eine Pflegeversicherung realisiert. Bei Rot-Grün ist es folgendermaßen: Bei den Worten sind Sie riesengroß, aber bei den Taten, wenn es darauf ankommt, sind sie so klein mit Hut. Was haben Sie zum Beispiel zur Verbesserung der Situation von Demenzkranken, von Altersverwirrten geMarga Elser tan? Schauen Sie sich die Situation doch einmal an, wenn der Vater oder die Mutter, der Opa oder die Oma eigentlich noch guat bei’nand ist, wie man bei uns in Bayern sagt, aber ab und an Aussetzer hat, sodass man beaufsichtigen muss, schauen muss, dass die Herdplatte nicht an bleibt und das Haus abbrennt, weil vergessen wurde, sie auszuschalten. Schauen Sie sich an, welche Belastungen das oft für Familien sind, welche Beaufsichtigungsmaßnahmen durchgeführt werden müssen, sodass zum Beispiel nicht in Urlaub gefahren werden kann. Generationenübergreifend wird in Hunderttausenden von Familien in Deutschland eine wirklich tolle soziale Betreuung und Pflege geleistet. Wenn Sie jedoch mit diesen Familien reden und fragen, wie sie seitens der Pflegeversicherung unterstützt werden, dann hören Sie hunderttausendfach die Antwort: Wir bekommen leider gar nichts, weil die Eingangsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. Wir müssen heute konzedieren, dass die Eingangsvoraussetzungen zu eng gefasst sind. ({7}) Deswegen, Frau Schmidt-Zadel, haben wir in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der mehr Menschen die Leistungen der Pflegeversicherung, insbesondere wenn sie altersverwirrt sind, zugänglich machen soll. Aber leider hat die Bundesregierung dies abgelehnt. Ich nenne einen weiteren Punkt, bei dem Sie sich taub und stur stellen, nämlich die Richtlinien zur häuslichen Krankenpflege. Wir haben im Gesundheitsausschuss wahrlich viele Anhörungen zum Thema Pflege gehabt. ({8}) Es wurde immer wieder gesagt, dass wichtige medizinische Leistungen aus den Richtlinien, die der Bundesausschuss erlassen hat, herausgenommen wurden, zum Beispiel die Dekubitus-Prophylaxe und Blutzuckermessungen. Die Verbände fordern immer wieder, diese Richtlinien zu ändern. Eine unionsgeführte Bundesregierung wird dem Bundesausschuss die Richtlinien vorlegen, damit in einzelnen Punkten Änderungen vollzogen werden. Das ist für die Pflegebedürftigen wichtig. ({9}) Ein weiterer Punkt. Auch Sie haben von der Schiedsstelle gesprochen. Wolfgang Zöller hat in seinem Zwischenruf darauf hingewiesen, dass Sie nur faule Ausreden haben. Es gibt doch auch im Krankenhausbereich ungebundene Häuser. Auch dort gibt es Entscheidungen von Schiedsstellen. Warum soll dies im Pflegebereich nicht möglich sein? Um für die Betroffenen Verbesserungen auf den Weg zu bringen, ist es notwendig, dass auch Konfliktregelungsmechanismen in Gang gesetzt werden. Wir haben sie in unserem Gesetzentwurf aufgenommen. Ich bin gespannt, welche Maßnahmen Sie noch umsetzen. In den letzten Wochen und Monaten reden Sie wieder einmal viel. Dabei brauchen Sie nur unserem Gesetz zuzustimmen, damit es für viele Menschen Verbesserungen gibt. Ich erinnere daran, dass die Leistungen der Pflegeversicherung seit 1996 unverändert geblieben sind. Aber wenn Sie sich einmal anschauen, dass die Verbraucherpreise von 1996 bis 2001 um 8 Prozent gestiegen sind, ({10}) dass die Arbeitskosten, Herr Thomae, um 10 Prozent gestiegen sind, dann muss man sagen: Es ist bitter nötig, dass wir gerade bei der stationären Pflege Verbesserungen durchsetzen und mehr Geld und mehr Personal für eine bessere Pflege zur Verfügung stellen. Es ist gefragt worden - dieses Argument kennen wir ja -, wie wir das finanzieren wollen. An dieser Stelle muss ich sagen, dass dies ein besonders schändliches Stück der Politik der Regierung Schröder ist: Sie stellen auf der einen Seite große Konzerne wie Siemens, Allianz, Eon, Daimler-Chrysler und die Deutsche Bank völlig frei von Steuern, aber auf der anderen Seite nehmen Sie zum Stopfen von Haushaltslöchern und zur Konsolidierung des Haushalts den Pflegebedürftigen 500 Millionen DM bzw. 250 Millionen Euro aus der Tasche. ({11}) Und Sie wollen noch das Wort von der sozialen Gerechtigkeit in den Mund nehmen? Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass durch die Politik einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung eine soziale Schieflage in Deutschland geschaffen wird! ({12}) Ein letzter Punkt. Die Menschen haben gemerkt, dass Sie ihr Vertrauen verspielt haben. ({13}) - Es gehört nicht zur sozialen Gerechtigkeit, Frau Schmidt-Zadel, Großkonzerne steuerfrei zu stellen, aber den Pflegebedürftigen 500 Millionen DM, die zu unserer Zeit für die Pflege noch zur Verfügung standen, wegzunehmen. ({14}) Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen das. Ich bin davon fest überzeugt, dass sie Ihnen am 22. September das Vertrauen entziehen werden. Sie werden wieder eine unionsgeführte Bundesregierung bekommen, die für Pflegebedürftige nicht nur schöne Worte hat, sondern endlich konkrete Verbesserungen auf den Weg bringt. Ich bedanke mich. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Lieber Aribert Wolf, Sie waren der Dritte im Bunde, der in dieser Debatte gesprochen hat und der nicht mehr dem nächsten Bundestag angehören wird. Auch Ihnen spreche ich unseren Dank aus und wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft. ({0}) Nun spricht für die SPD die Kollegin Dr. Margrit Spielmann.

Dr. Margrit Spielmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem Antrag wollen wir nachdrücklich die Bedeutung, die der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen zukommt, unterstreichen. Es ist uns allen in diesem Hause ein zentrales Anliegen, auf die bestehenden und drohenden Versorgungsdefizite in der Kinder- und Jugendmedizin hinzuweisen und diesen Defiziten mit geeigneten Maßnahmen entgegenzuwirken. Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, bei diesem wichtigen Thema einen interfraktionellen Antrag vorzulegen. Es ist das Ziel unseres Antrages, durch Vorsorge und Früherkennung Fehlentwicklungen aufzudecken und damit den Kindern unnötige Leiden und Krankheiten in ihrem späteren Leben zu ersparen. Es geht uns auch darum, zu verhindern, dass Kinder mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in ihrer Entwicklung behindert werden. Wie wir alle wissen, lassen sich Fehlentwicklungen immer schwieriger korrigieren, je älter die Kinder werden. Aus medizinischer Sicht stehen dabei unter anderem die falsche Ernährung und natürlich auch die mangelnde Bewegung in unserem Fokus. Wenn wir nichts unternehmen, so sagte unsere Ministerin, dann sind diese Kinder die chronisch Kranken von morgen. Recht hat sie. ({0}) Ein besonderes Augenmerk sollten wir unter anderem auf die Diagnostik der Hörleistung legen. Das Hören hat für die kindliche Entwicklung, für die Sprachentwicklung und die Persönlichkeitsentwicklung eine große Bedeutung. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Aufnahme von Hörscreenings in den Katalog der Neugeborenenuntersuchungen. Dafür brauchen wir allerdings sichere Erkenntnisse darüber, dass die angewandte Methode eine zuverlässige Aussage über den Grad der Schwerhörigkeit erlaubt. Das Gesundheitsministerium hat, wie wir alle wissen, eine wissenschaftliche Evaluierung von modernen Hörscreeningmethoden in Auftrag gegeben. Das begrüßen wir sehr. ({1}) Sobald die Ergebnisse vorliegen, muss zügig an deren Umsetzung gearbeitet werden. Eine zentrale Rolle bei der Verbesserung der Kindergesundheit muss wieder der öffentliche Gesundheitsdienst spielen. ({2}) Viele Kinder und Jugendliche sind nur auf diesem Wege zu erreichen. Der öffentliche Gesundheitsdienst hat in der Vergangenheit wichtige Verdienste und Kompetenzen vor allen Dingen in den Bereichen des Impfschutzes und der Kariesprophylaxe erworben. Es gilt, den öffentlichen Gesundheitsdienst zu stärken und dort die wichtigen Aufgaben der Gesundheitserziehung und der Vorsorge, der Prävention, zu verankern. ({3}) Dazu wird es dringend notwendig sein, mit den Kommunen und den Ländern in einen Dialog über die Aufgaben und Pflichten des öffentlichen Gesundheitswesens zu treten. Natürlich kann der öffentliche Gesundheitsdienst nicht allein diese Aufgabe wahrnehmen. In erster Linie sind die Eltern gefragt. Sie tragen die Verantwortung. Gesundheitsbewusstes Verhalten muss, wie wir alle wissen, vorgelebt, eingeübt und verfestigt werden. ({4}) Eine wichtige Bedeutung kommt auch den Kindergärten und den Schulen zu. Die Gesunderhaltung unserer Kinder sollte uns alle angehen. Ich meine, die Gesunderhaltung unserer Kinder stellt ein gesamtgesellschaftliches Anliegen dar. ({5}) Die Schlüsselfigur in der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen sollte der Pädiater spielen. Er ist mit den physiologischen und psychologischen Aspekten der Behandlung dieser Patientengruppe am besten vertraut. Damit eine flächendeckende pädiatrische Versorgung auch in Zukunft gewährleistet werden kann, müssen unbedingt Maßnahmen ergriffen werden, damit das Angebot an Weiterbildungsstellen vergrößert werden kann. Kinderkliniken und Kinderarztpraxen müssen in die Lage versetzt werden, mehr Weiterbildungsstellen für Pädiater anzubieten. Ansonsten ist das Problem nicht zu lösen. Die stationäre Behandlung von Kindern und Jugendlichen sollte prinzipiell in pädiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser erfolgen. Von dieser Stelle aus muss an die Landesregierungen der Appell gerichtet werden, den Beschluss der Gesundheitsminister von 1997 zu realisieren und die Bettenplanung am Bedarf einer kindgerechten Versorgung auszurichten. ({6}) Der Impfmüdigkeit und der Vernachlässigung von Vorsorgeuntersuchungen muss dringend entgegengewirkt werden. Zu diesem Zweck halten wir eine bundesweite Informationskampagne für zwingend notwendig. Den Eltern muss der Sinn und Zweck der Vorsorgeuntersuchungen von der U 1 bis zur U 10 und der Jugenduntersuchung nahe gebracht werden. Die Schulen, die Kindergärten, der öffentliche Gesundheitsdienst, aber auch die Medien sollten uns dabei helfen. Die Arzneimittelsicherheit - auch das ist ein Punkt in unserem Antrag - muss dringend verbessert werden. Zu den zielführenden Maßnahmen gehören unter anderem, in Kompetenzzentren systematisch die klinische Erfahrung mit Erwachsenenmedikamenten zu erfassen, sie auszuwerten und zu veröffentlichen sowie dafür zu werben, dass Eltern ihre Einwilligung zur kliAribert Wolf nischen Prüfung von Medikamenten an kranken Kindern geben. In den vergangenen Jahren ist bei Kindern vermehrt die Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom“, kurz ADHS, gestellt worden. Die Gründe dafür müssen unbedingt erforscht werden. Für die Behandlung des ADHS sollten Behandlungsleitlinien mit modalen Therapiekonzepten entwickelt werden, die verhindern, dass verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche lediglich medikamentös ruhig gestellt werden. Nötig ist vielmehr eine ganzheitliche Therapie, die psychotherapeutische Aspekte einschließt. Sehr geehrter Herr Dr. Seifert, ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich die Bemühungen der Kinderkommission erwähnen und deren Mitgliedern für die im Zusammenhang mit dieser Symptomatik geleistete Arbeit sehr herzlich danken. ({7}) Es ist zu begrüßen, dass das Robert-Koch-Institut eine breit angelegte Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durchführt. Bislang verfügen wir nicht über eine umfassende und über die Altersspanne von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr reichende Erhebung über den Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten unserer Kinder. Die Ergebnisse werden, denke ich, eine wichtige Grundlage für weitere gezielte gesundheitspolitische Maßnahmen in diesem Bereich sein. Ich möchte zum Schluss noch einen wichtigen Punkt hervorheben. Rot-Grün hat in dieser Legislaturperiode die Prävention gestärkt und die Ministerin hat für die kommende Legislaturperiode ein Präventionsgesetz angekündigt, das die verschiedenen gesetzlichen Vorschriften bündeln wird. Prävention muss gerade bei Kindern und Jugendlichen eine gleichberechtigte Säule neben der kurativen Medizin, der Rehabilitation und der Pflege werden. ({8}) Sie ist ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Grundstein und der Schlüssel einer guten medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns doch gemeinsam die Verantwortung für die junge Generation übernehmen. Vielen Dank für die Zusammenarbeit bei diesem Antrag. Wir werden sehen, was wir alle gemeinsam daraus machen. Danke schön. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Debatte spricht Kollege Wolfgang Zöller für die Fraktion der CDU/CSU.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich besonders im Interesse der Kinder und Jugendlichen, dass es uns trotz des Wahlkampfs gelungen ist, einen parteiübergreifenden Antrag mit der Überschrift „Medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen sichern und verbessern“ vorzulegen. Bei dieser Gelegenheit darf ich mich auch bei denen bedanken, die hierzu wesentlich beigetragen haben. Stellvertretend darf ich ausdrücklich folgende Namen nennen: Frau Kors und Frau Dr. Spielmann. Persönlich freue ich mich natürlich darüber, dass die wesentlichen Punkte unseres Antrages „Medizinische Versorgung von Kindern sichern“ vom 25. Januar 2001 in den gemeinsamen Antrag eingeflossen sind. Ich glaube, man kann an dieser Stelle auch feststellen, dass es dem Bemühen und der Beharrlichkeit unserer Fraktion zu verdanken ist, dass das Anliegen der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen einen ganz wesentlichen Schritt nach vorn gebracht wurde. ({0}) Es hat lange - wie ich meine: sehr lange - gedauert und auch eines Umdenkens im Gesundheitsministerium bedurft. Ich darf erinnern: Noch im Juli 2000 lehnte das Bundesministerium für Gesundheit eine Förderung der Weiterbildung zum Kinder- und Jugendarzt ab. Daraufhin gab es eine Resolution der Kinder- und Jugendärzte vom 12. Juli 2000. Ich darf zitieren: Deshalb fordern wir für Kinder und Jugendliche den Erhalt und Bestand einer flächendeckenden ambulanten und stationären kinder- und jugendärztlichen Versorgung sowie Garantie und finanzielle Unterstützung für ausreichende Weiterbildungsmöglichkeiten zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, gleichgestellt dem Facharzt für Allgemeinmedizin in der hausärztlichen Versorgung. Wir können froh sein, dass diese Grundforderungen in dem uns heute vorliegenden Antrag enthalten sind. Die Bundesärztekammer wird aufgefordert, die Weiterbildung zum Kinder- und Jugendarzt zu reformieren. Zur Sicherung der pädiatrischen Versorgung sollen die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die pädiatrische Weiterbildung wie die allgemeinmedizinische Weiterbildung gefördert wird. Dass unser Vorschlag, die Budgetierung aufzuheben, gemeinsam mit Rot-Grün nicht realisierbar war, heißt nicht, dass wir dieses Ziel nicht weiter verfolgen werden, damit die medizinische Versorgung besonders von Kindern und Jugendlichen gewährleistet wird. ({1}) Für uns sehr wichtige Punkte sind ebenfalls aufgenommen worden. Ich darf sie nur stichpunktartig aufführen: Die Besonderheiten der häuslichen Kinderkrankenpflege sind bei der Fassung der Richtlinien zu berücksichtigen - das ist, glaube ich, ein sehr wichtiger Punkt -; der Erhalt des speziellen Berufs der Kinderkrankenschwester und des Kinderkrankenpflegers ist zu sichern; die Arzneimittelsicherheit bei Kindern ist zu verbesDr. Margrit Spielmann sern. Ferner haben wir aufgrund vieler Zuschriften betroffener Eltern das Thema Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom angenommen, damit durch wissenschaftliche Studien zu ADHS und seiner Behandlung die Qualität von Diagnose und Therapie verbessert wird. Der erste Schritt ist erfreulicherweise gemeinsam getan. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Das sind wir unseren Kindern und Jugendlichen schuldig. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- tion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 14/8364 zur Verstärkung der Personalausstat- tung in Pflegeheimen. Der Ausschuss für Gesundheit emp- fiehlt auf Drucksache 14/9561, den Gesetzentwurf abzu- lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da- gegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zwei- ter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach un- serer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Gesundheit auf Drucksache 14/9570 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ge- sundheitswesen patientenorientiert, freiheitlich und zu- kunftssicher gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8595 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS ge- gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Gesundheit auf Drucksache 14/9569 zu dem An- trag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Pflege refor- mieren - Lebensqualität in Gegenwart und Zukunft sichern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6327 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Fortentwicklung der sozialen Pflegeversicherung auf Drucksache 14/9562. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8864 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussem- pfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP mit dem Titel „Medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen sichern und verbessern“. Dazu liegt eine persönliche Erklärung zur Abstimmung der Kollegin Rosel Neuhäuser, die zu Pro- tokoll genommen wird, vor.1) Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/9544? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Thierse, Doris Barnett, Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Dr. Rita Süssmuth, Hans-Dirk Bierling, Thomas Kossendey, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Rita Grießhaber, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller ({0}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Helmut Haussmann, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP Parlamentarische Dimension und die Zukunft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ({1}) - Drucksache 14/9554 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin der Kollegin Monika Griefahn für die Fraktion der SPD das Wort.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Abend, Herr Präsi- dent! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vom 6. bis 10. Juli sind wir erstmalig Gastgeber der Parlamentari- schen Versammlung der OSZE-Konferenz mit 317 Parla- mentariern aus 55 OSZE-Staaten, darunter 13 unserer Kol- leginnen und Kollegen. Der Dialog über die Grundwerte der Demokratie findet traditionell im Juli statt. Für uns ist das am Ende der Sitzungsperiode ein guter Zeitpunkt für einen Ausblick auf die Weiterentwicklung der OSZE. Aus diesem Anlass möchte ich noch einmal die wich- tigsten Etappen in der Geschichte der OSZE erwähnen und anschließend einen Blick auf die Empfehlungen und die zukünftigen Schwerpunkte werfen. Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE, wurde im Jahre 1973, also vor nunmehr fast 30 Jahren, in denen sich die Bedingungen der Außenpolitik für alle be- teiligten Staaten wesentlich verändert haben, als Forum für den Ost-West-Dialog geschaffen. Diese Herausforde- rung hat auch die OSZE positiv angenommen. Die KSZE verständigte sich am 1. August 1975 in Helsinki darüber, Konflikte in Europa ohne die Anwen- dung oder Androhung von Gewalt zu regeln, in Sicher- heits- und Abrüstungsfragen zusammenzuarbeiten, den 1) Anlage 4 Wirtschaftsaustausch über die Systemgrenzen hinweg zu fördern und die Mitgliedstaaten für die Begegnung der Menschen und für gegenseitige Informationen zu öffnen. Damit nahm eine neue Form kooperativer statt konfrontativer Sicherheitspolitik ihren Anfang, durch die nach und nach die negativen Auswirkungen der Teilung Europas auf die Menschen spürbar abgemildert werden konnten. Die Schlussakte von Helsinki bedeutete für uns, dass die von Deutschland seit Ende der 60er-Jahre bilateral verfolgte Entspannungspolitik gegenüber dem Osten - die mit den Namen Willy Brandt und Egon Bahr unauflöslich verbunden ist - nunmehr auf die europäische Ebene gehoben wurde. Ausgangspunkt und Kern der KSZE war und ist bis heute der Gewaltverzicht. Gewaltverzicht schließt ein, dass die Grenzen eines Landes nur einvernehmlich geändert werden dürfen - ein Grundsatz, der zum Beispiel im Zusammenhang mit der Statusfrage des Kosovo höchst aktuell ist. Der Gewaltverzicht wurde durch Abrüstungsverhandlungen und Verhandlungen über militärische vertrauensbildende Maßnahmen untermauert. Zu den herausragenden Erfolgen des KSZE-Prozesses gehört der Vertrag über konventionelle Abrüstung von 1990 - die „Charta von Paris für ein neues Europa“ -, der mit einem zweiten Vertrag aus dem Jahre 1999 an die gegenwärtige sicherheitspolitische Situation angepasst worden ist. In der Folge dieser beiden Verträge wurden Zehntausende von schweren konventionellen Waffen vernichtet und die Gefahr von Überraschungsangriffen wurde beseitigt. Die KSZE, vor sieben Jahren in OSZE umbenannt, fasst keine völkerrechtlich bindenden Beschlüsse. Ihre politische Strategie ist das Heranführen von Staaten an europäische politische Standards, ist das Einbinden und das Einüben in Rechtsstaatlichkeit und demokratische Verfahren. Die OSZE lebt vom Prozess und vom Dialog, sehr viel weniger von der Anwendung rechtsverbindlicher Festlegungen. Seit dem Fall der Mauer haben sich die Aufgaben der KSZE gewandelt. Heute stehen der Abbau ethnischer Spannungen, die Förderung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen und die Unterstützung der Zivilgesellschaft in den europäischen Transformationsländern im Vordergrund der OSZE-Aktivitäten. Die OSZE ist darauf angewiesen, dass ihre Mitgliedsländer kooperieren. Ihre Erfolge sind da am größten, wo ihre Missionen von den Regierungen selbst unterstützt werden. So hat die Tätigkeit der OSZE in den beiden baltischen Staaten Estland und Lettland zu einer Verbesserung der Lage der russisch sprechenden Minderheiten geführt, weil die estnischen und lettischen Regierungen von sich aus den Weg nach Europa gehen und sich dabei europäische Standards zu Eigen machen wollten. Auch in Moldowa - dem ärmsten Land Europas -, wo es um die Rechte des Turkvolkes der Gagausen ging, konnte die OSZE erfolgreich Regelungen für ein friedliches Zusammenleben aushandeln. Allerdings ist auch festzustellen, dass sich die OSZE ausschließlich um Probleme und Konfliktlagen in Osteuropa sowie im Kaukasus und in Zentralasien kümmert. Der Nordirland-Konflikt stand nie auf der Tagesordnung der OSZE. Auch die Auseinandersetzungen im Baskenland oder in anderen westeuropäischen Regionen haben für die OSZE bislang keine Rolle gespielt. Dort, wo die OSZE entscheidend tätig wird - etwa bei der Wahlbeobachtung und bei der Begleitung und Stärkung demokratischer Entwicklungen -, ist oft ihre so wichtige Institution, die Parlamentarische Versammlung, am Werk. Die OSZE handelt damit zunehmend zivil und greift eine Strategie zur Früherkennung und Lösung von Konflikten auf, die seit dem 11. September immer mehr an Bedeutung gewinnt: die zivile Krisenprävention. Die OSZE entwickelt sich ständig weiter. Sie hat die Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung in vielen Bereichen umgesetzt, womit die Parlamentarische Versammlung eines ihrer wichtigsten Gremien ist: zum Beispiel mit der Ernennung eines Beauftragten für Medienfreiheit - immer wichtiger in diesen Tagen -, mit der Ernennung eines Koordinators für ökonomische und ökologische Aktivitäten - ein Junktim, das inzwischen allgemein anerkannt sein müsste, aber längst nicht selbstverständlich ist und mittelfristig für alle nur Vorteile bringt; in diesem Zusammenhang möchte ich auch erwähnen, dass die Parlamentarier erreicht haben, dass Wirtschaftsund Umweltaspekte der Sicherheit auf die Tagesordnung gesetzt wurden -, schließlich mit der Installierung einer Kontaktstelle für Roma und Sinti innerhalb des ODIHR und mit der Bestellung eines Beraters für Fragen der Gleichberechtigung im OSZE-Sekretariat in Wien. Die Beiträge, die Parlamentarier zu den Aufgaben der OSZE leisten können, liegen vor allem auf dem Gebiet der Vertrauensbildung und der Einübung in multilaterale Willensbildung. Die OSZE stellt ein Forum bereit, in dem sich etwa Abgeordnete aus Aserbaidschan und Armenien treffen können oder in dem über kontroverse Fragen zur NATO-Erweiterung, zur internationalen Kriminalitätsbekämpfung oder zu ethnischen Streitfragen gesprochen werden kann, und dies eben nicht nur bilateral, sondern multilateral. Die Parlamentarierversammlungen der OSZE ermöglichen die Einübung in demokratische Verfahren und nehmen durch Dialog und gemeinsame Beschlüsse die Furcht vor Missachtung. Dies ist insbesondere für kleinere Nationen ein wichtiger Punkt. Sie nehmen auch Einfluss auf die Tätigkeit der OSZE-Exekutive. Doch trotz all dieser positiven Aspekte gibt es noch viel zu tun. Die Krisen im ehemaligen Jugoslawien und in Tschetschenien haben gezeigt, dass die Handlungsfähigkeit der OSZE verbessert werden muss. Insbesondere müssen die Möglichkeiten zur Krisenprävention ausgebaut werden. Ein Vorschlag zur Verbesserung sieht hier vor, eine schnelle Einsatztruppe zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung nach Konflikten bereitzustellen sowie zivilpolizeiliche Einheiten und unabhängige Gerichte einzurichten. Dies hat sicherlich in den letzten Jahren die meisten Schwierigkeiten gemacht und hat auch die Autorität der OSZE bei Missgriffen infrage gestellt. Nach wie vor gelingt es der OSZE nicht, entscheidende Durchbrüche in den lang andauernden Konflikten zum Beispiel um Berg-Karabach oder zwischen Abchasien und Georgien zu erreichen. Sie ist zwar in der Lage, den Ausbruch massiver Gewalt in diesen Regionen zu verhinMonika Griefahn dern, aber abschließende Regelungen sind bislang ausgeblieben. Sie war bislang auch außerstande, gravierende Wahlfälschungen wie in Georgien, Aserbaidschan, Kasachstan oder Usbekistan zu verhindern. Es wäre wichtig, die OSZE für derartige Aufgaben zu stärken. Der weitere Erfolg wird ganz entscheidend auch davon abhängen, ob der territorial größte Mitgliedstaat der OSZE, die Russische Förderation, zu einem rationalen und multilateralen Handeln findet. Bei den zuvor schon angesprochenen Transformationsstaaten in Europa sollte der Schwerpunkt beim Aufbau stabiler demokratischer Strukturen auf zwei Gebieten liegen: beim Aufbau eines demokratischen und funktionierenden Rechtssystems von der Verfassung bis zur Rechtsverordnung und bei der Stärkung und dem Schutz einer freien und vielfältigen Presse- und Medienlandschaft. Das hat uns in der letzten Zeit die meisten Sorgen bereitet. Wie gefährlich hier die Verflechtungs- und Konzentrationsprozesse werden können, beobachten wir derzeit mit Schrecken im Herzen Europas, in Italien. Wenn dies Schule macht und gesagt wird, dass wir in dem Teil Europas, der als Urstück der Demokratie gilt, bereits solche Konzentrationen haben, wie sollen wir dann die Möglichkeit haben, dies in anderen Teilen der OSZE oder in neuen Gebieten zu verhindern? ({0}) Ich denke, dies ist ein großes Problem. Die OSZE muss sich verstärkt in neuen Gebieten einsetzen. Dazu gehören sicherlich die Mittelmeerländer und die Länder über Zentralasien hinaus. Sie muss aber genau an diesen zentralen Punkten, die ich genannt habe, ansetzen und wir müssen Vorbild sein. Ich wünsche allen Beteiligten eine fruchtbare und erfolgreiche OSZE-Parlamentarierversammlung hier in Berlin. Ich freue mich auf unsere ausländischen Gäste und Kollegen und bin überzeugt, dass wir mit einer gemeinsamen Anstrengung und dem Ringen um den besten Weg für die OSZE auch in den nächsten 30 Jahren eine positive Entwicklung erreichen werden. Zum Schluss möchte ich gern noch einen persönlichen Dank an Frau Professor Süssmuth und an Rita Grießhaber aussprechen, mit denen ich gerade in diesem Bereich, aber auch in anderen außenpolitischen Fragen sowie in Fragen der auswärtigen Kulturpolitik besonders gerne zusammengearbeitet habe. Ich bedanke mich hier für die konstruktive Zusammenarbeit. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun hat für die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Professor Dr. Rita Süssmuth das Wort.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002287, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute Abend den interfraktionellen Antrag mit dem Titel „Parlamentarische Dimension und die Zukunft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ({0})“. Die parlamentarische Dimension ist - wie wir eben gehört haben - noch relativ jung. Sie wurde 1991 in Madrid gegründet. Da einige von uns zehn Jahre dabei sind, wissen wir um das allmähliche Zustandekommen einer Parlamentarischen Versammlung. Gerade in Berlin wird sich in der übernächsten Woche entscheiden, ob wir, gerade was Stringenz und Effizienz dieser Parlamentarischen Versammlung angeht, ein Stück weiterkommen. Wenn wir in der Bevölkerung fragen, was die OSZE ist, dann ist die Antwort: Davon habe ich noch nie gehört. - Es ist eher möglich, etwas über die KSZE zu erfahren, die Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Allerdings verbinden viele Bürgerinnen und Bürger richtigerweise mit der OSZE: Da ging es doch um Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa. Wenn wir diese Bürgerrechtsbewegungen nicht gehabt hätten, dann wäre es möglicherweise nicht zu all diesen Durchbrüchen gekommen. Wie wichtig war das für die Staaten, die den Vertrag unterzeichnet haben! Man hatte so nämlich eine Berufungsinstanz. Das zeigt wiederum, wie wichtig institutionelle Absicherungen sind. ({1}) Die Umbenennung der Organisation 1994 hat das Verständnis für ihr Wirken nicht unbedingt erhöht. Es wird immer gesagt, die Charta von Paris sei die Hauptidee des damaligen amerikanischen Präsidenten George Bush gewesen; der Beitrag der Europäer wird regelmäßig unterschlagen. Ich möchte deshalb daran erinnern, dass zum Beispiel der damalige Außenminister Genscher keineswegs einen geringeren Anteil an der Charta von Paris hatte als Präsident Bush. ({2}) 1990 hatte man die Vision eines demokratischen OSZE-Raums, eines Raumes von Vancouver bis Wladiwostok, in dem Stabilität und Sicherheit herrschen. In der Charta von Paris hieß es, wie in dem Antrag zitiert wird: Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder. Das war die Erwartung von 1990/91. Niemand hat sich zu diesem Zeitpunkt vorgestellt, dass wir sehr bald wieder einen der brutalsten Kriege in Europa haben würden. Allerdings hat sich auch niemand vorgestellt, dass sich die gesamte Sicherheitslage sehr rasch verändern würde. Ganz praktisch war daran gedacht, das Vakuum, das beim Wegfall des Warschauer Paktes entstand, durch die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit auszufüllen und der Konferenz im Rahmen der DemokraMonika Griefahn tisierung eine parlamentarische Dimension zu geben, die gleichsam die Arbeit der Exekutive begleiten sollte. Ein Kennzeichen dieser Organisation ist, dass sie sich im Rahmen der zivilen Prävention bewegt und mit diesen Instrumenten arbeitet. Sie sieht sich nicht nur als Frühwarnsystem und nimmt ihre Aufgaben in der Vorbereitung und dem Beobachten von Wahlen wahr, sondern ist gleichermaßen ein System zum Aufbau von Zivilgesellschaften. Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen: Ich habe immer wieder erlebt, dass man im Zusammenhang mit solchen Organisationen zwar von Prävention spricht - das ist wie bei dem Tagesordnungspunkt zur Gesundheitspolitik, den wir eben diskutiert haben -, sie dann aber doch nicht so richtig ernst nimmt. Ich weiß das von der Gesundheitspolitik und weiß, dass es bei solchen Organisationen wie der OSZE genauso ist. Wenn man das Jahr der Konstituierung der Parlamentarischen Versammlung in Budapest mit dem Jahr 2002 vergleicht, dann muss man unweigerlich feststellen: Dazwischen liegen die fürchterlichen Ereignisse des 11. September des vergangenen Jahres. Was sagen diese Ereignisse über diese Organisation aus? Wie auch immer es um ihre Zukunft bestellt ist - das ist ja durchaus unsicher -, man muss sagen: Es stellt eine sehr wichtige Erfahrung und einen dadurch in Gang gesetzten Lernprozess dar, wie wichtig es im Verteidigungsfall ist, sich verteidigen zu können. Wie wichtig es ist, Gewalt zunächst zu stoppen, haben wir im Balkankrieg gelernt. ({3}) Zwar sind zunächst die Mittel der NATO gefragt, aber auch die Verankerung der OSZE in den Vereinten Nationen ist enorm wichtig. Ich möchte heute Abend betonen: Die nächsten Jahre gehören mehr und mehr der Prävention. ({4}) Unser Kollege Lamers hat es heute schon gesagt: Mit primär militärischen Mitteln werden wir die Probleme, vor denen wir stehen, und erst recht den Terrorismus nicht bewältigen können, sondern von entscheidender Bedeutung sind die Armutsbekämpfung, Demokratisierung, stabile demokratische Institutionen und die Einbindung in Gewaltächtung sowie eine friedliche Konfliktlösung. ({5}) Wenn es in diesem Jahrhundert nicht gelingt, den Bereich der Prävention und der friedlichen Konfliktlösung auch dort auszubauen, wo es um andere Probleme geht - wir werden Ähnliches bei der weltweiten Wanderungsbewegung erleben -, wird das in Kriegen enden, mit denen wir bereits jetzt scheußlichste Erfahrungen machen. Deswegen wird es entscheidend darauf ankommen, dass es über die Parlamentarier und die Parlamentarierinnen, die sich um diesen Bereich kümmern, nicht heißt: Tant pis, da können sie keinen Schaden anrichten, Wichtiges entscheiden sie doch nicht. Wir werden von Jahr zu Jahr mehr lernen, dass wir gerade in diesem Feld der Sicherheit einen ganzheitlichen Ansatz brauchen: Ökonomie, Soziales, Ökologie und Kultur, gepaart mit Wissenschaft. Unsere Probleme werden wir nur gemeinsam lösen können. ({6}) Nicht in Konfrontation und Ausgrenzung, sondern nur im gegenseitigen Einbeziehen und im Miteinander können wir die Anforderungen bewältigen. Dass es bei allen Spannungen, die es in der OSZE gegeben hat - bis hin zum Budgetbereich; ich erwähne nur die Schließung der Missionen in Lettland und Estland -, zu einer solchen Annäherung in dem neuen NATO-Russland-Rat gekommen ist, ist nicht Ausdruck einer Ausgrenzungspolitik, sondern einer Einbeziehungspolitik. Wenn wir in allen Bereichen - auch in der Innenpolitik auf diese Weise schrittweise weiterkämen, hätte ich weniger Angst um das Wohl unseres Landes, Europas und der internationalen Politik. ({7}) Es geht mir auch um die Feststellung, dass wir gleichzeitig sowohl die großen als auch die sehr kleinen Perspektiven im Blick haben müssen. Es geht immer noch darum, ob das Parlament eine Antwort auf seine Resolutionen bekommt. Vielleicht wird es im Rahmen der Transparenz und der Rechenschaftspflicht eine Antwort bekommen, aber keine Begründung. Dabei ist für uns Parlamentarier die Begründung, warum etwas abgelehnt wird, natürlich sehr wichtig. Es geht auch darum, Missionen miteinander abzustimmen. Ich bin sehr froh, dass die Bundesregierung dies für genauso wichtig hält wie die Parlamentarische Versammlung. Es wird um viel Klein-Klein gestritten, zum Beispiel um die Fragen, welche Informationen geheim bleiben müssen und was uns mitgeteilt werden darf, wer woran teilnehmen darf und wann der Präsident im Ministerrat sprechen darf. Ich hoffe, dass wir all dies auf der Parlamentarischen Versammlung zur Verabschiedung bringen. Denn viel wichtiger ist - Frau Griefahn hat es eben schon gesagt -: Wie steht es um die Zukunft der OSZE? Was bedeutet eine OSZE zum Beispiel für Zentralasien? Wird diese Organisation eines Tages auch im Mittelmeerraum möglich sein? Wir dürfen uns davon keine Wunder versprechen, aber Tatsache ist: Wenn manche Mission rechtzeitig begonnen worden wäre, wäre sie kriegsverhindernd gewesen. Gegenwärtig erleben wir, dass die OSZE sehr viel stärker nach bewaffneten Konflikten als im präventiven Bereich zum Einsatz kommt. Deswegen wünsche ich mir, dass wir in allen Politikbereichen - das gilt nicht nur im Sicherheitsbereich - in viel stärkerem Maße von der Reaktion zur Prävention kommen. ({8}) Ich schließe mich dem Wunsch an, dass wir eine gute Versammlung haben werden. Die Eröffnung wird im Plenarsaal stattfinden. Sie wissen, dass in außenpolitischen Fragen die Erwartungen an Deutschland immens sind. Ich schließe hiermit meine eigentliche Rede und sage Ihnen noch Folgendes: Ich weiß, dass ich heute Abend das letzte Mal an diesem Pult stehe. Es ist ein besonderes Pult. Ich werde sicherlich noch vor vielen Rednerpulten stehen, aber nicht vor dem im Parlament. Das bleibt für mich ein sehr bedeutender Ort. Deswegen habe ich einen Wunsch: Denken Sie dann, wenn Sie hier Politik bewegen, zunächst in Debatten und dann mit Entscheidungen, an die Bedeutung des Wortes, das von Pulten dieser Art ausgeht, damit Parlamente stets Anlass haben zu sagen: Wir verteidigen, was das Parlamentarische ausmacht. Ich nehme Abschied, freudig, aber es ist auch ein Stück schade. Danke. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kollegin Rita Süssmuth, es wird noch manche Gelegenheit geben, Ihre Arbeit in diesem Haus und insbesondere Ihr zehnjähriges Wirken als Präsidentin des Deutschen Bundestages zu würdigen. Was Sie gerade gesagt haben, war eine kleine Liebeserklärung an dieses Parlament. Ich möchte dazu von hier aus, sicherlich mit Ihrer Zustimmung, sagen: Daran, dass wir in unserem Land in den letzten 50 Jahren eine so friedliche und freiheitliche Entwicklung einer rechtsstaatlichen Demokratie erlebt haben, hat der Deutsche Bundestag, die Volksvertretung, einen ganz großen Anteil. ({0}) Ich beschränke mich heute Abend in diesem kleinen, vertrauten, aber offensichtlich umso liebenswerteren Kreis darauf zu sagen: Herzlichen Dank für Ihre Arbeit und alles Gute für die persönliche Zukunft! ({1}) Nun gebe ich der Kollegin Rita Grießhaber für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.

Rita Grießhaber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Allen internationalen Organisationen stellt sich die Frage nach ihrer Bedeutung, ihren speziellen Fähigkeiten und ihrer Rolle in der internationalen Staatengemeinschaft, nicht erst seit dem 11. September, aber seither ganz besonders. Die Anforderungen an die Vereinten Nationen werden immer vielfältiger und anspruchsvoller. Die NATO steht kurz vor der Erweiterung und vor der Herausforderung, Rolle und Aufgabenfelder neu zu definieren. Die Europäische Union erweitert und vertieft sich auf dem Weg, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik mit entscheidenden militärischen Strukturen zu schaffen. Was ist die Rolle der OSZE in dieser Situation? Sie wird - das wurde im Bukarester Aktionsplan bekräftigt das Ihrige zum Beispiel im Kampf gegen den Terrorismus beitragen. Dabei ist klar: Man darf von der OSZE viel erwarten, aber überfordern darf man sie nicht. Wir wissen, wo ihre Vorteile, Stärken und Kompetenzen liegen. Sie muss sich weiter auf das konzentrieren, was sie kann: Frühwarnung, Krisenmanagement, Konfliktnachsorge und - das ist ganz entscheidend - Hilfe beim Aufbau demokratischer Institutionen. In diesem mühsamen Geschäft gibt es weder rasche noch spektakuläre Erfolge. Es ist kein Geheimnis, dass sich die Bekämpfung des Terrorismus, wo auch die OSZE aktiv ist, nicht auf militärisches Vorgehen gegen Straftäter erschöpfen kann. Regionale Konflikte, Armut und Unterentwicklung müssen genauso bekämpft werden wie zum Beispiel Illegalität. ({0}) Zur Verhinderung von Terrorismus gehört sehr viel: die Bekämpfung von Armut, die Stärkung der Zivilgesellschaft, aber auch die Förderung der Rechte von ethnischen Minderheiten. Auch das ist eine ganz besondere Spezialität der OSZE, wo sie sich hohe Kompetenz erworben hat. Die OSZE kann aus der Pluralität und kulturellen Vielfalt ihrer Teilnehmerstaaten großes politisches Potenzial schöpfen. Sie kann zur Beruhigung und Stabilisierung der zentralasiatischen Region, insbesondere der Nachbarländer Afghanistans, beitragen und sie kann helfen, Widersprüche zwischen Islamisten und Säkularisten zu überbrücken. Als optimistisches Beispiel sind die Erfahrungen in Tadschikistan zu nennen, wo sich im Rahmen eines Friedensprozesses Säkularisten und Islamisten auf die Auseinandersetzung unter Vermittlung der OSZE darüber eingelassen haben, wie der gemeinsame Staat und das Leben der Muslime in ihm zu gestalten sind. Das ist ein großer Erfolg. Die OSZE ist allerdings von einem Konzept für den Umgang mit der Welt des Islam weit entfernt, sie hat auch keine spezielle Strategie für den Umgang mit Islamisten. Jedoch hat sie mit ihrer Konzeption „Sicherheit durch Demokratisierung“, welche das Kernstück ihrer Strategie für Mittelasien bildet, im zentralasiatischen Raum de facto bereits auf den islamistischen Fundamentalismus reagiert. Den Dialog der Kulturen trägt die OSZE erfolgreich in diese Regionen, zum Beispiel mit einem im Februar organisierten runden Tisch in Tadschikistan zum Thema „Religionsfreiheit und freie Meinungsäußerung“ oder mit einer Konferenz in Kirgisistan zur interreligiösen Toleranz. Meine Damen und Herren, wo über die Rolle der OSZE gesprochen wird, dürfen auch Themen wie Handel mit illegalen Drogen, Geldwäsche und illegaler Waffenhandel nicht fehlen. Wir begrüßen die Ergebnisse der internationalen Konferenz von Bischkek gegen den Terrorismus. Es gilt, gerade hier die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verbrechens- und Terrorbekämpfung zu intensivieren und die Partnerländer in Zentralasien mit kompetentem Rat und technischer Hilfe zu unterstützen. Illegaler Besitz von Waffen und die Verbreitung von Kleinwaffen stellen ein enormes Gefahrenpotenzial dar. Hier gilt es, die verschiedenen Exportkontrollregime weiterzuentwickeln. Bei der Umsetzung des Kleinwaffendokuments und bei der Vernichtung von Waffen und Munition hat Deutschland neben technischer Unterstützung auch Schulungen anzubieten, wie zum Beispiel bei der Beseitigung von Rüstungsaltlasten in Georgien. Dort helfen deutsche Experten, hochexplosiven Raketentreibstoff unschädlich zu machen und zu entsorgen, und verhindern damit, dass er in falsche Hände gelangen kann. Meine Damen und Herren, dass die Zusammenarbeit von 55 höchst unterschiedlichen Mitgliedstaaten in einem Parlament nicht einfach ist, ist kein Geheimnis; dass das Konsensprinzip die Handlungsfähigkeit stark einschränkt, auch nicht. Nun ist die OSZE ihrem Charakter nach bei ihrer Entscheidungsfindung vom Mehrheitsprinzip meilenweit entfernt. Aber es wäre schon sehr viel gewonnen, wenn Beschlüsse mit so genanntem annähernden Konsens gefasst werden könnten. Wenn bis auf einige wenige alle einig sind, wäre sie dann nicht weiter zur Untätigkeit verdammt. So könnte nicht nur mehr demokratische Transparenz und Offenheit, sondern auch eine größere Politikfähigkeit erreicht werden. Ich hoffe, dass wir genau dieses auf der Parlamentarierversammlung in Berlin erreichen. ({1}) Die Parlamentarische Versammlung der OSZE in Berlin wird, wie die vergangenen Parlamentarischen Versammlungen auch, wieder eine ganz besondere Rolle spielen. Sie wird in der Praxis des parlamentarischen Dialogs die Grundwerte der Demokratie selbst beispielhaft leben und dafür wünschen wir ihr sehr viel Erfolg. ({2}) Einen ganz besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle Ihnen, verehrte, liebe Frau Kollegin Süssmuth, für die sehr gute Zusammenarbeit in den letzten Jahren sagen. Sie sind ja Vizepräsidentin der Parlamentarischen Versammlung der OSZE. Für mich ist es immer wieder eine ganz besondere Freude, zu erleben, wie Sie insbesondere dort die weiblichen Abgeordneten mit Ihrem ermutigenden Beispiel stärken. Ich bin dafür dankbar, dass ich das immer wieder miterleben durfte. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Grießhaber, wie ich gerade höre, ist das auch Ihre letzte Rede gewesen ist. Daher möchte ich mich auch bei Ihnen für Ihre Arbeit herzlich bedanken. Dieser Dank sei von herzlichen und guten Wünschen für Ihre persönliche Zukunft begleitet. ({0}) Nun gebe ich dem Kollegen Dr. Werner Hoyer für die Fraktion der FDP das Wort - Herr Hoyer, möchten auch Sie Ihre letzte Rede halten? ({1})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich bitte, nicht davon auszugehen, dass ich meine letzte Rede halte. ({0}) - Und das ist gut so! Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Angesichts eines von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gemeinsam eingebrachten und sehr breit unterstützten Antrags ist es kein Wunder, dass es hier sehr viel Übereinstimmung gibt und dass bereits sehr viel Richtiges gesagt worden ist. Ich habe mich deswegen entschlossen, mein Manuskript zur Seite zu legen und mich auf einige wenige Punkte zu beschränken. Frau Professor Süssmuth - häufig spreche ich noch von „Frau Präsidentin“ - hat an vieles erinnert, was zur Entstehungsgeschichte der Parlamentarischen Versammlung der KSZE gehört. Ich erinnere mich noch sehr genau an Sitzungen in Madrid, in denen Sie die Verhandlungen für Deutschland geführt haben. Aufgrund anderweitiger Verpflichtungen haben Sie mir in langen nächtlichen Sitzungen die Verhandlungsführung übertragen. In diesen Verhandlungen war völlig klar: Die Erwartungen an die Parlamentarische Versammlung der OSZE sind sehr unterschiedlich, sehr kontrovers. Eine offene Frage war: Wie ist das Verhältnis zwischen NATO und OSZE? Die Hauptsorge der amerikanischen Freunde war, dass es eine Konkurrenzbeziehung gibt, die wir von vornherein ausblenden müssen. In diesem Punkt gab es gerade zwischen den Partnern auf den beiden Seiten des Atlantiks von vornherein keineswegs einen Konsens. Mein alter Freund Steny Hoyer, ein US-Kongressabgeordneter aus Maryland, führte damals die amerikanische Delegation. Ich werde nie vergessen, wie nachts um drei Uhr der spanische Politiker Cortez, der die Versammlung leitete, sagte: Oh no, it’s Hoyer versus Hoyer again. Die Verhandlungen waren also gar nicht so einfach, weil wir erst einmal einen langen Weg hinter uns bringen mussten, um Meinungsunterschiede zu überwinden. Wir haben dann große Erfolge von KSZE und OSZE erlebt. Möglicherweise sind manche Probleme, auch was Begrifflichkeit und Namen angeht, darauf zurückzuführen, dass „Konferenz“ häufig viel zu statisch als ein Event, als ein Ereignis, bei dem man zusammenkommt und über etwas verhandelt, und nicht als ein Prozess begriffen wird. Natürlich waren KSZE und OSZE von vornherein als Prozess angelegt. Ich bin stolz, dass liberale Außenpolitiker - von Scheel über Genscher bis hin zu Kinkel - zum Erfolg von KSZE und OSZE weitgehend beigetragen haben. Ich freue mich, dass es gelungen ist, diesen gemeinsamen Antrag zustande zu bringen. Ich hoffe, dass es gelingen wird, die Parlamentarische Versammlung wirklich zu stärken. Das heißt - Sie haben es angesprochen -, es gilt, dafür zu sorgen, dass sie auch von den Regierungen ernst genommen wird. Sie sollte übrigens ernster als heute Abend genommen werden; schließlich glaubt das zuständige Ressort hier nicht vertreten sein zu müssen, wenn wir über die Parlamentarische Versammlung der OSZE diskutieren. ({1}) - Sehr verehrte Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, in allen Ehren: Diese Angelegenheit ist immer ein Projekt des Auswärtigen Amtes gewesen und wird es auch immer bleiben. Und auch das ist gut so! Ich finde es auch erfreulich, dass wir die Möglichkeit hatten, einige Ideen in diesen gemeinsamen Antrag einzubringen. Das betrifft zum Beispiel die Frage, inwiefern wir Konsequenzen aus den Erfahrungen mit KSZE und OSZE ziehen können, wenn es darum geht, sich mit Konfliktregionen auseinander zu setzen, die, wie der Nahe Osten, unsere größtmögliche Aufmerksamkeit erfordern. Auf einer dort stattfindenden Konferenz ähnlichen Typs müssen verschiedene Körbe, auf die ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen kann, zusammengefügt werden, um sicherzustellen, dass dort eine umfassende Sicherheitslösung gefunden wird. Ich bin hinsichtlich eines Punktes etwas unglücklich: Es ist nicht gelungen, die Frage des Zusammenhangs zwischen OSZE und UNO zu behandeln. Ich bin der Überzeugung, dass wir, wenn endlich der große Reformprozess der Vereinten Nationen vorankommt, die OSZE als eine regionale Abmachung im Sinne der Charta der Vereinten Nationen begreifen und die entsprechenden Rechte und Pflichten für die OSZE verankern müssen. ({2}) Ich denke, wir sollten noch einmal darüber sprechen. Letzter Punkt. Wir müssen die Begriffe klar haben. Vieles hat uns in der Vergangenheit behindert, weil es keine wirklich präzise Unterscheidung zwischen Systemen kollektiver Verteidigung und Systemen kooperativer Sicherheit gab und gibt. Wir sollten auch heute sicherstellen, dass diese Dinge nicht miteinander vermischt werden. Denn es ist ganz wichtig, klar zu machen, dass wir die OSZE niemals als eine Konkurrenzveranstaltung zur NATO begriffen haben. Niemals haben wir die Konkurrenz zwischen kooperativer Sicherheit und kollektiver Verteidigung organisiert. Wir sehen allerdings sehr wohl, welch wesentlichen Beitrag ein leistungsfähiges System kollektiver Verteidigung für die Erreichung der Ziele eines Systems kooperativer Sicherheit erbringen kann, wie es sich sehr deutlich auf dem Balkan gezeigt hat und wie ich es mir auch für unsere gemeinsame Arbeit in Afghanistan gewünscht hätte. In diesem Sinne, Frau Professor Süssmuth, möchte ich die Kolleginnen und Kollegen, die damals nicht das Glück hatten, in Madrid dabei sein zu können, noch einmal darauf aufmerksam machen: Es war ganz wesentlich Ihr persönlicher Beitrag, mit dem das zustande gebracht werden konnte, was aus der Parlamentarischen Versammlung der KSZE geworden ist. Auf einer Veranstaltung, die übernächste Woche in Berlin stattfinden wird und zu der wir unsere Kolleginnen und Kollegen aus den Partnerländern sehr herzlich begrüßen wollen, wird dies weiterentwickelt werden. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Die Kolle- gin Heidi Lippmann von der Fraktion der PDS gibt ihre Rede zu Protokoll.1) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP mit dem Titel „Parlamentarische Dimension und die Zukunft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/9554? -Wer stimmt dagegen? -Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion der PDS angenommen. Nun rufe ich in dieser freundlichen Abendstunde Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sperrzeiten für Gaststätten und Biergärten kundenfreundlicher gestalten - Drucksachen 14/6188, 14/9520 Berichterstattung: Abgeordnete Brunhilde Irber Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der Debatte ist für die FDP-Fraktion der Kollege Ernst Burgbacher.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu später Stunde ist dies eine Debatte über ein Thema, das gerade jetzt viele Leute draußen bewegt. ({0}) - Es wäre gar nicht schlecht gewesen, das drüben in der PG zu machen, aber hier ist der Ort der Entscheidung. Es ist eine Frage, die nicht wenige Menschen bewegt, weil viele jetzt in gemütlicher Runde draußen sitzen und wissen: In einer halben Stunde ist Schluss, weil die Bürgersteige bei uns um 22 Uhr hochgeklappt werden. Dies geschieht selbst in dieser Zeit, in der es ein paar schöne Tage gibt. Ausländische Touristen, die zu uns kommen, stehen staunend vor geschlossenen Gaststätten, weil sie es von Zuhause anders gewohnt sind. Auch wenn das Thema vielleicht etwas nebensächlich klingt, ist es für den Tourismusstandort Deutschland und für den Wirtschaftsstandort Deutschland kein nebensächliches Thema. Deshalb sollte man es einigermaßen ernst nehmen. ({1}) Für viele Gaststätten und jetzt insbesondere für Bier- gärten, Nachtcafés und auch für Diskotheken hängt von dieser Frage einiges ab. Während viele Regelungen althergebracht sind - wir haben heute schon im Zusam- menhang mit anderen Punkten darüber diskutiert -, haben sich die Lebensbedingungen einfach verändert. Die Men- schen gehen später aus und sie bleiben gerne länger sit- 1) Anlage 7 zen. Wir haben das nie der Sommerzeit angepasst, auch die alte Regierung nicht; das gebe ich gerne zu. Seit Einführung der Sommerzeit haben wir an den Sperrzeiten nichts geändert. In diesem Zusammenhang ist es nicht hinzunehmen, dass wir als Bundesgesetzgeber zuschauen, wie sich ein Land nach dem anderen nicht mehr an Gesetze des Bundes hält. Eine ganze Reihe von Ländern geht mit diesem Thema völlig anders um; jüngste Beispiele sind Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen. Es kann nicht sein, dass wir nicht bereit sind, Regelungen anzupassen, wenn sie in den Ländern gar nicht mehr eingehalten werden. ({2}) Wir beantragen heute ganz konkret zweierlei: Erstens wollen wir § 18 des Gaststättengesetzes dahin gehend ändern, dass die Regelung wegfällt, dass Länder eine Sperrzeitenverordnung erlassen müssen. Damit wollen wir die Länder zwingen, über ihre Regelungen nachzudenken. Vor allem aber wollen wir die Verfahrenslast umdrehen. Heute bedeutet es bürokratischen Aufwand, wenn ein Gastwirt eine Ausnahmegenehmigung von der Sperrzeitenregelung beantragt; außerdem muss er bei jedem Antrag neu dafür bezahlen. Käme der Bundestag dieser Forderung der FDP nach, entfielen künftig der bürokratische Aufwand ebenso wie die Kosten für den betroffenen Gastwirt. Wir sind davon überzeugt, dass es der richtige Weg wäre, wenn über diese Fragen in den Ländern oder - noch besser - in den Kommunen entschieden würde. ({3}) Zweitens. Im Hinblick auf die Außengastronomie haben wir eine seltsame Gesetzeslage. Eigentlich gibt es gar keine Verordnung. Das Thema ist aus den Lärmschutzverordnungen herausgenommen. Die Gerichte berufen sich aber nach wie vor auf sie und entscheiden, dass um 22 Uhr Schluss ist. Hieraus hat das Parlament bisher keine Konsequenzen gezogen. Das kann es aber nicht sein. Was für die Sportstätten gilt - niemand von uns zweifelt daran, dass es richtig ist, dass ein Fußballspiel stattfinden kann -, soll jetzt genauso für die Außengastronomie gelten. Wir wollen eine neue Bundes-Immissionsschutzverordnung, die menschlichen Lärm anders als Maschinenlärm regelt. Es ist doch etwas ganz anderes, ob Menschen lachen oder ob irgendwo eine Maschine dröhnt. Wir erbitten auch für diese Änderung Ihre Zustimmung. ({4}) Meine Damen und Herren, die Menschen, die jetzt draußen in den Biergärten sitzen, verstehen wirklich nicht, was wir machen. Warum lassen wir den Menschen denn nicht ihre Freude? ({5}) Warum sagen wir denn nicht, ob dies als störend empfunden wird oder nicht, sei eine Frage der Toleranz, die vor Ort von den Beteiligten entschieden werden muss? Warum müssen wir eigentlich alles und jedes von Berlin aus regeln? Wir wollen das nach unten verlagern. Nun weiß ich natürlich, liebe Kollegin Bruni Irber, wie die Mehrheitsverhältnisse heute aussehen werden. ({6}) Ich empfinde das als schade. Bei Einbringung unseres Antrages hat der damalige Staatssekretär Siegmar Mosdorf gesagt, er halte dies für eine gute Sache, die verwirklicht werden sollte. ({7}) In der letzten Debatte hat meine sehr geschätzte Kollegin Bruni Irber gesagt, sie stehe dem FDP-Antrag sehr wohlwollend gegenüber. Dies kann man dadurch unter Beweis stellen, dass man nachher an der richtigen Stelle die Hand hebt; so einfach ist das. ({8}) In der letzten Debatte - manchmal lohnt es sich, das Protokoll nachzulesen - hat die seinerzeit amtierende Vizepräsidentin Anke Fuchs von der SPD die Debatte mit dem Hinweis geschlossen, sie hoffe, dass die Neuregelung so zügig verabschiedet werde, dass wir alle im nächsten Sommer davon profitieren können. Wenn so viel Schönes gesagt wird, dann gibt es nur eines: Stimmen Sie unserem Antrag heute zu! Springen Sie über den Schatten, auch wenn er von der FDP kommt! Es ist vernünftig, wenn wir für eine Mehrheit im Sinne unserer Bürger und vieler Gastwirte sorgen. Damit machen wir einen Schritt zur Entbürokratisierung und zu weniger Kosten. Ich bitte Sie herzlich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile der Kollegin Brunhilde Irber für die Fraktion der SPD das Wort.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sommerzeit, Biergartenzeit - wunderbare Zeit! ({0}) Unsere Fraktion unterstützt einhellig das Ziel des Antrags der FDP. ({1}) In der Debatte in unserer Fraktion hat meine Aussage, dass wir die Sperrzeiten in Biergärten verkürzen wollen, große Zustimmung erfahren. ({2}) Den sofort einsetzenden Protesten von Bürgerinnen und Bürgern, die große Sorge um eine Liberalisierung der Sperrzeiten haben, sind wir gezielt entgegengetreten. Zusammen mit dem DEHOGA haben wir Überlegungen dazu angeErnst Burgbacher stellt, wie eine pressewirksame Öffentlichkeitsarbeit entwickelt werden kann, um in der Bevölkerung das Ziel der Veränderung der Sperrzeiten zustimmungsfähig zu machen. ({3}) Wir wissen auch, dass eine Vielzahl von Gaststätten insbesondere in der Sommerzeit durch Biergärten das Geld verdienen muss, mit dem sie ihren Betrieb im Winter über die Runden bringen und damit auch Stammkräfte in der einkommensschwächeren Zeit als Mitarbeiter behalten kann. Wir wissen ebenso, dass eine Bundes-Immissionsschutzverordnung aber niemals in der Lage sein kann, effizient zwischen menschlichem Lärm und Maschinenlärm zu differenzieren. Wir wissen auch, dass die Sperrzeiten in der Außengastronomie die Stimmungsbremse schlechthin sind. Wenn es um 22 Uhr heißt; Schluss der Vorstellung, dann schafft dies Unmut bei den Gästen und verhindert Umsätze. Aber trotzdem kommen wir an einem Punkt nicht vorbei. Lieber Kollege Ernst Burgbacher, euer Antrag zielt darauf ab, in die ausschließliche Entscheidungshoheit der Länder in Sachen Sperrzeiten einzugreifen ({4}) und aus der bisherigen Länderkompetenz eine Bundeskompetenz zu machen. Dabei spielen unsere Länder und auch die B-Länder nicht mit. ({5}) Jedes Bundesland, das eine liberalere Regelung wünscht, kann diese treffen. Das hast du eben anhand des Beispiels Baden-Württemberg bewiesen. Aber wenn wir den Antrag der FDP umsetzten, dürfte kein Land mehr eine eigenständige Entscheidung treffen. ({6}) Dies geht nicht nur mit dem Freistaat Bayern nicht, sondern auch nicht mit den Ländern, in denen die FDP mit in der Regierung ist. ({7}) Sonst ist die FDP doch immer für die Subsidiarität; hier macht sie auch Sinn. Wie wollen wir von Berlin aus wissen, welche Sperrzeitverkürzung im Bayrischen Wald oder an der Nordsee für die Anwohnerschaft vertretbar ist? ({8}) - Ja, denn bei uns gibt es keine so dicht besiedelten Gebiete. Das ist richtig. Deshalb meine ich, das sollte am besten vor Ort von den Ländern bzw. von den Kommunen entschieden werden. Eine Regelung über eine BImSchV Außengastronomie entwickelt doch genau die Bürokratie, die auszuweiten ihr uns in jeder Sitzung vorwerft. Man stelle sich einmal dieses Szenario vor: Es wird ein Grenzwert festgelegt; ein Anwohner hat aber das Gefühl, dieser sei überschritten, und ruft die Polizei. Sie müsste dann anrücken und mit einem Lärmmessgerät ausgestattet sein, das circa 500 Euro kostet, und müsste eine gerichtsfeste Auswertung des gemessenen Wertes liefern. ({9}) Anschließend ginge es in der bürokratischen Mühle weiter. Da kann ich nur sagen: Oh heiliger Bürokratius! ({10}) Deswegen können wir eurem Antrag in der vorgelegten Fassung nicht zustimmen. Wir fordern die FDPdeshalb auf, ({11}) in allen Länderparlamenten Anträge mit der Maßgabe zu stellen, dass die Länder nicht über komplizierte Bestimmungen, sondern per Beschluss eine großzügigere Regelung in die jeweiligen Landesverordnungen über die Sperrzeiten einbauen. Unser Vorschlag für eine solche Regelung wäre, in den Monaten, in denen die Sommerzeit gilt, der Außengastronomie eine um eine Stunde verkürzte Sperrzeit zuzubilligen. Mit anderen Worten: Wir legen fest, dass die Sperrzeit auf 22 Uhr mitteleuropäischer Zeit festgeschrieben wird. Das würde automatisch bedeuten, dass sie bei der mitteleuropäischen Sommerzeit um eine Stunde nach hinten auf 23 Uhr verlegt würde. ({12}) Wir wissen den DEHOGA bei einer Kampagne an unserer Seite, um eine solche Veränderung durchzusetzen. Ich will aber trotzdem daran erinnern, dass eine solche Änderung mit der allgemeinen Nachtruhe kollidiert. Entsprechende Schadenersatzansprüche bleiben bestehen. Wenn man dieses Problem grundsätzlich angehen will, muss man eben alle Gesetze verändern, die heutzutage die Nachtruhe auf 22 Uhr festschreiben. ({13}) Es tut mir außerordentlich Leid, aber der Antrag ist eben nicht auf eine Entscheidung im Bundestag orientiert, ({14}) sondern kann sich nur an die Länder richten. Mit unserem Tourismusförderprogramm haben wir bereits erreicht, dass alle Länder außer Bayern eine großzügigere Neuregelung bei der allgemeinen Sperrzeit geschaffen haben. Das wünschen wir uns auch für die Biergärten. Ich fordere die CSU-Abgeordneten in diesem Saale auf, in Bayern in ihrem Regierungslager dafür zu sorgen, dass die allgemeine Sperrzeit wie in den anderen Bundesländern auf die Besenstunde verkürzt wird. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, Sie säßen jetzt im Biergarten und müssten schnell trinken, damit Sie bis 22 Uhr das Glas leer haben, weil um 22 Uhr geschlossen wird. Verehrte Frau Kollegin Irber, das, was Sie hier vorgeführt haben, war ein Eiertanz par excellence. ({0}) Wenn man von einer Sache so überzeugt ist, wie Sie das meinten, zum Ausdruck bringen zu müssen, dann sollte man auch dafür eintreten. Aber leider tun Sie das nicht. ({1}) Mehr als ein Drittel aller Bürger wollen in diesem Jahr den Sommerurlaub zu Hause verbringen, wie Meinungsforscher herausgefunden haben. Wer aber seinen Urlaub schon auf Balkonia verbringt, geht abends natürlich gerne einmal in einen Biergarten oder in ein Straßencafe; ({2}) schließlich möchte man sich ein Stück annehmbares Lebensgefühl nach Hause holen. Was erwartet den Urlauber da? - Gerade dann, wenn es gemütlich wird, werden die Stühle hochgestellt. In keinem anderen europäischen Land gibt es eine ähnlich rigide Sperrzeit wie bei uns. ({3}) Bei den meisten unserer Nachbarn kennt man sogar überhaupt keine Sperrzeiten. ({4}) Eine flexiblere Gestaltung der Sperrzeitenregelung in der Außengastronomie ist daher längst überfällig. Ich möchte den Kollegen Burgbacher nachhaltig unterstützen und ihm Recht geben. ({5}) Bisher müssen die Biergartenwirte meist kostspielige Sondergenehmigungen einholen, bevor sie auch nach 22 Uhr ihren Gästen noch ein kühles Bier servieren können. ({6}) Unser Ziel muss es sein, dieses Verfahren zu ändern; da pflichte ich der Frau Kollegin Irber bei - sie möchte, aber sie kann nicht und darf nicht. ({7}) Wir meinen, die Sperrzeit sollte auf 24 Uhr verlängert werden. Um den Interessen von Anwohnern und Nachbarn Rechnung zu tragen, muss den Städten und Gemeinden aber die Möglichkeit gegeben sein, im Einzelfall strengere Regelungen zu treffen. Vor Ort ist man nämlich am besten in der Lage, die lokalen und kulturellen Besonderheiten zu berücksichtigen. Den verantwortlichen Bürgermeistern stellt sich allerdings das Problem, wie sie Geräusche, die der Betrieb einer Außengastronomie verursacht, beurteilen sollen. Es ist doch unmöglich: Aus Hilflosigkeit behandeln Behörden und Gerichte Lärm aus menschlicher Kommunikation einfach wie Industrielärm. Kann man aber Reden und Lachen wirklich mit Bohren, Hämmern oder Sägen vergleichen? Bei den Sportanlagen wurde dieses Problem erkannt; daher gibt es seit einigen Jahren eine Immissionsschutzverordnung für Sportstätten. Deshalb fordern wir mit der FDP die Bundesregierung auf, eine entsprechende Verordnung für die Außengastronomie zu erlassen. ({8}) Seit immer mehr Gewerbe- und Einzelhandelsansiedlungen auf der grünen Wiese die Kundenströme anziehen, haben unsere Innenstädte eine Wiederbelebung dringend nötig. Insbesondere die abendliche Öffnung von Straßencafés und Außenterrassen könnte hierzu wesentlich beitragen. Eine größere Attraktivität der Innenstädte käme wiederum dem Tourismusstandort Bundesrepublik Deutschland zugute. ({9}) Aber nicht nur der Tourismusstandort, sondern auch unser Gastgewerbe hätte etwas von dieser Regelung. Das Statistische Bundesamt hat für April dieses Jahres immerhin einen Umsatzrückgang von vier Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum vermeldet. ({10}) Die Gastwirte könnten dieses Bonbon wirklich gut gebrauchen, sind sie doch durch die Neuregelung der 325-Euro-Jobs und durch die Ökosteuer von Ihnen arg gebeutelt worden. Deshalb sollten diese Änderungen vorgenommen werden. ({11}) Die Außengastronomie ist aber nur eine Seite der Medaille. Der Antrag der FDP-Fraktion zielte im zweiten Teil auf die Freigabe der Sperrzeit für die Innengastronomie. Dies macht natürlich auch Sinn, denn gerade in den Großstädten haben sich die Lebensgewohnheiten der Bürger in den letzten Jahren entscheidend verändert. Dies gilt insbesondere für die Jugend. Die Sperrzeiten bei der Innengastronomie sind von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich geregelt. (Brunhilde Irber [SPD]: Genau! Wer die Sperrstunde verlängern möchte, braucht eine Ausnahmegenehmigung, die natürlich Geld kostet. ({12}) Somit haben wir schon wieder zwischen den Bundesländern Wettbewerbsverzerrungen, ganz zu schweigen von den Wettbewerbsverzerrungen im Grenzgebiet zum Ausland. ({13}) Daher sollte man sich die Änderung des § 18 des Gaststättengesetzes wirklich einmal durch den Kopf gehen lassen: Denn vom Grundsatz her gibt es keine Sperrzeiten; den Ländern und Kommunen bleibt es freigestellt, angepasst an die örtlichen Gegebenheiten, Sperrzeitenregelungen zu erlassen oder eben nicht. ({14}) Der Interessen der ruhebedürftigen Anwohner wird auf dieser Basis ebenso entsprochen, wie es durch die derzeitige Regelung der Fall ist. Die zumeist mittelständischen Gastwirte würden indes erheblich entlastet und der Steuerzahler bekäme gleichzeitig einen schlankeren Staat. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn der Bürger schon tagsüber fast nicht mehr erträglich durch Bürokratie gegängelt wird, ({15}) dann sollte er wenigstens am Abend unbürokratisch sein Bier trinken können. Diese Meinung vertreten wir. ({16}) - Sie auf der linken Seite des Hauses erwecken den Eindruck, als kämen Sie eben aus einem Biergarten. Diesen Eindruck vermitteln Sie mir. ({17}) - Ich glaube, ich liege mit dieser Einschätzung nicht ganz falsch. Aber ich möchte das lobend hervorheben, weil Sie dadurch der Hotellerie und Gastronomie einen Schub gegeben haben, den Sie ihr durch eine politisch falsche Weichenstellung entzogen haben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Hinsken, wollen Sie eine Zwischenfrage beantworten?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Karin Kortmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003161, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, bei aller Ernsthaftigkeit in der Diskussion um das Thema Sperrstunde frage ich mich: Meinen Sie nicht auch, dass es, wenn wir über die 22-Uhr-Regelung nachdenken, vernünftiger wäre, wenn der Mann bei der Frau und die Frau beim Mann wäre, damit Familienleben noch gelingen kann? ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn ich die Möglichkeit habe, in einen Biergarten zu gehen, dann ist meine Frau selbstverständlich dabei. ({0}) Im Gegenteil vielleicht zu Ihnen werde ich von meiner Frau immer wieder animiert, hin und wieder eine Stunde Zeit zu opfern, um mit ihr wenigstens bis 22 Uhr einen Biergarten aufsuchen zu können. Dann habe ich alle Not, ihr klar zu machen, dass ich gerne länger bleiben würde, aber die SPD dagegen ist. Danke schön. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das sind die Debatten an einem Sommerabend. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sylvia Voß.

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich wäre lieber heute Abend mit meinem Mann in einem Biergarten; aber leider hindert mich die FDP daran. Das finde ich nicht ganz fair. ({0}) Erst vor einer Woche war Sommeranfang und wir hatten schon ein paar schöne Abende, eigentlich ein zünftiger Auftakt. Wenn wir aber das Wort „zünftig“ hören, fällt uns sogleich der Bayer in der Krachledernen oder die Bayerin im Dirndl ein. Denn in wohl keinem anderen Land gehören die Biergärten fester zur Freizeitgestaltung als in Bayern. ({1}) Aber ausgerechnet in Bayern - wie wir wissen, der Hochburg der CSU, Herr Hinsken - hat vor wenigen Tagen jemand klar gemacht, dass an der Sperrzeit festgehalten wird. ({2}) Wie erklären Sie sich das? Wieder einmal stellt die CDU/CSU-Fraktion in diesem Parlament ihr Talent unter Beweis, in der Opposition immer alles zu kritisieren oder zu fordern, was sie in ihrer eigenen Regierungszeit nicht gemacht hat. ({3}) Bemerkenswert ist auch die Begründung aus Bayern; denn in Bayern - ich zitiere aus einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ - „vertritt man die Auffassung, dass die Stadt“ - gemeint ist München - „sowieso schon liberal mit der Verordnung umgeht“. Genau das ist der Punkt. Die derzeitige Handhabung der Sperrzeitenregelung ist nämlich schon jetzt kundenfreundlich. Es gelten zwar deutschlandweit Sperrfristen, aber - das haben Sie selbst zugegeben - sie können durch Ausnahmen individuell an die jeweilige Einrichtung und Umgebung angepasst werden. Das regeln die Länder. In vielen Fällen geben sie die Kompetenz auch an die betreffenden Kommunen ab, da diese sich von der Situation vor Ort ein noch viel genaueres Bild machen und der Lage angemessen entscheiden können. In der Debatte vor einem Jahr waren wir uns alle relativ darin einig, dass sich die Lebensgewohnheiten vieler Menschen geändert haben. Wir zogen daraus den Schluss, dass längere Ausschank- und Öffnungszeiten für die vielen Biergärten, Weinstuben und Lokale attraktiv wären und somit auch durchaus touristischen Wert hätten. ({4}) Doch in einer Sache waren wir uns nicht einig. Die Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU vergaßen nahezu komplett, dass Anwohner auch noch Bedürfnisse haben. Diese Tatsache haben sie total ausgeblendet. ({5}) Zwar lieferten die lieben Kollegen halbherzige Mitleidsbekundungen in Richtung der Anwohner; aber das musste reichen. Tenor war, dass es sich doch nur um ein paar warme Tage im Jahr handele und dass es schon gut gehen werde. Das unterscheidet uns aber von Ihnen: Wir versuchen nämlich, optimale Lösungen für alle Beteiligten zu finden. Deswegen können wir dem Antrag der FDP nicht zustimmen. ({6}) Wir wollen uns doch nichts vormachen, Herr Hinsken. Es geht doch nicht nur um die paar Tage, die wirklich warm und schön sind und an denen man in diesen nördlichen Breiten draußen sitzen kann. Schon bei den ersten Sonnenstrahlen im März oder April werden Stühle und Tische herausgeholt. Die Wirte scheuen auch schon längst nicht mehr vor der Anschaffung von Wärmestrahlern zurück, die man herausstellen kann, damit man noch im Oktober lange an der frischen Luft sitzen kann, weil es den Gästen wohlig und warm ist. ({7}) - Ich gebe Ihnen Recht, dass das schön ist. Aber wir müssen auch die Belange der Anwohner berücksichtigen. ({8}) Zurück zu Ihren völlig richtigen Bemerkungen, dass sich die Lebensgewohnheiten ändern und dass man aufgrund der veränderten Arbeitsbedingungen später mit dem Feiern beginnen kann. Leider ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen - eine Kollegin hat eben schon von ihrem Bedürfnis gesprochen -, dass nicht alle Menschen, die erst um 19, 20 Uhr oder - wie wir - noch viel später das Büro verlassen, schnurstracks in den nächsten Biergarten laufen. Nein, auch in die entgegengesetzte Richtung haben sich Lebensgewohnheiten geändert. Viele Menschen sehnen sich heute einfach nach mehr Ruhe. Wo kämen wir denn hin, wenn diese Ruhe zu keiner Zeit mehr und nicht einmal in den eigenen vier Wänden garantiert werden könnte? Vielerorts haben sich Clearingstellen bewährt - das wissen wir -, in denen man versucht, die gegnerischen Seiten zu einem Kompromiss zu führen. Das funktioniert auch in den meisten Fällen. Wir wollen, dass dieser Weg weiter beschritten wird. Allerdings - das ist Ihnen offensichtlich entgangen oder Sie blenden das immer wieder aus - verzeichnen wir eine Zunahme der Beschwerden. Das heißt: Rücksichtslosigkeit ist durchaus an der Tagesordnung. Wohin würde es wohl führen, wenn wir die Sperrzeiten ganz aufgeben und den Weg für die große Tag-und-Nacht-Party frei machen würden? Herr Hinsken hat vorhin gesagt, dass es diese Sperrzeiten in keinem anderen europäischen Land geben würde. Ich kann hier konstatieren, dass es in keinem anderen europäischen Land so viel Rücksichtslosigkeit, so viel lautes Grölen und so viel Randale in bier- und weinseliger Laune gibt. ({9}) Das ist wohl wahr. Wer in der Toskana war, hat feststellen können, dass dort nicht so herumgegrölt wird wie in Deutschland. Auch in der Provence gibt es das nicht. ({10}) Dort geht es trotz der Möglichkeit, lange draußen zu sitzen, viel ruhiger und romantischer zu. Ich sage Ihnen noch einmal: Schon jetzt gibt es für die Kommunen die Möglichkeiten individueller Regelungen. Warum brauchen Sie dann diesen bier- bzw. weinseligen Antrag zu dieser Zeit? Wir unterstützen die von Ihnen gezogenen Schlüsse nicht und sagen Nein zu Ihrem Antrag. Vielen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Kollegin Neuhäuser hat gebeten, Ihre Rede zu Protokoll geben zu dürfen.1) ({0}) Aber der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt möchte sprechen. ({1})

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Freund der Biergärten möchte ich hier noch unbedingt etwas sagen, ({0}) obwohl ich nach den Einwendungen des Kollegen Hinsken das Gefühl habe, dass ich etwas überfordert bin. ({1}) 1) Anlage 8 Eines möchte ich feststellen: Als Berliner haben wir die mit langen Öffnungszeiten von Biergärten verbundenen Probleme nicht so unmittelbar, obwohl es auch hier sehr differenzierte Situationen gibt. Wir alle wollen im Biergarten sitzen, Herr Hinsken, und das mit oder ohne Frau bzw. mit oder ohne Mann, je nachdem, wie es gerade passt. Wir wollen der Wirtschaft in unserer Stadt und in unserem Land dazu verhelfen, mehr Umsätze zu machen und attraktiver zu erscheinen. Auch mich beunruhigen die zwischen den einzelnen Bundesländern bestehenden Unterschiede bei den Öffnungszeiten von Biergärten und die daraus folgenden Wettbewerbsverzerrungen sehr. Jede Landesregierung, jede Kommune ist gehalten, ihre Spielräume auszuschöpfen; Sie wissen das. Ich habe übrigens gehört, Bayern soll, was die Biergärtenöffnungszeiten betrifft, die rote Laterne erhalten haben. Kann das sein, Herr Hinsken? ({2}) Es soll einschlägige Gerichtsurteile geben, bis hin zu einem Urteil zum Sperrbezirk, über den im Rahmen der neuen deutschen Welle gesungen worden ist. ({3}) Da ging es aber nicht um den Biergarten, sondern um etwas anderes, was sich in Ihrer Landeshauptstadt abgespielt haben soll. Auf jeden Fall sollten wir die Kirche im Dorf lassen. Ich habe ganz große Probleme damit, ({4}) dass die Partei der Freiheit, der Liberalität und der Deregulierung auf einmal fordert, die Öffnungszeiten vor Ort möglichst europarechtlich zu regeln, um dem Ganzen ein Dach zu verleihen, das Ganze aber zumindest in einer bundeseinheitlichen Regelung zu klären. ({5}) Ist das alles nicht ein bisschen übertrieben, liebe Kolleginnen und Kollegen? ({6}) Lassen wir die Kirche im Dorf und überlassen wir dem Dorfschulzen die Entscheidung, ob er an der einen oder anderen Ecke in dieser oder in jener Weise arbeiten möchte! Das wird sich schon richten. Vielleicht ist dieser Antrag ja auch damit zu verbinden, dass die FDP im kommunalen Bereich relativ spärlich vertreten ist. ({7}) Vor diesem Hintergrund hat die FDP das Problem, dort nicht ihre Finger im Spiel zu haben. Bei aller Sympathie für lange Öffnungszeiten von Biergärten apelliere ich an Sie: Seien Sie an dieser Stelle liberal, offen und weiterhin dezentral orientiert! Das ist der Weg, auf dem wir am ehesten einen Kompromiss zwischen demjenigen finden, der sich vielleicht durch Lärm belästigt fühlen könnte, und demjenigen, der gerne noch ein oder zwei Stunden länger seinen Schoppen trinken würde. Eines füge ich hinzu: Man kann im Übrigen auch durch die Wahl des Biergartens entscheiden, ob man länger in demselben verweilen darf oder nicht. Das hängt eben immer ein bisschen davon ab, ob es sich um einen Biergarten in einem dicht besiedelten Ortsteil oder gegebenenfalls eher an der freien Luft, in der Nähe eines Waldes oder einer Wiese, handelt. ({8}) Insofern sollten Sie hier differenzieren, sich öffnen und Ihrer liberalen Grundgesinnung zum Durchbruch verhelfen. Das wäre mein Vorschlag, Herr Kollege.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie denn eine Zwischenfrage, Herr Staatssekretär?

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Immer. ({0}) - Eine Zwischenfrage darf er. Wir haben jetzt 22 Uhr, noch könnten wir im Biergarten weitermachen. Also lassen Sie ihn bitte ran.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär Staffelt, wären Sie wenigstens bereit, unseren Antrag zu lesen? ({0}) Und wenn Sie dann gelesen haben, dass wir jede bundeseinheitliche Regelung abschaffen wollen, sind Sie dann bereit, unserem Antrag zuzustimmen? Danke schön.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Herr Hinsken, Sie klatschen so, als wäre das Ihr Antrag. Ich war kürzlich bei Ihnen in der Gegend im Urlaub. Da haben Sie ja nicht einmal durchgesetzt, dass man nach 20 Uhr noch etwas Ordentliches zu essen bekommt. ({0}) Zugegebenermaßen war Winter. ({1}) - Das sollten Sie zurücknehmen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Staatssekretär, die Frage hatte jetzt aber nicht Herr Hinsken gestellt.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Ich sage Ihnen: Ich unterstütze den Antrag der FDP-Fraktion nicht. Ich bin nach wie vor - ähnlich, wie schon von anderen vorgetragen - der Auffassung, dass wir das den kommunalen und den landesrechtlichen Bestimmungen überlassen sollten. ({0}) Und dann rufen wir dazu auf, dort, wo es nur irgend geht, die Öffnungszeiten so weit wie möglich nach hinten zu verschieben, und dort, wo wir andere Interessen zu berücksichtigen haben, eine ortsorientierte Entscheidung zu treffen. Das wollte ich hier noch einmal aus grundsätzlichen Erwägungen gesagt haben. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Kollege Klaus Brähmig das Wort. ({0})

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Können wir den Lärmpegel ein bisschen herunterfahren, damit wir uns noch verstehen können?

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sommer, Sonne, Strand und Meer und die ruhige Hand am kühlen Bier - so oder so ähnlich stellen sich Gerhard Schröder und Millionen deutsche Bürger die abendlichen Stunden in der Sommerzeit vor. Was im Ausland Normalität ist, ist bei uns in Deutschland schnell beendet, denn derzeit müssen deutsche Biergärten durchschnittlich gegen 22 Uhr schließen. Das ist ein Ärgernis für die Menschen in Deutschland. Die FDP-Fraktion will mit ihrem Antrag zur Liberalisierung der Sperrzeiten in der Außengastronomie dieses Ärgernis beseitigen. Freiluftgaststätten wie zum Beispiel Biergärten sollen in Zukunft bis mindestens 24 Uhr öffnen dürfen. Damit soll dem unter anderem aufgrund längerer Ladenöffnungszeiten geänderten Ausgehverhalten unserer Bürger Rechnung getragen werden und dies ist gut so. ({0}) Diese Lösung wäre aber auch ein weiterer kleiner Mosaikstein, um die Attraktivität des Tourismusstandortes Deutschland zu erhöhen. Und wieder einmal zeigt es sich, dass der Wähler am 22. September 2002 eine deutliche politische Alternative hat. ({1}) Der Antrag unseres Kollegen Burgbacher steht für Deregulierung im mittelständisch geprägten Gastronomiegewerbe und deswegen werden wir ihn heute unterstützen. ({2}) Im Gegensatz dazu steht die Meinung der rot-grünen Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen, die diesen Antrag ablehnen werden. Was ist Ihr Argument für diese ablehnende Haltung, meine sehr verehrten Damen und Herren von der zukünftigen Opposition? Da letztendlich die einzelnen Verwaltungen in den Städten und Gemeinden die Verantwortung für die konkrete Ausgestaltung der Sperrzeiten tragen müssen, halten Sie eine bundeseinheitliche Vorgabe der Sperrzeiten für unannehmbar. Dies ist ein fadenscheiniges Argument, denn Sie haben sich in den vier Jahren Ihrer Regierungszeit sonst einen feuchten Kehricht um die Bedürfnisse der Länder und Kommunen gekümmert. ({3}) Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Steuerund Sozialpolitik, die die Haushaltslasten des Bundes einseitig auf die Kommunen abwälzt bzw. zu Mindereinnahmen in Milliardenhöhe bei Ländern und Kommunen geführt hat. ({4}) Wo war damals Ihr Bekenntnis zu den Aufgaben der Länder und Kommunen? Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch gerne noch einmal an die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung. Auch dieser Beitrag zur Deregulierung und zur Stärkung der Dienstleistungsmentalität ist doch nur dem Druck der Opposition zu verdanken gewesen. ({5}) Die letzten vier Jahre rot-grüner Regierungspolitik haben aber auch gezeigt, welches Unternehmerbild diese Bundesregierung hat. Winston Churchill hat einmal gesagt: Es gibt Leute, die halten den Unternehmer für einen räudigen Wolf. Andere meinen, der Unternehmer sei eine Kuh, die man ununterbrochen melken könne. Nur wenige sehen in ihm das Pferd, das den Karren zieht. ({6}) Sieht man sich die Regierungspolitik der letzten vier Jahre genau an, so besteht das deutsche Unternehmertum bei Ihnen nur aus räudigen Wölfen und die 1998 viel beschworene neue Mitte wurde zur Melkkuh der Nation umfunktioniert. ({7}) Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird ab dem 22. September die deutschen Unternehmer in die Lage versetzen, den festgefahrenen Karren aus dem rot-grünen Sumpf zu ziehen. ({8}) Ich hoffe, dass die FDP uns dabei unterstützen wird. ({9}) Meine Damen und Herren, in den tourismuspolitischen Leitlinien unserer Fraktion haben wir einige Punkte herausgearbeitet, die der Tourismuswirtschaft wieder mehr Luft zum Atmen geben sollen. Einige möchte ich hier kurz skizzieren. Erstens. Wir brauchen eine mittelstandsfreundliche Arbeitsmarktpolitik. Ich erinnere hier nur an unser Konzept, die Verdienstgrenze für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse von 325 Euro auf 400 Euro zu erhöhen. Dadurch werden Anreize zur Arbeitsaufnahme geschaffen. Zweitens. Wir brauchen eine deutliche steuerliche Entlastung für die Tourismuswirtschaft. Insbesondere für die mittelständischen Unternehmer brauchen wir eine Steuerreform, die die Möglichkeiten zur Bildung von Eigenkapital verbessert. ({10}) In diesem Zusammenhang ist es geradezu grotesk, wenn der niedersächsische Ministerpräsident Gabriel jetzt einen Antrag zur Einführung einer Spieleinsatzsteuer bei Spielautomaten in den Bundesrat einbringen will. Dies trifft gerade viele kleine und mittlere Betriebe im Gastgewerbe und die deutsche Automatenwirtschaft. Der DEHOGA erklärte heute dazu: Bei seit Jahren rückläufigen Umsätzen, die im April 2002 bis zu real 10 Prozent betragen, sind die Gastwirte auf die regelmäßigen Einnahmen aus dem Automatengeschäft dringend angewiesen. Kreativität besitzt Rot-Grün nur bei der Erfindung neuer Steuern, die die Melkkuh Mittelstand weiter aussaugen. Rinderwahnsinn und Steuerwahnsinn liegen anscheinend eng beieinander. ({11}) Meine Damen und Herren, ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei einigen Kollegen bedanken, die innerhalb unserer Fraktion und im Ausschuss jahrelang aktiv an der Gestaltung der Tourismuspolitik mitgearbeitet haben. Hannelore Rönsch, Monika Brudlewsky, Marianne Klappert, Sylvia Voß, Rosel Neuhäuser und mein sächsischer Landsmann Wolfgang Dehnel werden leider dem nächsten Deutschen Bundestag nicht mehr angehören. Vielen Dank für die gute kameradschaftliche Zusammenarbeit. Lassen Sie mich angesichts der begonnenen Ferienzeit und der vor uns liegenden Sommerpause noch eine Werbung für das Reisen mit den Worten von Wilhelm Busch an Sie richten: Ein, zwei, drei im Sauseschritt, Läuft die Zeit, wir laufen mit, Schaffen, schuften, werden älter, Träger, müder und auch kälter, Bis auf einmal man erkennt. dass das Leben geht zu End! Viel zu spät begreifen viele, Die versäumten Lebensziele: Freude, Schönheit der Natur, Gesundheit, Reisen und Kultur, Darum, Mensch, sei zeitig weise! Höchste Zeit ist’s! Reise, reise! ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. So endet diese Debatte mit Wilhelm Busch. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf der Drucksache 14/9520 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Sperrzeiten für Gaststätten und Biergärten kundenfreundlicher gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf der Drucksache 14/6188 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP und gegen eine Stimme aus der PDS angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in Deutschland stärken - zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU Jüdisches Leben in Deutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Max Stadler, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in Deutschland stärken - Drucksachen 14/9226, 14/4245, 14/9261, 14/9480 Berichterstattung: Abgeordnete Sebastian Edathy Martin Hohmann Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Sebastian Edathy.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema Parlamentsreform ist sicherlich ein Dauerthema. Vielleicht sollte man in Zukunft auch einmal darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, ein Thema wie den Antisemitismus in Deutschland zu einer so späten Stunde im Parlament und ausgerechnet nach einer Diskussion über die eventuelle Verlängerung der Öffnungszeiten von Biergärten zu behandeln. ({0}) Der jüngst veröffentlichte Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2001 spricht, was antisemitische Straftaten betrifft, leider eine sehr deutliche Sprache. 1 200 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund sind verübt worden, darunter 70 Straftaten, die in Angriffen auf jüdische Einrichtungen bestanden haben. Vor zwei Jahren haben die beiden Wissenschaftler Dietmar Sturzbecher und Ronald Freytag eine Studie vorgelegt. Grundlage dieser Studie war die Befragung von 4 500 Jugendlichen im Alter von 14 bis 19 Jahren in Brandenburg. Es ging um das Thema Antisemitismus. Ein Drittel der befragten Jugendlichen in Brandenburg hat geäußert, sich nicht vorstellen zu können, mit einer Person jüdischen Glaubens befreundet zu sein. Das macht deutlich: Antisemitismus findet sich nicht nur bei den Ewiggestrigen. Der Geist der Ausgrenzung, der Geist der Abwertung, die Stigmatisierung von Menschen sind eine ständige Herausforderung unserer Demokratie. Sich dieser Herausforderung zu stellen ist Aufgabe aller demokratischen Kräfte in unserem Land. ({1}) Wo Menschen ausgegrenzt und erniedrigt werden, nimmt die gesamte Demokratie Schaden. ({2}) In unserer Verfassung ist mit gutem Grund ein Satz verankert, der zugleich ein Auftrag ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wer in Menschen wegen ihrer Religionszugehörigkeit Menschen minderen Wertes erblickt, der verstößt gegen diesen Grundsatz. Antisemitismus ist demokratiefeindlich. Deswegen muss für uns als Demokraten gelten: Bei diesem Thema dürfen wir nicht zweideutig und missverständlich, da müssen wir eindeutig und unmissverständlich auftreten. ({3}) Dazu gehört die Feststellung: Antisemitismus kann man nicht rechtfertigen, wie das ansatzweise unser früherer Kollege Jürgen Möllemann getan hat. Antisemitismus kann man nur verachten. Und vor allen Dingen: Man muss ihn bekämpfen, ({4}) unter anderem durch Aufklärung, durch Bildungsarbeit und durch Projekte, wie wir sie mit Bundesmitteln beispielsweise aus dem Programm „Civitas“ mit einem Schwerpunkt in den neuen Ländern mitfinanzieren. Aber neben Aufklärung, neben Bildungsarbeit muss die einvernehmliche Feststellung aller Demokraten stehen, dass wir uns darüber im Klaren sind und dass wir Gewissheit darüber vermitteln müssen, dass ein Zusammenleben in Vielfalt nicht durch die Vielfalt gefährdet wird, sondern allenfalls durch die Einfalt von Menschen. Dieser Einfalt zu begegnen ist eine ständige Herausforderung. ({5}) In Deutschland leben 95 000 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens. Sie sind Teil unserer Gesellschaft, deren Ausgrenzung wir nicht, auch nicht in Ansätzen, zulassen dürfen. Wer hier in Berlin die Polizeiwagen vor der Synagoge in der Oranienburger Straße sieht, dem wird drastisch vor Augen geführt, dass das Bestehen von jüdischen Gemeinden in Deutschland nicht so selbstverständlich ist, wie wir uns das wünschen würden. Dass jüdische Einrichtungen an vielen Orten in Deutschland eines solchen polizeilichen Schutzes bedürfen, ist beschämend. Noch beschämender wäre es freilich, wir würden uns mit diesen Verhältnissen abfinden. Nein, das dürfen wir nicht. Wir müssen dafür sorgen und Verantwortung dafür übernehmen, diese Verhältnisse zum Besseren zu verändern. ({6}) Ob sich jüdische Bürgerinnen und Bürger respektiert, sicher und frei fühlen können, ist eine Frage, an der sich auf Dauer entscheiden wird, wie stark unsere Demokratie ist und wie ernst wir den Verfassungsauftrag nehmen, die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde zu garantieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte mir gewünscht, es wäre gelungen, zu diesem Thema einen fraktionsübergreifenden Antrag zur Abstimmung zu stellen. ({7}) Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der unsäglichen Äußerungen von Herrn Möllemann nicht gelungen. ({8}) Ich will hier, ohne unnötige Schärfe in die Debatte zu bringen, sehr deutlich sagen, ({9}) dass mir insbesondere das Verhalten der FDP völlig unverständlich ist, ({10}) die einen Antrag vorgelegt hat, den sie Wort für Wort inklusive der Überschrift von der Koalition abgeschrieben hat. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn Sie es ernst damit meinen, dass antisemitische Aussagen in Deutschland keinen Raum bekommen dürfen, wie das in Ihrem oder - besser gesagt - unserem Antrag steht, muss das auch für Sie in Ihren eigenen Reihen gelten. ({12}) Dann wäre es glaubhafter, wenn Sie sich längst von Ihrem stellvertretenden Bundesvorsitzenden getrennt hätten. ({13}) Es ist, gelinde gesagt, halbherzig, sich mit einem Antrag im Bundestag gegen Antisemitismus auszusprechen, aber in der eigenen Partei nicht für klare Konsequenzen in Bezug auf ein Verhalten zu sorgen, das vom Instrumentalisieren antisemitischer Klischees geprägt ist. ({14}) Der Umgang mit dem Thema Antisemitismus verträgt aber keine Halbherzigkeit, sondern muss von einer Eindeutigkeit geprägt sein, die nicht nur eine Frage der Achtung anderer, sondern eine Frage der Selbstachtung ist. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Lammert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit dem Titel „Jüdisches Leben in Deutschland“, über den heute Abend abschließend befunden wird, stammt aus dem Herbst des vorletzten Jahres. Anlass waren damals Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Deutschland. In der Debatte, die der Deutsche Bundestag damals auf unsere Anregung hin spontan vereinbart hat, hat unser Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz die Anliegen verdeutlicht, die wir in unserem Antrag formuliert haben: das demonstrative Bekenntnis zu jüdischem Leben in Deutschland, die Würdigung des herausragenden Beitrags jüdischer Bürgerinnen und Bürger zur Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur in Deutschland, die Erinnerung an NS-Diktatur und Holocaust, die Bekräftigung der besonderen Verantwortung Deutschlands, die Aufforderung zu Toleranz und Respekt, zu Zivilcourage im Alltag und unsere Freude über die Wiederbegründung jüdischer Gemeinden in Deutschland sowie deren Unterstützung. Nichts davon hat sich seitdem erledigt, ({0}) das Anliegen nicht, die Erklärungen nicht, die Anlässe leider auch nicht. Seit der damaligen Debatte ist manches geschehen, in Israel wie in Deutschland. Der Umgang mit dem Thema ist nicht leichter geworden. Dies ist neben den schrecklichen Ereignissen in Israel und Palästina die Folge einer Auseinandersetzung in Deutschland in den letzten Wochen, von der sich heute vermutlich alle Beteiligten wünschen, dass sie uns erspart geblieben wäre. ({1}) Diese Debatte war durch zum Teil absurde Vorwürfe, haltlose Verdächtigungen, maßlose Übertreibungen, unbegreifliche Entgleisungen und tiefe Verletzungen gekennzeichnet, nicht nur auf einer Seite. Die Folgen dieser Auseinandersetzung sind keineswegs überwunden. Eine ganz unmittelbare bedauerliche Folge ist, dass wir heute keine gemeinsame Beschlussempfehlung haben, obwohl sich der Antrag der Koalitionsfraktionen das damals formulierte Anliegen der Union nicht nur in der Sache, sondern weitgehend auch in den Formulierungen ausdrücklich zu Eigen macht. Die Beschlussempfehlung hat nun freilich eine andere Überschrift und damit einen etwas anderen Akzent. Deswegen nutze ich die Gelegenheit gerne, vor der Abstimmung über diese Beschlussempfehlung die Positionen unserer Fraktion noch einmal zu verdeutlichen. Ich freue mich, dass ich das ausdrücklich auch für die Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeitsgruppe Innenpolitik und für unseren Berichterstatter Martin Hohmann tun darf. Antisemitismus, wo immer er auftritt, ist nicht akzeptabel. In Deutschland ist er unerträglich. ({2}) Die deutsche Geschichte begründet bei diesem Thema eine besondere Empfindlichkeit. Dies rechtfertigt nicht jede Maßlosigkeit in der Zurückweisung tatsächlicher oder vermeintlicher Verstöße gegen diesen Konsens aller Demokraten. Schon gar nicht rechtfertigt dies, Herr Kollege Özdemir, die Attitüde moralischer Überlegenheit bei gleichzeitiger Rücksichtslosigkeit bis zur Menschenverachtung. ({3}) Wir haben sowohl für jüdische Bürger in Deutschland wie für das Existenzrecht und die Sicherheit des Staates Israel sowie auch für jedes andere Volk eine besondere Verantwortung. Dies schließt die kritische Auseinandersetzung über den Eindruck von Fehlentwicklungen, Versäumnissen oder Verirrungen in Deutschland wie in Israel nicht aus, sondern unbedingt ein. Israel muss mit denselben moralischen Maßstäben wie jeder andere Staat gemessen werden. ({4}) Diese Selbstverständlichkeit hat vor wenigen Wochen der israelische Publizist Uri Avnery unmissverständlich festgehalten. Er hat hinzugefügt - ich zitiere -: Das Schreckliche, das Deutsche den Juden vor 60 Jahren angetan haben, hat mit der heutigen israelischen Politik nichts zu tun. Daraus den Schluss zu ziehen, Deutsche müssten schweigen, wenn sie glauben, dass wir Unrecht begehen, ist unmoralisch. Das Vermächtnis des Holocaust sollte doch sein, dass gerade Deutsche mehr als andere gegen Unrecht auftreten, ganz egal wo es passiert. ({5}) Deswegen habe ich insbesondere an die jüdischen Mitbürger und nicht zuletzt auch an die Repräsentanten die herzliche Bitte - ({6}) - Es gibt deutsche wie jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wenn zu irgendeinem Thema der Streit nicht lohnt, dann vermutlich der zu dieser terminologischen Spitzfindigkeit. ({7}) - Herr Stiegler, die historischen Belehrungen von Ihnen sind immer der unüberbietbare Höhepunkt parlamentarischer Auseinandersetzungen. ({8}) Ich habe jedenfalls ausdrücklich die herzliche Bitte an die jüdischen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und nicht zuletzt auch an die Vertreter des Staates Israel: Nehmen Sie konstruktive Kritik an der Politik Ihres Landes bitte nicht übel, sondern ernst. ({9}) Missverstehen Sie deutliche Worte ausgewiesener, jahrzehntelanger Freunde Israels nicht als Abwendung von Ihrem Land oder gar als populistische Verirrung, sondern verstehen Sie sie als Ausdruck einer hellen Verzweiflung über manche Entwicklungen in Ihrem Land, die uns und Ihnen alles andere als gleichgültig sein können. ({10}) - Ich rechtfertige überhaupt nichts. So, wie Sie Ihre Position vortragen können und dies sicherlich tun werden, tue ich das auch für mich und unsere Fraktion. Im Bewusstsein unserer Geschichte und unserer Verantwortung wollen wir die historische Erinnerung an die NS-Diktatur und den Holocaust wach halten. Aber wir wollen und dürfen jüdisches Leben in Deutschland nicht auf Erinnerungskultur reduzieren. Die beiden wichtigen Entscheidungen des Deutschen Bundestags in dieser Legislaturperiode - die Entscheidung für den Bau eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas und die Entscheidung zur Übernahme des Jüdischen Museums Berlin in die Zuständigkeit des Bundes und damit in nationale Verantwortung - sind Zeugnis dieser Verpflichtung und zugleich Ausdruck der notwendigen Verbindung des einen mit dem anderen. Wir wollen wieder an die jahrhundertelange Tradition des Zusammenlebens in Toleranz und gegenseitigem Respekt, die es in Deutschland gegeben hat, anknüpfen. Deshalb begrüßen und fördern wir das Entstehen und Wachsen jüdischer Gemeinden als Ausdruck des Vertrauens in unsere Demokratie und als Bereicherung für unser Land. Wir wollen nicht nur eine Vertiefung des Dialogs, sondern insbesondere des christlich-jüdischen Dialogs der Religionen. Wir wünschen uns vor allem eine Vertiefung in der Alltagskultur, in der Begegnung und in der gelebten Gemeinsamkeit. Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde zum Schluss gern - wenn ich das noch darf - zitieren, was György Konrad, der Präsident der Berliner Akademie der Künste, Anfang dieses Jahres zur Eröffnung einer Berliner Holocaust-Ausstellung gesagt hat. Er hat sich mit der Schwierigkeit der Identifizierung mit einer Zeit und Ereignissen auseinander gesetzt, die inzwischen viele Jahrzehnte hinter uns liegen und dennoch in unser aller Bewusstsein wach geblieben sind. György Konrad hat gesagt: Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind wir weder Täter noch Opfer. Durch Blutsbande, Bekanntschaften oder kulturelle Bindungen aber gehen sie uns etwas an. Wir wissen von ihnen. ... Auf einer inneren Bühne sind sie anwesend, lassen sich nicht verscheuchen. Sie kommen. Ich weiß, dass diese Erinnerungen kommen. Ich will, dass sie bleiben. Aber noch wichtiger als die Erinnerungen müssen uns die Menschen sein. Deswegen wünsche ich mir, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger kommen, und ich hoffe, dass sie bleiben können. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Cem Özdemir.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Nach einer Studie des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt und der Uni Leipzig - sie ist jüngst veröffentlicht worden und betrifft den Zeitraum ab dem Jahr 1999 - haben in unserer Gesellschaft antisemitische und antiarabische, aber auch antiamerikanische Haltungen zugenommen. Der Aussage „Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Juden unangenehm sind“ beispielsweise wird immerhin von 36 Prozent der Bevölkerung unseres Landes zugestimmt. Das ist mehr als vor drei Jahren. Nur etwa 38 Prozent lehnen diese Position klar ab. Wenn wir uns diese Zahlen vor Augen führen, dann müssen wir zugeben, dass wir in unserer Gesellschaft ein Problem mit Antisemitismus haben. Angesichts dessen kann man sich nicht empören, wenn beispielsweise Herr Friedman davon spricht, dass ungefähr 20 Prozent in unserer Gesellschaft diese Haltung haben. Ich glaube, der erste Schritt zur Bekämpfung dieses Phänomens besteht darin, dass wir anerkennen, dass wir ein Problem haben. ({0}) Damit ist man noch nicht antideutsch. Damit ist man noch nicht in Gegnerschaft zur eigenen Bevölkerung. Damit denunziert man niemanden. Man erkennt lediglich an, dass man ein Problem hat. Das ist immer der erste Schritt zur Besserung. Der zweiten Aussage, nämlich „Die Juden sind schuld, dass wir so große Weltprobleme haben“, wird immerhin noch von einem Drittel der Befragten zugestimmt. Die Aussage schließlich „Deutschland den Deutschen“ wird von 44 Prozent positiv gesehen. Auch das ist deutlich mehr als vor drei Jahren. Ich will mit diesen Zahlen nicht sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland schlimmer ist als andere Staaten. Das wäre eine falsche Aussage. Wir wissen, dass es mit Antisemitismus nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern auch in vielen anderen Staaten, auch in vielen unserer Nachbarstaaten, Probleme gibt. Keine Gesellschaft, egal, welche Religionszugehörigkeit dominiert, ist völlig frei von Antisemitismus, ist frei von dieser Art von Einstellung. ({1}) - Warten Sie ab, Herr Kollege. Ich glaube schon, dass wir alle miteinander aufgefordert sind, gerade bei uns in besonders hohem Maße sensibel damit umzugehen. Diese Sensibilität ist notwendig. Wie bereits mein Vorredner gesagt hat, ist es für diese Gesellschaft eine gute Nachricht, wenn sich Juden, beispielsweise aus Osteuropa, entscheiden, in unsere Gesellschaft zu ziehen. Gleiches gilt für diejenigen, die Überlebende des Holocaust sind und sich nach 1945 entschieden haben, in diese Gesellschaft zu ziehen oder in dieser Gesellschaft zu bleiben. Insofern sollten wir uns über jeden freuen, der mit uns gemeinsam zu dieser Gesellschaft beitragen möchte und diese Gesellschaft als seine Gesellschaft betrachtet. ({2}) Alle Angriffe, die es gibt oder gegeben hat, beispielsweise im März dieses Jahres der Angriff auf die Synagoge in Kreuzberg, beispielsweise der Vorfall, bei dem zwei orthodoxe Juden auf dem Kudamm mit Schmährufen bedacht worden sind, oder der Vorfall, bei dem zwei Frauen, die den Davidstern trugen, angegriffen worden sind - wir haben es in der Presse gelesen -, sind nicht einfach nur Angriffe auf jüdische Bürger oder auf jüdisch-stämmige Menschen dieser Gesellschaft, sondern es sind Angriffe auf uns alle. ({3}) Es sind Angriffe auf mich als Menschen, der muslimischer Herkunft ist, auf meine Kolleginnen und Kollegen, die christlicher Herkunft sind, auf Atheisten, auf andere, die in dieser Gesellschaft leben. Nur wenn wir diese Angriffe so betrachten, wenn wir die Einschränkungen des Lebens von Juden in dieser Gesellschaft dadurch, dass sie sich mit Polizeischutz bewegen müssen, weil sie etwa Funktionäre der jüdischen Gemeinde sind, dass es, wenn sie ihre Kinder in jüdische Schulen schicken, mit besonderen Schutzmaßnahmen verbunden ist, als Einschränkungen unseres Lebens betrachten, haben wir den Antisemiten die Antwort gegeben, die wir ihnen geben müssen. ({4}) Einen Satz möchte ich noch sagen, bevor ich auf das angesprochene Thema Schlingensief zu sprechen komme. Auch ich bedauere es sehr, dass es nicht möglich war, einen gemeinsamen Antrag hinzubekommen. Der Kollege Edathy hat darauf hingewiesen, woran es lag; deshalb will ich da nicht noch einmal nachlegen. ({5}) - Sie können es nachher richtig stellen. Eine Kollegin von der FDP wird ja noch sprechen. Eines möchte ich für alle Fraktionen doch noch einmal deutlich sagen; das ist wichtig für die Außenwirkung, für den Zentralrat der Juden und für alle, die diese Debatte verfolgen können - es sind leider nur wenige -: ({6}) In diesem Parlament gibt es keine Fraktion, die in der Frage der Bekämpfung des Antisemtismus eine andere Meinung als die heute zu beschließende Meinung hätte. Hier sind sich alle einig. Das ist ein gutes Zeichen, auch wenn es uns nicht gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zustande zu bekommen. ({7}) - Sie kennen die Debatte. Wir brauchen das jetzt hier nicht alles zu wiederholen, Herr Kollege. Jetzt zu Schlingensief. Ich habe in Düsseldorf einen Gastauftritt in einer Inszenierung von Schlingensief gehabt, die zuvor in der Volksbühne in Berlin aufgeführt worden ist und mehrfach durch die Presse ging. Die Anfrage bezog sich darauf, dort mitzumachen. Dieses habe ich gemacht. Ich habe nicht, wie fälschlicherweise auf Seite 1 in der „Welt“ stand, in Düsseldorf an einer Aktion vor der Firma von Herrn Möllemann teilgenommen. Die „Welt“ hat das leider nur mit einem Satz korrigiert. An dieser Aktion war ich nicht beteiligt. Bei dem Theaterauftritt, an dem ich beteiligt war, sind keine Strohpuppen verbrannt und keine Plakate von demokratischen Parteien in Deutschland zerstört oder verbrannt worden. Ich lege Wert darauf, ausdrücklich festzustellen, dass ich an jener Aktion nicht beteiligt war. Zu dem Theaterauftritt, an dem ich beteiligt war, Herr Kollege, sind zwei Fragen gestellt worden. Meine Rolle bestand darin, die Antworten des Publikums per Mikrofon zu übertragen. ({8}) Dafür kann man mich kritisieren. Ich habe mich am Montag deutlich dazu geäußert. ({9}) Dann geben Sie mir doch die Chance, das zu tun. Ich habe am Montag eine Erklärung dazu abgegeben, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Alles was nach meinem Auftritt auf der Bühne geschah und was die Grenzen des guten Geschmacks verlassen hat, auch wenn es den Rahmen der künstlerischen Freiheit für sich in Anspruch nimmt - auch dieses ist falsch -, ({10}) habe ich klar kritisiert und verurteilt und ich habe mich davon in jeder erdenklichen Weise distanziert. ({11}) - Ohne jede Hintertür, Herr Kollege Gerhardt. Wenn Sie meine Erklärung, die Ihnen zugegangen ist, gelesen haben, wissen Sie, dass ich mich ohne jedes Wenn und Aber davon distanziert habe. Da muss man auch nicht versuchen, einen anderen Eindruck zu erwecken. ({12}) Sollte irgendjemand in diesem Hause das Gefühl haben, dass er oder sie in irgendeiner Weise in eine Ecke gerückt wurde, in die er oder sie ohne jeden Zweifel nicht gehört, dann möchte ich in aller Deutlichkeit sagen, dass das nicht meine Absicht war. Selbst wenn ich selber nicht daran beteiligt war, entschuldige ich mich dafür; denn mit der Teilnahme an der Veranstaltung - auch das räume ich ein - übernehme ich dafür Verantwortung. Ich bin bereit, mich bei jedem Einzelnen in diesem Haus zu entschuldigen, wenn es sein muss. Ich bin bereit, bei jedem Einzelnen von Ihnen Abbitte zu leisten. Eines, meine Damen und Herren, werde ich aber mit Sicherheit nicht machen: Ich werde garantiert Herrn Möllemann nicht den Gefallen tun, ihm zu ermöglichen, dass er, wie von ihm von Anfang an inszeniert, hier die Opferrolle übernehmen kann. ({13}) Das ist nicht mein Job, meine Damen und Herren. Das tragen Sie, bitte schön, nicht mit mir aus. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. ({0})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Mitglied des Führungsgremiums der FDP-Bundespartei und natürlich auch als jemand, dessen sehr klare Haltung in Fragen des Umgangs mit Deutschen jüdischen Glaubens auch von der FDP-Fraktion und der Bundespartei geteilt wird, spreche ich heute in dieser Debatte. Mit großer Sorge sehen die in Deutschland lebenden Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens, dass ein friedliches Nebeneinander der in Israel lebenden Menschen und der in den Autonomiegebieten lebenden Palästinenser in weiter Ferne liegt und sich die Schaffung eines demokratischen Palästinenserstaates neben einem Staat Israel in gesicherten Grenzen derzeit als Vision erweist. Umso wichtiger ist es, dass die Deutschen jüdischen Glaubens, die in den vergangenen Jahren in Deutschland ihre Heimat gefunden haben, sich sicher, geborgen und wohl fühlen können. Denn dieser Zusammenhalt der gesamten deutschen Gesellschaft ist vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte, der nationalsozialistischen Diktatur und des Holocaust, auch heute in Teilen unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich. ({0}) Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb von Anfang an die Überlegungen unterstützt, einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen zur Ächtung des Antisemitismus und zur Stärkung des Zusammenhalts in Deutschland zu formulieren, einzubringen und die Gemeinsamkeit aller Demokraten, die auch von Vorrednern hier im Hause nicht bestritten wurde, mit einem Beschluss, der mit überwältigender Mehrheit dieses Hauses zustande kommt, deutlich zu machen. ({1}) Umso mehr bedauern wir, die FDP-Bundestagsfraktion, dass diese Gemeinsamkeit hier, in diesem Hause, von Ihnen, Kolleginnen und Kollegen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, aufgekündigt worden ist ({2}) und dass die zurückliegenden Debatten in Deutschland über den Nahen Osten und über den Antisemitismus zum Anlass genommen wurden, die FDP-Bundestagsfraktion auszugrenzen. ({3}) Jetzt besteht die groteske Situation, dass SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf der einen Seite sowie FDP auf der anderen Seite zwei gleich lautende Anträge eingebracht haben. Es gibt keine Differenz in der inhaltlichen Auseinandersetzung ({4}) und in unserer Auffassung, mit Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland nicht nur zusammenzuleben, sondern auch alles zu tun, damit sie sich hier wohl fühlen. ({5}) Durch die aufgespaltene Einbringung dieses Antrags haben Sie in diesem Hause versucht, die FDP-Fraktion an den Pranger zu stellen und das Thema „Antisemitismus ächten“ zu instrumentalisieren. Die Auseinandersetzung über Ursachen des Antisemitismus, über antisemitisch motivierte Straftaten sowie über die Schändung von jüdischen Friedhöfen und Synagogen braucht die Gemeinsamkeit der Demokraten in Deutschland.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich sage Ihnen ganz klar und deutlich: Das, was in unserem Antrag steht, ist die Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion. ({0}) Sie finden hier keinen Einzigen, dem Sie diesen Vorwurf machen können. ({1}) Die Führungspersönlichkeiten der FDP, der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion und der Vorsitzende der Partei, haben dafür gesorgt ({2}) - er hat sich sehr klar geäußert -, dass die zu Recht zu kritisierenden Äußerungen, die aus der FDP gekommen sind, hier entsprechend gewertet worden sind.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Sie müssen mir jetzt mitteilen, ob Sie die Zwischenfrage der Kollegin Schmidt beantworten wollen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002780, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich nehme Ihnen das, was Sie gesagt haben, gerne ab. Ich darf aber aus Punkt 5 Ihres Antrags - Sie haben eben darauf hingewiesen, dass Ihr Antrag und der von Rot-Grün gleich lautend sind - zitieren: Der Deutsche Bundestag verurteilt alle Versuche, das antisemitische Argument, die Juden seien schuld am Antisemitismus, wieder aufleben zu lassen. Gibt es die Chance, dass die Mehrheit der Delegierten eines Parteitages der FDP diesem Satz überhaupt zustimmt? ({0})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Kollegin, wir haben diesen Satz nicht aus Ihrem Antrag abgeschrieben, ohne den Inhalt zu lesen. Wir haben ihn vielmehr ganz bewusst aufgenommen; denn er gibt das wieder, was wir in der Auseinandersetzung der letzten Wochen, die der FDP natürlich am meisten geschadet hat, immer wieder zum Ausdruck gebracht haben. Wir haben diese Form von Argumentation und Auseinandersetzung ganz deutlich verurteilt und uns von anderen Auffassungen distanziert. ({0}) Deshalb verstehe ich nicht, dass es hier, in diesem Haus, nicht möglich ist, gemeinsam mit der Fraktion der FDP einen Antrag zu beschließen, der genau diesen Satz enthält. ({1}) An den Zwischenrufen und an Ihren Bemerkungen erkenne ich: Leider erliegen manche der Versuchung, dieses Thema in einer Art und Weise zu instrumentalisieren, die seiner Bedeutung nicht gerecht wird. ({2}) Wir haben die Auseinandersetzung in allen Facetten geführt. Die Demokratie lebt von der kontroversen Auseinandersetzung. Ich sage auch ganz klar: Die Meinungsfreiheit hat Grenzen. Herr Özdemir, Sie sind darauf eingegangen: Immer dann, wenn zur Tötung eines Menschen konkret aufgerufen wird, ist jeder Bundestagsabgeordnete, der von diesem Aufruf gehört hat oder dabei war, gefordert, dagegen ganz klar Stellung zu beziehen. ({3}) Große liberale Demokraten, wie Theodor Heuss, Hildegard Hamm-Brücher, Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff, Burkhard Hirsch und Gerhart Baum - das sind nur einige -, haben in den vergangenen Jahrzehnten in der FDP in unterschiedlichen Funktionen gegen antisemitische Tendenzen und rassistische Strömungen in Deutschland gekämpft. Das setzen heute viele junge und ältere Liberale in Führungspositionen, zu denen ich gehöre, engagiert fort. Deshalb lassen wir uns nicht pauschal verunglimpfen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Fink.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist reicher geworden: 1989 waren 30 000 Juden in Deutschland, 2001 waren es 90 000 Juden. Reicher geworden sind wir heute durch Zuwanderung, vor allem aus Osteuropa. Jüdisches Leben hat erneut zu pulsieren begonnen wie in den 20erJahren des vergangenen Jahrhunderts. Es gibt wieder jüdisches Theater. Es gibt wieder Diskussionen in Deutschland über die entsprechende jüdische Tradition. Aber von 1989 bis 2001 registrierten wir auch 3 473 Straftaten, die antisemitische Motive hatten. Günter Gaus meint: Es ist eine sich verbreitende Überzeugung einer arglosen Grenznähe zum gewöhnlichen Antisemitismus. Es ist wichtig und richtig, antisemitische Straftaten zu verhindern und, wo sie doch geschehen, die Täter zu ergreifen und zu bestrafen. Das ist die Pflicht eines Rechtsstaates. Aber was geschieht auf der Ebene der kulturellen Auseinandersetzungen? Was geschieht in der arglosen Grenznähe zum Antisemitismus? Gäbe es eine PISA-Studie über den Wissensstand von Erwachsenen in Sachen Geschichte der Juden in Deutschland, wie wäre wohl das Ergebnis? ({0}) Kann man erwarten, dass deutsche Bürgerinnen und Bürger wissen, dass bereits Könige und Fürsten und auch die christlichen Kirchen beider Konfessionen offen oder latent Antisemitismus vertraten oder Antijudaismus gepredigt haben? Natürlich haben auch die deutschen Universitäten dazu beigetragen. Als Heinrich von Treitschke 1886 seine große Vorlesung über Europa gehalten hat, überlegte er, wie Deutschland in Europa führend werden könne, und er befürchtete: Überall, wo wir Deutschen hinkommen, sind bereits die Juden; die Juden sind unser Unglück. Die Auseinandersetzung wird auch heute geführt, unter anderem in der Wissenschaft. Ich bin sehr froh, dass man jetzt in Deutschland an 36 Universitäten Judaismus oder jüdische Wissenschaften studieren kann. Das ist ein unwahrscheinlicher Fortschritt, den wir nicht von der Hand weisen können. Aber die Auseinandersetzung mit der immer noch in den Arierparagraphen, der Ariergesetzgebung Hitlers, wurzelnden Überzeugung kann nicht nur mit kostenloser Zivilcourage überwunden werden. Um die gefährliche Mischung von Falschwissen und Unwissen überhaupt bewusst zu machen, bedarf es sorgfältiger Auseinandersetzung. Diese sorgfältige Auseinandersetzung muss uns etwas kosten. Denn Antisemitismus deckt einen tief greifenden Mangel an Kenntnis und demokratischer Überzeugung auf. Die Aufklärung über den Antisemitismus ist ein Kampf wider die Dummheit. Wir brauchen heute eine zweite Aufklärung. Diese zweite Aufklärung gibt uns die Gelegenheit, gerade auch in diesem Parlament darüber zu diskutieren. Was aber, wenn zum Beispiel Schulklassen den Theaterbesuch von Hochhuths „Stellvertreter“ nicht mehr bezahlen können? Was aber, wenn ein jüdischer Kulturverein in Berlin bald seine Existenz aufkündigen muss, weil er nicht mehr finanziell unterstützt wird? Liebe Freunde, ich glaube schon, dass gerade in dieser Auseinandersetzung auch ein Stück Ohnmacht deutlich wird. Dieser Ohnmacht sollten wir uns erst einmal stellen und erklären, dass wir alle immer noch unsere Probleme mit dieser Geschichte haben und diesen Reichtum, der zu uns kommt, eigentlich nicht annehmen. Ich betone noch einmal: Deutschland ist reicher an jüdischer Kultur geworden, auch an Klezmer, an jiddischer Sprache und jiddischem Theater. Sind wir bereit, diese neue Chance für ein Nachdenken über uns selbst, diese Herausforderung anzunehmen? Ich hoffe für unsere Kinder und Enkelkinder im Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Deutschland auf eine neue Zukunft ohne Furcht vor neuerlichem Antisemitismus. Vielen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Manchmal ist es nötig, dass Parlament und Regierung Selbstverständliches artikulieren. Dieser Zeitpunkt ist angesichts der Antisemitismusdebatte dieser Wochen gekommen. Nun weiß ich sehr wohl um die lange Vorgeschichte der Anträge, über die wir heute reden. Vor fast zwei Jahren ging es um eine klare Verurteilung antisemitischer Anschläge. Inzwischen aber entzündet sich der Disput an aktuellen Äußerungen, die der Zentralrat der Juden als schlimmste Beleidigung der jüdischen Gemeinschaft seit 1945 wertet. Es geht um die Unfähigkeit oder auch den geplanten Unwillen mancher prominenter Politiker - Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich weiß nicht, warum Sie das nicht richtig auffassen können -, die notwendige Trennschärfe zwischen legitimer Kritik am Vorgehen der palästinensischen wie auch der israelischen Seite im Nahostkonflikt einerseits und boshaften Äußerungen über bei uns lebende jüdische Bürger andererseits beizubehalten, und um das Interesse dieser Politiker, das daraus entstehende dumpfe Gebräu zum Stimmenfang zu nutzen. Diese Vermischung verlangt die klare Ablehnung des Parlaments. ({0}) Ich glaube schon, dass unsere Demokratie gefestigt ist. Aber es ist und bleibt gefährlich, auf der Tastatur antisemitischer Gefühle zu spielen. Unsere Geschichte legt uns eine dauerhafte Verantwortung auf, uns mit allen Kräften dagegen aufzulehnen. Der Abgrund, in den dieser Wahn geführt hat, war zu tief und zu erschreckend, um nach der so genannten Normalität zu rufen. ({1}) Die Statistik für das Jahr 2001 ist einschlägig: Sie zeigt insgesamt über 1 600 antisemitische Straftaten, darunter 24 Fälle von Körperverletzung, über 1 000 Fälle von Volksverhetzung und fast 300 Propagandadelikte sowie 24 Fälle von Störung der Totenruhe, also Schändungen von Grabmalen auf jüdischen Friedhöfen. Ist das „Normalität“? Nach fundierten Forschungsergebnissen gibt es bei 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung einen latenten Antisemitismus; manche Wissenschaftler sprechen sogar von einer steigenden Tendenz. Jeder Versuch, diese Ressentiments anzuheizen, ist einfach verabscheuungswürdig. ({2}) Man hört dieser Tage wohlfeile Sprüche. Einer endet meist mit Floskeln wie „Das muss man doch auch mal sagen dürfen“. ({3}) Es ist für uns in Deutschland schwierig und erfordert viel Sachverstand und Fingerspitzengefühl, etwa den Nahostkonflikt zu kommentieren und dabei die Kritik auszubalancieren. Unser Außenminister Joschka Fischer kann das. Er kennt die Stimmungslage vor Ort und genießt mit vollem Recht den Respekt beider Seiten. ({4}) Andere zerstören leider mit verantwortungslosen Formulierungen mühsam aufgebautes Vertrauen, übrigens bei Juden und Muslimen. Es gibt keine jüdische Gemeinschaft in Europa, die derzeit so schnell wie die in Deutschland wächst; inzwischen sind es 95 000 Menschen. Jüdisches Leben fängt überhaupt wieder an, sich zu entfalten. Synagogen werden neu gegründet, Fernsehspiele zeigen auch schon mal Familienfeste nach jüdischem Brauch. Wir bekommen erstmals seit Jahrzehnten die Chance, all das kennen zu lernen. Darüber muss man doch einfach heilfroh sein! ({5}) Klar, die Zuwanderung, vor allem aus Osteuropa, klappt nicht immer reibungslos. Deswegen unterstützt die Bundesregierung die jüdischen Gemeinden bei dieser harten Integrationsarbeit. Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wird seit Jahrzehnten gefördert, aber auch Projekte wie der interreligiöse Dialog, die Hochschule für jüdische Studien, das Leo-BaeckInstitut oder kulturpolitische Initiativen. Selbstverständlich und leider auch nötig ist es, dass unsere zusätzlichen Programme gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Entimon, XENOS und Civitas, die Bekämpfung des Antisemitismus einschließen. Übrigens gibt es in letzter Zeit noch einen anderen Satz, den wir nicht durchgehen lassen dürfen. Er heißt etwa so: „Der oder die legt es aber auch darauf an, dass man zum Antisemiten wird.“ Was heißt das eigentlich? Müsste sich der ebenso unbarmherzige wie brillante Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki seine manchmal ätzenden Kommentare verkneifen, weil er Jude ist? Das wäre doch schrecklich. ({6}) Oder ärgern sich Michel Friedmans Talkshowgäste über provozierende Fragen und seine häufigen Unterbrechungen, weil er Jude ist? Kein jüdischer Bürger in unserem Land will in philosemitische Watte gepackt werden. Aber wenn wir - nach dem Motto: Wir haben ja eigentlich nichts gegen die Juden, aber sie sollen doch bitte leise und hübsch bescheiden sein - wieder anfangen, ethnische und religiöse Zugehörigkeit zum Maßstab für Verhalten und Auftreten sowie zum Maßstab für unsere Toleranz zu machen, dann ist Gefahr im Verzuge. ({7}) Antisemitismus auf das Gebaren jüdischer Gesprächspartner zurückzuführen markiert den Weg in den Rassismus. ({8}) Antisemitismus - ich muss es noch einmal sagen kann man nicht rechtfertigen oder begründen; man kann ihn nur verurteilen. ({9}) Das haben wir in der Aktuellen Stunde vor 14 Tagen getan. Wir tun es heute noch einmal mit aller Klarheit. Das ist richtig und leider auch nötig. Danke schön. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe da- mit die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- schusses auf Drucksache 14/9480. Der Ausschuss emp- fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- nen auf Drucksache 14/9226 mit dem Titel „Antisemi- tismus ächten - Zusammenhalt in Deutschland stärken“ in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Enthaltung von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4245 mit dem Titel „Jüdi- sches Leben in Deutschland“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung von FDP und PDS angenommen worden. Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9480 die Ablehnung des Antrages der Fraktion der FDP auf Druck- sache 14/9261 mit dem Titel „Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in Deutschland stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und einer Stimme aus der PDS gegen die Stimmen der FDP und einige Stimmen aus der CDU/CSU bei Enthaltung der meisten Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion und einer Stimme von Bündnis 90/ Die Grünen sowie der meisten Stimmen der PDS ange- nommen worden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich rufe die Ta- gesordnungspunkte 11 a bis 11 c sowie den Zusatztages- ordnungspunkt 12 auf: 11. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Matthias Wissmann, Dr. Peter Paziorek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Der Energiebericht des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie und seine Bedeu- tung für ein Energiekonzept der Bundesregie- rung - Drucksachen 14/7854, 14/9171 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, JochenKonrad Fromme, Reinhard Freiherr von Schorlemer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Ausgleich für die nuklearen Entsorgungsstandorte Gorleben und Salzgitter ({1}) in Niedersachsen und Morsleben in Sachsen-Anhalt - Drucksachen 14/7786, 14/8708 - Berichterstattung: Abgeordnete Horst Kubatschka Winfried Hermann Birgit Homburger c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Hans-Josef Fell, Dr. Angelika Köster-Loßack, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Deutsche Exportinitiative - Erneuerbare Energien - Drucksachen 14/8278, 14/9120 Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Hempelmann ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten KurtDieter Grill, Matthias Wissmann, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Mehr Chancen für den Export und die Forschungs- und Entwicklungszusammenarbeit durch marktwirtschaftliche Ansätze bei den erneuerbaren Energien - Drucksache 14/9539 Zur Großen Anfrage liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktion der CDU/CSU sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Rolf Hempelmann.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich darf mich zunächst einmal - als Einstieg ist das vielleicht etwas ungewöhnlich - bei meinen Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion bedanken. Sie sind dafür verantwortlich, dass dieser Punkt auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Das gibt uns, das gibt mir Gelegenheit, etwas zur energiepolitischen Bilanz dieser rot-grünen Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen in den letzten vier Jahren zu sagen. ({0}) Zu einer guten Bilanz gehört natürlich auch, dass man den Ausgangspunkt ein bisschen klar macht. Wie sah das 1998 aus? Jeder weiß: In den Jahren zuvor wurde der europäische Binnenmarkt für leitungsgebundene Energien liberalisiert. Dazu wurden europäische Richtlinien erlassen, die dann hier in Deutschland und natürlich auch in anderen Mitgliedstaaten der Union in nationales Recht umgesetzt wurden. Das Ergebnis war: Entgegen dem Jubel, der allseits stattfand, herrschten weiterhin ungleiche Wettbewerbsbedingungen. Es gab weiterhin geschützte Monopole in Südeuropa - insbesondere in Frankreich und Staatsunternehmen, die frei agieren konnten, und zwar nicht nur auf ihren eigenen Märkten, sondern zum Beispiel auch auf dem deutschen Markt. Die 60-prozentige Beteiligung der EDF, also des französischen Staatsmonopolisten, an der EnBW ist, glaube ich, ein beredtes Beispiel. Ganz anders sieht die Energiebilanz dieser Bundesregierung aus. Das 100 000-Dächer-Photovoltaik-Programm beispielsweise ({1}) - Herr Grill freut sich einerseits heute noch, dass wir es gemacht haben; andererseits ärgert er sich, dass er nichts auf sein eigenes Dach geschnallt hat ({2}) hat einen erheblichen Beitrag zum Klimaschutz in unserem Lande geleistet und geholfen, 20 000 Arbeitsplätze zu schaffen. ({3}) Ich denke, das ist auch der Grund für die eben hier artikulierte Freude. Darüber hinaus - das ist ja unumstritten, sonst wäre der Protest hier ganz anders - haben wir durch unser Markteinführungsprogramm für erneuerbare Energien und insbesondere durch unser EEG, also das ErneuerbareEnergien-Gesetz, endlich dafür gesorgt, dass ein großer und größer werdender Anteil unserer Stromerzeugung durch erneuerbare Energien abgedeckt wird. Das ist gut so. Daran werden wir weiter arbeiten. ({4}) - Ich glaube, es ist eher Ihr Spezialgebiet, Reiche noch reicher zu machen - ob mit oder ohne Koffer, sei dahingestellt -; da sind wir ja eher Waisenknaben. ({5}) - Ich freue mich über Ihre Begeisterung. Auf jeden Fall haben wir damit über 100 000 zusätzliche Arbeitsplätze in unserem Lande geschaffen. Ich denke, darauf können wir stolz sein. Das ist der richtige Weg. Diesen Weg werden wir fortsetzen. ({6}) Meine Damen und Herren, es liegt ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion - abgeschrieben von einem Antrag von Rot-Grün und ein bisschen variiert - zu einer deutschen Exportinitiative für erneuerbare Energien vor. Das, was wir vorgelegt haben, findet übrigens breites Lob in der Öffentlichkeit, ({7}) unter anderem vom VDMA, also vom Verband der Deutschen Maschinen- und Anlagenbauer. ({8}) Wenn ich das richtig sehe, haben nicht alle dort ein rotes oder grünes Parteibuch. Insofern ist das eine ganz neutrale Instanz. ({9}) Von daher freuen wir uns darüber. Diese sind ganz offensichtlich der Auffassung, dass Ihr Antrag entweder überflüssig ist oder zu spät kommt. Im Allgemeinen sagt man ja: Besser spät als nie. Sie hätten aber auch einfach sagen können: Toll, was die Roten und Grünen gemacht haben. Wir stimmen dem zu. - Dazu konnten Sie sich jedoch nicht überwinden. Vielleicht kommt das ja noch. Energieeinsparverordnung und CO2-Minderungsprogramm sind die nächsten Stichworte. Wir haben mit unseren Gesetzesbeschlüssen dafür gesorgt, dass man bei Neubauten in Zukunft mit 30 Prozent weniger Energie auskommen wird. Das Niedrigenergiehaus wird sozusagen Standard. Auch für den Altbestand haben wir einiges getan. Die von uns aufgelegten Programme sorgen dafür, dass über entsprechende Wohnraummodernisierung CO2Einsparungen und Energie- und Ressourcenschonung stattfinden. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt zu einem Punkt, der uns sehr viel Beifall in der Bevölkerung und sehr viel Zustimmung in der Wirtschaft gebracht hat. ({11}) - Sie merken, ich baue Spannung auf; der Herr Obermeier denkt schon, was kommt jetzt. ({12}) - Das wäre auch eine gute Variante. Ein Punkt, bei dem die CDU/CSU-Fraktion und einige Abgeordnete der FDP-Fraktion glauben, sie könnten die Schlachten von gestern schlagen, ist der Ausstieg aus der risikobehafteten Kernenergie. Wie gesagt: positiver Widerhall in Bevölkerung und Wirtschaft. Sie kündigen nicht nur in den Ausschüssen des Bundestages, sondern auch in der Enquete-Kommission an, dass Sie, wenn Sie an die Regierung kommen sollten - man kann auch einmal über solche theoretischen Szenarien sprechen -, ({13}) den Weg zurück in Richtung Atomenergie suchen wollen. Sie müssen jedoch lange suchen, denn ihn will keiner mehr mitgehen, schon gar nicht die Wirtschaft. ({14}) Der Präsident des Umweltbundesamtes - immerhin ein CDU-Mitglied; hier sollten Sie vielleicht einmal zuhören - sagt, dass das, was Sie vorhaben, ein Szenario ohne Zukunft ist. ({15}) Sie sollten darüber noch einmal mit Ihrem Kanzlerkandidaten reden. Vielleicht ist er doch noch zu überreden, sein Kompetenzteam sozusagen auf Zukunft zu programmieren. ({16}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch auf anderen Feldern hat diese Bundesregierung Erfolge zu verbuchen. Zum Beispiel - das können wir hier ja einmal festhalten; wir haben ja auch besondere Freunde der Steinkohle hier an Bord ({17}) ist es in den letzten Wochen gelungen, in Brüssel dafür zu sorgen, dass das, was Sie 1997 mit der deutschen Steinkohleindustrie vertraglich vereinbart haben, bis 2005 auch tatsächlich umgesetzt werden kann. Sie wissen, dass die Rechtsgrundlage der EGKS Mitte dieses Jahres entfällt. ({18}) Diese Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass die Verträge, die Sie gemacht haben, eingehalten werden. Darüber sollten Sie sich freuen, denn ansonsten hätten Sie sozusagen öffentlich dafür in Haftung genommen werden können. ({19}) Des Weiteren ist dafür gesorgt, dass der deutsche Steinkohlebergbau bis 2010 und darüber hinaus eine Perspektive hat. Sie müssen sich einigen, was Sie wollen, ob Ihr Peter Müller Recht hat, der durch die Lande reist und sagt, wir wollen sofort aus der Kohlesubvention heraus, oder ob diejenigen Recht haben, die den Antrag, den Sie heute vorgelegt haben, unterschrieben haben und sagen, sie wollen die weitere Förderung der deutschen Kohletechnologie. Wer die Kohletechnologie in Deutschland fördern will, der muss erst einmal dafür sorgen, dass in Deutschland Kohle gefördert wird. ({20}) Wenn wir keine Kohlebasis in Deutschland haben, wenn die deutsche Kohletechnologie keinen Markt in Deutschland hat, dann wird sie auch keine Absatzchancen im Ausland haben. Ihr redet immer davon, dass wir den Transrapid nur verkaufen können, wenn wir ihn in Deutschland anwenden. Das Gleiche gilt für die Kohle. Wir müssen die Kohle in Deutschland fördern und entsprechende Technologien hier anwenden, dann können wir sie im Ausland verkaufen. ({21}) In diesem Punkt muss man schon konsequent bleiben. Auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, eingerichtet vor zweieinhalb Jahren - ich gebe zu, auf Wunsch der Opposition -, hat jedenfalls in Teilen gute Arbeit geleistet. Rot-Grün hat, wie ich finde, ein gutes Konzept für die Zukunft vorgelegt. Wir sind nicht den Weg zurück in die Vergangenheit gegangen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Hempelmann, Sie haben Ihre Redezeit bereits weit überschritten.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Ich bin ganz sicher, die Bundesregierung wird in der nächsten Legislaturperiode unsere Vorschläge aufgreifen und sie in ein Energiekonzept der Zukunft einarbeiten. Ich freue mich über Ihre Begeisterung und über die nachfolgenden Reden. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Kurt-Dieter Grill für die Fraktion der CDU/CSU.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Hempelmann, wer Ihrer Rede gelauscht hat, ({0}) der weiß, dass hier jemand geredet hat, der gar nicht weiß, was auf der Tagesordnung steht. Es geht nämlich um die Beratung der Großen Anfrage zum Energiebericht des Bundeswirtschaftsministers. ({1}) Man könnte ja der Meinung sein, dass bezüglich der von Hempelmann vorgetragenen Erleuchtung der alte Bergmannspruch gilt: „Vor der Hacke ist es duster.“ ({2}) Licht in die Energiepolitik hat es jedenfalls nicht gebracht. ({3}) Der Kollege Hempelmann hat sich über die Monopole in Südeuropa beschwert. Dazu muss ich sagen: Vielleicht sollten wir die Bundesregierung einmal fragen, warum sie eigentlich die Nichtöffnung der französischen und spanischen Energiemärkte akzeptiert hat, als über die Öffnung der Binnenmärkte in Europa diskutiert wurde. ({4}) Hat das vielleicht doch etwas mit der Steinkohle zu tun? Wer sich über die Beteiligung von EDF an EnBW so wie Sie auslässt, der sollte noch andere Fragen beantworten, die ebenfalls im Energiebericht des Bundeswirtschaftsministers enthalten sind. Innerhalb der Gesetzgebung ist der Wettbewerb nicht die Stärke der Regierung. ({5}) Wenn man sich einmal die Bilanz der Bundesregierung anschaut, so wie sie Rolf Hempelmann vorgetragen hat, dann kommt man zu der Feststellung, dass sie aus 100 000 Solardächern und aus der Kohle besteht und dazwischen gar nichts. ({6}) Genau genommen, gibt es eigentlich gar keine Bilanz der Bundesregierung in Bezug auf die Energie, weil der Bericht des Bundeswirtschaftsministers nicht der Bericht der Bundesregierung ist. ({7}) Ein Bundeswirtschaftsminister, der in den Hinterzimmern mit der Wirtschaft darüber spricht, wie verfehlt die Subventionspolitik dieser Bundesregierung ist, ({8}) der sich darüber aufregt, dass das EEG vollkommen falsch ist, dass die KWK-Prämie eine Schrottprämie ist und dass die Arbeitsplätze in der Windenergie mittlerweile mit 170 000 Euro subventioniert werden, kann in seinem Energiebericht keine Perspektive für die deutsche Energiepolitik aufzeigen. ({9}) In der Antwort tritt klar zutage, dass diese Bundesregierung nicht hinter dem Bundeswirtschaftsminister und seinem Energiebericht steht. ({10}) Diese Bundesregierung hat keine Perspektive für die deutsche Energiepolitik aufgezeigt. ({11}) - Es ist aber so. Frau Kastner, Sie sind nach dreieinhalb Jahren, also am Ende Ihrer Regierungszeit, nicht in der Lage, ein Energieprogramm bis zum Jahre 2020 vorzulegen. Es liegt uns nur ein Bericht vor, in dem Ihre Fehler beschrieben werden. Aber Sie haben kein Energieprogramm vorgelegt, in dem Perspektiven bis zum Jahr 2020 enthalten sind. Das ist die Realität. ({12}) Die beschworene Energiewende, die heute Mittag gerade wieder eine Rolle gespielt hat, findet nicht statt. Wo denn auch? Der Energiebericht zeigt sie nicht auf. ({13}) - Im Vergleich zu Ihnen könnte ich selbst als Blinder noch sehen, Frau Ganseforth. ({14}) Die beschworene Energiewende wird nicht beschrieben. Ich könnte Ihnen jetzt haufenweise Zitate anführen, in denen der Bundeskanzler davon spricht, dass es noch lange dauern wird, bis sich die Solarenergie durchsetzt, und dass erst einmal Großkraftwerke auf Steinkohle- und Braunkohlebasis gebaut werden müssen. Auch der Bundeswirtschaftsminister spricht davon. Aber für die Energieforschung in Sachen Kohlekraftwerke hat er nichts getan. Ich könnte Ihnen anhand des Vattenfall-Kongresses, einer Veranstaltung von Daimler-Chrysler im November 2000 und einiger anderer Veranstaltungen konsequent nachweisen, dass die Perspektive der Bundesregierung bedeutet - ich spreche nicht darüber, was manche in diesem Hause dazu gesagt haben -: ({15}) Die Nutzung der Kernenergie wird beendet und an die Stelle von Kernkraft werden Kohlekraftwerke gesetzt. Um es klipp und klar zu sagen: Die Bundesregierung hat das Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren, aus ihrer Klimapolitik bzw. ihrer Nachhaltigkeitsstrategie gestrichen, weil sie Kohlekraftwerke bauen will. Selbst wenn sie die modernsten baut, bedeutet das im Vergleich zur Nutzung der Kernenergie eine Erhöhung des CO2-Ausstoßes. ({16}) Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage macht auch deutlich, dass die eigentliche Schwierigkeit gar nicht darin besteht, das eine oder andere, zum Beispiel das 100 000-Dächer-Programm hier oder das KWK-Gesetz dort, zu beschreiben, sondern darin, dass SPD und Bündnis 90/Die Grünen nicht in der Lage sind, an den entscheidenden Stellen einen Konsens zu finden. ({17}) Wir haben das in der Enquete-Kommission erlebt. In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU zur Energiepolitik hat die Bundesregierung Ziele formuliert: Die Energiepolitik soll staatsfrei und subventionsfrei sein und auf Wettbewerb beruhen. Dazu muss ich sagen: Erstens. Die Subventionen steigen und fallen nicht; geschweige denn, dass Sie eine subventionsfreie Energiepolitik machen. Zweitens. Es gibt immer weniger Wettbewerb, weil es immer mehr Staat gibt. Drittens. Sie reden einer Energiepolitik das Wort, in der im Grunde genommen von unten nach oben verteilt wird. An diesem Pult hat der Kollege Jung bei der Behandlung des KWK-Gesetzes offen und deutlich gesagt: Wir begrenzen die Belastung der energieintensiven Industrie, indem das Netznutzungsentgelt höchstens um 0,05 Cent pro Kilowattstunde erhöht werden darf, und legen das, was die Großen nicht bezahlen, auf den Mittelstand und die Tarifkunden um. - Sie betreiben mit der Energiepolitik soziale Ungerechtigkeit und belasten den Mittelstand ein weiteres Mal. ({18}) Wir sprechen über die Energiepolitik der Bundesregierung. Wenn man in der Antwort der Bundesregierung nachsehen will, welche Ziele die Bundesregierung für das Jahr 2020 nachprüfbar, also anhand von Fakten, formuliert hat, dann stellt man fest: Fehlanzeige! ({19}) Wenn man nachsehen will, wie die Klimaziele für 2020 aussehen, dann finden sich zwar viele Ausreden, warum es keine gibt. Aber es finden sich keine klaren Formulierungen. ({20}) Sie haben nicht aufgezeigt, wie das Ziel einer Verminderung des CO2-Ausstoßes um 40 Prozent erreicht werden kann. Ich füge hinzu: Der Bundeskanzler und der Bundeswirtschaftsminister propagieren Kohlekraftwerke auf Braunkohle- und Steinkohlebasis. Lieber Rolf Hempelmann, ich habe mir noch einmal das Protokoll der Enquete-Kommission und den Beschlussvorschlag von Herrn Wodopia durchgelesen. ({21}) Es waren die Vertreter von Rot-Grün, die den Vorschlag von Herrn Wodopia hinsichtlich der deutschen Steinkohle mit einem klaren Nein niedergestimmt haben. ({22}) Ihr seid die Letzten, die davon sprechen können, dass die Kohlepolitik der CDU/CSU fragwürdig sei. Nun möchte ich über die Dinge sprechen, die in den letzten Tagen und Wochen eine entscheidende Rolle gespielt haben. Da gibt es erstens ein paar Leute wie die Kollegin Hustedt, die durch das Land ziehen und die These verbreiten - ich habe Ihnen das bereits öffentlich gesagt -, es gebe bei der CDU/CSU und der FDP einen politischen Beschluss, 50 neue Kernkraftwerke zu bauen. ({23}) Das ist gelogen. Sie wissen ganz genau, dass die CDU/ CSU an keiner Stelle, weder in der Enquete-Kommission noch in anderen energiepolitischen Programmen, die ich geschrieben habe, auch nur in einem Satz darauf verwiesen hat, dass sie für den Bau von 50 bis 70 Kernkraftwerken sei. ({24}) Sie brauchen diesen Popanz für den Wahlkampf und für nichts anderes. Denn Sie bekommen Ihre Leute nicht mehr in Schwung. Frau Hustedt, ich fordere Sie an dieser Stelle auf, ({25}) diese Behauptungen zurückzunehmen und sich dafür zu entschuldigen. Sie machen Wahlkampf mit Lügen; das ist das Faktum. ({26}) - Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun? Herr Kubatschka, Sie müssen blind sein, wenn Sie nicht lesen können! ({27}) Ich sage Ihnen ein Zweites: Draußen erklären Sie, die CDU/CSU würde bei einem Regierungswechsel das EEG abschaffen und die erneuerbaren Energien nicht mehr finanzieren. Auch das ist falsch. Sie machen draußen mit Angst Politik. Wir werden das EEG verändern, aber wir werden es nicht abschaffen. Unter einer Regierung von CDU und CSU wird es auch eine Förderung der erneuerbaren Energien geben, aber eine wettbewerbsorientierte Politik und nicht eine Subventionspolitik, wie Sie sie fortgeschrieben haben. ({28}) Im Übrigen, meine Damen und Herren, will ich noch zu drei Anträgen etwas sagen. Erstens. Der Antrag der CDU/CSU zu der Frage der Exportförderung von erneuerbaren Energien hat die Zustimmung all derjenigen, die davon leben, unter anderem zum Beispiel des Solarforschungsverbundes. Das, was im Antrag von Rot-Grün steht, bringt viel Bürokratie in Deutschland und wenig Hilfen für den Export erneuerbarer Energien in Entwicklungsländern mit sich. Wir haben in diesem Hause deutlich gemacht, dass der Antrag des Kollegen Schuster aus dem Entwicklungshilfeausschuss, der von den Interessen der Entwicklungsländer her denkt, durchaus mit uns verhandelbar gewesen wäre. Aber das, worüber wir heute entscheiden sollen, ist ein schlechter Antrag, der mit viel Bürokratie in Deutschland verbunden ist, ohne für die Entwicklungsländer etwas zu bringen. ({29}) Zweitens. Bei der Initiative für Advanced Global Technology geht es darum, dass wir in Deutschland aufpassen müssen, dass in der Kohletechnologie kein Fadenriss entsteht; denn die Materialien der Kohlekraftwerke der Zukunft sowie deren Effizienzziele müssen noch einmal auf den Prüfstand. Wir brauchen sowohl im Interesse der deutschen Braunkohle als auch im Interesse der deutschen Steinkohle, aber auch der internationalen Kohlepolitik eine solche Forschung. Wir sind gespannt, wie Sie mit diesem Antrag umgehen werden. Ein Letztes, meine Damen und Herren: Ich sehe, dass meine Kollegen gar nicht mehr hier sind, weil sie der Antrag überhaupt nicht interessiert. Dass Sie heute mit der Begründung, Niedersachsen habe keinen Antrag gestellt, einen Lastenausgleich für die Entsorgungsstandorte in Niedersachsen verweigern, ist eine Unverschämtheit. ({30}) Unter der Regierung Helmut Kohl und unter der Regierung Ernst Albrecht hat es einen Lastenausgleich für die Standorte gegeben, die die Last der nationalen Entsorgung getragen haben. ({31}) Sie nehmen Ihre Verantwortung nicht wahr. Sie haben 1998 den Bürgerinnen und Bürgern in Niedersachsen und auch in meinem Wahlkreis erklärt, wenn Sie an die Regierung kommen, hören die Transporte auf, wird in Gorleben alles eingerissen. Sie haben das Endlager genutzt und haben sich bis heute bei den Menschen in LüchowDannenberg dafür nicht einmal entschuldigt. Herr Trittin hat hinter dem Stacheldrahtzaun mit Journalisten diskutiert, aber nicht mit Bürgern. Sie sind den Menschen in LüchowDannenberg sozusagen eine Entschuldigung schuldig, weil Sie sie belogen haben, meine Damen und Herren! ({32}) Das ist die Wahrheit. Sie werden am 22. September zu spüren bekommen, dass Sie sich noch nicht einmal entschuldigt haben und im Gegensatz zu allen Ministern der CDU/CSU und der SPD das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern verweigert haben. Heute verweigern Sie die Hilfe. Wir werden das zur Kenntnis nehmen. Herzlichen Dank. ({33})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt die Kollegin Michaele Hustedt für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe es erwartet. Jetzt kommt wieder die alte Leier: Die Bundesregierung hat kein Energieprogramm. ({0}) Richtig ist: Wir haben kein Papier zur Abstimmung gestellt. ({1}) Das hatten Sie in den letzten zwei Legislaturperioden, in denen Sie an der Regierung waren, auch nicht. Wir haben kein Energieprogramm; das heißt aber nicht, dass wir kein Energiekonzept hätten. Im Gegenteil, wir haben die Taten sprechen lassen. Und davon möchte ich einige aufzählen. ({2}) Mit der Ökosteuer haben wir eine ökologische Finanzreform begonnen, die bereits erste Wirkungen zeigt. ({3}) Wir haben einen Konsens mit der Energiewirtschaft über den Atomausstieg erreicht. In 20 Jahren geht das letzte AKW vom Netz - weltweit der schnellste Ausstieg, den es gibt. Durch das EEG und diverse Förderprogramme haben wir einen Boom bei der Gewinnung von Energie aus Sonne, Wind und Biomasse. Wir sind das Innovationsland Nummer eins durch unsere Förderungen geworden. ({4}) Durch die KWK-Gesetzgebung haben wir inzwischen eine Investitionsbereitschaft in der Größenordnung von einem AKW; so wird es weitergehen. Auch das KWK-Bonus-Gesetz zeigt seine Wirkung. Wir haben den Grundstein für den Marktdurchbruch der Brennstoffzelle gelegt und die Mittel für die Altbausanierung verzehnfacht - Herr Grill, hören Sie einmal zu, das ist ein Hobbyprojekt Ihres Kollegen Lippold -, und zwar trotz des Sparhaushalts. Wir haben eine Energieeinsparverordnung, ({5}) die den Niedrigenergiehausstandard festschreibt, und den Energiepass als neues marktwirtschaftliches Instrument auf den Weg gebracht. Wir haben die Erdgas- und die Biotreibstoffe von der Steuer befreit und in der Forschungspolitik, auf die sich einer Ihrer Anträge bezieht, mehr erreicht als Sie. So haben wir zum Beispiel die Mittel für die nicht nukleare Forschung in der Energiewirtschaft von 117 Millionen Euro auf 148 Millionen Euro - ich wiederhole: 148 Millionen Euro - erhöht. Wir haben also gegenüber Ihren Vorschlägen, was in der Energieforschung getan werden sollte, deutlich aufgestockt. ({6}) Sie haben die Subventionen angesprochen. Ich weiß nicht, ob Sie die Haushaltszahlen des Wirtschaftsministeriums kennen. Der Etat sinkt um 10 Prozent. Warum? Herr Grill, können Sie mir die Antwort geben? Er sinkt, weil die Subventionen für die Kohle sinken. Wir verzeichnen ein Minus von 10 Prozent; ({7}) das ist die größte Senkung in einem Haushalt. ({8}) Hören Sie doch mit Ihren Forderungen, wir müssten mehr Forschung betreiben und die Subventionen senken, auf. Das tun wir und darüber hinaus haben wir noch auf der ganzen Breite zukunftsweisende Maßnahmen ergriffen. ({9}) Wir haben die Weichen gestellt. Die Bilanz: In Deutschland gibt es eine neue Energiepolitik und ein Konzept, das in die Zukunft weist. Wir setzen auf Innovationen in der Energiepolitik und schaffen dabei Arbeitsplätze. Es gab allein im Bereich der erneuerbaren Energien 130 000 neue Arbeitsplätze. ({10}) Auch durch die Ökosteuer und die KWK-Gesetzgebung werden neue Arbeitsplätze geschaffen. Wir zeigen damit, dass es sich für den Standort Deutschland lohnt, Vorreiter im Klimaschutz zu sein, und wir damit Exportmärkte erobern können. Wir beweisen damit, dass man auch dann, wenn man Pioniermärkte besetzt, wirtschaftlich erfolgreich sein kann. ({11}) Wir geben damit weltweit den Anreiz, uns nachzueifern. Frankreich und Brasilien beispielsweise haben unser Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien übernommen. Es gibt große Aufmerksamkeit für die neue Energiepolitik der rot-grünen Regierung in unserem Land. Wir machen eine Politik ohne radioaktive Strahlung, aber mit großer Ausstrahlung auf die ganze Welt. ({12}) Unser Konzept lautet zusammengefasst gemäß Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Das haben wir in dieser Legislaturperiode bisher getan. ({13}) Jetzt komme ich zu Ihnen. Was fällt Ihnen ein? Haben Sie von der CDU/CSU heute ein Energiekonzept vorgelegt? Das ist mir ehrlich gesagt entgangen. Sie haben hier nur herumgekrittelt. Sie jammern wieder einmal über das Ende der Atomkraft. Aber wenn wir den Ansatz „Klimaschutz durch Atomkraft“ durchrechnen - jetzt komme ich auf die Arbeit der Enquete-Kommission zu sprechen -, dann sagen Sie: Bloß nicht, damit haben wir nichts zu tun. Denn Sie wissen genau, dass Klimaschutz durch Atomkraft in unserem Land nicht durchsetzbar ist. Klimaschutz durch Atomkraft heißt, 50 bis 70 Atomkraftwerke zu bauen. Das waren die Szenarien, die wir in der EnqueteKommission durchgerechnet haben. ({14}) Dazu können selbst Sie nicht stehen. ({15}) Verständigen wir uns doch darauf, dass der einzige vernünftige Weg zu einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Energiewirtschaft derjenige ist, den die rot-grüne Bundesregierung eingeschlagen hat. Dazu gehören drei Säulen: Energieeinsparung, Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Diese drei Säulen haben wir in dieser Legislaturperiode gestärkt. Das ist der einzige vernünftige Weg in die Zukunft. Das belegt auch die Diskussion in der Enquete-Kommission. ({16}) Es liegt mir am Herzen, noch etwas zu der Exportoffensive zu sagen. Ich freue mich, dass die CDU/CSU dazu einen eigenen Antrag eingebracht hat. Ich habe immer gesagt, dass ich auch Sie hierfür gewinnen will. Unser Ziel ist dasselbe. Wir halten es für gut, dass diese Branche, die es nun einmal gibt - ob man sie liebt oder nicht, da mögen wir unterschiedlicher Auffassung sein -, ein zweites Standbein bekommt. Ich finde, Ihr Antrag bleibt relativ blass, während unser Antrag sehr konkret ist. Aber ich hoffe, dass wir uns, wenn wir heute auch nicht gemeinsam stimmen, doch in nächster Zeit annähern werden. Ich möchte einmal sagen, was wir wollen. Wir möchten einer Branche, die über eine Spitzentechnologie verfügt, womit wir Innovationsmärkte besetzen, die gleichzeitig jung und mittelständisch organisiert ist, nicht nur helfen, auf dem Binnenmarkt einen Absatzmarkt zu finden, sondern auch dabei, sich ein zweites Standbein im Export zu schaffen. Dies wollen wir tun, indem wir zum Beispiel helfen, Informationen darüber zu sammeln und zu komprimieren, in welchem Land es sich überhaupt lohnt, aktiv zu werden, etwa in Form einer Top-Ten-Liste.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Hustedt, kommen Sie bitte zum Schluss.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Andere haben ihre Redezeit auch überzogen, aber ich komme zum Schluss. - Es geht darum, Kontakte herzustellen, Botschaften zu schulen, Kioto-Instrumente in diesem Sinne weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund finde ich Ihren Vorwurf, wir würden da zu nationalistisch denken, ehrlich gesagt komisch. ({0}) Wenn wir Vorreiter sind, wollen wir natürlich auch etwas davon haben, und zwar Exportchancen. ({1}) Lassen Sie uns doch gemeinsam darum kämpfen, dass wir aus der Vorreiterrolle im Klimaschutz auch Vorteile für unseren Wirtschaftsstandort Deutschland ziehen! Das ist der Kern dieser Initiative. Die dena soll kein Ersatz für die anderen Insititutionen sein.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Hustedt, Sie müssen zum Schluss kommen.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin jetzt am Schluss. - Sie sollen Ihre Aufgaben wahrnehmen und Motor bzw. Moderator sein, damit es einen Ansprechpartner gibt. Abschließend: Ich wünsche und hoffe, dass dieses kleine Pflänzchen Exportoffensive in der nächsten Legislaturperiode zu einem Baum wird, der Früchte trägt, ({0}) den wir dann gemeinsam gießen und auch begrüßen. Danke. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt hat das Wort der Kollege Walter Hirche für die FDP-Fraktion. Er bekommt auch gleich eine Minute mehr.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin ganz dankbar dafür, dass Frau Hustedt hier mit umfangreichen Worten vorgeführt hat, dass das, was sie sich unter Energiepolitik vorstellt, in völligem Widerspruch zu dem Energiebericht des Bundeswirtschaftsministers steht. ({0}) Die Bundesregierung hat ja auf die etwas simple Frage der CDU/CSU, wer denn eigentlich für die Energiepolitik zuständig sei, gesagt: der Bundeswirtschaftsminister. Wenn dem so ist, dann muss man den Energiebericht des Bundeswirtschaftsministers ja für bare Münze nehmen. Das will ich einmal tun. Im Energiebericht steht zum Beispiel nicht, dass sich die Bundesregierung das Ziel einer 40-prozentigen Reduktion der Treibhausgase zu Eigen macht. Dort heißt es, dass es, wenn andere Industrienationen nicht ebenfalls Verpflichtungen wie die Bundesrepublik eingehen, zu einem Schaden für unsere Volkswirtschaft käme. Hier wurde nichts zu den Kosten gesagt. Der Bundeswirtschaftsminister führt in seinem Bericht zum zweiten Szenario das allen Wunschvorstellungen von Frau Hustedt entspricht, aus, dass dies eine zusätzliche Belastung der deutschen Volkswirtschaft bis zum Jahr 2020 von 256 Milliarden Euro bedeuten würde, ({1}) zusätzlich zu dem, was nach dem ersten Szenario, das dort auch berechnet ist, aufgebracht werden muss. Meine Damen und Herren, der Bundeswirtschaftsminister, der nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung für die Energiepolitik zuständig sein soll, hat in diesem Jahr in einer Pressemitteilung geäußert, dass jeder Arbeitsplatz, der im Bereich der Windenergie geschaffen worden sei, mit 150 000 Euro subventioniert wurde. Das war wohlgemerkt der zuständige Wirtschaftsminister. Er hat die in den Augen der rot-grünen Koalitionäre kleine Unverfrorenheit besessen, ({2}) auf ein Thema aufmerksam zu machen, das in der Vergangenheit, lieger Kollege Hempelmann, immer im Zentrum der Energiepolitik gestanden hat. Wir machen Energiepolitik nämlich zur Voraussetzung für Wohlstand und Arbeitsplätze in dieser Gesellschaft. ({3}) Deswegen ist es wichtig, dass Energiepolitik auch Kostengesichtspunkte berücksichtigt, ({4}) dass die für die Volkswirtschaft kostengünstigste Variante gefunden wird. Dies gilt auch im Zusammenhang mit der Vermeidung von CO2-Emissionen und Treibhausgasen. ({5}) Es geht immer darum, die Vermeidung von CO2-Emmissionen zu den geringstmöglichen Kosten vorzunehmen. Deswegen hat meine Fraktion vorgeschlagen, im Zusammenhang mit der von der EU verfügten Steigerungsquote für erneuerbare Energien ein Zertifikatemodell vorzuschreiben und nicht einzelne Techniken zu fördern, vonseiten des Staates festzulegen, wer welches Geld bekommt. Lasst doch - wie wir es in unserer Wirtschaft seit Ludwig Erhard mit großem Erfolg praktizieren - den Markt und den Wettbewerb darüber entscheiden, welche Technik sich im Einzelnen am besten durchsetzen kann. Sie wollen Subventionen für Teilbereiche der Wirtschaft organisieren. Sie betreiben in diesem Bereich eine Klientelpolitik, die letzten Endes die Leute entweder über ihre Steuern oder auf dem Weg über die Stromrechnung und die Mineralölsteuer bezahlen müssen, die davon letzten Endes nichts haben, weil sie selber sich die verschiedenen Abschreibungungsmodelle nicht leisten können. Die hier betriebene Politik ist unsozial. ({6}) Dies ist kein Zufall. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass der Bundeswirtschaftsminister in seinem Energiebericht neben vielen anderen eine interessante Feststellung getroffen hat. Er schreibt dort, dass für die BunMichaele Hustedt desregierung - man muss diesen Unterschied betonen nach wie vor die drei Grundsätze von Rio - Ökologie, Sozialverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit - gleichrangig Gültigkeit haben. Was erleben wir in der EnqueteKommission zur Energie? Die rot-grünen Koalitionäre sagen: Das ist Schnee von gestern. Das Soziale und das Wirtschaftliche interessiert uns überhaupt nicht. ({7}) Wir wollen den Primat der Ökologie. (Monika Ganseforth [SPD]: Nein, wir haben gesagt, dass es Naturschranken gibt! Sie haben noch besonderen Wert darauf gelegt. Dies ist ein Widerspruch zu dem, was der Bundeswirtschaftsminister in seinem Energiebericht der Öffentlichkeit sagt, was wir im Übrigen teilen. ({8}) Nur wenn der Gleichklang zwischen Sozialverträglichkeit, Wirtschaftlichkeit und Ökologie beachtet wird, werden wir die Probleme in Deutschland lösen können. Nur dann können wir in einer Exportoffenisve überhaupt erfolgreich sein. Ich komme zum Schluss. Das Problem der Energiepolitik dieser Koaltion ist, dass der Wirtschaftsminister Müller immer dann, wenn es darauf ankommt, hustet. Es kommt keine klare Linie heraus. Wir wissen aber alle, wer den grünen Star hat und an Sehschwäche leidet. ({9}) Was unsere Politik braucht, sind Klarheit, Zukunftssicherheit und Zielorientiertheit. Dies versuchen wir nach dem 22. September zu erreichen. Dann gibt es nämlich die Operation gegen den grünen Star. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte gibt Anlass, Bilanz über die Energiepolitik der Bundesregierung Teil eins zu ziehen und einen Blick in die Zukunft zu werfen. Teil zwei folgt nächste Woche Donnerstag. Ich möchte mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz beginnen und Rot-Grün an dieser Stelle auch einmal loben. Ich halte es nämlich für eines der besten Gesetze im Umweltbereich, die in dieser Legislaturperiode beschlossen wurden. ({0}) Die Überprüfung der Vergütungssätze steht an; das wissen Sie. Wir hatten erwartet, dass diese Überprüfung abgeschlossen ist. Meine Damen und Herren, haben Sie mehr Mut! Ich meine, dass die Kostendeckung der Photovoltaik überprüft und angehoben werden muss. ({1}) Auch der Deckel bei der Förderung der Solarenergie muss fallen. Wir brauchen eine Offensive für den weltweiten Einsatz regenerativer Energien. Deshalb begrüßen wir die Exportinitiative für regenerative Energien, auch wenn der Koalitionsantrag die entscheidende Frage der Finanzierung offen lässt. ({2}) - Das ist mit die wichtigste Frage. Damit sind die Gemeinsamkeiten mit der Koalition aber schon erschöpft. ({3}) Einer nachhaltigen Energiepolitik steht die Wirtschaftspolitik Ihres Kanzlers und Ihres Wirtschaftsministers im Wege. Der Atomkonsens ist eine Investitionsgarantie für die Betreiber von Atomkraftwerken. ({4}) Sie haben sich der Atomwirtschaft so weit angenähert, dass Union und FDP diese Atompolitik nicht mehr zu revidieren brauchen, sondern eigentlich nur fortschreiben müssen. Sie, Herr Hempelmann, haben von einem Szenario ohne Zukunft gesprochen. Leider hat es in dieser Bundesrepublik noch viel zu lange Zukunft. Ich verstehe nicht, warum sich Herr Grill immer so aufregt. Die AKWs laufen noch sehr lange, unserer Meinung nach viel zu lange. ({5}) Ihre Politik stößt auf wachsende Ablehnung. Die Menschen in Lüchow-Dannenberg und in der Region Salzgitter haben ihre Hoffnungen auf Rot-Grün gesetzt. Leider haben sie diese Hoffnungen nun aufgegeben. Das finde ich schade. Die Chancen zur Aufgabe der Endlagerprojekte haben Sie vertan. Die Menschen werden am 22. September sicherlich honorieren, wie Sie mit ihnen umgegangen sind. Eine Frage dieser Legislaturperiode war, wie die Überkapazitäten an installierter Kraftwerksleistung abgebaut werden sollen. Wir hatten uns das durch einen schnellen Atomausstieg erhofft. Hauptleidtragende Ihrer Deregulierungspolitik waren und sind jedoch Stadtwerke und Eigenversorger. Ich nenne an dieser Stelle noch einmal die Zahl von 80 000 vernichteten Arbeitsplätzen, auch wenn Sie das nicht gerne hören. Alternativen zur Selbstverpflichtung der Stromwirtschaft über Klimaschutz und den Erhalt der Kraft-Wärme-Kopplung wurden von Ihnen nie diskutiert. Unseren Gesetzentwurf zur Einführung einer wachsenden Quote von Strom aus KWK-Anlagen haben Sie abgelehnt. ({6}) Die Folge ist, dass Ihnen wahrscheinlich nicht einmal der Erhalt des KWK-Anteils gelingen wird. Auch die Verbändevereinbarungen über die Durchleitung von Strom und Gas waren für Sie alternativlos, weil das Bundeswirtschaftsministerium an einer anderen Regelung zu keinem Zeitpunkt Interesse hatte. In der Folge ist die Zahl der Anbieter rapide geschwunden. Aber die Senkung und Abschaffung von Monopolprofiten gehörten eigentlich nie zu den Zielen Ihrer Energiemarktliberalisierung. Wir haben andere Ziele und fordern nach wie vor eine Regulierungsbehörde. Sie wissen, dass wir das einzige Land in Europa sind, dass keine solche Behörde hat. Sie hätte zum einen die Aufgabe, Durchleitungskosten zu ermitteln, zum anderen aber auch die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass Haushalte und Kleinverbraucher nicht die Verluste aus dem Dumpingwettbewerb um Sondervertragskunden zu tragen haben. ({7}) Die Tarifaufsichtsbehörden der Länder sind mit dieser Aufgabe überfordert. Allein in den vergangenen vier Jahren haben Sondervertragskunden Preisabschläge in Höhe von 30 Prozent erzielen können, während private Haushalte und Kleinverbraucher keine Kostenentlastungen erhielten. Das nenne ich einen Skandal. Wenn hier von allen möglichen Seiten von Umverteilung gesprochen wird, dann kann ich dazu nur sagen: Das ist wirklich Umverteilung von unten nach oben. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluss: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fordern Sie auf, sich bei der Ruhrgas-Fusion nicht über die Bedenken der Kartellexperten hinwegzusetzen. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen. ({0}) Eine Ministererlaubnis würde die Arbeit der Kartellbehörde zur Farce werden lassen. Die Arbeit der Kartellbehörde muss stattdessen gestärkt werden. Für eine soziale und gerechte Verteilung der Kosten für den Umbau der Energieversorgung benötigen wir diese funktionierende Regulierung des Energiesektors und nicht wieder einen Konsens mit den Bossen. Danke. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu so später Stunde noch einige Anmerkungen zu diesem Thema machen. Für die Bundesregierung stellt die Energie bekanntlich einen Schlüsselfaktor für die Entwicklung gerade der deutschen Wirtschaft dar. ({0}) Was wir brauchen, ist bezahlbare Energie, auf die wir uns verlassen können, die uns allen Luft zum Atmen und der Wirtschaft Raum für Wachstum lässt. Das heißt, wir bekennen uns zu den Prinzipien und der hier angesprochenen Gleichrangigkeit von Ökologie, sozialer Verantwortung und Wirtschaftlichkeit. ({1}) In allen diesen Punkten war die Politik der Opposition rückwärts gewandt. Sie hat bestenfalls Stillstand und Stückwerk produziert. Aus genau diesen Versatzstücken speist sich auch Ihr aktueller Vorschlagskatalog in Sachen Energie. Ich möchte zunächst das Beispiel Klimaschutz herausgreifen. Sie haben in Ihrer Regierungszeit zwar immer wieder versucht, grün zu reden, haben aber letztlich, wenn ich das so sagen darf, immer tiefschwarz gehandelt. Sie haben zwar ein nationales Klimaschutzziel verkündet und sind auch entsprechende internationale Verpflichtungen eingegangen, ({2}) aber um die Kärrnerarbeit der Umsetzung haben Sie sich immer wieder herumgedrückt. ({3}) Ich nenne des Weiteren das Beispiel Kernenergie. Sie haben diese Dissensenergie gegen die breite Mehrheit der Bevölkerung am Leben erhalten und damit einen energiepolitischen Scherbenhaufen hinterlassen. ({4}) Dabei hat sich die energie- und gesellschaftspolitische Debatte gerade dadurch beruhigt, dass die Bundesregierung durch den Konsens zum Ausstieg Risiken abbaut. Aber was macht die Opposition in diesem Zusammenhang? Der Vorsitzende der Enquete-Kommission „Nachhaltige Energieversorgung“ schlägt zurzeit in der Presse einen weiteren abenteuerlichen Salto mortale rückwärts. Frau Hustedt hat bereits ausgeführt, dass Sie zurzeit über weitere 70 Kernkraftwerke in Deutschland spekulieren, Herr Grill. ({5}) Erklären Sie das einmal den Bürgern in unserem Lande! Dann reden wir weiter darüber.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es gibt zwei Nachfragen.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Ich lasse keine Zwischenfragen zu. Ich nenne auch das Beispiel Kohle. Sie haben in Ihrer Regierungszeit munter Verträge abgeschlossen, aber statt diese zu erfüllen, haben Sie immer wieder herumgeeiert. Kein Wunder, dass Ihnen der Slogan „Versprochen - Gebrochen“ so leicht über die Lippen geht. Ich nenne das Beispiel Liberalisierung der Stromund Gasmärkte. Sie haben zwar die Märkte auf dem Papier geöffnet, aber keinerlei praktikables Regelwerk geschaffen, das dem Wettbewerb tatsächlich Beine machen würde. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat angesichts dieser energiepolitischen Schauplätze nicht nur geredet, gehofft und angekündigt, sondern auch gehandelt. ({0}) Wir betreiben eine engagierte und verantwortungsbewusste Klimaschutzpolitik. Unser Klimaschutzprogramm schont unsere eigenen Energiereserven, fördert die Energien der Zukunft und berücksichtigt gleichzeitig die Interessen der Wirtschaft. Wichtige Teile sind das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das KWK-Gesetz und auch die Ökosteuer. Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht von unserer Förderung von Forschung und Entwicklung zu den attraktiven Zuschüssen und den Darlehenskonditionen des Marktanreizprogramms und ist beim 100 000-Dächer-Programm noch lange nicht zu Ende. ({1}) Dank des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist Deutschland heute Windkraftweltmeister und auch in der Photovoltaik mischen wir mittlerweile weit vorn in der Weltliga mit. Deutsche Hersteller sind in nahezu allen regenerativen Energietechnologien führend. Ich meine, dass diese hohe heimische Kompetenz in Exporterfolge umgesetzt werden muss. Frau Hustedt und andere haben dies bereits gesagt. Wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Schauen Sie sich allein die Mittelmeerregion und die dortigen Probleme mit der Energieversorgung an und bedenken Sie, was wir technologisch anzubieten haben! Da haben wir als Regierung eine Türöffnerfunktion wahrzunehmen. Mit den Techniken, die wir im Bereich der Infrastruktur haben, was die Wasseraufbereitung, das Thema Wasser insgesamt oder auch das Thema Abfall betrifft, können wir das Nützliche für unsere Volkswirtschaft mit dem Notwendigen für die dortigen Volkswirtschaften verbinden. Hier sehen wir uns in der Verantwortung. Auf diesem Gebiet haben wir wesentliche Fortschritte erzielt. ({2}) Was die Instrumente angeht, so will ich hier noch einmal sagen: Es geht um mehr als nur darum, einfach in den alten Atomforschungskategorien weiterzumachen. Beschreiten wir endlich neue Wege! Wir haben in diesem Bereich eine wirkliche Änderung von Grund auf und damit eine qualitativ neue Perspektive geschaffen. Zu der bekennen wir uns. Mit der werden wir auch landauf, landab ziehen, was die hier so viel diskutierte Mittelstandspolitik angeht, weil da gerade Chancen für die kleinen und mittleren Unternehmen der Forschung und der Technologie in unserem Land bestehen. ({3}) Meine Damen und Herren, im Übrigen - das will ich hier doch ganz klar sagen - haben wir Ihr Wort in der Kohle gehalten. Wir haben die Verhandlungen über ein neues EU-Beihilferegime für die Steinkohle kürzlich erfolgreich abgeschlossen. Auf dem letzten EU-Energieministerrat wurde eine entsprechende Verordnung angenommen. Erst mit dieser Regelung wird der Kohlekompromiss von 1997 mit seiner Laufzeit bis 2005 endgültig abgesichert. ({4}) Der deutsche Steinkohlebergbau erhält damit Planungssicherheit bis zum Jahr 2010. Das ist eine Perspektive, die wir denen, denen Sie einmal eine Perspektive versprochen haben, schuldig sind. All jenen in Nordrhein-Westfalen, im Saarland, in Brandenburg und anderswo werden wir immer wieder sagen, ({5}) dass wir es waren, die zu Ihren Verträgen gestanden haben, ({6}) während Sie hier immer wieder versucht haben, uns vorzuwerfen, dass wir das einhalten, was Sie einmal zugesagt haben. ({7}) Ein letzter Aspekt. Wir werden mit Bundesminister Müller - ({8}) - Beruhigen Sie sich ein bisschen! Sie brauchen mir nicht vom Braunkohletagebau in Brandenburg und auch nicht von dem in Nordrhein-Westfalen zu erzählen. Ich weiß das sehr genau. ({9}) Ich weise Sie auf eines hin: Es gibt Zusammenhänge. ({10}) Die Kumpel an der Ruhr und die in Brandenburg und anderswo fühlen, wer seine Versprechen in diesem Land hält und wer sie immer wieder auf die Rolle schiebt. Da wissen sie sehr wohl zu unterscheiden. ({11}) Bundesminister Müller hat, so glaube ich, eine sehr kluge und geradlinige Energiepolitik in unserem Land betrieben ({12}) - Sie sind so laut; ich muss zum Ende kommen; lassen Sie mich meinen Satz doch zu Ende führen -, ({13}) anerkannt von Wirtschaft und Bevölkerung in unserem Land. ({14}) Wir brauchen uns an dieser Stelle nicht zu verstecken, sondern wir werden das, was wir auf diesem Feld getan haben, in den nächsten Wochen in unserem Land offensiv vertreten; dessen dürfen Sie gewiss sein. ({15})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Kurt-Dieter Grill das Wort.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär Staffelt, Sie haben sich bemüßigt gefühlt, im Rahmen Ihrer Rede die Behauptung aufzustellen, dass ich mich als Vorsitzender der Enquete-Kommission öffentlich für den Bau von 50 bis 70 Kernkraftwerken ausgesprochen habe. Ich fordere Sie hiermit auf, mir einen Beleg für diese Behauptung vorzulegen. ({0}) - Das ist in der Rede genau nachzulesen. Meine Damen und Herren, fangen Sie jetzt nicht an, darum herumzureden! Sie haben hier die Unwahrheit gesagt. Ich fordere Sie auf, sich entweder zu entschuldigen oder sofort einen Beleg für das, was Sie hier behauptet haben, vorzulegen. Sie sind den Fehlinformationen von Frau Hustedt, Herrn Trittin und Herrn Fischer aufgesessen. Entweder nehmen Sie Ihre Behauptung zurück oder ich verlange von Ihnen in den nächsten Tagen einen Beleg für das, was Sie hier gesagt haben. Den werden Sie nicht liefern können. Ich will noch ein Zweites sagen: Das, was Sie hier zur Kohlepolitik geäußert haben, entbehrt jeder Grundlage. Sie brauchen offensichtlich für den Wahlkampf die Schimäre, die Union hätte nicht für die Kohle gestanden. Dies ist ebenso schlicht und einfach unwahr. Sie basieren Ihre Kohlepolitik auf dem, was Helmut Kohl 1997 geschaffen hat. Es ist eine Unverschämtheit. Sie haben die Kohleforschung gegen die Wand gefahren und nicht weitergeführt. Sie haben keine Antwort auf die Kohletechnik der Zukunft. Deswegen sage ich Ihnen: Ihre Rede war alles andere als ein Beitrag zur deutschen Energiepolitik. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Herr Kollege Dr. Staffelt, bitte.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe gar keinen Grund, mich zu entschuldigen; denn nach dem, was ich weiß, ({0}) jedenfalls nach bisherigem Sachstand, spekulieren Sie aufgrund Ihrer Aussagen über 70 neue Kernkraftwerke in Deutschland. ({1}) Dabei kann ich zunächst einmal bleiben. ({2}) Ich sehe gar keinen Grund, mich an dieser Stelle in irgendeiner Weise zu entschuldigen, schon gar nicht nach den Ausfällen, die Sie hier vorhin an den Tag gelegt haben. Sie müssen einmal Ihre eigene Rede nachlesen; erst dann können wir überhaupt miteinander in Dialog treten, Herr Abgeordneter. ({3}) Zum zweiten Punkt sage ich Ihnen Folgendes. ({4}) - jetzt rede ich und nicht Sie -: Was die Thematik Kohle betrifft, so werfen Sie uns doch immer vor, wir würden Subventionstatbestände schaffen. Dabei hat sich diese Regierung bemüht, (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Mühe allein reicht nicht! im Einvernehmen mit allen Beteiligten die dringend erforderlichen Subventionen aufrechtzuerhalten, aber eben auch möglichst über das hinauszugehen, was Sie einmal festgelegt haben. Sie unterlassen es nicht, uns immer wieder in einer besonderen Weise zu denunzieren, als seien wir diejenigen, die über alle Maßen Subventionstatbestände schaffen und damit die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland blockieren. Das ist die Art und Weise, wie Sie Politik in diesem Lande machen. Diese Jacke ziehe ich mir nicht an. Deshalb bleibe ich an dieser Stelle genauso hart, wie ich es hier formuliert habe. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Ich erteile das Wort der Kollegin Dagmar Wöhrl für die Fraktion der CDU/CSU.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, auch wenn es schon sehr spät ist, sollten wir heute Abend sachlich und wahrheitsgemäß miteinander umgehen. Wer wissen wollte, welchen Stellenwert der Wirtschaftsminister in der rot-grünen Koalition hat, der hat am 27. November letzten Jahres die Antwort erhalten. An diesem Tag hat Minister Müller seinen Energiebericht vorgelegt, der sich sehr sorgfältig mit verschiedenen Szenarien einer künftigen Energieversorgung in Deutschland auseinander setzt, und zwar sowohl in ökonomischer als auch in ökologischer Sicht. Das war offenbar mehr Ökonomie, als SPD und Grüne hier vertragen. Das hat man gemerkt. Herr Michael Müller, stellvertretender Vorsitzender der größeren Regierungsfraktion, lässt sich im „Handelsblatt“ mit der Aussage zitieren, der Bericht sei schlicht nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Herr Schlauch und Frau Hustedt von den Grünen bemängeln, der Bericht beruhe auf unvollständigen und überholten Daten und führe deshalb zu falschen Aussagen und Konsequenzen. Dann ist etwas bisher Einzigartiges passiert. Ein Minister ist von der Regierungsfraktion mit besonderer Härte angegriffen worden und der Kanzler hat es nicht für nötig befunden, sich vor seinen Minister zu stellen, die Ruhe in seinem Laden wieder herzustellen und seinem Kabinettsmitglied wieder Respekt zu verschaffen. ({0}) Tatsache ist: Eine leistungsfähige und preiswerte Energieversorgung ist ein Standortfaktor ersten Ranges. Wir brauchen sie, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, um Arbeitsplätze und Wohlstand in unserem Land zu sichern und zu mehren. Die rot-grüne Energieverteuerungspolitik ist schädlich für unser Land. Es ist eine Schnapsidee, mit den Einnahmen aus Mineralölsteuererhöhungen und aus der Stromsteuer die Sozialversicherungssysteme zu subventionieren und sich auf diese Art und Weise vor den notwendigen Reformen zu drücken. ({1}) Aber Sie haben Ihre Schnapsidee nicht einmal konsequent durchgehalten: ({2}) Zum 1. Januar dieses Jahres haben Sie nicht nur die Ökosteuer, sondern auch die Sozialversicherungsbeiträge erhöht. Das ist ein Betrug an den Bürgerinnen und Bürgern, denen Sie etwas ganz anderes versprochen haben. ({3}) Energiepolitik als Standortpolitik hat noch einen zweiten Aspekt: Es ist eine nationale Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Deutschland Energieproduktionsstandort bleibt. Das gilt vor allem im Hinblick auf den Strom. Strom ist schließlich strategische Infrastruktur für uns alle. Das hat nicht irgendeiner von uns hier gesagt, sondern Minister Müller bei einer Rede in Köln. ({4}) - Genau! - Wir wollen, dass der Strom auch in Zukunft nicht nur aus deutschen Steckdosen, sondern auch aus deutschen Kraftwerken kommt, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierung. Aber Rot-Grün setzt die heimische Stromerzeugung aufs Spiel. Kanzler Schröder hat es auf dem EU-Gipfel in Barcelona doch nicht einmal geschafft, faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Stromwirtschaft durchzusetzen. Frankreich darf seinen Markt nach wie vor abschotten. ({5}) Was sagt Minister Eichel dazu? Er sagt: Wir begreifen, dass jedes Land seine eigene Perspektive hat. - Ja, wo sind wir denn? Wir begreifen, dass Schröder und Eichel in Barcelona beim Thema Energie den Preis dafür bezahlen mussten, dass die anderen Mitgliedstaaten Deutschland zuvor den an sich verdienten blauen Brief erspart haben. So ist es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Da waren politische Teppichhändler am Werk und niemand anders. ({6}) Was bringt uns der von Rot-Grün durchgesetzte Atomausstieg? Er macht uns mittelfristig zum Stromimportland, ({7}) da im eigenen Land weit und breit kein ökonomisch und ökologisch vertretbarer Ersatz in Sicht ist. Deshalb wollen wir Ihr Ausstiegsgesetz nach einem Regierungswechsel rückgängig machen. Wir sehen nicht ein, was es bringen soll, Wertschöpfung und Arbeitsplätze in der Stromwirtschaft bei uns zu vernichten, um dann aus dem Ausland Atomstrom zu importieren; zumal wir - das ist viel schlimmer - auf die Sicherheitsstandards der Kernkraftwerke im Ausland keinerlei Einfluss mehr haben. Ich wiederhole: Energiepolitik ist Standortpolitik. Es nutzt nichts, dass Minister Müller das weiß und es in seinem Energiebericht zum Ausdruck bringt, solange er gegen die ideologische Verbohrtheit in den Reihen der Regierungsfraktionen nicht ankommt. Unserer Volkswirtschaft geht es nicht gut. Es ist notwendig, dass es endlich wieder aufwärts geht. Deswegen hoffen wir auf den 22. September. Vielen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Horst Kubatschka für die SPD-Fraktion.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand soll behaupten, dass das Parlament nicht auch zur nächtlichen oder zur sehr frühen Stunde erbittert über Themen streitet. Das ist auch notwendig. Herr Grill und Herr Hirche - manchmal ist es nötig, etwas zurückzuweisen und auf etwas anderes hinzuweisen -, was Sie geboten haben, waren Zerrbilder. ({0}) Herr Hirche, was Sie aus der Enquete-Kommission berichtet haben, hat so nicht stattgefunden; es war ein Zerrbild. ({1}) - Ich war wiederholt dabei und ich habe das sehr wohl verfolgt. Herr Grill behauptet immer wieder, wir hätten kein Konzept. Auch das ist ein Zerrbild. Wir haben sehr wohl ein Konzept. Das Gute an der Regierung ist: Wir setzen dieses Konzept bereits in die Wirklichkeit um. Das ist ganz entscheidend. ({2}) Herr Hirche, noch einmal zu Ihren Farbenspielen mit dem grünen Star: Passen Sie auf, dass Sie sich am 18. September kein blaues Auge holen. ({3}) Ich möchte noch kurz auf den Antrag der CDU/CSU über die Entsorgungsstandorte eingehen. Im Antrag verlangt die CDU/CSU einen Lastenausgleich aus Bundesmitteln für die drei atomaren Entsorgungsstandorte. ({4}) Wenn man den Antrag durchliest, weiß man aber: Es geht vor allem um Gorleben. Die Standorte Morsleben und Schacht Konrad finden nur am Rande statt. Die Antragsteller samt FDP müssen aber etwas zur Kenntnis nehmen: Mit der Zehnten Novelle zum Atomgesetz hat die rot-grüne Koalition den Atomausstieg im Konsens beschlossen. Dieser Konsens beinhaltet auch ein geändertes Entsorgungskonzept. Die rot-grüne Koalition hat auch den so genannten AkEnd eingerichtet. Dieser Arbeitskreis hat die Aufgabe, objektive Kriterien für ein Endlager zu finden. Der AkEnd soll ferner ein Verfahren für die Suche nach einem geeigneten Endlager ausarbeiten, das möglichst breite Akzeptanz bei allen Beteiligten findet. Das Ergebnis der Arbeiten des AkEnd muss zuerst einmal abgewartet werden; alles andere wäre unsolide und kontraproduktiv und so ist Ihr Antrag. Im Einvernehmen mit der Energiewirtschaft haben wir die Vorfestlegung auf den Entsorgungsstandort Gorleben beendet. Sie sollten dies in der Opposition endlich zur Kenntnis nehmen. ({5}) Noch kurz zu Morsleben: Bei Ihnen ist das ja nur eine Beifügung und keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema. Die CDU/CSU-FDP-Koalition hat es zugelassen, dass jahrelang Atommüll nach Morsleben gebracht wurde. Rot-Grün aber hat das einsturzgefährdete Morsleben geschlossen. Wir beginnen mit der Sanierung. Das sind die Tatsachen. Der Bundestag hat beschlossen, dass der Bundesumweltminister in der nächsten Legislaturperiode einen nationalen Entsorgungsplan vorlegen muss. Dann beginnt die eigentliche Arbeit. ({6}) Egal wie man zur Kernenergie steht, wir müssen anfangen, die Entsorgungsfrage zu lösen. Diese Lösung wird nur im politischen Konsens möglich sein. ({7}) - Herr Obermeier, Sie können noch so sehr plärren, dadurch werden Sie nicht klüger. ({8}) Darauf sollten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, hinarbeiten und nicht mit immer neuen Anträgen die Betroffenen verunsichern. Die rot-grüne Koalition und die Bundesregierung haben eine Energiewende eingeleitet. Wir haben die notwendigen Gesetze eingebracht. CDU/CSU und FDP haben immer nur Nein gesagt. Bei der Energiewende sind Sie die großen Nein-Sager. Sie haben damit die Chance verpasst, Kompetenz für die Energiezukunft unseres Landes zu entwickeln. ({9}) Es kommt aber noch schlimmer. Sie sagen nicht nur Nein, sondern Sie wollen auch das Rad der Energiewende zurückdrehen. Die Frau Kollegin hat es gerade bestätigt. ({10}) Die Kernenergie ist eine Energie des vergangenen Jahrhunderts. Die Aufgaben des 21. Jahrhunderts sind, den erneuerbaren Energien zum Durchbruch zu verhelfen, EnerDagmar Wöhrl gie dramatisch zu sparen, ohne dass es zu einem Wohlstandsverlust kommt, und Energie vor allem effizienter einzusetzen. Herr Stoiber, der bayerische Ministerpräsident - dies wird er auch noch im Herbst 2003 sein -, ({11}) hat es ja schon angekündigt: Er wird den Ausstieg aus der Kernenergie rückgängig machen. Bisher hat Herr Stoiber nichts erreicht und er wird auch weiterhin nichts erreichen. Er hat sich als Prozesshansel erwiesen und ist von den Gerichten klar abgewiesen worden. ({12}) Die bayerische Staatsregierung hat diese Energiewende erbittert bekämpft. Sie hat nicht einmal die Chancen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes begriffen. ({13}) Begriffen haben es aber die bayerischen Bürgerinnen und Bürger; denn 40 Prozent der Finanzmittel für die Photovoltaik aus Berlin fließen nach Bayern. ({14}) Damit sind die bayerischen Bürger die großen Gewinner, und zwar gegen die CDU/CSU und gegen die bayerische Staatsregierung. ({15}) Es waren die handelnden Bürger, die diese Chance erkannt haben. ({16}) Die Energiewende lässt sich auch mit Zahlen belegen. So ist in Deutschland in den letzten Jahren der Primärenergieverbrauch um 2,5 Prozent gesunken. Die begrenzten Energievorräte dieser Welt werden durch die neuen Energiequellen wie Wind und Sonne geschont. Eigentlich ist das Erdöl viel zu schade, um nur verbrannt zu werden. Durch die rot-grüne Politik sind wir Weltmeister geworden. Im Fußball werden wir das am Sonntag, bei der Windenergie sind wir es schon geworden. ({17}) Bei den anderen erneuerbaren Energien schaffen wir das auch noch. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat den Durchbruch gebracht. Auch andere Länder wollen unseren Weg gehen. Damit kann die bei uns entwickelte Technik ein ökologischer Exportboom für unsere Wirtschaft werden. Aber das muss genauso angestoßen werden wie der Einsatz erneuerbarer Energien in unserem Land. Dazu haben wir eine deutsche Exportinitiative für erneuerbare Energien vorgeschlagen. Wir können diesen modernen Techniken in vielen Ländern zum Durchbruch verhelfen. Unsere Politik der Energiewende bringt mehrfach Dividende: Sie ist gut für Umwelt und Wirtschaft und sie schafft Arbeitsplätze. ({18}) Nun sollen auch andere Länder davon ihren Nutzen haben. Wir haben die Energiewende eingeleitet. Es ist ein erster Schritt getan. Weitere müssen folgen. Auch auf diesem Gebiet ist Herr Stoiber mit der Opposition aus CDU/CSU und FDP nicht zukunftsfähig. Sie wollen zurück zur Kernenergie. Dies ist aber eine strahlende Sackgasse ohne Zukunft. ({19})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge zur Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU. Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/9582. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/ CSU, FDP und PDS abgelehnt. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/9583. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9548. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. ({0}) - Es gab auch eine Stimme von Bündnis 90/Die Grünen für diesen Entschließungsantrag. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/8708 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu einem Ausgleich für die nuklearen Entsorgungsstandorte Gorleben, Salzgitter und Morsleben. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7786 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/9120 zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Deutsche Exportinitiative - Erneuerbare Energien“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8278 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/9539 mit dem Titel „Mehr Chancen für den Export und die Forschungsund Entwicklungszusammenarbeit durch marktwirtschaftliche Ansätze bei den erneuerbare Energien“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDSFraktion abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 b auf. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({2}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung - Drucksache 14/9218 ({3}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4}) - Drucksache 14/9593 Berichterstattung: Abgeordnete Margot von Renesse Dr. Jürgen Gehb Volker Beck ({5}) Christina Schenk b) Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/9594 - Berichterstattung: Abgeordnete Albrecht Feibel Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uwe-Jens Rössel Die Kolleginnen und Kollegen Margot von Renesse, Jürgen Gehb, Volker Beck, Jörg van Essen und Christina Schenk haben ihre Reden zu Protokoll gegeben1). - Ich höre keinen Widerspruch dagegen. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrach- ten Gesetzentwurf zur Errichtung einer Magnus- Hirschfeld-Stiftung, Drucksache 14/9218. Der Rechts- ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9593, den Gesetzentwurf in der Ausschuss- fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und einer Enthaltung aus der Fraktion der PDS angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge- genprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zwei- ten Beratung angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus Francke, Matthias Wissmann, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wirtschaftspolitische Auswirkungen der EUOsterweiterung - Drucksachen 14/8316 ({7}), 14/9497 - b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Uwe Hiksch, Monika Balt, Dr. Klaus Grehn, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Vorbereitung der Grenzregionen auf die Osterweiterung der EU - Drucksachen 14/8001, 14/9498 - Auf Drucksache 14/9547 liegt ein Entschließungsan- trag der Fraktion der PDS zu ihrer Großen Anfrage vor. Die Kolleginnen und Kollegen Christian Müller, Klaus Francke, Werner Schulz, Gudrun Kopp, Uwe Hiksch so- wie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt haben ihre Reden ebenfalls zu Protokoll gege- ben2). - Große Begeisterung im ganzen Saale. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9547. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zur Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinten Nationen im Jahr 2001 - Drucksache 14/9466 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({8}) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 9 2) Anlage 10 Die Kolleginnen und Kollegen Brigitte Adler, Clemens Schwalbe, Birgit Homburger, Petra Bläss und der Staats- minister Dr. Volmer haben ihre Reden sämtlich zu Protokoll gegeben1). - Auch hiergegen erhebt sich kein Widerspruch. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/9466 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, Dr. Maria Böhmer, Horst Seehofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Anwendung von Gentests in Medizin und Ver- sicherungen - Drucksachen 14/6640, 14/9584 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Carola Reimann Die Kolleginnen und Kollegen Carola Reimann, Katherina Reiche, Monika Knoche, Detlef Parr, Angela Marquardt sowie die Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Schaich-Walch haben ihre Reden ebenfalls zu Protokoll gegeben2). - Auch hiergegen erhebt sich kein Widerspruch. Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Anwendung von Gentests in Medizin und Versicherungen Drucksache 14/9584. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6640 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung von FDP und PDS angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Lange ({10}), Dr. Hans-Peter Bartels, Dagmar Freitag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Kerstin Müller ({11}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages - Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages - Drucksache 14/9100 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({12}) Rechtsausschuss Was Wunder: Die Kolleginnen und Kollegen Christian Lange, Hans-Peter Bartels, Eckart von Klaeden, Gerald Häfner, Jörg van Essen und Dr. Evelyn Kenzler haben ihre Reden ebenfalls zu Protokoll gegeben3). Auch hiergegen erhebt sich kein Widerspruch. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/9100 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehen keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({13}) - zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2000 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({14}) - zu der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 2001 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung ({15}) - Drucksachen 14/5858, 14/7018, 14/7413 Nr. 2, 14/9460 Berichterstattung: Abgeordnete Uta Titze-Stecher Obwohl es bereits 00.19 Uhr ist, begrüße ich zu dieser Debatte ganz herzlich den Präsidenten des Bundesrechnungshofes Dr. Dieter Engels. Er ist im Übrigen ein ehemaliger Mitarbeiter des Hauses. ({16}) Wir freuen uns ganz besonders, dass Sie dieser Debatte so große Wertschätzung entgegenbringen. Sie haben den Beifall des ganzen Hauses gehört. Jetzt erteile ich der Kollegin Uta Titze-Stecher das Wort.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe noch verharrende Kolleginnen und Kollegen! Ich grüße Sie zu dieser Stunde. Auch für mich ist es eine Pre- miere, so spät zu reden. Ich bedanke mich bei den Vertre- tern des Bundesrechnungshofes, dass auch sie bis jetzt ausgehalten haben. Ich denke, nach zwölfeinhalb Minu- ten haben wir es hinter uns gebracht. Die Materie scheint, wenn man auf die Formulierung des Tagesordnungspunktes schaut, durchaus dröge zu sein - sie ist es aber nicht. Immerhin geht es um die Entlastung der Bundesregierung, das heißt, um die Jahresrechnung 2000 auf der Grundlage der Bemerkungen des Bundesrech- nungshofes 2001 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 11 2) Anlage 12 3) Anlage 13 einschließlich der Feststellungen zur Jahresrechnung des Bundes 2000. Das heißt, Sie, die verbleibenden Kolleginnen und Kollegen, entscheiden heute durch Abstimmung darüber, ob der Bundesregierung für ihre Haushaltsführung Entlastung erteilt werden kann. Dies ist, da es um den Nachweis der korrekten Verwendung von Steuermitteln geht, eine höchst spannende Sache und keinesfalls, wie es ein Geschäftsführer mir gegenüber geäußert hat, ein nur formaler Akt. Der Bundesrat hat bereits grünes Licht für die Entlastung gegeben, und zwar im November letzten Jahres. Der Rechnungsprüfungsausschuss hat die Anträge des Finanzministeriums sowie die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes in sechs Sitzungen ausführlich beraten und dem Haushaltsausschuss mehrheitlich - gegen die Stimme der PDS - die Entlastung empfohlen. Der Haushaltsausschuss hat die Entlastung einstimmig - also mit der Stimme der PDS - beschlossen, das heißt, Ihnen ans Herz gelegt, die Bundesregierung zu entlasten. Sie sehen also, dass heute mit der Entlastung, die wir nachher vornehmen werden, der Kreislauf des Haushalts abgeschlossen ist. Natürlich ist kein einziges Mitglied des 15-köpfigen Rechnungsprüfungsausschusses in der Lage, die gesamte Haushaltsführung der Bundesregierung oder gar die Haushalts- und Vermögensrechnung des Bundes oder die finanzwirtschaftliche Entwicklung im Detail zu prüfen. Sie ahnen schon, warum wir am Anfang den Bundesrechnungshof und seinen Präsidenten begrüßt haben: Dies wird professionell durch die Prüfer des Rechnungshofes erledigt. Der Hof ist immer dabei, und zwar auf allen Stufen des Haushaltskreislaufes, als da wären: die Aufstellung des Bundeshaushaltes durch das Kabinett, die Beratung durch das Parlament und speziell durch den Haushaltsausschuss, schließlich der Haushaltsvollzug - da ist wieder die Verwaltung dran - und zuletzt die Kontrolle durch den Rechnungsprüfungsausschuss mit dem Schlusspunkt der Entlastung. Die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes sind also die Grundlage für die parlamentarische Kontrolltätigkeit. Wir, der Rechnungsprüfungsausschuss, befassen uns intensiv mit der Kritik des Hofes zum Einnahmeund Ausgabeverhalten des Bundes. Als Ergebnis seiner Beratungen fasst der Ausschuss zu jeder Bemerkung einen Beschluss. ({0}) - Da braucht ihr nicht klatschen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet jetzt geklatscht wird. Das ist erst am Schluss nötig. ({1}) - Nein, das ist nicht nötig. ({2}) - In Ordnung. Das ist praktizierte Demokratie. Damit bin ich einverstanden. Aus der bisherigen Beschreibung ist vielleicht erkennbar, dass das Verhältnis zwischen Ausschuss und Bundesrechnungshof ausgesprochen eng ist. Wir, die Mitglieder des Ausschusses, sind nur so gut, wie der Bundesrechnungshof uns informiert. Der weisungsunabhängige Bundesrechnungshof prüft, berät, empfiehlt und kommt damit seinem gesetzlichen Auftrag, dargestellt in Art. 114 Abs. 2 des Grundgesetzes, nach, die Voraussetzungen und bzw. oder die Auswirkungen politischer Entscheidungen in seinen Prüfungsergebnissen darzulegen. Ich sage ganz deutlich: Die politische Entscheidung und damit die Verantwortung dafür liegen beim Gesetzgeber, also bei uns. ({3}) Das ist auch gut so. Der Bundesrechnungshof selbst weiß das und respektiert das - die andere Seite, die Politik, nicht immer. Die politische Entscheidung unterliegt nämlich nicht der Bewertung durch den Bundesrechnungshof. Der Hof wird tätig auf Bitten des Parlaments oder der Regierung. Er kann auch Hinweisen und Anstößen aus der Bevölkerung nachgehen. Er kann auch - und tut dies sehr oft - selbstständig Themen aufgreifen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich niemand über Prüfungen freut, weder ein Ministerium noch ein Verband. Nur, solange und soweit es um Geld des Steuerzahlers geht, muss dessen ordnungsgemäße Verwendung überprüfbar sein nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist allemal besser! ({4}) Denn jede Regierung, jede öffentliche Verwaltung hat die Verwendung des öffentlichen Geldes zu legitimieren. ({5}) Ohne Legitimationsdruck wären der Verschwendung und Steuerhinterziehung Tür und Tor geöffnet. ({6}) Der Hof hat allein durch die Art seiner Tätigkeit natürliche Gegner, aber auch natürliche Verbündete, als da sind: wir, die Mitglieder des Haushalts- und Rechnungsprüfungsausschusses, und - davon gehe ich aus, Herr Staatssekretär - das BMF. Aber auch wir, die Mitglieder des Ausschusses, sehen uns mehr oder weniger oft und unregelmäßig Konflikten ausgesetzt, wenn als Folge unserer Beschlüsse der Abbau nicht mehr gerechtfertigter Besitzstände eingeleitet wird, wenn es um die Prüfung der Wirtschaftlichkeit von vor allem militärischen Beschaffungen geht, wenn es beispielsweise um die Prüfung der Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit von Privatisierungsvorhaben geht. Ich bin seit drei Legislaturperioden Mitglied im Rechnungsprüfungsausschuss, davon acht Jahre in der Opposition und die letzten vier Jahre als Mitglied der Regierungsfraktion ({7}) - das ist auch gut so - und in der Position der Vorsitzenden. Was muss ich jedoch erleben? - Das Rollenspiel zwischen allen drei Beteiligten, nämlich dem prüfenden Hof, der geprüften Regierung, der Verwaltung, dem kontrollierenden und beschließenden Rechnungsprüfungsausschuss, funktioniert immer nach dem gleichen Muster - unabhängig von der jeweiligen Regierungszusammensetzung. ({8}) Die Regierung empfindet unsere Arbeit, die des Hofes und des Ausschusses, bestenfalls als notwendig, aber immer als lästig. ({9}) - Manchmal wird der Überbringer der schlechten Nachricht mit dem Verursacher verwechselt. - Dies hat aber unsere Arbeit - hinter mir sitzt mein Stellvertreter, Herr Fuchtel, der das bestätigen kann - nie beeinträchtigt. Die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss betrachten sich als Kontrolleure der Regierung und weniger als Angehörige von Regierung und Opposition, und das ist auch gut so, denn darin liegt die Stärke des Ausschusses. ({10}) Ich bin davon überzeugt, dass sich das Parlament auch in Zukunft dieses scharfen Instrumentes bedienen und es nicht zulassen wird, dass es stumpf wird. An dieser Stelle ein ausdrückliches Dankeschön an alle Kolleginnen und Kollegen für die äußerst sachliche Zusammenarbeit und das vertrauensvolle Klima. In den Dank einschließen möchte ich natürlich die Mitglieder meines Sekretariats, Frau Monreal, Herrn Linke, Frau von Pendzich-Winter, die frühere Leiterin, und die jetzige Leiterin, Frau Krägenow. ({11}) Mein ganz besonderer Dank gilt den Mitgliedern des Bundesrechnungshofes - sie sitzen auf der Tribüne -, stellvertretend dem Präsidenten Herrn Professor Dr. Engels und seiner Vorgängerin, Frau Hedda von Wedel. Zur Ehrenrettung der geprüften Verwaltungen sei allerdings gesagt: Jährlich verlassen den Hof und seine Prüfungsämter Hunderte von Prüfungsermittlungen. Die Vorschläge und Anregungen werden anstandslos von den Verwaltungen unmittelbar umgesetzt. Darüber berichtet jedoch kein Schwein. ({12}) - Keine Presse! Ich meine damit nicht Sie! ({13}) Denn naturgemäß wird über Erfolge nicht berichtet, weil Erfolge keine News sind. Auf der Tagesordnung des Ausschusses finden sich auch immer häufiger Punkte mit dem Vermerk „o.B.“ - ohne Beratung -, und zwar schlicht und einfach deswegen, weil diese Bundesregierung bestrebt ist, die Vorschläge des Hofes und die Beschlüsse des Parlamentes umzusetzen, ({14}) und zwar zum eigenen Vorteil, denn dadurch kann der Bundeshaushalt um mehrere hundert Millionen Euro im Jahr entlastet werden. Lassen Sie mich zur Begründung für die Empfehlung, diese Bundesregierung für die Jahresrechnung 2000 zu entlasten, ein paar Ausführungen machen. Die Prüfung der Jahresrechnung 2000, bestehend aus Haushalts- und Vermögensrechnung, hat keine für die Entlastung wesentlichen Abweichungen zwischen den Beträgen in den Rechnungen und Büchern ergeben. Dies gilt auch für die Rechnungen der 17 Sondervermögen. So weit, so gut! Was ich allerdings, Herr Staatssekretär, überhaupt nicht verstehe - ich kann es gar nicht nachvollziehen -, ist, dass ich hier denselben Satz wiederholen muss wie vor einem Jahr, nämlich, dass es zu unzutreffenden, widersprüchlichen und unklaren Angaben, das heißt zu formalen Fehlern, gekommen ist. Ich begreife einfach nicht, dass das Ausfüllen von Vordrucken bei Kassenanordnungen nicht gelernt werden kann. ({15}) Ich finde, dass das Finanzministerium mit mehr Nachdruck bei den Haushaltsbeauftragten der Ressorts auf die Beachtung der einschlägigen Vorschriften dringen muss. Zur Haushaltsführung möchte ich fünf knappe Bemerkungen machen. ({16}) - PISA spielt da bestimmt nicht herein. Erstens. Die Ausgaben lagen mit 478 Milliarden DM im Haushaltsjahr 2000 um 0,8 Milliarden DM unter dem veranschlagten Soll. Die Einnahmen lagen mit 431,3 Milliarden DM über dem veranschlagten Soll. Das Finanzierungsdefizit betrug 46,7 Milliarden DM und war damit um knapp 3 Milliarden DM niedriger. Ich denke, das ist ein Pluspunkt. Erwähnenswert ist auch, dass im Vergleich zum Vorjahr - obwohl die Einnahmen nahezu gleich geblieben sind - die Ausgaben um knapp 5 Milliarden DM trotz Mehrausgaben gesunken sind. Ich erwähne stichpunktartig: höhere Leistungen an die Rentenversicherung - roundabout 9 Milliarden DM -, der Beitrag für die Zwangsarbeiterstiftung, die Inanspruchnahme von Gewährleistungen, Heizkostenzuschuss, EXPO-Beitrag usw. Entlastend ins Gewicht fielen geringere Aufwendungen für den Arbeitsmarkt in Höhe von rund 10 Milliarden DM und, dank der Verwendung der Erlöse aus der UMTSVersteigerung zum Schuldenabbau, geringere Zinsausgaben. Dafür gebührt der Bundesregierung ein großes Lob. ({17}) Zweitens. Ein besonderes Problem sind die Ausgabereste. Sie steigen seit 1992 kontinuierlich an. Das ist keine gute Entwicklung; denn ihre Inanspruchnahme belastet den Haushalt des folgenden Jahres in dem Ausmaß, in dem sie beansprucht werden. Nun hat zwar das Bundesministerium der Finanzen durch eine Regelung dafür gesorgt, dass sich die Gesamtausgaben des Haushaltsplanes nicht erhöhen. Dass dies aber im Rahmen der HaushaltsUta Titze-Stecher durchführung auch beachtet wird, bezweifelt der Bundesrechnungshof und regt daher an, zu prüfen, ob die Einhaltung der gesetzlich vorgesehenen Verfügbarkeitsfrist, nämlich ein Zeitraum von zwei Jahren, nicht sichergestellt werden kann. Auch meldet der Bundesrechnungshof Bedenken gegen die bisherige Haushaltspraxis an, nach der Ausgaben zuerst zulasten vorhandener Ausgabereste verbucht werden, bevor die für das laufende Haushaltsjahr bewilligten Mittel in Anspruch genommen werden. Positiv beurteilt der Bundesrechnungshof die Umsetzung der flexiblen Haushaltsinstrumente. So ist das bisher zu beobachtende Dezemberfieber in gravierender Weise zurückgegangen. Auch die unterjährige Ausgabenentwicklung ist wesentlich gleichmäßiger als in den Vorjahren. Drittens. Die Bundesverwaltung hat im Haushalt 2000 über- und außerplanmäßige Ausgaben in einer Gesamthöhe von rund 11 Milliarden DM geleistet. Das ist entschieden zu viel. Dies entspricht etwa 2,25 Prozent des Haushaltssolls und ist damit doppelt so viel wie im Vorjahr. Das heißt, sowohl die Höhe als auch die Fallzahl haben sich erhöht. Das ist einfach unakzeptabel. Deswegen moniert der Bundesrechnungshof dies zu Recht. Diese Verstöße gegen das Haushaltsrecht sind abzustellen und für eine haushaltsrechtlich mängelfreie Mittelbewirtschaftung ist zu sorgen. Die im Haushaltsplan vorgesehenen globalen Minderausgaben sind erwirtschaftet worden. Das ist eine gute Sache. Ebenfalls eine gute Sache ist die Tatsache - auch dies stellt der Bundesrechungshof fest -, dass zum ersten Mal seit Jahren die Schulden des Bundes zurückgegangen sind. Sie betragen zwar immer noch 1,4 Billionen DM am Ende des Jahres 2000. Wenn man die nicht im Haushalt eingestellten Sondervermögen dazuzählt, hat der Bund sogar Schulden in Höhe von 2,5 Billionen DM. Aber insgesamt ist die Verschuldung am Ende des Jahres 2001 zurückgegangen. Dieses wird vom Bundesrechnungshof ausdrücklich anerkannt. ({18}) Ich möchte eine Bemerkung zur weiteren Perspektive machen. Dazu gehört auch die Überlegung zur weiteren finanzwirtschaftlichen Entwicklung des Bundes. Der jetzt vorgelegte Entwurf des Bundeshaushalts 2003, vor allem im Zusammenhang mit der Finanzplanung bis 2006, ist ein weiterer überzeugender Etappenposten auf dem Weg der Konsolidierung. Das konzidiert auch der Bundesrechnungshof. Er stellt also fest, dass sich im Finanzplan eine Verstetigung der finanzwirtschaftlichen Eckwerte abzeichnet, das heißt, der richtige Weg beschritten wird. Ich möchte noch kurz zwei weitere Probleme ansprechen. Der Bundesrechnungshof weist zu Recht auf eine Besorgnis erregende Ausgabenstruktur hin. Er erwähnt zwei besondere Blöcke, nämlich die Sozialausgaben und die Zinsausgaben. So sind im Haushalt 2001 mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen für Sozialausgaben verwendet worden; für Zinsausgaben ist es noch jede fünfte Steuermark. Im Bereich der Sozialausgaben - hören Sie einmal genau zu - sind die Zuschüsse zur Rentenversicherung seit 1995 als Folge der demographischen Entwicklung massiv angestiegen. ({19}) - Das ist eine andere Sache. Ich rede nur von den Fakten. Sie betragen heute mehr als ein Viertel der Gesamtausgaben des Bundeshaushalts. Der Bundeshaushalt trägt heute ein Drittel der Gesamtausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung, nämlich sage und schreibe 135 Milliarden DM von 430 Milliarden DM. Dieser Anteil lag vor zehn Jahren noch bei rund einem Fünftel. ({20}) Diese Fakten rechtfertigen die Rentenreform; darüber brauchen wir nicht mehr zu debattieren. ({21}) Eine letztes Wort zum europäischen Stabilitätspakt: Im Rahmen des Solidarpaktfortführungsgesetzes hat die Bundesregierung eine Neuregelung eingeführt: § 51 a Haushaltsgrundsätzegesetz, das heißt ein Verfahren zur innerstaatlichen Umsetzung der Vorgaben des europäischen Stabilitätspaktes. Dafür ist ja ein bundesdeutscher Finanzminister, Herr Waigel, verantwortlich gewesen. Nun könnte man annehmen, dass deswegen von uns die Vorgaben dieses Stabilitätspaktes besonders beachtet werden. Ich stelle aber fest, dass trotz aller Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern, also trotz der Vereinbarungen zur Ausgabenbegrenzung ab 2003 und zur Rückführung der Nettoneuverschuldung, eine Sache fehlt, Herr Staatssekretär: verbindliche Regeln zur Aufteilung möglicher von der EU verhängten Sanktionen, falls die Defizitobergrenze von 3 Prozent des BIP überschritten wird. Aus der fehlenden Regelung kann ich nur schließen, dass die Regierung sehr optimistisch ist, von keiner Überschreitung ausgeht und ihr finanzwirtschaftliches Handeln danach ausrichtet, niemals in diese missliche Lage zu kommen. Dazu kann ich nur sagen: Das ist gut so; das hoffe ich. ({22}) Nichtsdestotrotz richte ich mich lieber nach dem Sprichwort „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“ und empfehle, den Rat des Bundesrechnungshofes schnellstmöglich umzusetzen ({23}) und ein Regelwerk zur Aufteilung möglicher EU-Sanktionen aufzulegen. Denn der Gelackmeierte ist sonst der Bund. Wir haben die höchsten Schulden, nämlich zwei Drittel der öffentlichen Schulden. Ich sehe überhaupt nicht ein, warum wir für die gesamtstaatliche Verschuldung haften und im Falle der Überschreitung der vorgesehenen Höchstgrenze für die Sanktionen zuständig sind. Das, Herr Staatssekretär, muss der nächste Bundestag regeln.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, ich tue es sehr ungern - denn es ist Ihre letzte Rede -, aber ich muss Sie an die Überschreitung Ihrer Redezeit erinnern. Die ist nämlich schon gewaltig.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Am Ende meiner Ausführungen komme ich zu den gleichen Empfehlungen wie der Bundesrechnungshof und der Haushaltsausschuss. Ich bitte Sie um die Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2000. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin TitzeStecher, dies war Ihre letzte Rede in diesem Hohen Hause zu symbolischer Zeit und, wie wir alle bereits festgestellt haben, unter den Augen des Präsidenten des Bundesrechnungshofes. Vielen Dank für Ihre Arbeit, vor allem für die als Vorsitzende des Rechnungsprüfungsausschusses! ({0}) Als Haushälterin haben Sie sich im gesamten Hause eine hohe Achtung erworben. Alles Gute für Ihren kommenden Lebens- und Arbeitsabschnitt! Die Kollegen Josef Hollerith, Oswald Metzger und Jürgen Koppelin sowie die Kollegin Heidemarie Ehlert haben ihre Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Pro- tokoll gegeben.1) Deshalb kommen wir jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen zur Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2000 und zu den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 2001, Drucksachen 14/5858 und 14/7018 und 14/9460. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. ({1}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 sowie Zusatzpunkt 13 auf: 18. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christian Müller ({3}), Dr. Rainer Wend, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({4}), Ulrike Höfken, Kerstin Müller ({5}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ als regelgebundenes Fördersystem erhalten - Drucksachen 14/9242, 14/9589 Berichterstattung: Abgeordnete Christian Müller ({6}) ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Matthias Wissmann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Regionalpolitik stärken - Chancen nutzen - Drucksache 14/9595 Die Kollegen Christian Müller ({7}), Ulrich Klinkert und Rolf Kutzmutz, die Kolleginnen Ulrike Höfken und Gudrun Kopp sowie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) - Das wird widerspruchslos zur Kenntnis genommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/9589 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Die Gemeinschaftsaufgabe‚Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur‘ als regelgebundenes Fördersystem erhalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/9242 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Regionalpolitik stärken - Chancen nutzen“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/9595? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar Bartsch, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Verteilung und Verteilungswirkungen der Steuern und Abgaben - Drucksachen 14/7912, 14/9492 Ich eröffne die Aussprache. Rednerin für die PDSFraktion ist die Kollegin Dr. Barbara Höll. ({8})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich möchte Sie doch des Vergnügens nicht berauben, der Rede lauschen zu können. Liebe Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten die Große Anfrage zu Verteilung und Verteilungswirkungen der Steuern und Abgaben, die die PDS vor einem guten halben Jahr, Ende Dezember des vergangenen Jahres, gestellt hat. Die Herausgabe der Antwort wurde durch die Regierung um einige Wochen verzögert und fällt nun passenderweise in die Zeit der Abrechnung mit rot-grüner Politik. Im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik ist die Bilanz leider sehr ernüchternd. ({0}) Vier Jahre Rot-Grün, das bedeutete eben keinen Politikwechsel, nicht mehr soziale Gerechtigkeit und auch keine Stabilität in den öffentlichen Haushalten. ({1}) 1) Anlage 14 2) Anlage 15 Das „Handelsblatt“ charakterisierte bereits am 10. Januar 2000 - ich erlaube mir zu zitieren -: Die rot-grüne Koalition plant in ihrer Steuerpolitik einen konservativen Wandel, den eine christlich-liberale Regierung niemals gewagt hätte. Doch es ist eine sympathische Entwicklung, wenn die SPD ihre marxistischen Wurzeln mit Stumpf und Stiel ausrottet und eine Shareholder-Value-Partei werden will. ({2}) Ein tolles Lob für Ihre Politik! Zwei Jahre später schauen wir uns das Ergebnis an. Wir können heute in ebendiesem Blatt, aber auch in anderen wie der „Frankfurter Rundschau“ nachlesen, dass Sie sehr wohl eine Steuerpolitik zugunsten von Großunternehmen und Vermögenden durchgezogen haben. ({3}) Herr Ulrich Schneider, der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, stellte in dieser Woche fest: „Auch unter Schröder wurden die Armen ärmer.“ „Die SPD ist in Gerechtigkeitsfragen ein unsicherer Kantonist geworden“, so die „Frankfurter Rundschau“. ({4}) Wir haben ja nicht umsonst diese Anfrage gestellt. Wir wollten Ihnen die Chance geben, mit Zahlen die Situation anzeigen zu können. ({5}) Im Ergebnis hat sich die Regierung doch redlich bemüht, mit ihren Antworten die fiskalisch und verteilungspolitisch verheerenden Ausführungen ihrer Steuerund Finanzpolitik zu verschleiern. ({6}) Von 75 Anfragen wurden etwa 20 gar nicht oder unvollständig beantwortet. Sie können noch so laut schreien, ich werde Ihnen trotzdem einige Fakten vorstellen. Nehmen wir einmal das Problem der Einkommensmillionäre, also der Steuerpflichtigen, die zu versteuernde Einkünfte von mehr als 1 Million DM haben. Zwischen 1992 und 1995 ist die Zahl der Einkommensmillionäre um rund 4 000 von 25 265 auf 21 000 gesunken. Aktuellere Zahlen liegen leider nicht vor, weil Sie die Statistiken daraufhin nicht auswerten. Die Ursache dafür, dass die Zahl der Einkommensmillionäre gesunken ist, ist allerdings nicht darin zu suchen, dass ihre Zahl tatsächlich geringer geworden wäre, sondern darin, dass die waigelsche Finanzpolitik damals umfangreiche Sonderabschreibungen ermöglichte. Diese Sonderabschreibungen hatten um das Jahr 1995 ihren Höhepunkt erreicht. ({7}) - Hören Sie doch einfach einmal zu, oder können Sie das um diese Tageszeit nicht mehr? Sie haben wohl gar keine Kondition? Schwach! - Ab 1998 wurden auf Gewinne und Vermögenserträge wieder mehr Steuern bezahlt, aber nicht etwa deshalb - es ist mir wichtig, das zu betonen -, weil Sie eventuell die Bemessungsgrundlage verbreitert hätten, nein, sondern weil einfach die Sonderabschreibungen ausgelaufen sind. Und wie reagierten Sie nun 1998? Man hätte ja sagen können, man wolle die Einkünfte. Nein, Sie widmeten sich der öffentlichen Reichtumspflege. Die Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer wurden massiv gesenkt. Befristete Steuervergünstigungen von Waigel haben Sie neu aufgelegt bzw. fortgeführt. Damit haben Sie - so muss man sagen - die Politik für die wirklich Reichen in dieser Republik verstetigt. ({8}) Die Belastung der Vermögenserträge und Gewinne - nehmen wir die aktuelle Zahl von 2001 - ist gesunken. Dazu finde ich leider nichts in der Antwort auf die Große Anfrage. Ich habe mich daher selber hingesetzt und das ausgerechnet. Die Belastung der Vermögenserträge und Gewinne ist im vergangenen Jahr sogar niedriger gewesen als 1998, als Sie die Regierung übernommen haben. Sie liegt 7,5 Prozent unter dem Niveau von 1998. Die Belastung der Kapitalgesellschaften ist sogar um 40 Prozent gesunken. ({9}) Wenn die Regierung, die jetzt leider nicht mehr vertreten ist - zumindest nicht mehr auf der Regierungsbank -, heute noch betont, soziale Gerechtigkeit sei wieder eine Kategorie der Steuerpolitik, ist das schlicht eine Unverschämtheit, weil sie sich nur der Besitzstandswahrung von Vermögenden und Großunternehmen gewidmet hat. ({10}) Sie haben die Vermögensteuer nicht wieder eingeführt und die Erbschaftsteuer nicht reformiert. Erbschaften in Höhe von rund 150 Milliarden Euro jährlich werden von Ihnen gerade einmal mit durchschnittlich 2 Prozent Erbschaftsteuer belegt. Damit werden also gerade einmal 3 Milliarden Euro jährlich eingenommen. ({11}) Die Kehrseite der Vermehrung des Reichtums ist die Vermehrung der Armut. Diesen Vorwurf muss man Ihnen machen. Das größte Armutsrisiko in der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn des neuen Jahrhunderts sind Kinder. Daran haben Sie überhaupt nichts geändert. Das ist auch in Ihrem Armuts- und Reichtumsbericht nachzulesen. Sie behaupten heute, die Förderung von Kindern durch Sie vorangekommen; das stimmt aber nicht. ({12}) Wir haben das duale System der Kinderentlastung. Während 1998 noch 95 Prozent der Familien tatsächlich gefördert wurden und nur 5 Prozent vom Kinderfreibetrag profitiert haben, hat sich dieses Verhältnis verschoben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Höll, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Heute werden nur noch 77 Prozent der Familien mit Kindern entlastet. Die Alleinerziehenden lassen Sie draufzahlen und Sozialhilfeempfänger haben überhaupt nichts von Ihren Regelungen. Das Schlimmste ist, dass die Menschen, die kein oder nur ein geringes Einkommen beziehen, zusätzlich betroffen sind, weil Sie die öffentlichen Haushalte ruiniert haben. ({0}) Sie können sich nicht einfach jedes Buch kaufen, das sie interessiert.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sie sind auf die öffentliche Infrastruktur angewiesen. Deshalb fordern wir Sie auf, endlich Ihre Politik zu ändern. ({0}) Dann werden wir sehen, welche Chance Sie erhalten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Höll, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Unser Druck von links bleibt auf alle Fälle bestehen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache; denn die Kolleginnen und Kollegen Dr. Frank Schmidt, Wolfgang Steiger, Ulrike Höfken und Gisela Frick haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Dr. Rainer Wend, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({1}), Andrea Fischer ({2}), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Weltweite Märkte für Meerestechnik erschließen - Drucksachen 14/9223, 14/9587 Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({3}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({5}), Matthias Wissmann, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Zukunft Meer - Für eine verantwortungs- bewusste Nutzung der Meerestechnologie - Drucksachen 14/9352, 14/9588 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Margrit Wetzel Die Kolleginnen und Kollegen Margrit Wetzel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Wolfgang Börnsen, Hans- Josef Fell, Hans-Michael Goldmann, Wolfgang Bierstedt sowie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) ({6}) Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf der Drucksache 14/9587 zu dem Antrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Weltweite Märkte für Meerestechnik erschließen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf der Drucksache 14/9223 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf der Drucksache 14/9588 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Zukunft Meer - Für eine verantwortungsbewusste Nutzung der Meerestechnologie“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf der Drucksache 14/9352 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Georg Brunnhuber, Marita Sehn und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Baugesetzbuchs ({7}) - Drucksache 14/9132 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Die Kolleginnen und Kollegen Wolfgang Spanier, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Michaele Hustedt, Marita Sehn sowie Christine Ostrowski haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) - Auch hierzu gibt es keinen 1) Anlage 16 2) Anlage 17 3) Anlage 18 Widerspruch im Hause. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 14/9132 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 12: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unternehmen - Drucksache 14/9356 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hartmut Schauerte für die Fraktion der CDU/CSU.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist sicherlich meine späteste, aber nicht meine letzte Rede. ({0}) Ich rede zu dieser späten Stunde, weil es hier in erster Lesung um ein Gesetzgebungsvorhaben geht, das wohl das schnellste Gesetzgebungsvorhaben in der Geschichte des Parlamentes werden wird. Es soll heute in erster Lesung beraten, und in der nächsten Woche zur Schlussabstimmung geführt werden. Es ist ein Gesetz, das in erhebliche Rechtstatbestände eingreift und erhebliche Auswirkungen hat. Es geht um das Korruptionsregister. ({1}) - Damit wir das gleich ganz klar haben, Herr Kollege Schmidt: Wir wollen ein Korruptionsregister für rechtskräftig festgestellte Korruptionsfälle von Unternehmen, die deswegen von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen sind. Ein solches Gesetz brauchen wir, gerade auch wegen der vielen Korruptionsfälle in jüngster Zeit. Städte wie Köln und Solingen oder das Land Schleswig-Holstein lassen grüßen. Also brauchen wir ein solches Gesetz - ohne Wenn und Aber! Was mit dem vorliegenden Gesetzentwurf aber gemacht wird, ist etwas anderes. Hier wird nicht ein Gesetz zur Einrichtung eines Registers für Korruptionsfälle erlassen, sondern zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unternehmen. Im Gesetzentwurf heißt es, man wolle „schwere Verfehlungen“ erfassen. Dann sind mehr als zehn Tatbestände aufgeführt, eingeleitet mit dem Wort „insbesondere“. Das heißt, der Katalog kann täglich erweitert werden. ({2}) Sie eröffnen damit eine neue Kultur - ich will besser sagen: Unkultur - der Überwachung und der Kontrolle, weil Sie einen Generalverdacht gegenüber Unternehmen und Unternehmern hegen. Sie nehmen so Arbeitsplätze in unübersehbarer Zahl in Kollektivhaftung für Fehler, die in der einen oder anderen Weise passiert sind. ({3}) Ich will das einmal verdeutlichen. Der Gesetzentwurf enthält zum Beispiel den Vorschlag, dass in dieses Register Verstöße gegen das Kartellverbot des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen aufgenommen werden sollen. Aufgrund dieses Gesetzes hat VW in den letzten Jahren zweimal eine Strafe von mehr als 500 Millionen DM wegen Preisabsprachen von der Europäischen Kommission bekommen - ein eindeutiger Verstoß gegen Wettbewerb! VW darf kein Auto mehr an die öffentliche Hand verkaufen. Bei dem Vorgang um Trienekens und RWE - wie auch immer er gelaufen ist, was ich hier gar nicht beleuchten will - hätten 4 000 Mitarbeiter ihren Hut nehmen können. Wissen Sie, was die Landesregierung von NordrheinWestfalen gemacht hätte? - Die hätte eine Landesbürgschaft gewährt, damit das nicht passiert. Sie aber haben vor, solche Unternehmen in einem Register zu erfassen, was bedeuten würde, dass Sie die Bude schließen müssten. Das kann doch nicht wahr sein! ({4}) Ihr schlechtes Gewissen wegen Köln und Wuppertal muss so kolossal sein, dass Sie bei der Behandlung des Vorgangs jedes Maß verlieren. ({5}) Es ist unerträglich, wie hier in solch wichtige Verfahren eingegriffen wird. Hier wird Folgendes passieren: Sie sezten für morgen früh ({6}) - heute früh! - eine Sondersitzung des Wirtschaftsausschusses durch. Heute Mittag um 12 Uhr beschließen Sie ein Hearing, benennen die Sachverständigen für das Hearing - diese Sachverständigen wissen von ihrem Glück noch nichts und hören sie am kommenden Montag um 12 Uhr. Was meinen Sie, wie diese Sachverständigen darauf warten, dass wir sie für kommenden Montag um 12.00 Uhr einladen! Ein ordnungsgemäßes Beratungsverfahren für dieses erheblich eingreifende Gesetz ist nicht gewährleistet, Herr Kollege Staffelt. ({7}) Deswegen können wir diesem Verfahren nicht zustimmen. Ich wollte Ihnen aber heute in der ersten Lesung doch die Chance geben, Ihren Kenntnisstand ein bisschen zu erweitern, damit die Fehler, die Sie bei diesem Verfahren noch machen werden, nicht so schrecklich groß werden. ({8}) Vizepräsidentin Petra Bläss Ich habe Ihnen die Hälfte der Redezeit erspart, aber mindestens dies musste gesagt werden. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache, denn die Kolleginnen und Kollegen Klaus Wiesehügel, Werner Schulz, Gudrun Kopp, Ulla Lötzer sowie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) ({0}) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/9356 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Wir haben es also noch kurz vor 1 Uhr geschafft. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 28. Juni 2002, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.