Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bedeutung, die die Bundesregierung dieser
Debatte beimisst, ist daran zu erkennen, dass außer dem
Verkehrsminister, der die Regierungserklärung abgegeben
hat, kein anderer Minister anwesend ist.
({0})
Ich stelle das nur einmal fest. Gegenüber dem Anfang der
Debatte hat sich die Zahl der anwesenden Staatssekretäre
bereits vermindert. Der Prozess wird sich vermutlich so
fortsetzen. Das zeigt deutlich, welchen Stellenwert Sie
dieser Debatte beimessen.
({1})
Herr Bodewig, um Sie direkt anzusprechen: Ich denke
in der letzten Zeit eigentlich immer, wenn ich Sie höre,
dass ich offensichtlich in einem ganz anderen Land lebe.
Sie sprachen gerade davon, wie attraktiv Deutschland sei,
was Sie alles geleistet hätten und wie wunderschön diese
Welt sei. Ich stelle fest: Die Menschen in Deutschland haben Angst vor Arbeitslosigkeit. Wir haben nach wie vor
4 Millionen Arbeitslose; Sie haben versprochen, diese
Zahl auf 3,5 Millionen zu senken. Nichts ist passiert. Die
Furcht vor Arbeitslosigkeit führt zu Angstsparen.
Es gibt zurzeit keine Investitionen der Wirtschaft. Sie,
Herr Bodewig, und die ganze Regierung reden immer
wieder davon, der Aufschwung sei da. Wo bleibt er denn?
Ich kann Ihnen 25 Zitate von Herrn Eichel liefern, in denen er sagte, es gebe jetzt die ersten Anzeichen und im
nächsten Monat komme er. Wann ist dieser nächste Monat denn konkret? Ich sehe nichts als Traumtänzerei,
nichts als Versprechungen, nichts als Ankündigungen.
({2})
Dann haben Sie gesagt, früher habe sich nichts bewegt.
Ich war neulich bei einer Podiumsdiskussion über Infrastruktur mit dem Staatssekretär im Bundesministerium für
Wirtschaft, Herrn Tacke.
({3})
Da wies er auf die Leistungen dieser Bundesregierung
hin: Reformen im Telekommunikationsbereich, Reformen im Bereich der Post, Reformen im Bereich der Energiewirtschaft.
({4})
Das sind alles Reformen, meine Damen und Herren, die
wir auf den Weg gebracht haben und die Sie zum Teil wieder rückgängig gemacht haben. Das heißt, er hat mit
nichts werben können, was auf eigene Leistungen zurückgeht.
({5})
Genauso ist es mit Ihnen, Herr Bodewig.
Ich will auch ganz deutlich sagen, warum. Indem Sie
hier über Investitionen sprechen, versuchen Sie detailreich darüber hinwegzutäuschen, dass eigentlich das entscheidende Papier, die grundlegende Konzeption, die wir
alle erwarteten, nämlich der Bundesverkehrswegeplan,
nicht vorliegt.
Sie haben das in Ihre Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben. Bereits vor gut einem Jahr stöhnten Kollegen von Ihrer Seite darüber, dass Sie all dies nicht erreichten. Damals war es eine Befürchtung, dass der
Bundesverkehrswegeplan in dieser Legislaturperiode
nicht mehr verabschiedet werden würde. Heute ist aus der
Befürchtung Realität geworden, Herr Bodewig. Gleichwohl behaupten Sie, alles, was Sie auf den Weg gebracht
hätten, sei wirklich neu und zukunftsweisend gewesen.
Bundesminister Kurt Bodewig
Wir müssen feststellen, dass der Bundesverkehrsminister die Umorientierung nicht so begreift, wie wir sie brauchen. Wir brauchen eine ganz deutliche Hinwendung
zum Straßenverkehr. Wir brauchen wesentlich mehr
Mittel für die Straße, als im Haushalt angesetzt worden
sind.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor einem Jahr
hat die Unionsfraktion das Konzept „Mobilitätsoffensive“
vorgelegt. In ihm haben wir deutlich gemacht, dass zusätzlich zu den im Haushalt veranschlagten Mitteln in den
nächsten zehn Jahren 60 Milliarden ausgegeben werden
müssen.
({7})
Wir haben das sauber durchfinanziert und im Haushaltsausschuss die entsprechenden Anträge gestellt. Das alles ist von
Ihnen abgelehnt worden. Jetzt legt Ihre Partei - Sie stilisieren das zu einem Regierungsprogramm hoch - ein 90-Milliarden-Programm vor, bei dem ich aber nicht zu erkennen
vermag, wie es konkret angelegt sein soll. Auch erstaunt
mich, dass es im Gegensatz zu Herrn Eichels Finanzplanung
steht, die für die nächsten Jahre ein Abschmelzen der Investitionsmittel im Verkehrsbereich vorsieht.
({8})
Was soll also die vollmundige Ankündigung von immer neuen Programmen, wenn schlussendlich nichts davon übrig bleibt?
({9})
Sie reden und kündigen an, aber Sie handeln nicht. Sie haben jetzt doch weiß Gott genug Zeit gehabt, um zu handeln. Meine Damen und Herren, so können wir das nicht
durchgehen lassen.
Ich will nur noch einen kurzen Satz zu den anderen Politikfeldern sagen, weil Sie behauptet haben, dass alles gut
laufe. Sie haben keine Gesundheitsreform durchgeführt,
obwohl Sie sie angekündigt hatten. Sie haben kein Energiekonzept vorgelegt, obwohl Sie es angekündigt hatten.
Auch in allen anderen Bereichen nichts als Ankündigungen! So kann es nicht gehen, meine Damen und Herren.
({10})
Bei genauer Betrachtung all dessen, was Sie dargestellt
haben, ist festzuhalten: Die Maut sollte längst auf den
Weg gebracht sein.
({11})
Aber sie wird zum 1. Januar 2003 nicht kommen.
({12})
Dann haben Sie vollmundig gesagt, die Maut werde zur
Verkehrsinfrastrukturfinanzierung gebraucht. Nun ist
deutlich, dass der überwiegende Teil in die Sanierung des
Haushalts von Herrn Eichel und nicht in die direkte Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur fließt.
({13})
Das ist wie bei der Ökosteuer, die Sie zum 1. Januar 2003
wiederum anheben wollen, ein reines Abkassieren. Das
darf so nicht sein.
Sie haben dem Verkehrsgewerbe Harmonisierungen
zugesagt, diese Zusage aber nicht eingehalten. Das wird
dazu führen, dass in diesem mittelständischen Gewerbe
Betriebe Pleite gehen. Wir haben in diesem Jahr ohnehin
einen Pleitenrekord. Es wird wegen Ihrer Politik noch
mehr Pleiten geben. Wer keine Harmonisierung vorsieht
- Herr Bodewig, Sie haben heute überhaupt nicht darüber
gesprochen -,
({14})
trägt dazu bei, dass ein wichtiger Teil des deutschen Verkehrsgewerbes in die Pleite getrieben wird.
({15})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch auf andere Punkte eingehen. Zum Thema
Transrapid ist zunächst festzuhalten, dass Sie es waren,
die die Strecke von Hamburg nach Berlin eingestellt haben. Jetzt sprechen Sie von zwei neuen Projekten. Das ist
sehr schön. Wo ist aber die Finanzierung dieser Projekte?
Im Haushalt 2003 ist nichts enthalten und für die Folgejahre, Herr Bodewig, haben Sie noch nicht einmal eine
müde Milliarde eingestellt. Das nennt eine Zeitung
„Kainsmal für den Standort Deutschland“, eine andere titelt „Schnell ohne Geld“. Auch in dieser Frage sind Sie
also absolut unglaubwürdig.
({16})
Die Projekte, von denen Sie sprechen, Herr Bodewig,
betreffen stets Dinge, die Sie nicht gemacht haben. Davon
wollen Sie jetzt ablenken. Das gilt auch für die Verlagerung von Verkehr von der Straße auf die Schiene. Sie
haben nichts geleistet. Die Bahn hat Interregiostrecken
abgebaut und Annahmestellen für Fracht geschlossen. Sie
haben dem nur zugeschaut, und zwar - wie Ihr Vorbild mit einer ganz ruhigen Hand. Getan haben Sie nichts. Wie
wollen Sie eigentlich die Bereitschaft wecken, Verkehr
von der Straße auf die Schiene zu bringen, wenn Sie eine
solche Politik der Ausdünnung des Schienennetzes und
der gleichzeitigen Schließung von Annahmestellen betreiben? Ihre Politik, Herr Bodewig, geht genau in die
falsche Richtung. Deshalb werden wir das korrigieren
müssen.
Sie haben auch zugeschaut, als die Bahn Wettbewerb
nicht zugelassen hat.
({17})
Sie müssen sich nur einmal mit denjenigen unterhalten,
die Wettbewerb mit der Bahn möchten. Sie stellen dann
fest: Die Bahn stellt Interregios ein, lässt aber nicht zu,
dass andere diese Interregiostrecken nutzen. Lieber will
Dr. Klaus W. Lippold ({18})
sie Wagen verschrotten, als sie anderen zur Verfügung zu
stellen.
({19})
Lieber will sie, dass der Verkehr in bestimmten Regionen
nicht mehr stattfindet. Gegen diesen Monopolisten tun Sie
nichts. Wer ist eigentlich Verkehrsminister, Herr Mehdorn
oder Sie?
({20})
Diese Frage beantwortet sich, wenn ich in die Gesichter
Ihrer Kollegen sehe, ganz von selbst.
Machen wir uns nichts vor: Das ist nicht die Politik, die
wir brauchen. Es nützt auch nichts, wenn Sie in Vertretung
des Bundeskanzlers nach Schanghai fahren und dort den
Transrapid einweihen. Hier, in der Bundesrepublik
Deutschland, sollten Sie ihn einweihen.
({21})
Das wäre eine Position, die wir brauchen könnten.
({22})
Weiter sprachen Sie davon, Sie hätten die Mittel für die
Bahn erhöht. Sie müssten aber auch auf die Bahn einwirken, dass sie diese Mittel verausgabt.
({23})
Jahr für Jahr werden hohe Millionenbeträge, die der Bahn
für Investitionen zur Verfügung stehen, nicht in Investitionen und damit nicht in Arbeitsplätze umgesetzt. Das ist
ein Skandal. Sie haben ihn erst bestritten; als wir es Ihnen
nachweisen konnten, wurde der zuständige Bahnvorstand
gefeuert. Das sind Bauernopfer; die falschen Leute gehen.
Wer etwas Richtiges will, muss auch dafür sorgen, dass
die Mittel, die für die Bahn zur Verfügung gestellt werden,
ausgegeben werden. Alles andere ist falsch. Das können
wir so nicht akzeptieren.
({24})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie hörten,
dass Herr Bodewig davon gesprochen hat, dass für den
Flugverkehr etwas getan werden muss. Wenn Sie sich
den entsprechenden Bericht des Ministeriums und der
Bundesregierung ansehen, dann werden Sie feststellen,
dass darin lediglich eine Situationsbeschreibung erfolgt.
Daraus ist nicht zu erkennen, wo was nachdrücklich angeschoben werden soll, wo und wie diese Bundesregierung mit Nachdruck initiativ ist. Es handelt sich also auch
hierbei um eine bloße Ankündigung, mit der Sie ablenken.
Die deutsche Wirtschaft spricht nicht nur im Hinblick
auf die Straße und auf die Bahn von einer Instandhaltungskrise. Die deutsche Wirtschaft macht das an Ihnen
fest, weil in den letzten vier Jahren zur Beseitigung dieser
Instandhaltungskrise nichts getan worden ist.
({25})
Wenn Brückenstücke einstürzen, Herr Bodewig, dann
kann das nicht länger hingenommen werden.
Das sind Positionen, über die Sie hinwegreden, als hätten andere das alles zu verantworten, nur nicht Sie. Ich
sage Ihnen ganz deutlich: In dieser Form geht es wirklich
nicht.
Wir brauchen einen Verkehrsminister, der sich gegenüber der Bahn durchsetzen kann, der die notwendigen
Mittel nicht nur ankündigt, sondern sie gegenüber dem Finanzminister auch durchsetzt, einen Verkehrsminister, der
dafür sorgt, dass die Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur der Bundesrepublik Deutschland nicht nur angekündigt, sondern auch jetzt sofort getätigt werden und
damit ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
geleistet wird.
Bislang haben Sie dies nicht geschafft. Deshalb werden
wir diesen Ansatz nach dem 22. September ohne jeden
Abstrich verändern. Wir werden mehr Mittel für die Infrastruktur, für Straßenbau und für Schiene zur Verfügung
stellen; wir werden beide gleichrangig fördern. Wir werden auch dafür sorgen, dass Wasserstraßen und Flughäfen
besser bedient werden.
({26})
Wir werden die Grundlage für eine Politik schaffen, die
den Aufschwung und Arbeitsplätze ermöglicht, also das,
was mit Ihnen bedauerlicherweise nicht zu realisieren ist.
Vielen Dank.
({27})
Ich erteile dem Kollegen Reinhard Weis, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eben eine
sehr schwache Rede in Reaktion auf die Regierungserklärung von unserem Minister Kurt Bodewig gehört.
({0})
Schlecht reden, Vorurteile schüren, das war der Inhalt dessen, was Herr Lippold uns hier angeboten hat. Es wird Ihnen in Ihrer giftigen Art nicht gelingen, das zu zerreden,
was wir an Erfolgsbilanz aufzuweisen haben.
({1})
Ich freue mich, dass ich hier Gelegenheit habe, für
meine Fraktion Bilanz über eine äußerst erfolgreiche verkehrspolitische Legislaturperiode zu ziehen. Bundesregierung und Koalitionsfraktionen haben die Verkehrspolitik endlich wieder vorangebracht, nachdem sie in
16 Jahren Kohl-Regierung buchstäblich zur Sparkasse der
Nation gemacht wurde. Nach nur vier Jahren haben wir
eine Trendwende geschafft. Vom absoluten Tiefststand
der Verkehrsinvestitionen am Ende der schwarz-gelben
Dr. Klaus W. Lippold ({2})
Regierungszeit 1998 geht es seit 1999 kontinuierlich wieder aufwärts, bis zu der Rekordmarke dieses Jahres von
1,5 Milliarden Euro für Verkehrsinvestitionen.
({3})
Wir haben die Weichen für ein modernes, effizientes
und umweltverträgliches Verkehrsnetz gestellt, in dem
alle Verkehrsträger - Straße, Schiene, Wasserstraße und
Luftverkehr - ihren eigenen Schwerpunkt haben. Mit
mehreren Investitionsprogrammen haben wir den Ausbau
dieses integrierten Verkehrsnetzes vorangetrieben.
Wir haben das Schienennetz überproportional mit Investitionsmitteln begünstigt: Es ist richtig, es gab Anfangsschwierigkeiten beim Einsatz dieser unerwartet zur
Verfügung stehenden Mittel. Aber ich bin davon überzeugt: In diesem Jahr wird der Bahn auch die Punktlandung bei der Ausgabe dieser Mittel gelingen.
({4})
Wir haben ein Investitionsprogramm eingeleitet, mit
dem endlich die Langsamfahrstellen im Schienennetz, im
Bestandsnetz beseitigt werden.
Besonders begrüßen will ich an dieser Stelle, dass es
der Bundesregierung gelungen ist, den Ländern und den
Abgeordneten des Deutschen Bundestages schon jetzt
sämtliche Rohdaten für den nächsten Bundesverkehrswegeplan zur Verfügung zu stellen.
({5})
- Immer mit der Ruhe! - Wer sich mit diesen Daten näher
beschäftigt hat, weiß, welcher Kraftakt hier zu leisten war.
Über 1 900 Projekte waren von den Ländern angemeldet
worden und sind vom Ministerium für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen in Zusammenarbeit mit externen Fachleuten hinsichtlich ihrer Kosten und Risiken, hinsichtlich
ihrer verkehrlichen Bedeutung usw. bewertet worden.
Gleichzeitig wurde ein völlig neues und ökologisch anspruchsvolles Bewertungsraster erstellt.
Die Länder werden nun bis zum Ende des Sommers die
vorhandenen Daten auf ihre Plausibilität und Vollständigkeit zu überprüfen haben. Sie werden auch - darauf warten wir alle mit Spannung - eine Prioritätenliste zu erstellen haben. Eine derartige Transparenz bei der Erstellung
des Bundesverkehrswegeplanes hat es in der Geschichte
der Bundesrepublik bisher noch nicht gegeben.
({6})
Vor diesem Hintergrund ist jedes kleinliche Geningele
darüber, dass der Bundesverkehrswegeplan noch nicht
endgültig verabschiedet worden ist, doch albern.
({7})
Ich möchte Sie daran erinnern, wie vehement Sie am Anfang dieser Legislaturperiode die Notwendigkeit der
Überarbeitung des Bundesverkehrswegeplanes bestritten
und in Abrede gestellt haben.
({8})
Wir haben dafür gesorgt, dass der unrealistische Bundesverkehrswegeplan von 1992, den Sie zu verantworten hatten, zehn Jahre früher überarbeitet wird. Ab 2003 wird die
gesetzgeberische Arbeit zu dem Bundesverkehrswegeplan abgeschlossen sein.
In den letzten vier Jahren sind wir auch bei der Verkehrssicherheit entscheidend vorangekommen. Neben
dem Handyverbot am Steuer haben wir endlich eine klare
0,5-Promille-Regelung eingeführt. In Ihrer Regierungsverantwortung konnten Sie sich dazu nie durchringen,
sondern Sie pflegten augenzwinkernd die Vorstellung,
eine Verletzung der 0,5-Promille-Grenze sei ein Kavaliersdelikt. Mit dem Programm „Mehr Sicherheit im
Straßenverkehr“ schützen wir vornehmlich die schwächeren Verkehrsteilnehmer, die Kinder, die Älteren und mobilitätsbehinderte Menschen.
Wir haben die Bahnreform aus der Sackgasse herausgeholt, in die sie einer Ihrer Bundesverkehrsminister,
nämlich Kollege Wissmann, erst hineingefahren hat. Wir
haben die Investitionsmittel für die Schiene um 59 Prozent gesteigert.
Wir haben das Regionalisierungsgesetz verabschiedet.
Wir haben in zähen Verhandlungen Einvernehmen über
Höhe und Art der Dynamisierung der Regionalisierungsmittel erzielt und bereits im laufenden Haushaltsjahr werden die Regionalisierungsmittel des Bundes an die Länder auf 6,7 Milliarden Euro ansteigen.
Herr Kollege Weis,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert
von der PDS-Fraktion?
Bitte.
Lieber Kollege Weis, Sie sprachen gerade so euphorisch davon, dass Menschen mit
Mobilitätseinschränkungen, zum Beispiel behinderte
Menschen, von Ihrem Bahnkonzept profitieren würden.
Können Sie mir bitte einmal sagen, warum immer noch
nicht festgelegt ist, dass jedes neue Verkehrsmittel, das
angeschafft wird, und zwar egal von wem, zum Beispiel
Deutsche Bahn AG oder Vivendi -, alle Menschen, die es
wünschen, zum Beispiel Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, Menschen mit Kinderwagen, mitnehmen
können muss? Warum um Himmels willen legen Sie nicht
fest, dass ein Verkehrsmittel, das nicht jeden Menschen
mitnehmen kann, kein öffentliches Verkehrsmittel ist?
({0})
Herr Seifert, Sie
wissen, dass wir in dieser Legislaturperiode ein Gesetz
Reinhard Weis ({0})
verabschiedet haben, das den Mobilitätsbedürfnissen behinderter Menschen gerecht wird. Das Prinzip der Barrierefreiheit ist verankert. Dieses Gesetz gilt seit dem
1. Mai dieses Jahres. Sie wissen auch, dass es zum Beispiel bei der DB AG Bemühungen und Abstimmungen
mit dem eigenen Behindertenbeauftragten, den die
DB AG hat, gibt, das Ziel, das Sie ansprechen, umzusetzen. Dieser Auftrag ist in dem neuen Gesetz verankert.
Wir als Gesetzgeber werden natürlich die Wirkung dieses
Gesetzes und die Abwicklung der Verkehre, sei es auf der
Schiene oder auf der Straße, zu überprüfen und zu gegebener Zeit darauf zu reagieren haben.
({1})
Herr Kollege Weis,
gestatten Sie eine Nachfrage des Kollegen Seifert?
Ja.
Natürlich weiß ich, dass das
Gleichstellungsgesetz erst seit dem 1. Mai diesen Jahres
in Kraft ist. Aber ich weiß auch, dass in diesem Gleichstellungsgesetz nicht festgelegt ist, ab wann keine neuen
behindertenfeindlichen Verkehrsmittel mehr eingeführt
werden dürfen. Es steht nur darin, dass es irgendwann
nicht mehr sein soll, aber nicht, ab wann, geschweige
denn, dass es Übergangsfristen gibt.
Außerdem sprachen Sie von dem Behindertenbeauftragten der Bahn AG. Mir wurde gesagt, dass die Bahn AG
jetzt beginnt, ein Konzept zu erarbeiten.
Herr Kollege Seifert,
Sie müssen eine Frage stellen.
Entschuldigung, Herr Präsident! - Warum haben Sie nicht vorgegeben, ab wann
keine behindertenfeindlichen Fahrzeuge mehr angeschafft werden dürfen und bis wann die vorhandenen
Fahrzeuge umgerüstet bzw. ausgetauscht werden müssen? Es reicht doch nicht aus, dass die Bahn AG jetzt beginnt, ein Konzept zu erarbeiten. Seit Jahrzehnten sind die
Herr Seifert, entschuldigen Sie, dass ich schon jetzt mit der Antwort beginne. Die Verantwortlichen für Verkehrsleistungen haben mit dem neuen Gesetz ein Datum gesetzt bekommen,
nämlich den 1. Mai, sich dieser Aufgabe zu stellen. Das
Ziel der Barrierefreiheit ist nicht auf Knopfdruck zu erreichen. Wir werden die Entwicklungen und die Reaktionen auf dieses Gesetz beobachten.
({0})
Im Zusammenhang mit dem Schienenverkehr und mit
neuen Rahmenbedingungen für den Schienenverkehr haben wir mit der AEG-Novelle erstmals eine funktionstüchtige Wettbewerbsaufsicht für die Schiene geschaffen und zugleich Chancen für Streckenübernahmen durch
nicht bundeseigene Bahnen verbessert. Hier geht zum einen natürlich der Dank in Richtung Bundesregierung. Wir
als Parlamentarier der Koalitionsfraktionen wissen aber
auch, dass wir an dieser einvernehmlichen Lösung ebenfalls einen erheblichen Anteil haben. Natürlich haben
auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
in Ihrer Regierungszeit davon gesprochen, wie notwendig
die Verlagerung von der Straße auf die Schiene ist. Getan
haben Sie dafür allerdings nichts. Deshalb begrüßen wir
ausdrücklich die Ergebnisse der Taskforce, eine stärkere
Unabhängigkeit des Netzes durch transparente Leistungsverrechnungen, Bilanzen sowie Gewinn- und Verlustrechnungen, die zu veröffentlichen sind, innerhalb des
Konzerns DB AG herzustellen und eine unabhängige
Trassenagentur einzurichten, die die Diskriminierungsfreiheit von Trassenpreisen und Trassenvergabe kontinuierlich sicherstellen soll. Wir werden diese Ergebnisse so
rasch wie möglich umsetzen. Sie haben immer nur von
Wettbewerb geredet. Wir machen ihn möglich.
({1})
Es ist richtig, dass Sie an dieser Stelle ganz ruhig bleiben. Die Beiträge der Oppositionsparteien zum Thema
Bahn waren nämlich Dokumente der Zerstrittenheit in
Ihren Reihen. Ihr Fraktionsvorsitzender Herr Merz und
sein Fraktionskollege Fischer haben noch Anfang April
lauthals die konsequente Trennung von Netz und Betrieb
der DB AG gefordert. Das hat Ihren Kanzlerkandidaten
Herrn Stoiber allerdings wenig beeindruckt. Mit Schreiben
vom 22. April dieses Jahres versichert er Herrn Mehdorn,
eine Abtrennung des Schienennetzes aus der DB AG
werde es mit ihm nicht geben.
({2})
Die Beschlüsse der Taskforce weisen in die richtige Richtung. Sie im so genannten Kompetenzteam sollten erst
einmal untereinander klären, welche Verkehrspolitik Sie
wollen und wer zu welcher Aussage berechtigt ist.
({3})
Ein weiterer Meilenstein der letzten Legislaturperiode
war die Einführung der entfernungsabhängigen LKWMaut. Auch zu diesem Thema hat die Opposition ihre
Rolle leider noch nicht gefunden. Eigentlich haben Sie
das Vorhaben mit auf den Weg gebracht. Aber als es dann
ernst wurde, schalteten Sie leider auf Populismus. Die
entfernungsabhängige LKW-Maut nimmt eine Schlüsselrolle in unserer Verkehrspolitik ein. Sie beteiligt ausländische Fahrzeuge endlich angemessen an der Finanzierung
unserer Verkehrsinfrastruktur. Die Wegekosten werden
verursachergerecht angelastet. Das ist ein erster Schritt,
Wettbewerbsverzerrungen auf dem europäischen Transportmarkt abzubauen. Zu dem Problem der Wettbewerbsverzerrungen werde ich später noch zurückkommen.
Mit der LKW-Maut werden wir neue Investitionsspielräume erschließen. Mehr als die Hälfte der Mittel ist für
zusätzliche Verkehrsinvestitionen zweckgebunden. Das
Anti-Stau-Programm wird ab dem nächsten Jahr mit
756 Millionen Euro jährlich finanziert werden, übrigens
unabhängig davon, dass die Maut voraussichtlich erst ab
Reinhard Weis ({4})
Mitte 2003 erhoben wird. Entsprechende Verpflichtungsermächtigungen sind im Haushalt eingestellt, damit die
Finanzierung des Anti-Stau-Programms schon zu Jahresbeginn gesichert ist.
Auch für die nächste Legislaturperiode haben wir uns
viel vorgenommen. Die Mobilitätsansprüche werden weiter wachsen. Deshalb bleibt der Ausbau des integrierten
Verkehrsnetzes eine dauerhafte Aufgabe. Wir werden den
Bundesverkehrswegeplan im Jahr 2003 verabschieden.
Wir wollen das Volumen des Güterschienenverkehrs bis
zum Jahr 2015 verdoppeln. Das ist ehrgeizig. Aber als das
am stärksten belastete Transitland in Europa gibt es dazu
keine Alternative.
({5})
Die Bahn muss in die Lage versetzt werden, ihre verkehrspolitische Rolle wahrnehmen zu können.
Wir begrüßen ausdrücklich das 90-Milliarden-EuroInvestitionsprogramm, das der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Kurt Bodewig, vorgestellt hat. Bereits die Vorlage des Verkehrshaushaltes 2003
in diesen Tagen zeigt uns ein wachsendes Investitionsvolumen mit der neuen Rekordhöhe von rund 12 Milliarden
Euro für 2003. Davon entfallen 4,6 Milliarden Euro allein
auf die Schiene und 4,9 Milliarden Euro auf die Bundesfernstraßen.
Kritik aus den Reihen der Opposition ist vor dem Hintergrund dieser Zahlen geradezu lächerlich. Angesichts
des Ziels der Opposition, die Staatsquote auf 40 Prozent
zu senken, möchte ich wissen, aus welchem Topf die Investitionen, die Sie fordern, bezahlt werden sollen.
({6})
Wir müssen uns überlegen, wie wir die Übergänge zwischen Straße, Schiene und Wasserstraße noch effizienter
gestalten können. Der Kombiverkehr hat immer noch nicht
die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt. Wir haben deswegen das bestehende Instrumentarium überprüft. Wir werden
die Förderrichtlinien effizienter gestalten, damit wir die
Verdoppelung des Mittelansatzes, die wir uns vorgenommen haben, auch erreichen können. Das kann zum Beispiel
dadurch geschehen, dass auch mobile Verladeeinrichtungen in den Kombiterminals finanziert werden können.
Wir müssen auch darüber nachdenken, wie die Verantwortung für die kommunale Verkehrsinfrastruktur gestärkt wird. Das ist zwar keine originäre Bundesangelegenheit, aber zum Verkehrssystem gehören nicht nur
Bundesautobahnen und Bundesstraßen.
Mein Kollege Wolfgang Spanier hat in der vergangenen
Sitzungswoche hier im Deutschen Bundestag das Problem
der Stadtflucht angesprochen und vor einem Ausbluten der
Städte gewarnt. Aus verkehrspolitischer Sicht möchte ich
diese Warnung ausdrücklich unterstreichen.
({7})
Die städtische Infrastruktur ist Teil des öffentlichen Raumes, den wir für die Bürgerinnen und Bürger erhalten und
pflegen und den wir dort, wo er vernachlässigt worden ist,
zurückgewinnen müssen. Auch das gehört zu unserem integrativen verkehrspolitischen Ansatz. Obwohl der Bund
hierfür keine originäre Verantwortung und Zuständigkeit
hat, werden wir uns dieser Aufgabe in der Zukunft stellen
müssen.
({8})
Wir haben uns vorgenommen, die Lebensqualität in
den Städten und Gemeinden weiter zu verbessern.
300 Ortsumfahrungen stehen deshalb in unserem Investitionsprogramm. Es geht uns aber auch um die Bedingungen für den öffentlichen Personennahverkehr sowie für
Fahrradfahrer und Fußgänger.
({9})
Schließlich werden wir uns weiter um die in den Städten
bestehenden Umweltbelastungen durch den Verkehr kümmern müssen. Verkehrslärm ist immer noch ein Hauptproblem bei der Beeinträchtigung der Wohnqualität.
({10})
Noch ein Wort zur aktuellen Diskussion über die
Bahnwerke: Wir haben großes Verständnis für die Sorgen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Werken,
für die noch keine Bestandslösung gefunden wurde. Auch
wissen wir, wie eine Schließung vor allem der drei sächsischen Werke auf die betroffenen Regionen wirken
würde. Wir begrüßen es daher außerordentlich, dass im
vergangenen Jahr auf Anregung des Bundeskanzlers Verhandlungen zwischen der Bahn und den Gewerkschaften
in Gang gekommen sind. Diese Gespräche sind wegen des
grundlegenden Strukturwandels in diesem Bereich
schwierig. Aber ich bin sicher, dass die Bundesregierung
weiterhin jedes realistische Konzept für den Erhalt dieser
Werke konstruktiv begleiten wird.
Es bleibt allerdings festzuhalten: Die wirtschaftliche
Verantwortung für diese Werke liegt beim Vorstand der
DB AG. Es führt deshalb überhaupt nicht weiter, zum Beispiel umfangreiche und nicht finanzierbare Programme
zur Umrüstung des Wagenparks der Bahn zu fordern, wie
das in einem Antrag der PDS getan wurde. Sie alle wissen,
dass der Bund erhebliche finanzielle Anstrengungen unternimmt, um das System Schiene zu stärken. Darin wird
die Lösung für die Probleme im Werkebereich bestehen.
({11})
Wir halten an unserem Ziel, die Wettbewerbsbedingungen für alle Verkehrsträger fairer zu gestalten, fest.
Die Bahn ist nicht nur gegenüber dem Straßenverkehr,
sondern auch gegenüber dem Flugverkehr benachteiligt.
Das dürfen wir auf Dauer nicht so lassen.
Im grenzüberschreitenden Schienengüterverkehr bestehen schlimme Wettbewerbsnachteile gegenüber dem
Straßenverkehr. In diesem Bereich brauchen wir größere
Fortschritte, weil hier das größte Zuwachspotenzial für
den Schienengüterverkehr besteht. Manche Grotesken in
Europa, zum Beispiel drei Spurweiten, zwölf Schienensicherungssysteme und fünf Stromsysteme, müssen wir
überwinden. Hier mahlen die Mühlen auf EU-Ebene sehr
Reinhard Weis ({12})
langsam. Zudem ist dies ein schwieriges technisches Problem.
Auch hinsichtlich des Wettbewerbs auf dem europäischen Straßengüterverkehrsmarkt bleibt viel zu tun. Unsere
EU-Partner sind in einen Subventions- und Dumpingwettlauf eingetreten, der beim deutschen Transportgewerbe eine schwierige Situation erzeugt hat. Auch wenn die
Subventionen der Nachbarn zum Ende dieses Jahres definitiv auslaufen werden, müssen wir auf europäischer
Ebene weiter die Initiative ergreifen,
({13})
um endlich das Problem der Wettbewerbsverzerrungen
vom Tisch zu bekommen. In diesem Bereich wird eine
Lösung gefunden werden müssen.
In diesem Zusammenhang - auch wegen des Zurufes ein Wort an die Adresse von CDU/CSU und FDP: Sie mögen sich mit Ihrer Forderung, das deutsche Transportgewerbe um 1 Milliarde Euro zu entlasten, bei dieser Gruppe
lieb Kind machen wollen. Das mag kurzfristig denkenden
Gemütern genügen.
({14})
- 1 Milliarde haben wir nie versprochen. Das kommt von
der CDU/CSU-Fraktion. - Mit dem Entlastungsvolumen,
das aus den Einnahmen aus der Erhebung der LKW-Maut
zur Verfügung steht, würden Sie das Mautprojekt zu einer
sinnlosen Umverteilungsmaschine entarten lassen.
({15})
Neue Investitionsspielräume, wie Sie sie fordern, würden
Sie auf diese Weise nicht gewinnen.
({16})
Zur Bilanz - das ist dann der Abschluss meines Beitrages, Herr Präsident - gehört ein Blick auf die Zusammenlegung der beiden bisher getrennten Ministerien für Verkehr einerseits und für Bau- und Wohnungswesen
andererseits. Dieses Projekt halte ich für geglückt. Die
Zusammenlegung der Ausschüsse allerdings müsste
noch einmal überdacht werden; das ist bereits in der
letzten Sitzungswoche im Rahmen der Wohnungsdebatte
angesprochen worden.
({17})
Es ist nicht unüblich, dass ein einziges Ministerium von
mehr als einem Ausschuss parlamentarisch begleitet wird.
Aufgrund der Themenfülle aus beiden Politikbereichen haben uns die Ausschusssitzungen bisweilen über
die Maßen strapaziert - in ihrer zeitlichen Dauer, in den
nicht enden wollenden Tagesordnungen und auch in manchen nicht enden wollenden Diskussionsbeiträgen. Ich
möchte mich deshalb bei Ihnen, Herr Vorsitzender, lieber
Edi Oswald, für die Arbeit bedanken, die Sie für diesen
schwierigen Ausschuss zu leisten hatten.
({18})
Sie haben die Sitzungen immer mit Humor und mit großer
Fairness geleitet. Herzlichen Dank dafür.
({19})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Horst Friedrich, FDP-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr
verehrter Herr Verkehrsminister, ich habe mit großer Aufmerksamkeit und Anspannung Ihren Worten gelauscht
- zumindest das hat eine Abschiedsregierungserklärung
verdient -, aber die Ausführungen haben mich nicht erstaunt. Es war zum wiederholten Male der misslungene
Versuch, eine in sich stimmige Systematik in der Verkehrspolitik darzustellen.
({0})
Herr Minister, Sie gehen ja schon von falschen Voraussetzungen aus. Sie haben Ihre Ausführungen mit der
Aussage eingeleitet, Deutschland sei ein attraktiver Wirtschaftsstandort. Die Realität ist: Es hat noch nie so viele
Pleiten in Deutschland gegeben wie in diesem Jahr unter
Ihrer Regierung.
({1})
Sie haben ausgeführt, Sie hätten sichere Finanzen für
die Verkehrswege gewährleistet. Ich erinnere nur an die
Zusage von Bundeskanzler Schröder vor einigen Monaten in Thüringen, die ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt, das
Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“ Nr. 8, jetzt zügig umzusetzen. Ich bin gespannt, wie sich das in den Finanzplänen auswirkt. Ich sehe da noch nichts.
Sie haben die Luftfahrtpolitik gelobt. Fakt ist: Alle
anderen Luftfahrtgesellschaften in Europa, die vom
Schließen des Luftraums in den USA vom 11. bis 15. September 2001 betroffen waren, haben ihre Ausgleichszahlungen bereits erhalten, nur die deutschen Luftfahrtgesellschaften noch nicht. Warum eigentlich nicht, Herr
Minister?
Der letzte Punkt: Sie haben die Tonnagesteuer gelobt.
Das ist richtig. Diese Steuer haben wir ja noch beschlossen. Nur, Sie haben zwei Jahre gebraucht, um die Verordnung umzusetzen, damit endlich mit der Tonnagesteuer
gearbeitet werden kann.
({2})
Das ist Ihre Regierungspolitik, Herr Minister! Dass Sie
in dieser Zeit drei Minister und sagenhafte zehn Staatssekretäre brauchen, um diese schlechte Leistung an den
Mann zu bringen, wundert im Endeffekt nicht mehr.
({3})
Herr Minister, Sie haben viele neue Programme mit
immer neuen Überschriften aufgelegt, dabei aber im
Grunde immer nur das gleiche Geld lediglich über andere
Zeiträume verteilt, um nach außen zu signalisieren, Sie
Reinhard Weis ({4})
würden mutig investieren. Ob im Investitionsprogramm,
im so genannten Anti-Stau-Programm oder im Programm
„Bauen jetzt“ - Sie verteilen Geld, das Sie noch nicht
haben und wahrscheinlich zu dem von Ihnen selbst gesetzten Zeitpunkt nicht erhalten werden. Dadurch werden
konsequenterweise auch Ihre Programme notleidend.
Ich will das im Einzelnen erklären: Das Investitionsprogramm war der erste so genannte Wurf Ihres Hauses.
In dem Zeitraum, der tatsächlich zur Verfügung steht,
1999 bis 2002, haben Sie 18,6 Milliarden DM für den
Straßenbau zur Verfügung gestellt. Das ist nicht mehr,
aber auch nicht weniger, als wir zur Verfügung gestellt
hatten. Aber danach, ab 2003, läuft das Programm mit
22 Milliarden. Sie ziehen also bereits hiermit einen Wechsel auf die Zukunft, weil Sie noch gar nicht wissen, wie
2003 die Situation aussieht.
Zum Anti-Stau-Programm: Die einzige und damit
die Hauptfinanzierungsquelle dieses Programms ist die
Umstellung der LKW-Maut von der zeitbezogenen Vignette auf die streckenabhängige Gebühr. Ja, liebe Kollegen und Kolleginnen, seit dem Jahre 2000 - ich sage nur:
Landtagswahl Nordrhein-Westfalen; ein Schelm, wer Böses dabei denkt - tragen Sie dieses Programm gewissermaßen wie eine Monstranz als Lösung der Krise in der
deutschen Bauindustrie und in der Infrastruktur vor sich
her. Und was ist am Ende Ihrer Regierungszeit tatsächlich
passiert? Ihr Haus, Herr Minister Bodewig, hat es aufgrund einer dilettantischen Verfahrensweise noch nicht
einmal geschafft, das Ausschreibungsverfahren so hinzubekommen, dass es gerichtsfest war.
({5})
Sie mussten durch das Gericht gezwungen werden, einen
weiteren Anbieter in das Verfahren zu nehmen, wodurch
es natürlich zeitlich verlängert wird - und das bei dem
Haus, das eigentlich für die Grundlagen der Ausschreibungen insgesamt zuständig ist. Das ist eine Blamage auf
sehr hohem Niveau.
Bis heute, Herr Minister, sind Sie nicht in der Lage zu
entscheiden, welches Konsortium tatsächlich den Zuschlag für die Errichtung des Systems erhält. Ich sage Ihnen voraus: Das unterlegene Konsortium wird sicherlich
gegen diese Entscheidung klagen, insbesondere deswegen, weil einige gewöhnlich gut unterrichtete Kreise bereits veröffentlicht haben, dass ein ganz bestimmtes Konsortium schon den Zuschlag erhalten hat. Wie sich das mit
einer seriösen Vergabepolitik verträgt, müssen Sie selber
entscheiden. Ich kann Ihnen nur sagen: Das war wirklich
Dilettantismus auf hohem Niveau.
({6})
Wenn man seriöserweise annimmt - dazu verwende
ich Ihre Zahl, Herr Minister -, dass für die Errichtung des
Systems und die entsprechenden Probeläufe wenigstens
ein Jahr anzusetzen ist, kann man davon ausgehen, dass
der Beginn einer Mautpflicht zum 1. Januar 2003 absolut illusorisch ist. Ihr Haus weist nun mit Vehemenz auf
den 1. Juli 2003 hin, auch diesen Termin sehe ich noch
nicht. Wir sollten seriöserweise davon ausgehen, dass der
1. Januar 2004 der richtige Zeitpunkt ist, und zwar unabhängig davon, ob es einen passiven Widerstand gegen den
Einbau der On-board-Units geben wird oder nicht. Ich
glaube, vor diesem Zeitpunkt ist das nicht zu realisieren.
Wenn sich aber, Herr Minister Bodewig, der Zeitpunkt
für die Einführung der Maut verschiebt, dann verschieben
sich selbstverständlich auch die daran hängenden Programme. Das gilt sowohl für das Anti-Stau-Programm als
auch für das von Ihnen konzipierte Programm „Bauen
jetzt“ - das soll der allseits selig machende Rundumschlag sein -, also den Anbau von dritten Streifen an bestehende Autobahnen durch private Vorfinanzierung. Da
auch hier die Finanzierung mindestens zur Hälfte und vor
allen Dingen initiativ durch die Abtretung von Mauteinnahmen erfolgen soll, wird auch dieses von Ihnen als
große Unterstützung des deutschen Baugewerbes mit
großem Trara vorgestellte Programm wahrscheinlich später, wenn überhaupt, starten.
Vor allen Dingen - Herr Minister, das sollten Sie ernst
nehmen - schließen Sie mit dieser Regelung weite Teile
der mittelständischen Bauindustrie von diesen Modellen
aus. Sie sind nämlich dank Ihrer konsequenten Steuerpolitik in dieser Wahlperiode nicht in der Lage, die Vorfinanzierung sicherzustellen.
({7})
Damit lassen Sie große Teile der mittelständischen Bauwirtschaft sehenden Auges an die Wand fahren.
Das gleiche Desaster ist nun mit Ihrem Versprechen
passiert, in der 14. Legislaturperiode einen neuen Bundesverkehrswegeplan aufzustellen; dies ist Inhalt Ihrer
Koalitionsvereinbarung. Er ist sicherlich auch notwendig,
um die von Ihnen ausgelöste Programmitis durch verlässliche Programmatik zu ersetzen. Was Sie uns und den
Ländern jetzt allerdings auf einer CD abgeliefert haben, ist bestenfalls der Versuch eines neuen Bundesverkehrswegeplans.
({8})
Die schiere Auflistung aller angemeldeten Projekte mit
der lapidaren Begründung „Einstufungsvorschlag: noch
offen“ für alle Projekte ist keine Arbeitsgrundlage für die
Bundesländer, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
der Regierungskoalition. Das haben die Länder nach mir
vorliegenden Informationen auch übereinstimmend so gesehen, egal von welcher Mehrheit sie derzeit noch regiert
werden. Sie haben dazu Folgendes gesagt:
Die Länder haben die Vorlage der Unterlagen mit Interesse entgegengenommen. Eine erste Durchsicht
zeigt aber, dass viele der vom BMVBW vorgelegten
Bewertungen unvollständig, fehlerhaft und nicht immer tragfähig sind. Aufgrund des Prüfvorgangs ist
erwartbar, dass es zu einem Datenrückfluss an das
BMVBW für neue Bewertungsläufe kommen wird,
um eine stabile Datenbasis zu erreichen. Eine Priorisierung der Projekte auf Landesebene bedarf der politischen Absicherung und ist fachlich nur möglich
auf fester Datenlage sowie in Kenntnis des künftigen
Finanzrahmens, der Abschneidegrenze für den vordringlichen Bedarf und in Kenntnis des endgültigen
Kollektivs indisponibler Maßnahmen. Deshalb wird
Horst Friedrich ({9})
es nicht gelingen, noch vor Ende dieser Bundestagswahlperiode, geschweige denn in sechs Wochen, der
Bitte des BMVBW um Priorisierung der Projekte
seitens der Länder zu entsprechen.
Herr Minister, alle diese Antworten sind Sie auch heute
schuldig geblieben.
({10})
Vernichtender kann man die Vorarbeit Ihres Hauses zu
diesem wichtigen Thema und zur Planbarkeit von Investitionen nicht ausdrücken.
Ebenso ungelöst ist das Thema „Investitionen bei der
Bahn“. Nach wie vor erhält die Bahn mehr Geld, als sie
zeit- und bedarfsgerecht ausgeben kann. Ich fühle mich in
meiner Kritik zu den Haushalten 2000, 2001 und 2002 bestärkt; denn auch in diesem Jahr kann die Bahn das Geld
offensichtlich nicht ausgeben. Die Ausführungen des
Bundesrechnungshofes zum Vergabeverfahren der Deutschen Bahn setzen die Kritik nahtlos fort. Herr Minister,
eine vernünftige Schienenpolitik und eine konsequente
Ausbaupolitik werden Sie nur erreichen, wenn Sie die
Schiene nicht mehr ausschließlich nach den Geschäftsplänen der Deutschen Bahn ausbauen, sondern wenn es
endlich zu Wettbewerb kommt.
({11})
Dazu ist es notwendig, die Trennung von Netz und Betrieb endlich umzusetzen, eine Aufgabe, vor der Sie
zurückschrecken. Die Grünen haben ja schon einen Anlauf unternommen, sind dann aber gestoppt worden.
Eines muss man Ihnen allerdings lassen, Herr Minister.
Bei einem Thema haben Sie es geschafft, zwei Landesregierungen aufeinander zu hetzen, nämlich im Zusammenhang mit dem Transrapid. Dieses Projekt haben Sie angeblich ebenfalls gut finanziert; aber auch hier verteilen
Sie nur virtuelles Geld. Die angeblichen 2,2 Milliarden
Euro, die zur Verfügung stehen - der Kollege Weis hat sie
als Landesmittel bezeichnet; ich frage mich dann aber,
warum sie im Bundeshaushalt stehen müssen -, sind faktisch in keinem Haushalt gedeckt.
({12})
Der Höhepunkt aber ist, dass Sie ausgerechnet für das
Projekt mit den schlechteren Wirtschaftsdaten, nämlich
dem in NRW, mehr Geld bereitstellen, was dazu führen
wird, dass keines der beiden Projekte zur konsequenten
Umsetzung gelangt. Damit werden wir in die Situation
kommen, dass nach den Blaupausen für die Strecke irgendwann auch die Blaupausen für die Technik in China
sind und wir die Technik aus China zurückkaufen müssen.
Das ist nicht das Gelbe vom Ei, Herr Minister. Eine
große deutsche Zeitung mit vier Buchstaben hat zu Beginn
der Amtszeit der Regierung Schröder geschrieben: Avanti
dilettanti! Dem kann man sich nur anschließen. Eines aber
haben Sie tatsächlich geschafft, Herr Minister: Die Belastung für den deutschen Autofahrer war noch nie so hoch
wie unter Ihrer Regierung und der Rückfluss in die Straße
war noch nie so niedrig wie unter Ihrer Regierung.
({13})
Mit Steuererhöhungen allein - das sollten Sie begreifen - löst man keine Probleme. Das aber ist Ihr Grundübel:
Sie werfen jedem Problem in Deutschland eine Steuererhöhung hinterher. Es wird endlich Zeit, dass vernünftige
Programme für Mobilität Wirklichkeit werden. Unser Antrag dazu liegt Ihnen heute vor.
Herzlichen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mobilität ist Bewegungsfreiheit, eine Freiheit, die
im Osten dieses Landes als Reisefreiheit erkämpft worden
ist. In einer offenen Gesellschaft ist Mobilität eine Grundbedingung für individuelle Entfaltung und ebenso für soziale und wirtschaftliche Teilhabe. Mobilität ist aber mit
Verkehr verbunden, Verkehr mit all seinen belastenden
Faktoren: enorme Infrastrukturkosten, Lärm, Landschaftsund Energieverbrauch, CO2-Emissionen, Unfallopfer. Das
ist die Kehrseite der Medaille.
Kernaufgabe einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik ist
es daher, Mobilität zu gewährleisten, zugleich aber die belastenden Folgen des Verkehrs zu begrenzen, zu verringern und die öffentlichen Haushalte zu schonen. Das ist
die Herausforderung, der sich diese Regierung gestellt
hat.
({0})
Sie mögen lachen, aber es ist schlichte Realität, dass
wir die Investitionen für das Verkehrsnetz in Deutschland aus einem historischen Tief auf ein beachtliches Rekordniveau geführt haben: von 9,5 Milliarden Euro in
1998 auf 12 Milliarden Euro in 2003. Das entspricht einer
Steigerung um 26 Prozent binnen vier Jahren.
({1})
Dies ist zum größten Teil das Ergebnis einer massiven Erhöhung der Schieneninvestitionen von damals 2,7 Milliarden Euro auf 4,6 Milliarden Euro im Jahre 2003, also einer Erhöhung um 70 Prozent binnen vier Jahren. Das
bedeutet: Nach Jahren der Vernachlässigung wird das
Streckennetz der Bahn endlich von Grund auf modernisiert. Wir führen die Bahn ins 21. Jahrhundert.
({2})
Das ist aber noch nicht alles, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Dank der veranschlagten Bundesmittel hat
auch das Unternehmen Deutsche Bahn AG eine in der Geschichte der Eisenbahn beispiellose Investitionsoffensive
gestartet. Mit sage und schreibe 45 Milliarden Euro wird
über fünf Jahre das Bestandsnetz saniert und technisch auf
Vordermann gebracht, werden Bahnhöfe saniert und ausgebaut, werden moderne Fahrzeuge für den Nah- und
Fernverkehr beschafft. Das ist - das sage ich als Grüner
Horst Friedrich ({3})
mit besonderem Stolz - der größte Kraftakt pro Bahn, den
es in diesem Land jemals gegeben hat.
({4})
Das gesamte System Bahn wird runderneuert, und
zwar nicht, damit wir eine gute Bilanz haben, sondern für
die Fahrgäste. An die Adresse der Fahrgäste möchte ich
aber auch sagen, dass Hunderte von Baustellen unter dem
rollenden Rad natürlich erst einmal Unannehmlichkeiten
und Probleme verursachen. Aber mit jeder beseitigten
Langsamfahrstelle, mit jedem neuen elektronischen Stellwerk und mit jedem schicken Nahverkehrszug, der in Betrieb geht, können die Fahrgäste buchstäblich Zug um Zug
erfahren, was den Reiz einer modernen Bahn ausmacht,
nämlich mehr Pünktlichkeit, mehr Sicherheit und mehr
Attraktivität.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Rekordinvestitionen haben wir vorgenommen trotz einer Steuerreform,
die die Steuerzahler in einem Umfang entlastet, wie es
dies vorher noch nicht gegeben hat, trotz eines konsequenten Abbaus der Neuverschuldung und trotz Schuldenrückzahlung. Unter Waigel und Wissmann haben Sie
das Gegenteil gemacht. Sie haben den Bahnbauetat hemmungslos zusammengestrichen und zugleich eine galoppierende Neuverschuldung zugelassen. Das ist der Unterschied zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb.
({6})
Wir investieren aber nicht nur mehr. Wir sorgen auch
dafür, dass das Zugangebot in der Fläche, in Stadt und
Land besser wird. Weil wir mehr und modernere Züge
wollen, haben wir mit dem neuen Regionalisierungsgesetz, das die Opposition hier abgelehnt hat, Rekordsummen zur Verfügung gestellt, und zwar allein für das letzte
Jahr 13,4 Milliarden DM. Das sind 600 Millionen DM
mehr, als es das alte Gesetz verlangt hatte. Mit dem neuen
Gesetz erhöhen wir diesen Betrag - gesetzlich garantiert bis zum Jahre 2007 nochmals um 100 Millionen Euro pro
Jahr, damit das Zugangebot in Stadt und Land weiter verbessert wird und damit die Bundesländer - das sage ich
als Grüner gerne dazu - auch Verbindungen vom Typ Interregio durch Bestellerzuschüsse erhalten und fortentwickeln können.
Ich halte die ersatzlose Streichung von Interregio-Verbindungen für verkehrspolitisch falsch und für unternehmerisch fantasielos.
({7})
Der Erfolg des Interconnex-Zuges auf der Linie Gera-Berlin-Rostock zeigt doch, dass mit innovativen Konzepten
auch auf angeblich unrentablen Linien attraktiver Bahnverkehr organisiert werden kann.
({8})
- Darauf komme ich noch, Kollege, keine Sorge.
Am schlimmsten wirkt sich der Modernisierungsrückstand von Jahrzehnten bis heute beim Güterverkehr auf
der Schiene aus. Ob schnelle Umschlaganlagen, moderne
Fahrzeugtechnik oder Logistik - es fehlt beinahe an allem. Trotzdem haben wir auch hier die Aufholjagd aufgenommen, mit mehr Investitionen und einer ganz gezielten
Förderung.
Zum Konzept Mora C möchte ich deutlich sagen: Die
betriebswirtschaftlich begründeten Entscheidungen von
DB Cargo zur Schließung kleiner Güterverkehrsstellen,
von denen wir alle irgendwie betroffen sind, sind verkehrspolitisch oft nicht nachvollziehbar und sorgen zu
Recht für heftige Diskussionen vor Ort. Trotzdem können
wir heute feststellen, dass die Transportleistung auf der
Schiene seit 1998 klar zugenommen hat, und zwar von
74 Milliarden Tonnenkilometern auf heute 80 Milliarden
Tonnenkilometer allein bei DB Cargo.
({9})
Innovative Privatbahnen verzeichnen pro Jahr zweistellige Zuwachsraten. Dies hat natürlich auch damit zu
tun, dass wir dafür gesorgt haben, dass die Trassenpreise
für kleinere Privatbahnen faktisch halbiert wurden und
dass wir gezielt die Mittel des Förderprogramms für den
kombinierten Verkehr erhöht und diese Fördermöglichkeit auch Privaten eröffnet haben. Das ist ein Anfang.
({10})
Die Umsetzung der Vorschläge der Taskforce für einen
fairen und neutral überwachten Wettbewerb zwischen
konkurrierenden Bahnunternehmen wird eine zusätzliche
Dynamik auf die Schiene bringen. Am Ende dieser Entwicklung aber - das will ich hier ganz klar sagen, damit
keine Zweifel aufkommen; das vertreten wir Grüne seit
1996 ({11})
wird und muss die eigentümerische und unternehmerische Entflechtung von Transportunternehmen und Schienennetz stehen.
({12})
Dies liegt in der Logik der europäischen Wettbewerbspolitik und in der Logik der Sache selbst.
Es wäre eine Wiederholung des britischen Fehlers, mit
dieser Infrastruktur - sei es auch in einem integrierten
Konzern - an die Börse zu gehen; denn die negativen Folgen sind bekannt: Das Netz würde verschlissen und es
würde zu wenig investiert. Außerdem würde der Staat - damit auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler - Jahr
für Jahr Milliardenbeträge in ein Bahnnetz stecken, nur
damit sich am anderen Ende des Goldesels die privaten
Shareholder ihre garantierte Rendite abholen können. Das
ist eine geradezu absurde Vorstellung, die mit Marktwirtschaft nichts zu tun hat.
({13})
Albert Schmidt ({14})
Umgekehrt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird ein
Schuh daraus: Mit der Sanierung der Transportunternehmen im Bahnkonzern entstehen Anreize für eine echte private Beteiligung an den Transportgesellschaften.
({15})
Die Infrastruktur dagegen muss - wie die Straße auch als Teil der Daseinsvorsorge dauerhaft in öffentlicher Verantwortung bleiben.
({16})
Jetzt will ich an die Adresse der lieben Kolleginnen und
Kollegen von der Union sagen: Wie ist denn dazu Ihre Position? Die Bundestagsdrucksache 14/6440 ist ein im
wahrsten Sinne des Wortes bahnbrechender Antrag, unterzeichnet von Friedrich Merz,
({17})
Dirk Fischer und anderen. Die markige Überschrift lautet:
Konsequente Trennung von Netz und Betrieb im deutschen Schienenverkehr. - Dort heißt es:
Netz einerseits und Betrieb andererseits sind … zu
trennen.
- Gut gebrüllt, Löwe!
Jetzt kommt aber der Löwe aus München. Mir
liegt ein Brief des Kanzlerkandidaten der Union vom
22. April 2002 vor, in dem dieser an den sehr geehrten
Herrn Mehdorn schreibt:
Weder ich noch der Vorsitzende der CDUBundestagsfraktion Dr. Merz sind der Ansicht, dass
unerlässliche Voraussetzung für eine optimale Vermarktung des Schienennetzes eine vollständige
Trennung von Netz und Betrieb … ist.
Was gilt denn nun, Herr Dr. Merz? Leider ist er jetzt nicht
da. Trennung oder nicht? Hü oder hott? Herr Merz ist doch
im Kompetenzteam. Er will doch regieren. Er kann uns an
dieser Stelle aber nicht sagen, was er eigentlich will.
({18})
Es kommt noch viel besser. Der Kandidat Stoiber
schreibt weiter:
Vielmehr sehe ich eine konsequente Umsetzung der
Vorschläge der Taskforce als einen ersten wichtigen
Schritt. Verbunden mit einer Verstetigung und weiteren Erhöhung der Bundesmittel für das Schienennetz
könnte damit bereits ein wesentlicher Teil der Netzproblematik gelöst werden.
({19})
Vielen Dank für die Blumen, Herr Stoiber! Das ist genau
das, was wir gemacht und beschlossen haben.
({20})
Wenn Herr Stoiber so weitermacht, dann fülle ich meine
Beitrittserklärung bei der CSU aus.
Herr Stoiber beendet sein Schreiben mit folgenden
Worten:
Ich habe kein Interesse an der Neueröffnung dieser
Diskussion im Bundestagswahlkampf.
Ich sage Ihnen: Wir hingegen haben schon ein Interesse
daran. Wir haben selten so gelacht. Die einzige Trennung,
die die großen Bahnexperten Friedrich Merz und Dirk
Fischer bisher hinbekommen haben, ist die Trennung zwischen der Bundestagsfraktion und dem Spitzenkandidaten. Das ist Ihre Bilanz.
({21})
Erwarten Sie bitte nicht, dass Sie nach dieser strategischen Meisterleistung auch nur ein Mensch in diesem
Lande in der bahnpolitischen Debatte ernst nimmt.
Einen entscheidenden Impuls für mehr Gütertransport
auf der Schiene wird natürlich die von uns beschlossene
LKW-Maut bringen. Sie schafft bei den Transportkosten
endlich Waffengleichheit zwischen Straße und Schiene.
Die schweren Trucks werden nicht länger über Deutschlands Autobahnen von Grenze zu Grenze rasen können,
ohne für die Benutzung der Autobahn wenigstens Danke zu
sagen. In Zukunft wird jeder LKW kilometergenau für die
Autobahnnutzung bezahlen. Das ist verursachergerecht;
denn wer Straßen verbraucht, soll dafür auch bezahlen.
Die LKW-Maut wird die Straßen auf zweifache Weise
entlasten, nämlich zum einen mit einem etwa verfünfzehnfachten Kilometerpreis im Verhältnis zum heutigen
Niveau. Das heißt, dass alle logistischen Hebel in Bewegung gesetzt werden, um teure Leerfahrten zu vermeiden.
Im Zweifel wird man die Ladung sogar auf die Bahn oder
das Binnenschiff verlagern. Die Zuwächse im Straßengüterverkehr zu begrenzen und zu verlagern, das ist unser
Ziel. Dazu wird die LKW-Maut beitragen. Jeder Gütertransport, den wir von der Straße auf die Schiene bringen,
ist ein Anti-Stau-Programm für den besseren Verkehrsfluss auf Deutschlands Straßen. Die Urlauber werden sich
das in diesem Sommer sehr genau überlegen.
({22})
Zum anderen wird aus den Nettoeinnahmen der LKWMaut ein Bauprogramm gegen den Stau finanziert, um im
gesamten Verkehrsnetz Engpässe zu beseitigen, nicht nur
auf der Straße, sondern zu gleichen Teilen auf Schiene und
Wasserstraße.
Wir haben in dieser Legislaturperiode eine Trendwende in der Klimabilanz des Straßenverkehrs erreicht.
Seit Einführung der Ökosteuer 1999 sinkt der Spritverbrauch auf Deutschlands Straßen - und damit die CO2Belastung - erstmals deutlich und kontinuierlich. Das
heißt, die Menschen fahren etwas weniger Auto. Sie fahren aber vor allem deutlich sparsamer Auto. Immer mehr
benutzen auch Bus und Bahn. Genau das ist der Sinn der
Ökosteuer und genau das ist die ökologische Lenkungswirkung, die wir immer wollten.
({23})
Aber wir haben nicht nur das erreicht. Durch die Einführung der Entfernungspauschale lohnt sich das Umsteigen umso mehr. Wer in diesen Tagen seine Lohn- und Einkommensteuererklärung für 2001 macht, wird feststellen,
({24})
dass er deutlich mehr steuerliche Entlastung zurückbekommt, wenn er mit Bus, Bahn oder Fahrrad zur Arbeit
gefahren ist. Das heißt, die einseitige Bevorzugung des
Autofahrens für den Weg zur Arbeit ist beendet. Auch das
ist in der deutschen Verkehrspolitik neu.
Wir haben mit einer Fülle weiterer Maßnahmen, die ich
jetzt nur stichwortartig ansprechen möchte, den Verkehr
umweltfreundlicher und menschenverträglicher gemacht.
Erdgasbetriebene Fahrzeuge werden steuerlich begünstigt. Die Brennstoffzelle und der Solarwasserstoff sind
hoffnungsvolle Entwicklungen, die wir sowohl im Zukunftsinvestitionsprogramm als auch in der verkehrswirtschaftlichen Energiestrategie fördern. Wir haben
Treibstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen von der
Mineralölsteuer befreit. Mit der vorzeitigen Einführung
des schwefelarmen bzw. schwefelfreien Kraftstoffs haben
wir den Ausstoß von Schadstoffen reduziert. Wir haben
die Einrichtung von Tempo-30-Zonen erleichtert, die für
eine höhere Lebensqualität in den Städten und in den Geschäftszentren, für Kinder, alte Menschen und Fußgänger
wichtig sind. Außerdem haben wir durch die Absenkung
der Promillegrenze, die Sie ebenfalls abgelehnt haben, für
eine höhere Verkehrssicherheit gesorgt.
Vor allem aber - das ist mir außerordentlich wichtig
und dafür möchte ich mich bei dem Minister bedanken haben wir für den am meisten unterschätzten Verkehrsträger eine wesentliche Neuerung auf den Weg gebracht.
Wir haben nämlich mit dem Nationalen Radverkehrsplan einen „Masterplan FahrRad“ nach holländischem
Vorbild vorgelegt, mit dem wir die Länder und Kommunen dazu einladen, aus Deutschland ein fahrradfreundliches Land zu machen.
({25})
Endlich wird auch in Deutschland politisch für den Radverkehr in die Pedale getreten. Wir haben schon vorsorglich die Mittel für den Radwegebau im Bundeshaushalt
verdoppelt.
({26})
Wir haben aber auch mit einer Grundsatzentscheidung
der rot-grünen Bundestagsmehrheit eine Binnenschifffahrt zum Ziel erklärt, die die Flüsse naturverträglich
nutzt, womit wir das verkehrswirtschaftliche Interesse
und die Ökologie miteinander in Einklang bringen. Mit
dem Beschluss zum sanften Ausbau der Donau - den der
Minister heute noch einmal bekräftigt hat - unter Verzicht
auf Kanalisierung und Staustufen haben wir dies beispielhaft umgesetzt.
Für meine grüne Fraktion füge ich hinzu: Ein
vergleichbar ökologisch sensibles Vorgehen erwarten wir
auch an der Elbe, Oder, Havel und Saale.
({27})
Ich verbinde diese Erwartung sehr konkret mit dem Namen Matthias Platzeck,
({28})
dem ich an dieser Stelle herzlich gratuliere und eine
glückliche Hand für seine neue Aufgabe wünsche.
({29})
Dass Brandenburg im Naturschutz mit an der Spitze steht,
ist in großem Maß auch sein Verdienst. Deshalb hoffen
wir, dass wir bei den anstehenden Entscheidungen auch
mit seiner Hilfe umweltverträgliche Lösungen finden.
Wir haben in der Verkehrspolitik viel bewegt und wollen nach 2002 das Erreichte stabilisieren und fortsetzen.
Für uns Grüne steht dabei an oberster Stelle, dass Bahnfahren durch preiswertere Fahrkarten billiger werden muss.
({30})
Die Fahrpreise werden von den Unternehmen gestaltet, doch wir Politiker können und sollten nach dem Beispiel anderer europäischer Länder die Mehrwertsteuer im
Fernverkehr endlich auf das Niveau absenken, das bereits
im Nahverkehr gilt. Dann würde sich der Ticketpreis um
10 Prozent vermindern.
({31})
Wir werden auch dafür sorgen müssen, dass der öffentliche Verkehr aus Bus und Bahn durch einen qualifizierten Wettbewerb, der auch ökologische und soziale
Standards festschreibt, noch weiter verbessert wird.
„Qualität durch Wettbewerb“ muss hierbei das Leitmotto
sein.
Natürlich müssen wir auch die Herkulesaufgabe der
Aufstellung eines neuen Bundesverkehrswegeplans zum
Abschluss bringen. Wir verfolgen die klare Devise, dass
die Verkehrswege in Deutschland bezahlbar und umweltverträglich sein müssen. Das heißt für uns, dass es wenig
Sinn macht, allen alles zu versprechen, wie es früher der
Fall war. Vielmehr wollen wir ehrlich angeben, was finanzierbar und ökologisch vertretbar ist. Das heißt, dass alle
Projektvorschläge einer ökologischen Risikoeinschätzung nach dem aktuellsten Stand der Wissenschaft und
des Umweltrechts unterzogen werden müssen, soweit sie
nicht bereits in laufenden Programmen abgesichert sind.
Das heißt auch, dass die Länder akzeptieren müssen, dass
wir für jedes Projekt aktuelle Kosten-Nutzen-Berechnungen erstellen, um sicherzustellen, dass keine unrentablen
Maßnahmen finanziert werden.
Albert Schmidt ({32})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zusammenfassen, damit klar wird, worum es bei der Wahlentscheidung am 22. September auch gehen wird. In verkehrspolitischer Hinsicht besteht die Alternative entweder
in einer Rückkehr zu der eindimensionalen Verkehrspolitik der Vergangenheit oder in der Fortsetzung der von uns
eingeleiteten mehrfachen Trendwende von der Investitionskürzung zum soliden Ausbau der Verkehrswege,
({33})
von der einseitigen Bevorzugung des Straßenverkehrs zu
größerer Chancengleichheit für Bus und Bahn, vom CO2Anstieg im Straßenverkehr zur CO2-Verminderung, von
der Energieverschwendung zum Spritspar- und NullEmissionsfahrzeug. Diese Trendwende haben wir eingeleitet. Auf diese Leistung der Koalition bin ich stolz. Genauso werden wir weitermachen.
({34})
Ich erteile dem Kollegen Dr. Winfried Wolf von der PDS-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Wir erleben
offensichtlich eine Generaldebatte zum Thema Verkehr.
Offensichtlich wird eine Bilanz von vier Jahren der Politik von SPD und Grünen gezogen. Es ist eine Art Schaulaufen und ein bisschen wird auch eine Doppelstrategie
der Kampa deutlich: Nach außen wird der Kanzler aller
Autos präsentiert, zum Beispiel in der gläsernen Fabrik in
Dresden, und nach innen, im Bundestag, gegenüber Verbänden, auch Umweltverbänden, und Gewerkschaften
wird gesagt: Wir sind auch für die Bahn und für den öffentlichen Verkehr.
Wenn man das auf einen Nenner bringt, dann muss man
schon sagen, Kollege Lippold: Ein bisschen müssen Sie
SPD und Grüne auch loben, weil sie zum Beispiel keinen
neuen Bundesverkehrswegeplan aufgelegt, sondern Ihren
Bundesverkehrswegeplan fortgesetzt haben. Da wurde
ein bisschen „Weiter so“ praktiziert.
({0})
Allerdings muss man sagen, dass in starkem Maße
nach der Devise „Links blinken, rechts abbiegen“ oder
„Richtige Ansätze aufgreifen, sie aber so ausgestalten,
dass sie konterkariert werden“ verfahren wird. Das gilt
zum Beispiel für die Ökosteuer, deren Erlöse nicht in den
sozialen und ökologischen Umbau geleitet werden. Das
gilt auch ganz konkret, Kollege Ali Schmidt, für die
LKW-Maut, die einen richtigen Ansatz darstellt, aber
ganz eindeutig nicht zur Verlagerung auf die Schiene oder
auf die Binnenschifffahrt, sondern vor allem zur Verlagerung auf andere Fernverkehrsstraßen und auf kleine
LKWs führen wird.
({1})
Den Höhepunkt stellt das Projekt Transrapid dar. Es
war richtig, das Projekt Transrapid auf der Strecke Hamburg-Berlin zu stoppen, aber es war falsch, neue Projekte
wie Metrorapid im Ruhrgebiet und Transrapid in München zu propagieren. In den Schwerpunkten von Herrn
Bodewig zum Thema Verkehr heißt es: „Diese innovative
Technik Transrapid wird im Interesse des Industriestandorts Deutschland für den Einsatz als schnelles Regionalverkehrssystem angepasst.“ - Dazu kann ich nur sagen:
Das ist einfach voll daneben.
({2})
Dieses System als Nahverkehrssystem, wie schnell auch
immer, einzusetzen ist der falsche Weg.
Der Bundesrechnungshof hat am 4. Juni in seiner Bilanz gesagt: Beide Magnetbahnstrecken sind selbst „nach
den Kriterien des Bundesministeriums nicht realisierungswürdig.“ - Dennoch wollen Sie für diese Strecken
bis zu 2,3 Milliarden Euro ausgeben. Das ist der völlig
falsche Weg. Das widerspricht auch betriebswirtschaftlichen Kriterien.
({3})
Ich möchte nicht nur schwarz-weiß malen. Ich gebe zu,
dass man zu einigen Aspekten, Kollege Ali Schmidt, sicherlich eine differenzierte Bilanz vortragen muss. Das
gilt aber nicht für den Güterverkehr. Da ist der Anteil der
Schiene eindeutig massiv zurückgegangen. Das gilt nicht
für die Binnenluftfahrt. Deren Anteil ist massiv gestiegen.
Das gilt aber beim Spritverbrauch und bei Teilen des
Nahverkehrs. Sie haben gesagt, das sei zum ersten Mal
passiert. Daraufhin habe ich mir die Zahlen gestern Nacht
noch einmal angeguckt und festgestellt: Das ist nicht
wahr. Es war 1980/82 und 1993/95 genauso. Immer dann,
wenn rezessive Tendenzen und hohe Ölpreise gegeben
waren, wurde gespart, was ja auch sinnvoll ist.
({4})
Entscheidend für uns von der PDS ist: Wohin geht die
Verkehrsreise? Wohin lenken uns SPD und Grüne? Ich
möchte in fünf Punkten klarmachen, warum es in die
falsche Richtung geht:
Erstens. Wir stellen fest, dass das Schienennetz von
Jahr zu Jahr um 300 bis 400 Kilometer kürzer wird,
während das Straßennetz von Jahr zu Jahr um 400 bis
500 Kilometer länger wird. Da öffnet sich die Schere immer weiter zuungunsten der Schiene. Zudem entstehen
neue Binnenflughäfen, vor allem im regionalen Bereich.
Sie sagen, es werde das Wegekostenprinzip eingeführt.
Das ist ja gut und schön, aber wenn es primär bei der
Schiene eingeführt wird, wenn primär bei der Schiene das
Vollkostenprinzip gelten soll, wenn zudem - wie es
heißt - ein Regionalfaktor auf die Trassenpreise aufgeschlagen werden soll und noch 3 000 Kilometer Nebenstrecken abgebaut werden sollen, dann ist das der falsche
Weg. Da wird im falschen Bereich das Netz reduziert.
({5})
Zweitens. Ich behaupte, dass Sie im Fernverkehr eine
eindeutige Konzentration auf Hochgeschwindigkeitsstrecken betreiben. Wir greifen nicht die Hochgeschwindigkeitsstrecken als solche an, aber wir kritisieren die
Konzentration darauf. Wir müssen nämlich feststellen,
dass gleichzeitig im Fernverkehr ganze Regionen abAlbert Schmidt ({6})
gehängt werden, sogar Landeshauptstädte, Magdeburg
zum Beispiel, wichtige Hansestädte, Rostock zum Beispiel, der Raum Koblenz/Bonn/Mainz weitgehend, Ostfriesland, Oberschwaben und der Schwarzwald, weil Interregio-Verkehre eingestellt werden. Wenn Sie, Kollege
Schmidt, sagen, auch Sie seien dagegen, dann frage ich:
Warum haben Sie nicht für die Anträge zum Erhalt des Interregio gestimmt, die wir in den Bundestag eingebracht
haben?
({7})
Wir bringen einen Antrag konkret zum Raum Mannheim ein; denn die Neubaustrecke Frankfurt-Stuttgart soll
an Mannheim vorbei führen. Dies wird in der gesamten
Region Mannheim kritisiert. Am 16. Juni hat der Stuttgarter Landtag einstimmig erklärt, dass in Mannheim weiterhin alle ICEs halten müssen. Ich als Schwabe sage:
Wenn in Stuttgart die Badener und Kurpfälzer einstimmig
verteidigt werden, dann heißt das etwas.
({8})
Trotzdem haben Sie, Herr Bodewig, im „Mannheimer
Morgen“ argumentiert, dass Sie sich nicht auf eine Position gegen einen solchen Bypass festlegen wollen.
Drittens. Wir meinen, dass bei der Bahn eine Politik betrieben wird, die letzten Endes diese verkehrte Verkehrspolitik noch einmal verstärkt. Ich habe hier keine Zeit,
über Mitropa und Speisewagen, über den Tod einer Reisekultur zu reden. Ich möchte nur etwas sagen zum neuen
Bahnpreissystem. Das ist kein Innerbahnthema. Herr
Bodewig, Sie haben im Januar das neue Bahnpreissystem PEP genehmigt. Das System ist, erstens, weit weniger transparent als das jetzige System, es wird, zweitens,
Millionen treue Fahrgäste, die Bahncard-Besitzer, durch
die Halbierung des Rabattes vor den Kopf stoßen und es
macht, drittens, den Vorteil der Bahn kaputt, dass man
wirklich spontan zum Bahnhof gehen, einsteigen und fahren kann. Am 16. Mai war Herr Mehdorn bei uns in der
Fraktion zu Besuch. Er hat es auf den Punkt gebracht und
gesagt: Spontanfahren wird in Zukunft seinen Preis haben. Man wird zum Teil stehen müssen und es wird teurer
sein. Das ist die Bilanz des neuen Bahnpreissystems.
Viertens. Ich sagte, dass wir im Bereich der Binnenluftfahrt eine Negativentwicklung erleben und die Binnenluftfahrt in Konkurrenz zum Schienenfernverkehr
tritt. Wir erleben, dass die Preise der Billigfluglinien
- Stichworte: Preussag/TUI und Germania - zum Teil
30 bis 40 Prozent unter den Preisen der Deutschen
Bahn AG liegen. Wenn ich dann noch feststelle, dass der
Boss von Preussag/TUI, Herr Frenzel, gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bahn AG ist, möchte
ich sagen: Honni soit qui mal y pense - verrucht sei, wer
Böses dabei denkt.
Fünftens und letztens. Wir sagen, dass die falsche Verkehrspolitik auch mit Blick auf die Arbeitsplätze benannt
werden muss. Wir erleben bei der Bahn, dass Jahr für Jahr
10 000 Arbeitsplätze abgebaut werden. Wir erleben jetzt,
dass fünf Bahnbetriebswerke geschlossen werden sollen,
darunter drei in den ostdeutschen Regionen, wo wirklich
ein Kahlschlag betrieben wird. Wenn von einem Wachstum bei der Schiene und sogar von einer Verdoppelung
des Güterverkehrs gesprochen wird, weiß ich nicht,
warum Bahnbetriebswerke geschlossen werden sollen
und weiter Beschäftigung abgebaut wird.
Wir haben deswegen einen Antrag eingebracht, in dem
wir sagen: Wir wollen den Umbau des Wagenparks der
Deutschen Bahn AG - sie sollen dann behindertengerecht
und mit neuen Sicherheitstechniken ausgestattet sein besonders fördern. Das ist kein Innerbahnthema. Wir haben einen entsprechenden Auftrag in das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz geschrieben. Daran könnte
man anknüpfen und man könnte beides verbinden: auf der
einen Seite Arbeitsplätze sichern und auf der anderen
Seite konkret etwas für die Bahn tun.
({9})
Zum Schluss: Kollege Weis, ich glaube, die Krönung
Ihrer Politik ist nicht, dass Sie die Bahnreform aus der
Sackgasse geführt haben, sondern dass Sie die Bahn gegen den Prellbock fahren werden, wenn Sie das wahr machen, was Mehdorn will, wenn Sie nämlich die Bahn börsenfähig machen. Das heißt konkret, sie an der Börse zu
verkaufen. Herr Mehdorn war der Wunschkandidat von
Kohl, er war der Mann von Schröder, und Stoiber sagt
schon, er würde mit ihm weiter arbeiten wollen. Damit
wird genau der falsche Weg beschritten. Der Weg der
Bahn an die Börse ist ähnlich wie bei Telekom und gelber
Post der falsche Weg. Wir glauben, dass damit Service abgebaut wird, die Einheitlichkeit des Bahnsystems zerstört
wird und weitere Zehntausende Arbeitsplätze kaputtgemacht werden.
Ich möchte mit einem Zitat aus der Resolution der Betriebsräte der Bahnbetriebswerke Ost schließen - in dem
Zusammenhang begrüße ich, dass der Betriebsratsvorsitzende des Delitzscher Werkes hier anwesend ist -,
({10})
die geschrieben haben:
Die Privatisierung der Bahn als Vernichtungsmaschine von Arbeitsplätzen muss gestoppt und zurückgenommen werden.
Genau das ist richtig gesagt.
Danke schön.
({11})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Iris Gleicke, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vollendung der deutschen Einheit
bleibt unsere wichtigste nationale Aufgabe. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, brauchen wir in Ost und West
die möglichst rasche Angleichung der Lebensverhältnisse. Wir brauchen gleiche Chancen in Bildung und Ausbildung, wir brauchen gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
Eine moderne Infrastruktur ist die unabdingbare Voraussetzung, um diese Ziele zu erreichen.
Unsere Verkehrspolitik für die neuen Bundesländer ist
Wirtschaftspolitik in besonderer und mehrfacher Bedeutung:
({0})
Die Investitionen in den Ausbau der Verkehrswege
schaffen und sichern Arbeitsplätze im Osten. Gleichzeitig
sichern sie die wirtschaftlichen Chancen Ostdeutschlands. Genau deshalb haben wir trotz aller Sparzwänge
am zügigen Ausbau der Verkehrswege unbeirrt festgehalten. Diese Investitionen sind einfach unverzichtbar.
({1})
Aus dem gleichen Grund haben wir den zunächst nicht finanzierbaren Weiterbau der ICE-Strecke durch Thüringen
aufgenommen, als es wieder möglich war. Herr Kollege
Friedrich, wir gehen davon aus, dass dem EBA die Finanzierungsvereinbarung im Juli vorgelegt und schnellstens
genehmigt wird, sodass die finanzielle Umsetzung zügig
verankert werden kann.
({2})
Wir haben bewiesen, dass der Aufbau Ost für uns Vorrang hat:
({3})
Das Anti-Stau-Programm umfasst 3,8 Milliarden Euro;
davon fließen 25 Prozent in den Osten. Das Zukunftsinvestitionsprogramm umfasst 4,5 Milliarden Euro; davon
fließen mehr als 30 Prozent in den Osten. Das
EFRE-Bundesprogramm Verkehrsinfrastruktur umfasst
3 Milliarden Euro, die komplett in den Osten fließen. Das
Investitionsprogramm 1999-2002 umfasst 34 Milliarden Euro; davon fließt mehr als die Hälfte in den Osten.
Das ist unsere Infrastrukturpolitik für Ostdeutschland, die
wir konsequent fortsetzen werden.
({4})
Der nächste Bundesverkehrswegeplan, den wir im
kommenden Jahr vorlegen werden, wird einen besonderen Schwerpunkt auf Ostdeutschland legen. Was die Ostdeutschen von einem Kanzler Stoiber zu erwarten hätten,
steht im Wahlprogramm von CDU und CSU.
({5})
Sie haben angekündigt, die Staatsquote „schrittweise und
dauerhaft auf unter 40 Prozent“ zu senken. Das muss man
sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen! Im
Moment liegt die Staatsquote bei 48 Prozent. Eine pauschale und undifferenzierte Absenkung auf 40 Prozent
hätte eine Verringerung der öffentlichen Investitionen um
170 Milliarden Euro bei Bund, Ländern und Gemeinden
zur Folge. Für den Bund würde das eine Kürzung der Ausgaben um etwa 80 Milliarden Euro bedeuten; das entspräche einer Kürzung des Bundeshaushalts um ungefähr
ein Drittel.
({6})
Statt etwa 13 Milliarden Euro stünden im Investitionsetat
des Bundesministers für Verkehr, Bau und Wohnungswesen nur noch 8,5 Milliarden Euro für Investitionen zur
Verfügung. Sie wollen die Investitionen im Bereich Verkehr von 11,5 Milliarden Euro auf 7,5 Milliarden Euro
senken. Das ist die Wahrheit!
({7})
Diese Kürzungen haben natürlich Konsequenzen: Kein
einziges der mehr als 1 900 im Rahmen des Bundesverkehrswegeplanes angemeldeten Vorhaben könnte in diesem
Jahrzehnt begonnen werden, keine Ortsumgehung, keine
Schienenprojekte, keine Wasserstraße, rein gar nichts. Ein
Drittel der Bundesmittel für den kommunalen Straßenbau
und den öffentlichen Personennahverkehr nach dem Gemeindefinanzierungsgesetz würde ganz einfach wegfallen.
({8})
Auch die Regionalisierungsmittel müssten natürlich gesenkt werden, nämlich um 2,2 Milliarden Euro im Jahr,
was Abbestellungen und Stilllegungen von öffentlichen
Nahverkehrsleistungen in den Ländern in massivem Ausmaß zur Folge hätte.
({9})
Dieser Irrsinn würde den Osten völlig platt machen:
keine A 14, keine A 72, keine Hochgeschwindigkeitsstrecke Halle/Leipzig-Erfurt-Nürnberg!
({10})
- Schreien Sie doch nicht so!
Das Kompetenzteam rudert mittlerweile zurück, nach
dem Motto: „War ja alles nicht so gemeint!“. Ich glaube
nicht, dass das alles nicht so gemeint war. Ich glaube, Sie
meinen das wirklich sehr ernst. Genau deshalb brauchen
Sie Lothar Späth als Märchenonkel für den Osten.
({11})
Er soll die Leute beruhigen, indem er ihnen alle paar Tage
erzählt, dass das Kompetenzteam die Ankündigungen im
Wahlprogramm gar nicht so ernst meint.
({12})
Das konnten wir erst vor kurzem wieder feststellen, als
Herr Stoiber die „geniale“ Idee vortrug, in Bundesgesetze
zeitlich befristete Öffnungs- und Experimentierklauseln für Ostdeutschland zur Förderung von Investitionen
einzubauen. Herr Späth sagte, dass es nach elf Jahren Einheit wohl zu spät sei, ganz Ostdeutschland zu einer Sonderwirtschaftszone zu erklären, und dass die EU da vermutlich nicht mitmachen werde. Damit hat Lothar Späth
völlig Recht.
({13})
Diese Forderung steht allerdings in Ihrem Wahlprogramm. Und das sollen wir doch ernst nehmen - oder
etwa nicht? Ich frage mich tatsächlich, was für eine Kompetenz dieses Team hat.
({14})
Ich jedenfalls nehme Ihr Wahlprogramm sehr ernst.
Dieses Programm läuft darauf hinaus, dass Sie den Osten
am langem Arm verhungern lassen wollen. Sie reden von
Experimentierklauseln und meinen in Wirklichkeit Dumpinglöhne für die Ostdeutschen und zweierlei Recht in
Deutschland. Sie reden von der Absenkung der Staatsquote und meinen in Wirklichkeit, dass es allmählich genug sei mit der Sonderförderung für den Osten. Diese
Geisteshaltung kennen wir schon: Es ist noch gar nicht so
lange her, da hat sich Herr Stoiber darüber beklagt, dass
die Ostdeutschen zu wenig dankbar seien. Der Mann hat
Recht. Wir sind keinem Bayern dankbar, dessen Freistaat
über 30 Jahre lang satte Bundeshilfen kassiert hat. Wir
sind überhaupt niemandem dankbar. Nein, wir sind stolz
auf das, was wir zusammen mit Gerhard Schröder und
dieser Bundesregierung für den Osten erreicht haben.
Schönen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr
verehrte Damen und Herren! Ich fange einmal ganz ruhig
an:
Als eines der gravierendsten Standortdefizite der
neuen Länder wird in vielen Regionen unzureichend
ausgebaute Verkehrsinfrastruktur angesehen.
So steht es schwarz auf weiß im jüngst veröffentlichten
ersten Fortschrittsbericht zum Aufbau Ost, in einem Bericht, den sich die Bundesregierung bestellt hat und der ihr
bescheinigen sollte, wie es Frau Gleicke hier anzudeuten
versuchte, beim Aufbau Ost sei alles prima.
({0})
Dem ist nicht so. Fünf Wirtschaftsinstitute bestätigen,
dass der Aufbau Ost in den letzten Jahren ins Stocken geraten ist. Die Bedingungen für stärkeres Wachstum in den
neuen Ländern sind zu verbessern, die noch bestehenden
Standortmängel sind zu beseitigen.
Man muss sich einmal klar machen, dass es sich nicht
lohnt, hier Reden zu halten, in denen man Herrn Späth
persönlich beschimpft.
({1})
Meinen Sie nicht, dass es besser wäre, einmal den Konsens, der ja eigentlich in Ihren Reihen da ist, zum Thema
zu machen?
({2})
Der „Tagesspiegel“ hat gestern geschrieben: Stolpe - Ihre
angebliche Wunderwaffe gegen Lothar Späth - sagt, die
SPD hat den Osten vernachlässigt.
({3})
Wenn wir das als Ausgangsbasis nehmen würden, um uns
jetzt anzustrengen, und uns fragen würden, was beim Infrastrukturausbau zu tun ist, könnte das sehr viel mehr als
solch eine Rede bewirken.
Der Minister hat ja zumindest die neuen Länder erwähnt. Darüber ist man ja heute schon froh. Aber er hat
nicht konkret gesagt, was das eigentlich bedeutet.
({4})
Ich habe von ihm Zahlen von irgendwelchen Finanzmitteln gehört, die in den Osten fließen.
({5})
Das reicht aber nicht. Schauen Sie sich die konkreten Projekte an. Die sich im ost- und mitteldeutschen Raum entwickelnden Wachstumszentren müssen doch miteinander
verbunden werden, um die vorhandenen Potenziale auszuschöpfen. Sie müssten zum Beispiel die A 72 bauen; aber
Ihr damaliger Verkehrsminister und heutiger Generalsekretär Müntefering hat das Projekt gestoppt. Pikanterweise
fordern Sie, um von Ihren Versäumnissen abzulenken,
jetzt, im Wahljahr - so geschehen auf Ihrem Sonderparteitag -, als Wahlgeschenk den Bau ebendieses Verkehrsweges mit höchster Priorität. Das ist doch nicht seriös; das
überzeugt die Menschen doch nicht. Wenn die sich die
konkreten Projekte anschauen, glaubt Ihnen das keiner.
({6})
Sie wollen damit doch bloß von den verloren gegangenen Milliarden für den Osten ablenken, die durch den Bau
der Transrapid-Strecke von Hamburg nach Berlin geflossen wären. Dabei handelte es sich um ein Milliardenprojekt. Sie aber gehen in Berlin eine Koalition mit der PDS
ein und verhindern das größte Infrastrukturprojekt in den
neuen Ländern, den Großflughafen in Berlin-Schönefeld.
({7})
Da könnten Sie Zeichen setzen und sich wirklich einmal
profilieren. Nichts dergleichen ist aber zu erkennen.
({8})
Sie beschäftigen sich hier in Berlin lieber mit der
Durchfahrt durch das Brandenburger Tor und der Frage,
ob die Französische Straße geschlossen bleiben soll, statt
eine zukunftsgerichtete Politik zu machen. Nicht nur die
großen transeuropäischen Ost-West-Trassen interessieren
Sie nicht, selbst die Verbindungen im Bezirk Mitte hier in
Berlin bekommen Sie nicht auf die Reihe. In diesem Zustand befindet sich Ihre Verkehrspolitik.
({9})
Lassen Sie mich noch darauf hinweisen, wie viel Bedarf es an Infrastrukturentwicklung im kommunalen Bereich insbesondere im Verkehrsbereich gibt. Wir haben
natürlich in den neuen Ländern einen erheblichen Bedarf
an Ortsumgehungen. Hier gab es nicht 40 Jahre lang wie
in der alten Bundesrepublik eine relativ gute Entwicklung, sondern in früheren Zeiten Versäumnisse. Es wäre
gut, wenn man sich diesem Problem stellen würde.
({10})
Die gravierenden Infrastrukturprobleme im kommunalen
Bereich in Ostdeutschland können natürlich nicht gelöst
werden, wenn die Kommunen das aus eigener Kraft
schaffen müssen. Dazu brauchen Sie sich nur die Finanzlage der Kommunen anschauen.
({11})
Ihre Politik hat die Kommunen insgesamt, aber die im
Osten besonders, ruiniert. Es ist kein Geld da; nicht einmal für die simpelsten und notwendigsten Dinge im Verkehrsbereich kann dort etwas getan werden.
Lassen Sie mich noch etwas sagen: Angesichts der vielen Vorschläge, die wir hier zum Thema Aufbau Ost
gemacht haben, sollten Sie sich bitte schön nicht über Öffnungs- und Experimentierklauseln in unserem Wahlprogramm lustig machen; denn das ist der einzige Weg,
Bürokratie abzubauen, unnötige Gesetze abzuschaffen
und endlich eine Entwicklung in Gang zu setzen, die den
Leuten im Osten wieder Perspektiven gibt und das Gefühl
vermittelt, dass es aufwärts und vorwärts geht und der
Aufbau Ost wirklich stattfindet und nicht zu einer Nebensache, zum Abbau Ost, verkommt.
({12})
Schauen Sie sich einmal an, was wir in diesem Bereich
vorschlagen. Von Ihnen ist in der Sache nichts gekommen.
({13})
Öffnungs- und Experimentierklauseln bedeuten, dass wir
Deutschland modernisieren. Dazu sind wir im Osten als
Erste bereit, weil das Wasser in Ostdeutschland noch viel
höher als in anderen Teilen der Republik steht. Deshalb sind
wir bereit, schneller voranzugehen. Wir wollen damit zeigen, dass es auch im Rahmen von Planungs- und Genehmigungsverfahren möglich ist, Verkehrsprojekte schnell zu
realisieren. Sie sind nicht einmal bereit gewesen - ich habe
die Grünen ja im Vermittlungsausschuss erlebt -, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zu verlängern
und auf Westdeutschland auszudehnen, obwohl es sich in
den neuen Bundesländern bewährt hat. Ohne dieses Gesetz
hätten wir bei den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit noch
nicht einmal den Stand erreicht, den wir jetzt erreicht haben.
Wir werden uns auch weiterhin für dieses Gesetz einsetzen.
({14})
Es ist offensichtlich, dass wir in der Verkehrspolitik,
insbesondere im Interesse der neuen Länder, einen Wechsel brauchen.
Danke schön.
({15})
Ich erteile dem Kollegen Hans-Günter Bruckmann, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Mit meinen Ausführungen
möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf den Luftverkehr lenken, der seit dem 11. September national wie international eine Krise zu bewältigen hat, die nicht vorherzusehen
war. Aufgrund der gemeinsamen Bemühungen der Bundesregierung und der Luftverkehrswirtschaft ist es uns gelungen, das Vertrauen in den Luftverkehr wieder herzustellen. Beispiele dafür sind die Hilfen bei der
Versicherungsproblematik und beim Schadensausgleich
sowie das Gesetz zur Erleichterung des Marktzugangs im
Luftverkehr.
Dies wird durch die Einschätzung der IATA gestützt,
die prognostiziert, dass sich die Luftverkehrswirtschaft ab
2003 von den Rückschlägen erholen und überproportional wachsen wird. Damit besteht die Notwendigkeit, sich
mit den Folgen dieser Dynamik auseinander zu setzen und
zu klären, wie der Luftverkehr auf Dauer zukunftsfähig
gestaltet werden kann.
Nach den Anschlägen vom 11. September vergangenen Jahres ist jedem klar geworden, dass wir dieser
neuen Herausforderung mit einer wesentlich effizienteren
und weltweit lückenlosen Sicherheitskonzeption zu begegnen haben. Aufgrund der Internationalität des Luftverkehrs sind vor allem einheitliche und verbindliche Sicherheitsstandards zwischen allen am Luftverkehr beteiligten
Staaten zu vereinbaren. Die Bundesregierung wird von der
Koalition dahin gehend unterstützt, bei der Weltluftfahrtorganisation die weiter gehenden Sicherheitsstandards
weltweit verbindlich zu machen. Sicherheitsmaßnahmen
gelten gleichermaßen für alle. Sie dürfen nicht auf Umwegen zu Wettbewerbsverzerrungen führen.
({0})
Das gilt auch für unsere Partner in den USA, mit denen
wir in solchen Fragen eigentlich immer partnerschaftlich
zusammengearbeitet haben. Wir waren vor kurzem mit einer Delegation des Verkehrsausschusses in den Vereinigten Staaten und haben mit unseren amerikanischen Kollegen über das APIS-Programm diskutiert. Im Rahmen
dieses Programms ist zu melden, wer demnächst an einem
Luftverkehrsstandort landet; man geht dabei von einer
97-prozentigen Sicherheitsmarge aus. Diese ist derzeit so
gut wie nicht erreichbar, weil dies über die geltenden Rahmenbedingungen hinausgeht. Wir haben unseren Partnern
deutlich gemacht, dass wir gemeinsam eine verträgliche
Lösung finden müssen.
In diesem Zusammenhang will ich mich auch bei meinen Kollegen von der CDU bedanken.
({1})
- Bei Ihnen natürlich auch; so viel Zeit muss sein, Herr
Oswald. Wir wollen die CSU nicht vergessen.
({2})
In diesem Punkt waren wir erfolgreich. Wir unterstützen
das Programm, das unser Minister eine Woche zuvor mit
den Amerikanern beraten hatte.
Fairer Wettbewerb muss natürlich auch für die Zertifizierung unserer weltweit führenden Sicherheitstechnik
durch amerikanische Aufsichtsbehörden gelten. Hier
scheint es noch großen Abstimmungsbedarf zu geben. Allerdings begrüßen wir die Initiativen zu einem gemeinsamen transatlantischen Luftraum als einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Luftverkehrsbeziehungen zwischen
Europa und den USA. Der von der EU-Kommission in die
Verhandlungen mit den USA eingebrachte Verhaltenskodex zur Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen ist dabei - ich glaube, das dürfte unstreitig sein - ein
wichtiger Baustein.
Wir befürworten die Schaffung des „single european
sky“. Mit diesem Konzept sind eine bessere Organisation,
Überwachung und Nutzung der Luftraumkapazitäten in
Europa verbunden. Der einheitliche europäische Luftraum ist ein wichtiger Schritt zur Zusammenarbeit im zusammenwachsenden Europa.
({3})
Die Dynamik im Luftverkehr und die daraus resultierende steigende Nachfrage nach Luftverkehrsleistungen
macht es nötig, sich Gedanken über einen bedarfsgerechten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur zu machen. Sicherlich ist ein weiterer Ausbau der Flughafenkapazitäten und
der entsprechenden Infrastruktur nötig; nur kann dies allein nicht ausreichen. Unsere immer knapper werdenden
Ressourcen erfordern auch im Bereich der Luftfahrt einen
integrierten Ansatz, das heißt Kooperation und effektive
Vernetzung der Verkehrsträger Luft und Schiene. Beide
Maßnahmen sind in unserem Flughafenkonzept aus dem
Jahr 2000 verankert.
Verschoben, aber nicht aufgehoben ist die von der Regierungskoalition vorgesehene Novellierung des Fluglärmgesetzes. Wir haben die Eckpunkte dazu in unserer
Fraktion verabschiedet. Unter Beteiligung des Umweltund des Verkehrsministeriums und in Gesprächen mit
den am Luftverkehr Beteiligten haben wir einen Kompromiss gefunden, der auf der einen Seite den Fluglärm
nachhaltig reduziert und auf der anderen Seite die Belastungen für die Luftverkehrswirtschaft in vertretbaren
Grenzen hält sowie Rechtssicherheit für alle Beteiligten
schafft.
Unser Ansatz wird auch beim kombinierten Verkehr
deutlich. Wir haben gemeinsam mit Vertretern der Verkehrswirtschaft und der Wissenschaft überlegt, wie man
damit umgehen kann. Die SPD-Bundestagsfraktion hat
ein Eckpunktepapier dazu verabschiedet. Ein Element daraus ist von besonderer Bedeutung: Die Treffsicherheit
der Förderung in diesem Sektor muss erhöht werden; dazu
haben wir in Zukunft ein nationales Förderprogramm
ähnlich wie das europäische PACT-Programm auf den
Weg zu bringen. An dieser Stelle erwarte ich mehr Mut
von allen Beteiligten, die ausgetretenen Pfade von Infrastrukturförderung und/oder Ordnungspolitik zu verlassen
und stattdessen innovative Finanzierungsmodelle ins
Auge zu fassen, die den Marktanforderungen gerecht
werden.
({4})
Der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen hat in seinem KV-Bericht ein deutliches Signal in
diese Richtung gegeben, das wir unterstützen. Dort ist
klar zu erkennen, dass wir die Mittel für Dritte in den letzten fünf Jahren von null auf 76,3 Millionen Euro gesteigert haben. Ich halte das für einen vernünftigen Ansatz.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr Mut würde uns
auch beim Thema Transrapid gut zu Gesicht stehen. Das
gilt für alle hier Anwesenden. Mit der Förderzusage unseres Bundesministers ist ein weiterer wichtiger Eckstein
gesetzt worden, zum einen für Nordrhein-Westfalen und
zum anderen für Bayern. Jetzt kommt es darauf an, auch
alle weiteren Schritte zügig umzusetzen und nicht in
kleinliche Kritik zu verfallen.
Ich finde es manchmal schwer nachvollziehbar, mit
welchen Argumenten Projekte totgeredet werden sollen.
Manches erinnert mich daran, wie man der ersten Lokomotive in Deutschland, der „Adler“, gegenüberstand. Da
wurden Befürchtungen laut, dass Menschen für so hohe
Geschwindigkeiten wie 50 Stundenkilometer nicht geschaffen seien. Hätte man stets alle Bedenken gegen neue
Technologien in den Vordergrund gerückt, dann hätten sicherlich auch die Gebrüder Wright von ihren ersten Flugversuchen Abstand genommen.
Der Transrapid ist ein Technologiesprung. Solche
Projekte sollte man nicht totreden,
({6})
sondern fördern.
({7})
Denn Innovationen müssen auch in Deutschland ihre
Chance bekommen, sonst kann sich Deutschland als
Hochtechnologieland verabschieden.
({8})
Die Bundesregierung hat mit ihrer Förderzusage den
richtigen Schritt in Richtung Zukunft getan. Sie sollten
wissen: Nur wer sich bewegt, kann etwas bewegen.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächste Rednerin für
die Fraktion der CDU/CSU ist die Kollegin Renate Blank.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich komme auf die Regierungserklärung des Ministers zurück. Herr Minister, bei Ihrer
Abschiedsrede fehlte Ihnen eigentlich jeder Bezug zur Realität unserer Verkehrspolitik. Sie hat eine totale Überschätzung Ihres Handelns zum Ausdruck gebracht. Eigentlich
muss man eher „Ihres Nichthandelns“ sagen, denn vier
Jahre Rot-Grün bedeuteten in Deutschland Stillstand.
({0})
Nichts ist angepackt worden. Die Investitionen in die
Infrastruktur sind zurückgefahren worden, obwohl
sich doch mittlerweile eigentlich herumgesprochen haben müsste, dass 1 Milliarde Euro Investitionen circa
20 000 Arbeitsplätze erhalten bzw. schaffen.
Die Harmonisierung auf europäischer Ebene hat
keine Fortschritte gemacht, weder im LKW-Bereich
- hier wird von der Bundesregierung sogar geduldet, dass
die Niederlande, Frankreich und Italien ihr Gewerbe steuerlich begünstigen, obwohl das eigentlich ein Verstoß
gegen EU-Recht ist, während bei uns bei der Ökosteuer
zulasten des heimischen Gewerbes immer weiter draufgesattelt wird - noch beim Wettbewerb im ÖPNV noch auf
der Schiene.
({1})
- Man muss es Ihnen öfter erzählen, damit Sie es im Laufe
der Zeit irgendwann endlich kapieren.
({2})
Im Bereich Binnenschifffahrt ist ebenfalls nichts passiert, obwohl von Ihnen vor 1998 immer großartig getönt
wurde, was Sie alles in Angriff nehmen wollen. Wir wollen die deutsche Binnenschifffahrt in Zukunft auf jeden
Fall stärken.
Von der Vorbereitung der deutschen Verkehrsinfrastruktur auf die EU-Osterweiterung ist ganz zu schweigen. Sie haben die Infrastrukturanbindung zu den Beitrittskandidaten verschlafen. Wir als Opposition mussten
zum Beispiel den Bundeskanzler erst wachrütteln, damit
er endlich Aussagen zum Weiterbau der A 6 macht.
({3})
Nun zum Trauerspiel Bundesverkehrswegeplan. Das
Thema ist heute schon des Öfteren erwähnt worden. Wir
haben in den Jahren 1991 und 1992, also innerhalb von
zwei Jahren, einen Bundesverkehrswegeplan vorgelegt,
der sich auch mit dem Zusammenwachsen Deutschlands
beschäftigen musste. Sie haben das in vier Jahren nicht
geschafft, obwohl Sie uns im Jahre 1999 wohltönend erklärt haben, Sie würden einen neuen und total überarbeiteten Bundesverkehrswegeplan erstellen. Jetzt haben wir
eine CD-ROM erhalten, eine Sammlung von Rohdaten,
die teilweise sogar falsch sind. Das Anschauen rentiert
sich überhaupt nicht. Sie haben damit ein Versprechen gebrochen.
Sie haben ein weiteres Versprechen gebrochen. Ich erinnere daran, dass Ihr Bundeskanzler gesagt hat, mit ihm
seien nur 6 Pfennig Mineralölsteuererhöhung zu machen.
Mittlerweile sind wir bei 15 Cent, also rund 30 Pfennig.
Ich kann mir vorstellen, warum Sie keinen neuen Bundesverkehrswegeplan vorgelegt haben. Ihr erster Verkehrsminister, Müntefering, hat nach einiger Zeit gemerkt, dass auch rot-grüne Bundesländer Straßen bauen
wollen. Bei der Länderverkehrsministerkonferenz im
April zum Beispiel wurde einstimmig festgestellt, dass
der Verkehrshaushalt für den Straßenbau um jährlich
2,1 Milliarden Euro aufgestockt werden müsste.
({4})
Wie ist es bei Ihnen? Der Verkehrshaushalt wächst nicht;
0,0 Prozent.
Was haben Sie stattdessen gemacht? Sie haben die
Straßenbaumittel gekürzt.
({5})
Im Gegensatz zu unserer mittelfristigen Finanzplanung
haben Sie von 1998 bis 2002 4,9 Milliarden DM, rund
2,5 Milliarden Euro, weniger ausgegeben, obwohl Sie
doch wissen müssten, dass der Straßenbau notwendig ist,
um die wachsenden Verkehrsleistungen bewältigen zu
können. Die Prognosen gehen davon aus, dass das Verkehrsaufkommen bis 2015 auf den Autobahnen um
25 Prozent im Personen- und 51 Prozent im Güterverkehr
und auf den Bundesstraßen um 18 Prozent im Personenund 30 Prozent im Güterverkehr zunehmen wird.
Die Prognosen hätten Sie eigentlich zum Handeln zwingen müssen, denn es ist doch bekannt - seriöse Gutachten
belegen dies -, dass Staus einen volkswirtschaftlichen
Schaden von mindestens 2 Prozent unseres Bruttosozialprodukts verursachen, von den Schäden für die Umwelt
ganz zu schweigen. Man muss auch zur Kenntnis nehmen,
dass das Auto zunehmend an Bedeutung gewinnt. Fast jeder junge Mensch möchte den Führerschein machen und
ein Auto haben, und die Mobilität ist auch für ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger ein hohes Gut. Ich erinnere
mich daran, dass der Verkehrsminister Müntefering den älteren Verkehrsteilnehmern den Führerschein abnehmen
wollte,
({6})
obwohl die Senioren unterdurchschnittlich an Verkehrsunfällen beteiligt sind.
Meine Damen und Herren, um zu verschleiern, dass die
Mittel für den Straßenbau gekürzt wurden, kam die Bundesregierung auf die Idee, verwirrende Programme zu erstellen und diese mit großem Getöse vorzustellen. Das Investitionsprogramm war eigentlich nur eine Fortsetzung
unserer Verkehrspolitik. Wenn man genau nachrechnet
- das wurde heute bereits gesagt -, dann stellt man fest,
dass das Programm bis zum Jahre 2010 andauern würde.
Anschließend hat uns der zweite Verkehrsminister,
Klimmt, das Anti-Stau-Programm beschert, das eine
eindeutige Wahlkampfhilfe für Nordrhein-Westfalen war.
Baden-Württemberg und Bayern waren benachteiligt. Als
Beispiel nenne ich die A 3, die höchst belastete Straße in
Deutschland mit 90 000 Autos pro Tag. Diese hätte alle
Kriterien erfüllt, um ins Anti-Stau-Programm aufgenommen zu werden, was aber leider nicht der Fall war. Das
war also eine eindeutige Benachteiligung Bayerns und
Baden-Württembergs.
({7})
Wie mittlerweile jedermann weiß, wird die Einführung
der LKW-Maut zum 1. Januar 2003 scheitern. Wenn wir
Glück haben, wird es vielleicht der 1. Januar 2004 werden. Mir ist nicht bekannt, warum der Verkehrsminister
seinen Verordnungsentwurf zurückgezogen hat. Wahrscheinlich will er im Wahlkampf keinen Ärger mit dem
Transportgewerbe haben und weitere Konflikte mit dem
Transportgewerbe vermeiden.
Das so genannte Zukunftsinvestitionsprogramm
- übrigens das erste Programm von Minister Bodewig bringt zwar in den Jahren 2001 und 2002 für den Straßenbau rund 400 Millionen Euro mehr, aber es gleicht keinesfalls die vorgenommenen Kürzungen aus. Es ist also
nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Mittel sollen für
den Bau von Ortsumgehungen eingesetzt werden.
Hierzu sage ich: Endlich begreifen Sie, dass Ortsumgehungen Menschen- und Umweltschutz bedeuten.
({8})
Übrigens: Der Verkehrsminister hat gesagt, dass er den
Etat von 9,5 Milliarden Euro auf 11,5 Milliarden Euro erhöht hat und dass diese 2 Milliarden Euro in den Jahren 2001 und 2002 zusätzlich für Schienenwege ausgegeben werden sollen. Die Vorleistungen dafür, dass Sie
diese 2 Milliarden Euro einsetzen können, haben wir mit
unseren UMTS-Lizenzen ermöglicht.
({9})
Ich bin allerdings nicht davon überzeugt, dass die Deutsche Bahn AG das verbauen kann. Denn seit 1995 sind
ständig Mittel an den Finanzminister zurückgeflossen, und
zwar auch zu Ihrer Zeit. Der Finanzminister Eichel hat sich
dieses Geld in die Tasche gesteckt, anstatt zum Beispiel die
ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt weiter zu bauen. Hier ist
eine Verzögerung von drei Jahren entstanden. Mittlerweile
haben Sie gemerkt, dass dieses Projekt auch in den Transeuropäischen Netzen enthalten ist und Sie nach Europa
Geld zurückzahlen müssten, wenn Sie diese Strecke nicht
bauen. Was haben Sie jedoch gemacht?
({10})
Sie haben Ihren eigenen Bundeskanzler brüskiert, denn
Sie haben in der letzten Sitzung des Verkehrsausschusses
unseren Antrag zur ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt wieder
einmal abgelehnt. Es herrscht eine totale Verwirrung bei
der SPD:
({11})
Der Bundeskanzler wird brüskiert, Bayern sagt Nein, die
beiden Nürnberger SPD-Abgeordneten sagen Ja. Sie müssen das in nächster Zeit ein wenig koordinieren, damit etwas daraus wird. Wir werden auf jeden Fall das Projekt 8.1
weiterbauen.
({12})
Der größte Gag des Ministers ist natürlich, dass er neulich gesagt hat, dass in den nächsten zehn Jahren 90 Milliarden Euro für die Verkehrsinfrastruktur ausgegeben
werden sollen. Das ist weniger, als wir pro Jahr für die
Verkehrsinfrastruktur ausgegeben haben. Wir haben in einem Jahr wesentlich mehr Geld ausgegeben. 90 Milliarden Euro in zehn Jahren ist wirklich keine Glanzleistung.
Der Ausbau der Wasserstraßeninfrastruktur ging
ebenfalls nicht voran. Ich verweise hier insbesondere
auch auf die rechtlich und sachlich falsche Entscheidung
zum Donauausbau. Die Umorganisation der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltungen steht ebenfalls im Stau. Es ist
nur eine Verunsicherung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingetreten.
Noch eine Bemerkung zu den Instandhaltungswerken Nürnberg und München. In München bleibt ein Teil
erhalten. Das Aus des Ausbesserungswerkes Nürnberg
war von Anfang an eine beschlossene Sache. Der Bundeskanzler wollte auf dem Parteitag in Nürnberg keine
Demonstrationen. Deshalb hat er Hand in Hand mit Bahnchef Mehdorn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum
Narren gehalten. Das muss man einmal ganz deutlich sagen. Gott sei Dank sind der bayerische Wirtschaftsminister und die Firma Siemens in die Bresche gesprungen
({13})
und haben dankenswerterweise etwas dafür getan, wenigstens einen Teil der Arbeitsplätze zu erhalten. Allerdings
werden dies andere Arbeitsplätze sein. Außerdem werden
die derzeitigen Auszubildenden in alle Winde verstreut,
was ihrer Ausbildung nicht unbedingt gut tun wird.
Frau Kollegin, ich
muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Meine Damen und Herren, nach dem 22. September werden wir den Anteil der
Investitionen im Bundeshaushalt erhöhen und den Investitionsstau im Verkehrsbereich im Interesse der Mobilität
der Bürgerinnen und Bürger auflösen.
({0})
Als nächster Redner
spricht der Kollege Klaus Hasenfratz für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In den 16 Jahren, die ich dem Bundestag angehöre, konnte ich zwar viele Reden hören. Dennoch verwundert mich die Rede meiner Vorgängerin. Ihr
Beitrag zeigte mir nämlich, dass Sie die Haushaltspläne
nicht richtig lesen können. Vielleicht gibt es in Bayern
PISA-Geschädigte.
({0})
- Herr Repnik, ich bin in der Lage, einen Haushaltsplan zu
lesen. Da scheint es bei Ihnen erhebliche Defizite zu geben.
Ich weiß nicht, wie man behaupten kann, dass die Verkehrsinvestitionen - wir reden über Verkehrsinvestitionen, Frau Kollegin Blank - von 1998 an heruntergefahren
wurden.
({1})
Sie lagen 1998 bei 9,5 Milliarden Euro. In diesem Jahr liegen sie bei 11,5 Milliarden Euro und für das Haushaltsjahr
2003 werden sie bei 12 Milliarden Euro liegen. Wie kann
man da behaupten, die Verkehrsinvestitionen seien heruntergefahren worden? Das müssen Sie mir einmal erklären.
({2})
Ich bin dem Verkehrsminister dankbar, dass er in seiner Regierungserklärung die gute und zukunftsweisende
Verkehrspolitik der Bundesregierung dargestellt hat. Ich
glaube - nein, ich bin fest davon überzeugt -, dass es der
richtige Weg ist.
Ich komme auf die LKW-Maut zu sprechen. Es gab
Konsens darüber, dass wir eine entfernungsabhängige
Maut einführen. Dann ging die Nörgelei los, dass dieses
oder jenes nicht richtig sei, obwohl wir vor Jahren alle gemeinsam den Beschluss gefasst haben, diesen richtigen
Weg zu gehen.
Ich finde es in diesem Zusammenhang bedauerlich,
dass Verbandsfunktionäre zum politischen Ungehorsam
aufrufen, weil ihnen ein bestimmtes Gesetz nicht passt,
das dieses Haus und der Bundesrat beschlossen haben.
Was soll man davon halten, wenn sie dann von der Bundesregierung weitere Entlastungen erwarten? Ich stelle
mir einmal vor, die Bürger würden den Solidaritätszuschlag nicht zahlen, weil man ihnen damit ins Portemonnaie greift. Was ist das für ein Demokratieverständnis,
wenn ein Geschäftsführer eines großen Verbandes zu diesem Boykott aufruft? Ich habe Bedenken, wenn sich eine
Fraktion oder eine Partei bei den Verbänden in dieser
Frage einklinkt. Darüber sollten Sie einmal nachdenken.
({3})
Herr Kollege Friedrich, Sie hatten gesagt, unsere Bezeichnungen für die Investitionsausgaben seien wolkenhaft. Dazu stelle ich fest: Mir ist das letztendlich egal.
Wichtig ist, dass etwas getan wird.
({4})
Wir haben ein Zukunftsinvestitionsprogramm formuliert, in dem der Bau von 300 Ortsumgehungen vorgesehen ist. Frau Kollegin Blank hat dazu gesagt: Endlich seid
ihr einmal wach geworden. Warum haben Sie so etwas
nicht in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit getan?
({5})
Wir werden an den dringlichsten Stellen, dort, wo die
Menschen unter Lärm-, Staub- und Verkehrsbelastungen
leiden, eine Entlastung durchführen.
Auch verstehe ich nicht, wie man gegen die Erhöhung
der Regionalisierungsmittel stimmen kann. Sie sollen
angehoben werden. Nach geltendem Gesetz hätte der
Finanzminister von den Ländern Rückzahlungen fordern
müssen. Das ist nicht geschehen. Wir haben Mittel von
6,75 Milliarden Euro vorgesehen, mit einer Dynamisierung von 1,5 Prozent pro Jahr.
({6})
Herr Kollege Friedrich, wissen Sie, an was mich das erinnert? Unsere Nationalmannschaft nimmt jetzt am Endspiel teil. So genannte Experten sagen dazu, sie hätten in
einer leichten Gruppe gespielt, die Schiedsrichter seien
für uns gewesen und das alles beruhe nur auf Glück.
({7})
Freuen Sie sich doch einmal über ein Ergebnis, so wie wir
das in Bezug auf unsere Politik gemacht haben, und darüber, dass unsere Fußballnationalmannschaft im Endspiel steht!
({8})
Sie aber nörgeln, reden alles mies und sagen, alles sei
schlecht.
({9})
- Ich rege mich nicht auf. Ich beschreibe nur einen Zustand.
Wir haben die Bahnreform durchgeführt.
({10})
- Wir, dieses Parlament, haben sie durchgeführt. - Sie ist
noch nicht vollendet.
({11})
Herr Lippold hat in seiner Rede vorhin wieder einmal von
einem Interregiozug gesprochen, der sehr schmutzig war
und zu spät angekommen ist. In jedem Wahlkreis gab es
einen Interregio- oder Nahrverkehrszug der DB AG, der
stillgelegt wurde. Schon geht es wieder los, dass gefordert
wird, dies rückgängig zu machen.
({12})
Dabei wird vergessen, dass wir 1994 die Privatisierung
der Deutschen Bahn durchgeführt haben.
({13})
Viele wollen auch heute wieder in den Fahrplan, in die
Fahrpreise und in die Gestaltung der Fahrstrecke der Züge
eingreifen.
({14})
- Das ist richtig.
Lassen Sie das doch den Vorstand regeln! Seine Aufgabe ist es, das Unternehmen zu führen. In Art. 87 e Abs. 4
des Grundgesetzes ist geregelt, welche Leistungen der
Bund gegenüber der DB AG zu erbringen hat. Das haben
wir auch getan. Für den Schienenverkehr stellen wir der
Bahn 4,6 Milliarden DM zur Verfügung, während Ihre
letzte Leistung 2,4 Milliarden DM war.
({15})
Die Politik sollte sich hier ein bisschen zurückhalten.
Dass man allerdings aufpassen muss, dass nichts den
Bach hinuntergeht, das versteht sich von selbst.
({16})
Herr Kollege
Hasenfratz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Winfried Wolf?
Ja.
Sehr geehrter Kollege
Hasenfratz, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass
die Bahn eine Reform verabreicht bekommen habe und
man deswegen nicht in dieses Unternehmen hineinregieren dürfe. Darf ich Sie fragen, warum Sie unseren Antrag
nicht unterstützt haben, wonach der Fern- bzw. Interregioverkehr gemäß Art. 87 e des Grundgesetzes verteidigt
werden soll, und darauf hinweisen, dass dieser Antrag
identisch mit dem Antrag war, den die Bayerische Staatsregierung und die baden-württembergische Regierung
eingebracht haben? Er hatte das gleiche Ziel, nämlich den
Interregio zu verteidigen. Diese Regierungen werden
wohl wissen, was Gesetzesgrundlage und was möglich
ist.
({0})
Dazu kann ich Ihnen sagen:
Nur weil Sie diesen Antrag von der Bayerischen Staatsregierung und dem Land Baden-Württemberg übernommen
haben, ist er noch lange nicht gut.
({0})
Es gibt unterschiedliche Rechtsauffassungen, ob der
Bund nach Art. 87 e des Grundgesetzes aufgrund der Stilllegung von Interregios verpflichtet ist, Geld zur Verfügung zu stellen, um dies zu verhindern. Das ist nicht der
Fall. Für den Nahverkehr erfüllt der Bund seine Verpflichtungen. Für den Fernverkehr ist die Bahn zuständig. So können Sie das auch in einer Ausarbeitung des
Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages
nachlesen, der dazu Stellung genommen hat. Ich kann Ihnen die Quelle mitteilen und sagen, wann das veröffentlicht wurde. In diesem Falle geht das Rechtsverständnis
zwischen der Bayerischen Staatsregierung, der Regierung
des Landes Baden-Württemberg und der PDS einerseits
und dem Wissenschaftlichen Dienst andererseits extrem
auseinander.
({1})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nach 16 Jahren Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag ist das heute
meine letzte Rede. Trotz aller kontroversen Diskussionen
hat es viele Gemeinsamkeiten gegeben. Im Überschwang meiner Erregung ist mir vielleicht manchmal ein
unbedachtes Wort entschlüpft. Liebe Renate, entschuldige, so war es nicht gemeint.
({2})
Wir kennen uns lange genug.
In diesen Jahren hat es viele Gemeinsamkeiten gegeben, Kolleginnen und Kollegen. Ich erinnere nur an die
Bahnpolitik. Manchmal sind die Instrumente und die
Werkzeuge, die man anwenden will, unterschiedlicher
Art, aber eine leistungsfähige Bahn, die für die Menschen
da sein soll, ist unser gemeinsames Ziel.
Ich muss auch sagen, über die Parteigrenzen hinweg
sind in den 16 Jahren auch Freundschaften entstanden.
Ich nehme exemplarisch den Ausschussvorsitzenden
Eduard Oswald heraus, weil wir beide, Edi, 1987 im Verkehrsausschuss angefangen haben. Du bist heute Ausschussvorsitzender, ich bin dein Stellvertreter. Ich habe
Dank zu sagen, auch vielen aus den anderen Fraktionen
und insbesondere aus meiner Fraktion, für die gute und
konstruktive Zusammenarbeit. Ich hoffe und wünsche,
aber ich bin auch davon überzeugt, dass meine Fraktion
nach dem 22. September auch weiterhin eine zukunftsweisende Verkehrspolitik machen wird.
({3})
Dazu wünsche ich allen alles Gute und viel Erfolg.
Vielen Dank.
({4})
Lieber Kollege
Hasenfratz, das war Ihre letzte Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Sie haben bereits daran erinnert. Im
Namen aller Kolleginnen und Kollegen möchte ich Ihnen
für Ihre Arbeit im Plenum und im Ausschuss danken. Jetzt
kann, glaube ich, der ganze Saal klatschen.
({0})
Es gibt noch einen letzten Redner in dieser Debatte.
Das ist der Kollege Dirk Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auch ich
möchte dem Kollegen Klaus Hasenfratz nach seiner letzten verkehrspolitischen Rede im Namen meiner Fraktion
und unserer Arbeitsgruppe, aber ich denke auch im Namen aller Kollegen unseres Ausschusses sehr herzlich
dafür danken, dass wir trotz mancher kontroverser Auseinandersetzungen in der Sache doch ein sehr angenehmes Klima der Zusammenarbeit gehabt haben. Ich
möchte dir, lieber Klaus Hasenfratz, persönlich für dein
Wohlergehen alles erdenklich Gute wünschen.
({0})
Ich denke, auch in Zukunft werden wir uns über jeden
Moment der Wiederbegegnung freuen, den wir haben
können.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Regierungserklärung des Bundesministers war doch sichtbar
Ausdruck eines schlechten Gewissens kurz vor Toresschluss. In dieser Legislaturperiode und auch heute wieder hat er uns viele Ankündigungen serviert, viel Zukunftsmusik, viel Propaganda. Dies kontrastiert doch in
bedenklicher Weise mit sinkenden Finanz- und Bauleistungen. Das kann nicht das sein, was deutsche Verkehrspolitik und Infrastruktur voranbringt.
Schauen Sie sich den Haushaltsentwurf 2003 an. Er
dokumentiert erneut - und hoffentlich zum letzten Mal die dürftige Bilanz der rot-grünen Verkehrspolitik. Nachdem Ihre Regierung, Herr Minister Bodewig, in diesem
Frühjahr die LKW-Maut mit einem unechten Vermittlungsverfahren durchgedrückt hat, konnte man eigentlich
erwarten, dass für die Not leidende Verkehrsinfrastruktur
mehr Geld zur Verfügung stehen würde. Aber weit gefehlt: Sie haben die Maut zur Abzocke des LKW-Gewerbes missbraucht und der größte Abzocker ist Bundesfinanzminister Hans Eichel. Er zieht dem Gewerbe die
Maut aus der Tasche und vereinnahmt einen Großteil davon für den Schuldentopf einer verfehlten Finanzpolitik.
({2})
Demgegenüber steht bedarfsgerechte, ausreichende
Mittelausstattung für die Verkehrsinfrastruktur nicht zur
Verfügung. Besonders Not leidend sind mittlerweile
schon die Bundesfernstraßen in den alten Bundesländern.
Sie sind zwar die herausragenden Geldquellen des Staates, werden aber beim Substanzerhalt und der kapazitätssteigernden Investition sträflich vernachlässigt.
Es gibt eine Fülle von Baurechten - die PällmannKommission hat da ein Zwischenvolumen von über
35 Milliarden DM errechnet - ohne Finanzierung. In Baden-Würtemberg zum Beispiel ist in der gesamten Legislaturperiode fast nichts neu begonnen worden.
({3})
Das ist ein wirkliches Drama. Die wenigen begonnenen,
aber nicht durchfinanzierten Maßnahmen wie Ortsumgehungen aus dem ZIP können diesen Eindruck gar nicht
schmälern; denn hier handelt es sich nur um An- und nicht
um Durchfinanzierungen und das ist nicht das, was das
Bauvolumen ausmacht.
({4})
Während dieser Legislaturperiode ist durch die Mineralölsteuer und die darauf entrichtete Mehrwertsteuer ein
Volumen von etwa 340 Milliarden DM eingenommen worden. Im gleichen Zeitraum flossen dem Bundesfernstraßenbau allenfalls 40 Milliarden DM an Bundesmitteln zu.
Viel Geld hat der Bund aus dem Netz gezogen. Bei weiter
steigenden Verkehrsbelastungen ist bereits heute absehbar,
dass der Substanzverzehr beim Verkehrsträger Straße weitaus größer ausfällt als der Substanzaufbau durch Reinvestitionen. Das wird auf Dauer nicht gut gehen.
Meine Damen und Herren, jeder Landwirt weiß, dass
er die Kuh, die er täglich melken will, auch anständig füttern muss, damit das wertvolle Tier nicht verendet. Die
Verendung des deutschen Straßennetzes können wir uns
nicht leisten, dann legen wir Hand an unsere Volkswirtschaft - das darf nicht sein - und schädigen auch Europa.
Es war doch Ihr Forschungsministerium, das jährliche
Staukosten von rund 100 Milliarden Euro errechnet hat.
Jedem wirtschaftlich einsichtigen Menschen ist der Zusammenhang zwischen Prosporität und Verkehrssystem
klar: Ein funktionierendes Verkehrssystem ist die notwendige Voraussetzung für Mobilität und Wohlstand.
Nun sind Sie der Meinung, diese Probleme mit dem
Verkehrsträger Schiene schon lösen zu können. Die
Maut soll hier flankierend eingreifen, der Straße wird es
genommen, der Schiene gegeben. Quersubventionierung
heißt das.
Hat aber das bei der Schiene angelegte Geld wirklich
den verkehrspolitischen Mehrwert geschaffen? Während
der Bund aus der Straße seit Beginn der Bahnreform fast
600 Milliarden DM netto erlöst hat, hat er im gleichen
Zeitraum der Schiene knapp 300 Milliarden DM gegeben.
Der überwiegende Teil floss in den Betrieb und nur wenig
wurde investiert. Im Übrigen, Herr Schmidt: Das sind Investitionen des Steuerzahlers, nicht des Unternehmens.
Dieses Unternehmen braucht dazu im Unterschied zu anderen wirtschaftlich Tätigen noch nicht einmal die Abschreibungen zu verdienen. Das ist wirklich eine Beletage, in der die Investitionen gemacht werden können.
({5})
Laut Geschäftsbericht der DB AG für 2001 ist das Unternehmen heute wieder mit rund 18,3 Milliarden Euro
- das sind fast 37 Milliarden DM - verschuldet, nachdem
es der Bund zum 31. Dezember 1993 von fast 70 Milliarden DM Altschulden befreit hatte. In nur acht Jahren seit
dem Beginn der Bahnreform hat die DB AG mehr als die
Hälfte der Schulden neu aufgebaut, die vorher in 32 Jahren - seit 1961 - entstanden sind. Das Tempo der Neuverschuldung hat ein erschreckendes Ausmaß angenommen.
Es gibt keine heile Welt des Schienenverkehrs in Deutschland. Das muss jeder begreifen.
Dabei stagnieren die Anteile der Schiene am Gesamtverkehrsmarkt bei rund 14 Prozent. Seit 1994, dem Beginn der Bahnreform, haben im Modal-Split die Marktanteile des Güterverkehrs auf der Schiene von 17 auf
14 Prozent abgenommen und die des Güterverkehrs per
LKW von 65 auf 71 Prozent zugenommen.
Und dann reden wir hier von mehr Verkehr auf die
Schiene. Was ist denn die Realität? Genau das Gegenteil!
({6})
In einem solchen Zeitraum also fast 300 Milliarden
Staatstransfer zuzüglich die Verantwortung für etwa
37 Milliarden Neuverschuldung, dann ab dem Haushalt
1994 Übernahme von 70 Milliarden Altschulden - das
sind die gigantischen Finanzvolumina, die sich die Bundesrepublik Deutschland nicht länger erlauben kann,
umso mehr als durch die Bahnreform der Aufwand des
Steuerzahlers für die Schiene verringert werden sollte. In
dieser Einschätzung befinden wir uns im Übrigen in Übereinstimmung mit dem sozialdemokratischen Altkanzler
Helmut Schmidt, der als gelernter Ökonom zu folgender
legendärer Erkenntnis gelangte: „Die Bundesrepublik
Deutschland kann sich immer nur eines von beidem leisten: entweder eine Bundeswehr oder eine Bundesbahn.“
Das ist Originalton Helmut Schmidt.
Für eine nachhaltige verkehrspolitische Öffnung der
Schiene, um dort wettbewerblich organisierte, dauerhaft
verkehrsmarktfähige Strukturen zu schaffen, fehlte Ihrer
Regierung die Kraft.
({7})
Ursache dieser Kraftlosigkeit ist der mangelnde politische
Gestaltungswille sozialdemokratischer Verkehrsminister.
({8})
Um es cineastisch auszudrücken: Nach Müntefering und
Klimmt ist Bodewig „Der dritte Mann“ oder besser „Der
unsichtbare Dritte“, eine niederrheinische Frohnatur ohne
politische Durchsetzungskraft.
({9})
Herr Schmidt, zugegebenermaßen gab es auf dem Parteitag der Grünen im Frühjahr 2001 ja gute Ansätze. Die
Grünen bejubelten den Minister Bodewig, als er sagte: Die
Trennung von Netz und Betrieb ist nur noch eine Frage des
Wie und nicht mehr des Ob; das weiß auch Herr Mehdorn.
({10})
Sie haben die Beschlusslage meiner Fraktion zutreffend
zitiert. Sie haben mich, genau wie der Kollege Weis auch,
auf ein Zitat hingewiesen. Ich kann Ihnen übrigens auch
eines liefern. Am 22. Mai haben in Potsdam die Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Wirtschafts- und Verkehrsausschüsse aus Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Berlin getagt
({11})
und haben hinterher eine Potsdamer Erklärung zur Bahnpolitik abgegeben. Darin heißt es: Sie erklären anlässlich
dieses Treffens, dass es zu einer Trennung von Netz und
Betrieb kommen muss,
({12})
wobei die Errichtung einer unabhängigen Trassenagentur
zur Herstellung und Sicherung eines diskriminierungsfreien Zugangs als sinnvoller Zwischenschritt erachtet
wird.
({13})
Herr Schmidt, Sie werden jawohl noch Frau Sager kennen. Das war ja mal Ihre Bundessprecherin. Die war bei
der Tagung dabei und hat das quergeschrieben.
({14})
Insoweit fand ich das, was Sie gesagt haben, ziemlich albern.
Herr Kollege Fischer,
Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Meine Damen
und Herren, die Schwäche des deutschen Verkehrssystems ist die Schwäche des Verkehrsträgers Schiene,
({0})
weil damit das Straßensystem überlastet wird. Deswegen
muss hier umgesteuert werden. Wir brauchen eine Zwischenbilanz, was die Bahnreform bisher gebracht hat,
dann neue Zielbestimmungen? Es besteht extremer Handlungsbedarf. Die Monopole, die wir unverändert haben,
müssen beseitigt werden.
({1})
Wir müssen dringend dafür sorgen, dass die Marktanteile größer werden. Sie haben das nicht zustande gebracht; im Gegenteil, bei Ihnen sind sie gesunken. Es
muss der Substanzverzehr der Straße gestoppt werden.
Auch das Gewerbe muss entlastet werden. Von Herrn
Steinmeier im Bundeskanzleramt ist der höchstmögliche
Harmonisierungsbeitrag versprochen worden. Steinmeier
ist ein wahrer Schröder-Schüler: Es gilt das gebrochene
Wort. Wir müssen es nach dem 22. September einlösen.
Herr Kollege Fischer,
bitte kommen Sie zum Schluss.
Ich sage zum
Schluss, Frau Präsidentin: „Die Zeit verrinnt, wir seh’n
Dirk Fischer ({0})
betroffen, der Vorhang fällt und alle Fragen offen.“ Am
22. September wird der Vorhang für die rot-grüne Bundesregierung fallen und sich nicht wieder heben. Dann
gibt es für eine neue Mehrheit die Chance, die vielen Fragen auch wirklich schlüssig zu beantworten.
({1})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/9551 und 14/9546 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/9551 soll jedoch abweichend
von der Tagesordnung nicht an den Haushaltsausschuss
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen. Zunächst
rufe ich auf die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Drucksa-
che 14/9559, zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit
dem Titel „Erhalt der Bahnwerke - behindertengerechte
Umrüstung des Wagenparks der Deutschen Bahn AG“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/9365 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Frak-
tion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 14/9592 zu dem Antrag der Fraktion der PDS
mit dem Titel „Innerdeutschen Luftverkehr auf die Bahn
verlagern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/9255 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Keine. - Die Beschlussempfehlung ist ebenso gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 14/8528. Der Ausschuss empfiehlt die An-
nahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/7179 mit
dem Titel „Zukunft der Instandhaltungswerke der Deut-
schen Bahn AG“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/7147 mit dem Titel „Instandhaltungswerke der Deut-
schen Bahn AG in Nürnberg und München erhalten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung von FDP- und
PDS-Fraktion angenommen.
Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/7282 mit dem Titel „Instandhaltungswerke der Deut-
schen Bahn AG in Delitzsch, Chemnitz, Opladen und
Zwickau erhalten - neue Investoren für Stendal, Leipzig-
Engelsdorf und Neustrelitz“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU- und PDS-Fraktion bei Enthaltung der FDP
angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache
14/7158 mit dem Titel „Neues Konzept für Ausbesse-
rungswerke der Deutschen Bahn AG vorlegen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 g sowie die
Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
3. a) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der
CDU/CSU
Situation und Perspektiven der Landwirtschaft
in Deutschland
- Drucksachen 14/8072, 14/9461 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({0})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarbericht 2001
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht
der Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Marita Sehn, Ulrich Heinrich, Gudrun
Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarbericht 2001
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht
der Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Gudrun Kopp, Marita
Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Agrarbericht 2001
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht
der Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Agrarbericht 2001
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht
der Bundesregierung
- Drucksachen 14/5326, 14/6343, 14/6345,
14/6347, 14/7118 Berichterstattung:
Abgeordneter Albert Deß
Dirk Fischer ({1})
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht 2002
der Bundesregierung
- Drucksache 14/8202 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({2})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Lagebericht der Bundesregierung über die
Alterssicherung der Landwirte 2001
- Drucksache 14/7798 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Heinrich, Rainer Funke, Marita Sehn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Fleischvernichtung stoppen - hungernden Menschen helfen
- Drucksache 14/5675 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({4})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Heinrich, Marita Sehn, Hans-Michael Goldmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Maul- und Klauenseuche - Impfen statt töten
- Drucksache 14/5691 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({5})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Ulrich Heinrich, Ina Albowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
MKS- und BSE-Erfahrungsbericht umgehend
vorlegen
- Drucksache 14/6176 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ({6})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({7}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp,
Ulrich Heinrich, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzenanbau in Ostwestfalen-Lippe
- Drucksachen 14/3107, 14/4449 Berichterstattung:
Abgeordnete Jella Teuchner
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({8}):
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Homburger, Ulrich Heinrich, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Obstbauern vor dem Ruin retten - Plantomycin für Notfallmaßnahmen zulassen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Marita Sehn,
Ulrich Heinrich, Walter Hirche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP:
Pflanzenschutzpolitik neu ausrichten, heimische Produzenten unterstützen und Verbraucher schützen
- Drucksachen 14/8180, 14/8430, 14/9366 Berichterstattung:
Abgeordneter Gustav Herzog
Zum Ernährungs- und agrarpolitischen Bericht 2002
der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen,
der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier
wurde heute Morgen - dies kann natürlich auch nicht ausbleiben, weil das ganze deutsche Volk zurzeit über Fußball philosophiert - schon viel über Fußball gesprochen.
Es wurde gesagt, wir sollten es doch begrüßen, wie die
deutsche Nationalmannschaft spielt.
({0})
Ja, die leistet viel für Deutschland. Ich erwarte aber, dass
eine Bundesregierung dies auch tut. Tut sie aber nicht. Gerade in dem Bereich, für den ich als Sprecher meiner Fraktion zuständig bin, sind in letzter Zeit mehr Eigentore als
Tore geschossen worden.
({1})
Es gibt eine zunehmende Zahl von Lebensmittelskandalen, die von der Bundesregierung unzureichend aufgeklärt werden. Dann gibt es sich ständig verschlechternde
Vizepräsidentin Petra Bläss
Rahmenbedingungen für die deutsche Landwirtschaft. Es
gibt keinen Dialog zwischen der Bundesregierung und der
Landwirtschaft. Man stelle sich vor, wir würden für unser
Land eine Wirtschaftspolitik konzipieren, ohne mit der
Wirtschaft oder den Gewerkschaften zu sprechen. Jeder
würde das als unmöglich bezeichnen. Wenn das aber für
die Wirtschaftspolitik im Allgemeinen gilt, dann gilt das
auch für die Agrarpolitik im Besonderen.
({2})
Stattdessen werden in ungerechtfertigter Weise ideologische Gräben - das hat der Nitrofen-Skandal deutlich
gemacht - in der Landwirtschaft aufgerissen.
({3})
Ich werde niemals den Stab über den ökologischen Landbau brechen.
({4})
Ich finde, dass er seine Berechtigung hat
({5})
und dass wir ihn so fördern müssen, wie sich das Marktsegment ökologischer Landbau entwickelt.
({6})
Aber ich war in den letzten Tagen sehr viel bei Ökobetrieben in der Bundesrepublik Deutschland. Ich habe deren
Ängste mitbekommen, die nicht nur wegen des NitrofenSkandals entstanden sind. Die Ökobauern haben einfach
Angst, dass von der Ministerin ein Signal für Preisdumping für Produkte des ökologischen Landbaus ausgeht.
({7})
Die Sorgen dieser Bauern sind gerechtfertigt. Allerdings sind auch die Sorgen der Landwirte gerechtfertigt,
die sich dem modernen, innovativen Prozess in der Landwirtschaft stellen wollen, wie das auch die ökologische
Landwirtschaft tut. Aber im konventionellen Bereich ist
das nicht anders. Im Grunde genommen hat man keine
Möglichkeit, den heimischen Betrieb weiterzuentwickeln, weil die rot-grüne Agrarpolitik Folgendes
macht: Sie setzt bestimmte europäische Vorgaben nicht
eins zu eins um, obwohl auch diese Bundesregierung und
die sie tragenden Koalitionsfraktionen wissen müssen,
dass es einen europäischen Binnenmarkt gibt.
({8})
Diesem europäischen Binnenmarkt hat sich auch die
deutsche Landwirtschaft zu stellen.
({9})
Wir brauchen - das beweist unsere Große Anfrage zur
Agrarpolitik - unbedingt eine Kehrtwende in der Agrarpolitik, keine Wende à la Künast.
({10})
- Ulrike, ich habe dir schon einmal gesagt: Wer sich ständig wendet, dreht sich im Kreis. Das gilt für Frau Künast
im Verbraucherschutz und in der Agrarpolitik. Sie bringt
nicht einmal den Verbraucherschutz nach vorne. Ich habe
von Frau Künast wenigstens erwartet, dass sie ihn voranbringt. Bei der Agrarpolitik hatte ich diesen Erwartungshorizont allerdings nie.
Im Grunde genommen dürfen der nationalen Agrarpolitik in Zeiten, in denen der Wettbewerbsdruck für
die Landwirtschaft zunimmt, keine Klötze an die Beine gebunden werden, mit denen sie dann am europäischen Wettlauf mit den anderen EU-Partnern teilnehmen soll. Mit Klötzen an den Beinen kann ich diesen
Wettlauf nicht gewinnen, auch wenn ich von meinem
Können und meiner Ausbildung her dazu in der Lage
wäre. Mit Klötzen an den Beinen geht das ungemein
schwer.
Unsere Große Anfrage hat zutage gebracht, welche ungeheuren Belastungen für die deutsche Landwirtschaft
von Rot-Grün ausgegangen sind. Die Landwirtschaft ist
wie der Mittelstand in diesem Lande zu einem Lastenträger der rot-grünen Politik geworden.
({11})
Nehmen Sie nur die ungeheuren Belastungen von fast
1 Milliarde DM, also fast 500 Millionen Euro, beim
Agrardiesel. Gleichzeitig haben andere europäische Länder, mit denen wir im Wettbewerb stehen, den Agrardiesel von Abgaben befreit und damit dazu beigetragen, dass
ihre Landwirtschaft wettbewerbsfähiger wird.
({12})
- Wir haben schließlich die Steuerbefreiung für Biodiesel
eingeführt. Wenn ihr sie fortsetzt, ist das zwar richtig,
({13})
aber im Grunde genommen haben wir bereits im Zusammenhang mit dem Biodiesel die richtige Politik eingeleitet. Das gilt nach wie vor.
({14})
Das heißt aber nicht, dass die Landwirtschaft nicht durch
den Agrardiesel und durch viele andere Maßnahmen zusätzliche Belastungen erfahren hat.
({15})
Auch kann es nicht angehen, dass wir ständig über
Steuerentlastungen für die Wirtschaft reden, aber die bäuerliche Landwirtschaft - ich meine nicht die Aktiengesellschaften und die GmbHs in der landwirtschaftlichen
Produktion, sondern die bäuerlich strukturierte Landwirtschaft, in der der Unternehmer seinen Betrieb in Eigenverantwortung bewirtschaftet ({16})
- ja, die bäuerliche Familie -, im Bereich der Einkommensteuer bis zum Jahr 2005 zusätzlich belastet wird.
Auch das ist eine sehr negative rot-grüne Bilanz, die wir
zu ziehen haben.
({17})
Es geht noch weiter: Auch im Rahmen der Agrarsozialpolitik sind zusätzliche Belastungen beschlossen worden. Ich habe es damals als einen Skandal bezeichnet
- und es ist auch durch die Antwort auf unsere Große Anfrage offenbar geworden -, dass den landwirtschaftlichen
Alterskassen 400 Millionen genommen und gleichzeitig
der Bundesknappschaft zusätzliche Mittel in Höhe von
500 Millionen gewährt worden sind. Ich habe nichts dagegen - in meinem Wahlkreis gibt es auch Bergbau -, dass
den Bergleuten etwas gegeben wird, aber ich habe etwas
dagegen, dass es vorher den Bauern in dieser Republik genommen wird.
({18})
Von daher sind die Rahmenbedingungen für die deutsche
Landwirtschaft verschlechtert worden.
Der Verbraucherschutz ist nicht erneuert worden. Auch
das ist offenbar geworden. Ich meine, dass im Sinne einer
Erneuerung des Verbraucherschutzes und der Weiterentwicklung der Agrarpolitik, die für unsere Bäuerinnen und
Bauern verlässlich und berechenbar bleibt, am 22. September unbedingt ein Wachwechsel erreicht werden muss. Die
deutschen Bauern warten darauf, meine Damen und Herren.
({19})
Das Wort hat die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft, Renate Künast.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fakten sind:
Die Einkommen der landwirtschaftlichen Betriebe werden
nach den erheblichen Gewinnsteigerungen in den beiden
Vorjahren - im Jahr 2000 waren es 13,5 Prozent, im vergangenen Jahr 17,7 Prozent - auch in diesem Jahr im
Durchschnitt in einer Größenordnung von bis zu 6 Prozent
steigen. Besonders die neuen Bundesländer profitieren
von den erwarteten Einkommenssteigerungen von teilweise bis zu 20 Prozent. Das ist doch eine gute Nachricht.
({0})
Auf diesem Schaubild sehen Sie zwei Kurven, die jeweils die Gewinnsteigerungen der Unternehmen und der
Arbeitskraft zeigen. Bei dem kleinen Knick, der dabei
sichtbar ist, handelt es sich um den so genannten
Borchert-Knick. Als Borchert sein Amt antrat, ging die
Kurve nach unten. Rot-Grün hat die Entwicklung wieder
nach oben gebracht.
({1})
Wie Sie sehen, ist es immer wieder von Vorteil, sich mit
den Zahlen auseinander zu setzen. Fakt ist, dass die Wettbewerbsstellung der deutschen Landwirtschaft insgesamt
sehr gut ist. Allein der Außenhandel mit Agrarprodukten
ist nach den vorläufigen Ergebnissen für 2001 um 8,1 Prozent auf 25,2 Milliarden Euro gestiegen.
({2})
Fakt ist weiterhin, dass die Bäuerinnen und Bauern
nach anfänglicher Skepsis wegen der BSE-Krise wieder
investieren. Die Erzeugung von Lebensmitteln ist wieder
für alle ein Thema geworden. Die Menschen wollen gesunde und gute Nahrungsmittel von unseren Bäuerinnen
und Bauern.
Eines ist auch klar: Es wird gesellschaftlich immer
mehr darüber diskutiert. Die Menschen lernen zunehmend, dass bäuerliche Landwirtschaft, dass Landwirtschaft überhaupt nicht etwas ist, was von ihnen distanziert
ist, sondern etwas ist, was für den Erhalt der natürlichen
Lebensgrundlagen, für Wasser, Boden, Artenvielfalt sowie die Schönheit und Pflege unserer Kulturlandschaft
unverzichtbar ist.
({3})
Das sind alles
({4})
- Sie reden doch bestimmt gleich
({5})
und haben von Ihrer Fraktion auch viel Redezeit bekommen, weil Sie so qualifizierte Ausführungen machen können ({6})
Güter, die sie nicht vom Weltmarkt importieren können.
Da liegen die Zukunftschancen und das spüren auch die
Menschen in der Landwirtschaft.
Die junge Generation, die jungen Unternehmerinnen
und Unternehmer diskutieren zum Teil anders, als das in
den alten Strukturen oder den so genannten journalistischen Blättern der Landwirtschaft geschieht. Was macht
die junge Generation in der Landwirtschaft? Sie investiert, sie geht neue Bündnisse ein. Da gibt es plötzlich
junge Menschen vom Land, die zusammen mit der
BUND-Jugend bei uns Anträge stellen, um gemeinsam
Informationskampagnen und Multivisionsshows für die
Schulausbildung zu machen. Sie sagen: Wir, Umweltschützer und Landjugend, tun uns zusammen und zeigen
denen in der Stadt, was Sache ist.
({7})
- Das ist etwas Neues.
({8})
- Das ist neu. Vorher wurde ihnen immer eingeredet, dass
die, die Umweltschutz machen wollen, ihre Feinde sind.
Die Jugend hat erkannt, dass Zukunft gemeinsam organisiert wird.
({9})
Sie sehen genau, dass die Zukunft in sozialer, ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit liegt. Sie sehen,
dass die Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten,
dass Ziele gemeinsam entwickelt werden, zum Beispiel
auch bei der artgerechten Tierhaltung. Das sind Zukunftsthemen.
Die jungen Landwirte wissen, dass die Zukunft beim
Pflanzenschutz in der Nachhaltigkeit liegt. Deshalb bauen
wir die gesamte Forschung in diesem Bereich um. Wir
forschen zunehmend über verträgliche Alternativen auch
beim Pflanzenschutz.
({10})
Klar ist: Es muss Medikamente für Menschen geben,
die auch wirken können. Deshalb haben Antibiotika in
Lebensmitteln nichts zu suchen.
({11})
Deshalb haben Antibiotika auch im deutschen Honig
nichts zu suchen. Da unterscheiden wir uns. Da liegen
Welten zwischen Ihnen und uns.
({12})
Sie und CDU-Minister schreiben mir in Briefen immer
noch, ich sollte Plantomycin wieder komplett zulassen
und die zulässigen Rückstandshöchstmengen erhöhen.
Ich sage: Niemand von uns würde solchen Honig den Kindern zum Frühstück anbieten. Deshalb lässt die Landwirtschaftsministerin das auch nicht zu.
({13})
- Ein wunderbarer Zwischenruf: „Aber Nitrofeneier lassen Sie zu.“ Lieber Herr Schindler,
({14})
mindestens seit 1999 wurde in der Halle in Malchin gelagert. Das hätten Sie alle miteinander weit vor meiner Zeit
als Agrarministerin entdecken und beheben können.
({15})
Sie haben diese Aufgabe mir überlassen. Ich habe es Ende
Mai angepackt und gemacht.
({16})
Wir wollen - das ist ein wichtiger Ansatzpunkt -, dass
in der Lebensmittelpolitik genauer auf die Gesundheit der
Menschen geachtet wird. Wir wollen insbesondere auf unsere Kleinsten achten. Dazu muss ich Ihnen ehrlich sagen:
Ich verstehe gar nicht, wie Sie jahrzehntelang darauf verzichten konnten. Unter Ihrer Ägide sind die Rückstandshöchstmengen bezogen auf das Gewicht eines 35-jährigen Mannes berechnet worden. Ich weiß nicht, ob es für
Sie ein Geheimnis war, dass ein dreijähriges oder fünfjähriges Kind nicht das gleiche Gewicht hat.
({17})
Bis zum sechsten Lebensjahr ist die Enzymbildung von
Leber und Niere noch nicht so entwickelt wie bei Erwachsenen. Wir fangen deshalb damit an, das neu zu berechnen, und haben entsprechende Forschungsprogramme aufgelegt.
({18})
- Ich weiß, die Wahrheit ist hart.
Zu einem modernen Wirtschaftskonzept gehört heutzutage auch der Verbraucherschutz, auch für unsere Kleinen. Wir können froh darüber sein, dass die jungen Unternehmerinnen und Unternehmer auf dem Land genau
das erkannt haben.
Ich will einen Satz zu Ihrem Antrag sagen. Sie erheben
den Vorwurf, die Vorschläge der Bundesregierung in dem
Halbzeitbilanzpapier seien voreilig und führten zu einer
großen Planungsunsicherheit unserer Landwirte. Glauben
Sie im Ernst, dass die jungen Landwirte und das Gewerbe
im ländlichen Raum Lust haben, auf Dauer gemeinsam
mit Ihnen den Kopf in den Sand zu stecken und betriebswirtschaftliche Chancen nicht zu nutzen?
Gucken wir uns doch einmal an, worüber in der WTO
diskutiert wird und worüber jetzt zum Beispiel in der
Kommission diskutiert wird, nämlich über den FischlerVorschlag. Ich finde das schon lustig. Früher haben Sie
Herrn Fischler in Ihre Fraktion eingeladen und gesagt,
Frau Künast rede irgendwelche irrealen Dinge. Warum loben Sie den Fischler-Vorschlag jetzt eigentlich nicht? Er
ist doch Ihr Mann. Aber Sie haben in der letzten Zeit ja
immer den Schulterschluss mit Herrn Fischler gegen mich
versucht. Die Konservativen halten zusammen; das war
schon auffallend.
({19})
- Sie haben sich oft genug mit ihm gegen mich vereinigt.
Da muss ja was dran sein.
Jetzt sehen Sie, meine Damen und Herren: Die Vorschläge im Entwurf der Bundesregierung zur HalbzeitbiBundesministerin Renate Künast
lanz finden sich in den Brüsseler Vorschlägen wieder. Sie
sind genau das Angebot für gesellschaftlich gewünschte
Arbeit der Landwirte und sie sind WTO-fähig. In unserem
Papier beschreiben wir ein Modell zur Entkoppelung der
Direktzahlungen von der Produktion und zur Verbindung
der Direktzahlungen mit Umweltstandards. Das sind klassische Punkte. Sie finden darin auch die obligatorische
Modulation, die Sie immer noch bekämpfen. In einer Erweiterung des Kataloges haben wir aufgeführt, was man
insbesondere in den neuen Bundesländern im ländlichen
Raum alles finanzieren könnte, bis hin zur vermehrten
Förderung traditioneller regionaler Ursprungsprodukte in
der Verarbeitung und Vermarktung, wodurch wir letztlich
Qualität fördern.
All diese Vorschläge sind mit einer extrem großen
Schnittmenge in das Papier der Kommission eingeflossen. Deshalb kann man zu dem Fischler-Vorschlag heute
eines sagen: Die Richtung stimmt, das ist wettbewerbsfähig auf dem Weltmarkt. Ich möchte mir allerdings an dieser Stelle noch die Rechnung anschauen.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schindler?
Bitte.
Frau Ministerin
Künast, können Sie für den Fall, dass es so käme, garantieren, dass rot-grün regierte Bundesländer diese Ausgleichsmittel nicht schlucken und im eigenen Staatsetat
vereinnahmen - wie in der Vergangenheit passiert -, sondern dass sie die Mittel wie in Bayern, in Baden-Württemberg und in anderen CDU-regierten Ländern tatsächlich an die Bauern weitergeben? Wir haben ja schlechte
Beispiele aus der Vergangenheit. Garantieren Sie, dass
diese Mittel der Landwirtschaft erhalten bleiben?
Herr Schindler,
das ist eine gute Frage.
({0})
Ich garantiere Ihnen, dass die Mittel, die nach allen Brüsseler Vorschlägen - bei denen wir viele Detailfragen
noch werden klären müssen, gerade auch die Frage, wie
die Betriebe in den neuen Bundesländern betroffen sind umgeschichtet werden, tatsächlich in den ländlichen
Raum gehen. Dafür werde ich beinhart kämpfen und Sie
haben bisher von der Bundesregierung dazu auch keinen
anderen Satz gehört.
({1})
Da haben wir einen kleinen Unterschied. Ich sage Ihnen auch, warum. Wir alle wissen, dass es Landflucht
gibt, und müssen uns deshalb genau fragen: Wo erzielen
diese Brüsseler Gelder den höchsten Arbeitsplatzeffekt?
Wenn beispielsweise Frauen Qualifikationen brauchen,
um nicht als Bäuerin, sondern als Beraterin in der Verbindungsstelle zwischen Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu arbeiten, wenn Frauen auf dem Land Ausbildung in den Schulen machen sollen und wollen, könnte es
auch Sinn machen, nicht den einzelnen landwirtschaftlichen Betrieb, sondern die Frauen bei dieser versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit zu fördern.
({2})
Der Kampf für diese Gelder im ländlichen Raum wird von
mir immer geführt und ich habe nicht vor, auch nur einen
Euro abzugeben. Da haben wir etwas Gemeinsames.
({3})
Noch einmal mit Blick auf die neuen Bundesländer und
die Kappungsgrenze: Klar ist, dass die Richtung stimmt. Die
Rechnung gucken wir uns sehr genau an, auch das in Richtung Brüssel. Es muss gerecht zugehen. Bei Umschichtungen müssen alle Mitgliedstaaten gleichermaßen belastet
werden. Regionen, die abgeben, müssen dieses Geld für den
Aufbau neuer Bereiche, wie ich sie zum Beispiel gerade in
meiner Antwort auf Ihre Frage genannt habe, nutzen, beispielsweise für den Bereich Frauenausbildung und für die
Förderung von Arbeitsplätzen auf dem Land.
Ihr Konzept besteht meines Erachtens darin: Augen zu
und weiter mit den alten Strukturen und mit den alten
Geldflüssen. Sie werden aber ein Ende finden, spätestens
durch die WTO-Verhandlungen. Deshalb ist es richtig,
dass wir jetzt etwas Neues aufbauen.
Ich frage mich: Wo sind eigentlich Ihr Angebot und
Ihre Perspektiven für die jungen Leute? Ihr Schweigen,
meine Damen und Herren von der Opposition, geht ja sogar noch viel weiter. Wo ist eigentlich Ihr Kandidat im so
genannten Kompetenzteam? Seit Wochen blicke ich
sehnsüchtig in die Zeitungen und frage mich: Wo ist er
denn? Es kann eigentlich nur zwei Antworten geben: Entweder haben Sie Angst davor zuzugeben, dass es wieder
einer des alten Schlages wird, Herr Sonnleitner zum Beispiel. Damit würden Sie alle Ihre Programmaussagen, Sie
wollten das Wort Verbraucherschutz auch nur buchstabieren, ad absurdum führen, weil Sie sagen würden: Das ist
die alte Politik, die für viele Krisen mit ursächlich war.
Oder Sie haben Angst davor, offen zu sagen, dass Sie nicht
mehr einen Kandidaten des alten Schlages, sondern einen
Verbraucherschützer nehmen. Damit würden Sie natürlich die Stimmen vieler Bauern verlieren.
Eines zeigt Ihr Verhalten meines Erachtens aber auf
alle Fälle - das gilt auch für alle Ihre inhaltlichen Vorschläge -: Meine Damen und Herren von der Opposition,
Ihre Klientel sind nicht die Bauern, sondern die großwirtschaftlichen Verbände.
({4})
Ich sage Ihnen ganz klar: Mit dieser Politik haben Sie den
Bauern in der Vergangenheit geschadet und Sie tun es
noch heute, weil Sie in Wahrheit mit gezinkten Karten
spielen, weil Sie den Leuten auf dem Lande nicht sagen,
wie die internationalen Rahmenbedingungen, unter denen
sie in den nächsten Jahren arbeiten werden, aussehen.
({5})
Sie wiegen die Bauern in Sicherheit und sagen ihnen
nicht, worauf sie ihre Betriebe einstellen müssen.
({6})
Sie machen - ich wiederhole diesen Satz gern - keine
Politik für die Landwirte. Auch der Ausschussvorsitzende
hat sein Interesse deutlich formuliert. Mitten im NitrofenSkandal sagte er, er könne - Zitat - „aber auch klammheimliche Genugtuung nicht verhehlen,
({7})
dass der Öko-Landbau wieder auf den Teppich geholt wird“.
Dies stand im „Nordfriesland-Tageblatt“ vom 29. Mai 2002.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte
erst einmal in meiner Rede fortfahren.
Ich sage Ihnen, Herr Carstensen, an dieser Stelle: Ich
weiß, dass man in solchen Situationen schnell zu unbedachten Sätzen neigt. Aber in diesem Fall sollten Sie sich
dafür schämen, Parteipolitik auf Kosten der Bauern, egal
welcher Farbe und Sortierung, gemacht zu haben.
({0})
Wir dagegen sagen - und unsere Politik ist klar -:
Erstens. Wir betreiben Aufklärung von Krisen und
Missständen ohne Ansehen der Person und ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob wir es mit konventioneller
oder ökologischer Landwirtschaft zu tun haben. Wir heben seit gut eineinhalb Jahren endlich den Teppich des
Schweigens an und finden darunter vieles.
Zweitens. Wir schaffen moderne Rahmenbedingungen, die für die Menschen vor Ort, die ländlichen Räume
und die Umwelt gut sind. Außerdem schaffen wir nationale Rahmenbedingungen, die auch international, in der
EU und in der WTO, Bestand haben.
Drittens. Wir stehen für realistische Konzepte.
Die Menschen - die Bauern, die Verbraucher und auch
alle anderen - müssen informiert werden. Die Kinder stehen im Mittelpunkt unserer Politik; denn insbesondere sie
brauchen eine gute Ernährung.
({1})
Für eine gute Ernährung müssen nicht nur alle Bäuerinnen und Bauern, sondern auch diejenigen, die Lebensmittel verarbeiten, Händler und weitere Personen an einem
Strang ziehen.
Herr Sonnleitner redet immer so gern vom so genannten Künast-Effekt. Auf dem Blatt Papier, das ich hier
hochhalte, ist dargestellt, was wirklich geschehen ist. Man
erkennt den so genannten Künast-Effekt, der direkt nach
dem Borchert-Knick eingetreten ist.
({2})
Sie wollen den Bauern lieber keine Chance geben, sich
auf das Neue einzustellen. Sie nähren das Kartell des Verschweigens. Wir stehen ganz klar für eine nachhaltige
Landwirtschaft zum Wohle der Menschen, der Umwelt
und der Tiere. Dafür steht Rot-Grün. Damit stellen wir sicher, dass unsere Kinder auch in Zukunft gesund leben.
Dementsprechend sieht unser Programm für die nächsten
vier Jahre aus. Sie werden sich wundern!
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Carstensen das
Wort.
Frau
Ministerin, da Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen
haben, muss ich mich im Rahmen einer Kurzintervention
äußern. Ich möchte Sie fragen, ob Sie auch das „Nordfriesland-Tageblatt“ - Sie lesen es offensichtlich gern des darauf folgenden Tages gelesen haben. Dort ist dieses
Zitat richtiggestellt worden, indem ausgeführt wurde,
dass ich eine klammheimliche Genugtuung darüber nicht
verhehle, dass Frau Künast mit ihren Vorstellungen über
den ökologischen Landbau auf den Teppich zurückgeholt
worden ist.
({0})
- Doch, das ist qualitativ ein sehr großer Unterschied. Frau Künast, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dies zur
Kenntnis nähmen. Ich möchte Sie bitten, darüber einmal
mit Ihrem Kollegen Müller zu sprechen. Auch er hat mich
mit diesem Zitat schon konfrontiert. Er hat aber akzeptiert, dass das, was ich wirklich gesagt habe, eine völlig
andere Qualität hat.
({1})
Zur Erwiderung Frau
Bundesministerin Künast, bitte.
Sehr geehrter
Herr Carstensen, ich finde es schön, dass Sie darauf hinweisen, dass das „Nordfriesland-Tageblatt“ am nächsten
Tag eine Richtigstellung des Zitats vorgenommen habe.
Es ist aber gar kein Zitat gewesen. Es handelt sich um ein
Interview und ich gehe davon aus, dass Sie als erprobter
Bundespolitiker und jahrelanger Vorsitzender des Agrarausschusses Interviews, die Sie geben, autorisieren,
({0})
sodass eine Zeitung nicht etwas schreiben kann, was Sie
nicht gesagt haben.
Wenn diese Zeitung bewusst etwas anderes als das, was
Sie gesagt haben, geschrieben hat, dann erzählen Sie mir
einmal, ob Sie schon einen Rechtsanwalt beauftragt haben, damit es eine Gegendarstellung gibt und Schadenersatz gezahlt wird.
({1})
Ich sage Ihnen ehrlich: Wenn Sie keinen Rechtsanwalt in
Anspruch genommen haben, dann glaube ich Ihnen das, was
Sie jetzt gesagt haben, nicht. Herr Vorsitzender, ein autorisiertes Interview ist nun einmal ein autorisiertes Interview.
({2})
Wir fahren jetzt in der
Debatte fort. Nächster Redner für die FDP-Fraktion ist der
Kollege Ulrich Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Künast, das
Niveau hier ist nicht besonders hoch.
({0})
Dann erdreisten Sie sich auch noch, sich hier hinzustellen
und zu sagen, das sei der Borchert-Knick gewesen und
das, was kommt, werde der Künast-Effekt sein. Sie müssten einmal zu den Landwirten gehen und mit ihnen reden.
Die erzählen Ihnen dann, was sie von Ihrer Politik halten.
({1})
Sie sind total enttäuscht von dem, was vorgelegt wird,
({2})
und sehen sich aufgrund Ihrer Politik vor zusätzliche
Schwierigkeiten gestellt. So ist es in Wirklichkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt auch
ein bemerkenswertes Bild des Kabinetts insgesamt ab, dass
Herr Bundeskanzler Schröder jegliche Basis dafür, seine
Vorstellungen von Agrarpolitik mit den französischen in
Übereinstimmung zu bringen, verloren hat. Der künftige
EU-Ratspräsident Rasmussen hat über den Vorschlag von
Herrn Fischler, einen Sondergipfel über Agrarfragen einzuberufen, gesagt: Mit uns hat niemand geredet. - Also handelt es sich hier um einseitiges Vorpreschen.
Sie loben den Fischler-Vorschlag, er geht Ihnen aber
noch nicht weit genug, vor allen Dingen nicht bei den
Einsparungen. Wenn Fischler ein nicht abgestimmtes Papier bzw. Dossier an die Zeitungen gibt, ruft das selbstverständlich auch entsprechende Reaktionen hervor. Die
Bewertung dieses Dossiers können wir allerdings heute
noch nicht endgültig vornehmen, denn bevor es nicht am
10. Juli ordentlich veröffentlicht wird, kann man auch
nicht darauf eingehen.
Ich will trotzdem die wichtigsten Dinge, die in der Diskussion sind, benennen: Wir sind damit einverstanden,
dass Herr Fischler nun auch Reformen vorschlägt. Wichtig ist für uns allerdings, dass einschneidende finanzielle
Maßnahmen erst nach Auslaufen der Agenda 2000 erfolgen. Planungssicherheit hat für uns alleroberste Priorität. Vertrauen in die Politik wird erschüttert, wenn von
der beschlossenen Grundlage, der Agenda 2000, die vor
drei Jahren beschlossen wurde und in den letzten anderthalb Jahren Gültigkeit hatte, jetzt schon wieder abgerückt
wird und alles auf eine völlig neue Basis gestellt wird.
({3})
Herr Fischler erfüllt mit der Bereitschaft zur Entkopplung - das begrüße ich - nur eine der drei wesentlichen
Forderungen der WTO. Zugleich muss aber die Osterweiterung bewältigt werden. Es muss uns ja heute beschäftigen, was an Forderungen vonseiten der WTO und
durch die Osterweiterung auf uns zukommt. Wenn man
wichtige Marktordnungsbereiche von Reformen ausklammert, werden darauf nur halbe Antworten gegeben.
Die Frage der Exportbeihilfen wird nicht beantwortet.
Nicht beantwortet wird auch die Frage, wie die osteuropäischen Staaten es schaffen sollen, mit der vorhandenen Agrarbürokratie fertig zu werden. Der europäischen Landwirtschaft muss durch eine massive
Entbürokratisierung geholfen werden. Wir wollen und
brauchen mehr Marktwirtschaft und weniger Marktregulierung. All das sind Dinge, auf die sich in Fischlers Papier keine Antworten finden.
Fischlers Reformvorschläge sind Stückwerk. Verlangt
werden müssen schlüssige Antworten, die alle Bereiche
betreffen. Mutig ist Herr Fischler nur in Bezug auf die
Großbetriebe im Osten. Eine Politik der generellen
Kappung der Zuschüsse pro Betrieb auf 300 000 Euro ist
einseitig und führt allenfalls zu Betriebsteilungen, was
das Vorhaben an sich schon wieder ad absurdum führt.
Wie schnell man nämlich aus einem 3 000-Hektar-Betrieb
einen 1 500-Hektar-Betrieb machen kann, wissen wir angesichts der Verfassung, in der sich die Betriebe befinden,
alle sehr genau.
An der Entkopplung der Direktzahlungen von der Produktion führt unserer Meinung nach kein Weg vorbei. Es
geht aber um das Wie.
({4})
Die FDP gibt hier die richtigen Antworten. Die Kulturlandschaftsprämie ist ein Honorar für aktuell erbrachte
Leistungen im Bereich Erhaltung der Kulturlandschaften,
im Bereich des Umweltschutzes, des Tierschutzes etc.
({5})
und wird auf die gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche,
inklusive des Grünlandes, ausgedehnt.
({6})
Fischlers Vorstellung, die Übernahme der Direktzahlungen mittels einer Referenzperiode zu berechnen, schließt
beispielsweise ganze Grünlandregionen von zukünftigen
Direktzahlungen aus. Bei einer notwendigen Reform der
Marktordnungen, die irgendwann einmal kommen wird,
würden diese Betriebe doppelt bestraft werden. Wer den
Status quo nimmt, schließt von der Möglichkeit der Direktzahlung automatisch ganze Bereiche aus, die wir für
eine flächendeckende Landbewirtschaftung als existenziell notwendig ansehen.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich vor diesem Hintergrund die aktuelle Agrarpolitik
noch mit einigen Sätzen kommentieren. Wer auf die degressive Ausgestaltung der Direktzahlungen für die Landwirtschaft und auf neue Herausforderungen durch WTO
und Osterweiterung sowie durch eine stärkere Marktorientierung und Liberalisierung mit einer zusätzlichen
Wettbewerbsverzerrung und einer einseitigen Belastung der deutschen Landwirte reagiert, hat kein Interesse
an der deutschen Landwirtschaft.
({8})
Hier muss das Einvernehmen mit dem ländlichen
Raum gesucht werden. Was im ländlichen Raum an Wertschöpfung erarbeitet wird, hängt in erster Linie von der
Bruttowertschöpfung der deutschen Landwirtschaft ab.
Die Wertschöpfung lässt sich nicht korrekt ermitteln,
wenn man nur die Urproduktion heranzieht. Deshalb
reden wir hier nicht von 1,5 oder 2 Prozent, sondern von
10 bis 15 Prozent des Bruttosozialprodukts. Es geht nämlich um die gesamte Wertschöpfungskette von den vorgelagerten Bereichen über die Landwirtschaft bis hin zur
Verarbeitung und Veredlung der Produkte.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer dies ausblendet und mit einseitigen Wettbewerbsverzerrungen
und Beschwernissen der deutschen Landwirtschaft die
Zukunft verbaut, hat nicht verstanden, worum es geht. Er
wird dann auch nicht mit noch so viel Geld für die ländlichen Räume diese Fehler korrigieren können.
Ich bedanke mich.
({9})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich der nächsten Rednerin das Wort
erteile, unterbreche ich die Debatte für einen Moment.
Es soll eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf die
Tagesordnung aufgesetzt werden. Diese Beschlussempfehlung in einer Immunitätsangelegenheit ist gerade
an die Fraktionen verteilt worden. Sind Sie mit der Aufsetzung einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch.
Dann ist dies so beschlossen.
Ich rufe also Zusatzpunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zum
Vollzug gerichtlicher Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse
Berichterstattung:
Abgeordneter Jörg van Essen
- Drucksache 14/9610 Wir kommen sofort zur Abstimmung. Ich lasse über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache 14/9610 abstimmen. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
Wir kehren zur Debatte zurück. Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Marianne Klappert für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich habe mir die Reden von
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr und Uli Heinrich sehr genau
angehört und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Opposition nörgelt. Zwar ist es das Recht der Opposition zu
nörgeln; gleichwohl stellt sich immer die Frage des Stils.
Ich bin geneigt, die Reden der Kollegen von der Opposition auf eine ganz einfache Formel zu bringen: Das, was
Schwarz-Gelb in den vergangenen Jahren gemacht hat,
war gut; das, was Rot-Grün macht, ist schlecht.
({0})
So einfach ist die Botschaft, die Sie zu transportieren versuchen. Dabei blenden Sie ganz viele Erfolge der rot-grünen Politik aus.
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, in den Agrarbericht 1998, den letzten Bericht der alten Bundesregierung, zu gucken. Dort ist bei den bäuerlichen
Haupterwerbsbetrieben von einem Gewinn in Höhe von
3,4 Prozent die Rede. Der diesjährige Agrarbericht weist
einen Gewinn von 17,7 Prozent aus.
({1})
Das liegt bestimmt daran, dass wir die Milchquotenregelung endlich durchgesetzt haben. Wir haben drei Jahre
lang im Ausschuss ernsthaft diskutiert und versucht, Lösungen zu finden. Sie waren nicht bereit zu einer Lösung.
Die SPD-Regierung hat eine Milchquotenregelung geschaffen, die den bäuerlichen Betrieben tatsächlich zuverlässige Einnahmequellen garantiert. Deshalb weist der
Agrarbericht eine so hohe Gewinnspanne aus.
({2})
- Doch. Sehen Sie sich aber einmal an, wie sich die Zahlen in den letzten Jahren verändert haben.
Zum ersten Mal liegt ein Agrarbericht vor, der sehr
deutlich macht, dass die Interessen der Verbraucher
und die Sicherung der Lebensmittelproduktion in den
Vordergrund gestellt werden. Das ist in Ordnung. Wir
werden feststellen, dass die Verbraucher dies begrüßen
und die Produzenten, unsere landwirtschaftlichen Betriebe, damit ebenfalls besser fahren.
Seit dem ersten BSE-Fall haben wir den gesundheitlichen Verbraucherschutz in den Vordergrund gestellt.
Das ist absolut richtig
({3})
und entspricht eindeutig den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, aber auch in anderen
Ländern. Nach einer am letzten Dienstag veröffentlichten
Umfrage der EU-Kommission unterstützen 90 Prozent
der EU-Bürger die Erzeugung sicherer und gesundheitlich
unbedenklicher Lebensmittel als vorrangiges Ziel der gemeinsamen Agrarpolitik.
({4})
- Dann sollte man nicht beim Verbraucherinformationsgesetz blockieren, wie Sie es gemacht haben. Sie blockieren nicht wegen inhaltlicher Mängel, sondern um der
Blockade willen.
({5})
Eine gute Opposition muss aber in der Lage sein, zu manchen Dingen Ja zu sagen.
Frau Kollegin
Klappert, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Jawohl.
Frau Kollegin
Klappert, hätte ein Verbraucherinformationsgesetz den
letzten Skandal um Nitrofen verhindert?
({0})
Das Gesetz hätte den
Skandal nicht verhindert, aber es hätte schnellere Aufklärung gebracht. Der Verbraucher wäre dann sicherer gewesen.
({0})
Die Diskussion hat Ängste geweckt. Das halte ich in diesem Fall für nicht in Ordnung. Ich glaube, damit sollte
man es belassen.
({1})
Ich bin sicher, wir werden in der nächsten Legislaturperiode ein sehr vernünftiges Verbraucherinformationsgesetz
auf den Weg bringen.
({2})
Frau Kollegin
Klappert, bevor Sie fortfahren, frage ich Sie, ob Sie eine
weitere Zwischenfrage zulassen.
Nein, das tue ich jetzt
nicht. Ich habe auch nicht mehr sehr viel Redezeit.
Jeder wird Verständnis dafür haben, dass ich als Tierschutzbeauftragte der SPD-Fraktion auf die Erfolge hinweisen möchte, die in diesem Bereich erzielt wurden.
({0})
Dabei geht es um Haltungsformen, die wir teilweise gegen
den Widerstand der Opposition durchgesetzt haben, aber
auch darum, dass wir mit Ihnen gemeinsam das Staatsziel
Tierschutz in die Verfassung aufgenommen haben.
({1})
In der zukünftigen Regierungspolitik wird sich zeigen,
wie dieser eher abstrakte Grundsatz durch entsprechende
Gesetzgebung mit Leben erfüllt werden kann. Das wird
zwangsläufig Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben. Im Hinblick auf die Haltungssysteme im Rahmen der
landwirtschaftlichen Nutztierhaltung und auf Tiertransporte ist noch manches verbesserungsfähig. Ich weiß,
dass diese Bundesregierung mit der Unterstützung der sie
tragenden Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei dieser Gesetzgebung mit der nötigen großen Genauigkeit arbeiten wird.
({2})
- Ja, auch in Europa. Sie kennen meine Meinung. Ich bin
eine Verfechterin dessen, die Forderungen im Hinblick
auf Tier- und Umweltschutz nicht nur national, sondern
europaweit durchzusetzen,
({3})
damit wir wirtschaftliche Nachteile für unsere landwirtschaftlichen Betriebe vermeiden. Das haben Frau Künast
und ihr Vorgänger, Herr Funke, im europäischen Rahmen
immer wieder sehr deutlich in den Vordergrund gestellt.
Ich will noch etwas zu anderen Bereichen sagen, die in
diesem Agrarbericht angesprochen werden. Wir haben
eben von Ihnen einiges zur Entwicklung der ländlichen
Räume gehört. Wichtig war zum Beispiel, dass diese Bundesregierung die Gelder im Agrarinvestitionsförderungsprogramm aufgestockt hat. Wir haben darüber hinaus beispielsweise Änderungen im Baurecht erreicht, sodass
nicht mehr wie in der Vergangenheit nur 15 Betten pro Betrieb gebaut werden können, sondern mehr. Wir haben
dazu auch die entsprechenden Gelder bereitgestellt.
All das macht deutlich, wie man Vertrauen erweckende
Maßnahmen durchführen kann. Denn was kann es Besseres geben, als wenn Familien aus der Stadt ihren Urlaub
auf dem Bauernhof verbringen
({4})
und 14 Tage oder drei Wochen lang zum Beispiel die Produktion ihrer Lebensmittel verfolgen können?
({5})
- Nein, aber wir haben es verstärkt, das ist der Unterschied.
({6})
Ich habe noch 53 Sekunden. Ich möchte mich bei meiner letzten Rede im Bundestag bei den Kollegen und Kolleginnen recht herzlich bedanken. Ich war zwölf Jahre
Mitglied im - ich muss bei der Bezeichnung noch immer
aufpassen; ich nenne ihn jetzt einfach so - Ernährungsausschuss. Mir hat die Arbeit sehr viel gebracht und Spaß
gemacht. Es waren zwölf spannende Jahre. Mein besonderer Dank geht an den Vorsitzenden Peter Harry
Carstensen.
({7})
Ich war vier Jahre lang seine Stellvertreterin und wir haben
in der Zeit gut zusammengearbeitet. Ich glaube, ich sage
nichts Falsches, wenn ich behaupte, dass es in unserem
Ausschuss ein gutes Miteinander gibt. Wir können in der
Sache hart streiten, uns aber trotzdem anschließend wieder
zusammensetzen, ohne dass es persönliche Verletzungen
gibt. Ich denke, das ist bei einer solchen Arbeit wichtig.
Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.
({8})
Frau Kollegin
Klappert, Sie hören es am Beifall aller Kolleginnen und
Kollegen hier im Hause: Die guten Wünsche aller gehen
an Sie. Für den bevorstehenden Arbeits- und Lebensabschnitt alles Gute!
({0})
Die nächste Rednerin ist für die PDS-Fraktion die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich hatte zwischenzeitlich das Gefühl, dass ich bei der falschen Debatte bin. Bei mir steht
in der Tagesordnung Agrarbericht, Welthunger, Pflanzenschutzmittel und Ähnliches; aber hier wird wieder über alles Mögliche geredet. Herr Kollege Heinrich, Sie werfen
anderen vor, dass sie über die Fischler-Vorschläge, die
noch gar nicht schriftlich vorliegen, diskutieren, haben
diese dann aber selber alle auseinander genommen. Das
ist mir unbegreiflich.
({0})
Ein Wort an den Kollegen Ronsöhr; es ist mal etwas
Positives. Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie hier eine
Lanze für den Ökolandbau gebrochen haben, und hoffe
jetzt nur, dass das auch in Ihrer Politik Niederschlag finden wird und dass Sie die positiven Seiten bei Ihren Besuchen in den Ökolandbetrieben erkannt haben.
({1})
Ich versuche, zum Agrarbericht zu kommen. Frau Ministerin Künast, Sie sagten in Ihrer Regierungserklärung
im Februar vorigen Jahres:
Wir spüren alle, dass wir in einem langen und steinigen Tal sind ... Die neue Landwirtschaftspolitik
braucht ihre Zeit.
Das war sicher richtig. Man kann sich aber auch viel
schönreden. Nach eineinhalb Jahren hat man jedenfalls
das Gefühl, dass keiner so richtig an eine ökologisch und
sozial ausgestaltete Neuausrichtung der Agrarpolitik
glaubt. Im Gegenteil, vieles ist auf der Strecke geblieben.
Gesetze und Verordnungen wurden oftmals von Aktionismus getrieben und voreilig und halbherzig gemacht. Das
haben wir in unserem Ausschuss oft gespürt.
Ökologisch scheint einiges auf den Weg gebracht, wenn
auch vielfach inkonsequent und in manchen Bereichen sogar kontraproduktiv. Das beste Beispiel hierfür ist die im
Jahr 2000 erfolgte Kürzung der Ausgleichszulage für
Betriebe in benachteiligten Gebieten, die trotz der
Agrarwende nicht zurückgenommen wurde. Ergebnis ist,
dass trotz Ausgleichszulage das Ergebnis der Haupterwerbsbetriebe in den betroffenen Gebieten um 30 Prozent
hinter dem Unternehmensergebnis in den nicht benachteiligten Gebieten zurückliegt. Das wird dazu führen, dass
immer mehr Betriebe aus benachteiligten Gebieten ihre
Tore schließen werden. Damit bleiben die viel gepriesenen
Prinzipien von Multifunktionalität und flächendeckender
Landbewirtschaftung nur populistisches Gerede.
In diesem Zusammenhang spricht sich die PDS gegen
eine weitere Kürzung des Agrarhaushaltes im Bereich
der Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe
„Agrarstruktur und Küstenschutz“ aus.
({2})
Für das Jahr 2003 fehlen etwa 100 Millionen Euro. Mit
der Kürzung der Bundesmittel geht auch eine Kürzung
der kofinanzierten Landesmittel einher. Zusammen mit
den Landesmitteln fehlen dann schon 170 Millionen Euro.
Was das für die Landwirte und die ländlichen Räume bedeutet, kann sich sicherlich jeder vorstellen.
Honoriert werden zwar in der Landwirtschaft die Ausgestaltung umwelt- und tierartgerechter Produktionsweisen, aber das kleine Wörtchen „sozial“, das die größere
Regierungsfraktion im Parteinamen führt, wurde fast völlig unter den Teppich gekehrt. Soziale Gesichtspunkte
wie das Alterssicherungssystem, die Einkommenssicherung nach dem Landwirtschaftsgesetz, Arbeitsplatzsicherung im ländlichen Raum und die soziale Absicherung der
Landwirte und ihrer Familien erhielten keineswegs ausreichende Unterstützung von der Regierung.
Meine Damen und Herren, wie sozial die Bundesregierung denkt, zeigt sich in ihrer Antwort auf die Große
Anfrage der CDU/CSU-Fraktion. Hier macht sie deutlich,
dass weitreichende Veränderungen hinsichtlich des
agrarsozialen Sicherungssystems vorgesehen sind. Der
Verdacht liegt nahe, dass hier wieder staatliche Aufgaben
auf die Landwirte abgewälzt werden sollen. Es wird zwar
lediglich eine Lastenverschiebung betont, doch schon
jetzt sind Eingrenzungen des Kreises der versicherungspflichtigen landwirtschaftlichen Unternehmen, Änderungen im Leistungsrecht und bei der Bundesmittelverteilung vorgesehen. Das Dilemma daran ist, dass eine
Kürzung des agrarsozialen Sicherungssystems immer direkt einkommenswirksam ist.
Wie schon in den vorangegangenen Berichten wurden
auch im vorliegenden Agrarbericht keine Angaben zu sozialen Aspekten des fortschreitenden Schrumpfungsprozesses bei landwirtschaftlichen Betrieben und ihren Arbeitskräften gemacht. Die Aussagen zur positiven
Entwicklung der Wertschöpfung in absoluten Zahlen relativieren sich gemessen an den Preisen von 1995. Hier
zeigt der Trend der Bruttowertschöpfung jeweils im
Vergleich zum Vorjahr zum ersten Mal seit 1996/1997 ein
Minus von 5,6 Prozent. Im Gegensatz zu der 19,3-prozentigen Gewinnsteigerung in den alten Ländern war in
den neuen Ländern ein Gewinnrückgang um 13,8 Prozent
zu verzeichnen.
Meine Damen und Herren, die ökonomischen und sozialen Auswirkungen - gerade im Jahr der BSE-Krise auf die betroffenen Mäster und Milcherzeuger, aber auch
im Nachleistungsbereich der Fleischverarbeitung sind im
Agrarbericht nicht zu erkennen. Wenn schon beim Agrarbericht eine Erweiterung um die Wortklausel „ernährungspolitischer Bericht“ erfolgt, dann erwarten wir auch, dass
Angaben zur gesamten Kette der Ernährungswirtschaft
gemacht werden.
({3})
In den Agrarberichten werden zwar die Bauernhöfe bis
ins Detail durchleuchtet, dagegen aber keinerlei Aussagen
über den Konzentrationsgrad und die Gewinnerwirtschaftung in der Nahrungsgüterindustrie und im Lebensmittelhandel getroffen. Die Landwirtschaft wird immer mehr
von zwei Seiten umklammert, zum einen durch die Futtermittel- und Pharmaindustrie und zum anderen durch
die zunehmende Konzentration in Verarbeitung und Handel. Die Landwirtschaft gerät somit immer mehr in den
Sog der Kapitalverwertungsinteressen der industriellen
Vor- und Nachleistungsbereiche. Um sich aus diesem
Würgegriff zu befreien, bedarf es des Drucks der Bauern
zum Beispiel zu einer Garantieerklärung der Futtermittelindustrie für die Sicherung ihrer Produkte oder zu einer
Mehrgefahrenabsicherung für wirtschaftlich unverschuldete Schäden.
Meine Damen und Herren, wer vom „magischen
Sechseck der Agrarwende“ spricht, muss auch alle in der
Ernährungskette beteiligten Wirtschaftsbereiche näher
analysieren und bewerten. Der zügellose wachstumsorientierte Ausbau zentralisierter Versorgungsstrukturen
durch Großanbieter von Futtermitteln, Saatgut, Pflanzenschutz- und Düngemitteln ist jedem Versuch, eine nachhaltige Landwirtschaft zu betreiben, abträglich. Wo ist
denn der Nachweis, dass eine hohe Komprimierung von
industriellen Inseln der Verarbeitung und des Handels für
die Gesellschaft günstiger wirkt als die Ansiedlung mittlerer und kleinerer Gewerbebereiche in den Regionen?
Frau Künast, wie verwirklichen Sie denn Ihre Aussage
vom vergangenen Jahr - ich zitiere -:
Die Agrarwende setzt auf regionale Strukturen.
Künftig muss gelten: Regional ist erste Wahl.
Bei der derzeitigen Politik ist regional doch eher dritte
Wahl.
Damit bin ich beim nächsten Problem. Im Agrarbericht
wurde die regionale Untersetzung kaum ausgebaut. Fortschritte und Probleme bei der Verwirklichung der angekündigten stärkeren Regionalisierung der Agrarwirtschaft können demzufolge kaum verfolgt oder bewertet
werden. Gerade für die noch immer vorhandenen spezifischen Probleme der Landwirtschaft und der ländlichen
Räume der neuen Länder fehlen wichtige Aussagen. Ein
besonderes Problem sieht die PDS im geringen Anteil der
neuen Länder an der Ernährungswirtschaft. Ein beträchtlicher Teil der in Ostdeutschland produzierten landwirtschaftlichen Rohstoffe werden im Westen veredelt
und von dort zurückgekauft. Nur bei ökologischen Produkten wird inzwischen vorrangig im Osten produziert
und im Westen gegessen. Gerade im ostdeutschen ländlichen Raum werden finanzielle Mittel benötigt, die seine
weitere Entleerung einschränken und den Schrumpfungsprozess in der Landwirtschaft aufhalten. Im Rahmen der
Diskussion von Degressionsmodellen bezüglich Betriebsgrößen bzw. von Beihilfeobergrenzen bei der Förderung
werden wir und sicherlich auch die Landwirte im Osten
vehement Widerspruch einlegen.
({4})
Frau Ministerin, erinnern Sie doch einfach Ihren Chef an
seine Sache „Aufbau Ost“. Im Moment scheint es doch
mehr eine „Nebensache Ost“ zu sein.
Die PDS fordert von der Bundesregierung folgende
Maßnahmen: Die Ausgleichszulage ist in der Gemeinschaftsaufgabe wieder zu verdoppeln und dem Niveau
von vor 2000 anzupassen. Weiterhin muss die Bundesregierung alles daransetzen, um ihren Verpflichtungen aus
dem Landwirtschaftsgesetz nachzukommen, den in der
Landwirtschaft Erwerbstätigen die Teilnahme an der allgemeinen Einkommens- und Wohlstandsentwicklung zu
ermöglichen.
Die PDS fordert in den folgenden Agrarberichten die
Analyse der Einkommenssituation der Landwirte für alle
Rechtsformen und einen Einkommensvergleich mit anderen Berufsgruppen. Außerdem ist die gesamte Kette der
an der Agrarwirtschaft beteiligten Bereiche stärker zu
durchleuchten und zu bewerten. Insbesondere sind die
ökonomische Stellung der Partner und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten im gesamten Agrarindustrie-Komplex auf den Prüfstand zu stellen.
Notwendig ist eine Korrektur regionaler Disproportionen
zwischen Ost und West in Produktion und Verarbeitung.
Dazu bedarf es einer aktiven Strukturpolitik, einer stärkeren
Regionalisierung sowie einer stärkeren Verzahnung der
beiden Gemeinschaftsaufgaben „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ und „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“. In ihrem Entschließungsantrag hat die SPD viele gute Vorschläge gemacht.
Ich hoffe, dass sie auch Wege findet, diese umzusetzen.
Abschließend bleibt, wie eine überregionale Tageszeitung heute titelt, festzustellen: „Der Agrarbericht ist ein
Rapport mit bemerkenswerten Lücken.“ Die PDS-Fraktion hofft, dass diese Lücken in den nächsten Agrarberichten mit bemerkenswerten Inhalten gefüllt werden.
Danke schön.
({5})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Heidi Wright für die SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Essen und Trinken
hält Leib und Seele zusammen.“ Diese alte Weisheit ist
bis heute nicht überholt. Der ernährungs- und agrarpolitische Bericht, den wir jetzt diskutieren, wird draußen im
Lande auf besonderes Interesse stoßen. Deshalb möchte
ich vorab einen Wunsch äußern: Wir, liebe Kolleginnen
und Kollegen aus dem entsprechenden Fachausschuss,
sollten uns unserer Verantwortung bewusst sein - bis jetzt
war das der Fall -, den Verbrauchern deutlich zu machen,
dass unsere ganze politische Energie darin stecken muss,
die Produktion gesunder Lebensmittel zu gewährleisten.
({0})
Dafür bedarf es des Bewusstseins, dass gesunde Nahrungsmittel einer durchgängigen Qualitätssicherungskette unterliegen müssen und dass die alte Weisheit absolut gilt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Es ist hier
nicht entscheidend, ob diese Kontrollen von privater Seite
oder von der öffentlichen Hand durchgeführt werden. Der
Punkt ist vielmehr, dass sie besser sein müssen. Wir alle
- ob im Bundesministerium oder in den Ländern - müssen leidvoll feststellen: Die Kontrollsysteme der Vergangenheit waren wie Käse. Entweder hatten sie Löcher oder
sie stanken zum Himmel.
Bevor ich mir den Protest der CDU/CSU einfange und
mich der Forderung nach besseren Kontrollen aussetze,
will ich Ihren „Oberkontrollminister“ Sinner aus Bayern
zitieren, der laut „Süddeutscher Zeitung“ vom 17. Juni gesagt hat, die Kontrollsysteme seien bisher nicht ausreichend. Er hat dies aber auf die Ökoprodukte bezogen. Mir
wurde damit klar - wie es mir auch bei Ihrer Rede vorhin
klar wurde, Herr Carstensen -, dass Sie immer noch nicht
kapiert haben, dass wir ohne die Kontrollsysteme bei den
Ökoprodukten den Nitrofen-Skandal nicht aufgedeckt
hätten.
({1})
Der Nitrofen-Skandal, der die Landwirtschaft insgesamt, aber insbesondere die Ökolandwirtschaft trifft, ist
originär kein Biolandwirtschaftsskandal. Es ist ein Skandal der Futtermittelwirtschaft sowie der Betreiber von
Futtermittellagerstätten und ihrer Versicherungen. Es ist
also ein Skandal der richtig Großen,
({2})
die zulasten der Kleinen wieder einmal ihren Profit mehren wollten.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. - Ich muss deshalb
sagen: Wo Herr Minister Sinner aus Bayern Recht hat, hat
er Recht. Er weiß, wovon er spricht, wenn er sagt, die
Kontrollen müssten besser werden. Es waren nämlich die
fatalen Kontrolllücken in Bayern, die dieses Bundeslandes an die Spitze des Landwirtschafts-GAUs, nämlich
BSE, gebracht haben.
({0})
Die Verbraucher, aber auch die Bauern müssen die Zuversicht gewinnen, dass die Futtermittelskandale über
verbesserte Kontrollmechanismen und durch harte Sanktionen gestoppt werden.
In diesem Zusammenhang, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, will ich feststellen, dass ich es
absolut schofel finde, dass sich diejenigen, die den Skandal zu verantworten haben, nämlich die Branche der Futtermittelhersteller, dieser Verantwortung - zum Beispiel
durch die Auflage eines Hilfsfonds - bisher verweigern.
Vielleicht sollten wir gemeinsam an die Futtermittelindustrie und an den Raiffeisenverband nochmals den Appell
richten, Solidarität mit den betroffenen Bauern zu zeigen.
({1})
Frau Kollegin Wright,
der Kollege meldet sich weiterhin hartnäckig. Gestatten
Sie eine Zwischenfrage?
Ganz bestimmt nicht.
Dies war eine endgültige Antwort. Es wird also keine Zwischenfrage zugelassen.
Abschließend zum
Thema Verbraucherschutz: Der Verbraucher und die Bauern müssen wissen, dass der Verbraucherschutz in der jetzigen Bundesregierung bestens aufgehoben ist. Verbraucheraufklärung findet bei uns ihren haushalterischen
Niederschlag und Schwerpunkt: Im Jahr 2003 haben wir
dafür 100 Millionen Euro bereitgestellt.
Ich will auf einen gesonderten Bereich der Land- und
Forstwirtschaft zu sprechen kommen, der durch unsere
Regierungsarbeit so richtig Power bekommen hat: die
nachwachsenden Rohstoffe und die Förderung der erneuerbaren Energien. Wir sind nicht nur dem Titel „FußballKersten Naumann
weltmeister“ ganz nahe, sondern mit unserer Politik bereits Weltmeister in der Windenergie. Auch die Bauern an
der Küste profitieren davon, was mich freut.
({0})
- Wir haben im Zusammenhang mit dem EEG dem
Stromeinspeisegesetz, das zu Ihrer Regierungszeit beschlossen worden ist, den richtigen Drive gegeben.
({1})
- Erst mit dem EEG - das weiß das ganze Land - ist ein
richtiger Boom entstanden. Schauen Sie sich doch einmal
die entsprechenden Statistiken an!
Mein Anliegen ist es, dass wir auch im Bereich der
Biomasse und bei der Nutzung von Biogas Weltmeister
werden.
({2})
Ich kann nur hoffen und dazu ermutigen, dass Landwirte
und Forstbetriebe diese Perspektive erkennen sowie nutzen und sich hier ein festes Standbein erwirtschaften. Für
mich ist es immer unverständlich geblieben, warum aus
dem Bauernverband und den Verbänden der Forstwirtschaft diese - richtige - Zukunftsperspektive nie massiver
vorangebracht und von der Politik eingefordert worden ist.
Bei uns musste man eine solche Politik nicht einfordern.
Sie war uns ein Anliegen und wir haben sie umgesetzt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen und insbesondere
liebe Investoren im ländlichen Raum, damit es klar ist:
Nur mit uns gibt es diese Option auf die Zukunft.
({3})
Die CDU/CSU hat weiß Gott nichts übrig für eine neue
Energiepolitik, mit der die Ressourcen unseres Landes genutzt werden sollen. So hat die CDU-Vorsitzende Angela
Merkel am Dienstag dieser Woche auf einem Parteikongress die Förderung erneuerbarer Energien nochmals
kritisiert.
({4})
Ich muss jetzt dem
Kollegen Carstensen sagen, dass die Kollegin Wright erklärt hat, dass sie keine Zwischenfragen zulässt.
Im Zuge der Gerechtigkeit muss ich das so handhaben.
({0})
Mit uns gibt es die Nutzung von Schwachholz und die
Verwertung von Altholz durch Holzhackschnitzelanlagen
und Pelletöfen, und zwar nicht nur ein bisschen hier und
dort. Wir sorgen dafür - natürlich mit dem EEG -, dass es
hier ein flächendeckendes Angebot gibt. Wir wollen eine
moderne Energiepolitik, die im Hinblick auf die erneuerbaren Energien keine Alibipolitik betreibt, sondern sich
an die Spitze in der EU stellt und die Weltmeisterposition
anstrebt.
({1})
Es geht dabei um Energiepflanzen, um Raps, um Getreide, die Zuckerrübe, den nachwachsenden Rohstoff
Nummer eins, das Holz, und um neue schnell wachsende
Pflanzen.
({2})
All dies werden wir in unserer Regierungsarbeit mithilfe
des EEG voranbringen.
({3})
Herr Kollege Heinrich, mir geht es um die Wertschöpfungskette in der Region, und zwar für die Bauern, für die
Forstwirtschaft und für das Handwerk.
({4})
Mir geht es um das Konzept der ökologischen Modernisierung, in das die Land- und Forstwirtschaft zuvorderst
mit hineingehört. Mir geht es um ökologische und ökonomische Win-win-Systeme und um Erfolge im internationalen Innovationswettbewerb.
Zum Abschluss, Kolleginnen und Kollegen: Gestern
hatten wir im Ausschuss unsere 100. Sitzung.
({5})
In feiner Kollegialität wurde die gute Zusammenarbeit
gelobt. Marianne Klappert hat das eben sehr schön wiederholt. Es wurde von unserem gemeinsamen Streben für
die Landwirtschaft gesprochen. Wenn von dieser Gemeinsamkeit auch in diese Debatte etwas hinübergerettet
werden könnte und insbesondere bei den Lobbyverbänden und an den Vor-Ort-Stammtischen nicht die Schmähtiraden und die Jammerorgien fröhliche Urständ feiern
würden, käme dies nicht zuletzt auch dem Ansehen der
Landwirtschaft zugute.
Ich persönlich möchte zum Schluss dieser Legislaturperiode und nach acht Jahren Einsatz für die Landwirtschaft sagen: Mein Bestreben war es, die Landwirtschaft
wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken und aus ihrer Verbände- und Lobbygefangenschaft herauszuholen.
({6})
Ich fürchte, dies ist noch nicht gelungen. Ich denke, eine
beherzte, offene und somit moderne Landwirtschaft, die
sich mit einer mutigen Landwirtschaftspolitik verbündet,
kann bei einem mündigen und anspruchsvollen Verbraucher nur gewinnen.
Dies wünsche ich mir und ich danke allen, die dies
schon ein Stück bewirkt haben.
Vielen Dank.
({7})
Der nächste Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Albert Deß.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch die heutigen Ausführungen von Frau
Künast zeigen, wie ziellos die rot-grüne Agrarpolitik dieser Bundesregierung ist.
({0})
Die Agrarpolitik dieser Bundesregierung hat nichts mit einer Agrarwende zu tun; sie ist ein chaotischer Schleuderkurs: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln.
Ein Musterbeispiel dafür sind die agrarpolitischen
Kehrtwendungen von Bundeskanzler Schröder. Vor der
Wahl 1998 hat er die nationale Kofinanzierung bei der
europäischen Agrarpolitik gefordert und damit eine Forderung der Unionsfraktion übernommen. Auf dem Parteitag 1998 in Saarbrücken hat er die gleiche Forderung aufgestellt. In der „Süddeutschen Zeitung“ hat es damals
geheißen - ich zitiere -:
Schröder forderte, dass in der Agrarpolitik, welche
die EU das meiste Geld kostet, zu einer nationalen
Finanzierung zurückzukehren ist.
Dann kam der Agenda-2000-Gipfel in Berlin, mit dem
Ergebnis, dass von den großen Ankündigungen dieses
Bundeskanzlers rein gar nichts übrig geblieben ist. Milliardenbeträge wurden in der Nacht der langen Messer in
Berlin auf Kosten der deutschen Steuerzahler zusätzlich
verteilt. Der Bundeskanzler konnte es nicht erreichen,
dass auch nur im Ansatz eine Kofinanzierung in der europäischen Argarpolitik umgesetzt wird.
Wer bei den Agenda-2000-Verhandlungen so dilettantisch versagt hat,
({1})
hat auch heute kein Recht, die Agrarfinanzierung aus
wahltaktischen Gründen zu kritisieren, wie es der Bundeskanzler zurzeit wieder tut.
({2})
Selbst der „Spiegel“ schrieb damals - er steht wohl
nicht im Verdacht, der Union nahe zu stehen -:
Die EU-Ratspräsidentschaft endet, wie sie begonnen
hat: mit großen Sprüchen.
({3})
Und wo der „Spiegel“ Recht hat, hat er Recht!
Nicht nur dem „Spiegel“ sind damals die großen
Sprüche unseres Bundeskanzlers aufgefallen. Auch immer mehr Wählerinnen und Wähler durchschauen, dass es
nicht ausreicht, mit Sprüchen Politik zu machen.
({4})
Sprüche statt Sachpolitik waren dann auch die Antworten des Bundeskanzlers auf die ersten BSE-Fälle in
Deutschland. Vollmundig forderte er an diesem Rednerpult die Abschaffung von Agrarfabriken und Massentierhaltung. Beides hat bis heute mit BSE nichts zu tun.
Die Landwirte werden seitens der rot-grünen Bundesregierung als Sündenböcke der Nation benutzt
({5})
und von Frau Künast und Herrn Trittin in einer Art und
Weise bevormundet, die unerträglich ist.
({6})
Wie ein roter, besser gesagt: ein grüner Faden ziehen
sich die zusätzlichen nationalen Belastungen für die
Landwirtschaft durch die gescheiterte Politik von RotGrün. Rot-grüne Agrarpolitik ist von einseitigen nationalen Benachteiligungen geprägt. Ich darf stichwortartig nur
die Ökosteuer, das Agrardieselgesetz und den Agrarsozialbereich erwähnen. Man könnte aber noch eine ganze
Reihe hinzufügen.
({7})
Die Frau Ministerin hat eine Agrarwende angekündigt.
Übrig geblieben ist nur grüne Ideologie,
({8})
keine Fakten, keine Tatsachen, dafür Verdächtigungen
und viel Schall und Rauch.
({9})
Der gesamte Wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ist zurückgetreten, weil eine sachliche Zusammenarbeit mit Frau Künast nicht möglich war.
Unsere deutschen Landwirte produzieren den Großteil
unserer Nahrungsmittel. Sie produzieren qualitativ hochwertige Waren und tragen durch leistungsfähiges Wirtschaften mit dazu bei, dass wertvolle Nahrungsmittel
preisgünstig hergestellt werden können. Unsere Landwirte produzieren seit Jahrhunderten nachhaltig und wirtschaften weitgehend nach den Gesetzen der Natur.
({10})
Dabei brauchen sie keine Belehrungen.
Alle Betriebszweige, ob moderne, nachhaltige oder
ökologisch wirtschaftende Betriebe, verdienen Dank und
Anerkennung und unsere Unterstützung.
({11})
Sie haben es nicht verdient, dass sie als Buhmänner der
Nation benutzt werden. Ich möchte mich ausdrücklich bei
unseren Land- und Forstwirten und bei unseren Bauern
für den Erhalt und die Pflege unserer schönen,
abwechslungsreichen Kulturlandschaft bedanken.
({12})
Welches Ziel verfolgt Frau Künast überhaupt? Einerseits fordert sie mit der Rückendeckung des Bundeskanzlers: keine Agrarfabriken und keine Massentierhaltung.
Andererseits belastet sie aber genau die bäuerlichen Betriebe, die in regionalen Kreisläufen wirtschaften und
keine Massentierhaltung betreiben. Unsere leistungsfähigen Familienbetriebe werden verunsichert.
Die Investitionsquote in der Landwirtschaft hat im
Jahr 2001 den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten erreicht.
({13})
Eine Weiterführung der rot-grünen Agrarpolitik würde
dazu führen, dass in Zukunft Agrarfabriken entstehen.
Das „Ökosiegel light“ fördert die Agrarindustrie im
Ökobereich und gefährdet die bisherigen Ökobetriebe,
wie das der Nitrofen-Skandal gezeigt hat.
Die Schere zwischen dem, was Rot-Grün fordert, nämlich umweltgerechter Landwirtschaft und Schonung von
Ressourcen, und dem, was sie da tun, wo sie politisch Verantwortung tragen, klafft weit auseinander. Das beweist
ein Blick in den Agrarbericht, in dem unter der Rubrik
„Umweltgerechte Landwirtschaft“ folgende Zahlen zu
finden sind: Bayern fördert die umweltgerechte Landwirtschaft mit 143 DM je Hektar, Baden-Württemberg
mit 130 DM, Thüringen mit 104 DM und Sachsen mit
94 DM.
Schauen wir doch, um mit Ernst Hinsken zu reden, wer
die rote Laterne in Deutschland besitzt. Die rote Laterne
oder - besser gesagt - die rot-grüne Laterne besitzt
Schleswig-Holstein mit lumpigen 2 DM pro Hektar.
({14})
Niedersachsen fördert mit 5 DM pro Hektar und Nordrhein-Westfalen mit 9 DM.
({15})
Das sind die Zahlen aus Ihrem Agrarbericht. Bei Betrachtung der 9 DM aus Nordrhein-Westfalen frage ich Sie: Ist
das nicht im wahrsten Sinne des Wortes „höhnisch“?
({16})
Ich habe in den vielen Jahren meiner politischen Tätigkeit noch nie erlebt, dass eine Ministerin, die Verantwortung für einen ganzen Berufsstand trägt, ihrer Aufgabe so
wenig gerecht wird. Statt Unterstützung erfahren die Bauern Diskriminierung und Missachtung ihrer Persönlichkeit. Sie werden von einer Ministerin entmündigt, die von
der Sache selber wenig versteht
({17})
und auch nicht bereit ist dazuzulernen.
Für jeden Handgriff der Landwirte, die ihren Beruf von
der Pike auf erlernt haben, verlangen die Frau Ministerin
und der Herr Trittin Sachkundenachweise. Diesen Sachkundenachweis sollten sie selber erst einmal erbringen.
({18})
Dafür wird die Zeit bis zum 22. September aber nicht
ausreichen.
Die CDU/CSU-Fraktion wird nach der Bundestagswahl dafür sorgen, dass die nationalen Benachteiligungen
wieder abgebaut werden.
({19})
Unser Bestreben ist es, die Bürokratie zurückzuschrauben.
({20})
Unsere Landwirte sind auch ohne weitere Verordnungen
schon immer bereit gewesen, ihren Beitrag zum Umweltschutz zu erbringen, und sie werden dies auch in Zukunft
tun.
({21})
Ich möchte in aller Kürze noch einen Punkt ansprechen. Daran sieht man die Unglaubwürdigkeit der Verbraucherschutzpolitik. Es ist in Deutschland verboten, lebensmitteltaugliches tierisches Fett in der Kälbermast
einzusetzen. Die Folge ist: Zehn Tage alte Kälber werden
nach Belgien, Frankreich, Holland und Spanien transportiert, werden da mit diesem dort zugelassenen Fett gemästet und das Kalbfleisch kommt wieder nach Deutschland.
Was hat das denn mit Verbraucherschutz zu tun? Wenn es
eine Gefahr für die Verbraucher ist, dann müsste die Ministerin den Import dieses Kalbfleisches verbieten. Sie tut
es aber nicht.
Herr Kollege Deß, ich
muss Sie an die Redezeit erinnern.
Ich komme zum Schluss. Ich
möchte nur noch anmerken, dass wir nach dem 22. September den Landwirten, den Forstwirten und auch den
Verbraucherinnen und Verbrauchern wieder den Stellenwert einräumen werden, den sie verdienen.
({0})
Ich möchte mich am Schluss bei der Kollegin
Marianne Klappert für zwölf Jahre Zusammenarbeit im
Agrarausschuss bedanken. Liebe Marianne, ich arbeite
ebenfalls zwölf Jahre mit. Du warst immer eine faire Kollegin. Ich wünsche dir namens der CDU/CSU-Fraktion alles Gute für deinen weiteren Lebensweg.
({1})
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen.
({0})
Frau
Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Europa
diskutiert zurzeit die Agrarpolitik. Die von Rot-Grün in
Deutschland begonnenen Reformen finden nun ihre Fortsetzung auf europäischer Ebene. Dabei wird deutlich,
dass der von Renate Künast und der rot-grünen Bundesregierung eingeschlagene Weg der richtige ist,
({0})
und dabei wird deutlich, dass die Union mit ihrem Kanzlerkandidaten Stoiber ohne Konzeption und ohne Ziel ist.
({1})
Renate Künast ist vorgeworfen worden, dass sie durch
das Vorlegen eigener Vorschläge die deutsche Verhandlungsposition geschwächt habe. Aber nicht fehlende Ziele
und Konzeptionen zeichnen eine gute Verhandlungsposition aus, sondern das Benutzen des eigenen Kopfes, so
wie die rot-grüne Bundesregierung dies mit ihren Vorschlägen zur europäischen Agrarreform im Februar dieses Jahres getan hat.
({2})
Zu dieser Zeit war die CDU/CSU noch damit beschäftigt,
ein jammervolles Bild von der deutschen Landwirtschaft
zu zeichnen und Renate Künast vorzuwerfen, dass sie mit
eigenen Vorschlägen in die Debatte gegangen ist. Abtauchen war aufseiten der Opposition angesagt. Deutlicher
hätte sie nicht demonstrieren können, dass ihre Politik
ohne eigene Ideen ist. Ihre Strategie heißt aussitzen und
dies ist eine rückwärts gewandte Strategie.
Wir setzen uns für eine konsequente Reform der Agrarförderung, einen zügigen Abschluss der Verhandlungen
zur EU-Erweiterung und für einen gerechten Interessenausgleich zwischen den Beteiligten ein. Deshalb begrüßen wir die Vorschläge von Agrarkommissar Fischler
im Grundsatz. Die Prämienzahlungen müssen von der
reinen Produktion abgekoppelt und für die besonderen
Leistungen der Landwirte im Umweltschutz und im Tierschutz sowie für die Schaffung von Arbeitsplätzen im
ländlichen Raum eingesetzt werden.
Die in die Diskussion gebrachte Kappungsgrenze im
ländlichen Raum für die Agrarförderung müssen wir uns
noch einmal genau vornehmen. Das wird meiner Meinung
nach so nicht gehen. Diese Kappungsgrenze wird nämlich
für die ostdeutschen Betriebe Einkommenseinbußen mit
sich bringen, die so nicht hinnehmbar sind. Deshalb wird
sich Rot-Grün dafür einsetzen, dass diese Vorschläge von
Agrarkommissar Fischler in dieser Form nicht umgesetzt
werden.
Meine Fraktion ist darüber hinaus der Meinung, dass
wir für die neuen Bundesländer im ländlichen Raum ein
spezielles Arbeitsplatzprogramm brauchen, um den jungen Menschen dort eine Perspektive zu geben und die Abwanderung zu stoppen.
({3})
Dafür sind die bisherigen Produktprämien gut eingesetzt.
Wir haben in dieser Legislaturperiode wichtige Reformen in Gang gesetzt: im Tier- und Umweltschutz, im Naturschutzrecht, im Futtermittelrecht, im Tierarzneimittelrecht, in der Agrarsozialpolitik und nicht zuletzt in der
Agrarforschung. Wir werden diese Arbeit fortsetzen; denn
es wurde allerhöchste Zeit, den Heiligenschein, den Sie
von der CDU/CSU und der FDP den bisherigen agrarpolitischen Strukturen in Deutschland verpasst haben, zu beseitigen.
({4})
Es ist an der Zeit, diese Strukturen, die den BSE- und den
Nitrofen-Skandal überhaupt erst ermöglicht haben
({5})
und mit denen Sie eng verbandelt sind, zu durchleuchten,
fragwürdige Praktiken an die Oberfläche zu holen
({6})
und ihnen ein Ende zu bereiten.
({7})
Frau Kollegin Lemke,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr?
Natürlich.
Kollege Ronsöhr, bitte.
Ich hoffe,
dass ich bei der Fragestellung sitzen bleiben darf.
Selbstverständlich.
Frau Kollegin Lemke, können Sie zugeben,
({0})
dass es beim Nitrofen-Skandal nicht allein um ein Versagen von zwei Unternehmen ging, nämlich eines Unternehmens, das in Malchin sitzt, und eines Unternehmens,
das GS agri heißt, sondern dass es auch ein Versagen beispielsweise von Kontrolleuren, und zwar auch aus dem
Ökobereich, gab? Es ging nämlich um Ökogetreidelager.
Warum kritisieren Sie nicht die mangelnde Effizienz dieser Kontrollen, die nach dem Motto der drei Affen stattfand: nichts sehen, nichts hören und auch nicht darüber reden? Solange Sie dies nicht kritisieren und auch nicht das
Versagen einer Bundesbehörde, die Frau Künast unterstellt ist, kritisieren, sind Sie für mich nicht glaubwürdig.
Vielleicht können Sie dies eingestehen.
({1})
Kollege Ronsöhr, da hatten Sie ja jetzt noch einmal einen billigen Lacher auf Ihrer Seite. Ich gestehe Ihnen gerne zu,
dass Sie mir nicht glauben; ich weiß aber nicht, ob dies
Ihre Position verbessert. Ich danke Ihnen für Ihre Zwischenfrage, weil Sie dadurch einen eindrucksvollen Beweis dafür geliefert haben, wie falsch Ihre Denkweise bei
der Aufklärung von Lebensmittelskandalen ist.
({0})
Sie haben eben noch einmal dargelegt, dass es Ihnen
nicht um die Aufklärung und Zerschlagung dieser verkrusteten und kriminellen Strukturen geht, die mit krimineller Energie, Schlampereien und Fahrlässigkeit den
deutschen Bauern, und zwar den ökologisch wie konventionell wirtschaftenden Bauern, Schaden zugefügt haben.
({1})
Vielmehr stellen Sie sich schützend vor diese. Das ist das
grundsätzliche Problem Ihrer Politik hinsichtlich der Aufdeckung von Lebensmittelskandalen.
({2})
Sie haben den Nitrofen-Skandal dazu benutzt, den
ökologischen Landbau zu diffamieren.
({3})
Der Nitrofen-Skandal ist kein Skandal der Ökobranche. In
dieser Lagerhalle ist sowohl ökologisches als auch konventionelles Getreide gelagert worden. Es war ein purer
Zufall, dass ökologisches Getreide entdeckt worden ist,
das mit Nitrofen belastet war. Es hätte genauso gut konventionelles Getreide treffen können.
({4})
Das schert Sie aber nicht. Sie haben mithilfe dieses Beispiels eine Ökodebatte angezettelt, statt sich damit auseinander zu setzen, dass man dort beim Raiffeisenverband
und bei der Versicherung gewusst hat, dass mit Schadstoffen belastete Lebensmittel in den Umlauf gekommen
sind, dass dieses Wissen verheimlicht worden und nicht
an die Öffentlichkeit gebracht worden ist. Das ist der Kern
dieses Skandals und nicht die Tatsache, dass Ökogetreide
davon betroffen war.
({5})
Bauern und Verbraucher müssen gemeinsam wieder
Vertrauen in die eigene Arbeit und in die Sicherheit von
Lebensmitteln gewinnen. Dies gilt für die konventionelle
und die ökologische Produktion und Verarbeitung gleichermaßen. Wir brauchen das Bündnis der Verbraucher
mit den Bauern gegen kriminelle Strukturen und Schlampereien sowie für eine zukunftsorientierte Agrarpolitik.
Für dieses Bündnis steht Renate Künast und steht RotGrün.
({6})
Wir sorgen dafür, dass Lebensmittel- und Futtermittelskandalen mit aller Konsequenz nachgegangen wird
und sie nicht mehr totgeschwiegen und unter den Teppich
gekehrt werden. Diese Regierung ist der Garant für Transparenz und Offenheit. Wir haben den Verbraucherinnen
und Verbrauchern in Deutschland eine Stimme gegeben.
Mündige Bürger erwarten sichere Lebensmittel und eine
klare und verständliche Kennzeichnung der Konsumgüter. Deshalb ist uns eine transparente und kontrollierte
Produktion wichtig. Das gilt für die konventionelle wie
für die ökologische Landwirtschaft gleichermaßen.
({7})
Die konventionelle Landwirtschaft kann viel von der
ökologischen Landwirtschaft lernen. Sie von der
CDU/CSU und der FDP versuchen immer wieder, einen
rein ideologisch geprägten Keil zwischen die Biolandwirtschaft und die konventionelle Landwirtschaft zu treiben.
({8})
Sie haben nicht gemerkt, dass Ihnen nicht einmal der
Bauernverband folgt, wenn Sie weiterhin Gräben ausheben.
({9})
Der Bauernverband hat längst begriffen, dass dem Biolandbau die Zukunft gehört. Es versteht sich von selbst,
dass sie ihm nicht allein gehört. Sie haben stets gesagt: Es
gibt moderne Landwirtschaft und es gibt ökologische
Landwirtschaft. Hören Sie endlich damit auf, den Bioanbau als unwirtschaftlich und unmodern darzustellen. Bioprodukte sind keine Nischenprodukte. Biobauern und die
Menschen, die Biolebensmittel kaufen, sind keine Sonderlinge. Mit dem ökologischen Landbau hätte es BSE
und den Nitrofen-Skandal nie gegeben.
({10})
Es wird Ihnen nicht gelingen, die ökologische Landwirtschaft zu diffamieren. Die Wirklichkeit hat Sie längst
eines Besseren belehrt. Das gilt offenbar nicht für diejenigen, die heute hier auf den Bänken sitzen. Ohne Frage wird
und muss sich auch die ökologische Landwirtschaft weiterentwickeln. Die Einrichtung eines bundesweiten Verbandes der ökologischen Lebensmittelwirtschaft war dazu
ein wichtiger Schritt. Mit dem vor kurzem verabschiedeten Ökolandbaugesetz haben wir die Aufgaben und Pflichten der privaten Ökokontrollstellen umfassend geregelt.
Vier Jahre reichen nicht aus, um die Agrarwende zu
vollziehen,
({11})
um den Schaden und die Rufschädigung, die Sie der deutschen Landwirtschaft zugefügt haben, aufzuarbeiten, und
um das Vertrauen in deutsche Lebensmittel wiederherzustellen. Nicht alles, was wir begonnen haben, ist bereits in
trockenen Tüchern. Die Reform der Agrarsozialversicherung ist fortzuführen. Die Haltung und Transportbedingungen für die landwirtschaftlichen Nutztiere sind weiter
zu verbessern.
({12})
Vieles muss noch angepackt werden, zum Beispiel die
Weiterentwicklung der Standards zur guten fachlichen
Praxis in der konventionellen und in der ökologischen
Landwirtschaft. Die Landbaustandards von vorgestern
können nicht die von heute sein. Unsere Aufgabe ist es
- dazu werden wir in der WTO und in den europäischen
Agrarverhandlungen gedrängt -, die Standards an die
steigenden Anforderungen anzugleichen und somit
zukunftstauglich zu machen.
Hierzu zähle ich unter anderem auch die Debatte über
gentechnisch veränderte Lebensmittel. Die absolute
Mehrheit der Verbraucher will keine Gentechnik in Lebensmitteln haben. Deshalb hören Sie damit auf, eine
ideologisch geprägte Diskussion um die Gentechnik anzuzetteln und gentechnisch veränderte Lebensmittel ohne
Kennzeichnung in die Regale bringen zu wollen. Wir setzen uns für eine umfassende Kennzeichnung dieser Lebensmittel ein, solange wir sie nicht völlig ausschließen
können. Wir nehmen die deutschen Verbraucher ernst.
Auch dafür steht Bündnis 90/Die Grünen, auch dafür steht
die rot-grüne Regierung.
({13})
Wir wollen den erfolgreichen Weg der Entwicklung
von Labeln mit ökologischen und sozialen Standards in
möglichst vielen verbraucherrelevanten Bereichen weiterhin beschreiten. Die guten Erfahrungen, die damit bereits bei der Holzproduktion oder im ökologischen Landbau gemacht worden sind, wollen wir fortführen,
beispielsweise bei Fischereiprodukten, Holz, Blumen
oder auch Textilien. Diese Beispiele sollten im Interesse
der Verbraucher für eine klare und transparente Kennzeichnung Schule machen und auch im Interesse der Produzenten, die dann mit ihren hohen Standards werben
können, weitere Verbreitung finden.
Wir brauchen weitere Verbesserungen im Düngemittel- und Pflanzenschutzmittelrecht. Die von Ihnen verfolgte Politik, Pflanzenschutzmittel, die schädigend auf
die Umwelt und eventuell auch auf die Gesundheit wirken
können, weiter zuzulassen und die Grenzwerte entsprechend anzuheben, ist nicht unsere Politik. Wir wollen
auch im Interesse unserer Kinder und Enkel Sicherheit.
({14})
Wir wollen die weitere Einschränkung der Patentierbarkeit von Pflanzen und Tieren. Wir brauchen eine
grundlegende Neuausrichtung der EU-Fischereipolitik.
Meine Damen und Herren von der Opposition, dieser Zug
ist ohne Sie abgefahren. Sie haben nicht die Kraft und die
Ideen, um eine neue Agrarpolitik zu entwerfen oder sie
gar umzusetzen.
({15})
Sie sind mit den alten verkrusteten Strukturen verbandelt
und können und wollen sich davon auch nicht lösen.
({16})
Immer mehr Bauern wissen, dass Sie sich jahrelang
schützend vor Strukturen gestellt haben, die den Bauern
in der Vergangenheit ökonomischen Schaden zugefügt
haben. Auch den Verbrauchern ist das bekannt. Verbraucher und Landwirte haben deshalb kein Vertrauen in Ihre
Politik. Von daher werden Sie dort bleiben, wo Sie zurzeit
sitzen: auf der Oppositionsbank.
Danke schön.
({17})
Liebe Frau
Lemke, Ihre Fraktion hat mir mitgeteilt, dass dies
zunächst einmal Ihre letzte Rede in diesem Parlament gewesen ist. Sie sind aber eine so junge Kollegin, dass das
Parlament Sie vielleicht einmal wiedersehen wird. Bis
dahin wünsche ich Ihnen im Namen des Hauses alles Gute
und danke Ihnen für Ihre Arbeit.
({0})
Nun erteile ich der Kollegin Marita Sehn für die FDPFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gesunde Lebensmittel gibt es nicht gegen, sondern
nur mit den Bäuerinnen und Bauern.
({0})
Es freut mich außerordentlich, meine Rede mit einem Zitat aus dem Bundestagswahlprogramm des Bündnisses 90/Die Grünen beginnen zu können. Diese Stelle ist
wirklich gut. Hier wird in einem Satz zusammengefasst,
warum die grün-rote Agrarpolitik gescheitert ist. Mehr
Lebensmittelsicherheit gibt es nur mit den Bauern und
nicht gegen diese.
({1})
Deshalb sollten Sie endlich eine Politik für alle und mit allen - ich betone: allen - Bäuerinnen und Bauern machen
und nicht gegen sie.
Wie stehen Sie eigentlich zu den Skandalinszenierungen eines Herrn Graefe zu Baringdorf, Frau Künast oder
Steffi Lemke?
({2})
Ist das der grüne vorsorgende Verbraucherschutz, wenn
jetzt schon Lebensmittelskandale inszeniert werden? Erst
Tiermehl unter das Futter mischen und dann hier wortreich alte Strukturen beklagen! Das sind Skandalinszenierungen statt Risikomanagement. Wer soll da noch Vertrauen in die grüne Verbraucherpolitik haben?
Gleichzeitig betreiben Sie eine Ideologisierung des
Einkaufskorbs. So schreiben Sie:
Die Bürger sollen selbst entscheiden können, ob sie
soziale oder ökologische Verantwortung übernehmen wollen.
Die Bürger, die das, was Sie für richtig halten, nicht kaufen, handeln folglich sozial und ökologisch verantwortungslos. Der grün-rote Gesinnungscheck an der Ladenkasse, die ideologische Bevormundung der Bürger - das
sind die verbraucherpolitischen Visionen von Künast &
Co.
({3})
Auch das, was Sie als Perspektiven für die konventionelle Landwirtschaft bezeichnen, geht in dieselbe
Richtung. Diese soll immer stärker an den Zielen des naturnahen Landbaus sowie der artgerechten Tierhaltung
ausgerichtet werden. Gemeint ist damit nichts anderes als
die Zwangsökologisierung der deutschen Landwirtschaft.
Gesunde Lebensmittel nur mit den Bäuerinnen und Bauern ist bei Ihnen nur Theorie. In der Praxis stehen bei Ihnen Verordnen und Zwang vor Überzeugen.
Zwischen den Forderungen der grünen Wahlprogrammphilosophen und Ihrer Realpolitik liegen Welten. So fordern Sie in Ihrem Wahlprogramm die angemessene Honorierung der Landwirte für den Erhalt der Natur und der
Kulturlandschaft. Dabei waren Sie es, die diese Honorierung gestrichen haben. Oder haben Sie schon vergessen,
dass Sie den Vorrang für den Vertragsnaturschutz im Bundesnaturschutzgesetz abgeschafft haben?
({4})
Die SPD steht in puncto Widersprüchlichkeit den Grünen kaum nach. Da wird die Neuausrichtung auf eine
verbraucherorientierte, tierschutz- und umweltgerechte
Landwirtschaft gefordert. Ich frage Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Sind unsere Bauern etwa
die Feinde der Verbraucher, die obendrein Tiere quälen
und außerdem die Umwelt kaputtmachen?
Ihr Bild von unseren Bäuerinnen und Bauern ist von
Vorurteilen, tiefer Abneigung und Ideologie geprägt.
({5})
- Das kann man so sagen. Sie überfrachten die deutsche
Landwirtschaft mit einer Auflage nach der anderen. Ihnen
fallen immer neue Aufgaben ein, die unsere Bäuerinnen
und Bauern noch übernehmen sollen. Selbstverständlich
soll dies zum Nulltarif erfolgen, weshalb die SPD die
Landwirte auffordert, doch bitte wettbewerbsfähig zu sein
und Ihnen nicht auf der Tasche zu liegen.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es reicht mit
Ihrer Ideologie und Ihrer Politik der Bürokratie, der Auflagen und der Gesetze. SPD und Grüne stehen für eine Politik der Theorie. Wir brauchen aber eine Politik der Praxis, des Machens, der Initiativen und Konzepte - und das
nicht nur in der Agrar- und Verbraucherpolitik. Unser
Land braucht mehr liberale Politik.
({7})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Heino Wiese.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dieser Agrarbericht
zeigt, dass die Agrarwende im Jahr 2001 erfolgreich begonnen wurde. Frau Künast hat dargelegt, dass sich dies
für die Landwirte in ökonomischer Hinsicht ausgewirkt
hat. Wir sind in diesem Sektor ökonomisch erfolgreich.
Entscheidend ist aber, dass wir die Landwirtschaftspolitik
aus einer neuen Perspektive betrachten. Es geht nicht
mehr nur um Produktivitätssteigerung und Einkommenssubventionen für die Produzenten, sondern es geht auch
um Verbraucherschutz, Tierschutz und Naturschutz.
Diese Bereiche haben mit unserer Politik einen neuen
Stellenwert erhalten. Die Verbesserung der Lebensbedingungen im ländlichen Raum und ein vorsorgender Verbraucherschutz haben bei uns absolute Priorität.
Als Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU, vor
einem Jahr von Kommissar Fischler auf dem CDUAgrarkongress in Berlin die Leviten gelesen wurden,
({0})
stellte Ihr österreichischer Parteikollege Ihnen zwei Fragen, die Ihnen eigentlich hätten deutlich machen müssen,
dass wir auf dem richtigen Weg sind. Er fragte: Sind die
Schwerpunkte der gemeinsamen Agrarpolitik nicht zu
sehr auf die Förderung der Produktionsmenge ausgerichtet, anstatt die Verbesserung der Produktionsqualität zu stimulieren? Warum werden nur 10 Prozent der verfügbaren
Haushaltsmittel für die ländliche Entwicklung ausgegeben? Sie haben auf diese zukunftsweisenden Suggestivfragen bis heute keine Antwort.
Wir haben mit dem Einstieg in die Modulation und mit
den Modellregionen einen Anfang gemacht. Die Initiative
„Regionen Aktiv - Land gestaltet Zukunft“ ist außerordentlich erfolgreich gestartet und hat in den betroffenen
Landkreisen und Gemeinden sehr viel Zustimmung bekommen.
({1})
Wir werden das in der nächsten Legislaturperiode weiter
steigern.
({2})
Die Ausgleichszahlungen an die Landwirte müssen
sukzessive zurückgenommen werden. Wir müssen zur
Stärkung der ländlichen Räume für alle dort lebenden
Menschen eine attraktive und lebenswerte Perspektive
gestalten. Jahr für Jahr verlieren durch den Produktivitätsfortschritt Menschen ihre Beschäftigung in der
Landwirtschaft. Das gilt auch für weichende Erben. Wenn
wir verhindern wollen, dass eine weitere Konzentration in
den Ballungsgebieten stattfindet, müssen wir diesen Menschen Lebenschancen im ländlichen Raum eröffnen
und erhalten. Ich glaube deshalb, dass die strengen Kriterien der EU für die Modulation deutlich erweitert werden
müssen. Organisationen wie die Landfrauenverbände, die
Evangelische und Katholische Landjugend haben das inzwischen auch erkannt und unterstützen die Regierung
bei der Entwicklung und Umsetzung von zukunftsorientierten Projekten.
({3})
Vor allem im Bereich des Tourismus auf dem Lande
sind wir einen großen Schritt weitergekommen.
({4})
- Das kann ich leider nicht; dazu fehlt mir die Zeit. Aber
Sie können das im Agrarbericht nachlesen. Darin finden
Sie ein ganzes Kapitel dazu, in dem das genau steht.
({5})
- Ich denke schon, dass der Agrarbericht korrekt ist. Wenn
Sie meinen, dass etwas Falsches darin steht, dann müssen
Sie das anzweifeln. Wie das geht, wissen Sie ja. Bislang
haben Sie das nicht getan.
Die FDP hat zum Agrarbericht einen Antrag mit
dem Titel „Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflanzen-Anbau in Ostwestfalen-Lippe“ eingebracht. Wir
waren uns im Ausschuss darüber einig, dass kreative
Lösungen aus allen Regionen begrüßt werden. Alle
Fraktionen, mit Ausnahme der FDP, waren aber davon
überzeugt, dass es sich hierbei nicht um ein realisierbares Projekt handelt.
({6})
Ausgerechnet die FDP, die immer die Kräfte des Marktes
beschwört, will hier ein echtes Subventionsprojekt fördern.
({7})
Heilpflanzen gedeihen nun einmal in wärmeren Gegenden besser und sind deshalb im Lipper Land nie zu Weltmarktpreisen zu produzieren.
({8})
- Da wird das Wort zu einer Zwischenfrage gewünscht.
Ich danke
Ihnen dafür, dass Sie diese Zwischenfrage gestatten. Bitte
schön, Frau Kollegin.
Herr Kollege Wiese, wenn Sie
diesen Antrag, der ja schon ein paar Monate alt ist, richtig
lesen, werden Sie feststellen, dass dort von einem Modellprojekt die Rede ist, wie es andere, zum Beispiel in
Bayern, auch gibt. Sind Sie bereit, einmal selbst zu bewerten, was eine eigene Produktion in der Form, wie wir
sie dort vorgeschlagen haben, bedeutet? Dadurch würden
Landwirte in die Lage versetzt, sich als Marktteilnehmer
zu entwickeln. Ziel dieses Antrags ist die Förderung des
Anbaus von Heil- und Gewürzpflanzen in direkter Kooperation zum Beispiel mit der Kräuter verarbeitenden
Wirtschaft. So etwas gibt es bereits und das möchten wir
weiter kultivieren. Dieses Projekt ist kein Dauersubventionsprojekt, sondern sollte lediglich eine Anschubfinanzierung erfahren. Wissen Sie, dass der frühere Landwirtschaftsminister Funke dieses Projekt ausdrücklich
befürwortet hat und bereit war, es zu fördern?
Der frühere Landwirtschaftsminister Funke hat meines Wissens gesagt:
Das ist ein interessantes Projekt, aber leider ziemlich unrealistisch, weil es nie aus den Subventionen herauskommen wird. Die Bedingungen für den Anbau von Heilkräutern im Lipperland sind nun einmal nicht so, dass
weltmarktfähige Preise erzielt werden könnten.
({0})
Das ist genauso, als wenn Sie in Lappland Kühe halten
und eine Milchproduktion aufbauen wollten.
({1})
- Ja, das ist ein kleiner Unterschied. Aber im Großen und
Ganzen ist es vergleichbar.
({2})
Man muss diese Projekte dort verwirklichen, wo sie sinnvoll sind, und im Lipperland ist es nicht sinnvoll. Die lippischen Bauern haben inzwischen selbst erkannt, dass sie
eine andere Produktionslinie verfolgen müssen. Sie haben
sich sehr intensiv auf die Erzeugung von Biomasse konHeino Wiese ({3})
zentriert und damit ihr Einkommen und Auskommen. Ich
glaube, sie lachen inzwischen selbst über dieses Projekt
mit den Heil- und Gewürzpflanzen.
({4})
Ich möchte noch ein paar Bemerkungen zu Herrn
Ronsöhr machen. Herr Ronsöhr hat gesagt, es würde ökologisches Preisdumping stattfinden. Das, was wir machen, ist kein ökologisches Preisdumping, sondern wir
versuchen, die Preise dadurch zu senken, dass mehr Produzenten auch ökologische Produkte produzieren. Das ist
im Sinne des Verbrauchers. Das ist etwas, was wir alle
wollen. Es geht nicht darum, irgendeine Nische für jemanden zu erhalten, der damit große Gewinne erzielen
soll, sondern es geht darum, ökologisch produzierte Lebensmittel möglichst für alle herzustellen.
Ich möchte an dieser Stelle meinen Redebeitrag mit der
Bemerkung beenden, dass ich glaube, dass die Politik der
Regierung in dieser Legislaturperiode deutlich gemacht
hat: Man kann Landwirtschaftspolitik aus einer anderen
Perspektive sehen und es ist im Sinne der Verbraucher,
dieses auch zu tun.
Ich möchte, weil es voraussichtlich für absehbare Zeit
meine letzte Rede in diesem Hause gewesen ist, auch danken.
({5})
- Wenn ich wieder hereinkäme, würde das bedeuten, dass
wir keinen Koalitionspartner mehr brauchen.
({6})
Deshalb kannst du dir das wünschen.
({7})
Ich möchte zum Abschluss auch Marianne Klappert danken, die im Ausschuss für mich so etwas wie ein Vorbild
war. Marianne war immer sehr intensiv in der Sache und
hat sich in ihrem Einsatz für den Tierschutz nie bremsen
lassen. Trotzdem hat es immer Freude gemacht, mit ihr als
Kollegin zusammenzuarbeiten. Sie ist anderen gegenüber
nie verletzend gewesen. Ich glaube, sie ist ein gutes Vorbild für Politiker überhaupt.
Danke schön.
({8})
Bei dieser
sehr realistischen Vorausschau auf die Bundestagswahl
wage ich natürlich nicht, Ihnen für die letzte Rede zu danken. Die Zukunft wird es zeigen.
Nun gebe ich das Wort dem Kollegen Meinolf Michels
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über
den Agrarbericht des letzten Jahres. Es liegt nahe, am
Ende dieser Legislaturperiode den Diskussionsbogen etwas weiter zu spannen. Der Unterschied zwischen den
beiden Ministern, mit denen wir es während dieser Zeit zu
tun hatten, ist so groß, wie er größer kaum sein kann. Herr
Funke war ein Fachmann, der es mit der SPD-Fraktion
aber sehr schwer hatte.
({0})
Ihm folgte Frau Künast. Sie war berufsfremd. Sie wollte
zeigen, dass sie wusste, wo es auf diesem wichtigen Feld
von der Produktion bis zum Verbrauch langgeht. „Klasse
statt Masse“ war das Losungswort. Bisher galt die gute
fachliche Praxis. Sie wurde immer mehr durch Misstrauen ersetzt. Modulation bedeutet nichts anderes als
eine Schmälerung der Einkommen der Landwirte, um die
eingesparten Mittel dann anderswo einzusetzen.
Richtig ist, dass wir es in den letzten Jahren mit einigen Krisen, ausgelöst durch BSE, MKS und zuletzt durch
Nitrofen, zu tun hatten. Die Bauern waren daran ausnahmslos unschuldig; den Schaden hatten sie aber allein
zu tragen.
Erst gestern haben wir im Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft erfahren, dass von
den seinerzeit eingelagerten 54 Tonnen Nitrofen nur
17 Tonnen behördlich entsorgt wurden.
({1})
Bis heute können keine Angaben zu dem Verbleib der
restlichen Tonnen gemacht werden. Wir haben erfahren,
dass die Behörden die Halle für die Lagerung von Getreide wissentlich freigegeben haben. Im Mai des letzten
Jahres wurde von der Ökoprüfstelle „Grünstempel“ bestätigt, dass eine Lagerung von Ökogetreide in der Halle
in Malchin unbedenklich ist.
({2})
Der Prüfer war vor Ort. Ihm standen alle Unterlagen zur
Verfügung.
Frau Ministerin, ich wäre sehr zurückhaltend, hier vor
Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Prüfung Schuldzuweisungen, gleich gegen wen, auszusprechen.
({3})
Das Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung
wird die Wahrheit in nächster Zeit zutage fördern.
Frau Ministerin, vor wenigen Tagen war ein junges
Landwirteehepaar bei mir zu Hause. Sie wollten einmal
ihre große Sorge mit mir besprechen. Beide haben eine
sehr gute Ausbildung absolviert und stehen mitten im Leben. Sie haben mit viel Energie und geliehenem Geld eine
Legehennenhaltung aufgebaut. Und nun? - Das Verbot
der Käfighaltung, aber nur bei uns in Deutschland,
({4})
Heino Wiese ({5})
und zwar Jahre, bevor die EU diesen Weg einschlagen
will.
({6})
- Nicht in der EU. - Bei uns wird die Haltung in Käfigen
verboten.
In Polen und Tschechien wurden Käfighaltungen in
großem Umfang aufgebaut. Mit Tankwagen werden immer größere Mengen Flüssigei nach Deutschland eingeführt. Das soll Tierschutz pur sein!
({7})
Ich empfehle dringend, sich angesichts dessen mit diesem
Thema noch einmal zu befassen.
Nach wie vor kommt aus Argentinien und anderen
Ländern stammendes Rindfleisch auf unsere Märkte,
ohne gemäß den in Deutschland geltenden gesundheitlichen Bestimmungen untersucht worden zu sein. Die Ungleichheit, die die deutschen Bauern ertragen müssen,
gibt es auf keinem anderen Feld in der Wirtschaft.
Dies sind nur zwei Beispiele von vielen, die meinen
Berufskollegen das Leben so schwer machen. Ein Markt
kann auf Dauer nur funktionieren, wenn die Marktzugangsbedingungen für alle Beteiligten gleich sind.
Da die Osterweiterung, von der sich die Landwirte
keine falschen Vorstellungen machen, in greifbare Nähe
rückt, bitte ich Sie, alles zu tun, um von Anfang an wirklich faire Marktbedingungen sicherzustellen. Gleiche
Standards für alle und keine deutschen Alleingänge!
({8})
Es gilt also, auch in Brüssel und nicht nur hier zu überzeugen. Auch bei einem Sportwettkampf hat derjenige
keine Chance, dem ein zusätzliches Paket aufgebürdet
wird.
Frau Ministerin, liebe Kolleginnen und Kollegen, die
jungen Leute sind gegenüber einer gedeihlichen - Sie haben es eben anders dargestellt - Weiterentwicklung in der
Landwirtschaft so zurückhaltend geworden, dass sich
allzu oft die Besten abwenden. Betrachten wir nur die
Ausbildungsstatistiken. Dort sehen wir, wie viele junge
Leute sich noch in landwirtschaftlichen Berufen ausbilden lassen. Ich wünsche mir, dass von dieser Debatte ein
Signal nach außen geht - ein Signal der Hoffnung: ja, berechtigter Hoffnung gegen reale Resignation, Hoffnung
auf weniger Bürokratie und - wie in der Vergangenheit mehr Vertrauen.
Jedes Volk ist bisher verarmt, wenn die eigene Landwirtschaft heruntergekommen oder ruiniert war. Der gegenwärtige Investitionsstau ist als Ausdruck einer großen
Vertrauenskrise zu sehen. Er schadet der Volkswirtschaft
insgesamt. Agrarwende hin, Agrarwende her: Was falsch
ist, sollten wir ändern. Die Möglichkeiten dazu sind vorhanden. Wir sollten darauf achten, dass die Landwirte
nicht in gute und schlechte eingeteilt werden. Wir brauchen beide Produktionsrichtungen, die eine wie die andere.
({9})
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und
liebe Kollegen, 22 Jahre durfte ich diesem Hohen Hause
angehören. Wenn wir an die Wiedervereinigung unseres
Volkes denken, so war das - da sind wir sicher alle der
gleichen Meinung - eine bewegende und prägende Zeit.
Ich danke allen, mit denen ich während dieser Zeit gut und
gedeihlich zusammenarbeiten durfte. Mein ganz besonderer Dank gilt von dieser Stelle unserem langjährigen
Bundeskanzler Helmut Kohl.
({10})
Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, alles erdenklich Gute und unserem Volk Gottes reichen Segen.
({11})
Lieber Kollege Michels, auch Ihnen sagen wir Dank für die sechs Legislaturperioden, die Sie im Deutschen Bundestag mitgearbeitet haben, und verbinden diesen Dank mit unseren
guten Wünschen für Ihre ganz persönliche Zukunft.
({0})
Nun gebe ich das Wort für die SPD-Fraktion der Kollegin Waltraud Wolff.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Agrarbericht bietet eine gute Möglichkeit, Bilanz zu ziehen. Das haben wir schon gesehen. Auch ich beteilige
mich daran sehr gerne.
Herr Deß hat für die CDU/CSU gesagt, Rot-Grün habe
sinnlose, chaotische Politik gemacht und nichts geschafft.
Von der PDS ist bemängelt worden, dass wir nicht genug
erreicht hätten.
({0})
Ich muss sagen: 16 Jahre schwarz-gelbe Politik sind
natürlich in vier Jahren von Rot-Grün nicht aufzuholen.
({1})
Bevor ich mich daran beteilige, heute Bilanz zu ziehen,
möchte ich noch auf ein Wort von Herrn Deß eingehen. Er
hat gesagt, bei den Verhandlungen zur Agenda 2000 habe
der Kanzler dilettantisch gehandelt und versagt. Ich werde
Ihnen jetzt gleich ausführen, welch übergroßen Einsatz er
gebracht hat und dass wir unserem Bundeskanzler
Gerhard Schröder danken können; denn nur durch seinen
Einsatz konnten die Rahmenbedingungen für eine gute
Entwicklung der Landwirtschaft hier in Deutschland geschaffen werden. Ich denke hierbei zum Beispiel an die
Einkommensentwicklung der Landwirte in den letzten
beiden Jahren. Frau Künast hat darauf hingewiesen.
({2})
Lassen Sie mich einige Punkte kursorisch ansprechen:
Erstens. Bis auf Ostberlin blieben alle neuen Bundesländer Ziel-1-Gebiete.
Zweitens. Die Milchquotenregelung wurde reformiert.
Aber wir haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass diese
Quotenregelung nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
fortgeführt werden kann. Sie jetzt noch beizubehalten war
eine richtige Entscheidung, um unsere aktiven Milchproduzenten zu unterstützen.
({3})
- Ich mache eine Bilanz auf, mit der ich Ihnen vermitteln
will, Herr Carstensen, was Rot-Grün in den letzten vier
Jahren geschafft hat. Hören Sie zu! Dann können Sie noch
etwas lernen.
({4})
Drittens. Die landwirtschaftliche Produktion erfolgt
gerade in den neuen Bundesländern zum großen Teil auf
Pachtflächen. Wir haben durch langfristige Pachtverträge
den Landwirten Sicherheit gegeben.
Viertens. Wir haben die 90-Tiere-Obergrenze abgewehrt. So kommt es nicht zu Benachteiligungen der großen, effizienten Betriebe.
Fünftens. Auch die größenabhängige und zeitlich gestaffelte Degression der Direktzahlungen ist verhindert worden.
Dies alles ist unter sozialdemokratischer und grüner
Politik erreicht worden. Für uns Sozialdemokraten ist vor
allem die Beschäftigung im ländlichen Raum von entscheidender Bedeutung; denn die Landwirtschaft sichert
viele Tausend Arbeitsplätze auf dem Lande, und zwar
auch im vor- und nachgelagerten Bereich.
Im Zuge der Halbzeitbewertung der Agenda 2000 ist
vorab vieles durch die Medien gegeistert. Dies sind noch
keine offiziellen Vorschläge, sondern Verlautbarungen.
Unsere Diskussion dreht sich also mehr um Hörensagen
als um Tatsachen. Deswegen sollten wir den Ball flach
halten und hier sachlicher über die Agenda reden.
Prinzipiell haben wir immer eine große Agrarreform
innerhalb Europas gefordert. Noch wichtiger ist sie vor
dem Hintergrund der Osterweiterung. Aber nun gilt es
natürlich auch, deutsche Positionen zu vertreten. Wir
müssen neue finanzielle Handlungsspielräume gewinnen.
Doch nach den Fischler-Vorschlägen würden die Nettozahlungen Deutschlands explizit höher. Das können wir
so nicht akzeptieren.
Fachlich gesehen ist die Umverteilung von der ersten zur
zweiten Säule zu begrüßen. Insgesamt hat Herr Fischler
sehr anspruchsvolle Ziele. Fraglich ist nur, ob die gewählten Mittel die richtigen sind. Zum Beispiel heißt es, dass
größere Betriebe mit Beihilfen über 300 000 Euro im Jahr
einer Kappungsgrenze unterliegen sollen. Dabei darf man
aber den Osten nicht vergessen.
({5})
Frau Künast hat schon gesagt, dass es dabei gerecht zugehen muss. Wir haben große landwirtschaftliche Betriebe im Osten und das ist gut so. Sie sind nämlich oft die
einzigen Arbeitgeber am Ort. Zu dem eben genannten
Vorschlag aus Brüssel kann ich nur sagen: Hier ist meine
ostdeutsche Schmerzgrenze nicht nur erreicht, sondern
schon überschritten.
Umfangreiche Fördermittel der EU, des Bundes und
der Länder wurden in der Vergangenheit bereitgestellt, um
die großen, effizienten Strukturen zu stärken. Die von der
EU angekündigten Kappungsgrenzen würden aber dazu
führen, dass diese funktionierenden Strukturen gefährdet
oder gar zerschlagen werden. Da fragt man sich nach der
Logik. In Brüssel können doch keine Entscheidungen für
einen speziellen Teil der Bundesrepublik getroffen werden. Das wären untragbare Wettbewerbsverzerrungen.
Herr Heinrich hat das vorhin in seinem Beitrag ganz richtig dargestellt.
Meine Damen und Herren, die Kommission beabsichtigt auch, die Modulation obligatorisch einzuführen. Der
ländliche Raum sowie arbeits- und umweltschutzpolitische Maßnahmen sollen und müssen in der Zukunft mehr
in den Vordergrund treten. Aber auch hier gilt: Die Modulation muss gerecht gestaltet werden. Gerade der Osten
Deutschlands, der Mittel für die Entwicklung der ländlichen Räume dringend benötigt, darf nicht für seine bisherigen Anstrengungen bestraft werden.
Finanzmittel sind gut und richtig, aber nicht alles. Deshalb möchte ich das Engagement der Frauen und der Jugend auf dem Lande hervorheben. Mit großem Interesse
erwarten wir alle die Ergebnisse einer Studie, die das Bundesministerium für Verbraucherschutz in Auftrag gegeben
hat. Darin wird nämlich der ökonomische Beitrag der
Frauen zur Entwicklung der ländlichen Räume ermittelt.
Hier wurde schon mehrfach auf die gute Ausbildung
eingegangen. Wir brauchen gut ausgebildete Arbeitskräfte. Eine fundierte Ausbildung ist wichtig, um eine moderne und umweltgerechte Produktion zu gewährleisten,
({6})
die gleichzeitig die Interessen der Verbraucherinnen und
Verbraucher berücksichtigt. Das sind Berufe mit Zukunft.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben das Verbraucherinformationsgesetz vorgelegt, mit dem eine
neue Informationskultur geschaffen werden sollte. Damit
wäre es möglich gewesen, bei Verstößen Ross und Reiter
genau zu benennen. Das Recht der Verbraucher auf Information durch die Verwaltung wäre damit gewährleistet.
Im Bundesrat ist dieses so dringend benötigte Gesetz dem
Wahlkampfkalkül der Opposition zum Opfer gefallen.
Nun bleibt abzuwarten, ob auch das Neuorganisationsgesetz in die Mühlen des Oppositionswahlkampfes gerät.
Mit diesem Gesetz soll die Koordinationsaufgabe des
Bundes gestärkt werden, also der Part, den die Opposition
im Ausschuss in jedem zweiten Satz einfordert
({8})
Waltraud Wolff ({9})
- dann müssen Sie unserem Gesetz zustimmen -, und die
Trennung von Management und Bewertung im Sinne des
vorbeugenden Verbraucherschutzes.
Die Opposition scheint eine Landwirtschaft wie in
Westdeutschland vor 50 Jahren anzustreben; Herr Deß hat
sogar von mehreren Hundert Jahren gesprochen. Wen
wollen Sie damit eigentlich erreichen? Doch viel wichtiger ist die Frage: Wie sehr verschließen Sie die Augen vor
der Entwicklung und in welchem Maße lassen Sie den Berufsstand, den Sie immer zu vertreten vorgeben, im Regen
stehen, anstatt an seiner Seite zu stehen und ihm zu helfen, den Weg nach Europa zu finden?
({10})
Sehen Sie ein, dass nur höchste Sicherheitsstandards unsere heimische Landwirtschaft stützen können! Oder haben Sie vielleicht auch hier - wie bei der Ökosteuer vor, unsere Politik fortzusetzen? Jede sich bietende
Gelegenheit haben Sie genutzt, um uns bei der Durchsetzung der Ökosteuer zu torpedieren. Aber jetzt, im
Wahlkampf, geben Sie zu, dass Sie die Ökosteuer übernehmen wollen.
({11})
Meine Damen und Herren, die deutsche Landwirtschaft
hat große Potenziale und versteht sie zu nutzen. Das belegt der aktuelle Ernährungs- und agrarpolitische Bericht.
Die Einkommen der landwirtschaftlichen Betriebe sind
gestiegen, die Verbindlichkeiten haben sich verringert
und die Eigenkapitalausstattung hat sich verbessert.
({12})
Auch im laufenden Jahr ist mit Einkommensverbesserungen zu rechnen.
Wir haben diese Legislaturperiode genutzt, um den
Reformstau aufzulösen. Ein Beispiel dafür ist die landwirtschaftliche Sozialversicherung, die Sie in 16 Jahren Ihrer Regierungsverantwortung nicht modernisiert
haben. Ebenso haben Sie die Regelung der Altschulden
in Ostdeutschland acht Jahre lang vor sich hergeschoben. Wir werden es schaffen, noch vor Ende dieser Legislaturperiode einen Entwurf auf den Tisch zu legen,
der eine endgültige und abschließende Regelung dazu
vorsieht.
({13})
- Er wird keiner Diskontinuität anheim fallen.
({14})
Ich möchte zum Schluss noch ein Wort an die Opposition richten.
({15})
Sie haben mehrfach gesagt, dass Sie in der nächsten Legislaturperiode viele Dinge anschieben wollen. Ich wünsche mir, dass Sie dann, auf den Oppositionsbänken sitzend, unsere Politik konstruktiv unterstützen.
({16})
Herzlichen Dank.
({17})
Als letztem
Redner in dieser Debatte gebe ich für die CDU/CSUFraktion dem Kollegen Michael Luther das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland
braucht seine Bauern.
({0})
Was die Bauern nicht brauchen, ist Frau Künast.
({1})
Sie ist offensichtlich vorsichtshalber schon gegangen.
Unter Rot-Grün ist die Landwirtschaft zum Buhmann
der Nation verkommen. Wer Frau Künasts Weg seit ihrem
Amtsantritt genau verfolgt hat, weiß: Sie ist mit der BSEKrise gekommen und hat seitdem nur eines versucht,
nämlich sich persönlich zu profilieren.
({2})
Seit dieser Zeit ist das Thema Landwirtschaft im Fachministerium an die letzte Stelle gerutscht.
Zu Recht sagt der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Gerd Sonnleitner:
({3})
Deutschland läuft Gefahr, bei der Gestaltung der
Standortbedingungen für eine wettbewerbsfähige
Landwirtschaft zum Schlusslicht Europas zu werden.
Wir brauchen eine grundsätzliche Änderung in der Landwirtschaftspolitik.
({4})
- Ich will auf die unflätigen Zwischenrufe nicht weiter
eingehen.
Lassen Sie mich zu vier Punkten kommen:
Erstens. Zuletzt am Montag wurden die Pläne des EUKommissars Fischler laut, die Fördergrenzen für die
Landwirtschaftsbetriebe auf 300 000 Euro zu begrenzen. Auch wenn durch die Anhebung der Förderobergrenze entsprechend der Anzahl der Beschäftigten eine
Abmilderung der Kürzungen erfolgen soll, bleibt es dabei: Von dieser Regelung sind in Europa am meisten
Waltraud Wolff ({5})
Deutschland und in Deutschland zu mehr als 90 Prozent
die neuen Bundesländer betroffen. Was heißt das? Das
heißt im Klartext: Die neuen Bundesländer bekommen
weniger Geld. Das hat Auswirkungen auf die Steuerkraft
und die Kaufkraft in den neuen Ländern, insbesondere in
den strukturschwachen, einkommensschwachen ländlichen Regionen.
Das kann nicht einfach hingenommen werden. Frau
Künast könnte sich an dieser Stelle profilieren. Aber was
hört man von ihr? „Künast signalisiert vorsichtige Zustimmung zu Fischler-Vorschlägen.“ Frau Künast will das ist der zweite Punkt - das frei werdende Geld für die
ökologische Agrarreform ausgeben und nimmt in Kauf
- ich zitiere sie -: „Es wird einige Betriebe massiv treffen.“ Eine solche Aussage ist Ausdruck purer Arroganz.
Frau Lemke, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen,
mit Rot-Grün werde das nicht passieren, kann ich nur erwidern: Ich weiß nicht, von welcher Partei Frau Künast
sein soll.
({6})
Sie hat gestern gesagt, es werde einige Betriebe massiv
treffen, das nehme sie hin, ihr sei egal, was mit ihnen ist.
({7})
Vielleicht sollten Sie das, bitte schön, erst einmal in der
eigenen Partei klären.
Dasselbe gilt im Übrigen für die künastsche Variante einer Modulation, nach der ab nächstem Jahr 2 Prozent der
Marktstützungsmittel in den Ausbau einer ökologischen
Landwirtschaft umgelenkt werden sollen. Dieses Geld - das
muss man wissen - kann nur an Betreiber gezahlt werden,
die ihre Produktionsweise neu umstellen. Bereits heute werden zum Beispiel in Sachsen 75 Prozent der Ackerfläche
nach dem Programm „Umweltgerechte Landwirtschaft“
bewirtschaftet; dort fallen also 75 Prozent der Ackerfläche
aus dieser Förderung heraus. Mein Kollege Deß hat das
schon am Beispiel von Bayern, Baden-Württemberg und
den anderen südlichen Ländern erläutert; dort ist die Situation ähnlich. Ich kann nur sagen: PISA- das ist auch ein Vorgriff auf die anschließende Debatte - lässt grüßen!
({8})
Drittens. In den Jahren nach der Wiederherstellung der
deutschen Einheit ist es in den neuen Bundesländern gelungen, eine stabile wirtschaftliche und wettbewerbsorientierte Landwirtschaft aufzubauen. Ich lese in den
Agrarberichten, dass die Einkommenssituation in den
neuen Ländern in den Haupterwerbsbetrieben und in den
als juristische Personen geführten landwirtschaftlichen
Betrieben 2001 rückläufig war.
({9})
Sicher gibt es dafür viele Ursachen. Es zeigt aber auch
sehr deutlich, wie empfindlich das System Landwirtschaft
ist. Landwirtschaftspolitik - das war bislang meine Meinung - hat die Aufgabe, die Landwirtschaft in Deutschland zu stärken. Die Operationen, die wir aus dem Hause
Künast erleben, bewirken genau das Gegenteil.
({10})
Dadurch wird das entstandene Gleichgewicht insbesondere in den neuen Bundesländern erheblich gestört.
Viertens. Am allermeisten kann man, wie ich meine,
die Landwirtschaft durch Rufschädigung belasten. Das
Handling beim Nitrofen-Skandal hat Folgendes bewirkt:
Erstens. Sowohl Frau Künast als auch Herr Backhaus
haben zugelassen, dass viele landwirtschaftliche Betriebe
pauschal verdächtigt werden.
Zweitens. Sie haben es geschafft, dass die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern pauschal verdächtigt
wird.
Drittens. Die kleinen Ökobauern, die sich darum bemühen, dass ihre frei laufenden Hühner das selbst angebaute Futter bekommen, sind enorm geschädigt worden.
Viertens. Den Verbrauchern hat das Ganze überhaupt
nicht genutzt.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Informationsmanagement von Frau Künast und Herrn Backhaus ist für
mich ein Vorgeschmack auf die Art von Verbraucherinformationsgesetz, das von uns hier und im Bundesrat
mit Mehrheit abgelehnt worden ist.
({12})
Es muss klar gesagt werden: Wer einen solchen von der
Sache her richtigen Gedanken wie die Verbraucherinformation in ein Gesetz gießen will, darf Bauern nicht als
seine ideologischen Feinde sehen. Wir brauchen einen
Landwirtschaftsminister, der von der Landwirtschaft etwas versteht.
({13})
Für mich war sehr interessant, dass die Frau Ministerin
im Kompetenzteam der CDU jemanden für den Bereich
Landwirtschaft vermisst. Sie sieht sich wohl schon bei
ihrem Abschied und hofft, dass die Landwirtschaft wieder
in gute Hände gelegt wird.
({14})
Verbraucherschutz im Nahrungsmittelbereich und
auch Naturschutz können nur mit den Bauern und nicht
gegen die Bauern gemacht werden. Es wird Zeit: Wir
brauchen einen Politikwechsel in der Landwirtschaft des
Bundes. Die Landwirtschaft braucht wieder einen höheren
Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein. Die Landwirtschaft ist ein großer Arbeitgeber in Deutschland. Die
Landwirtschaft ist der Garant für unser täglich Brot. Die
Landwirtschaft ist der Träger unserer Kulturlandschaften,
an der sich viele Menschen gerade in der Sommer- und
Urlaubszeit erfreuen. Wir als Union setzen uns für eine
zukunftsfähige Landwirtschaft ein.
({15})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
auf der Drucksache 14/7118. Der Ausschuss empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des
Agrarberichts 2001 der Bundesregierung auf Drucksache
14/5326 den Entschließungsantrag der FDP-Fraktion auf
Drucksache 14/6343 zu dem genannten Bericht abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis des
Agrarberichts 2001 den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 14/6345 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit der gleichen Stimmenmehrheit angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Agrarberichts
2001 den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU auf Drucksache 14/6347 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der
gleichen Mehrheit angenommen.
Zu den Tagesordnungspunkten 3 c bis 3 g wird inter-
fraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 14/8202, 14/7798, 14/5675, 14/5691 und 14/6176
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge zum Ernährungs- und agrarpoliti-
schen Bericht 2002 der Bundesregierung, und zwar
zunächst zum Entschließungsantrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
14/9580. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ent-
schließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-
nis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
auf Drucksache 14/8725. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stim-
men von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der PDS auf Drucksache 14/9189. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Zusatzpunkt 7, Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf
Drucksache 14/4449 zu dem Antrag der FDP-Fraktion mit
dem Titel „Modellprojekt zum Heil- und Gewürzpflan-
zen-Anbau in Ostwestfalen-Lippe“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3107 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange-
nommen.
Zusatzpunkt 8, Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf
Drucksache 14/9366. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
trags der FDP-Fraktion auf Drucksache 14/8180 mit dem
Titel „Obstbauern vor dem Ruin retten - Plantomycin für
Notfallmaßnahmen zulassen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrages der FDP-Fraktion
auf Drucksache 14/8430 mit dem Titel „Pflanzenschutz-
politik neu ausrichten, heimische Produzenten unterstüt-
zen und Verbraucher schützen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Stimmen-
mehrheit wie vorhin angenommen.
Wir kommen nun zu Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 c sowie
die Zusatzpunkte 9 a bis 9 c auf:
33. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Dirk Niebel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung der Rechtssicherheit beim
Betriebsübergang
- Drucksache 14/8496 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundes-
rechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2001
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 14/9178 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Rainer Funke, Dr. Hermann Otto Solms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Betriebliche Altersvorsorge verbessern
- Drucksache 14/4418 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 9 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Sicherstellung einer Übergangsregelung für die Umsatzbesteuerung von AltSportanlagen
- Drucksache 14/9543 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Sportausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Gradistanac, Dr. Hans-Peter Bartels, Anni BrandtElsweier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Kerstin Müller ({3}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Durchführung des Bundeswettbewerbes „Ferien für Familien, in denen Angehörige mit Behinderung leben“
- Drucksache 14/9542 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rosel
Neuhäuser, Maritta Böttcher, Heidemarie Lüth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Aktionsplan zum Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland
- Drucksache 14/9545 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({5})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/9542 - das ist
Zusatzpunkt 9 b - soll jedoch abweichend von der Tagesordnung nicht an den Haushaltsausschuss überwiesen
werden. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist es
so beschlossen.
Wir kommen nun zur Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 34 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom
20. Dezember 2001 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik zum Abkommen vom 21. Juli 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen
Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und
Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern
- Drucksache 14/8982 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7})
- Drucksache 14/9549 Berichterstattung:
Abgeordnete Hansgeorg Hauser ({8})
Jörg-Otto Spiller
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/9549, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 c:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Heinrich Fink,
Heidemarie Ehlert, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einkommenbesteuerung von
ausländischen Künstlerinnen und Künstlern
- Drucksache 14/6111 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({10})
- Drucksache 14/9268 Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Klaus-Peter Willsch
Der Finanzausschuss empfiehlt, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und
gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 34 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({11})
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der FDP
Für die demokratische Erneuerung Pakistans
- Drucksachen 14/5684, 14/7533 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Pflug
Willy Wimmer ({12})
Ulrich Irmer
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt, den Antrag in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({13}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-
Werner, Dr. Evelyn Kenzler, Petra Bläss, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Aufgaben des jüngsten Mitgliedes des Deut-
schen Bundestages
- Drucksachen 14/8166, 14/9168 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Uwe Küster
Eckart von Klaeden
Dr. Evelyn Kenzler
Jeder im Hause weiß, was damit gemeint ist. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses angenom-
men.1)
Tagesordnungspunkt 34 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({14}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert,
Heidemarie Lüth, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Bestellung einer Amtsanklägerin/eines Amtsanklägers
- Drucksachen 14/7227, 14/9291 Berichterstattung:
Abgeordnete Dietrich Austermann
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Christa Luft
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des übrigen
Hauses angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 34 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 402 zu Petitionen
- Drucksache 14/9386 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der PDS ist die Sammelübersicht 402 mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 403 zu Petitionen
- Drucksache 14/9399 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 404 zu Petitionen
- Drucksache 14/9389 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
der anderen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 405 zu Petitionen
- Drucksache 14/9390 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 406 zu Petitionen
- Drucksache 14/9391 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sam-
melübersicht ist gegen die Stimmen der PDS mit den
Stimmen des übrigen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 10:
Weitere abschließende Beratung ohne Aus-
sprache
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
1) Anlagen 2 und 3
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({20}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
62. Bericht der Bundesregierung über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die
Europäische Union ({21})
- Drucksachen 14/8565, 14/8829 Nr. 1.9, 14/9560 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Roth ({22})
Peter Altmaier
Christian Sterzing
Dr. Helmut Haussmann
Uwe Hiksch
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen
des übrigen Hauses angenommen.
Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 11 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Bildungsgefälle nach dem Ergebnis der PISAStudie und Forderungen aus der Bundesregierung nach deutschlandweiten Bildungsstandards
Als erster Rednerin erteile ich der Ministerin für Kultus, Jugend und Sport des Landes Baden-Württemberg,
Frau Dr. Annette Schavan, das Wort.
Dr. Annette Schavan, Ministerin ({23}) ({24}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die nationale PISAStudie ist eine Bilanz über mehrere Jahrzehnte der
Bildungspolitik in den 16 Bundesländern. Die zentrale
Botschaft dieser Studie lautet: Wo kontinuierlich Leistung
gefordert wird, wird zugleich soziale Gerechtigkeit gefördert. Leistung ist das Prinzip der Gerechtigkeit.
({25})
Die Studie zeigt ein dramatisches Nord-Süd-Leistungsgefälle, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Ergebnisse in den drei untersuchten Kompetenzbereichen. Dieses
dramatische Nord-Süd-Gefälle besteht ebenso im Hinblick
auf soziale Gerechtigkeit. Die sozialen Disparitäten sind in
den Spitzenländern des Südens niedrig und in den SPD-regierten Ländern des Nordens hoch. Die höchsten sozialen
Disparitäten - so besagt es die Studie - bestehen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Bremen. Im
Osten sind sie im Durchschnitt niedriger als im Westen.
Im Vergleich zu den internationalen Ergebnissen liegt
Bayern in allen drei Kompetenzbereichen im ersten Drittel der OECD-Länder. Baden-Württemberg und Sachsen
erreichen in einzelnen Kompetenzbereichen ebenfalls
Werte, die dem OECD-Durchschnitt entsprechen oder darüber liegen.
Die Förderung ausländischer Jugendlicher gelingt in
den unionsregierten Ländern besser als in sozialdemokratisch regierten Ländern. Der Jugendliche mit Migrationshintergrund erreicht in Bayern im Durchschnitt das Leistungsniveau eines deutschen Schülers in Bremen.
({26})
Die Schülerrisikogruppe ist im Süden deutlich geringer
als im Bundesschnitt. Es zeigt sich: Wo die Risikogruppe
niedrig ist, ist die Spitzengruppe hoch.
({27})
Unbestritten ist, dass Deutschland insgesamt mit diesen Ergebnissen nicht zufrieden sein kann.
({28})
Alle müssen besser werden und sich in die internationale
Spitzengruppe bewegen.
({29})
- Jawohl, Herr Tauss.
({30})
Niemand hat Grund, sich selbstzufrieden zurückzulehnen. Und genau das tun Bayern, Baden-Württemberg und
Sachsen nicht - heute nicht und in den letzten Jahren nicht.
Eigentümlich aber ist, dass vor allem jene jetzt angegriffen werden, die in Deutschland zur Spitzengruppe gehören.
({31})
Wären alle auf dem Niveau von Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen, so wäre die Ausgangsposition auf
dem Weg in die internationale Spitzengruppe deutlich
besser als jetzt.
({32})
Wenn die Bundesbildungsministerin erklärt, sie könne
in Deutschland kein wirkliches Nord-Süd-Gefälle feststellen, so blendet sie damit einen Teil der nationalen
PISA-Studie und ihrer Ergebnisse schlicht aus. Das aber
ist ein schlechter Ratgeber für Verbesserungen in
Deutschland.
({33})
Die Bevölkerung in Deutschland ist klüger. Nach einer
Umfrage von Infratest dimap findet jeder zweite Bundesbürger, dass bayerische Bildungspolitik beispielhaft für
Deutschland ist. Übrigens sind es 55 Prozent der SPD-Anhänger, die in dieser Umfrage sagen, sie fänden bayerische Bildungspolitik beispielhaft für Deutschland.
({34})
Wir brauchen einen Qualitätspakt für Bildung in den
16 Ländern, der internationalen Gesichtspunkten gerecht
wird. Dazu gehören die Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz über vergleichbare Bildungsstandards; dazu
gehören länderübergreifende Bildungsvergleiche, mit denen die Einhaltung der Standards überprüft werden kann,
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
und zwar von unabhängigen Experten, so wie dies zum
Beispiel beim Max-Planck-Institut der Fall ist.
({35})
Schließlich gehören dazu zentrale, vergleichbare Abschlussprüfungen in allen Schularten, die standardbildend
wirken können.
Wir brauchen im Rahmen dieses Qualitätspaktes den
konsequenten Abbau von Sprachbarrieren und eine entsprechende Sprachförderung für ausländische Kinder und
Jugendliche, beginnend in der Zeit vor der Schule, die
Stärkung der Grundschule als der wichtigsten Phase in der
Schullaufbahn von Kindern, mehr soziale Gerechtigkeit
überall in Deutschland im Blick auf Bildungsbeteiligung
und Bildungsstandards und die Verminderung der Risikogruppe.
({36})
Wir brauchen die konsequente Weiterentwicklung der
Unterrichtskultur in unseren Schulen mit dem Ziel nachhaltigen Lernens. Wir brauchen die bedarfsorientierte
Weiterentwicklung von Ganztagsschulen und die strategische Ausrichtung aller Landeshaushalte auf Bildung und
Wissenschaft.
Was wir überhaupt nicht brauchen, ist die von der Bundesregierung angezettelte Zuständigkeitsdebatte. Statt mit
uns über Inhalte und Konzepte zu sprechen, spricht die
Bundesregierung über Zuständigkeit und provoziert einen
Streit, der schädlich ist und in der Öffentlichkeit mit
Kopfschütteln aufgenommen wird.
({37})
Deshalb muss Schluss sein mit dem Gezänk über Zuständigkeit. Qualität entscheidet sich nicht an Zuständigkeit, sondern entscheidet sich an überzeugenden Konzepten.
({38})
Der Angriff des Bundeskanzlers erinnert an die Rede
des früheren Kulturstaatsministers Naumann über „Kulturhoheit als Verfassungsfolklore“. Er geschieht nach dem
Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“. Er lenkt ab
vom desaströsen Ergebnis für die SPD-Länder. Die SPD
steht vor einem Desaster und sie will mit einer völlig überflüssigen und schädlichen Zuständigkeitsdebatte davon
ablenken.
({39})
Wir streiten nicht über Zuständigkeiten. Sie sind im
Grundgesetz geregelt. Wer sie so verändern will wie der
Bundeskanzler, der muss sich mit dem Grundgesetz auseinander setzen. Was wie ein populistischer Angriff auf
Kultusminister aussieht, ist letztlich ein Angriff auf die
Ordnung, wie sie im Grundgesetz festgelegt ist.
({40})
Wir setzen stattdessen auf Konsens über die Inhalte eines Qualitätspaktes in 16 Ländern, der wirklich inhaltlich
und konzeptionell internationalen Maßstäben gerecht wird.
Ich danke Ihnen.
({41})
Ich erteile
nunmehr das Wort der Bundesministerin für Bildung und
Forschung, der Kollegin Edelgard Bulmahn.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung ({0}): Sehr
geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Die PISA-Studie und der PISA-Ländervergleich
haben die zentralen Schwächen unseres Bildungssystems
aufgedeckt und damit die Bildungspolitik endlich in das
Zentrum der politischen Debatte gerückt. Dass die Bildungspolitik endlich im Zentrum der politischen Debatte
steht, ist gut und auch notwendig.
({1})
Wir können uns jetzt aber nicht zurücklehnen. Einige
haben das leider gemacht und gleichzeitig mit dem Finger
auf andere gezeigt. Man kann sich nämlich nicht selbstgefällig auf die Lederhose klopfen und gleichzeitig für
das Informatikstudium und die Jobs in der Hightechindustrie Abiturienten und Informatiker aus Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen importieren.
({2})
Damit ich nicht missverstanden werde: Ich habe gar
kein Problem,
({3})
die Leistungen und die Erfolge in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen, aber auch in Schleswig-Holstein
und Rheinland-Pfalz anzuerkennen. Wir müssen aber
trotzdem der Realität, dass kein Bundesland international
in der Spitzengruppe ist, ins Auge blicken.
({4})
Wenn wir nach Modellen für die Verbesserung und
Modernisierung unseres Bildungssystems suchen, dann
müssen wir uns international an den ersten Plätzen und
nicht an den Plätzen 10, 11 oder 9 orientieren.
({5})
Wir müssen in zehn Jahren wieder unter den ersten fünf
sein. Das muss unsere Messlatte sein.
({6})
Erlauben Sie mir, hierzu den Leiter der deutschen
PISA-Studie, Professor Jürgen Baumert, zu zitieren. In
Ministerin Dr. Annette Schavan ({7})
der heutigen Ausgabe der „Zeit“ führt er unter anderem
aus:
Im Übrigen kann man das beste deutsche Bundesland nur begrenzt am durchschnittlichen Standard einer ganzen Nation messen. Würden wir etwa
Bayern mit den Provinzen Kanadas vergleichen,
dann bliebe es hinter dem erfolgreichsten Landesteil
Alberta um Längen zurück.
({8})
Bayern würde in diesem Wettstreit nur etwas besser
abschneiden als die strukturschwächste kanadische
Provinz.
({9})
An anderer Stelle führt Professor Baumert aus:
In Bayern hat ein Kind aus der Oberschicht bei gleichen Fähigkeiten eine mehr als sechsmal höhere
Chance, ein Gymnasium zu besuchen, als ein Kind
aus einem Facharbeiter-Haushalt.
({10})
In keinem anderen Bundesland
({11})
schlägt sich die Herkunft so krass in der Bildungslaufbahn nieder.
({12})
So weit Professort Baumert, der Leiter der PISA-Studie.
Frau Schavan, wenn Sie das als Modell für ganz
Deutschland wollen, dann sage ich: Nein!
({13})
Worum geht es wirklich? Wir müssen unser gesamtes
Bildungssystem in Deutschland nach vorn bringen. Wir
brauchen Schulen, in denen Leistungen gefordert und gefördert werden.
({14})
Da gibt es gar keinen Dissens. Leistung und Förderung
gehören zusammen, sie sind zwei Seiten einer Medaille.
Wir brauchen Schulen, in denen Qualität und Chancengleichheit einen gleich hohen Stellenwert haben. Wir wollen die bestmögliche Bildung für alle Kinder in unserem
Land und wir wollen, dass alle Kinder in allen Bundesländern die gleichen Bildungschancen haben.
({15})
Unser Ziel ist es, unter die ersten fünf der Bildungsnationen zurückzukommen. Das können wir nur schaffen,
wenn wir die notwendigen Reformen gemeinsam anpacken. Es kommt deshalb jetzt darauf an, gemeinsam
Wege aus der Krise zu suchen, ohne die Verantwortung
der Länder und Schulträger infrage zu stellen.
Es geht darum, Bildung und Erziehung bundesweit auf
eine neue Grundlage zu stellen und aus den Verkrustungen einer ideologischen, auf Zuständigkeiten fixierten
Debatte zu lösen.
({16})
Die Weichen für die Erneuerung des Bildungssystems
müssen jetzt und nicht erst in einigen Jahren gestellt werden. Frau Schavan, bisher habe ich keine konkreten Vorschläge von Ihnen dazu gehört, was wir bundesweit tun
können und müssen,
({17})
um genau diese Ziele zu erreichen. Ich freue mich, dass
Sie das, was ich seit Tagen und Wochen immer wieder fordere - das höre ich hier zum ersten Mal von Ihnen -, heute
ausdrücklich unterstützen. Das ist ein Anfang, ein erster
Schritt.
({18})
Was wir brauchen, um diese Ziele zu erreichen, sind nationale Bildungsstandards, die für alle Länder gleichermaßen verbindlich gelten.
({19})
Die Qualität unserer Schulen und Bildungseinrichtungen, aber auch die Bildungschancen unserer Kinder dürfen nicht vom Wohnort abhängig sein. Deshalb: Wir brauchen einheitliche Leistungsstandards für Schülerinnen
und Schüler. Wir brauchen eine Verständigung über Bildungs- und Erziehungsziele. Wir brauchen verbindliche
Vereinbarungen über die Verbesserung der Lehrerausund -fortbildung. Wir brauchen einen gemeinsamen Rahmen für die Sicherung der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schulen.
Wenn wir mehr Qualität erreichen wollen, müssen wir
unseren Schulen mehr Verantwortung übertragen und sie
von bürokratischem Ballast befreien. Ich halte nichts davon,
auf die 888. Vorschrift noch eine 889. Vorschrift zu packen.
Das macht unsere Schulen nicht besser. Vielmehr muss der
Staat die Ziele vorgeben und die Schulen selber müssen gemeinsam mit Lehrern und Eltern entscheiden, wie sie diese
Ziele erreichen. Das halte ich für den richtigen Weg.
({20})
Darüber hinaus muss die Einhaltung nationaler Leistungsstandards regelmäßig überprüft werden. Das geht
nur mit einer unabhängigen nationalen Einrichtung für
Evaluierung, wie sie in den bei PISA erfolgreichen Ländern bereits existiert. Die von der KMK vorgesehenen jeweils landesweit durchzuführenden Orientierungs- und
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
Vergleichsarbeiten sind dazu wichtige Schritte. Sie können aber eine unabhängige bundesweite Evaluation der
Bildungseinrichtungen nicht ersetzen.
({21})
Die PISA-Studie hat gezeigt, wie dringend wir genau so
etwas brauchen. Wir können es nicht länger zulassen, dass
wir erst durch internationale Studien auf Mängel in unserem Bildungssystem hingewiesen werden, sondern wir
müssen uns regelmäßig selbst ein objektives Bild über
den Stand unserer Bildungseinrichtungen und auch über
die Weiterentwicklung unserer Schulen machen.
({22})
Dazu brauchen wir eine nationale Bildungsberichterstattung, die von einem unabhängigen Rat von Bildungsweisen erstellt wird. Wir müssen es schaffen - es gibt ja
entsprechende Beschlüsse -, dass wir in der gemeinsamen
Bund-Länder-Förderung nicht nach dem Gießkannenprinzip verfahren. Deshalb müssen wir, wie ich gesagt
habe, unsere Förderung gezielt auf die zentralen Defizite
unseres Bildungswesens ausrichten.
Wir brauchen Schulen, in denen unsere Kinder mit
Freude und mit Neugier lernen; Schulen, in denen ihr Wissensdurst am Leben gehalten wird; Schulen, in die auch
Lehrerinnen und Lehrer gern gehen und wo sie mit Motivation bei der Sache sind; Schulen, in denen Lehrer, Eltern und Schüler ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander haben und in denen Vermittlung von Werten und
Wissen selbstverständlich ist - Schulen also, in denen
Leistung gefordert wird und in denen man, statt auf Selektion und Auslese zu setzen, alle Kinder nach ihren individuellen Fähigkeiten bestens fördert.
Dafür aber müssen wir den Schulen Zeit geben. Wir
müssen ihnen nicht nur Zeit geben, sich zu reformieren,
sondern wir müssen ihnen auch Zeit geben, die Inhalte zu
schaffen. Deshalb sind Ganztagsschulen so wichtig; dort
lässt sich das einfach besser erreichen.
({23})
Die Bundesregierung hat deshalb den Ländern angeboten,
sie in den nächsten vier Jahren mit insgesamt 4 Milliarden Euro zu unterstützen. Mit dem Programm „Zukunft
Bildung“ können rund 10 000 Schulen zu Ganztagsschulen ausgebaut werden.
Meine Damen und Herren von der Union, hier müssen
Sie jetzt schon einmal Farbe bekennen. Unterstützen Sie
nun die Bereitstellung von Haushaltsmitteln für den Ausbau von Ganztagsschulen, so wie wir es in unserem Haushaltsplan für das Jahr 2003 vorgesehen haben, oder nicht?
Wenn ich Sie so höre, habe ich manchmal den Eindruck,
dass Sie das nicht wollen - nach dem Motto: Weiter so!
({24})
Das aber, meine sehr geehrten Herren und Damen, geht
nicht. Für mich sind die PISA-Studien die Chance zu einem gemeinsamen Aufbruch in der Schul- und Bildungspolitik.
Dass es gemeinsam gehen kann, haben die Vereinbarungen in der Bund-Länder-Kommission gezeigt. Im
Mittelpunkt der verabredeten Maßnahmen steht die
flächendeckende Verbesserung der Sprach-, Lese- und
Schreibfähigkeiten sowie der mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenz von Kindern. Beschlossen haben
wir darüber hinaus eine bessere Förderung von Kindern
aus sozial benachteiligten Familien und Migrantenfamilien. Leider haben die Wahlkampfstrategen in der Union
diese Entscheidungen nachträglich wieder infrage gestellt.
({25})
Wer auf die PISA-Ergebnisse mit Zuständigkeitsstreitigkeiten reagiert, lieber Herr Merz, der hat den Ernst der
Lage nicht erkannt.
({26})
Wir brauchen nationale Bildungsstandards und wir brauchen nationale Bildungsvergleiche. Daran geht kein Weg
vorbei; denn wir wollen eine zukunftsweisende Reformpolitik. Dafür warte ich auf ein eigenes Konzept von Ihnen für die Modernisierung unseres Bildungswesens. Wir
haben ein solches vorgelegt.
Vielen Dank.
({27})
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher für die FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Man wundert sich
schon etwas darüber,
({0})
dass wir am Ende einer Legislaturperiode erfahren, wie
Bildungspolitik gemacht werden soll. Das kann doch
wohl nicht sein.
({1})
Man wundert sich aber auch darüber, dass sich solche
Erkenntnisse, die etwa die Kultusministerkonferenz seit
langem hätte haben können - es gab die TIMSS-Studie -,
jetzt plötzlich offenbaren und nun alle wissen, wie es richtig geht.
({2})
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
Wir hatten doch längst die Gelegenheit dazu, hier die Weichen anders zu stellen.
({3})
Wir diskutieren heute über die Ländervergleichsstudie
und führen eine Diskussion über Föderalismus, Vereinheitlichung und über alles mögliche andere. Angesagt ist
aber eine Qualitätsverbesserung. Darum geht es, und zwar
nach der Ländervergleichsstudie genauso wie vorher.
({4})
Deshalb möchte ich noch einige Punkte ansprechen, die
sonst leicht in Vergessenheit geraten.
Wir brauchen zunächst eine solide Finanzierung. Wir
brauchen mehr Kohle für die Bildung. Daran führt kein
Weg vorbei. Das müssen sich alle ins Stammbuch schreiben lassen.
({5})
Wir dürfen Schule und Eltern jetzt nicht allein lassen. Gefragt ist ein Kraftakt, an dem sich alle, Schule, Lehrer und
vor allem Eltern und Gesellschaft, beteiligen. Alle müssen
jetzt mit ins Boot und ihre Aufgabe erkennen.
Wir brauchen natürlich auch ein größeres Angebot an
Ganztagsbetreuung. Wir müssen über die Situation von Kindern mit Migrationshintergrund nachdenken. All diese Themen fallen nicht plötzlich weg, nur weil wir jetzt festgestellt
haben, dass die Situation in den Ländern unterschiedlich ist.
Frau Bulmahn, Sie haben gerade wieder über die Wissensfächer geredet. Wir sollten etwas anderes nicht vergessen: Kreativität, Eigenverantwortung, aber auch
Selbstbeherrschung und Teamfähigkeit. Der Wert der musischen und künstlerischen Bildung darf in dieser Diskussion nicht einfach vergessen werden.
({6})
Die genannten Punkte gelten ohne Anspruch auf Vollständigkeit für alle Bundesländer. Aber in der Tat, Frau
Schavan, müssen nach der PISA-Ländervergleichsstudie
jetzt neue Fragen gestellt werden.
({7})
Dazu gehören: Wie schaffen wir die grundgesetzlich verbürgte Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen?
({8})
Wie gewährleisten wir Mobilität zwischen den Bundesländern? Vor allem aber muss die Frage gestellt werden: Wie kommen die schwächeren Länder aus dem
Keller und wie kommen alle Bundesländer hinsichtlich
der Bildungsqualität einen erheblichen Sprung nach
vorn? Eine Antwort vorweg: Durch die Forderung des
Kanzlers nach einem nationalen Rahmengesetz für die
Schule sicherlich nicht! Stellen Sie sich einmal vor, wir
hätten Anfang der 70er-Jahre ein nationales Rahmengesetz gehabt. Wo wären wir mit unserem Schulsystem
heute? Ich will die Frage gar nicht beantworten.
Die FDP hat einen anderen Ansatz. Wir wollen die
Freiheit und den Wettbewerb im Bildungswesen stärken.
Das ist der entscheidende Ansatz.
({9})
Dazu gehört zuallererst die Gewährung einer weitgehenden Personal- und Budgethoheit der einzelnen Schulen.
Darüber hinaus aber muss es für die einzelne Schule möglich sein, weg von Vorgaben der Landesregierung zu kommen und ihr eigenes Profil zu entwickeln. Man muss der
Schule mehr Freiheit geben.
Dazu gehört auch - das wurde noch gar nicht angesprochen -, dass wir die Privatschulen gleichberechtigt
neben den öffentlichen Schulen fördern.
({10})
Privatschulen sind in ihrer Reaktion oft schneller. Der
Wettbewerb zwischen öffentlichen und privaten Schulen,
aber auch der Wettbewerb zwischen den öffentlichen
Schulen ist ein wesentliches Element. Liebe Frau
Schavan, damit dieser Wettbewerb tatsächlich funktioniert, brauchen wir Standards, die länderübergreifend anerkannt und überprüft werden. Das war eine FDP-Forderung. Wir freuen uns, wenn sie jetzt von einigen
übernommen wird.
({11})
Nun kommt der Ruf nach der Kultusministerkonferenz.
Das Einstimmigkeitsprinzip geht offenbar so weit, dass die
beiden Länderministerinnen im Partnerlook erscheinen.
({12})
Sie müssen sich aber sagen lassen: Die Kultusministerkonferenz hat in ihren langen Jahren des Bestehens die
Probleme offenbar nicht gelöst; sie ist vielmehr Teil des
Problems.
({13})
Die Kultusministerkonferenz hat bewiesen, dass sie die
Probleme, die uns durch PISA schwarz auf weiß präsentiert wurden, nicht lösen konnte. Deshalb können wir
nicht weiter auf die Kultusministerkonferenz setzen, sondern wir müssen auf den Wettbewerb zwischen den Schulen, auf Autonomie, auf die Einhaltung von Standards und
deren Überprüfung durch eine bundesweit tätige Qualitätssicherungsagentur setzen. Dazu brauchen wir einen
nationalen Bildungsbericht, der uns die notwendigen Daten zur Verfügung stellt.
({14})
Ich fasse zusammen: Weder mit nationaler Gleichmacherei noch mit staatlicher Gängelung befreien wir unser
Bildungssystem aus seiner Schieflage. Wir setzen auf
Freiheit, Autonomie und Wettbewerb und wir setzen auf
mehr Kohle für die Bildung. Das ist der Weg, den wir miteinander gehen sollten.
Herzlichen Dank.
({15})
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht der Kollege Reinhard Loske.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Burgbacher, wenn ich Ihren zustimmungsfähigen Ausführungen lausche und das dann mit dem segensreichen
Wirken Ihres Konteradmirals in Hamburg vergleiche,
dann fallen mir schon gewisse Unterschiede auf.
({0})
Sie reden von „mehr Kohle“. Offenbar kommt aber etwas
ganz anderes heraus: Es ist noch keine zwei Jahre her, als
Herr Möllemann sozusagen mit Kohlenstaub in den
Mundwinkeln heldenhaft für die deutsche Kohle
gekämpft hat. Auch das haben wir in bester Erinnerung
behalten.
({1})
Insofern ist das, was Sie hier erzählen, gar nicht so schlüssig.
Jetzt aber will ich - in den wenigen Redeminuten, die
ich habe - zum Thema kommen. Zunächst einmal: Ich
glaube, dass die Ergebnisse von PISA-E für niemanden
ein Grund zur Selbstgefälligkeit sind.
({2})
Es ist sicherlich erfreulich, dass die Schüler aus Bayern
leicht über dem OECD-Durchschnitt liegen. Aber im internationalen Vergleich liegen sie eben sehr weit hinter
der Spitzengruppe. Wir können keineswegs damit zufrieden sein, dass die soziale Durchlässigkeit unseres Bildungssystems so gering ist. Das ist kein Ruhmesblatt für
uns. Besonders schlecht sieht es in Bayern aus; das muss
man ganz klar sagen. Diese geringe soziale Durchlässigkeit können wir uns beim besten Willen nicht zum Vorbild
nehmen.
({3})
Um es einmal in der Sprache des Sports auszudrücken:
So sehr sich Bayern über seinen Spitzenplatz in der zweiten Liga freuen darf, so traurig auch Bremen über die rote
Laterne sein muss, umso mehr gilt es, dass wir alle
gemeinsam besser werden. Wir als Bundesrepublik
Deutschland müssen den schnellen Wiederaufstieg schaffen. Daran sollten wir jetzt arbeiten. Es ist nicht die Zeit
der kleinen Münze, sondern die Zeit der großen Herausforderungen und des beharrlichen Arbeitens. Wir werden
in zwei Jahren den nächsten Test haben. Dann werden wir
sehen, wer besser geworden und wer stehen geblieben ist.
Ich will nun jenseits des Wahlkampfgeklingels zu ein
paar inhaltlichen Aussagen kommen. Wo besteht relativ
hohes Einvernehmen? Wir sind uns darüber einig - das
kann man als ersten Punkt summarisch festhalten -, dass
die soziale Auslese verhindert werden muss und dass wir
Chancengerechtigkeit sicherstellen wollen. Wir wollen
und können uns keine hoffnungslosen Fälle leisten. Darüber sind wir uns einig und das ist gut so.
Es ist mittlerweile auch - dies ist der zweite Punkt - ein
gewisses Einvernehmen darüber vorhanden, dass wir zentrale Standards brauchen. Das sollte man nicht infrage
stellen. Möglicherweise sollten diese gar durch Zentralprüfungen gesichert werden. Aber zentrale Qualitätsstandards, die regelmäßig evaluiert werden, sowie Freiheit und Autonomie sind keine Widersprüche, sondern
zwei Seiten einer Medaille. Dies gehört zusammen. Das
sollten wir nicht gegeneinander, sondern miteinander diskutieren. Man kann also sagen: klare Ziele, aber Pluralität
der Wege. Das sollte unsere Richtung sein.
({4})
Einvernehmen besteht, wenn man den Presseverlautbarungen folgt, auch darin - dies ist der dritte Punkt -,
dass wir mit der frühkindlichen Bildung früher anfangen,
schon im Kindergarten das Lernen fördern und den Bildungshunger unserer Kleinsten im Kindergarten stillen
müssen. Das hat Auswirkungen auf die Ausbildung unserer Pädagoginnen und Pädagogen. Wir müssen unsere
Kindergärten stärker zu Einrichtungen der frühkindlichen
Bildung machen.
Wir brauchen viertens einen größeren Praxisbezug in
der Lehrerausbildung. Die diagnostischen Fähigkeiten der
Lehrer müssen gestärkt werden, damit sie erkennen, wo die
Stärken und Schwächen eines Kindes liegen, und - das ist
ebenfalls wichtig - gezielte Förderung betreiben können.
Des Weiteren brauchen wir - darüber wird Marieluise
Beck gleich sprechen - frühe Hilfen für Einwandererkinder beim Deutschlernen und mehr Ganztagsschulen.
Diese dürfen natürlich nicht reine Verwahranstalten sein
und nur dem Zweck dienen, die Kinder „loszuwerden“,
sondern müssen eingebunden werden in ein pädagogisches Konzept, bei dem sich Phasen der Ruhe, der Anstrengung und der Konzentration über den Tag verteilt abwechseln. Das heißt, wir haben im Wesentlichen kein
Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit. Deshalb
müssen wir nicht nur reden, sondern handeln.
Was das Thema Bund und Länder angeht, schwingt unterschwellig mit - auch bei Frau Schavan -,
({5})
dass die Kultusministerkonferenz prima ist und eigentlich
alles gut gemacht hat. Das trifft aber nicht zu. Die Kultusministerkonferenz hat in der Vergangenheit Kleinstaaterei betrieben. Das hat uns allen nicht gut getan. Diese
Kritik muss auch deutlich ausgesprochen werden.
({6})
Was die zukünftige Rolle des Bundes betrifft, sind wir
in der Koalition uns über zwei Maßnahmen einig, die wir
durchsetzen wollen und auch werden. Erstens brauchen
wir einen Sachverständigenrat für Bildung und eine regelmäßige nationale Bildungsberichterstattung, um klare
Vergleiche zu bekommen und zu erfahren, an welcher
Stelle wir stehen und was wir erreichen müssen. Diese
Maßnahme werden wir durchsetzen.
Zweitens wollen wir eine Anschubfinanzierung für die
Ganztagsschulen. Ganztagsschulen sind keine Patentlösung, aber PISA zeigt, dass die Ergebnisse dort, wo Ganztagsschulen zahlreich vertreten sind, durchschnittlich besser sind. Deswegen setzen wir uns für die Förderung von
Ganztagsschulen ein. Ich würde mich freuen, wenn die
Union diese beiden bundespolitischen Maßnahmen
unterstützen würde.
({7})
Wenn über die bundespolitischen Kompetenzen diskutiert wird, sollten wir darüber nachdenken - wir als Grüne
wollen das jedenfalls -, ob der Bund in der nächsten Legislaturperiode nicht Mittel für den frühkindlichen Bereich bzw. für die Sprachförderung zur Verfügung stellen
sollte. Denn in diesem Bereich sind die Ergebnisse besonders schlecht ausgefallen.
Wir brauchen - Stichwort Einwanderungsgesellschaft - eine Politik des Bundes für die gezielte Integration von Migrantinnen und Migranten. In diesem Zusammenhang haben Sie von der Union Nachhilfeunterricht
dringend nötig. Das haben Sie bis heute nicht erkannt.
({8})
Mein letzter Punkt: Ich meine, dass auf Bundesebene
positive Modellversuche - wie der Modellversuch SINUS
zur Verbesserung des naturwissenschaftlichen Unterrichts
oder das Programm zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung - stärker gefördert werden müssen. Vonseiten
des Bundes müssen diese Modellprojekte gezielt gefördert und muss anschließend versucht werden, die guten
Erfahrungen auf die gesamte Bildungslandschaft auszudehnen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Ich meine,
wir sollten uns vor Augen führen, dass wir zwar nicht gut
genug sind, aber das nötige Potenzial besitzen. Wir können und sollten besser werden. Deshalb sollten wir das gemeinsam angehen.
Danke schön.
({9})
Für die
Fraktion der PDS spricht die Kollegin Maritta Böttcher.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Der Sprengsatz kam nachts per
E-Mail“, „Niedersachsen abgeschlagen“, „NRW ist Mittelmaß“, „Bayern klar an der Spitze“ lauteten einige
Schlagzeilen der letzten Tage. Die Rede ist nicht etwa von
Terror oder Fußball. Die Rede ist von der PISA-Vergleichsstudie der deutschen Bundesländer. Darin soll es
bekanntlich um Bildung gehen. Immerhin haben wir das
Material nun auch offiziell, nachdem die CSU-Strategen
schon seit zwei Wochen zum Bildungswahlkampf rüsten.
Ob das deutsche Bildungssystem davon besser wird, darf
mit Fug und Recht bezweifelt werden.
({0})
Was haben Schülerinnen und Schüler davon, wenn sich
Länderminister in Siegerlaune präsentieren oder Parteien
Glaubenskriege von vorgestern führen, liebe Frau
Volquartz? Was haben Schulen davon, einen Wettlauf gewonnen oder verloren zu haben, wenn sich im Gefolge
zwar Politiker profilieren, aber ansonsten alles beim Alten bleibt? Wahlkampf auf dem Rücken der Schülerinnen
und Schüler - nein danke!
({1})
Ich meine, weder PISA noch PISA-E haben es verdient, in provinziellen Wahlkampfauseinandersetzungen
und bildungspolitischer Kleinstaaterei unter die Räder zu
kommen.
({2})
Es geht nicht um Gewinner und Verlierer,
({3})
sondern um die sachgerechte Nutzung von Erkenntnismöglichkeiten, die in solchen Vergleichen liegen. Dazu
bieten die Studien genügend Material und auch das
Instrumentarium für vernünftige bildungspolitische
Schlussfolgerungen. Man muss sie nur lesen können, die
Befunde ernst nehmen und Schlussfolgerungen ziehen
wollen.
Bereits der internationale Vergleich hat im Mittel unterdurchschnittliche Leistungen, einen deutlichen Abstand zur Spitze, eine ungewöhnliche Leistungsstreuung
und einen besonders stark ausgeprägten Zusammenhang
zwischen sozialer Herkunft und Leistung zutage gefördert. Genau das wird durch PISA-E für alle Länder bestätigt. Statt sich jetzt in der Interpretation der teilweise
unterschiedlichen Ausprägungsformen dieses Grundbefundes zu verzetteln, gilt es, mit Reformbemühungen
eben dort anzusetzen.
Eine möglichst gleichmäßige Förderung aller Schülerinnen und Schüler gelingt hierzulande nicht. Höhere
Schulabschlüsse setzen vor allem eine Herkunftsfamilie
der oberen Dienstklasse voraus. Das Bildungssystem fördert weniger als es selektiert. Auch das gilt für alle Länder. Also niemand, weder eine Landesregierung noch eine
Partei, hat das Erfolgsrezept in der Tasche.
Klar ist aber: Die Bundesrepublik Deutschland ist weit
davon entfernt, ihren Bürgerinnen und Bürgern gleiche
Bildungs- und Lebenschancen zu geben. Auch das zeigt
PISA-E: Die Differenzen zwischen den einzelnen Bundesländern sind sowohl hinsichtlich des Leistungsniveaus
als auch hinsichtlich der Bildungsbeteiligung erheblich.
Schon deshalb muss die überfällige Bildungsreform von
Bund und Ländern gemeinsam in Angriff genommen werden. Wir brauchen eine gründliche Auswertung der vorliegenden Daten, der Vorzüge und Nachteile in den
einzelnen Bundesländern sowie der internationalen
Erfahrungen. Diffamierungen wie „Kuschelpädagogik“
oder „Leistungsstress“ helfen da nicht weiter.
({4})
Einbezogen werden müssen ebenfalls die offenkundigen sozialen Unterschiede zwischen den Ländern. Wirtschaftskraft, Arbeitsmarktlage und Sozialstruktur der Bevölkerung sind wichtige Einflussfaktoren, wenn es um die
Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen geht. Nicht zuletzt sind die gravierenden Unterschiede in den Schulsystemen, die immerhin zu Differenzen von bis zu zweieinhalb Jahren in der Unterrichtsversorgung führen, auch
durch den Föderalismus nicht mehr zu rechtfertigen.
Alles, was jetzt im Einzelnen vorgeschlagen und unternommen wird, sollte sich an dem prinzipiell notwendigen Neuanfang in der Bildungspolitik orientieren.
Wenn Deutschland das vom Kanzler gesteckte Ziel erreichen soll, in zehn Jahren unter den ersten fünf Bildungsnationen zu sein, muss die bestmögliche individuelle
Förderung aller zum obersten Prinzip werden. Das bedeutet: Schluss mit Selektion. Tests, die die selektiven
Grundstrukturen verfestigen, werden auf keinen Fall
weiterhelfen.
Wenn der PISA-Impuls nicht verpuffen soll, müssen
die notwendigen Maßnahmen in zentralen Problemfeldern wie Lesefähigkeit, Sprachförderung, Lehrerbildung,
Ganztagsschulen, frühkindliche Entwicklung in ein Gesamtkonzept zur Qualitätsentwicklung eingebunden werden.
({5})
- Natürlich gehört auch Qualitätskontrolle dazu, Herr
Dr. Friedrich.
({6})
Dazu gehört ebenfalls eine entsprechende Ressourcenausstattung. Nur in diesem Kontext machen nationale Bildungsstandards oder ein inzwischen auch vom Kanzler
gefordertes Schulrahmengesetz Sinn.
Wenn der Bildungs-TÜV eine neue Aussortiermaschine und nicht ein Frühwarnsystem wird, wird sich
nichts ändern.
({7})
Standards und auch ihre regelmäßige Überprüfung sind
nur dann in Ordnung, wenn daraus kein neues Monster
bürokratischer Knebelung entsteht. Schulen brauchen
Freiräume und eine Ausstattung, die das Nutzen der
Freiräume möglich macht. Qualität in der Pädagogik kann
weder befohlen noch herbeigetestet werden; dafür braucht
es die Motivation und Partizipation der Betroffenen.
Zwischen den 16 deutschen Bildungskleinstaaten liegen Welten. Offensichtlich hat der Föderalismus bei der
Herstellung von Chancengleichheit in Sachen Bildung
versagt. Wagen wir endlich einen Neubeginn!
({8})
Ich gebe
dem Kollegen Jörg Tauss das Wort. Er spricht für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Kollege Friedrich, ich bin
immer anständig; so weit kennen Sie mich doch. Sie müssen aber schon aushalten, dass man den Kleinmut anspricht, mit dem Sie hier darüber debattieren, wer wie
warum im unteren Drittel plaziert ist.
({0})
Liebe Frau Schavan, Sie führen Zuständigkeitsdiskussionen. Es findet Verantwortungsschieberei statt. Sie sollten
jetzt wirklich einmal sagen, was Sie eigentlich wollen;
denn das ist auch in der zweiten Debatte, in der Sie hier
als Mitglied des Kompetenzteams reden, nicht deutlich
geworden. Ich will ein Beispiel nennen. Der Bundeskanzler hat beispielsweise gesagt: Wir machen es nicht wie Sie
damals bei den Kindergärten. Sie haben Gesetze auf Bundesebene gemacht und hinterher gesagt, wie es finanziert
wird, sei wurscht. Er hat gesagt: Wir stellen das Geld für
Ganztagsschulen zur Verfügung, weil wir wissen, dass in
allen Ländern, die bei der Studie gut abgeschnitten haben,
eine vernünftige Ganztagsbetreuung stattfindet. Was ist
von Ihnen gekommen? - Eine kleinliche Debatte innerhalb von CDU und CSU. Erst wollten Sie das Geld überhaupt nicht, Frau Schavan. Dann gab es Widerstand aus
Ihren eigenen CDU-regierten Bundesländern. Insbesondere im Osten haben sie gesagt: Seid ihr mit dem Klammerbeutel gepudert? Das ist ein hervorragendes Angebot
des Bundes. Nehmt es wahr! Dann haben Sie gesagt: Jetzt
machen wir doch vielleicht mit. Sie sind in Ihren eigenen
Reihen unter Druck geraten. Mit diesem Auf und Ab findet Ihre bildungspolitische Debatte statt. Das ist Fakt und
darüber haben wir zu reden.
({1})
Frau Schavan, eines nehme ich Ihnen wirklich übel. Ich
nehme Ihnen nicht übel, dass Sie jetzt versuchen, ein bisschen Kompetenz darzustellen. Das ist Ihr Job. Ich hätte
Sie anstelle von Herrn Stoiber nicht berufen; darüber haben wir schon diskutiert. Aber dass Sie nicht die Wahrheit
sagen, nehme ich Ihnen übel. Sie haben hier im Bundestag beispielsweise behauptet, die SPD-regierten Länder
hätten PISA verhindern wollen. Wir haben noch einmal
nachgeschaut, Frau Schavan. Es stimmt nicht. Es war
Rheinland-Pfalz. Herr Zöllner hat den Antrag gestellt. Ich
finde, Sie sollten jetzt auch die Größe besitzen, sich für
diese Falschaussage hier im Deutschen Bundestag zu entschuldigen.
({2})
Nun ist ja bekannt, dass Wahlkampfzeiten die Zeiten
von Vereinfachung sind. Ich finde das bedauerlich, weil
für mich als Demokrat Wahlkampf nichts ist, Frau
Böttcher, was in irgendeiner Form negativ wäre, sondern
weil Wahlkampf die Chance bietet, tatsächlich über Konzepte zu reden und um die besseren Lösungen zu ringen.
Also machen Sie es nicht in dieser Form. Was Sie machen,
ist Wahlkampfgetöse. Das werfe ich Ihnen vor.
Es war doch kein Zufall, dass Sie entgegen den Absprachen an einem Sonntagmorgen um 3 Uhr die PISAErgebnisse veröffentlicht und in Ihrem Sinne interpretiert
haben, weil Sie genau wussten, dass Ihre Interpretationshoheit weg ist, wenn Sie nicht rechtzeitig früh entgegen
den Absprachen auf den Markt gehen
Jetzt reden wir mal über das, was Sie hier erzählen. Sie
erzählen, Bayern und Baden-Württemberg seien Spitze.
Ich will doch überhaupt nicht leugnen, dass es an der einen oder anderen Stelle auch hier erfreuliche Lichtblicke
gibt. Ich selbst bin in Baden-Württemberg zur Schule gegangen. Das erfreuliche Ergebnis sehen Sie vor sich.
({3})
Aber Ihr Land, Frau Schavan, ist eben an keiner Stelle
Spitze. Das ist Ihr Problem. In der Lesekompetenz bei den
Gymnasien liegen Sie hinter Bayern, in der Mathematik
liegen Sie hinter Schleswig-Holstein und hinter Mecklenburg-Vorpommern. Ich halte es für eine Sauerei, wie Sie
über andere Länder herziehen. Baden-Württemberg liegt
in der Mathematik im Vergleich hinter Mecklenburg-Vorpommern. Was Sie hier tun, ist unanständig gegenüber anderen Bundesländern.
({4})
In den Naturwissenschaften, Frau Schavan, liegen Ihre
Schülerinnen und Schüler in den Gymnasien hinter
Schleswig-Holstein. Ich sage Ihnen: Wenn Ihre Mathematikreform kommt, die Einheitsprimitivmathematik, die
Sie in Baden-Württemberg einführen wollen, wird sich
dieser Abstand noch weiter vergrößern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
es ist sinnvoll, dass wir ein bisschen stärker differenzieren, was in der Studie steht. Es geht um ein ganzes Bündel von Ursachen. Die Studie legt - das sagen die Autoren
der Studie - eben nicht dar - lieber Herr Rachel, das sage
ich, weil Sie es vorher gerade wieder im Fernsehen behauptet haben -, dass die Ursachen in der jeweiligen Landespolitik liegen, sondern dass sie vor allem in strukturellen Unterschieden der Bundesländer zu sehen sind. Wir
sollten darauf achten, dass diese strukturellen Unterschiede in den Bundesländern nicht zulasten der Kinder
und Jugendlichen gehen. Genau deshalb hat der Bund gesagt: Es ist eine nationale Aufgabe, an diesem Punkt etwas zu ändern, und deshalb will der Bund auch hierfür
Verantwortung übernehmen.
({5})
Darüber sollten wir miteinander reden.
Wir haben die Bildungsberichterstattung angeregt.
Herr Westerwelle, der zu dem Thema immer Sonntagsinterviews gibt, ist schon wieder weg. Keine bildungspolitische Debatte mit Westerwelle. Wo ist er denn?
({6})
- Ich bleibe bei der Wahrheit. Ich sehe ihn schon wieder
nicht. In der „Welt am Sonntag“ hat er Bildungsberichterstattung gefordert. Frau Flach, ich habe Sie vorher gefragt. Sie haben sich bei unserer Forderung nach Bildungsberichterstattung ja wenigstens der Stimme enthalten. Das
ist okay, das würdigen wir auch. Aber stellen Sie bitte
nicht solche Forderungen, sondern machen Sie es gemeinsam mit uns.
({7})
Ich kann Ihnen nur sagen: Was Sie hier im Zusammenhang
mit PISA tun, ist provinziell, das verstellt und verhindert
den Blick auf tatsächliche Ursachen und Zusammenhänge.
Frau Schavan, an Ihre Adresse gerichtet möchte ich
Peter Ustinov zitieren. Er hat wörtlich gesagt:
Bildung ist wichtig, vor allem wenn es gilt, Vorurteile abzubauen.
({8})
Wenn man schon ein Gefangener seines eigenen Geistes ist, kann man wenigstens dafür sorgen, dass die
Zelle anständig möbliert ist.
Möblieren Sie anständig in Baden-Württemberg! Dann
halten wir weiterhin Ihre interessanten bildungspolitischen Debatten aus.
({9})
Ich gebe der
Kollegin Angelika Volquartz für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Tauss, Lautstärke ersetzt
nun einmal nicht Qualität.
({0})
Ihre Rede war wieder ein hervorragender Beweis dafür.
Nachdem ich die Beiträge von Rot-Grün gehört habe,
kann ich nur feststellen: Nackte Angst und nichts weiter
ist Ihr Begleiter in dieser Debatte.
({1})
Frau Bulmahn, wenn Sie heute, am 27. Juni 2002, feststellen, dass die Bildungspolitik endlich in das Zentrum
der bildungspolitischen Debatte gerückt ist,
({2})
dann muss ich Sie allerdings fragen: Wo sind Sie eigentlich in den letzten Jahren gewesen? Was haben
Sie sowohl als Landesvorsitzende der SPD in Niedersachsen als auch als Bildungspolitikerin eigentlich geleistet?
({3})
Ihre Antwort auf diese Frage muss lauten: Nichts. Anderenfalls würden Sie nun nicht sagen, dass die Debatte
heute beginnt.
({4})
Herr Tauss, es gibt immer eine Wahrheit.
({5})
Wahrheit ist, dass die CDU-Fraktion im SchleswigHolsteinischen Landtag nach Veröffentlichung der TIMSSStudie einen Antrag gestellt hat - Herr Rossmann wird
sich erinnern -, mit dem auf Vergleichbarkeit der Leistungen abgehoben wurde. Dieser Antrag ist von Rot-Grün
in Schleswig-Holstein abgelehnt worden.
({6})
- Am Gymnasium.
Erst als die Kultusministerkonferenz wenige Wochen
nach der Einbringung des CDU-Antrages gesagt hat, dass
wir diese Vergleichbarkeit herstellen müssen, hat
Rot-Grün in Schleswig-Holstein reagiert. Vorher hat man
dort wörtlich gesagt:
Abfragbares, vergleichbares Wissen als Leistung zu
deklarieren, greift zu kurz.
Das war die Meinung der Sozialdemokraten und der Grünen in Schleswig-Holstein.
({7})
Um die Lesekompetenz und die vernachlässigte Spracherziehung zu stärken, brauchen wir aber nicht nur die
Politik und nicht nur die Schule,
({8})
sondern auch Eltern, die den Kindern wieder vorlesen und
mit ihnen sprechen müssen. Wir brauchen insgesamt eine
Erziehungsoffensive. Ohne Erziehungsoffensive gibt es
keine Bildungsoffensive. Dessen muss man sich bewusst
sein.
({9})
Außerdem brauchen wir eine Stärkung der Grundschulen. Sie müssen sich vor Augen führen, dass der
Wortschatz der Kinder in den Grundschulen auf
700 Wörter zurückgegangen ist. Wir müssen die Kinder
ab der ersten Klasse an die Prinzipien Anstrengung sowie
Leistung gewöhnen und wir müssen uns wieder auf die
Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen besinnen. Diese Kulturtechniken zunächst einmal hintanzustellen und der „Kuscheleckenpädagogik“ Priorität einzuräumen war ein ideologisches Mittel der Sozialdemokraten und der Grünen.
({10})
- Wahrheiten sind manchmal problematisch.
Ausländerkinder müssen selbstverständlich besser integriert werden. Auch auf diesem Gebiet sind Bayern und
Baden-Württemberg beispielhaft. Die deutsche Sprache
muss als Fremdsprache der ausländischen Kinder mehr
gefördert werden.
({11})
- Herr Tauss, in Schleswig-Holstein findet das nahezu
überhaupt nicht mehr statt. Sie sollten schon in die unionsregierten Länder schauen.
({12})
Wir brauchen aber nicht nur in diesen Fragen eine Veränderung, sondern auch in der Lehrerbildung. Die
Lehrerbildung muss stärker darauf abzielen, Schwächen
der Kinder zu erkennen und dadurch die Schwächen der
Kinder zu beseitigen.
Wir brauchen aber keine flächendeckende Einführung
von Gesamtschulen.
({13})
Frau Bulmahn, eine komplette Verstaatlichung der Erziehung ist nicht wünschenswert. Ganztagsschulen und
Ganztagsbetreuung sollen für Kinder mit problematischem Familienhintergrund und für Kinder mit berufstätigen Müttern angeboten werden.
({14})
Vor allem aber, Herr Tauss, brauchen wir ausreichenden
Unterricht in den Schulen. Man muss sich da doch fragen
lassen, warum in Schleswig-Holstein ein Kind während
der Grundschulzeit ein komplettes Jahr weniger Unterricht hat als in Bayern und warum die Hauptschüler in
Schleswig-Holstein statt 30 Unterrichtsstunden 25 pro
Woche haben. Diese Beispiele zeigen: Es geht den
Schülern und Schülerinnen in den Grund- und Hauptschulen in Bayern und Baden-Württemberg einfach besser als beispielsweise in Schleswig-Holstein.
Angesichts dieser Situation hilft es nicht weiter, wenn
der Kanzler und, in seinem Kielwasser, die Bundesbildungsministerin Zuflucht zu einem überfallartigen Entreißen der Länderkompetenzen nehmen.
({15})
Da helfen nur mehr Qualität und mehr Unterricht, aber
kein nackter Opportunismus
({16})
und vor allen Dingen nicht eine Bundesregierung, die
nach dem Motto handelt: Hauptsache eine Reform; egal,
was dabei herauskommt. Das ist das Credo, das Sie seit
Jahrzehnten praktiziert haben. Wir brauchen weiterhin föderale Strukturen. Bester Beleg dafür ist der erfolgreiche
föderale Weg in Kanada, das im internationalen Vergleich
in der Spitzengruppe liegt.
Wir brauchen auch die Erkenntnis, dass sich die Einstellung der Gesellschaft insgesamt zur Bildung verändern und sie an dieser Diskussion beteiligt werden muss.
Wir brauchen auch Eliten in unserer Nation; wir müssen
die Menschen begabungsgerecht fördern und fordern.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Freude und Leistung widersprechen sich nicht, sondern bedingen einander.
({0})
Das ist unser Motto.
Danke.
({1})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Ernst Rossmann.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
stelle mir vor, Bildungsforscher aus Finnland, Bildungspraktiker aus Kanada würden diese Debatte mitverfolgen.
Sie würden sie inhaltlich nicht verstehen, sondern nur als
Ausdruck der Misere ansehen, die wir in Deutschland haben. Nachdem uns von PISA International der Spiegel
vorgehalten worden ist, suchen wir jetzt wieder die Zuflucht zu dem, was mit die Ursache gewesen ist, nämlich
zu kleinkariertem föderativem Streit und zu föderativer
Genügsamkeit, die wir in der Vergangenheit hatten.
({0})
In dieser Debatte darf zwar das, was in einigen Ländern
positiv festgehalten wurde, nicht weggewischt werden, es
muss aber auch daran erinnert werden, was der eigentliche Bezugspunkt ist. Der Bezugspunkt für Bildungsreformen in Deutschland darf nicht PISA Deutschland sein,
sondern muss PISA International bleiben.
({1})
Das sollten wir hier als Erstes festhalten. Ein nationaler Bezugspunkt ist auch deshalb wichtig, weil er das Ganze und
nicht nur Teile mit in den Blick nimmt. Ich will nicht nachkarten, aber wir hatten eine Chance: Das war der nationale
Bildungsgipfel 1992. Es ist eigentlich bedauerlich, dass das
Zeichen, das damals gesetzt wurde, versandet ist. Vor diesem Hintergrund bleibt nur die Chance, mit einem nationalen Aufbruch überall wieder die Kräfte zu mobilisieren. Wir
können uns darüber freuen, dass das vorbereitet wurde,
jetzt muss das aber auch entsprechend geschehen.
({2})
Ein zweiter Punkt: Es ist auch wichtig, sich jetzt nicht
nur auf die Schulpolitik zu beziehen, so wichtig das momentan erscheinen mag. Auch bei dem damaligen Bildungsgipfel und in den Vorbereitungen des Forums Bildung werden ja von der frühkindlichen Pädagogik, die
bisher aus der schulischen Perspektive ausgeblendet war,
bis hin zur Weiterbildung alle Bereiche angesprochen. An
dieser Stelle möchte ich noch einmal dafür werben, auch
bei Ihnen, Frau Schavan, dass Linien durchgehalten werden. Sie haben ja im Zusammenhang mit Schulbildung
und Weiterbildung, aber auch Bildung generell einen
Sachverständigenrat Bildung in die Diskussion eingebracht, analog zum Sachverständigenrat Wirtschaft und
zum Sachverständigenrat für Umweltfragen. Darin liegt
nämlich eine Chance, sich national nicht nur für Teile,
sondern für das Ganze den Spiegel vorzuhalten. Ich habe
fast die Sorge, dass wir eigentlich jetzt schon einen internationalen Vergleich in Bezug auf frühkindliche und berufliche Bildung sowie Hochschul- und Weiterbildung
brauchen. Deshalb werben wir dafür, dieses Instrument
im Konsens zu schaffen.
Ein dritter Punkt: Brauchen wir Wettbewerb oder Vergleich, wenn es darum geht, etwas weiterzuentwickeln?
Ich plädiere dafür, dass wir uns im Vergleich und nicht im
Wettbewerb neu orientieren.
({3})
- Ich erläutere es Ihnen gern an zwei Beispielen.
Man kann jetzt dafür plädieren, dass Schulen mehr Gestaltungsfreiheit bekommen sollen. Diese Gestaltungsfreiheit müssen sie aber im Hinblick auf die verschiedenen
Voraussetzungen bekommen, unter denen sie arbeiten.
({4})
Wenn am Ende nämlich herauskommt, dass sich die
Grund- und Hauptschule oder die Realschule in Hamburg-St. Pauli in den Ergebnissen mit einer Schule in
Hamburg-Blankenese vergleichen muss, dann braucht sie
gar nicht erst anzutreten. Sie kann aber bei einem Vergleich der didaktisch-methodischen Zugänge oder der Organisation des Umfeldes antreten. Im Bereich der Schulabschlüsse und des Outputs kann sie sich nicht messen.
Deswegen ist die Wettbewerbslatte zu einseitig. Gerade
wenn man für institutionelle Gestaltungsfreiheit ist, ist der
Vergleich, das Voneinander-Lernen, wie man sich in einer
Bildungseinrichtung entwickelt, der entscheidende Bezugspunkt.
({5})
Dasselbe gilt unseres Erachtens im Hinblick auf die
Bundesländer: Ist dort das Leitmotiv der Zukunft die Kooperation oder die Konkurrenz? Wir sind dafür, es als kooperatives Verhältnis anzulegen, wobei der Bund in die
Kooperation einzubinden ist. Nur mit einer Kooperation
mobilisiert man alle Kräfte.
({6})
Dies ist die Nagelprobe, die auch die Öffentlichkeit
beobachten wird: Bekommen Bund und Länder zusammen den Ausbau der Ganztagsschulen hin? Man muss
auch einmal festhalten, was unstreitig ist. Uns ist dies
deshalb so wichtig, weil es sich hier um ein freiwilliges
Angebot handelt, das die Länder jetzt zusammen mit
dem Bund ausgestalten können, und zwar möglichst
qualitativ hochwertig, zielgerichtet und auf mehrere
Nutzen ausgerichtet. Weshalb schaffen wir es zum Beispiel noch nicht, im Bereich der Grundschulen die Elementarförderung, die Basisförderung und die stärkere
Integrationswirkung auch in Bezug auf zugewanderte
Kinder und Jugendliche sowie auf Menschen aus sozial
entfernteren Bildungsschichten zu vereinigen und dies
in das Zentrum einer gemeinsamen Initiative von Bund
und Ländern zu rücken? Hierzu müssen wir wirklich einen Plan entwickeln.
({7})
Dies würde eine andere Qualität in die Schule hineinbringen, in der dann andere Kompetenzen - auch durch das
Umfeld - aktiviert werden könnten.
Unsere Hoffnung ist, dass Bund und Länder in einem
kooperativen Verhältnis ein Projekt der nationalen
Bildungsanstrengung entwickeln. Dazu sollten wir das
aufnehmen, was Johannes Rau zum Abschluss des Forums Bildung gesagt hat: Es geht jetzt um wirkliche
Veränderung, um neues Gestalten, nicht aber um kleinkariertes Vergleichen von Ergebnissen, hinsichtlich deren wir uns ohnehin mit besseren Vorbildern messen
müssen.
Danke schön.
({8})
Ich erteile
dem Kollegen Thomas Rachel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst bringe ich meine Freude zum
Ausdruck, dass mit Frau Schavan und Frau Hohlmeier
zwei Kultusministerinnen der Union hier heute anwesend
sind. Zugleich frage ich, wo eigentlich die SPD-Kultusminister sind.
({0})
Offensichtlich wussten die SPD-Kultusminister, warum
sie nicht gekommen sind.
Frau Bundesbildungsministerin Bulmahn hat öffentlich gefordert - das war eine knallige Aussage -, dass im
Wahlkampf nicht über Bildung gesprochen und debattiert
werden soll.
({1})
Es ist schon ein besonderes Amtsverständnis, wenn eine
Bildungsministerin das Thema Bildung in der öffentlichen Debatte zum Tabu erheben will.
({2})
Das Gegenteil ist notwendig: Die Ergebnisse der PISA-EStudie sind, so sehr sie Sie auch schmerzen, Anlass für
grundlegende Weichenstellungen in der Schulpolitik.
({3})
Die nationale PISA-Studie ist eine Bankrotterklärung
für die Schulpolitik der Sozialdemokraten in Deutschland.
({4})
Dort, wo die Union lange regiert, sind die Schulen besonders gut. Dort, wo die Sozialdemokraten lange regieren,
sind die Schulen leider besonders schlecht.
({5})
Insofern ist es eine besondere Kühnheit, dass gerade die
sozialdemokratische Bundesbildungsministerin Bulmahn
anderen - auch denen, die besser abgeschnitten haben ihre nationale Bildungspolitik verordnen will.
Es sind Generationen von sozialdemokratischen Bildungsministern gewesen - ich nenne von Oertzen aus
Niedersachsen, ich nenne Girgensohn aus NordrheinWestfalen und Friedeburg aus Hessen -,
({6})
die sich über Jahrzehnte an der Zukunft unserer Kinder
versündigt haben.
({7})
Deshalb, Herr Tauss, ist es jetzt auf sozialdemokratischer
Seite nicht an der Zeit,
({8})
die flotte Lippe zu riskieren; vielmehr sind Demut, Bescheidenheit und Bereitschaft zur Umkehr angesagt.
({9})
Natürlich müssen die Schulen in allen Bundesländern
besser werden. Aber zur Wahrheit gehört auch: Wenn das
Niveau Süddeutschlands an allen Schulen der Bundesrepublik für die Bildung maßgeblich wäre, zählte Deutschland
zum ersten Drittel der OECD. Wenn das Niveau der SPDregierten Bundesländer Standard der Schulen in Deutschland wäre, lägen wir im letzten Viertel. Mit dieser Realität
haben wir es zu tun.
Deshalb, Frau Bulmahn, ist Ihre Forderung nach Einheitlichkeit in den Schulverhältnissen keine Lösung.
Nein, sie bedeutete eine Verschärfung des Problems, denn
die Schüler und Eltern aus den anderen Bundesländern
wollen keinen solchen nationalen Bildungsstandard, denn
dies wäre für ganz Deutschland der Abstieg in die Verlierergruppe, die aus Bremen, Nordrhein-Westfalen und anderen SPD-dominierten Bundesländern besteht.
({10})
In allen drei Kompetenzbereichen erreichen jeweils ein
oder zwei Bundesländer Leistungswerte oberhalb des
OECD-Durchschnitts; dies sind Bayern und Baden-Württemberg.
({11})
Auch für diese beiden Länder gilt, dass der Abstand zur
internationalen Spitze eine Herausforderung bleibt.
Die Schüler in meinem eigenen Bundesland, dem SPDregierten Nordrhein-Westfalen, liegen in allen Kompetenzbereichen unterhalb des OECD-Durchschnitts und unterhalb des Bundesdurchschnitts. Ein Viertel aller 15-jährigen
Schüler werden in Bezug auf die Lesekompetenz als zur Risikogruppe gehörend eingestuft; in Bezug auf Mathematik
sind es 28 Prozent und in Bezug auf die naturwissenschaftliche Grundbildung 30 Prozent. Diese Jugendlichen werden später größte Probleme haben, ihr Berufsleben zu meistern. In Nordrhein-Westfalen sind rund 35 Prozent der
Jugendlichen mit Migrationshintergrund dieser Risikogruppe zuzuordnen. Damit ist bei mehr als einem Drittel
der Jugendlichen die berufliche Karriere durch mangelnde
Lesefähigkeit gefährdet. Das ist das reale Ergebnis der angeblich so sozialen und ausländerfreundlichen Politik der
SPD im größten Bundesland Deutschlands.
({12})
Ganz anders ist es in Bayern, gegen dessen Politik Sie
ständig Vorurteile pflegen.
({13})
95 Prozent der Schüler aus Zuwandererfamilien erreichen
in Bayern ein Niveau, das deutlich über dem deutscher
Schüler in Bremen und in Nordrhein-Westfalen liegt. Mit
diesen Tatsachen sollten Sie sich auseinander setzen.
({14})
Die soziale Selektion ist bei der angeblich sozialen
SPD-Bildungspolitik höher als bei den Unionsländern. In
keinem Bundesland ist der Leistungsabstand zwischen
den schwächsten und den besten Schülern größer als in
Nordrhein-Westfalen, wo Herr Clement regiert. Die ausgeprägte Leistungsstreuung zeugt von einer geringen
Breitenförderung. Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Lesekompetenz ist in NRW deutlich enger als
in anderen Bundesländern.
({15})
Nordrhein-Westfalen ist Schlusslicht bei der Entkopplung
von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb. Dieses Bildungssystem ist unfair und ungerecht.
Deshalb brauchen wir eine bessere Bildungspolitik.
Die Kinder sind in allen Bundesländern in gleichem Maße
begabt. Aber einigen von ihnen wird durch eine falsche
Schulpolitik die Chance vorenthalten, weil sie nicht so gefordert und gefördert werden, wie es notwendig wäre.
({16})
Deshalb sage ich abschließend: Wir brauchen eine Kultur der Leistung. Wir brauchen Bildungsstandards, die
zwischen den Ländern vergleichbar sind. Wir brauchen
zentrale Abschlussprüfungen. Wir brauchen eine empirische Schul- und Bildungsforschung an den Hochschulen
sowie Sprach- und Leseförderung bereits in einem frühen
Stadium. Wir benötigen eine Novellierung der Lehrerausbildung; da könnten wir aus den Erfahrungen der Finnen
lernen.
Wenn wir diese Reformen im fairen Miteinander der
Bundesländer und nicht von oben herab anpacken, dann
hat die PISA-Studie den notwendigen Durchbruch
in Gang gebracht. Die künftigen Schüler werden es uns
danken.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Michael Müller.
Meine Damen
und Herren! Am Beginn der Regierungserklärung von
1969 stand das Thema Bildungspolitik. Wir hatten dann
Anfang der 70er-Jahre eine gute Phase von Bildungsreformen. Ich erwähne das deshalb, weil die Konsequenz
von PISA nicht sein darf, dass sich die Diskussion, die wir
in den 70er-Jahren hatten, heute wiederholt. Dann hätten
wir die Lektion nämlich nicht gelernt.
({0})
Ich will deutlich sagen: Es darf nicht sein, dass die einen in ihrer ideologischen Verfestigung am alten wilhelminischen Gymnasium als größtem Ziel jedes Lernens
festhalten
({1})
- na, na, Sie haben mit die größte Auslese in diesem System; das müssen Sie schon zugeben - und auf der anderen
Seite Bildungsreformen stecken bleiben.
({2})
Wir brauchen qualitative Maßstäbe: erstens das pädagogische Konzept, zweitens die schulischen Leistungen,
und zwar auch unter dem Gerechtigkeitsgesichtspunkt
der Chancengleichheit, und drittens die Öffnung für die
zukünftigen Aufgaben, also für die Herausforderungen
unserer Wissensgesellschaft. Das müssen die zentralen
Maßstäbe sein, an denen der Erfolg gemessen wird, nicht
ein kleinkarierter Streit.
({3})
Ich erinnere mich noch sehr genau, mit welcher Verklemmtheit damals die ganze Bildungsdiskussion abgelaufen ist.
({4})
Deshalb sollten wir uns hier auf ein Konzept besinnen.
Die entscheidende Frage dafür lautet: Wie machen wir unser Land fit für die Aufgaben der Zukunft? Die Bildungsministerin hat Recht: Der Maßstab hierfür ist unser internationales Abschneiden.
({5})
Daran müssen wir unsere Reformen orientieren.
({6})
In dieser Herausforderung liegen drei zentrale Punkte.
Erstens. Es gibt in der Bundesrepublik deutlicher als in jedem anderen Land einen Zusammenhang zwischen der
Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und Bildungschancen. Die Selektion sowohl nach unten wie nach oben,
die wir in unserem Land haben, ist nicht vertretbar. Hinzu
kommt, dass sie je nach Schulsystem im Laufe der Schulkarriere sogar kumuliert. Das weist die Studie sehr exakt
nach. Das darf nicht sein.
({7})
Zweitens. Bildung kann nicht nur Verschulung heißen.
Es muss auch Förderung von Kreativität, Verantwortung,
Vielfalt, musischen Begabungen, Reflexivität gegenüber
Zusammenhängen, vernetztem Denken und vielem anderen heißen. Bildung muss modern sein. Modern heißt
eben nicht nur Lernen um des Lernens willen - so wichtig das ist -, sondern bedeutet, dass Bildung vor allem zu
einem selbstständig denkenden und sich selbstständig
fortentwickelnden Menschen befähigen muss. Das ist ein
ganz entscheidender Punkt.
({8})
Drittens. Wir müssen dies vor allem im internationalen
Zusammenhang sehen. Unser deutsches Schulsystem
hinkt im Vergleich zu vielen anderen Ländern der internationalen und auch der europäischen Entwicklung hinterher. Das ist kein gutes Zeichen.
({9})
- Jetzt fängt er schon wieder so an. Mein Gott, das ist ja
furchtbar!
({10})
Es ist wirklich furchtbar, wie kleinkariert bisweilen in
diesem Haus diskutiert wird. Welches Elternpaar soll
dafür Verständnis haben? Ich kann das nicht nachvollziehen.
({11})
Sie müssen doch sehen, dass das ein Schuss vor den Bug
war, der uns alle trifft. Deshalb müssen wir gemeinsam
nach vorne schauen. Es muss eine gemeinsame Kraftanstrengung geben, sonst schaffen wir es nicht. Herr
Friedrich, ich weiß doch, dass Sie ein ganz vernünftiger
Kerl sind. Machen Sie doch mit!
({12})
Fördern und fordern, das ist das, was wir tun müssen.
Das Schlimmste, was in der PISA-Studie deutlich geworden ist, sind die Mechanismen sozialer Selektion, sowohl von den Schulformen her als auch beispielsweise
zwischen Jungen und Mädchen oder zwischen Deutschen
und Ausländern. Das ist ein Riesenproblem. Wir müssen
wissen: Motivation, Leistungsbereitschaft, auch Übernahme von Verantwortung für die Gesellschaft ergeben
sich nur aus dem Zusammenhang zwischen Chancen, Fördern, Fordern und Motivation.
Deshalb sagen wir an dieser Stelle: Wir bitten alle
bei dieser Gemeinschaftsanstrengung mitzumachen. Wir
möchten auch, dass die Lehrer wieder eine höhere Wertschätzung in unserer Gesellschaft genießen; denn wir
brauchen sie bei dieser Gemeinschaftsaufgabe. Das ist
ganz wichtig.
({13})
- Das sage ich allen. Ich kenne die Biersprüche von vielen
und ich kenne auch viele der Kollegen aus den anderen
Fraktionen und deren schreckliche Vorurteile. Nein, es geht
darum, dass wir alle motivieren, bei dieser Gemeinschaftsanstrengung mitzumachen, und das können wir auch.
Johannes Rau hat in seiner Rede zur Bildungsreform
deutlich beschrieben, dass die Schulen Häuser des Lernens werden müssen. Ich möchte zum Schluss deshalb
folgende Bemerkung machen. Es ist völlig richtig, dass
Bildung nicht alleine von den Finanzen abhängig ist. Aber
es ist auch richtig, dass entsprechende Finanzmittel zur
Verfügung gestellt werden müssen.
({14})
Wir müssen Prioritäten setzen. Das gilt für alle, für Bund,
Länder und Gemeinden. Wenn wir wollen, dass unser
größtes Kapital, die Bildung, gepflegt wird, dann müssen
entsprechende Prioritäten dafür gesetzt werden. Wir müssen dafür eintreten, dass die Bildung mehr Geld bekommt,
um ihre Aufgaben zu erfüllen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({15})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ilse Aigner.
Michael Müller ({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe der
Debatte sehr aufmerksam zugehört und mir die ganze Zeit
überlegt, wie die Debatte ausgefallen wäre, wenn die Ergebnisse im nationalen Bereich zwischen den einzelnen
Bundesländern anders ausgefallen wären.
({0})
Ich könnte mir vorstellen, dass Sie kübelweise Hohn und
Spott über die unionsregierten Länder ausgekippt hätten,
wenn wir nicht an der Spitze, sondern am Ende gestanden
hätten.
({1})
- Ich muss Sie enttäuschen. Es ist nicht so, dass wir uns
selbstgefällig auf die Schulter klopfen und sagen, es ist alles in Ordnung. Wir sind uns selbstverständlich bewusst,
dass sich noch vieles tun muss und dass ausnahmslos alle
Länder zulegen müssen.
({2})
Wir werden uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen und
sagen, dass uns die Platzierung im oberen Drittel ausreicht. Es ist selbstverständlich, dass wir an die Spitze
kommen wollen. Wir wollen nicht nur an der Oberfläche
schwimmen, sondern wir wollen in der Spitzengruppe
mitschwimmen.
Mir ist bei dieser Debatte aufgefallen, dass Sie krampfhaft versuchen, die Ergebnisse schlecht zu reden. Das
halte ich für mehr als peinlich. Ich lasse mir die guten Ergebnisse - auch im Interesse der Schülerinnen und
Schüler, der Lehrkräfte in Bayern, Baden-Württemberg
und anderen Ländern - nicht schlecht reden.
({3})
Es hat, Herr Müller, etwas mit Wertschätzung der
Lehrkräfte zu tun, dass man die Leistungen, die erbracht
wurden, würdigt. Ich finde, sie haben einiges geleistet. Ich
möchte in diesem Zusammenhang auf zwei Länder verweisen, nämlich auf Sachsen und Thüringen, die es nach
1990 mit Sicherheit nicht einfach gehabt haben, die Umstellung zu schaffen. Die Lehrkräfte dort haben sich eminent angestrengt. Beide Länder haben sich an den Modellen orientiert, die erfolgreicher waren, nämlich an den
Modellen von Baden-Württemberg und Bayern, und sind
- wenn Sie sich die Tabelle genau ansehen, werden Sie
das feststellen - an den westdeutschen Ländern vorbeigezogen. Das ist eine große Leistung dieser Länder gewesen.
Eines verstehe ich allerdings nicht: Sie sagen völlig
richtig, wir müssen uns international vergleichen. Warum
sollen wir uns dann nicht auch national vergleichen?
({4})
Warum ist das eine anständig und das andere nicht? Das
verstehe ich überhaupt nicht.
Ich weiß auch nicht, Frau Ministerin, ob Sie das Leistungsniveau nach unten oder nach oben nivellieren wollen. Wo ist oben? Wenn Sie es nach oben nivellieren wollen, würde ich sagen: Das ist wunderbar. Schauen Sie auf
die Länder, die es geschafft haben. Dann können Sie sich
dementsprechend nach oben orientieren.
Ich komme jetzt zu der sozialen Auslese bzw. zu den
Kompetenzen der einzelnen Länder. Leider ist der Bundeskanzler - verständlicherweise ist er in Toronto - nicht
da. Die Lesekompetenz ist eine der Grundkenntnisse der
Schülerinnen und Schüler. Wenn ich mir in der Liste diejenigen anschaue, die nur die unterste Kompetenzstufe erreichen oder diese nicht einmal erreichen, dann muss ich
Sie, Frau Ministerin, bzw. den Bundeskanzler direkt fragen, warum Niedersachsen in der Liste, in der unsere Länder plus 23 ausgewählte Staaten enthalten sind, auf
Platz 33 steht. Hinter Niedersachsen sind nur Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Luxemburg, Bremen und Mexiko.
Ich frage Sie ganz ehrlich - es ist leider kein Ministerpräsident eines SPD-regierten Landes da -: Warum strengen
sich eigentlich die Minister und Ministerinnen aus den
SPD-regierten Ländern nicht an, wenigstens das auszugleichen? Das ist soziale Auslese, wenn die Schülerinnen
und Schüler nicht einmal vernünftig Lesen und Schreiben
lernen können. Niedersachsen ist das Land, das Sie, Frau
Ministerin, repräsentieren. Sie sind Vorsitzende der SPD
Niedersachsen und hätten durchaus Einfluss. Hier könnten Sie einiges unternehmen.
({5})
- Ich kann Ihnen die Liste zeigen, Herr Tauss.
({6})
- Herr Loske, ich zeige es Ihnen nachher gerne. Ich sprach
von der untersten Kompetenzstufe.
Ich möchte noch kurz auf die Abiturquote eingehen. Es
wird immer darauf abgehoben, dass Bayern die geringste
Abiturquote hat. Dabei wird aber verkannt, dass es gerade
in Bayern ein sehr ausgeklügeltes System von weiterführenden Schulen, Fachoberschulen, Berufsoberschulen
und Fachakademien gibt. Es gibt auch sehr viele, die die
berufliche Weiterbildung durchlaufen. Zum Vergleich: In
Bayern machen 30 Prozent mehr ihren Meister als in
Nordrhein-Westfalen. Bei uns ist man nicht erst dann
Mensch, wenn man Abitur hat. Frau Ministerin, ich finde
es sehr bitter, dass Sie in Interviews immer nur im Zusammenhang von Abiturienten von Fachkräften sprechen.
Ich meine, dass all diejenigen, die die berufliche Bildung
durchlaufen, ebenfalls Fachkräfte sind.
({7})
Zum Schluss kann ich nur noch sagen: Die Kinder in
SPD-regierten Ländern sind nicht schlechter und dümmer
als in anderen Bundesländern. Sie werden nur falsch regiert. Diese Gerechtigkeitslücke zu schließen ist eine der
wichtigsten Aufgaben. Wir müssen uns gemeinsam anstrengen, wieder in die Weltspitze vorzustoßen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Barthel.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Es gibt zwei Möglichkeiten
- das ist schon angeklungen -, mit dem Impuls der PISAStudie umzugehen: Entweder wir nehmen die Chance endlich wahr, die Ergebnisse und die freigesetzte Energie jenseits von Wahlkampf und Parteitaktik, aber auch jenseits
von selektiver Wahrnehmung, die es bei manchen gibt, in
die richtigen Reformen umzusetzen, oder wir begeben uns
wieder dorthin, wo wir nach der großen Bildungsreform
und Bildungsexpansion der 60er- und 70er-Jahre gelandet
sind und wo wir uns bis vor kurzem befunden haben, nämlich in der strikt nach Ländern sortierten Erstarrung, die
mit zur jetzigen Situation geführt hat.
({0})
Das ist übrigens genau die Situation, die uns die Union
heute als Rezept anbieten will, nämlich ein von zukunftsorientierten, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen
Überlegungen ungestörter föderaler Wettbewerb nach
dem Motto „Jeder für sich und alle gegen alle“, Hauptsache, die Zuständigkeit bleibt unberührt.
Es ist symptomatisch für die Politik der Union und ihres Kandidaten, die Politik von gestern als Lösung anzubieten, obwohl sie gescheitert ist. In Richtung FDP muss
ich sagen, dass der Wettbewerb nicht dadurch besser wird,
indem man ihn privatisiert, anstatt ihn auf Länderebene
auszutragen.
({1})
Wohin uns dieses Politikmodell geführt hat, können wir
ganz klar sehen: in das untere Drittel der Industriestaaten.
Dieser Tatsache müssen wir uns alle stellen, auch wir in
Bayern.
({2})
Wir bestreiten nicht, sondern wir begrüßen es, dass einzelne Bundesländer bessere Ergebnisse erzielen, aus denen wir das Richtige und Sinnvolle herausfiltern können.
Der Maßstab für die ganze Republik kann aber nicht das
obere Mittelmaß Bayerns oder Schleswig-Holsteins an
der einen oder an der anderen Stelle sein. Maßstab für uns
müssen die weltweit Besten sein. Maßstab sind außerdem
die Ziele, die Leitideen und die Zukunft unserer Gesellschaft.
Es hilft nicht weiter, die Scheinalternativen aufzuwärmen, wie es die Union tut. Ich nenne beispielsweise die
Scheinalternative Leistung durch Auslese einerseits und
hohe Bildungsbeteiligung, Integration und Förderung
andererseits. Die PISA-Studie hat doch belegt, dass die
führenden Staaten beides schaffen: hohes Leistungsniveau und hohe Beteiligung auch an akademischen Abschlüssen.
({3})
Deutschland insgesamt und Bayern im Besonderen,
Frau Hohlmeier, leisten sich den Luxus, die Begabungsund Leistungsreserven brachliegen zu lassen. Es gibt
außerdem einen unterdurchschnittlichen Anteil an Hochschulzugangsberechtigten und Hochschulabsolventinnen
und Hochschulabsolventen. Im Faktenbericht der Bundesregierung ist nachzulesen: Trotz des Anstiegs der Studienanfänger auf 32 Prozent liegt Deutschland im internationalen Vergleich weit hinter dem Möglichen. Die
USA haben inzwischen einen Anteil von 44 Prozent an
Studienanfängerinnen und Studienanfängern; in Finnland
sind es 58 Prozent. Wenn dieser Trend weitergehen
würde, würden bei uns in der Bundesrepublik bis zum
Jahr 2010 über eine Viertel Million Akademikerinnen und
Akademiker fehlen.
Länder mit einem hohen Anteil abiturähnlicher Abschlüsse - in Finnland, Japan und Korea beträgt er über
50 Prozent; in der Bundesrepublik nur 33 Prozent - erkaufen sich diese breite Bildungsbeteiligung gerade nicht
mit einem niedrigen Leistungsniveau. Sind denn die
Bayerinnen und Bayern, weil sie weniger Hochschulabschlüsse erzielen, wirklich dümmer als die Menschen in
Schweden und in anderen Ländern?
({4})
Ich zitiere den Kanzlerkandidaten. Er sagt, dass sich
zukünftig jedes Kind entsprechend seinen Fähigkeiten
und Neigungen entwickeln kann. Warum ist dann in Bayern die Absolventenquote bei höheren Abschlüssen niedriger? Sind denn die Menschen in Bayern dümmer als anderswo?
({5})
Ausgerechnet die Zuwanderungsverweigerer der Nation - damit kommen wir jetzt zur bayerischen Politik machen es zum Dauerzustand, dass jährlich allein
4 400 Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen nach Bayern geholt werden müssen,
({6})
weil die bayerischen Universitäten und das Schulsystem
davor diese Absolventinnen und Absolventen nicht hervorbringen. Diese Zuwanderung ist nötig, weil in Bayern
entsprechende Leistungen nicht erbracht werden. Bayern
bräuchte eine zusätzliche Hochschule von der Größe der
Ludwig-Maximilians-Universität in München, die eine
der größten Hochschulen in der Republik ist, um seinen
Akademikerbedarf zu decken.
({7})
Das sind die Tatsachen, ganz zu schweigen von den
fehlenden Kapazitäten im schulischen Bereich. Wenn das
- übrigens ohne Zutun von Herrn Stoiber - „reiche“ Bayern den gleichen Anteil seines Haushaltes für Bildung
ausgeben würde wie das „arme“ Sachsen-Anhalt, müsste
Bayern doppelt so viel Geld für die Schule auf den Tisch
legen.
({8})
Da zeigt sich die Peinlichkeit Ihrer Auslesepolitik, die
Sie mit Leistungsansprüchen begründen. Wenn die Staatsregierung sagt, die Hamburger und die nordrhein-westfälischen Schülerinnen und Schüler hätten es beim Abitur
zu leicht - das heißt, sie sind den Bayern zu schlecht - und
sie würden es in Bayern nicht schaffen, weil sie die dort
erforderliche Leistung nicht erbringen könnten, dann
frage ich mich, Frau Hohlmeier: Wenn Ihnen diese Absolventinnen und Absolventen nicht gut genug sind,
warum sind sie dann gut genug für Siemens, BMW, den
öffentlichen Dienst in Bayern, das DLR und andere?
({9})
Herr Kollege,
denken Sie bitte daran, dass Sie eine Redezeit von nur
fünf Minuten haben.
Ich bin fertig.
({0})
Der Vorsitzende des Städtetages, Josef Deimer, der
nicht unserer Partei angehört, sagte:
Kellerkinder bleiben Kellerkinder, auch wenn sie auf
der obersten Stufe der Kellertreppe stehen.
Das sollte für uns Anreiz und Motivation sein, die Diskussion anders zu führen, als Sie das tun.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Axel Fischer.
({0})
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Kaum waren die Ergebnisse der PISA-Studie vor etwas mehr als einem halben Jahr bekannt, pilgerten Karawanen von SPD-Bildungspolitikern in das gelobte Bildungsland Finnland, um
von dort zu lernen, wie man es besser macht.
({0})
Nun haben wir einen internen Vergleich für Deutschland
und stellen fest: Sie hätten gar nicht so weit reisen müssen. Sie hätten nach Bayern gehen können. Dort hätten Sie
sehen können, was man im restlichen Deutschland besser
machen könnte.
({1})
Denn Bayern spielt zwar nicht auf den ersten Plätzen, aber
immerhin in der ersten Liga.
({2})
Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen spielen in der
dritten Liga.
({3})
Wenn man sich den Ländervergleich genauer anschaut,
stellt man einige interessante Dinge fest. Im Rahmen der
deutschen Einheit wurden von den alten Ländern Patenschaften für die neuen Länder übernommen. Die Ergebnisse, die in den Ländern im Bildungsbereich erzielt wurden, korrelieren: Nordrhein-Westfalen und Brandenburg
sowie Niedersachsen und Sachsen-Anhalt erzielten
schlechte Ergebnisse; Bayern und Sachsen erzielten gute
Ergebnisse. Daran sehen Sie, dass die Bildungspolitik in
den neuen Ländern damit etwas zu tun hat, wer welche
Patenschaften übernommen hat.
({4})
Die schlechten Ergebnisse liegen an Ihrer Ideologie, an
Ihrer Gleichmacherei, die Sie zugrunde legen.
({5})
Ich zeige Ihnen das an einem konkreten Beispiel: Wenn
Sie im Bereich des Hochsprungs erreichen wollen, dass
die Elite zwei Meter überspringt, dann gibt es nach dem
Training bestimmte Personen, die das schaffen und die
dann zur entsprechenden Elite gehören. Andere schaffen
es nicht, üben aber, möglichst hoch zu springen.
({6})
Sie machen es umgekehrt. Sie sagen, 50 Prozent müssen zu unserer Elite gehören, und hängen die Latte Stück
für Stück so weit hinunter, bis 50 Prozent darüber springen können. Das ist der falsche Weg.
({7})
Das Ergebnis, das dadurch zustande kommt, sehen Sie
auch, wenn Sie genauer hinsehen. Es wurde vorhin schon
angesprochen: Der Ausländer in Bayern hat eine bessere
Sprachkompetenz als der Deutsche in Bremen oder Nordrhein-Westfalen. Das müsste Ihnen eigentlich die Augen
öffnen.
({8})
Ich möchte an dieser Stelle einen herzlichen Dank an
alle Eltern aussprechen, die sich die Zeit nehmen, mit
ihren Kindern zu lernen. Häufig merkt man, dass gerade
dann entsprechende Leistungen erzielt werden können,
wenn sich Eltern Zeit nehmen, sich um ihre Kinder zu
kümmern, ihnen vorzulesen.
Ihnen, Herr Barthel, werfe ich noch etwas vor - Sie haben es angesprochen -: Hören Sie endlich auf, so zu tun,
als seien nur studierte Leute und Leute mit Abitur wichtige
und gebildete Leute! Auch Handwerker und Arbeiter können gebildet sein. Es kann nicht unser Ziel sein, ständig zu
erzählen, alle sollten das Abitur machen und studieren.
Das wäre der falsche Weg.
({9})
Nun hat der Kanzler das Thema Bildungspolitik entdeckt. In der heutigen Ausgabe der „Zeit“ zieht er seine Konsequenzen aus der PISA-Studie. Er spricht von
Klaus Barthel ({10})
bundeseinheitlichen Bildungsstandards, von Bundeskompetenz, die gestärkt werden müsse.
({11})
Als Vater von zwei Kindern sage ich Ihnen ganz egoistisch: Nein, das möchte ich nicht haben. Ich bin sehr froh,
dass meine Kinder in Baden-Württemberg zur Schule gehen, wo Frau Schavan Bildungsministerin ist,
({12})
und ich möchte nicht, dass meine Kinder von Bundespolitikern, von linker, von SPD-geführter Seite in der Schule
die entsprechende Ideologie beigebracht bekommen.
({13})
Es hat ja, meine Damen und Herren, schon fast den Anschein, als wolle der Bundeskanzler die Bildungspolitik
zur Chefsache machen. Ich sage dazu: Nur das nicht!
Chefsache Arbeitsmarkt - Schröder ist gescheitert. Chefsache Aufbau Ost - Schröder ist gescheitert. Herr
Schröder, Sie haben als Ministerpräsident in Niedersachsen keine vernünftige Bildungspolitik zustande gebracht.
Lassen Sie bitte jetzt als Kanzler auf Bundesebene die
Finger davon!
({14})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Marieluise Beck.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den deutschen Schulen bei 10 Millionen Schulkindern inzwischen 1 Million
Kinder mit Migrationshintergrund, - ich werde Ihnen
gleich erklären, weshalb ich diesen Zungenbrecher benutze -, deren Elternhäuser eher nicht deutschsprachig
sind, sondern in denen andere Muttersprachen gesprochen
werden. Das ist eine ganz große Herausforderung für ein
Schulsystem.
Wenn Sie in die Schulen gehen, stellen Sie fest, dass die
Schulen schon lange über das Bescheid wissen, worüber
wir im politischen Raum lange gestritten haben, ob wir
nämlich ein Einwanderungsland sind oder nicht. Den Lehrern und den Eltern in den Schulen ist seit langem bekannt,
dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Es ist in der
Tat so, dass es da sehr viele Herausforderungen, sehr viele
Schwierigkeiten und sehr viele Konflikte gibt. Ich glaube,
es gibt inzwischen fast eine Enttäuschung unter Lehrern,
unter Kindergärtnern, auch unter Eltern darüber, dass sich
das Problem des Spracherlernens nicht einfach von selbst
erledigt hat, obwohl die Einwanderung im Wesentlichen
jetzt schon die zweite und dritte Generation umfasst und
wir es kaum noch mit Kindern zu tun haben, die neu zuwandern, sondern eher mit Kindern, die schon hier geboren sind, der Statistik nach allerdings ausländisch sind.
Das aber weist uns auf ein Defizit hin, das unsere Institutionen pädagogisch und auch von den Curricula her
offensichtlich nicht ausreichend abgebaut haben, nämlich
Deutsch als Zweitsprache. Diese Aufgabe, die für ein
Zehntel unserer Kinder gilt, durchzieht den gesamten Bildungsweg vom Kindergarten, über insbesondere die
Grundschulen bis hinein in unsere Berufsschulen.
Wir müssen auch im eigenen Interesse diesen Weg verfolgen, wenn wir uns klar machen, dass es im Jahre 2050
nicht mehr 82 Millionen Bewohner dieses Landes geben
wird, sondern nur noch 57 Millionen. Das macht uns nicht
nur klar, dass wir eine älter werdende Gesellschaft sind,
sondern dass wir auch immer weniger Kinder haben werden. Daher wird es immer notwendiger, das Potenzial jedes einzelnen Kindes so optimal und so weit zu fördern,
wie es geht. Deshalb müssen wir den Blick auf die Migrantenkinder werfen.
({0})
Deutsch als Zweitsprache ist die zentrale Aufgabe. Da
führen oberflächliche Vergleiche - ich bekomme Probleme, wenn Sie nur eine Seite aus der dicken Studie herausreißen und sie präsentieren ({1})
nicht weiter. Da muss man sehr viel tiefer gehen. In
Schleswig-Holstein zum Beispiel leben 14 Prozent Migrantenkinder, in Bremen 40 Prozent. Das führt zu gänzlich unterschiedlichen Bedingungen,
({2})
wobei die Kategorie Ausländer gar nicht mehr weiterhilft;
denn die Spätaussiedlerkinder haben zwar den deutschen
Pass, sprechen aber oft nur russisch und die hier geborenen türkischen Kinder kommen oft mit der Muttersprache
Türkisch in die Schule. Die Kategorie Ausländer spiegelt
gar nicht mehr wider, womit wir es in den Schulen real zu
tun haben.
Klar ist: Es geht darum, Deutsch als Zweitsprache zu
fördern. Dazu müssen wir viel stärker als bisher den Blick
auf die frühkindliche Förderung lenken.
({3})
Das, was wir uns zum Teil im Gegensatz zu anderen Ländern an intellektueller Unterernährung in unseren Kindergärten leisten, passt nicht mehr zu einer modernen Erziehung.
({4})
Wir schulen im sechsten, oft erst im siebten Lebensjahr
ein. Das ist sehr spät; denn in vielen anderen Ländern wird
Axel E. Fischer ({5})
die frühkindliche Förderung bereits ab dem dritten oder
vierten Lebensjahr begonnen. Auch wir sollten das tun.
Schließlich sind die Kinder wissbegierig und wenn wir sie
unterfordern, tun wir ihnen keinen Gefallen.
Das bedeutet, auch die Erzieherinnen müssen eine andere Ausbildung erhalten, auch für sie muss das frühkindliche Erziehungsziel „Deutsch als Zweitsprache“ eine
wichtige Aufgabe im Spiel werden. Deswegen ist es sinnvoll, Sprachstandserhebungen zu machen. So kann rechtzeitig gefördert werden. Denn nur von der Einschulung
eines Kindes, das nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt, abzusehen, ist nur eine reine Abgrenzungsstrategie, die uns nicht voranbringt.
({6})
Die Grundschule wird in unserem Bildungswesen
stiefmütterlich behandelt. Das sehen wir allein schon an
den Ressourcen, die dafür vorgesehen sind. Dort aber geht
es um die Grundlagen. Man baut ein Haus schließlich von
unten und nicht von oben auf. Wir brauchen die Förderung
der Sprachkompetenz in allen Fächern, nicht nur in
Deutsch. Dazu gehört auch, dass wir in Schulen mit einem
hohem Anteil von Kindern, die einen anderen religiösen
und kulturellen Hintergrund haben, die nötige Wertschätzung dafür aufbringen.
Lernen geht nicht nur über die Ratio, sondern auch über
die Seele. Wenn die Kinder das Gefühl haben, dass das,
was sie an Traditionen - Feste, religiöse Feiertage und ihre
Muttersprache - mitbringen, etwas wert ist, werden sie
sich schneller und leichter mit unserem Land und der Sprache unseres Landes identifizieren können. Es liegt an uns,
ein Angebot zur Identifikation und Förderung zu machen.
Wir brauchen den Kopf und den Geist jedes einzelnen Migranten, jedes einzelnen Kindes in diesem Land.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Frau Staatsministerin für Unterricht und Kultus
des Freistaats Bayern.
Monika Hohlmeier, Staatsministerin ({0}): Frau
Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
darf zunächst einmal meine kurze Redezeit nutzen, um
die Dinge geradezurücken, die geradegerückt werden
müssen.
Als Erstes möchte ich gerne wissen, Frau Bundesministerin, ob Sie wie der Bundeskanzler die Bundeskompetenz anstreben oder nicht. Das wüsste ich gern genau,
denn dann könnte man dazu Stellung nehmen.
({1})
Ich halte beide Linien für falsch; denn ich glaube, wir
wären schon in den vergangenen 20 Jahren wesentlich
weiter gekommen, wenn die SPD-regierten Länder auch
die Qualitätskriterien erfüllt hätten, die in den unionsregierten Ländern angelegt wurden.
({2})
Zweitens. Sie haben gesagt, unsere Kinder dürften
nicht vom Wohnort abhängig sein. Das ist in der Tat wahr.
Aber es sind doch nicht München oder Stuttgart oder
Dresden, wo sie die größten Probleme haben, sondern
Bremen steht auf dem Platz kurz vor Mexiko, und der
Stadtstaat ist doch wohl lange genug von Ihnen regiert
worden. Das heißt, die Anschuldigungen laufen in die völlig falsche Richtung. Ich halte es für notwendig, einmal
darüber nachzudenken, dass Kinder aus Bremen, aus Niedersachsen, aus Nordrhein-Westfalen, aus Sachsen-Anhalt und aus Brandenburg eigentlich dieselbe Begabung
haben wie Kinder in den Ländern Bayern und BadenWürttemberg oder Sachsen und dass sie denselben Anspruch auf Förderung haben.
({3})
Herr Tauss hat dann die Worte von Annette Schavan
streitig gestellt, dass die SPD Qualitätsstandards über
Jahre hinweg abgelehnt habe. Es ist richtig, was Annette
Schavan sagt. Ich erinnere mich noch gut daran, dass
Hamburg, als wir in der Kultusministerkonferenz darum
gekämpft haben, ein fünftes Abiturfach einführen zu dürfen, damit gedroht hat, das bayerische und das badenwürttembergische Abitur nicht mehr anzuerkennen.
({4})
Das sind die Tatsachen, die sich in der Kultusministerkonferenz ereignet haben. Hinzu kommt, dass die Union
dann für Eisenach die Qualitätsstandards vorgelegt hat
und die SPD schließlich nach langjährigen Diskussionen
zugestimmt hat, endlich länderübergreifende Qualitätsstandards zu akzeptieren, die die Union über Jahre hinweg
verlangt hat.
({5})
Ich darf Ihnen auch etwas über die Begeisterung der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Parteivorstand, Arbeitsgemeinschaft für Bildung in der SPD, vorlesen. Das dürfte ja nicht eine Untergruppierung bei Ihnen
sein. Daran wird deutlich, was Sie von PISA und einem
länderübergreifenden Schulformvergleich gehalten haben. Dort heißt es:
Diese Stichprobe ermöglicht also keinen Länder-,
sondern nur einen länderübergreifenden Schulformvergleich. Hier scheinen sich Wünsche der CDULänder durchgesetzt zu haben, die offenbar beweisen
wollen, dass ihre Schulformen „besser“ sind. ... Es ist
ohne Test vorherzusagen, dass Länder mit selektiven
Schulsystemen, die den Strukturreformen der letzten
30 Jahre widerstanden haben, bessere Schülerleistungen in allen Schulformen haben werden.
({6})
So das Zitat aus einem Brief Ihres Parteivorstandes!
({7})
Marieluise Beck ({8})
Wenn man zentrale bundeseinheitliche Standards haben möchte und plötzlich vonseiten der SPD Bundeskompetenz für sich beansprucht, dann ist das nur ein
Vertuschen dessen, was an Standards in den SPD-regierten Ländern gegolten hat.
Jetzt gebe ich Ihnen auch mal schöne Beispiele,
({9})
damit man weiß, wovon man redet, und zwar ganz konkret.
„Struwwelpeter“ oder „Faust“? Überlegungen zum
Literaturunterricht in der gymnasialen Oberstufe für
Kollegschüler in Nordrhein-Westfalen.
In Nordrhein-Westfalen wurde für immerhin 19-jährige
Abiturienten vorgeschlagen, man möge als Literatur den
„Struwwelpeter“ wählen.
({10})
Dort ist zu lesen, dass sich Kinderbuchtexte für den Unterricht besonders gut eigneten, vielleicht besser als wissenschaftliche und literarische Texte. Ich zitiere: „Kinderbuchtexte sind relativ kurz und bieten wegen ihrer
einfachen Struktur kaum Verständnisschwierigkeiten.“
({11})
Weiter ist dort zu lesen: „Das hat den Vorteil, dass der
Schüler bei der Arbeit nicht die Übersicht verliert und
nicht alle seine Kräfte dafür einsetzen muss, den Wortlaut
überhaupt einigermaßen zu begreifen.“
({12})
Außerdem - so steht hier - „ermuntern Kinderbuchtexte
wie keine anderen Texte zur Umarbeitung und zu Gegenentwürfen.“ Die Rezensentin weist dann natürlich auch
darauf hin, dass Generationen von Gymnasiasten aufbegehrt haben - ({13})
- Ich weiß, dass Sie das stört, Herr Tauss, aber man muss
ja mal Fakten vorlesen. Vielleicht sind Sie mal ein bisschen still. Wenn Sie angesichts Ihrer Standards nervös
werden, verstehe ich das. Aber Demokratie heißt zuhören
können, wenn ein anderer redet.
({14})
Es steht dann auch noch darin, dass Gymnasiasten in
Nordrhein-Westfalen aufbegehrt hätten, weil der „Faust“
zu Tode geritten worden sei und die Behandlung doch etwas länger dauere als beim „Struwwelpeter“.
({15})
In den hessischen Rahmenrichtlinien - darum will
ich keine Bundesrichtlinien der SPD haben - steht so
schön zur Rechtschreibung, die normalerweise doch zu
den Grundlagen gehört: „Daraus folgt, dass die Überbewertung der Rechtschreibung in Schule und Öffentlichkeit korrigiert werden muss und dass die Schule die
Beherrschung der Rechtschreibung nicht zum Kriterium für Eignungsbeurteilungen und Versetzungen machen darf. Mangelnde Rechtschreibleistungen in der
Schule sind bei genügenden sprachlichen Kommunikationsfähigkeiten kein Grund für die Benachteiligung eines Schülers.“
Sie haben Rahmenrichtlinien gemacht, die die Ursache
dafür waren, dass die Schüler in den von Ihnen langjährig
regierten Ländern so schlecht bei der PISA-Ländervergleichsstudie abgeschnitten haben. Auf solche Richtlinien
kann ich verzichten.
({16})
Nun komme ich zum nächsten Klischee: Ganztagsschule. Frau Bundesministerin, ich stelle mir die Frage,
warum die in Bayern in der halbtägigen Hauptschule geförderten Schülerinnen und Schüler besser abschneiden
als der Durchschnitt der ganztägig geförderten Gesamtschüler in Nordrhein-Westfalen.
({17})
Diese Frage stelle ich mir schlicht und einfach.
Wenn Sie in Ihren Ländern Unterricht von schlechter
Qualität liefern, können Sie halbtags oder ganztags unterrichten, die Schüler werden nicht besser gefördert. Was
wir hauptsächlich brauchen, ist, die Qualität des Unterrichts zu steigern. Hierbei ist der Nachholbedarf in den
langjährig von Ihnen regierten Ländern fünfmal so hoch
wie bei uns.
({18})
Wir lehnen uns aber nicht selbstzufrieden zurück. Wir
arbeiten weiter. Die Qualitätsoffensiven in Sachsen, Bayern und Baden-Württemberg sowie jetzt auch in Hessen
und Sachsen-Anhalt, die jetzt mit einer neuen Regierung
aufzuholen versuchen, sind fulminant. Ich bitte Sie, Herr
Tauss, erst einmal nachzulesen, bevor Sie versuchen, allein durch Lautstärke zu überzeugen.
({19})
Es gibt eine Fülle von Programmen, um die Qualität
zu verbessern. Aber eines will ich in dem Zusammenhang schon sehr deutlich zum Ausdruck bringen: Es gibt
gar keine ideologische Debatte um Ganztagsschulen.
Wir akzeptieren mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Förderung von Kindern und
Jugendlichen Ganztagsangebote wie die Ganztagsschule.
({20})
Ich finde es aber nicht besonders innovativ, wenn vonseiten der SPD in den 70-er Jahren ein nationaler Bildungsplan und Ganztagsschulen gefordert worden sind und jetzt
nach der PISA-Studie wiederum ein nationaler Bildungsplan und Ganztagsschulen gefordert werden. Mit PauschalStaatsministerin Monika Hohlmeier ({21})
rezepten kommen wir nicht weiter, sondern nur mit einer
präzisen Analyse von PISA sowie exakten Maßnahmen.
({22})
- Ja, für Sie, Herr Tauss, und Ihre Nachbarn mache ich mit
der präzisen Analyse gleich weiter: Migrantenkinder.
Herr Loske, hinsichtlich dieses Punktes leiden Sie unter
einer gewissen Wahrnehmungsstörung.
({23})
Die Migrantenkinder in Bayern oder auch in Baden-Württemberg stehen auf einem durchschnittlichen OECD-Niveau und damit wesentlich höher als die Kinder in
langjährig von SPD und Grünen regierten Ländern. Integration funktioniert in diesen Ländern also dreimal so gut
wie bei Ihnen. Wir nehmen auch Migrantenkinder ernst
und wollen sie fördern, weil sie ansonsten nicht am Bildungswesen teilhaben können.
({24})
Es waren doch Ihre Parteien, die ununterbrochen gesagt haben: Zwangsgermanisierung. Wenn man aber Kindern kein Deutsch vermittelt, können sie in Deutschland
am Bildungswesen auch nicht teilnehmen. Dann haben sie
keine Chance.
({25})
Nun zur Abiturientenquote: Sie machen sich regelrecht
lächerlich. Bayern hat eine Abiturientenquote nicht von
20 Prozent, sondern von 30 Prozent. Die Bundesministerin weigert sich aber, diejenigen wahrzunehmen, die über
die berufliche Bildung das Abitur erlangen und über die
Fachoberschulen und Berufsoberschulen weitergebildet
werden, und sie als Abiturienten anzuerkennen. Das halte
ich für eine Beleidigung dieser jungen Menschen.
({26})
Des Weiteren bilden der Freistaat Bayern und auch Baden-Württemberg 50 Prozent mehr Meisterinnen und
Meister im Handwerk aus. Wir bilden wesentlich mehr
aus! Das bedeutet in der Konsequenz, dass wir junge
Menschen nach ihren Begabungen fördern. Wenn bei uns
über 50 Prozent der jungen Menschen entsprechend mehr
gebildet und gefördert werden und dann einen höheren
Abschluss haben, dann nenne ich dies wirkliche Bildung.
In dem Zusammenhang wünsche ich mir, dass wir
wirklich einmal sachlich debattieren und keine Pseudodiskussionen führen, um letztendlich zu verschleiern, wie
schlecht Sie Bildungspolitik betrieben haben.
({27})
Das Wort hat
jetzt der Herr Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Hohlmeier,
Sie haben ein Musterbeispiel für Reden geliefert, die vielleicht im Bayerischen Landtag und bei Ihren Parteifreunden große Heiterkeit erregen, aber etwa beim Bundeselternrat Unwillen auslösen und bei den betroffenen
Familien, vor allem bei denjenigen, die auf Mobilität angewiesen sind, und bei Firmen, die bundesweit vertreten
sind, Ratlosigkeit hervorrufen.
({0})
Eines steht doch fest: Das deutsche Bildungssystem
steht insgesamt auf dem Prüfstand. Wir alle müssen uns im
europäischen Bildungsraum und darüber hinaus dem vergleichenden Wettbewerb stellen. Spätestens hinter den
deutschen Grenzen ist die Frage des Vergleichs zwischen
Hessen und Rheinland-Pfalz nicht mehr so spannend. Wir
stehen im internationalen Vergleich. Deshalb stehen - das
ist das Neue gegenüber der Bildungsdiskussion der 70erund 80er-Jahre - länderübergreifende Schwerpunkte und
Schritte zur Bildungsreform an, im schulischen Bereich
wie in der vorschulischen Erziehung, aber auch in anderen
Bereichen, bei denen der Bund eine Mitkompetenz hat.
({1})
Wir sind in dieser Legislaturperiode von einer Phase
des Nichtverhältnisses zwischen Bund und Ländern in
der Bildungspolitik weggekommen. Das Scheitern des
großen Bildungsgipfels von Helmut Kohl - viel heißer
Wind, aber nichts passiert - ist noch in Erinnerung. Bildungsminister Rüttgers hat außer einigen schlauen Zeitungsaufsätzen nichts zustande gebracht.
({2})
Wir haben 1999 die Länder zu einem Forum Bildung
eingeladen, in dem ohne das Pochen auf verfassungsrechtliche Zuständigkeit gemeinsame Zielsetzungen in einer länderübergreifenden Bildungsreform erarbeitet worden sind.
({3})
Eine der zentralen Aussagen war: Das deutsche Bildungssystem hat seinen Hauptmangel darin, dass wir nicht in
der Lage sind, zu einer frühzeitigen Ermittlung der individuellen Begabung und zu einer angemessenen Förderung der unterschiedlichen Begabungen unserer Kinder
vor allem in den ersten zehn Lebensjahren zu kommen.
Hier haben wir ein Strukturdefizit, von dem sich kein
Bundesland im internationalen Vergleich frei machen
kann.
({4})
Wenn es um die Rolle des Bundes geht, kann ich dazu
sagen: Wir haben in diesen Jahren begonnen, notwendige
Entwicklungen zu fördern. Wir haben das Berufsschulprogramm aufgelegt, um die IT-Ausstattung zu fördern.
Das haben die Länder dankbar aufgenommen. Wir haben
jetzt das Angebot zur Förderung der Ganztagsschulen mit
Staatsministerin Monika Hohlmeier ({5})
einem 4-Milliarden-Euro-Programm gemacht. Der Bundeskanzler hat heute angekündigt, dass wir in der nächsten Legislaturperiode ein spezielles Programm zur Unterstützung der Bemühungen der Länder im Bereich der
frühkindlichen Erziehung auflegen wollen.
({6})
Hier ist der Bund ohne verfassungsrechtliche Debatten
zur Förderung bereit. Aber eines muss klar sein: Auch der
Bund muss seine Rolle in seiner Formulierung bildungspolitischer Zielvorstellungen und Forderungen wahrnehmen: fördern und fordern. Deshalb geht es zum Beispiel
auch um eine nationale länderübergreifende Evaluationsagentur. Wir haben die Akkreditierungsagentur für die
Hochschulen mit ins Leben gerufen, und zwar ohne
verfassungsrechtliche Zuständigkeiten. Wir haben sie mit
gefördert. Warum sollen wir nicht denselben Weg im Bereich einer bundesweiten Evaluationsagentur gemeinsam
gehen?
({7})
Wenn es um die verfassungsrechtlichen Fragen geht,
dann kann man auch den Möchtegernkanzler, Herrn
Stoiber, der in den letzten Tagen von der letzten Chance
für die Kultusministerkonferenz gesprochen hat, fragen:
Was passiert denn, wenn die KMK diese letzte Chance
nicht nutzt? Diese Frage wirft auch Gerhard Schröder in
seinem Zeitungsartikel auf.
Ich ende mit einem letzten Satz. Frau Hohlmeier, Sie
hätten besser daran getan, uns zu erklären,
({8})
warum ein Bildungssystem mit einem Anteil von 43 Prozent Hauptschulabschlüssen und 9 Prozent fehlenden Bildungsabschlüssen ein zukunftsorientiertes Bildungssystem darstellt.
Danke.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Werner Lensing.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Einlassung
des Herrn Parlamentarischen Staatssekretärs Catenhusen
veranlasst mich, etwas nicht nur festzustellen, sondern geradezu an- und einzuklagen: Obwohl Schuluntersuchungen in den 60er- und 70er-Jahren für Deutschland bereits
ähnlich schlechte Ergebnisse wie TIMSS und PISA heute
ausgewiesen haben, wurden diese nicht zum Anlass genommen, die Leistungen von Schulen in den Blickpunkt
der weiteren Diskussionen, Bildungsplanungen und der
Professionalisierung zu nehmen. Nein, man entschied
sich stattdessen lieber dafür, an weiteren Tests gar nicht
teilzunehmen, schloss die kurzsichtigen Augen und frönte
seinen tradierten Bildungsvorstellungen. Das taten vor allem diejenigen, die als Ideologen andere Ideologen der
Ideologie bezichtigten.
({0})
Ich stelle nicht nur fest, sondern klage auch an:
Während im europäischen Ausland intensive Entwicklungsprozesse eingeleitet wurden, stützten sich so manche Schulpolitiker in Deutschland in den letzten 30 Jahren auf ideologische Überzeugungen und Annahmen,
die im Wesentlichen in Strukturfragen oder in der Dauer
der Schulzeit bis zum Abitur ihre jeweilige unterschiedliche Ausprägung erhielten. Inzwischen ist uns
bis auf wenige Ausnahmen bekannt, zu welch unterschiedlicher Ausprägung und zu welchen katastrophalen Ergebnissen diese Strategie geführt hat. Deswegen
nutzt es nichts - so verständlich es auch sein mag, Herr
Michael Müller -, wenn Sie jetzt versuchen, die Einheit
zu beschwören.
Ein gemeinsames Handeln basiert auf einer soliden
Analyse, zu der wiederum eine sorgfältige Ursachenforschung gehört. Als Mitbürger aus Nordrhein-Westfalen
möchte ich Folgendes anmerken: Dort und in anderen
SPD-regierten Bundesländern wurde die Schule vielfach
so dargestellt, als sei sie für unsere Kinder nur eine Bedrohung. Ich möchte das anhand einiger trauriger Fakten
belegen:
Erstens. Der Begriff Leistung verfiel zu einem PfuiWort.
({1})
Zweitens. Eliteförderung galt als ebenso verpönt wie
eine solide Hauptschulbildung.
Drittens. So problematisierte man lieber, statt zu lernen.
Viertens. Das Bildungswesen wurde stattdessen bis tief
in die Hochschulen hinein weitestgehend kollektiviert.
Fünftens. Kant beispielsweise diente primär zur Kapitalismuskritik.
({2})
Sechstens. Die Erdkundestunde mutierte zum DritteWelt-Laden.
Siebtens. Der Religionsunterricht verkümmerte viel zu
häufig zu alltagsethischen Betrachtungen und soziologischen Studien.
Achtens. Eine wachsende Bildungsbürokratie presste
den so genannten Bildungskanon in Rahmenrichtlinien,
die unter anderem in den Hauptschulen wegen der Unerreichbarkeit ihrer Unterrichtsziele nur als „Blaues Wunder“ firmierten.
Neuntens. Der Finanzminister diktierte mit seinem
Einsparprogramm in weiten Bereichen die Schulpolitik.
Zehntens. Die Klassen wurden größer und die Lehrer
immer älter, wobei zusätzlich deren Motivation durch den
heutigen Bundeskanzler bekanntlich dadurch ungemein
gefördert wurde, dass er diese nicht primär als menschliche Wesen begriff, sondern als Verbrauchsware, nämlich
als „Säcke“, angereichert durch ein vernichtendes Beiwort, das mit dem Begriff Fleiß nichts mehr zu tun hatte.
({3})
So simpel kreiert man Vorbilder und einen Ansporn für die
lernende Jugend.
Damit die Nivellierung im allgemeinbildenden Schulwesen nicht so schamlos offenbar wurde, schuf man mit
reichlich ideologischem Eifer eine neue - sprich: vierte Schulform, in der ein jeder zunächst einmal ohne Versetzung bis in die 9. Klasse aufsteigen kann. Das ist wirklich klasse.
({4})
Insofern frage ich: Ist es denn wirklich ein Wunder,
wenn mehrere Studien klar erbracht haben, dass Gesamtschüler gegenüber Gymnasiasten und Realschülern in
Englisch, Mathematik, Physik und Biologie Leistungsrückstände von mehr als zwei Schuljahren aufweisen?
({5})
Ist es nicht auch schlimm, dass gerade dort, wo die
Hauptschule sträflich vernachlässigt wurde, ein zentrales
Reservoir der Betriebe für die Rekrutierung von Facharbeitern weggebrochen ist? Deswegen stelle ich fest: Im
Gegensatz hierzu ist an den Ländern mit den besseren Ergebnissen, wie Bayern und Baden-Württemberg, die Debatte um die Gesamtschule als Einheitsschule vorübergegangen.
({6})
Schließlich hat PISA ebenso eindeutig wie beeindruckend bewiesen: Im deutschen Bildungskontext begünstigen erst leistungsstarke Haupt- und Realschulen ein
starkes Gymnasium. Deswegen betone ich im Hinblick
auf alle Fragen, über die wir uns verständigen wollen,
dass es wichtig ist, zu erkennen, dass Benachteiligtenförderung und Begabtenförderung zusammengehören, da
sich gezielte Förderung und Leistungsansprüche nicht
ausschließen, sondern wechselseitig bedingen.
({7})
Herr Kollege
Lensing, auch Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Das ist zwar ein Jammer für das deutsche Volk, aber ich sehe es durchaus ein.
({0})
Gestatten Sie mir noch einen Satz: Allein aus diesem
Grunde ist die lebensferne Forderung nach nationalen
Antworten aller Art schon vom Ansatz her verfehlt, Frau
Bundesministerin Bulmahn, weil sie nicht umsetzbar ist.
Eine neue zusätzliche Bundeskompetenz bringt gar nichts.
Das war schon
mehr als ein Satz. Ich muss Sie jetzt wirklich bitten aufzuhören.
Ich bin am Schluss.
Danke schön.
({0})
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Dr. Jürgen Meyer ({0}), Erika Simm,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
sowie den Abgeordneten Volker Beck ({1}),
Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({2}),
Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts
- Drucksache 14/9358 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Joachim Stünker.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach der Bildungsdebatte jetzt zur Justiz! Die
PISA-Studie wurde eine Stunde diskutiert.
({0})
- Ja, länger. - Vielleicht sollten wir so etwas Ähnliches
wie die PISA-Studie auch einmal zum Zwecke des
Rechtsvergleichs innerhalb der EU und zur Qualität der
Rechtsprechung in der EU machen.
({1})
Möglicherweise würden wir dabei wiederum einige Überraschungen erleben.
({2})
Heute Nachmittag, zum Ende der Legislaturperiode
hin, wollen wir noch einmal auf das geltende Sanktionensystem im Strafrecht zurückkommen, das Geld- und Freiheitsstrafen als Hauptstrafen vorsieht. Diese Beschränkung auf Geld- und Freiheitsstrafen als Hauptstrafen gibt
den Gerichten zu wenig Gestaltungsmöglichkeiten im
Rechtsfolgenausspruch. Insbesondere im Bereich kleinerer und mittlerer Kriminalität kann mit diesen Sanktionsmitteln zunehmend nicht mehr in geeigneter Weise mit
spezialpräventiver Zielrichtung auf Straftäter eingewirkt
werden. Wenn für ein bestimmtes Delikt eine Geldstrafe
ausgesprochen wird, dann wird diese einen Täter mit
weißem Kragen nicht sehr beeindrucken; dem Täter, der
wirtschaftlich sehr schlecht gestellt ist, droht dagegen
letztlich die Ersatzfreiheitsstrafe.
Seit Mitte der 80er-Jahre hat es daher wiederholt Initiativen zu einer Umgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems gegeben. Bereits in der 10. Legislaturperiode hatte der Rechtsausschuss die Bundesregierung in
einer Beschlussempfehlung aufgefordert, darüber zu berichten, ob der Katalog der staatlichen Sanktionen zu verändern ist. Die damalige Bundesregierung sah keinen
Handlungsbedarf.
Dennoch empfahl bereits der 59. Deutsche Juristentag
in Hannover im Jahr 1992 Ergänzungen und Modifikationen des geltenden Rechts. Schon seinerzeit wurden verstärkte Anreize für Wiedergutmachung und Täter-OpferAusgleich gefordert und ebenso die Ausweitung des
Anwendungsbereichs der Verwarnung mit Strafvorbehalt
und auch die Erhebung des Fahrverbots zur Hauptstrafe.
In der 12. und der 13. Legislaturperiode gab es Gesetzentwürfe der SPD-Fraktion, die jeweils der Diskontinuität unterfielen. Die damaligen Regierungskoalitionen
sahen keinen Handlungsbedarf.
Das BMJ hat noch in der letzten Legislaturperiode eine
Expertenkommission zu diesem Themenbereich eingesetzt, die einen Bericht vorgelegt hat.
({3})
- Aber eben sehr spät, Herr van Essen.
({4})
- Das bezog sich auf die 10. Wahlperiode. Ich habe ein
bisschen Historie gemacht. Wenn Sie richtig zugehört hätten,
({5})
hätten Sie das verstanden, Herr Kollege van Essen.
({6})
Wir haben nunmehr einen Entwurf vorgelegt, der die
ambulanten Sanktionsmöglichkeiten für Straftaten im Bereich der kleinen und mittleren Kriminalität erweitern und
dabei insbesondere der Vermeidung von kurzen Freiheits- und Ersatzfreiheitsstrafen dienen soll. Wir wollen damit unerwünschte Nebenwirkungen von Freiheitsstrafen vermeiden oder abschwächen und vor allem den
Strafvollzug entlasten. Darüber hinaus soll mit dem Entwurf für eine bessere Berücksichtigung der Opferinteressen im Rahmen des Geldstrafensystems gesorgt werden.
Es handelt sich hierbei im Einzelnen um vier Bereiche,
die ich kurz skizzieren möchte:
Erstens ist die Erweiterung des Anwendungsbereichs
der gemeinnützigen Arbeit zu nennen. Zukünftig soll die
gemeinnützige Arbeit die primäre Ersatzstrafe bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe sein. Hierdurch werden
kurze Freiheitsstrafen für wirtschaftlich schlecht gestellte
Personen respektive Täter vermieden.
Gegenwärtig verbüßen etwa 20 Prozent der Gefangenen in der Bundesrepublik Deutschland Freiheitsstrafen
von weniger als sechs Monaten. Ein Großteil hiervon sind
die genannten Ersatzfreiheitsstrafen. Ich denke, die in der
Justiz und im Strafvollzug Tätigen sind sich darin einig,
dass dieser Personenkreis letzten Endes nicht in den Vollzug gehört.
({7})
Sowohl von der Gewichtung des Deliktes als auch von der
Täterpersönlichkeit her sind das keine Knackis, wie man
im Jargon sagen würde.
Zweitens: Erweiterung des verkehrsstrafrechtlichen
Fahrverbots. Das Fahrverbot soll in seinem bisherigen
Anwendungsbereich zur Hauptstrafe heraufgestuft werden. Die zeitliche Höchstdauer soll von jetzt drei Monaten auf sechs Monate ausgedehnt werden. Außerdem soll
für so genannte Zusammenhangstaten, für Straftaten
durch Benutzung eines Pkws, das Fahrverbot in Zukunft
Regelsanktion sein. Wer bei der Vorbereitung oder Begehung einer Straftat, welcher Art auch immer, ein
Kraftfahrzeug benutzt, muss zukünftig damit rechnen,
dass gegen ihn ein Fahrverbot verhängt werden kann.
Damit schließen wir eine Lücke, die in der Praxis über
die letzten 10, 15 oder 20 Jahre immer wieder beklagt
worden ist.
({8})
Das Dritte ist die Erweiterung der Verwarnung mit
Strafvorbehalt, § 59 a StGB. Diese Vorschrift scheint
insbesondere in süddeutschen Ländern weitgehend unbekannt zu sein, wenn man die Statistiken betrachtet. Wir
schlagen vor, diese jetzige Kann-Vorschrift zu einer
Muss-Vorschrift umzugestalten. Das klingt vielleicht so,
als wäre es kein besonders großer Schritt, aber indem wir
daraus eine Muss-Vorschrift machen, nach der bei Vorliegen der Regelbeispiele, die im Tatbestand stehen, geprüft
werden muss, ob Verwarnung mit Strafvorbehalt zu verhängen ist, und nach der auch zu begründen ist, wenn man
einen anderen Weg geht, und weil das Urteil ja revisibel
ist, wird genau diese Änderung in der strafrichterlichen
Praxis große Bedeutung bekommen und zu einer großen
Veränderung führen.
Der vierte Bereich ist der Hauptansatzpunkt in dem
vorliegenden Reformpaket, nämlich Verbesserungen im
Bereich der Geldstrafe. Im Vordergrund und letztendlich
im Mittelpunkt des gesamten Gesetzentwurfes steht die
bessere Berücksichtigung von Opferinteressen. Bereits
seit mehr als 20 Jahren befürworten Kriminologen und
Strafrechtswissenschaftler mit wachsendem Nachdruck
eine Verbesserung der Stellung von Verbrechensopfern.
Mit dem vorliegenden Entwurf soll dieser Schritt nun
konsequent umgesetzt werden. Wir sind der ÜberzeuJoachim Stünker
gung, dass Verbrechensopfer und ihre Interessen in den
Mittelpunkt der Rechtspolitik gehören.
({9})
Teil dieser stärken Berücksichtigung der Opferinteressen
ist die stärkere Förderung von Opferhilfeverbänden. Sie
sollen nach dem Vorschlag zukünftig ein Zehntel aller
Geldstrafen erhalten, die wegen der Schädigung anderer
Personen gezahlt werden müssen. Zudem ist in dem Gesetzentwurf eine Stärkung der direkten Schadenswiedergutmachung durch den Täter gegenüber dem Opfer vorgesehen. Zukünftig soll der Täter zunächst die verhängte
Geldstrafe nicht bezahlen müssen, wenn er aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage dem Opfer ansonsten keine Entschädigung zahlen könnte. Auch dies ist, wie ich meine,
ein ganz wichtiger neuer Schritt und ein richtiger Ansatz.
({10})
Damit wird den Wiedergutmachungsansprüchen des Opfers bei der Vollstreckung von Geldstrafen der Vorrang
eingeräumt. Darüber hinaus soll das Gericht anordnen
können, dass die Vollstreckung der verhängten Geldstrafe
ganz oder zum Teil unterbleiben kann, wenn der Täter
durch Wiedergutmachungsmaßnahmen gegenüber dem
Opfer aktiv geworden ist und die nunmehrige Vollstreckung für ihn wegen der erbrachten Leistungen gegenüber dem Opfer unter Berücksichtigung seiner persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eine
besondere Härte darstellen würde. Hierdurch wird verhindert, dass der Anspruch des Staates auf die Geldstrafe
in eine das Opfer benachteiligenden Konkurrenz zu dessen Anspruch auf Schadenersatz tritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle, die seit Jahrzehnten im Bereich des Strafrechts tätig sind - das gilt
aber auch traditionell im deutschen Strafrecht -, kennen
die Strafprozessordnung zu Recht als Magna Charta des
Beschuldigten, wonach der Beschuldigte mit der Unschuldsvermutung bis zu einer Verurteilung mit Rechten
ausgestattet ist, die in einem Rechtsstaat unumgänglich
sind. Das ist keine Frage.
Mithilfe der Vorschläge, die wir Ihnen heute vorlegen,
verändern wir einiges: Die Strafprozessordnung wird zu
einem Gesetz zum Schutz von Opfern von Straftaten. Das
ist eine notwendige Ergänzung, die rechtzeitig vorgenommen wird.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Die Legislaturperiode geht zu Ende. Im Laufe dieser Legislaturperiode hat sich gezeigt - ich habe das hier, im Plenum, schon
ein paarmal gesagt -, dass die Rechtspolitik über den kleinen Kreis der Interessierten, der Fachleute hinaus wieder
als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen
wird. Die Rechtspolitik wird inzwischen nicht mehr nur in
Fachzeitschriften diskutiert.
Wir haben in diesen vier Jahren sehr viel bewegt. An
dieser Stelle möchte ich der Justizministerin ausdrücklich
den herzlichen Dank der Koalitionsfraktionen für ihr Engagement und den Mut, mit dem sie diesen Weg mit uns
gemeinsam gegangen ist, aussprechen.
({11})
Wir haben vieles auf den Weg gebracht. Ich denke, dass
wir diese Politik werden fortsetzen können.
Der vorliegende Gesetzentwurf gehört zu dem großen
Aufgabengebiet „Modernisierung der Justiz“. Dieses
Aufgabenfeld ist noch lange nicht abschließend bearbeitet; allerdings sind wir schon ein gutes Stück auf diesem
Weg vorangekommen. Nach dem 22. September werden
wir diesen Weg in der Regierungsverantwortung konsequent weitergehen.
Schönen Dank.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Rechtspolitik ist
sicherlich von großer Bedeutung. Es erfolgen Weichenstellungen, die vielleicht erst in ferner Zukunft wirken.
Rechtspolitik ist nicht spektakulär und erfährt deshalb
kein großes Interesse. Das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. Das stellen wir auch fest, wenn wir hier in die
Runde schauen.
Dennoch sind die Themen, die wir zu behandeln haben,
sehr wichtig. Sie betreffen die Öffentlichkeit, selbst dann,
wenn die Öffentlichkeit diese Themen nicht immer so
wahrnimmt, wie wir das gerne hätten und wie es der Sache gerecht würde.
Das Sanktionensystem ist ganz gewiss ein solches
Thema. Darüber wurde lange diskutiert. Eine Kommission wurde eingesetzt, die zur Mitte der Legislaturperiode
einen Bericht vorgelegt hat. Es wurde ein Referentenentwurf erstellt, über den diskutiert wurde. Letztendlich
wurde er allerdings zu großen Teilen abgelehnt. Leider
liegt der eigentliche Gesetzentwurf erst jetzt vor. Er wird
der Diskontinuität verfallen, das heißt, dieser Gesetzentwurf kann keine Rechtswirksamkeit mehr erlangen. Wir
wissen, dass sich die Koalition nicht einig geworden ist.
Die Buschtrommel hat uns mitgeteilt,
({0})
dass die Grünen, vor allen Dingen Sie, Herr Ströbele,
blockiert haben. Deswegen liegt uns heute eigentlich
nicht mehr als ein Diskussionsentwurf vor. Wir können
darüber zwar diskutieren; wenn wir ihn aber verabschieden wollten, müssten wir das schon in der nächsten Woche tun. Das würde der Sache nicht gerecht werden.
Die Grünen haben in den vergangenen vier Jahren insgesamt ziemlich viel blockiert.
({1})
Es gab Ansätze, die wir als beachtenswert beurteilt haben.
Die Grünen haben aber versucht, möglichst viele ihrer
ideologischen Vorstellungen in der Rechtspolitik durchzusetzen. Sie haben viele Gesetzentwürfe schon im Ansatz blockiert und sich damit ganz gewiss als regierungsunfähig erwiesen.
Lassen Sie mich zur Sache zurückkommen. Dieser Gesetzentwurf enthält immerhin nicht mehr die Punkte des
Referentenentwurfs, die wir am heftigsten attackiert haben. So wurde die Ausweitung des Halbstrafenerlasses
herausgenommen. Auch auf den Ersatz von Gefängnisstrafen bis zu sechs Monaten durch gemeinnützige Arbeit,
das so genannte Schwitzen statt Sitzen, wurde verzichtet.
Andere Überlegungen wurden in den Referentenentwurf
gar nicht erst aufgenommen: das „polizeiliche Strafgeld“
oder die Ausdehnung der Bewährung von zwei auf drei
Jahre Gefängnisstrafe.
All diese Überlegungen sind in diesem Entwurf jetzt
nicht mehr vorhanden. Da hat sich offenbar die öffentliche Debatte gelohnt. Es hat sich aber auch der Widerstand
von unserer Seite gelohnt. Insoweit als hier Vernunft eingekehrt ist, können wir unsererseits einen Erfolg verzeichnen.
Aber auch das, was jetzt noch vorliegt, kann unsere Zustimmung zunächst einmal nicht finden. Es ist ja, wie gesagt, ein Diskussionsentwurf. Deshalb brauchen wir uns
keine Gedanken darüber machen, wie wir darüber eines
Tages abstimmen. Wir werden darüber nicht mehr abstimmen.
({2})
Die Vorschläge jedenfalls, die jetzt gemacht werden,
finden nicht unsere Zustimmung. Das gilt ganz gewiss für
die Ableistung gemeinnütziger Arbeit anstelle einer Ersatzfreiheitsstrafe. Im Augenblick haben wir die Regelung, dass der, der keine Geldstrafe bezahlt, mit einer Ersatzfreiheitsstrafe rechnen muss. Das geht insbesondere
auf das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969, damals noch unter dem Justizminister Heinemann, zurück,
mit dem man den Versuch gemacht hat, die vielen kürzeren Freiheitsstrafen, die damals aufgrund der zahlreichen
Verkehrsstraftaten überhand genommen hatten, durch
Geldstrafen zu ersetzen. Das ist auch gelungen.
Heute haben wir bei einem Strafmaß von bis zu sechs
Monaten Freiheitsstrafe fast nur noch Geldstrafen. Die
Geldstrafe ist also im Grunde genommen das wichtigste
Sanktionsmittel in unserem gesamten Sanktionssystem.
Das war gewollt. Es gab aber damals gerade von unserer
Seite her Warnungen. Man sagte: Vorsicht, das führt unter
Umständen zur Aufweichung des Strafrechts. - Die Entwicklung hat gezeigt, dass dies so nicht der Fall gewesen
ist, wir die Geldstrafe in ihrer Bedeutung unterschätzt haben und die Geldstrafe durchaus ein vernünftiges Mittel
im Sanktionssystem ist. Aber alle, die damals die Geldstrafe als wichtiges Sanktionsmittel eingeführt haben, waren sich darüber einig - das finden Sie auch in jedem
Kommentar -: Das Rückgrat der Geldstrafe muss immer
die Ersatzfreiheitsstrafe bleiben; sie muss im Hintergrund
stehen und drohen, wenn der Täter nicht bereit ist, seine
Geldstrafe zu bezahlen.
Nun kehren Sie das aber um: Sie setzen an die Stelle
der Ersatzfreiheitsstrafe nunmehr als Strafe - wenn man
das so bezeichnen will - die Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit. Das ist eine als viel weniger einschneidend empfundene Sanktion. Wir wissen ja, wie so
etwas abläuft. Oft ist das nicht mehr als ein überwachter
Arbeitsdienst. Angesichts dessen, wie schlecht das im
Strafvollzug organisierbar ist - es ist ja nicht ganz einfach,
immer auch eine adäquate Arbeit zu finden -, haben wir
große Bedenken, die wir natürlich gegenüber Ihrem Vorschlag geltend machen müssen. Wir halten diese Bedenken aufrecht und glauben, dass das, bevor hierüber entschieden wird, im Rahmen einer Anhörung genau geprüft
werden muss. Wir meinen, dass die Ersatzfreiheitsstrafe
immer noch ein besserer Ersatz für eine Geldstrafe ist als
gemeinnützige Arbeit.
({3})
Sicherlich ist auch uns bewusst, dass es Probleme bezüglich ganz reicher und ganz armer Täter gibt. Dessen
waren sich die damaligen Initiatoren auch bewusst. Deswegen haben wir dann ja auch den Tagessatz eingeführt,
um hier zu mehr ausgleichender Gerechtigkeit zu kommen. Wir wissen, dass es sich bei der Geldstrafe nicht um
eine ideale Strafform handelt; aber es gibt ja überhaupt
keine ideale Strafform. Sie werden nie eine ideale Strafform finden, wenn Sie beim konkreten Einzelfall ansetzen. Es steht ja der Vorwurf im Raum, dass die ganz Reichen sich mit dem Zahlen einer Geldstrafe leicht tun und
die ganz Armen nicht zahlen könnten. Man sollte aber
nicht unterschätzen, dass auch die ganz Reichen aufgrund
des Tagessatzes die Geldstrafe spüren. Die ganz Armen,
die wirklich nicht in der Lage sind, die Geldstrafe zu leisten, können ja die dann drohende Ersatzfreiheitsstrafe
schon nach heutigem Recht durch gemeinnützige Arbeit
abwenden. In besonderen Härtefällen, also wenn jemand
körperlich dazu beispielsweise nicht in der Lage ist, kann
schon heute der Straferlass erfolgen. Da wir jetzt schon
über entsprechende gesetzliche Regelungen verfügen,
treffen Ihre Überlegungen nur teilweise das Problem.
Auch Ihre Umrechnung von Tagessatz in Arbeitsstunden führt nach meiner Auffassung zu einer weiteren Aufweichung. Im Augenblick gilt, dass ein Tagessatz Geldstrafe durch sechs Arbeitsstunden ausgeglichen werden
kann. Nun wollen Sie aus den sechs Arbeitsstunden drei
machen. Damit weichen Sie das Sanktionsmittel Geldstrafe zweifellos weiter auf. Dann wollen Sie auch noch
für einen Tag Freiheitsstrafe zwei Tagessätze Geldstrafe
vorsehen. Im Moment entspricht ein Tagessatz einem Tag
Freiheitsstrafe; 30 Tagessätze entsprechen also 30 Tagen
Freiheitsstrafe. Nach Ihrem Modell würden 30 Tagessätze
15 Tagen Freiheitsstrafe entsprechen. Das bedeutete wiederum eine Aufweichung.
({4})
- Das liegt auf der Hand: Sie haben einfach die Hälfte weniger. Hier stellt sich die Frage nach dem Warum gar
nicht.
({5})
- Es ist doch eine Aufweichung, wenn die Ersatzfreiheitsstrafe nicht mehr in dem Maße droht, wie es im Augenblick der Fall ist. Was soll das denn anderes als eine
Aufweichung sein?
Wir meinen, dass auch darüber ernsthaft und gründlich
nachgedacht werden muss. Wir haben heute nicht darüber
zu entscheiden. Ich bringe hier nur eine Gegenvorstellung
zu Ihrem Diskussionsentwurf vor; mehr ist uns ja nicht
vorgelegt worden.
Die täterfreundliche Ausgestaltung der Verwarnung
mit Strafvorbehalt kann unter Umständen ebenfalls zu
einer Aufweichung führen. Wir müssen sehr aufpassen,
dass die Strafverfolgung, also das Ermittlungsverfahren
und der Strafprozess, nicht zur Farce wird. Anderenfalls
fragen sich zum Schluss nämlich die Polizeibeamten, die
sich viel Mühe gegeben haben, einen Täter dingfest zu
machen, ob ihre Ermittlungen überhaupt noch einen Sinn
haben. Da muss man sehr aufpassen. Deswegen muss man
auch darüber noch einmal gründlich nachdenken.
({6})
- Herr Hartenbach, ich bitte hier um nichts anderes als darum, noch einmal hierüber nachzudenken. Sie haben einen Diskussionsentwurf vorgelegt, ich mache einen Gegenvorschlag. Jetzt bitte ich Sie, in der Sommerpause
darüber nachzudenken.
Die Aufwertung des Fahrverbotes als Hauptstrafe begrüßen wir. Wir haben eine weiter gehende Vorstellung.
Wir wollen das Fahrverbot nicht nur für Straftaten, die mit
Verkehrsdelikten in Verbindung stehen, sondern generell
einführen. Aber auch darüber wird man noch einmal diskutieren und nachdenken können.
Auch begrüßen wir es, dass das Opferinteresse im Vordergrund steht und vor der Geldstrafe rangiert; darin
stimmen wir mit Ihnen ebenfalls überein. Dass aber der
Täter-Opfer-Ausgleich vor dem Urteil mit dem Täter-Opfer-Ausgleich nach dem Urteil, wenn also der Täter weiß,
wohin die Reise geht, und wenn er kalkulieren kann, dass
er um eine vom Gericht erlassene Strafe vielleicht noch
herumkommt, wenn er sich am Täter-Opfer-Ausgleich
beteiligt, gleichgestellt werden soll, halten wir für weniger gut. Auch hier zeigt sich nach unserer Auffassung wieder eine Aufweichung, gegen die wir uns wenden werden.
Aber darüber müssen wir ebenfalls noch diskutieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der kommenden Legislaturperiode wird die Reform des Sanktionensystems zu einem wichtigen Thema werden, dem sich
alle Parteien stellen müssen. Darüber müssen wir, wie ich
meine, in der kommenden Legislaturperiode heftig streiten.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition hat keinen Diskussionsentwurf und auch keinen Referentenentwurf, sondern einen Gesetzentwurf vorgelegt.
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten intensiv
über die Reform des Sanktionensystems diskutiert. Deshalb sind wir für diese Debatte auch gut präpariert.
Wir stellen unserem Entwurf für das Gesetz zur Reform des Sanktionenrechts zwei Punkte voran. Zum einen
stärken wir durch ganz verschiedene Maßnahmen den Gedanken der Opferhilfe. Wir helfen den Opfern von Straftaten. Zum anderen wollen wir darauf achten, Sanktionen
zielgenauer und effizienter einzusetzen. Sie sollen zielgenauer eingesetzt werden, um dem Täter das Unrecht seiner Tat wirklich vor Augen zu führen, aber auch effizienter, indem wir die Ressourcen des Strafvollzuges nicht
unnütz zum Beispiel für Ersatzfreiheitsstrafen vergeuden
und damit auch die Justizvollzugsbeamten frustrieren,
weil sie wegen der mit den Ersatzfreiheitsstrafen zusammenhängenden Bürokratie überproportional belastet werden und dadurch zum Eigentlichen ihrer Arbeit, nämlich
zur Resozialisierung, zur Betreuung und Beaufsichtigung
von Mittel- und Langzeitstraflern, nicht kommen.
Das neue Sanktionenrecht bedeutet einen Durchbruch
für den Opferschutz in Deutschland. 10 Prozent der Geldstrafen müssen künftig an anerkannte gemeinnützige Einrichtungen der Opferhilfe geleistet werden. Dies wird
die Betreuung der Opfer in unserem Land qualitativ
enorm verbessern. Viele dieser Opferhilfeeinrichtungen
funktionieren überhaupt nur, weil sich Bürgerinnen und
Bürger dort ehrenamtlich engagieren. Mit dem neuen
Sanktionenrecht leisten wir einen Beitrag zu einer noch
effizienteren Betreuung. Von daher ist es kein Wunder:
Nicht nur die vielen kleinen Opferhilfeinitiativen unterstützen dieses Gesetz; auch der Weiße Ring begrüßt unsere Reform nachdrücklich.
Aber den Opfern helfen wir nicht nur dadurch, dass wir
den Einrichtungen einen Teil der Geldstrafen zufließen
lassen, sondern auch dadurch, dass wir geregelt haben,
dass bei der Vollstreckung von Geldstrafen die Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer klar im Vordergrund
steht. Wir wollen nicht, dass das Opfer einer Straftat nur
deshalb keinen Schadensersatz erhält, weil der Staat auf
die Begleichung der Geldstrafe pocht. Hier muss das Opfer Vorrang haben.
({0})
Genau das regeln wir in unserem jetzt vorgelegten Entwurf.
Meine Damen und Herren, ein gut funktionierendes
System von Sanktionen muss die Gerichte in die Lage
versetzen, im Einzelfall zielgenau auf das Unrecht zu reagieren. Das geltende Sanktionenrecht, soweit es Erwachsene betrifft, hat sich hier als viel zu starr erwiesen. Nur
Geld- und Freiheitsstrafen als Hauptstrafen reichen hier
nicht aus, um in geeigneter Weise mit spezialpräventiver
Zielrichtung auf Straftäter einzuwirken. Das, was wir an
unserem Jugendstrafrecht so schätzen, ermöglichen wir
jetzt auch im Erwachsenenstrafrecht. Wir geben den
Gerichten ein breiteres Spektrum von Sanktionen an die
Hand - nicht sanfter, aber dafür treffsicherer und manchmal auch schmerzhafter bzw. schweißtreibender.
Wir erweitern den Anwendungsbereich der gemeinnützigen Arbeit unter dem Motto: Schwitzen statt sitzen. Gemeinnützige Arbeit soll mehr als bisher zur Vermeidung
von kurzen Freiheitsstrafen herangezogen werden. Wir
wollen, dass so die entsozialisierende Wirkung des Strafvollzuges denjenigen erspart bleibt, die ursprünglich
„nur“ zu einer Geldstrafe verurteilt worden sind. Ein Tagessatz bei der Geldstrafe entspricht künftig drei Arbeitsstunden. Dieser Umrechnungsmaßstab ist für die Betroffenen auch deutlich attraktiver als das, was in den meisten
Ländern heute auf Grundlage von Art. 293 EGStGB der
Fall ist.
({1})
- Nein, Herr van Essen, es geht hier nicht um Täterschutz,
sondern tatsächlich darum, in solchen Fällen, in denen die
Leute anderenfalls in den Strafvollzug gehen würden, die
Konsequenz zu vermeiden, dass sie womöglich nur wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe von ein, zwei oder drei Wochen auch noch Nachteile im Beruf haben oder ihre Stelle
verlieren. In diesen Fällen werden die Leute nicht einfach
laufen gelassen, sondern es wird etwas mit ihnen gemacht. Es ist äußerst unangenehm, nach Feierabend noch
drei, vier, fünf oder sechs Stunden abzuarbeiten oder dadurch das Wochenende zu verlieren. Aber wir verhängen
keine Strafe, die eine Karriere als Straftäter noch wahrscheinlicher macht, indem wir darüber hinaus seine Existenzgrundlage beschädigen. Wir müssen reagieren, aber
dabei beachten, dass diese Leute mit verunsichernden Lebensläufen in Richtung Kriminalität abzurutschen drohen. Bei ihnen müssen wir korrigierend eingreifen und
nicht aus symbolischer Härte mehr Schaden anrichten, als
wir Nutzen für die Gesellschaft erzielen.
({2})
Wir tun auf diese Weise etwas dafür, dass unsere überfüllten Gefängnisse künftig nicht mehr von Menschen belegt werden, die auch vom Unrechtsgehalt ihrer Tat her da
nicht hineingehören. Nicht Eierdiebe gehören in den
Knast, sondern Schwerverbrecher.
Zudem erweitern wir den Anwendungsbereich des
Fahrverbots, denn wir wissen: Selbst ein nur kurzfristiger
Führerscheinentzug kann mehr wehtun als eine Geldstrafe, die mancher mal eben auf die Schnelle begleicht.
({3})
Deshalb werten wir das Fahrverbot zur Hauptstrafe auf.
Das heißt, dass es nicht, wie bislang, nur neben, sondern
auch anstelle einer Geldstrafe verhängt werden kann. Wir
erhöhen die mögliche Zeitdauer eines Fahrverbotes von
drei Monaten auf sechs Monate. Damit es häufiger angewandt wird, erstrecken wir es auch auf solche Taten, bei
denen das Auto zum Beispiel als Tatmittel benutzt wurde.
Dieser Zusammenhang ist aus unserer Sicht auch geboten,
um letztlich kein Sonderrecht für Führerscheininhaber zu
schaffen und um den inhaltlichen Konnex zwischen Tat
und Sanktion zu wahren.
Herr Geis, lassen Sie uns doch erst einmal diesen
Schritt gemeinsam gehen, bevor wir in einem weiteren
Schritt diskutieren, ob man diese Regelungen unabhängig
von den genannten Voraussetzungen anwenden will. Darüber lässt sich sicher diskutieren; ich meine aber, das
birgt zusätzlich einige verfassungsrechtliche Probleme,
die bei dem, was wir hier geregelt haben, nicht bestehen.
Unter pädagogischen Gesichtspunkten bin ich - zum
Leidwesen mancher Kollegen in meiner Fraktion - bei
diesem Punkt sogar relativ nah an Ihren Überlegungen.
Aber verfassungsrechtlich gibt es da ein Problem, das mich
scheuen lässt, diesen Gedanken rechtspolitisch weiter zu
verfolgen.
Die Verwarnung mit Strafvorbehalt nach den
§§ 59 ff. StGB ist in der Praxis deutlich zu selten angewandt worden. Wir erweitern deshalb jetzt ihren Anwendungsbereich und integrieren in den Auflagenkatalog
die gemeinnützige Arbeit, schaffen also auch hier mehr
Flexibilität für die Gerichte. Sie erhalten nun die Möglichkeit, auf den konkreten Fall mit individuellen Auflagen und Weisungen besser zu reagieren.
Wir haben unseren Kurs einer am Opferschutz orientierten Kriminalpolitik bereits zu Beginn dieser Wahlperiode mit der verfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleiches aufgenommen. Wir haben diesen
Kurs in den letzten Monaten konsequent fortgesetzt. Mit
dem Gewaltschutzgesetz und dem Kinderrechteverbesserungsgesetz haben wir die Opferrechte vor allem von
Frauen und Kindern gestärkt. Der Weiße Ring begrüßt
ausdrücklich auch unsere Lösung bei der Sicherungsverwahrung als effektiven und rechtsstaatskonformen Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Straftaten.
Mit der Reform des Sanktionenrechts gehen wir jetzt einen weiteren Schritt hin zu mehr Opferschutz.
({4})
In der nächsten Legislaturperiode werden wir als Koalition im Rahmen der Strafprozessreform gemeinsam die
Verletztenrechte weiter verbessern. Sie kennen unser Eckpunktepapier hierzu, das zurzeit in Gesetzesform gegossen wird. Wir wollen zum Beispiel, dass das Adhäsionsverfahren im Strafverfahren häufiger Anwendung findet
als bisher.
({5})
Das ist eine Forderung, die auch auf das Wohlwollen der
FDP trifft; es macht es ja nicht schlechter, sondern eher
besser, wenn man eine breitere Unterstützung für diese
Gedanken hat. Außerdem wollen wir, dass Opferzeugen
durch den Einsatz technischer Mittel quälende Mehrfachvernehmungen erspart bleiben.
({6})
Es gibt eine Menge in dieser Richtung zu tun, um die
Rechtspolitik der Koalition fortzusetzen. Daran wollen
wir nach dem 22. September gemeinsam weiterarbeiten.
({7})
Ich denke, gerade das, was wir in der Rechtspolitik vorgelegt haben, zeigt, dass diese Koalition auf dem richtigen Weg ist, und dass wir bei der Bekämpfung der Kriminalität, für die Opfer von Straftaten und für einen
effizienteren Einsatz der Ressourcen der Strafrechtspflege viel erreicht haben.
Vielen Dank.
({8})
Volker Beck ({9})
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Beck hat eben die
Taten der Koalition gerühmt und das Gesetz, das wir gerade beraten, unter deren Pluspunkte eingereiht. Jeder, der
ein bisschen genauer hinschaut, sieht, dass der Gesetzentwurf heute hier eingebracht wird, ohne dass er irgendeine
Chance hat, tatsächlich verabschiedet zu werden.
({0})
Ich bedaure das Ganze außerordentlich; denn die Vorschläge der Kommission, die von FDP-Justizminister
Edzard Schmidt-Jortzig eingesetzt worden ist, liegen seit
März 2000, also seit über zweieinviertel Jahren, vor, ohne
dass irgendwelche Vorschläge in den Bundestag eingebracht worden sind. Ich bedaure das sehr, weil wir in der
Beurteilung übereinstimmen, dass wir tatsächlich eine
Reform des Sanktionenrechts brauchen.
Ich bedaure auch, dass die Art und Weise, wie das
Ganze präsentiert worden ist, die Möglichkeit der Umsetzung nicht gerade erhöht hat. Wenn eine Justizministerkonferenz in Weimar stattfindet, dort alle Länderjustizminister versammelt sind, die Bundesjustizministerin
gegenüber ihren Länderkollegen kein einziges Wort über
ihre Vorstellungen verliert und wenige Stunden später in
Berlin die entsprechenden Vorschläge verkündet werden,
dann ist klar, dass das natürlich zu Widerstand bei den
Ländern führen wird, deren Mitwirken wir in diesem Zusammenhang in besonderer Weise brauchen.
({1})
Die dürfen nicht vor den Kopf gestoßen, sondern müssen
mit einbezogen werden. Dass sogar die SPD-Justizminister eine Resolution mit unterschrieben haben, in der sie gegen diese Vorgehensweise protestieren, ist ein deutliches
Signal dafür, dass hier nicht richtig reagiert worden ist.
({2})
Was den Gesetzentwurf anbelangt, möchte ich
zunächst mit dem beginnen, was mir außerordentlich gut
gefällt. Der Kollege Stünker hat aus dem Wahlprogramm
der FDP zitiert, dass Opfer in den Mittelpunkt des Strafverfahrens gehören. Genauso ist es. Das ist genau unsere
Linie.
({3})
Ich finde, dass die Vorstellungen, die hier entwickelt worden sind, genau der richtige Weg sind. Eine Vorstellung
ist, dass Opferschutzorganisationen einen Teil der Geldstrafe bekommen. Außerordentlich gut gefällt mir auch,
dass es einen Vorrang dahin gehend geben soll, dass
zunächst die Schäden beim Opfer beglichen werden sollen, bevor die Geldstrafe gezahlt wird. Es wird immer
wieder kritisch danach gefragt, wieso der Staat derjenige
ist, der zunächst seinen Anteil einfordert. Häufig ist dann
das Geld für die Entschädigung der Opfer nicht mehr vorhanden. Auch das scheint mir ein richtiger Ansatz zu sein,
der unsere ausdrückliche Unterstützung findet.
Bei anderen Punkten bin ich skeptischer; das will ich
deutlich machen. Über den Ansatz bezüglich der gemeinnützigen Arbeit kann und muss man sicherlich nachdenken. Wir müssen nur feststellen, dass wir diesen Ansatz in vielen Bereichen haben, nämlich zum Beispiel bei
der Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit
unter einer Auflage - beispielsweise kann die Auflage
sein, gemeinnützige Arbeit zu leisten -, bei der Strafaussetzung zur Bewährung - hier wird in aller Regel ebenfalls etwas auferlegt, damit derjenige merkt, dass er etwas
Falsches getan hat - und bei der Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung. Damit schaffen wir natürlich eine
erhebliche Konkurrenz für die Stellen, die von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt werden müssen. Das
Ganze konkurriert natürlich auch mit dem Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und geht immer mehr in
den Bereich hinein, in dem auch privatwirtschaftliche Betriebe arbeiten, beispielsweise im Landschaftsschutz. Wir
müssen sehen, dass wir durch diese Erweiterung nicht
dazu beitragen, dass versicherungspflichtige Arbeitsplätze in der freien Wirtschaft auf einmal eine staatliche
Konkurrenz bekommen, an der uns nicht gelegen sein
kann.
({4})
Deshalb werden wir sorgfältig prüfen, ob nicht diese Drittwirkungen eintreten. Das muss uns große Sorgen machen.
Bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt bin auch ich
ehrlich gesagt sehr zögerlich, was mit meinen beruflichen
Erfahrungen in der Justiz zusammenhängt.
({5})
Wenn man bei Jugendlichen eine jugendrichterliche Ermahnung ausgesprochen hat, dann haben die Jugendlichen auf dem Flur immer gesagt: Ich bin freigesprochen
worden. - Das bloße „Du, du, du!“, das der Richter gegenüber den Jugendlichen ausgesprochen hat, ist bei denen so angekommen, dass keine Strafmaßnahme verhängt
worden ist.
({6})
Sie kamen mit der Erwartung, für ihr Fehlverhalten eins
auf den Deckel zu bekommen. Stattdessen hat es eine
bloße Ermahnung gegeben, die von den Jugendlichen als
Freispruch empfunden worden ist. Ich habe die große
Sorge, dass die Verwarnung mit Strafvorbehalt ähnliche
Folgen haben könnte, dass wir damit zu einer Entkriminalisierung beitragen - eine Tendenz, die wir ohnehin
schon haben.
Wir erleben bei den Ordnungswidrigkeiten, dass immer mehr Sanktionsmöglichkeiten bestehen, und wir erleben im Bereich des kriminellen Unrechts - dazu haben
wir durch die Erweiterung der Anwendungsvorschriften,
was die Einstellung wegen Geringfügigkeit anbelangt,
beigetragen -, dass wir eine schleichende Entkriminalisierung haben.
({7})
Das ist etwas, woran wirklich niemand Interesse haben
kann, weil es nämlich die Abschreckungswirkung, die
Strafrecht haben soll, schwächt.
({8})
Sehr skeptisch bin ich auch bezüglich des Fahrverbots.
Der Bereich des Fahrverbots - das ist meiner Meinung
nach richtig - ist zunächst einmal so geregelt worden, dass
die Verbindung zu der Benutzung des Autos nicht aufgegeben worden ist. Das ist uns Liberalen immer besonders
wichtig gewesen.
Ich bin trotzdem skeptisch. Man muss doch nach dem
Strafzweck fragen. Der Strafzweck ist wahrscheinlich die
Einschränkung der Mobilität. Wenn dem so ist, dann frage
ich, warum es eine Beschränkung auf die Benutzung des
Autos geben soll. Man muss nämlich auch Drittwirkungen beachten. Diejenigen, die auf dem flachen Land wohnen, dort eine Arbeitsstelle haben und den öffentlichen
Nahverkehr nicht benutzen können, sind auf das Auto angewiesen. In diesem Fall kann das, was Herr Beck vorhin
im Zusammenhang mit kurzfristigen Freiheitsstrafen gesagt hat, selbstverständlich auch beim Fahrverbot als
selbstständige Strafe eintreten, nämlich dass dem Betroffenen die Arbeitsstelle gekündigt wird.
({9})
Das kann nicht der Zweck dieser Reform sein.
({10})
Deswegen muss über diesen Aspekt neu nachgedacht
werden.
Mich wundert nicht, dass die Grünen das Fahrverbot
besonders loben.
({11})
Für den, der das Auto als Feindbild hat, wie es bei den
Grünen der Fall ist,
({12})
ist das Fahrverbot als Strafe natürlich das Nonplusultra
der Reform des Sanktionensystems. Wir als Liberale stehen natürlich für eine rationale Strafrechtspolitik. Mit uns
ist das deshalb nicht zu machen.
Die heutige Debatte ist ein erster Schritt auf dem Weg zu
einer notwendigen Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems. Wir werden uns daran beteiligen. Wir brauchen diese Reform möglichst schnell. Deshalb wird die
neue Bundesregierung sie auch möglichst schnell angehen.
Vielen Dank.
({13})
Die Kollegin
Kenzler hat gebeten, ihre Rede zu Protokoll geben zu dür-
fen.1) Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren wir
so.
Jetzt hat die Bundesjustizministerin Herta DäublerGmelin das Wort. - Herr van Essen, Sie dürfen die Ministerin jetzt nicht am Reden hindern.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Herrn van Essen nur kurz mitgeteilt - er
muss uns in Kürze verlassen -, dass seine Annahme, die er
vorhin vorgetragen hat, nicht richtig ist. Dieser Punkt ist
aber nicht besonders wichtig. Wenn das alles ist, was Sie
gegen ein modernes Sanktionensystem einzuwenden haben, dann liegen wir schon richtig.
({0})
Lassen Sie mich mit der Frage beginnen, was eigentlich die Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft im Bereich
der Kriminalpolitik ist. Die Menschen können von ihrem
Staat zu Recht mehr Sicherheit verlangen. Diese Sicherheit kann man im Rahmen einer rationalen Kriminalpolitik durch vier Elemente erreichen:
Erstens geht es darum, Straftaten mit vernünftigen
Straftatsvorschriften und angemessenen Sanktionen entschlossen entgegenzutreten.
Zweitens geht es darum - das ist der präventive
Aspekt -, die Ursachen von Kriminalität ebenso entschlossen zu bekämpfen.
Drittens muss es darum gehen, dass wir einen vernünftigen Strafvollzug sicherstellen, der nicht allein die Gesellschaft schützt, sondern auch die Strafvollzugsbediensteten in die Lage versetzt, mit den Straftätern in den
Gefängnissen so zu arbeiten, dass möglichst wenige von
ihnen rückfällig werden. Das ist das Grundprinzip der Resozialisierung.
({1})
Viertens geht es darum - das ist ein ganz wichtiger
Punkt -, die Hilfe für die Opfer sicherzustellen, wenn der
Staat die Sicherheit nicht gewährleisten konnte.
Wer ist der Staat in diesem Fall? Das sind der Bund und
die Länder mit ihren im Grundgesetz festgelegten Zu-
ständigkeiten. Gerade im Bund haben wir in den vergan-
genen vier Jahren in diesem Bereich eine Menge erreicht.
Das zeigt nicht nur der gemeinsame Periodische Sicher-
heitsbericht sehr deutlich, den wir neu aufgelegt haben.
Das erkennt man auch an der Kriminalstatistik und an der
Strafverfolgungsstatistik. Ich halte es für gut, dass im Jahr
2001 nicht nur die Zahl der Delikte von Kindern und He-
ranwachsenden, sondern auch die Zahl der Delikte im Be-
reich des gefährlichen Raubes gesunken ist. Ich halte es
ebenfalls für wichtig, dass sich die Menschen in ihrer Um-
gebung sicher fühlen. Das sagen nach Umfragen über das
Sicherheitsgefühl immerhin 70 Prozent der Befragten.
1) Anlage 6
Ich halte es auch für wichtig - ich hätte mir da allerdings ein wenig mehr Unterstützung gerade von den Kolleginnen und Kollegen der Opposition gewünscht -, dass
wir entschlossen gegen die Ursachen von Gewalt angegangen sind.
({2})
Es war gut, dass Sie sich beim Gewaltschutzgesetz dazu
durchgerungen haben, mitzumachen. Wir können in der
Tat feststellen, dass dieses Gesetz eine wirklich vernünftige Weichenstellung verstärkt, weil die Täter, die
Schläger, mittlerweile verstehen, dass es sich nicht lohnt
zu prügeln. Denn die gemeinsam bezogene Wohnung bekommen sie nicht; die bleibt beim Opfer und bei den Kindern. Diese Opfer müssen in einer solchen Situation nicht
mehr in das Frauenhaus.
In anderen Bereichen hätte ich mir noch mehr Unterstützung gewünscht, zum Beispiel bei der Ächtung der
Gewalt in der Erziehung. Ich weiß, Sie sagen, Sie hätten
gerne eine andere Lösung gehabt.
({3})
Aber irgendwann muss man sich entscheiden. 20 Jahre
Diskussion, verehrter Herr Kollege Geis, waren einfach
genug.
Den in diesem Zusammenhang bestehenden Teufelskreis der Gewalt müssen wir durchbrechen. Hilfe für Opfer, der Täter-Opfer-Ausgleich, ein Fonds für Opfer von
Rechtsextremismus und Hilfe für die Opfer von terroristischen Anschlägen, all das sind gute Dinge. Ich hoffe, dass
wir im Bundesrat am 12. Juli dieses Jahres auch mit Ihrer
Hilfe im Hinblick auf die vorbehaltene Sicherungsverwahrung so weit kommen, dass er dem zustimmt, was wir
in diesem Haus beschlossen haben.
({4})
Auch das ist eine kleine Nagelprobe, bei der man beweisen kann, ob man ein Vorhaben wirklich ernst nimmt.
Der Gesetzentwurf, über den wir heute diskutieren,
weist nicht nur auf das, das wir gemacht haben, sondern
auch auf die Zukunft. Eine rationale Kriminalitätspolitik
muss in vier Punkten, über die aus unterschiedlicher
Warte diskutiert wurde, fortgesetzt werden.
Lassen Sie mich bei der Hilfe für die Opfer beginnen.
Ich finde es wirklich gut, dass auch Sie der Meinung
sind - ich habe Sie da, glaube ich, richtig verstanden -,
dass 10 Prozent der Geldstrafen für Zwecke der Opferhilfe verwandt werden sollen.
({5})
Das ist einer der Punkte, die wir mit den Ländern - ich
darf Sie darauf hinweisen, dass es nicht ganz einfach sein
wird - unter verschiedenen Gesichtspunkten in zeitlich
vernünftiger Form besprechen müssen.
Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Wir wissen
ganz genau, dass die Länder ebenso wie der Bund an einer vernünftigen, rationalen Kriminalitätspolitik zu beteiligen sind und dass sie dafür über die entsprechenden Mittel verfügen müssen. Deswegen werden wir kluge und
zeitlich verzahnte Vorschläge machen müssen. Wenn wir
dies nicht tun, fehlen die genannten 10 Prozent, ohne dass
die Einsparungen, die sich durch gemeinnützige Arbeit ergeben werden, tatsächlich vorhanden sind. Das sind
Dinge, auf die ich sehr ausdrücklich aufmerksam mache.
Hierüber müssen wir unmittelbar nach den Wahlen weiterdiskutieren.
Dass der Weiße Ring, die Arbeitsgemeinschaft der Opferhilfen, die Frauenhäuser und die anderen Organisationen, die sich um Kriminalitätsopfer kümmern, eine hervorragende Arbeit machen und von uns ermutigt und
unterstützt werden sollten, will ich ganz ausdrücklich betonen. Dem entspricht der vorliegende Gesetzentwurf in
besonderer Art und Weise.
({6})
- Wenn das so ist, dann könnten auch Sie, verehrter Herr
Kollege, klatschen. Ich finde deren Arbeit ganz hervorragend.
({7})
- Danke sehr.
({8})
Nun komme ich zum zweiten Element, zur gemeinnützigen Arbeit als primärer Ersatzstrafe. Sie ist übrigens genauso wichtig, verehrter Herr Gehb, wie die Verwendung
von 10 Prozent der Geldstrafen für die Organisationen der
Opferhilfe.
({9})
Verehrter Herr Geis, ich will Ihnen noch einmal deutlich machen, worum es eigentlich geht; denn ich habe den
Eindruck, dass Sie hier, ohne es zu wollen, einen falschen
Weg vorgeschlagen haben. Es geht nicht darum, für Menschen, die zu einer Geldstrafe verurteilt wurden und die
zahlen könnten, aber nicht zahlen wollen, eine andere Art
der Sanktion zu schaffen. Wenn die Richter jemanden zu
einer Geldstrafe verurteilen, dann muss diese Geldstrafe
selbstverständlich bezahlt werden. Dies wird nur dann zu
einem Problem, wenn es Menschen trifft, die sie nicht
zahlen können.
({10})
- Nein, wenn es Menschen trifft, die zahlen wollen, aber
nicht können. Das ist Ihr fundamentaler Irrtum.
({11})
- Nein, wie der Kollege Stünker schon sagte, handelt es
sich im Uneinbringlichkeitsfall - auch Sie wissen das;
aber lassen Sie es mich für die Öffentlichkeit ganz deutlich sagen - um Personen, die die Richter wegen einer
kleineren Straftat zu einer Geldstrafe verurteilt haben und
die nicht bezahlen können. Wir sind der Meinung, dass in
diesem Falle die Ersatzfreiheitsstrafe nicht das richtige
Mittel ist, sondern die gemeinnützige Arbeit.
({12})
- Ich habe mir übrigens gerade sagen lassen, es sei ein
Zeichen von Demokratie, dass man auch zuhören könne,
verehrter Kollege Geis.
({13})
Lassen Sie mich das einfach wiederholen.
Es geht hier um Menschen, die die Geldstrafe, zu der
sie aufgrund kleinerer Delikte verurteilt wurden, nicht
zahlen können. Jetzt stellt sich die Frage: Warum sollen
die eigentlich in Haft?
({14})
- Entschuldigen Sie, heute ist die primäre Ersatzstrafe
selbstverständlich die Haft. Ich kann es nicht ändern; so
steht es im Gesetz. Wenn Sie das nicht wollen, lieber, verehrter Herr Geis, dann seien Sie doch so freundlich und
begeben Sie sich auf unsere Seite.
({15})
- Ja, ich weiß. Ich wollte nur ein bisschen freundlicher
sein, damit er einmal anfängt zu denken. Er denkt gelegentlich und dazu will ich ihn jetzt ermutigen, weil er
auch uns dazu ermutigt hat.
Jetzt komme ich zur gemeinnützigen Arbeit. Gemeinnützige Arbeit als primäre Ersatzstrafe hat nur Vorteile gegenüber dem heute höchst unbefriedigenden Zustand: Die
Ersatzfreiheitsstrafe ist ungerecht, weil es sich hier um
Menschen handelt, die von den Richtern eben nicht zu einer Haftstrafe verurteilt worden sind. Diese Regelung ist
auch deswegen außerordentlich wenig befriedigend, weil
wir ganz genau wissen, dass gerade bei dieser Klientel
vorhandene soziale Bindungen durch eine Freiheitsstrafe
vollends abreißen: Das Arbeitsverhältnis wird aufgelöst,
die Wohnung aufgegeben, die Familie muss vom Staat unterhalten werden. Dies ist teuer und hinterher stehen auch
noch die Reintegrationskosten zur Zahlung an. Das alles
wird noch dadurch übertroffen, sehr geehrter Herr Kollege Geis, dass den Staat ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe
heute zwischen 80 und 100 Euro kostet.
Wir sagen: Das ist falsch.
({16})
Wir wollen nicht, dass diese Menschen ins Gefängnis
müssen, obwohl sie nicht ins Gefängnis gehören, dort lernen, was sie nicht lernen sollen, die Strafvollzugsbediensteten belasten, sodass diese weniger Möglichkeiten haben, zur Resozialisierung beizutragen, und schließlich
den Strafvollzug belasten. Wir möchten, dass sie positive
Arbeit leisten in Form von gemeinnütziger Arbeit, die
vernünftig organisiert werden muss und organisiert werden kann, übrigens zu Preisen, die wesentlich niedriger
sind als das, was wir heute an Gefängniskosten zahlen
müssen.
Wenn Sie sich damit befasst hätten, meine Damen und
Herren, würden Sie jetzt zu Recht fragen, woher wir das
wissen. - Das ist auch einer der Gründe, warum wir die
Weichenstellung für die nächste Legislaturperiode jetzt
angehen. - Wir wissen dies, weil in den letzten Jahren im
Lande Mecklenburg-Vorpommern alle Ersatzfreiheitsstrafen im Wege eines durch eine Stiftung finanzierten
Versuches nicht nur sehr sorgfältig beurteilt wurden, sondern weil auch ausprobiert wurde, welches das vernünftigste Organisationsprinzip ist, was an Positivem zu beobachten ist, was man dazu braucht und was das kostet.
Diese Überlegungen liegen jetzt vor. Die wissenschaftliche Begleituntersuchung wird gerade geschrieben. All
das führt in eine vernünftige Richtung. Wichtig ist Hilfe
für die Opfer und dass wir als primäre Ersatzstrafe nicht die
Freiheitsstrafe, sondern die gemeinnützige Arbeit haben.
Sinnvoll - das ist ein Punkt, an dem ich Herrn van Essen,
wenn er noch da wäre, widersprochen hätte; vielleicht sagen Sie es ihm - ist auch unsere Vorgehensweise bei der
Ausweitung des Fahrverbotes. Die Ausweitung ist behutsam; das sage ich an die Adresse der CDU/CSU. Wir
wissen ganz genau, dass man hier sehr sorgfältig abwägen
und auch bedenken muss, dass eine solche Strafe durchgesetzt werden muss. Da gibt es Probleme.
Nun in Richtung FDP gesagt: Wir halten das für sehr
vernünftig, weil wir nicht einsehen, dass bei Menschen,
die zu einer Geldstrafe verurteilt werden und sich sehr
leicht damit tun, diese Strafe zu bezahlen, der Denkzetteleffekt einer vernünftigen rechtsstaatlichen Strafe ausbleiben soll. Wir sind der Meinung, dass gemeinnützige Arbeit oder ein Fahrverbot, in diesen Fällen den Richtern an
die Hand gegeben, die rechtsstaatliche Denkzettelfunktion haben kann, die wir wollen.
Meine Damen und Herren, wir stellen damit die Weichen für die kommende Legislaturperiode. Wir laden Sie
wie immer ein, mit uns zu diskutieren. Wir freuen uns auf
die Zusammenarbeit mit Ihnen in den kommenden Jahren.
Die Richtung stimmt.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, ich will mit
drei Anmerkungen auf Ihre Ausführungen reagieren. Erstens finde ich die Art und Weise, mit der Sie auf einzelne
Kollegen des Deutschen Bundestages eingehen, angesichts der bisher sachlichen Debatte völlig unangemessen.
({0})
Zweitens finde ich Ihre Argumentation im Zusammenhang mit der Ersatzfreiheitsstrafe unter Verweis auf die
Kosten, die damit verbunden sind, systemwidrig; denn
wenn Sie dieses Argument einführen, müssen Sie immer
Strafe und Kosten im Zusammenhang mit der Unterbringung von Häftlingen diskutieren und das würde denklogisch stets zur Freiheit der Betroffenen führen.
({1})
Drittens sollten wir nicht versuchen, dort Unterschiede
zu machen, wo es gar keine gibt. Sie haben gerade die Oppositionsfraktionen aufgefordert, bei der Ächtung von
Gewalt den Vorschlägen der Regierung zu folgen. Ja, jetzt
reibe ich mir doch die Augen. Im Verlauf dieser Legislaturperiode wurde mit den Stimmen der Oppositionsfraktionen des Deutschen Bundestages ein Gewaltschutzgesetz verabschiedet. Sie haben als Beispiel die Gewalt in
der Erziehung genannt. Da reibe ich mir wieder die Augen. In der vergangenen Legislaturperiode - übrigens bei
anderen Mehrheitsverhältnissen - ist unter Führung der
damaligen Bundesregierung mit den Stimmen der Sozialdemokratie eine Bestimmung in das Zivilrecht aufgenommen worden, die wir gemeinsam getragen haben. Es
gibt in dieser Frage überhaupt keine Unterschiede. Mit
Blick auf die Neuregelung, die jetzt für das Bürgerliche
Gesetzbuch gefunden worden ist, haben wir in den entsprechenden Debatten deutlich gemacht, dass wir diese
Regelung aus bestimmten Gründen für zu weit gehend
gehalten haben. Dabei ging es aber nicht darum, dass wir
bei der Ächtung von Gewalt unterschiedlicher Auffassung
sind. Ich wünsche mir, dass wir, wo es Unterschiede gibt,
darüber streiten, aber nicht künstlich Unterschiede produzieren, wo es keine gibt. Das sollte auch die Bundesjustizministerin begreifen.
({2})
Vieles, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber leider
nicht alles, was wir hier im Deutschen Bundestag beschließen, werden wir den Bürgerinnen und Bürgern erklären können. Das gilt auch für den vorliegenden Gesetzentwurf, davon bin ich überzeugt. Wir werden die
Bürgerinnen und Bürger wahrscheinlich nicht in Gänze
von der Richtigkeit der beabsichtigten Regelungen überzeugen können; denn dieser Gesetzentwurf läuft darauf hinaus, das Vorurteil in der Bevölkerung zu bestätigen, dass
diejenigen, die in der Bundesrepublik Deutschland rechtskräftig als Straftäter verurteilt worden sind, auf dieser
Strecke - ich werde versuchen, das zu erläutern - womöglich mit immer milderen Reaktionen rechnen können.
Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition scheint auf
den ersten Blick zu einer Ausweitung und Verschärfung
der Strafsanktionen zu führen - man denke beispielsweise
an den populären Begriff der gemeinnützigen Arbeit -, die
Haken und Ösen sind gut versteckt. Ich will dafür Beispiele nennen. So soll die gemeinnützige Arbeit bei uneinbringlichen Geldstrafen als primäre Ersatzstrafe die
bisher vorgesehene Haftstrafe ablösen. Hier sind wir in
der Tat unterschiedlicher Auffassung. Wir sind nämlich
der Meinung, dass dies im Grundsatz bereits nach den bestehenden Regelungen möglich ist.
Unsere Kritik geht in eine ganz andere Richtung. Sie
bezieht sich auf den Umrechnungsfaktor, den Sie vornehmen. Sie sagen nämlich: Ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe
wird in drei Stunden gemeinnütziger Arbeit umgerechnet.
Bei Menschen, die draußen sieben oder acht Stunden am
Tag arbeiten, werden Sie dafür kein Verständnis finden.
Sie werden diesen Umrechnungsschlüssel für nicht angemessen halten.
({3})
Wir kritisieren, dass dieser Schlüssel letztlich eine Privilegierung darstellt und in diesem Bereich insgesamt zu einer milderen Behandlung führt.
({4})
- Lautstärke ersetzt keine qualifizierten Gegenargumente.
Sie sollten wenigstens versuchen, meine Argumente anzuhören.
Ich will auf weitere Probleme hinweisen, die sich im
Zusammenhang mit der gemeinnützigen Arbeit ergeben.
Darauf hat die Ministerin erstaunlicherweise zum Teil
schon hingewiesen. Gemeinnützige Arbeit wird zu organisieren sein. Sie muss aber auch kontrolliert werden. Der
Deutsche Richterbund kritisiert genau dies. Er spricht von
nicht organisierbarer und nicht finanzierbarer Bereitstellung von gemeinnütziger Arbeit und deren Überwachungsinstitutionen. Ich meine, wenn der Deutsche Richterbund schon auf Probleme hinweist, die sich in der
Praxis ergeben, sollten wir uns auch einmal darüber unterhalten, dies nicht von heute auf morgen, sozusagen von
Null auf Hundert, umzusetzen, sondern zu versuchen, die
Umsetzung in verschiedenen Stufen erfolgen zu lassen.
Noch eine Anmerkung zur Erweiterung des verkehrsstrafrechtlichen Fahrverbots. Die Beschränkung
auf Delikte, die im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr und dem Kraftfahrzeug stehen, halten wir für falsch.
Wir meinen, dass, wenn Fahrverbote als Bestrafung von
Tätern ausgesprochen werden können, dies auch auf andere Delikte erstreckt werden sollte. Aber darüber können
wir ja zu gegebener Zeit im Rahmen der Ausschussdebatten streiten.
Ich möchte noch etwas zur Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt sagen. Uns erscheint diese Erweiterung unnötig. Zum einen gibt es bereits Regelungen,
nach denen in der Praxis bei so genannten Einmal-Tätern die
Verfahren eingestellt werden können. Ich denke an §§ 153
und 153 a StPO, an § 37 Betäubungsmittelgesetz und die
Möglichkeit des Absehens von Strafe nach § 46 a StGB.
({5})
Zum anderen könnte diese neue Sanktionsart dazu führen,
dass das bisher gestufte Sanktionensystem von Geldstrafe, Freiheitsstrafe mit Bewährung und Freiheitsstrafe
um eine weitere unnötige Stufe, die Verwarnung mit Strafvorbehalt, erweitert würde, Herr Stünker.
({6})
Bei dem Täter, dem Opfer und den rechtstreuen Bürgerinnen und Bürger würde so - letztlich nicht zu Unrecht - der
Eindruck erweckt, dass aufseiten der Justiz noch mehr als
bisher die Verhängung einer Freiheitsstrafe gemieden
wird. Dieser Eindruck sollte im Sinne der Kriminalprävention sowie des Sühnegedankens vermieden werden.
Schließlich sieht der Gesetzentwurf als weiteren
Hauptpunkt Änderungen im Bereich der Geldstrafe vor.
Auch diese Änderungen sind nicht, zumindest nicht in
Gänze, zu befürworten. Zwar ist die Berücksichtigung der
Opferinteressen bei der Vollstreckung der Geldstrafe zu
begrüßen. Jedoch ergibt sich aus dem Gesetzentwurf die
Möglichkeit, aufgrund der Opferinteressen völlig auf die
Vollstreckung einer Geldstrafe zu verzichten. Das kann
nicht gewollt sein; denn dann würde eine strafrechtliche
Würdigung einer kriminellen Handlung zugunsten einer
mehr oder minder zivilrechtlichen Ausgleichsregelung,
die gegebenenfalls ohnehin besteht, entfallen. Das halten
wir für falsch.
({7})
Bestünde die Strafe lediglich in der Begleichung des zivilrechtlichen Anspruchs des Opfers, ist darin keine Bestrafung mehr zu sehen. Die strafrechtliche Sanktion
würde gleichsam aufgehoben. Warn- und Sühnefunktion
der Strafe gingen bei dieser Änderung nach unserer Auffassung völlig verloren.
({8})
Es ist weiterhin zu bedenken, dass die geplante zwingende Zuweisung eines Teils der Geldstrafe an gemeinnützige Organisationen der Opferhilfe zu einem von
den Richtern kaum zu bewältigenden Verwaltungsmehraufwand führen würde.
Alles in allem bleibt also festzuhalten, dass dieser Gesetzentwurf noch der intensiven Überarbeitung bedarf,
bevor er die Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion finden könnte. Da dieser Gesetzentwurf sowohl im
Vorfeld in Teilen Ihrer Koalition umstritten war und auch
nach wie vor umstritten ist, ist die Einbringung ins Plenum in erster Lesung ohnehin Makulatur. Jeder der hier
Sitzenden weiß, dass dieser Gesetzentwurf während dieser Legislaturperiode nicht mehr im Bundesgesetzblatt
landen wird.
({9})
Erlauben Sie mir noch die Anmerkung: Angesichts der
jetzt vorliegenden Fassung halten wir dies auch für richtig.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Alfred Hartenbach.
Verehrte Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das heutige Gesetzesvorhaben veranlasst mich zunächst einmal, der Ministerin ganz herzlich Dank zu sagen,
({0})
die uns auch durch ihre Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit
in dem Vorhaben unterstützt hat, diesen Gesetzentwurf
noch einzubringen.
({1})
Ich bedanke mich auch ganz herzlich bei meinem Kollegen Professor Dr. Meyer, der eigentlich an meiner Stelle
hier reden sollte, der aber, wie wir wissen, in Brüssel die
Grundrechte-Charta ausarbeitet. Ich bedanke mich auch
sehr ausdrücklich bei unserem ehemaligen Vorsitzenden
des Rechtsausschusses, Herrn Eylmann, der diese Kommission, die von Herrn Schmidt-Jortzig geleitet worden
ist, begleitet hat
({2})
und mehr Verständnis und Verstand für Strafrecht aufgebracht hat, als Sie alle, die Sie da sitzen, zur Verfügung
haben.
({3})
Alle, die in dieser Kommission gearbeitet haben, haben
nämlich erkannt, dass es ganz wichtig ist, die Interessen
des Opfers wieder in den Vordergrund zu stellen. Dies ist
- insbesondere unter Ihnen - jahrelang vernachlässigt
worden.
({4})
- Mensch, nun halt doch einmal den Mund!
Wir tun das Unsere dazu, indem wir die Opferverbände
stärken, und ihnen die Geldbußen zukommen lassen. Sie
sind es nämlich, die die Menschen unterstützen, die von einer Straftat betroffen sind. Es sind nicht die staatlichen Institutionen, sondern gerade diese Opferschutzverbände.
Wir stärken die Interessen der Opfer und verschaffen ihnen
Genugtuung. Was hat denn ein Opfer davon
({5})
- ich rede jetzt zu den anderen, er versteht es sowieso
nicht -,
({6})
wenn es hinterher nur die Genugtuung hat, dass der Täter
verurteilt worden ist? Viel besser ist es doch, wenn zum
Beispiel der psychische Schaden ausgeglichen wird.
Genau das Gleiche gilt, wenn wir hier über gemeinnützige Arbeit reden. Auch hier zeigen Sie, dass Sie über
keinerlei Erfahrung verfügen;
({7})
denn sonst wüssten Sie, was es bedeutet, gemeinnützige
Arbeit zu leisten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Herta Däubler-Gmelin?
Ja.
Das Thema
„gemeinnützige Arbeit“ bringt mich zu der Frage: Finden
Sie nicht auch einige der Bemerkungen mehr als merkwürdig, dies sei schwer oder nicht zu organisieren, nachdem wir in Mecklenburg-Vorpommern jahrelang den
flächendeckenden Versuch gemacht haben, alle Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit zu ersetzen?
Könnten Sie so freundlich sein, aus Ihrer persönlichen Erfahrung als Direktor eines Amtsgerichts vielleicht etwas
zur gemeinnützigen Arbeit zu erzählen?
({0})
Ich bedanke mich sehr für
diese Frage, Frau Abgeordnete Däubler-Gmelin. Mecklenburg-Vorpommern hat gezeigt
({0})
- ihr seid eine Rasselbande -, dass man dies sehr wohl
über privatrechtliche Institutionen organisieren kann. Ich
kann Ihnen aufgrund meiner beruflichen Erfahrung sagen,
dass das Bundesland Hessen bereits vor 17 Jahren unter
dem damaligen Justizminister Dr. Herbert Günther
({1})
- ein sehr guter Mann - den Feldversuch „gemeinnützige
Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafe“ gestartet hat. Ich habe
damals als Staatsanwalt an diesem Feldversuch sehr aktiv
mitgewirkt. Wir haben gesehen, dass dieser Feldversuch
in der Öffentlichkeit sehr gut angekommen ist und dass
insbesondere die Betroffenen, also diejenigen, die eine
Geldstrafe hätten zahlen müssen, sie aber nicht zahlen
konnten - es war nicht so, dass sie sie nicht zahlen wollten, Herr Geis -, sehr wohl gemerkt haben, dass es sich
hierbei um eine ganz massive Sanktion gehandelt hat.
Wenn Sie mich nach meinen Erfahrungen fragen, dann
sage ich Ihnen, dass das Fahrverbot so, wie es jetzt ausgestaltet ist, genau der richtige Weg ist. Sehr viele Strafrichter - ich spreche jetzt aus meiner richterlichen Erfahrung - haben vor der Überlegung gestanden: Wenn ich
jetzt die Fahrerlaubnis einziehe, dann muss der Betreffende den Führerschein neu beantragen und machen.
({2})
Ich weiß nicht, ob Sie es schaffen würden. Viele hätten
es niemals geschafft, den Führerschein erneut zu bekommen. Wir als Strafrichter wussten immer, dass wir diesen
Menschen damit einen Bärendienst erweisen. Diese
Spanne, die Möglichkeit der Verlängerung des Fahrverbots - das ist immer noch Antwort auf die Frage - auf
sechs Monate, ist genau der richtige Weg.
Sie sollten Ihre
Antwort nicht zu sehr ausweiten.
({0})
Ich bedanke mich für die
Frage.
({0})
- Ich bedanke mich für den Beifall. Sie haben gesehen: Es
klappt.
({1})
Wir haben diesen Gesetzentwurf heute eingebracht,
um deutlich zu machen, dass im strafrechtlichen Bereich
mehr als die von Ihnen bisher gehandhabte Knüppel-ausdem-Sack-Politik kommen muss.
({2})
Wir wollen mit diesem Gesetz deutlich machen: Einerseits liegen uns die Belange der Opfer sehr am Herzen; andererseits wissen wir ganz genau, wie wir die Täter zu behandeln haben.
({3})
Sie werfen uns immer vor, wir würden etwas durchpeitschen. Jetzt beraten wir etwas in aller Ruhe und großer
Übereinstimmung, aber wir machen es wieder nicht richtig. Der liebe Herr van Essen, er hat behauptet, Herr
Stünker habe aus dem FDP-Parteiprogramm abgeschrieben. Wenn ich das richtig sehe, heißt der letzte Satz im
FDP-Parteiprogramm: Wenn morgen früh die Sonne
lacht, hat das die FDP gemacht!
Vielen Dank.
({4})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/9358 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Vereinfachte Debatte
Aufgaben und Perspektiven der transatlantischen Zusammenarbeit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Volkmar Schultz von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich vor
47 Jahren zu meiner ersten Reise nach Amerika aufbrach,
wusste ich zwar nicht genau, was mich erwarten würde.
Aber ich habe gespürt, dass diese Reise mein Leben nachhaltig beeinflussen würde.
Inzwischen sind es fast 50 Reisen über den großen
Teich geworden. Doch die USA sind für mich neben
Deutschland das schwierigste Land geblieben. Das mag
mit den gelegentlichen Enttäuschungen eines Liebhabers
zu tun haben, hat aber wohl stärker mit der Widersprüchlichkeit der Traditionen in der amerikanischen Politik,
insbesondere der Außenpolitik, zu tun. Auf der einen Seite
ist das, was wir als Isolationismus zu bezeichnen pflegen,
spätestens vorgegeben seit der Abschiedsrede von George
Washington. Auf der anderen Seite ist dieser missionarische Eifer, mit dem die Gedanken der Freiheit und der
Demokratie vorangetrieben werden, um „Gottes heiligem
Experiment“ - so nannten es die Pilgerväter - in der
ganzen Welt zum Durchbruch zu verhelfen.
Jeder amerikanische Präsident versucht, zwischen
den beiden Extremen Idealismus und Pragmatismus
eine neue Balance zu finden, so auch jetzt George W.
Bush. Die Tatsache, dass beide Strömungen miteinander
in einem Dauerstreit liegen, führt in anderen Teilen der
Welt immer wieder zu Irritationen, Missverständnissen
und gelegentlich auch zu unreflektiertem Antiamerikanismus.
Es ist aber nicht so, dass nur wir Europäer die Amerikaner mit unberechtigten Stereotypen überziehen, sondern auch wir müssen uns manchmal von amerikanischer
Seite Dinge vorwerfen lassen, die nicht stimmig sind.
Robert Kagan hat kürzlich auf die Schwarz-Weiß-Malerei
in den transatlantischen Beziehungen hingewiesen. Ich
kann an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, möchte
aber jedem, der sich ernsthaft mit Amerika beschäftigt,
empfehlen, sich intensiv mit der Geschichte und dem institutionellen Gefüge des Landes auseinander zu setzen.
Wir Europäer sehen Amerika zu oft als einen monolithischen Block. Wir geben uns der Illusion hin, dass die
von Henry Kissinger einst bei den Europäern eingeforderte einheitliche Telefonnummer auf der anderen Seite
tatsächlich existiert. Aber es gibt sie nicht.
({0})
Stattdessen vernehmen wir, wenn wir genau hinhören,
eine ganze Kakophonie von Stimmen in der amerikanischen Regierung, im Kongress und auch zwischen den
beiden. Dabei wird die Rolle des Kongresses von vielen
Europäern sträflich vernachlässigt.
Warum hatten etwa das Kioto-Protokoll oder der Internationale Strafgerichtshof auch zu den Zeiten der ClintonRegierung keine Chance? - Weil diese Verträge im Senat
keine Chancen haben und hatten.
Was ein von Wahlkampfinteressen gesteuerter Kongress zustande bringt, zeigt das soeben verabschiedete
Gesetz zum Schutze amerikanischer Soldaten, das einerseits die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof kategorisch untersagt, andererseits aber internationale Anstrengungen zur Bestrafung von Völkermord
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fordert, zum
Beispiel im Fall von Milosevic. Das passt nicht zusammen. Es untergräbt die Glaubwürdigkeit der westlichen
Führungsmacht und erleichtert den Gegnern Amerikas
das Geschäft. Die Vereinigten Staaten sollten akzeptieren,
dass neuartige Verbrechen nicht nur neuartige Bekämpfungsmethoden, sondern auch eine Weiterentwicklung
des internationalen Strafrechts erfordern.
({1})
Warum erwähne ich das? - Weil es zeigt, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ungeheuer wichtig es ist, dass
auch der nächste Deutsche Bundestag und die Parlamentarier anderer europäischer Länder noch intensiver und
kontinuierlicher auf Tuchfühlung mit dem amerikanischen Kongress gehen und dass wir intensiv an einem
Netzwerk von Kontakten zu den dortigen Kollegen, zu deren Mitarbeitern und den sie beratenden Think Tanks arbeiten sollten. Es sind dicke Bretter, die dort gebohrt werden müssen, damit wir die europäische Sicht der Dinge
einfließen lassen können.
Wir haben vor wenigen Tagen das 30-jährige Bestehen
des German Marshall Fund begangen und an die transatlantische Nachkriegsgeschichte erinnert. Marshall-Plan,
NATO und die europäische Integration waren damals
Ausdruck einer klugen Politik, die es verstand, eigene Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen mit einem Friedens-,
Freiheits- und Demokratiebündnis zu verbinden.
({2})
Wie uns der Balkan-Stabilitätspakt lehrt, ist es bis zum
heutigen Tag eine kluge Politik geblieben. Seit Jahrhunderten ist es Europa niemals so gut gegangen wie heute
und einiges davon verdanken wir Amerika, das wir doch
so gerne kritisieren.
Europa und Amerika können ihre Interessen langfristig nur gemeinsam verwirklichen. Dies gilt auch für die
Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Wir
müssen uns selbst, aber auch den Amerikanern immer
wieder verdeutlichen, dass der Kampf gegen Hass und
Terror, gegen menschenverachtende Diktaturen, gegen
Hunger, Armut und Seuchen keineswegs nur mit militärischen Mitteln geführt werden kann, sondern dass er
auch nachhaltige und geduldige zivile Strategien erfordert.
({3})
Andererseits müssen wir Europäer einsehen, dass es
Situationen gibt und geben wird, in denen auch eine militärische Option notwendig sein kann. Dabei darf es
keine Arbeitsteilung nach dem Motto „Amerika fürs
Grobe und Europa für den Verputz“ geben. Frieden wird
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
nicht allein auf dem Schlachtfeld und Demokratie nicht
allein mit dem Scheckbuch erreicht.
({4})
Die berufsmäßigen Kaffeesatzleser der transatlantischen Beziehungen haben immer wieder geglaubt, tief
greifende Dissonanzen und Krisen feststellen zu müssen.
Lassen Sie mich daran erinnern, dass es schon auf dem
Höhepunkt des Kalten Krieges, nämlich 1963, zwischen
Amerika und Europa den so genannten Hähnchenkrieg
gegeben hat, dem später der Bananenkrieg und in jüngster
Zeit der Stahlkrieg gefolgt sind. Ich kann nur sagen:
glückliches Europa, das solche Kriege führen, gewinnen
oder auch mal verlieren kann; denn sie sind nichts weiter
als Ausdruck der intensivsten Beziehungen, die jemals
zwei große Weltregionen miteinander verbunden haben.
Wer an einem einzelnen Tag Waren und Dienstleistungen
im Wert von etwa 1,25 Milliarden Euro austauscht, wer jeden Tag Hunderttausende von Menschen hin- und herreisen lässt, der sollte gelegentliche Reibereien im Grenzbereich wirtschaftlicher und politischer Überlegungen nicht
allzu dramatisch bewerten.
({5})
Dissonanzen liegen weniger in den Zielen, sondern
mehr in den Methoden des Vorgehens begründet. Aufgrund seiner Geschichte und in realistischer Einschätzung
seiner eigenen Möglichkeiten sieht Europa seine Chancen
im multilateralen Vorgehen und in der Kooperation mit
internationalen Organisationen. Das ist für die USA jedoch nur eine von mehreren Optionen. Sie könnten eben
auch anders.
Kooperation durch internationale Regime und Organisationen ist langfristig angelegt. Einseitiges Handeln geht
schneller, ist deshalb verführerischer, kann aber auch
kurzlebiger und riskanter sein. In der transatlantischen
Beziehung wird gelegentlich mit zwei Geschwindigkeiten
gearbeitet. Wer das weiß, kann sich darauf einstellen. Die
Amerikaner wissen, dass sie ihre Werte und ihre Interessen am besten gemeinsam mit uns vorantreiben können;
umgekehrt gilt das genauso.
({6})
Nehmen wir Präsident Bush doch beim Wort! Amerika,
so sagte er hier an dieser Stelle, wünscht sich ein starkes,
konsolidiertes Europa, ein demokratisch erneuertes Russland und eine handlungsfähige NATO. Er forderte Europa
zu einer engen partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf.
Das Feindbild des muskelstrotzenden Rambo, der unüberlegt aus der Hüfte schießt, sollte bei uns wirklich keinen Platz mehr haben.
Was also ist unsere Aufgabe? Stärken wir Europa, damit es in entscheidenden Momenten mit einer Stimme sprechen kann! Helfen wir Russland beim Aufbau weiterer demokratischer Strukturen und setzen damit die kluge Politik
der vergangenen 50 Jahre fort! Begreifen wir aber auch,
dass wir Europäer als Wirtschaftsweltmacht uns nicht einfach von den schmutzigen Händeln dieser Welt fernhalten
können, dass wir also über den europäischen Tellerrand
hinausschauen müssen. Auch kluge Politik braucht Macht.
Aber große Macht braucht auch kluge Politik.
({7})
Vor zehn Jahren haben viele von uns geglaubt, die Welt
werde einfacher werden. Stattdessen ist sie schwieriger
geworden. Wir tun gut daran, die transatlantischen Beziehungen nicht nur als kulturelle Beziehungen, als Wertebeziehungen, als wirtschaftliche Beziehungen, als militärische Beziehungen, als Allianzbeziehungen zu begreifen,
sondern die transatlantische Allianz auch als eine wirklich
komplexe Lerngemeinschaft zu begreifen. Im Deutschen
Bundestag und im amerikanischen Kongress treten die alten Riegen der erfahrenen Transatlantiker langsam ab.
Beide Parlamente sollten sich bemühen, Nachwuchs zu
rekrutieren. Nichts ist für die transatlantischen Beziehungen gefährlicher als Gleichgültigkeit.
({8})
Als Letztes ein Wort der Entschuldigung dafür, dass ich
in meinem Redebeitrag nichts über Kanada gesagt habe.
Wir neigen dazu, Kanada nur am Rande zu behandeln.
Aber Kanada ist ein freundlicher, ein uns geneigter Partner, mit dem es kaum Konflikte gibt. Deswegen neigen
wir dazu, Nordamerika oder auch Amerika als die USA zu
begreifen. Die Kanadier sollten wissen, dass das bei mir
durchaus nicht der Fall ist,
({9})
sondern dass ich ihre Freundschaft und ihre Partnerschaft
sehr wohl zu schätzen weiß.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Herr Kollege Schultz, wie ich höre, war das Ihre letzte Rede in diesem Hause. Ich darf Ihnen im Namen des Hauses für Ihre
kollegiale und fruchtbare Zusammenarbeit danken.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Lamers von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Der Angriff des transnationalen Terrorismus vom 11. September auf die wirtschaftlichen und militärischen Symbole Amerikas, das
WTC und das Pentagon, ist der radikalste, aber keineswegs der einzige Ausdruck der Auflehnung gegen die
von den USA als dem Protagonisten des Westens geprägte heutige Weltordnung. Er ist Zeichen ihrer tiefen
Krise. Der Beifall für dieses monströse Ereignis bei
den Massen in der islamischen Welt, aber auch Reaktionen in anderen ihrer Teile sind das eigentlich politisch
Volkmar Schultz ({0})
Beunruhigende. Der Westen, nicht nur seine Vormacht
Amerika, ist herausgefordert. Der Westen muss deswegen eine grundlegende Neubewertung des Zustandes, in
dem sich die Welt befindet, und eine Neubestimmung
seiner Verantwortung für sie vornehmen, um die unerlässlichen militärischen und anderen operativen Maßnahmen in einen ebenso unerlässlichen, aber noch nicht
vorhandenen, noch nicht definierten politischen Rahmen
stellen zu können.
Der 11. September 2001 demonstriert die Verletzlichkeit der heutigen Zivilisation und er demonstriert, dass
auch Amerika verwundbar ist. Der Westen muss sich neu
formieren und die tiefen Differenzen überwinden, die seit
diesem Datum offenkundig geworden sind. Dieses hat in
brutaler Deutlichkeit die Notwendigkeit, ja die Unausweichlichkeit eines noch engeren europäisch-amerikanischen Zusammenwirkens demonstriert.
Zu diesem Zweck müssen Europa und Amerika erstens
vorab und vor allem das ganze Ausmaß des Aufruhrs gegen die heutige Weltordnung und dessen Ursachen
wahrnehmen, es sich bewusst machen, die Herausforderungen wirklich annehmen, ihre Politik davon bestimmen lassen - alle Politik, nicht nur die äußere, sondern
auch die innere - und vor allem die Prioritäten anders setzen. Außenpolitik hat Vorrang,
({1})
weil unser Wohl und Wehe, das der Völker des Westens,
immer mehr vom Wohl und Wehe aller seiner Nachbarn
abhängt. Und Nachbarn sind heute alle.
({2})
Der konkrete Ausdruck der Prioritäten eines Landes ist
sein Haushalt. In Deutschland, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, sind die Ausgaben für auswärtige Zwecke, so
wie sie sich in den Haushalten des Auswärtigen Amtes,
des Entwicklungshilfeministeriums und des Verteidigungsministeriums widerspiegeln, von 1990 bis 2002 von
einem Anteil von mehr als 21 Prozent auf einen Anteil von
weniger als 12 Prozent am Gesamthaushalt zurückgegangen.
({3})
Ich sage in aller Deutlichkeit: Unser Land setzt seine Prioritäten falsch.
({4})
Wenn nach dem 11. September nichts mehr so wäre,
wie es vorher war, was oft behauptet worden ist, dann
müsste das ja in allererster Linie für das Bewusstsein gelten. Davon aber ist in unserem Lande nichts zu spüren, in
Europa übrigens auch nicht, denn sonst würde Europa
endlich jetzt, spätestens jetzt mit einer Stimme sprechen.
Zweitens. Der Westen darf die Welt nicht nur unter dem
Gesichtspunkt des Terrorismus sehen.
({5})
Er darf nicht nur die Gefahren, sondern muss auch die
Chancen für eine etwas bessere Welt wahrnehmen.
({6})
Wenige Wochen nach dem 11. September sagte ein radikaler islamistischer Politiker über Amerika: Das Land,
das wir am meisten hassen, ist unser Paradies. - Das zeigt
die ganze Ambivalenz selbst der radikalsten Gegner der
USA. Selbst sie sehnen sich nach gewissen Errungenschaften des Westens, weil nur sie ein besseres und freieres Leben versprechen. Der ganz überwiegende Teil der
Menschheit weiß, dass er die Zusammenarbeit mit dem
Westen braucht, und er will sie. Der Hass auf Amerika
geht oft auf enttäuschte Hoffnung und auch auf Zuneigung zurück. Noch hat der Westen die Mittel, die Welt so
zu gestalten, dass sie ihm nicht feindselig wird. Die Völker, die nach einem besseren Leben, nach einem „Platz
an der Sonne“ streben, sind nicht seine „natürlichen
Feinde“.
Drittens. Der Westen darf nicht alles über den Kamm
des Terrorismus scheren und er darf nicht zulassen, dass
seine Verbündeten es tun.
({7})
Es gilt - so schwer das ist -, legitimen Widerstand auch
mit gewaltsamen Mitteln gegen illegitime Herrschaft gegenüber illegitimem Terrorismus abzugrenzen. Der Westen selbst, nicht zuletzt die USA, hat viele solcher Widerstandsbewegungen unterstützt. Die Mittel im Kampf
gegen den Terrorismus dürfen den Terrorismus nicht fördern. Die tieferen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ursachen müssen beseitigt werden, wenn Terroristen nicht wie Fische im Wasser schwimmen und dann, wie
wir aus ungezählten Erfahrungen wissen, unbesiegbar
werden sollen. Nationaler wie transnationaler Terrorismus lässt sich nur besiegen, wenn zwei Elemente die Strategie bestimmen: Druck durch militärische bzw. polizeiliche Maßnahmen und Isolierung innerhalb der eigenen
Gesellschaft.
Viertens. Der Westen darf den Kampf gegen den transnationalen Terrorismus sich nicht zur Feindschaft mit dem
revolutionären Islam entwickeln lassen, um die Flamme
der Revolution nicht weiter anzufachen. Die teuflische
Alternative, vor die uns der Terrorismus stellen will, lautet: Kapitulation oder totale Feindschaft. In diese Falle
dürfen wir nicht laufen. Polarisierung, Feindschaft und totaler Krieg sind die Antriebselemente von Terroristen aller
Art. Mit ihnen wollen sie die Massen gewinnen. Demokratien hingegen sind diese Elemente wesensfremd und
eine Bedrohung ihrer Eigenart.
Fünftens. Der Westen muss versuchen, die Welt und
sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen. Verstehen
ist die erste Voraussetzung für Verständigung. Erkenntnis
der eigenen Fehler ist die Voraussetzung für Lernen. Manichäismus führt zu totaler Feindschaft, die mit allen
Mitteln verhindert werden muss.
Sechstens. Der Westen muss auch seine eigene ideelle
Position in historischer Perspektive klären. Das Ergebnis
ist: Der Westen muss nicht seine Prinzipien ändern, sonKarl Lamers
dern nach ihnen handeln, um seine Glaubwürdigkeit wiederherzustellen.
({8})
Eine Lösung des Israel-Palästina-Konfliktes, die auch
Palästinenser und Araber als gerecht empfinden, wäre
dazu ein entscheidender Beitrag.
Siebtens. Der Westen muss eine Vorstellung von einer
etwas besseren, von einer etwas gerechteren, von einer
etwas friedlicheren Weltordnung entwickeln. Ich sage es
in aller Klarheit: Wir brauchen eine Vision von einer besseren Welt, um den Hass zu überwinden.
({9})
Das muss eine Welt sein, die institutionalisiert zusammenarbeitet, das heißt eine Welt, in der sich eine globale
Rechtsordnung entwickelt. Bis dahin - das heißt: noch
eine sehr lange Zeit - bedarf es einer Führungsnation, die
nur die USA sein können.
Die Richtung aber, in welche Amerika führt, muss eine
Rechtsordnung sein. Dazu muss es bereit sein, auch sich
selbst dem Recht zu unterwerfen und Ausnahmen nur zu
beanspruchen, wo sie sich zwingend seiner Rolle als
Führungs- und Sanktionsmacht und nicht eigensüchtigen
Interessen verdanken. Von der Weisheit, das heißt davon,
wie maßvoll Amerika diese Rolle spielt, hängt nach meiner festen Überzeugung die Zukunft der Welt entscheidend ab. Inwieweit Amerika dieser Rolle gerecht wird,
hängt wiederum entscheidend von dem Einfluss Europas
auf Amerika ab.
Auch deswegen muss sich der Westen neu formieren.
Die NATO muss in ein Bündnis zwischen Amerika und
Europa als handlungsfähige Einheit umgestaltet werden.
Die EU als solche muss im NATO-Rat vertreten sein. Der
politische Charakter der NATO muss ausgebaut werden.
Sie muss einen globalen Auftrag bekommen. Davon hängt
die Zukunft der NATO ab, nicht von ihrer Osterweiterung.
Eine Allianz, die sich nicht um die großen Fragen kümmert, hat keine große Zukunft. Entweder bleibt die NATO
eine regionale Organisation zur sicherheitspolitischen
Rückversicherung ihrer Mitglieder gewissermaßen für
alle Fälle und vor allen Dingen zur Absicherung der globalen Rolle Amerikas oder sie wird selbst ein globaler Akteur, der seine europäischen Mitglieder nicht nur für die
USA Hilfsdienste leisten lässt, sondern ihnen auch erlaubt, die Welt mitzugestalten. Ob das gelingt, hängt
natürlich von beiden Seiten ab, vor allen Dingen aber von
den Europäern. Sie könnten schon heute von den Amerikanern Mitentscheidungsrechte bei ihrer Strategie gegen
den transnationalen Terrorismus einfordern, da sie zumindest in allen Phasen nach der militärischen gefordert
werden. Das geschieht im Übrigen ja zum Teil auch mit
militärischen Mitteln. Die Arbeitsteilung, dass Amerika
alleine Entscheidungen trifft und Europa die Folgen, die
sich daraus ergeben, automatisch mitträgt, ist auf Dauer
inakzeptabel.
({10})
Erfolg verspricht diese Forderung nur, wenn Europa
mit einer Stimme spricht und alle seine Kräfte, die militärischen wie die politischen, zusammenführt. Es hat mir
zu denken gegeben, dass in der bedeutenden Rede des
amerikanischen Präsidenten in West Point Europa überhaupt nicht vorkam.
Ob Europa zu der notwendigen Einheit findet, ob es
den Weg seiner Schicksalsgemeinschaft mit Amerika nur
miterleidet oder ob es diesen auch mitgestaltet, darauf
muss der soeben begonnene Verfassungsprozess eine Antwort finden. Sie wird aber nur gefunden werden, wenn es
ein inhaltliches Einvernehmen über die Rolle Europas in
der Welt, vor allem über sein Verhältnis zu Amerika gibt.
Dies wiederum hängt entscheidend von einem deutschfranzösischen Einvernehmen ab. Dies wiederum liegt keineswegs in erster Linie an Frankreich, wie das Opinio
communis in Deutschland zu sein scheint. Wenn es nämlich Meinungsverschiedenheiten zwischen Amerika und
Europa gibt, gibt es gewissermaßen drei idealtypische Positionen: eine britische, die der Amerikas am nächsten
steht, eine französische, die gegenüber Amerika am kritischsten ist, und die Deutschlands, das am liebsten nicht
gefragt werden möchte. Eine solche Vorstellung aber von
unserem, vom europäischen Verhältnis zu der übrigen
Welt ist nicht nur für die Selbstbehauptung Europas, sondern auch für das Selbstverständnis, für die Identität Europas - ich sage es ganz uneingeschränkt - wichtiger als
alles andere. Hätten wir eine solche gemeinsame Vorstellung, dann würde sich auch manch interner Zwist leichter
auflösen lassen.
Europa muss und kann nicht werden wollen wie Amerika, um ein selbstständiger Akteur und ebenbürtiger Partner zu sein; das ist weder möglich noch - ich sage es in
aller Deutlichkeit - wünschenswert. Europa muss vielmehr seine spezifischen Stärken entwickeln. Es muss
nicht gleichartig wie, sondern gleichwertig mit den USA
werden. Amerika seinerseits braucht einen Partner, der
immer auch Widerlager sein muss. Grenzenlosigkeit,
auch scheinbar grenzenlose Macht, führt immer zum
Selbstverlust. Europa muss in den Augen der nicht westlichen Welt als eigenständiger Akteur innerhalb des Westens erscheinen und nicht nur als ein Anhängsel oder bestenfalls als Juniorpartner der USA, sonst kann es die Rolle
nicht spielen, die von ihm zu Recht erwartet wird und die
den Westen insgesamt stärkte. Es muss ein zuverlässiger
Partner der Länder jenes Bereichs sein und ihre Sichtweise Amerika zu vermitteln versuchen, ohne sich gegen
Amerika in Stellung bringen zu lassen, und es muss die
Sichtweise Amerikas ihnen zu vermitteln versuchen.
Europa und Amerika haben die gleichen grundlegenden Interessen, weil sie die gleichen Ansichten vom Menschen, von der Natur des Menschen und von der Art seines Zusammenlebens haben. Das ist das starke
Fundament der transatlantischen Gemeinsamkeit, von der
Präsident Bush zu Recht vor wenigen Wochen von dieser
Stelle aus gesprochen hat.
Dennoch gehen die Meinungen, wie der Westen seine
Stellung in der Welt verteidigen und gestalten soll - Sie
haben es schon erwähnt, Kollege Schultz -, zwischen Europa und Amerika zunehmend auseinander. Im Vordergrund steht dabei häufig die Rolle der militärischen
Macht. Ob und inwieweit man über sie verfügt, bestimmt
die Weltsicht natürlich wesentlich mit. Dies tun aber auch
historische Erfahrungen: Das Lebensgefühl einer Gesellschaft, die ohne jeden Zweifel die erfolgreichste der Gegenwart ist, muss zwangsläufig zu dem Schluss kommen,
dass das, was gut für Amerika ist, auch gut für die Welt sei.
Hier ist nicht der Ort, um alle tieferen Gründe für alle
Facetten der unterschiedlichen Lebensgefühle auf beiden
Seiten des Atlantiks zu analysieren. Vielmehr ziehe ich
hier nur die Schlussfolgerung: Europa darf ihretwegen
nicht immer stärkere Ressentiments entwickeln, also das
Lebensgefühl dessen, der sich im Leben als zu kurz gekommen vorkommt, sondern muss die Ursachen für diese
unguten Gefühle überwinden. Kritik an amerikanischer
Politik ist zwar oft angebracht. Solange Europa aber nur
weiß, was es nicht will, nicht jedoch, was es will, und solange es auch keine ausreichenden Mittel hat oder diese
nicht einsetzt, klingt seine Kritik hohl. Solange es sich damit begnügen muss, Amerika zu kritisieren, dann aber
doch mitmacht, wenn Amerika entschieden hat, wie es
- ich wage es kaum zu sagen - im Falle des Irak wahrscheinlich wieder der Fall wäre, darf es seinen Vasallenstatus nicht beklagen.
Europa muss die Ursachen für seine Ressentiments gegenüber Amerika beseitigen: die zu große Abhängigkeit
heute in Fragen der globalen Sicherheit wie früher in denen
der europäischen Sicherheit sowie das Gefühl, keinen angemessenen Einfluss auf Entscheidungen nehmen zu können, die es gleichwohl betreffen, und keine unmittelbare
Verantwortung und keinen Entscheidungszwang zu haben.
Einen solchen Entscheidungszwang müssen sich die Europäer selber schaffen, um Unentschlossenheit und Uneinigkeit zu überwinden. Der Starke und Selbstbewusste hat
keine Ressentiments; nur er ist ein verlässlicher Partner.
Europa hat auch keinen Grund, Ressentiments zu entwickeln. Es hat Stärken, über die Amerika nicht verfügt.
Europa hat einen außerordentlichen Schatz an Erfahrungen in allen Teilen der Welt. Es hat aus seinen Niederlagen gelernt. Die nicht westliche Welt erwartet geradezu
sehnsüchtig ein stärkeres Engagement Europas auf allen
Feldern der Politik, hat Europa doch alles, was dieser Teil
der Menschheit braucht, ohne hegemonialer Absichten
verdächtig oder zu ihnen überhaupt fähig zu sein.
Schließlich meistert Europa etwas, was in der ganzen
Welt und in vielen ihrer Regionen notwendig ist, soll der
Frieden dauerhaft, das heißt institutionell, gesichert sein:
die Entwicklung einer Rechtsordnung, der sich alle
seine Mitglieder als freie und selbstbewusste Nationen
freiwillig unterwerfen. Auch bemüht sich Europa im Inneren, für seine Bürger eine Ordnung zu entwickeln, in
der Freiheit und Solidarität gleichermaßen gelten. Dies ist
das Wertvollste, was Europa vorzuweisen hat und was die
europäischen Staaten über Jahrzehnte geschaffen haben.
Diese Ordnung ist modern und zukunftsweisend.
Amerika bleibt ein faszinierendes Land mit einem ganz
eigenen Charakter. Diesen Charakter haben die Amerikaner nach dem 11. September wieder eindrucksvoll unter
Beweis gestellt. Europa muss bereit sein, diesen Charakter
Amerikas anzunehmen, auch wenn es manchmal schwer
ist. Umgekehrt muss Amerika bereit sein, das Wesen Europas zu verstehen und damit seine Modernität zu begreifen. Amerika muss in seinem eigensten Interesse bereit
sein, Europa nicht nur als irgendeinen unter vielen Verbündeten, sondern als den wertvollsten Partner mit dem
ihm eigenen Charakter zu akzeptieren. Die Amerikaner
werden dies aber nur tun, wenn sie es tun müssen, wenn
also Europa stärker wird, als es derzeit ist.
Es kann keinen Zweifel geben, verehrte Kolleginnen
und Kollegen: Die USA sind der mächtigste Akteur in der
heutigen Welt; Europa aber ist der modernste. Jean Monnet
hat einmal gesagt: „Europa ist ein Beitrag zu einer besseren Welt.“ Nichts ist vordringlicher, als dieses Wort Jean
Monnets noch sehr viel stärker als bisher zur Geltung zu
bringen.
Wir, die Deutschen, haben in den vergangenen Jahrzehnten zu diesem Bau Europas einen maßgeblichen Beitrag geleistet. Ich sage ohne Einschränkung: Das ist für
mich ein wesentlicher Grund, weshalb ich stolz bin, ein
Deutscher zu sein; denn das ist eine Leistung, die wir vollbracht haben.
({11})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte, dass wir
auch in Zukunft in diesem Sinne stolz sein können, Deutsche zu sein.
Vielen Dank.
({12})
Herr Kollege Lamers, ich darf auch Ihnen im Namen aller Kollegen für Ihre letzte Rede in diesem Hause, für die außenpolitische Grundsatzrede, die Sie soeben gehalten haben,
und für Ihre langjährige kollegiale und erfolgreiche Arbeit
in diesem Hause danken.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Rita Grießhaber von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer Welt
im Umbruch sind die Vereinigten Staaten von Amerika die
einzig verbliebene Macht, die die Größe und die Möglichkeit hat, eine Ordnungsstruktur zu entwickeln. Aber
gleichzeitig fragen wir uns: Was wollen sie im Nahen
Osten, im Irak und anderswo? Und vor allem: Mit welchen Mitteln wollen sie es erreichen?
So sehr das transatlantische Verhältnis zum Fundament
der Bundesrepublik gehört, ist es doch auch Teil der im
Umbruch befindlichen Welt. Ja, Herr Kollege Lamers,
hier stellt sich die Frage: Welche Partnerschaft hat Europa
zu bieten? Wir werden nur weiterkommen, wenn es uns
gelingt, Europa als echten Partner zu konstituieren.
Mich erschreckt allerdings, wie leicht man viel Beifall
bekommen kann, wenn man auf die US-Politik einschlägt.
Nur: Die jetzige US-Regierung macht es uns nicht immer
leicht, solche Kritik zu widerlegen. Liegt das an der Rhetorik? - Zum Teil. Für uns macht es einen Unterschied, ob
die so genannten States of Concern als „strategische Herausforderung“ oder als „Achse des Bösen“ bezeichnet
werden. Auf der einen Seite ist unsere Sichtweise zum Beispiel auf den Iran eine wesentlich differenziertere. Aber
wer realisiert auf der anderen Seite schon, dass die Verurteilung des großen „amerikanischen Satans“ normaler Bestandteil vieler Freitagspredigten im Iran ist?
Machen wir uns eines klar: Bei allen Gemeinsamkeiten bezüglich Werten und Interessen gibt es wesentliche
Unterschiede, nicht nur im Hinblick auf die Tradition.
Auch unsere militärischen Fähigkeiten sind bei weitem
bescheidener und unsere Stärken liegen auf anderen Gebieten, nämlich im mühsam trainierten Ausgleich unseres
europäischen Modells. Kollege Lamers, Sie haben darauf
hingewiesen.
Meine Damen und Herren, die USA haben sich in Separation von der europäischen Staatenwelt gegründet, die
damals ihren Multilateralismus sehr kriegerisch gelebt
hat. Sie haben sich in Abgrenzung von ihr als freieren,
besseren Staat verstanden und halten ihre Ordnung per se
für die gerechtere. Nach dem Ende der bipolaren Welt
sind auch sie als verbliebene Supermacht mindestens
langfristig darauf angewiesen, dass eine geordnetere Staatenwelt auch die entsprechende Legitimation braucht.
Deshalb ist ihr Kampf gegen die Bemühungen um internationale Verrechtlichung äußerst kontraproduktiv. Den
Vorstellungen, amerikanische Eingreiftruppen könnten
den Gerichtssaal in Den Haag stürmen wollen, sollten
schnellstmöglich alle Grundlagen entzogen werden; das
Gesetzesvorhaben einer „Hague Intervention“ sollte verschwinden.
({0})
Aber wir haben keinen Grund zur Überheblichkeit. Wir
Europäer waren nicht in der Lage, die Balkankrise ohne
die USA zu bewältigen. Es ist eine schlichte Tatsache, dass
wir auf das Engagement der USA angewiesen sind. Darum
ist es auch so bitter, wenn die USA quasi mit Erpressung
das Recht des Stärkeren durchsetzen wollen wie bei der
Immunitätsfrage der Friedensmissionen. Denn, seien wir
ehrlich, wenn sich die USA an einem Brennpunkt heraushalten, ruft mindestens die halbe Welt: Amerika, wo
bleibst du? Besonders schwierig wird es, wenn aus der
Handlungsunfähigkeit heraus geradezu Allmachtsfantasien entwickelt werden, als müssten die USA nur mit dem
Finger schnippen und alle Probleme wären gelöst.
Das zeigt sich nicht zuletzt im Nahostkonflikt. Da
hielt sich die Bush-Administration erst einmal zurück und
alle warteten sehnsüchtig auf ein Wort aus Washington.
Die letzte Rede von Präsident Bush konnte diese Erwartungen nicht erfüllen. Eine schnelle Lösung ohne den Willen der Beteiligten gibt es nicht.
({1})
So notwendig es auch prinzipiell ist, die Palästinenserverwaltung von Grund auf zu reformieren und demokratische Strukturen zu fordern - das dauert sehr lange -, so
wenig akzeptabel ist es dabei, ein personelles Wahlergebnis vorzuschreiben.
({2})
Israel braucht Sicherheit, aber auch in Israel zweifeln
zu Recht immer mehr Menschen daran, dass dem palästinensischen Terror mit militärischen Mitteln beizukommen ist. Die Binsenweisheit, dass alle Beteiligten auf einen Frieden hinarbeiten müssen, bleibt, ebenso wie die
große Sorge, wo die Spirale der Gewalt letztlich endet.
Nach dem 11. September gab es in der Welt neben Entsetzen, Trauer und Solidarität auch erschreckend viel
klammheimliche Freude derjenigen, die in den USA die
Wurzel allen Übels sehen und dabei ignorieren, dass sich
viele Menschen auf der Welt nach einem freien amerikanischen Leben sehnen, auch wenn einige paradoxerweise
die USA dafür verantwortlich machen, dass es ihnen verwehrt ist. Diese Hassliebe - es ist nicht nur enttäuschte
Liebe, Kollege Lamers - beweist doch zugleich, wie groß
letztlich die Faszination von Freiheit ist.
Beim Kollegen Schultz und besonders bei Ihnen, Herr
Kollege Lamers, möchte ich mich für die stets gute und
faire Zusammenarbeit bedanken. Im Auswärtigen Ausschuss durften wir Sie nicht nur als kompetenten, sondern
auch als äußerst integren Menschen kennen lernen. Sie
haben stets die Sache in den Mittelpunkt Ihrer Arbeit gestellt und das sensible Feld der Außenpolitik nie innenpolitisch instrumentalisiert. Wohl aber hat Sie oft die Sorge
umgetrieben, wie wir im Land die notwendige Akzeptanz
für die oft schwer vermittelbaren Zwänge der Außenpolitik erreichen können. Ich möchte mich hier von Ihnen mit
einem allerherzlichsten Dankeschön verabschieden.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt von der FDPFraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In den wenigen Minuten, die
ich in einer viel zu kurzen Debatte über transatlantische
Herausforderungen habe, eine Konzentration auf einige
Feststellungen:
Wir kennen alle die Irritationspotenziale, die es im
transatlantischen Dialog gibt. Das gilt für manche unterschiedliche Bewertungen von strukturellen Instabilitäten
auf dieser Welt und zuweilen auch für die Frage, wie man
sich der Lösung eines Problems nähert. Es gilt hinsichtlich eines anderen Gefühls von uns Europäern in Bezug
auf ein internationales Herangehen an manche Themen
und es gilt vor allem bei der Bevorzugung der europäischen Haltung, doch mehr Vertrauen in unsere historischen Erfahrungen, in internationale Gremien, in die Vereinten Nationen, in multinationale Annäherung und auch
in das Thema Rule of Law bis hin zum Internationalen
Strafgerichtshof zu setzen.
Das ist keine Meinungsverschiedenheit, das ist eine andere, eine europäische Haltung. Auch wenn unsere amerikanischen Freunde die einzig übrig gebliebene Supermacht sind, ist ihre Haltung, zu glauben, dass sie durch
internationale Institutionen eher an dem gehindert würden, was sie ihrer Überzeugung nach zur Verteidigung der
Freiheit unternehmen sollten, nicht legitimer als die europäische Haltung, nur weil das Land größer ist.
Deshalb ist das kein Meinungsstreit, es ist ein Haltungsunterschied. Guten Gründen, die unsere amerikanischen Freunde für ihre Haltung haben und die wir respektieren, können wir ebenso überzeugende eigene
historische Erfahrungsgründe für unsere Haltung gegenüberstellen.
Dabei muss aber klar sein, dass dieses Irritationspotenzial nicht im entferntesten in die Nähe der Störung einer
wirklichen Partnerschaft kommt.
({0})
In der Handelspolitik haben wir zwar eine lange Liste
von Themen, aber der Bereich des Stahlexports, wo es
Probleme gab, macht ja weniger als 5 Prozent des Handelspotenzials aus. Europa und Amerika haben trotz dieser Irritationspotenziale bedeutend mehr Gemeinsamkeiten als ein Land alleine mit irgendeinem anderen Partner
auf der Welt. Sie sind die beiden mit Abstand wichtigsten
Akteure der Weltpolitik und haben ein unglaubliches ökonomisches und politisches Potenzial. Man vergegenwärtige sich allein, dass 40 Prozent des Weltsozialprodukts in
diesen beiden Regionen beheimatet sind. Wenn wir klug
sind, setzen wir dies zum strukturellen Frieden in der Welt
ein. Das ist unverzichtbar.
({1})
Wir müssen wissen, mit welcher politischen Chance
wir es transatlantisch zu tun haben. Hier heißt „transatlantisch“ nicht nur USA, sondern Kanada gehört dazu.
Wir haben es im letzten Jahrtausend zustande gebracht,
transatlantisch ein Stück Partnerschafts- und Sicherheitssystem zu entwerfen. Mit diesem ökonomischen Potenzial sollten wir so etwas Ähnliches wie eine transatlantische Freihandelszone aufbauen, die WTO-konform ist
und uns in wirtschaftlicher Hinsicht nicht die täglichen Irritationspotenziale liefert.
Ich sage das aus folgendem Grunde: Die ökonomischen und politischen Chancen dieser beiden größten
Akteure der Weltpolitik sind überragend, wenn ihre jeweiligen politischen Eliten und ihre politischen Verantwortlichen sorgfältig damit umgehen und sie in internationalen Organisationen und im transatlantischen Dialog
vernünftig einsetzen. Wir können viel mehr bewirken, als
wir uns das heute vorstellen. Unseren amerikanischen
Freunden erschließt sich - Herr Kollege Lamers hat das
eindringlich geschildert - der europäische Prozess nicht
so einfach.
Der frühere Außenminister Kissinger hat immer nach
einer einheitlichen europäischen Telefonnummer gefragt.
Einer meiner Vorredner hat zu Recht gesagt, dass auch wir
in außenpolitischen Fragen oft nach einer einheitlichen
amerikanischen Telefonnummer suchen. Das dortige Präsidialsystem, auch wenn es europäische Kommunikationsschwierigkeiten in der Art nicht kennt, liefert uns
nicht in jedem Fall eine einheitliche Haltung. Im Pentagon anzurufen kann etwas anderes ergeben, als wenn man
im White House anruft. Wenn Sie im Außenministerium
anrufen, können Sie durchaus eine europäischere Antwort
bekommen, als das im Pentagon der Fall wäre. Das ist
nicht der Punkt.
Unsere amerikanischen Freunde müssen begreifen
lernen, dass sie als einzig verbliebene Supermacht in ihrer Organisationsform, in ihrer politischen Verfassung
nicht die einzige Antwort für den Frieden in der Welt
sind, sondern dass die Europäer auch einen Teil der Antwort geben können. Deshalb ist es das Wichtigste bei
den transatlantischen Beziehungen, dass wir beide wissen, was wir aneinander haben. Zur Wahrheit gehört
auch, dass wir Europäer erkennen müssen, dass wir zwar
ungeheure politische und ökonomische Potenziale haben, aber weltpolitisch noch nicht richtig Laufen gelernt
haben.
({2})
So sehr die Amerikaner als Supermacht eine begleitende
Abstützung durch die Europäer brauchen, so sehr brauchen wir Amerika. Uns fehlt dieser Schuss weltpolitischen Kalküls, den wir uns mühsam wieder erarbeiten und
legitimieren müssen, der aber notwendig ist. Das heißt,
wir brauchen uns gegenseitig und müssen uns miteinander einlassen. Für uns Europäer besteht darin die Chance,
in Weltordnungen liberale Akzente zu setzen, die so von
unseren amerikanischen Freunden nicht in jedem Fall bevorzugt würden. Es kann sich in vielen Formen vollziehen, solche Impulse zu setzen. Hierbei sollte man nie aufgeben.
Unsere amerikanischen Freunde haben oft die Tendenz, ungeduldig zu werden, wenn es nicht mehr darum
geht, Terroristen mit Raketen aufzuspüren. Sie überlassen
zweifellos den Aufbau von Zivilgesellschaften gerne
ihren europäischen Partnern, und zwar mit großen Teilen
in der Verantwortung der deutschen Politik. Das ist aber
nicht ein geringerer Beitrag für Stabilität und für Frieden
als der militärische. Allein schon deshalb macht das transatlantische Bündnis und der transatlantische Zusammenhalt Sinn. Dieser Aufbau von Zivilgesellschaften ist die
Grundlage für ein Stück dauerhaften Friedens auf dieser
Welt.
Ich will deshalb sagen: Der transatlantische Handlungsbedarf liegt in dem klaren Bewusstsein, uns miteinander einzulassen. Wir sind miteinander verbündet, nicht
nur im formalen Sinne. Es handelt sich nicht um ein
Bündnis, das nur dadurch zusammengehalten wird, weil
die Bundesrepublik Deutschland Unterschriften unter
Verträge gesetzt hat. Dieses Bündnis ist für uns kein taktisches Spiel und nicht nur eine strategische Chance. Die
transatlantische Zusammenarbeit beruht im Kern trotz unterschiedlicher nationaler Ausprägungen und unterschiedlicher Temperamente auf gemeinsamen Wertebezügen. Es
gibt auch Unterschiede bei Bewertungen von Sachverhalten, wie beispielsweise im Falle des Irak. Es gibt aber aufgrund dieser gemeinsamen Wertebezüge keinen Streit
über den Charakter dieses Regimes.
Die Chancen, die in der Zusammenarbeit zwischen
beiden Kontinenten liegen, sind weitaus höher als die Risiken. Wir würden in Kenntnis der geschichtlichen Abläufe des letzten Jahrhunderts einen gewaltigen Fehler
machen, wenn wir nicht begreifen würden, dass die positiven Potenziale - klug zusammengefügt, perspektivisch
eingesetzt sowie auf einem transparent demokratisch legitimierten Weltbild und auf den Menschenrechten basieDr. Wolfgang Gerhardt
rend - von entscheidender Bedeutung sind. Wenn wir
diese Errungenschaft nicht fahrlässig verspielen wollen,
dann müssen wir unseren Freunden sagen: Wir kennen die
Irritationspotenziale; aber wir kennen auch die Chancen.
Jede Seite würde einen gewaltigen Fehler machen, wenn
sie es an Zusammenhalt fehlen lassen würde.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Jetzt hat
der Kollege Wolfgang Gehrcke von der PDS-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Karl Lamers,
ich finde es wirklich ärgerlich und ich empfinde es als einen Verlust, dass ich nur eine Legislaturperiode die Gelegenheit hatte, mit Ihnen häufiger zu reden. Ihre Art eines
aufgeklärten und aufklärenden Konservativen, Ihre Art,
zu debattieren und zu denken, hat mir ganz persönlich den
Wert eines Konservativen, wie Sie einer sind, für unsere
Demokratie sehr nahe gebracht. Diese Erfahrung, die
wichtig ist, möchte ich persönlich nicht missen; sie hat
mich wirklich bereichert. Dafür bedanke ich mich.
({0})
Ich habe Ihre Reden im Deutschen Bundestag nachgeschlagen. Wenn ich es richtig recherchiert habe, haben Sie
Ihre erste Rede am 26. November 1981 gehalten. Wenn
man Ihre gesamten Reden liest, dann erkennt man, dass
sie ein Nachschlagewerk - sozusagen ein „Who’s who“ der Außenpolitik sind. Das ist erwähnenswert. Ich würde
mir wünschen, dass Kolleginnen und Kollegen auch künftig in Ihren Reden nachschlagen, auch wenn ich sagen
muss: Wir haben zwar oft gleiche Fragen gestellt, aber in
den Schlussfolgerungen waren wir uns selten einig. Vielleicht hätten wir mehr Zeit für Gespräche gebraucht.
An der geschichtlichen Frage, wie selbstständig die
deutsche und die europäische Politik gegenüber den USA
ist, haben sich in Deutschland immer die Geister geschieden und hat sich die Gesellschaft polarisiert. Es ist nicht
verkehrt, aus diesem Anlass die Debatten noch einmal
nachzuzeichnen - ich will es an drei Punkten tun -, um zu
begreifen, dass die heutigen Auseinandersetzungen tiefere gesellschaftliche Wurzeln haben.
Erstens. Es waren die Debatten in den 50er-Jahren, vielleicht besonders zugespitzt in der Debatte um die damalige
Stalin-Note zur deutschen Einheit - deutsche Einheit für
Neutralität -, die zur Folge hatten, dass es die Europäische
Verteidigungsgemeinschaft geben sollte und die NATOMitgliedschaft, Remilitarisierung und die feste Westbindung gab. Das hatte die CDU/CSU gegen die damalige
Opposition durchgesetzt.
Zweitens. Ich erinnere an die Debatten in den 60er- und
70er-Jahren. Da erschütterten die Auseinandersetzungen
um den Vietnam-Krieg und um Chile die deutsche wie
die amerikanische Gesellschaft gleichermaßen. Meine
Generation im Westen empfand die USA kulturell als den
Befreier vom Förster vom Silberwald. Gleichzeitig empfand sie sie aber politisch, festgemacht an Vietnam und
Chile, als unterdrückend. Die Spuren des Vietnam-Krieges und der Chile-Auseinandersetzung finden sich in unterschiedlicher Art und Weise in unserer wie in der amerikanischen Gesellschaft wieder.
Ich erinnere drittens an die Auseinandersetzungen
Ende der 70er-Jahre um die Nachrüstung, die von der
Regierung Schmidt und später von der Regierung Kohl
gegen die Bevölkerungsmehrheit, wie ich bei Herrn
Schäuble habe nachlesen können, durchgesetzt wurden.
Ich glaube, das waren wichtige Einschnitte. Sie haben
unsere Werte und unser Verhalten in unterschiedlicher Art
und Weise geprägt. Trotzdem können sie nicht mehr Maßstab für die Beantwortung der heutigen Fragen sein. Auch
hier kann ich nur stichwortweise an das Ende der Blockkonfrontation, an die deutsche Einigung und die europäische Integration erinnern. Ich erinnere aber auch an die
wachsende Armut und die weltweit steigende Tendenz,
Kriege zu führen.
Das heißt, heute muss das Verhältnis zu den USA in einer anderen Art und Weise bestimmt werden. Ich glaube
nicht, dass das über die einfache und simple Losung von
der uneingeschränkten Solidarität oder dadurch, dass jedwede Kritik vermieden wird, zu leisten ist. Stichworte,
wie sie hier gefallen sind, zum Beispiel Wettrüsten, alleinige Weltmacht, Herrschaftsansprüche in allen Teilen der
Welt und Rechtsbrüche, bestimmen das Verhältnis der
heutigen Generation zu den USA. Dabei täuschen wir uns
im Hinblick auf die tatsächlichen Stimmungslagen, wenn
wir davon ausgehen, dass die in diesem Hause bestehende
Vorstellung über das Verhältnis zu den USA die gesamte
Gesellschaft prägt. Ich habe sehr bewusst an den Demonstrationen aus Anlass des Besuchs des amerikanischen Präsidenten Bush in Berlin teilgenommen. Diese Demonstrationen waren ein Ausdruck für die Position großer Teile
unserer Gesellschaft.
Deswegen möchte ich anraten, beim Blick in die Geschichte darüber nachzudenken, ob gegenüber den USA
nicht eine andere europäische Politik möglich ist. Dies
kann ich leider nur in Stichworten tun; denn meine Redezeit ist fast zu Ende. Ich rate, sich die USA-Politik von
de Gaulles - unter Ausschluss der Force de Frappe und der
kolonialen Geschichte - und in punkto Zivilcourage die
Politik von Olof Palme anzuschauen, der während des
Vietnam-Krieges amerikanische Deserteure aufgenommen hat. Ich rate, sich die Politik von Willy Brandt und
dessen Nord-Süd-Dialog anzusehen und sich die Pläne
des polnischen Außenministers Adam Rapacki noch einmal vor Augen zu führen. Aus all dem könnte eine neue,
moderne Politik gegenüber den USA entstehen, wobei die
uneingeschränkte Solidarität und das Hinterherlaufen
durch Partnerschaft ersetzt würde. Das würde sich lohnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Dank an den
Kollegen Lamers und an den Kollegen Schultz! Es war
angenehm, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.
({1})
Das Wort
hat der Kollege Gert Weisskirchen von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist mir wieder einmal das Lutherische an Karl Lamers deutlich aufgefallen.
({0})
Er ist zwar Katholik und kommt aus dem Rheinland, aus
der Bastion des aufgeklärten Katholizismus. Trotzdem
konnte man an seiner heutige Rede das lutherische „Ich
stehe hier, ich kann nicht anders“ wieder einmal ganz
deutlich sehen.
Lieber Karl Lamers, ich finde, dass Sie in den letzten
22 Jahren die Debatten dieses Hauses mitgeprägt haben.
Sie waren einer der ganz Nachdenklichen, einer derjenigen - Frau Süssmuth hat es mir gerade noch einmal deutlich gemacht -, die das politische Handeln reflektieren.
Als eigenständiger und manchmal auch kritischer Kopf in
den eigenen Reihen können Sie auch als einer derjenigen
bezeichnet werden können, der, wie Sie es am Schluss Ihrer Rede formuliert haben, als Baumeister an der - wenn
ich es ein wenig überzogen formulieren darf - Kathedrale
eines gemeinsamen Europas mitgearbeitet haben. Diese
richtige Konsequenz haben die Konservativen sehr wohl
aus dem schrecklichen und fürchterlichen vergangenen
Jahrhundert gezogen. Sie sind einer derjenigen, die daran
mitgearbeitet haben. Wir danken Ihnen dafür.
({1})
Sie haben auf den wichtigsten Punkt aufmerksam gemacht. Er hängt mit dem 11. September des letzten Jahres zusammen. Sie haben auf das aufmerksam gemacht,
was die USA gegenwärtig lernen, nämlich dass sie verwundbar sind - ein Gedanke, an den sie sich erst gewöhnen müssen. Seitdem es diese junge, stürmische, vorantreibende Nation gibt, ist sie in ihrem Selbstbewusstsein
erst jetzt so im Mark getroffen worden.
Wie kann das verarbeitet werden und welche Schlüsse
zieht diese große Nation daraus? Das ist etwas, glaube ich,
was im transatlantischen Dialog wirklich ernst genommen werden muss.
Wir haben eine andere Erfahrung, lieber Kollege
Gehrcke. Das muss man noch einmal betonen. Ich nehme
nur die Weimarer Republik. Als hier Debatten geführt
worden sind, gab es noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts die große Kontroverse, an der sich dann selbst solche damals Konservativen wie Thomas Mann beteiligt haben. Es hieß, es gehe um Kultur gegen Zivilisation; es
gehe um das Hehre, um das, was die europäische und ganz
besonders die deutsche Tradition ausmachte gegenüber
dem, was die Zivilisation des Westens bedeutete; es gehe
darum, dass Inhalte, Gehalte gegen die Form gerichtet
würden.
Das war das Verhängnis einmal der Konservativen und
nicht zuletzt am Ende, weil sie sich gegen die USA gewendet haben, auch das Verhängnis derer, die sich links
verstanden haben und sich jetzt immer noch in einer
merkwürdigen Allianz mit ganz Rechtsaußen, mit Rechtspopulisten vereinen in diesem merkwürdigen Zerrbild des
Antiamerikanismus.
Dies ist das Eigentliche, was wir gelernt haben, was wir
besonders nach 1945 wirklich gelernt haben: dass die
USA etwas anderes sind. Die USA sind das Land, das Projekt, das Modell der Moderne, das von uns allen verlangt, mit diesem modernen Projekt sorgsam umzugehen
und überhaupt erst zu lernen, was es bedeutet, in dieser
Form die unterschiedlichen kulturellen Herkünfte im Inneren zu verarbeiten, um ein attraktives Modell zu werden
und manchmal eben auch das, wovon es dann selbst
glaubt, als außergewöhnliche Nation gegenüber allen anderen übermächtig zu sein. Das ist jetzt im Kern, im Mark
getroffen. Das trifft die USA im Innersten.
Ich finde, wenn wir den transatlantischen Dialog, die
Beziehungen, die wir beiderseits des Atlantiks beobachten und auch selber mitgestalten, wenn wir diese Debatte
gemeinsam führen, um daraus die richtigen Schlüsse zu
ziehen, dann haben wir aus dem 11. September vielleicht
das Wichtigste gelernt.
Dabei ist wichtig, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, etwa auf den, der sich auch in der amerikanischen Diskussion in manche hegemoniale Irrtümer verrennt, sondern
zu schauen, ob es gelingt, dass die Stärken, die beiderseits
des Atlantiks durch die Werte verbunden sind, zu nutzen, die
Stärken, die beiderseits verbunden sind durch das gemeinsame Lebensgefühl, das natürlich akzentuiert unterschiedlich ist, wobei es jedoch beiderseits des Atlantiks viel mehr
Gemeinsamkeiten gibt, als diejenigen, die sich auf den Antiamerikanismus berufen, meinen. Diese innere Verbindung
ist stark, sie muss stark bleiben und sie wird stark bleiben.
Dafür werden wir alle gemeinsam sorgen.
({2})
Worin liegen die Chancen eines solchen Dialogs? Die
erste Chance ist, dass die Staatenwelt die Gefahr erkennt,
der sie ausgesetzt ist: Gruppen organisierter krimineller
Gewalt versuchen schwache Staaten zu besetzen und der
Bevölkerung ihren Willen mit terroristischen Mitteln aufzuzwingen. Schließlich zielen dann die Terroristen, die
diese Territorien erobert haben, auf die Machtzentren der
zivilisierten Welt. Symbolisiert werden diese Machtzentren durch die globale ökonomische und kulturelle Dominanz der USA.
Früher war das anders. Früher gab es England als die
starke dominante Macht und vorher Spanien. Das ist
nichts Neues in der Geschichte. Es kommt darauf an, wie
versucht wird, die Stärken jener Gruppierungen, die es auf
dieser Welt gegenwärtig gibt, aufeinander zu beziehen.
Natürlich ist die Stärke Europas einerseits das, was
wir verarbeitet haben in dieser ungeheuer schrecklichen
Geschichte und in den fürchterlichen Bürgerkriegen, mit
denen wir uns überzogen haben.
Wir haben daraus eine harte Konsequenz gezogen. Wir
haben gelernt - das ist für uns das Wichtigste -, gute
Nachbarn zu sein und das wollen wir auch bleiben. Wir
sind prinzipiell zum multilateralen Handeln verpflichtet.
Das haben wir uns selbst aufgegeben und davon können
wir nicht loslassen.
({3})
Die USA haben diese Erfahrungen nicht gemacht und
es wäre gut, wenn sie die Erfahrungen aus der schrecklichen Zeit der Bürgerkriege, die wir uns gegenseitig zugefügt haben, auch nie machen müssten. Insofern glaube
ich, dass wir uns jene unterschiedlichen historischen Erfahrungen, die auf beiden Seiten des Atlantiks gemacht
worden sind, nicht gegenseitig vorwerfen dürfen.
Manchmal hört man den Vorwurf aus den USA: Ihr Europäer betreibt Beschwichtigung gegenüber den Herausforderungen des Terrorismus. Es ist aber keine Beschwichtigung, wenn wir sagen, die Zivilmacht muss
gestärkt werden, die Terroristen haben sich in einer
falschen Ideologie verrannt. Haben wir das nicht selbst in
unserer nicht allzu lang zurückliegenden bundesrepublikanischen Geschichte erlebt?
Wir müssen die Stärken, die wir aufgrund unserer langen Erfahrung erworben haben, in eine vernünftige Arbeitsteilung einbringen, damit die Welt - so hat es der
amerikanische Präsident gesagt - ein besserer Platz
wird. Ich kann mich gut erinnern, wie die Kolleginnen
und Kollegen von der PDS auf die Rede reagiert haben.
Die meisten, natürlich nicht diejenigen, die die Fahne
hochgehalten haben - ich glaube, der Integrationsdruck,
der von dieser Rede ausgegangen ist, war einer der
Gründe für ihr Verhalten -, haben positiv reagiert.
Nein, wir müssen dafür sorgen, dass aus der Welt ein
guter Platz für Menschenrechte, Demokratie und
Selbstbestimmung wird. Daran müssen wir arbeiten, anders geht es nicht. Dazu brauchen wir Europäer die USA,
und das wissen auch diejenigen, die sich kritisch gegenüber den USA verhalten.
Auch der französischen Debatte - Karl Lamers kennt
sie genau - entnehmen wir, dass sich die USA, wenn es
ernst wird, wenn es um ihre Substanz oder Essenz geht,
auf Europa verlassen können. Genauso können wir Europäer uns auf die USA verlassen. Darüber müssen wir nicht
debattieren und brauchen uns keine Sorgen zu machen.
({4})
Nein, wir müssen die Stärken finden, ausarbeiten, gestalten und zueinander führen. Unsere Stärken sind andere
als die der USA. Bei der selbstkritischen harten Debatte, die
jetzt ausgelöst durch die Entscheidung der obersten amerikanischen Gerichte über die Todesstrafe geführt wird, sehen wir, dass ein Teil dessen, was wir in die Diskussion einbringen, sein Echo in der amerikanischen Elite findet.
({5})
Ist die Todesstrafe dort jetzt nicht auch umstritten? Haben
sie nicht viele Bundesstaaten in den USA mittlerweile abgeschafft?
Ich glaube, die Zerrbilder, die manchmal so schnell herbeigeschrieben oder -geredet werden, helfen uns nicht. Wir
müssen eine Gemeinschaft bilden und gemeinsam lernen,
die notwendigen Schlüsse zu ziehen, um den Menschen zu
helfen und aus dieser Erde einen besseren Platz zu machen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort
hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die transatlantischen Beziehungen sind einerseits in die Diskussion
geraten - zu Recht. Sie bedürfen der Erneuerung. Die
Welt hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges und auch
jetzt seit dem 11. September letzten Jahres ein weiteres
Mal geändert. Wir stehen vor einer völlig neuen Situation.
Auf der anderen Seite ist aber völlig klar: Wer sich auch
nur etwas den Sinn für Geschichte bewahrt hat, wird begreifen, dass die transatlantischen Beziehungen der entscheidende Eckpfeiler der globalen Sicherheit, für Frieden und Stabilität nicht nur in Europa, nicht nur in den
USA, sondern weltweit sind. Diesen Eckpfeiler infrage zu
stellen wäre mehr als töricht.
In der Debatte gab es viele historische Bezüge. Bei der
Zuordnung der Politik der USA, wie man sie sieht, wo es
vieles kritisch anzumerken gibt, wo es in der Debatte aber
auch viele Solidaritätsbekundungen gegeben hat, ist mir
eines aufgefallen. Gerade in diesem Gebäude wundert es
mich schon, dass es überhaupt keinen Bezug zum Aufstieg der USA als schließlich der einzigen globalen
Macht, die heute noch existiert, im Zusammenhang mit
der Geschichte unseres eigenen Landes und dem Kampf
Deutschlands um die europäische Hegemonie und
schließlich im Dritten Reich unter Adolf Hitler um die
Weltherrschaft, um die weltweite Hegemonie, um die
weltweite Vorherrschaft gab. Es war Deutschland, das
- nicht allein, aber als wesentlicher treibender Faktor - im
August 1914 mit den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat. Zu
Beginn des Ersten Weltkrieges war die führende Macht
noch das Vereinigte Königreich, war die globale Bedeutung Europas noch eindeutig definiert. Am Ende dieses
Weltkrieges purzelten die Kronen, gab es Revolutionen,
gab es auch die große Russische Revolution, die FebruarRevolution und schließlich den bolschewistischen Putsch,
die Oktober-Revolution.
Die Konsequenz, die Deutschland aus der Niederlage
im Ersten Weltkrieg gezogen hat, war ein radikalisierter
hegemonialer Anspruch, so radikalisiert, dass er amoralisch wurde, dass er die Moral hinter sich ließ, dass er
meinte, auf die Weltherrschaft setzen zu können, auch mit
den Mitteln des Massenverbrechens. Die Konsequenz war
auch die Zerstörung dieses Gebäudes, die Anti-Hitler-Koalition. Die Anti-Hitler-Koalition war die zweite Stufe des
Aufstiegs Russlands in Gestalt der Sowjetunion und der
USA zu den beiden entscheidenden globalen Mächten auf
den Trümmern Deutschlands, in einem geteilten Berlin.
Wenn wir heute über die Rolle der USA sprechen, ohne
diese eigenen Anteile daran kritisch mit zu reflektieren,
dann blenden wir einen ganz wesentlichen Teil der transatlantischen Beziehungen und des deutschen Anteils an
den transatlantischen Beziehungen aus. Es gibt keine
transatlantischen Beziehungen à la carte, wo man sich
aussuchen kann: Wir hätten gern etwas Schweden - dann
müssen wir in der Rolle Schwedens sein. Wir hätten gern
etwas Frankreich - dann müssen wir in der Rolle Frankreichs sein. Nur, für Frankreich gilt: Jedes Mal, wenn die
Interessen von Frieden und Freiheit, wenn die Interessen
Gert Weisskirchen ({0})
der USA aufgerufen waren, stand selbst das gaullistische
Frankreich immer an der Seite der USAund die USA immer
an der Seite Frankreichs. Das dürfen wir nicht vergessen.
({1})
Ich sage manchmal: Reisen bildet. Bei meinem privaten
Besuch in Washington habe ich einmal einen Ausflug nach
Mount Vermont zum Haus des ersten Präsidenten George
Washington gemacht. Da gab es eine kleine Sache, die
mich mehr beeindruckte als lange historische Vorlesungen.
Dort hängt ein Schlüssel, der Schlüssel der Bastille, das
Geschenk von Lafayette an George Washington. Das sagt
mehr über die Beziehungen dieser beiden Länder als viele
dicke Bücher. Das sollten wir nie vergessen.
Unser Verhältnis ist eben ein anderes; das müssen wir
begreifen. Deutschland käme ohne die transatlantischen
Beziehungen in Europa, auch im gegenwärtigen Europa,
sofort in eine Rolle, die wir gar nicht anstreben sollten.
Das würde uns überfordern. Die USA balancieren nicht
nur global, sie balancieren bis auf den heutigen Tag auch
in Europa. Reden Sie mal mit unseren polnischen Freunden darüber, wie die, historisch eingeklemmt zwischen
Deutschland und Russland, die USA sehen. Sie haben da
eine ganz spezifische Sicht. Sprechen Sie mal mit unseren
französischen Freunden, sprechen Sie mal mit anderen
unserer Nachbarn. Die Sicht auf uns ist auch immer aufs
Engste verbunden mit der Sicht auf die Rolle der USA.
Aber das sind historische Erinnerungen, das sind historische Bezüge, die allerdings, wenn Deutschland den
Irrtum begehen würde, diesen transatlantischen Teil zu
unterschätzen, sofort aktualisiert würden.
Kollege Lamers, so sehr ich manche Ihrer Ausführungen schätze, andere teile ich nicht. Ich kenne Sie. Nichts
würden Sie so wenig schätzen, wie wenn man Widerspruch nicht anmelden würde, selbst wenn Sie hier Ihre
letzte bedeutende Rede als Abgeordneter des Deutschen
Bundestages gehalten haben.
Ich sehe vor allen Dingen die Entwicklung im Nahen
Osten mit großer Sorge, weil wir direkter Nachbar sind.
Wir haben gegenüber Israel bezüglich des Existenzrechts
nicht nur historische Verpflichtungen und strategische Interessen als Land, aber auch als Europäische Union - dies
gilt beides auch für die USA -, sondern wir sind direkter
Nachbar. Wenn der Nahe Osten explodiert, wird uns das
direkt und unmittelbar betreffen. Einige unserer Landsleute mussten bereits den Terroranschlag in Djerba, Tunesien, mit dem Leben oder schweren Verwundungen bezahlen.
Für mich ist es aber wichtig, die unterschiedliche
Sichtweise bezüglich des Nahostkonflikts - das hat auch
mein letzter Besuch in Washington gezeigt - zu begreifen.
Wir müssen Acht geben, dass diese unterschiedliche Sicht
des Nahostkonflikts in der emotionalen Tiefe der transatlantischen Beziehungen nicht zu einer Trennung zwischen den USA und Europa führt.
Wir insistieren zu Recht immer darauf, dass die globale
Verantwortung, dass die globale Verpflichtung für die
Rechtsordnung auch für die mächtigste Macht, die USA,
gilt, dass sie sich nicht eine eigene Rechtsordnung schaffen kann, die zwar für andere, nicht aber für sie gilt, sondern dass wir einer gemeinsamen internationalen Rechtsordnung unterworfen sind.
({2})
Wir insistieren auch darauf, dass es eine gemeinsame
Verpflichtung für die eine Welt gibt - Stichwort Klimaschutz -, dass es auch ein gemeinsames Interesse an einer
gerechteren Verteilung der Lebenschancen in der Welt des
21. Jahrhunderts gibt. Wir insistieren zu Recht darauf, dass
die Europäische Union in der Frage der Todesstrafe auch
gegenüber unserem wichtigsten Bündnispartner grundsätzlich anderer Meinung ist und diese Position auch vertritt.
({3})
Die Bundesregierung hat vor dem Internationalen Gerichtshof erfolgreich gegen eine Verletzung der konsularischen Rechte von Todeskandidaten mit deutscher
Staatsangehörigkeit, die hingerichtet wurden, geklagt.
Genauso ernst müssen wir nehmen, was in den USA
über uns diskutiert wird. Wenn dort die Gefahr eines neuen
Rechtspopulismus aufgrund europäischer Wahlentscheidungen ernsthaft diskutiert wird - als ich das letzte Mal
dort war, ging es gerade um Le Pen -, müssen wir dies
ernst nehmen. Wenn dort Bezüge zu einem neuen Antisemitismus hergestellt werden, müssen wir dies genauso
ernst nehmen, wie wir erwarten, dass die Diskussionen, die
hier in Europa über die USA geführt werden, auf der anderen Seite ernst genommen werden. Wir können dies
nicht einfach nur als eine amerikanische Stimmungslage
abtun. So wird der Transatlantismus nicht funktionieren.
({4})
Nein, für mich steht Folgendes im Vordergrund: Wenn
die transatlantischen Beziehungen im 21. Jahrhundert funktionieren sollen, werden wir die politische Einigung Europas, werden wir das politische Europa herbeiführen müssen.
Die USA sind eine globale Macht auf dem Zenit, eine
Hegemonialmacht wider Willen. Es ist das erste Mal in der
Geschichte der Neuzeit, dass wir eine Hegemonialmacht
ohne Gegengewicht haben. Dies schafft ganz spezifische
Probleme. Die Zeit lässt es nicht zu, dass ich dazu einiges
sage. Aber die einzige Möglichkeit, nicht dagegenzuhalten, sondern in Partnerschaft die Möglichkeit der Balance
zu eröffnen, wird der europäische Einigungsprozess sein.
({5})
Europa ist keine Macht, sondern eine Macht im Werden.
({6})
- Sie können dies dort, wo wir bereits eine Macht sind, so
etwa in Wettbewerbs- oder Handelsfragen, feststellen.
Wenn Pascal Lamy oder Monti nach Washington kommen, ist dieser Termin ein Muss. Wenn andere kommen,
wo diese Integration noch nicht besteht - dies mache ich
nicht an den Personen fest -, ist dies nicht der Fall. Aber
Besuche beispielsweise der jeweiligen Präsidentschaft
sind Pflichttermine, wo sich die US-Seite fragt, was diese
eigentlich repräsentiert.
Die Konsequenz daraus muss für uns sein, dass wir die
politische Integration Europas schaffen. Dies wird noch
einige Zeit dauern, aber es wird wichtig sein, dass wir Europäer unsere eigene Sicht der Dinge in die Welt des
21. Jahrhunderts einbringen, dass wir auch zum Beispiel
unseren breiteren, nicht militärisch verengten, sondern
die ganze Gesellschaft umfassenden Ansatz in der
Sicherheitspolitik einbringen, dass wir die Fragen der
ökologischen, ökonomischen, sozialen oder kulturellen
Entwicklung einbeziehen, wie wir es auf dem Balkan gemacht haben und wie wir es in Afghanistan im Begriff
sind zu tun. Diese Dinge müssen wir als Europäer in der
internationalen Politik des 21. Jahrhunderts durchsetzen.
Dies setzt den europäischen Einigungsprozess voraus.
Deswegen wünsche ich mir für die Zukunft der transatlantischen Beziehungen auch und gerade in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Kollege Lamers, dass
die Europäische Union, nicht die NATO, die Rolle, die Sie
vorhin angesprochen haben, spielen sollte. Ich glaube
nicht, dass die NATO sie aufgrund des spezifischen Bündnischarakters und der Interessen der Mitglieder wird
spielen können, während das vereinte Europa mit einer
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die
diesen Namen verdient, dieser Aufgabe gerecht wird.
Allerdings wird sie sich in spezifisch europäischer Perspektive und auf europäischer Grundlage entwickeln. Das
ist meines Erachtens die Voraussetzung, dass die transatlantischen Beziehungen erneuert werden. Wir brauchen
Solidarität, aber auch ohne jeden Zweifel eine kritische
Debatte. Demokratien müssen sich offen austauschen,
aber auf der Grundlage des gegenseitigen Verständnisses
und des Wissens der Interessen. Das ist gegeben.
Wir Europäer müssen darauf achten, dass wir nicht
zurückfallen. Wenn wir den Einigungsprozess bis Ende
des Jahrzehnts nicht schaffen, dann werden wir feststellen, dass wir für unseren transatlantischen Partner zunehmend uninteressant werden. Also wird es ausschließlich
an uns liegen. Bei den transatlantischen Beziehungen geht
es vor allem um die Zukunft von Europa, also um die Zukunftschancen unserer eigenen Menschen.
Vielen Dank.
({7})
Ich
schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2002
- Drucksache 14/8950 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mit einem individuellen Ausbildungspass
durchs Leben - für ein liberales, duales
und modulares Berufsausbildungssystem in
Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Rainer
Jork, Dr. Gerhard Friedrich ({2}), Thomas
Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Lehrstellenmangel in den neuen Bundesländern bekämpfen - Reformen in der beruflichen Bildung vorantreiben
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2001
- Drucksachen 14/5984, 14/7281, 14/5946,
14/7910 Berichterstattung:
Abgeordnete Willi Brase
Hans-Josef Fell
Cornelia Pieper
Es liegen zwei Entschließungsanträge vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen
das Wort.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren
heute nicht nur über den Bildungsbericht 2002, der sich
schwerpunktmäßig mit der Entwicklung des vergangenen
Jahres befasst, sondern zugleich auch abschließend über
die Ergebnisse des Jahres 2001. Dies gibt Gelegenheit,
Bilanz zu ziehen und zu zeigen, welche wichtigen Veränderungen in der beruflichen Bildungspolitik in den letzten
Jahren auf den Weg gebracht worden sind.
Der positive Trend am Lehrstellenmarkt hat sich im
letzten Jahr fortgesetzt. Wie im Jahr 2000 ist es auch im
Jahr 2001 gelungen, die Lücke zwischen Angebot und
Nachfrage zu schließen. Seit 1995 sind wir damit zum
zweiten Mal in eine Situation gekommen, dass es bundesweit mehr freie Ausbildungsplätze als unvermittelte
Bewerberinnen und Bewerber gab.
({0})
Dahinter stehen 614 000 neue Ausbildungsverträge in
Deutschland. Die Anzahl der bei der Bundesanstalt für Arbeit als unvermittelt gemeldeten Bewerberinnen und
Bewerber hat sich Jahr für Jahr deutlich verringert. Zwischen 1998 und 2001 sank diese Zahl um 43 Prozent.
Nicht zu verschweigen ist, dass es nach wie vor große
regionale Unterschiede gibt. Auch 2001 gab es in den
neuen Ländern immer noch erheblich weniger betriebliche Ausbildungsplätze als Bewerber. Vor diesem Hintergrund sind 2001 in den neuen Ländern und Berlin
16 000 zusätzliche Lehrstellen geschaffen worden. Diese
betriebsnahen Ausbildungsplätze werden vonseiten des
Bundes mit über 50 Millionen Euro für die Dauer der Ausbildung gefördert.
Sie wissen: Die aktuelle Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt ist gegenüber der des Vorjahres wieder
etwas angespannter. Bundesweit hat sich bis Ende Mai die
Lücke zwischen noch nicht vermittelten Bewerbern und
unbesetzten Ausbildungsstellen leider wieder um etwa
17 000 vergrößert. In Ostdeutschland ist sie - Gott sei
Dank - geringfügig zurückgegangen.
Die Bilanz für den Monat Mai 2002 - das wissen wir ist eine Momentaufnahme. Vieles passiert im Vermittlungsgeschäft. Auch ein Teil der noch als unvermittelt gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber hat heute einen
Ausbildungsplatz gefunden. Aber keine Frage: Wir nehmen diese Entwicklung ernst. Bundesministerin Bulmahn
hat deshalb für den 12. Juli Vertreter der Spitzenverbände der Wirtschaft nach Berlin eingeladen, um über
zusätzliche Aktivitäten zur Mobilisierung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen zu sprechen; denn die von der
Wirtschaft im Ausbildungskonsens gegebene Zusage, das
Ausbildungsplatzangebot entsprechend der demographischen Entwicklung zu steigern, gilt nach wie vor. Hierauf
müssen sich die jungen Menschen auch in diesem Jahr
verlassen können.
({1})
Alle Beteiligten müssen sich auch in diesem Jahr der
Aufgabe stellen, für die Jugendlichen in unserem Land
ausreichend Ausbildungsmöglichkeiten zur Verfügung zu
stellen. Deshalb muss der eingeschlagene Weg zur Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation konsequent fortgesetzt werden. Dies bedeutet auch Weitsichtigkeit für die
Wirtschaft. Denn in wenigen Jahren werden die Schulabgängerzahlen zunächst in Ostdeutschland drastisch, aber
insgesamt auch in ganz Deutschland zurückgehen. Langfristig wird es deutlich weniger Bewerberinnen und Bewerber um Ausbildungsplätze geben. Die Betriebe müssen
daher jetzt schon beginnen, vorzusorgen und die Chance
zu nutzen, möglichst viele Jugendliche gerade für den eigenen Fachkräftebedarf auszubilden, auch wenn dieser
erst in den nächsten Jahren entsprechend ansteigen wird.
Wir müssen alle Potenziale nutzen und auch unseren
Blick auf die Jugendlichen richten, die unsere Hilfe brauchen, um den Weg in Ausbildung und Beruf zu finden. Seit
1999 haben über 400 000 Jugendliche am Sofortprogramm
JUMP und an ausbildungs- und beschäftigungsfördernden
Maßnahmen teilgenommen. Allein im vergangenen Jahr
waren es über 84 000. Dass das Sofortprogramm bis Ende
des Jahres 2003 verlängert wurde, hatte gute Gründe. Mit
dem Job-AQTIV-Gesetz ist sichergestellt, dass ab dem
Jahr 2004 bewährte Maßnahmen des Programms in die
dauerhafte Förderung übernommen werden.
Benachteiligten Jugendlichen und jungen Migrantinnen und Migranten zu einer Ausbildung zu verhelfen
ist eine wichtige Herausforderung, die für die soziale Stabilität in unserer Gesellschaft und für unsere wirtschaftliche Zukunft von sehr großer Bedeutung ist. Wir haben
deshalb im vergangenen Jahr das Programm „Kompetenzen fördern - Berufliche Qualifizierung für Zielgruppen
mit besonderem Förderbedarf“ entwickelt. Mit einem Etat
von insgesamt 52 Millionen Euro werden wir die Strukturen und die Effizienz der Benachteiligtenförderung in der
beruflichen Bildung deutlich verbessern und damit einen
wirksamen Beitrag dazu leisten, dass mehr Jugendliche
eine qualifizierte Berufsausbildung erhalten können.
({2})
Es geht aber nicht nur um quantitativ ausreichendes
Ausbildungsplatzangebot, sondern wir müssen auch dem
strukturellen Wandel gerecht werden. Denn in den einzelnen Ausbildungsbereichen hat sich die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Jahr 2001 recht
unterschiedlich entwickelt. Es gab erhebliche Rückgänge
im Handwerk - um 6,9 Prozent - wie auch Rückgänge in
der Landwirtschaft: um 3,8 Prozent. Dem stehen glücklicherweise erhebliche Zuwächse, etwa in den IT- und
Medienberufen, gegenüber. In diesem Bereich hat sich
die Zahl der Ausbildungsplätze seit 1998 von 14 000 auf
mehr als 70 000 erhöht. Damit sind die erheblichen Rückgänge im Handwerk mehr als kompensiert worden.
({3})
Der beschleunigte Wandel in der Wirtschaft und die demographische Entwicklung stellen die Bildungs- und Berufsbildungspolitik vor neue Herausforderungen. Denn
neue und höhere Qualifikationsanforderungen müssen
zukünftig von immer weniger jüngeren und mehr älteren
Menschen bewältigt werden.
Daraus ergeben sich für uns folgende Aktionsfelder:
Die Bundesregierung hat den Modernisierungsprozess
des dualen Systems der Berufsausbildung vorangetrieben und wird ihn konsequent fortsetzen. In den letzten
drei Jahren sind insgesamt 43 Ausbildungsberufe aktualisiert und zehn neue Berufe geschaffen worden. Wichtig ist
dabei, dass wir auch im Dienstleistungsbereich neue Berufe geschaffen haben.
({4})
Für weitere 19 Berufe können die Ausbildungsordnungen
zum 1. August 2002 in Kraft treten.
Wir haben darüber hinaus im vergangenen Jahr die
Ausstattung der Berufsschulen mithilfe der UMTSZinserlöse zu einem Schwerpunkt im Zukunftsinvestitionsprogramm gemacht. In den Jahren 2001 und 2002
flossen Mittel in Höhe von 130 Millionen Euro als Finanzhilfen in die Länder. Damit konnten die Berufsschulen mit modernen Technologien und Medien einschließlich der erforderlichen Software ausgestattet werden.
({5})
Offenkundig stellt ein solches Vorgehen mit einem etwas
größeren Abstand zu bestimmten Wahlterminen für alle
Länder eine hochwillkommene Hilfe und Unterstützungsmaßnahme des Bundes dar.
Am 1. Januar dieses Jahres ist das neue Meister-BAföG
in Kraft getreten. Wir wollen damit den Anreiz für den
Schritt in die Selbstständigkeit erhöhen und den in Deutschland auftretenden Fachkräftemangel verringern. Die finanziellen Mittel für die Aufstiegsförderung sind mit dem
neuen Reformgesetz verdoppelt worden. Die ersten Rückmeldungen vonseiten der Kammern sind sehr ermutigend.
Die Kammern werben engagiert für dieses Programm, weil
sie von seiner Wirksamkeit und Attraktivität überzeugt sind.
Wir gewinnen übrigens durch dieses Programm auch wieder mehr Ausbilder für unsere jungen Menschen.
({6})
Weiterbildung und Nachqualifizierung sind wichtige
und notwendige Voraussetzungen, um im Berufsleben
Schritt zu halten. Lebenslanges Lernen gewinnt damit für
den Einzelnen und die Unternehmen eine immer größere
Bedeutung. Hierbei geht es darum, immer mehr Menschen
an beruflicher Weiterbildung - das geht von traditionellen
Kursen über E-Learning bis zum Lernen am Arbeitsplatz teilhaben zu lassen. Deshalb ist unser Aktionsprogramm
„Lebensbegleitendes Lernen für alle“ mit über 250 Millionen Euro bis zum Jahr 2006 auch ein hilfreicher Beitrag
zur beruflichen Weiterbildung in unserem Land.
({7})
Wir müssen uns im Bereich der beruflichen Weiterbildung in Deutschland, vor allem im Bereich der außerbetrieblichen beruflichen Weiterbildung, natürlich auch
verstärkt um die Qualität kümmern. In einer ersten Erprobungsphase wird dazu die neue Abteilung „Stiftung
Bildungstest“ bei der Stiftung Warentest eingerichtet. Ab
Juli werden die ersten Kursangebote, zunächst im Bereich
der beruflichen Weiterbildung, untersucht und bewertet.
Es geht aber auch darum, die berufliche Aus- und Weiterbildung für höhere Qualifikationen zu nutzen. Der Bedarf an Fachkräften mit hohen Qualifikationen wird nach
den vorliegenden Prognosen weiter steigen. Natürlich unterstützen wir das zunehmende Interesse von Schulabgängerinnen und Schulabgängern, ein Hochschulstudium
zu beginnen. Der Anstieg der Zahl der Studienanfängerinnen und Studienanfänger in den letzten beiden Jahren
um 50 000 auf bundesweit 340 000 ist auch eine Reaktion
auf unsere hochschulpolitischen Reformmaßnahmen.
({8})
Es muss aber auch die Notwendigkeit gesehen werden,
die Attraktivität des dualen Systems durch bessere Verknüpfung von beruflicher Erstausbildung und Hochschulausbildung zu steigern. Wir müssen uns für die nächsten
Jahre vornehmen, eine Vielzahl von kreativen Versuchen
und Modellen der Verknüpfung von dualer Erstausbildung und Fachhochschulausbildung zu entwickeln, möglicherweise auch in einem geordneten Bildungsgang im
etablierten System, eine Mischung aus dualer und Hochschulausbildung. Wir müssen dazu natürlich auch das
große Potenzial derjenigen, die sich über eine duale Berufsausbildung, Erwerbstätigkeit und berufliche Weiterbildung qualifiziert haben, stärker als bisher nutzen, und
zwar durch Öffnung unserer Hochschulen.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine Bemerkung zu
der Debatte von heute Nachmittag. Wir vergessen nicht,
dass der Freistaat Bayern eines der letzten Bundesländer
war, die ihren Widerstand gegen die Öffnung der Hochschulen für - ich sage es einmal so - kundige und qualifizierte Menschen aus dem Bereich der beruflichen Bildung aufgegeben haben.
({9})
Ich denke, dass wir gut beraten sind, die Strukturen
zum Erwerb von Höchstqualifikationen über die berufliche Aus- und Weiterbildung zu stärken. Dabei geht es
nicht um die Akademisierung der beruflichen Bildung,
sondern um die Anerkennung ihres Qualifikationsniveaus, das über eine qualifizierte Berufstätigkeit und Aufstiegsfortbildung im Vergleich zu einem akademischen
Studium erreicht werden kann. Die zusammen mit den
Tarifpartnern zustande gebrachte IT-Fortbildungsverordnung realisiert dieses Vorhaben, nämlich Höchstqualifikationen im Bereich der beruflichen Fortbildung zu erreichen, in vorbildlicher Weise.
Lassen Sie mich zum Schluss auch den Blick auf
Europa lenken. Auch durch deutsche aktive Unterstützung hat der Bildungsministerrat in diesem Jahr begonnen, nach dem Hochschulbereich und dem Bereich des lebenslangen Lernens den Bereich der Berufsausbildung
zur dritten Säule der Entwicklung des europäischen Bildungssystems zu gestalten. In diese Zusammenarbeit gehen wir mit eigenen Initiativen, mit eigenen Vorschlägen,
mit einer nachhaltigen Unterstützung und einer Strategie,
die darauf abzielt, das hohe Qualifikationsniveau des
deutschen Berufsausbildungssystems auch im europäischen Kontext zu erhalten. Es geht um Förderung der
Mobilität. Es geht natürlich auch um die Anerkennung
von Qualifikationen, die bei im Ausland absolvierten Teilen der Berufsausbildung erworben worden sind. Es geht
aber natürlich vor allem darum, europäische Qualitätsstandards für die berufliche Bildung zu entwickeln.
Wenn wir auf diesem Gebiet erfolgreich sind, dann werden wir uns nicht wie bei PISA die Frage stellen müssen,
an wem wir uns in Europa messen müssen, sondern dann
haben wir die Chance, dass das Qualifikationsniveau der
deutschen Berufsausbildung in Europa zur Messlatte wird.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Rainer Jork von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Berufsbildungsbericht beschreibt sehr realistisch die Situation
beim Lehrstellenangebot und Schwerpunkte bei den Maßnahmen, die für die Verbesserung erforderlich sind. Es ist
gut, dass wir über den Bericht jetzt und nicht erst, wie im
vorigen Jahr, nach der Sommerpause diskutieren.
({0})
- Das habe ich eben gesagt.
Weniger wirklichkeits- und problemnah stellt sich allerdings der Beschluss des Bundeskabinetts zum Berufsbildungsbericht 2002 dar, und zwar mit Aussagen wie
„Die Ausbildungschancen der Jugendlichen haben sich
seit 1998 kontinuierlich weiter verbessert“ und „Der eingeschlagene Weg wird konsequent fortgesetzt“. Ich höre
Ihren Kollegen Rixe, der früher sagte: Weiter so. Dann
steht da noch etwas von einer „beispielhaften Entwicklung“. Ich frage mich: Für wen eigentlich?
Leider muss ich in Anbetracht der begrenzten Zeit auch
heute wieder schwerpunktmäßig auf die neuen Bundesländer eingehen; denn dort liegen die signifikanten Probleme bei der Bereitstellung von Lehrstellen im dualen
System.
({1})
Darum geht es mir, Herr Catenhusen. Der Kollege Heinz
Wiese wird auf die anderen Fragen eingehen.
Ich habe noch im Kopf, wie der Sprecher der Arbeitsgruppe der SPD in der ersten Sitzung des Ausschusses einen Epochenwechsel ankündigte. Es ist, nicht nur im Interesse der Bewerber, legitim und auch notwendig, am
Ende der Wahlperiode Ernsthaftigkeit und Wahrheitswert
dieser Proklamation zu prüfen. Wie sieht heute die Wirklichkeit für Lehrstellenbewerber aus? Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist gegenüber dem Vorjahr
um 15,6 Prozent gestiegen,
({2})
mehr als doppelt so stark wie die allgemeine Arbeitslosigkeit. Das war fürwahr ein Jump nach oben. Im Mai waren 453 000 Jugendliche unter 25 Jahren arbeitslos und
- das ist besonders interessant - die Arbeitslosenquote der
Jugendlichen unter 25 Jahren lag im Bundesgebiet West
bei 7,2 Prozent, im Bundesgebiet Ost bei 14,5 Prozent.
({3})
Am 11. Juni stand in der „Frankfurter Rundschau“: Zehntausende Lehrstellen fehlen, Jugendarbeitslosigkeit besonders gestiegen. In der „Sächsischen Zeitung“ vom
13. Juni konnte man lesen: Zwei von drei Bewerbern ohne
Lehrstelle.
Deutsche Einheit bedeutet für mich in der Praxis vergleichbare Chancen für die Jugendlichen in Ost- und
Westdeutschland. Wer die innere Einheit will, muss
Lehrstellenbewerbern in den neuen Bundesländern eine
Lehrstelle im dualen System bieten,
({4})
also eine betriebliche Stelle und ein schulisches Angebot.
({5})
Nur so ist die Verbindung möglich zwischen der Qualität
einer guten Ausbildung, der Praxisnähe und - das ist besonders wichtig - der Chance, später einen Arbeitsplatz in
dem gelernten Beruf zu bekommen.
({6})
Schulische Ausbildung allein kann das nicht leisten, vor
allem nicht in wertschöpfenden Berufen bzw. in der materiellen Produktion. Mit theoretisch gebackenen Brötchen ist noch niemand satt geworden.
({7})
Am Montag, dem 24. Juni, also in dieser Woche, wurde
auf einer Veranstaltung mit dem VDI deutlich und klar gesagt: Wer das duale System kaputtredet - dazu komme ich
noch -, zerstört den Industriestandort Deutschland. Ich
sage bewusst auch mit Blick auf die Diskussion, die wir
heute Mittag hatten: Praxisbezogenes Fördern ist eine
Chance und führt zu Erfolgserlebnissen, die man niemandem verwehren sollte. Das geht bereits in der Schule los.
({8})
Es ist absurd, aus dem Fehlen betrieblicher Stellen eine
Strukturänderung des Ausbildungssystems abzuleiten,
({9})
wie die Grünen es immer wieder machen. In den neuen
Bundesländern haben sich die Voraussetzungen für die
Wirtschaft als Träger betrieblicher Stellen katastrophal
verschlechtert. Die gezielte Abwanderung mobiler und
kreativer junger Menschen aus den neuen Bundesländern
wird naturgemäß erhebliche Probleme bei den sozialen
Strukturen, bei der Steuerkraft und bei der Integrationsfähigkeit mit sich bringen. Auf diesem Gebiet ist tatsächlich ein Epochenwechsel erforderlich.
({10})
- Ich würde Ihnen gern bescheinigen, dass Sie sich nach
Ihren Möglichkeiten - das
({11})
gilt vor allem für Ihre Ministerin - engagieren; aber Sie
haben ein Problem: Ihnen fehlen für ein komplexes, vernetztes und dynamisches System der dualen Bildung in
dieser Regierung einfach die Partner.
({12})
Es fehlt an einer ganzheitlichen Grundsatzpolitik im Interesse der Lehrstellenbewerber und der Wirtschaft.
({13})
Das gilt insbesondere für die neuen Bundesländer.
Aus meiner Sicht diente JUMP mehr der Selbstdarstellung der Bundesregierung als der stabilen Lebensgestaltung der Jugendlichen.
({14})
Für die Bildung gilt eben: Nicht viel hilft viel, Qualität
und Partnerschaft sind gefragt. Ich muss noch einmal klar
sagen: Wo Wirtschaft kaum präsent ist, da nützen auch
Appelle an die Wirtschaft überhaupt nichts.
({15})
Herr Tauss, ich finde übrigens, das Positive an der bildungspolitischen Debatte am 13. Juni 2002 in diesem
Haus war, dass Zusammenhänge angesprochen worden
sind, die man in der Diskussion über Lehrstellen und berufliche Bildung so leider nicht sieht. Wenn es um die
Schaffung von Lehrstellen geht, dann berücksichtigen
Sie diese Zusammenhänge bitte. Die Praxis zeigt nämlich:
Die Anzahl der betrieblichen Stellen und die Anzahl der
vermittelten Bewerber gehen deutlich zurück; fast
500 000 Jugendliche sind arbeitslos.
({16})
Ich stelle fest: In dem genannten Beschluss der Bundesregierung wird die schlechte Bilanz nach dem Prinzip
„Hoffnung als Politikersatz“ schöngeredet.
({17})
Von einer guten Epoche für Lehrstellensucher in den
neuen Bundesländern kann keine Rede sein. Die Vergangenheit ist Ihre Sache. Das werden wir in Kürze merken.
({18})
Angesichts dieses existenziellen Grundproblems
habe ich kein Verständnis dafür, wenn mit Blick auf die
Novelle zum Berufsbildungsgesetz über Mitbestimmung in außerbetrieblichen Einrichtungen gesprochen wird; schließlich gibt es in den neuen Bundesländern sechsmal mehr außerbetriebliche Einrichtungen als
in den alten Bundesländern. Hier geht es um die neuen
Bundesländer.
({19})
Die Jugendlichen in den neuen Bundesländern, die gar
keine Lehrstelle haben, interessiert zum Beispiel die
Frage, ob die Zeit für den Weg zwischen Schule und Betrieb als Arbeitszeit angerechnet wird, wirklich sehr wenig. Das ist das Problem.
Es ist durchaus normal, dass ein Gewerkschaftsfunktionär davon ausgeht, Partner zu vertreten, die in einem
Betrieb arbeiten. Mitbestimmung ist sinnvoll, ja notwendig und sie ist mit der Wirtschaftsdynamik verbunden.
Nur, in den neuen Bundesländern gibt es nicht so viele Betriebe. Dort müssen erst einmal Betriebserhalt und Betriebsgründung unterstützt werden. Mitbestimmung als
praxisferner Trockenschwimmkurs hat doch für Lehrlinge
wenig Sinn.
({20})
Ich fordere: Das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen muss vor allem in den neuen Bundesländern
erhöht werden. Steuermittel sollten vorrangig in
Lohnkosten- und Ausbildungszuschüsse fließen statt in
staatliche Ausbildungszentren und in betriebsferne Ausbildungswarteschleifen. Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung ehrlich und nicht nur mit Worten und Demonstrationen das tut, was die IG Metall am 14. Juni in
Leipzig gefordert hat: Neue Wege wagen!
({21})
Wir erleben jedoch Folgendes: Erstens. Sie geben
mehr Geld aus und erklären das zum Leistungskriterium, aber Sie sagen nichts zum Effekt. Zweitens. Sie
bemühen sich im Einzelnen, aber Ihnen fehlen die
Partner in dieser Regierung. Drittens. Sie fördern die
außerbetriebliche Ausbildung, aber Sie missachten den
Praxiskontakt und die Praxispartner. Viertens. Sie versuchen - wie wir wieder einmal gehört haben - mit
Durchschnittsangaben Anerkennung zu finden, aber Sie
vertuschen die Hauptprobleme in den neuen Bundesländern.
({22})
Ich habe eine Vision: Es könnte einmal nicht mehr zeitgemäß und sinnvoll sein, im Berufsbildungsbericht auf
die Spezifik „neue Bundesländer“ einzugehen. Dann wird
über die Berufsbildung, auch über die im tertiären Bereich - ich denke auch an die Berufsakademien -, im geeinten Deutschland allein unter dem Aspekt beraten, wie
wir uns alle gemeinsam für in ausreichender Anzahl angebotene, zukunftsfähige Lehrstellen einsetzen. Es gibt
keine ideologischen Blockaden beim Streben nach diesem
Ziel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum
Abschluss meiner letzten Rede nach zwölf Jahren als Abgeordneter des Bundestags drei Gedanken zum Ausdruck
bringen. Es war eine für mich früher so nie erwartete wunderbare Zeit, etwas für die äußere und innere Einheit
Deutschlands tun zu können. Die Arbeit hat mir oft Probleme, aber auch Freude gemacht. Ich bin dankbar für die
Partnerschaft, auch über Parteigrenzen hinweg, und dafür,
dass ich Freunde fand.
Danke schön.
({23})
Lieber
Kollege Jork, auch ich darf Ihnen im Namen des ganzen
Hauses für die langjährige, gute Zusammenarbeit und die
erfolgreiche Arbeit, die Sie im Sinne der deutschen Einheit geleistet haben, danken. Wir wünschen Ihnen für die
nächsten Jahre alles Gute.
({0})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege
Dr. Reinhard Loske vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Herr Kollege Jork, auch mir ist es leicht
gefallen, zum Schluss Ihrer Rede zu klatschen. Aber es ist
wirklich notwendig, dass man noch einmal sagt, wofür
man klatscht, nämlich für die Zusammenarbeit der vergangenen Jahre. Die inhaltlichen Ausführungen Ihres Beitrages lassen das Klatschen nicht ohne weiteres zu. Das
muss ich bei aller Freundschaft zugeben.
Zunächst einmal möchte ich Sie auf folgende Aussagen
von Ihnen ansprechen: „Wer das duale System kaputtredet, zerstört den Industriestandort Deutschland.“ Ich frage
Sie ernsthaft: Sehen Sie irgendjemanden, der das duale
System kaputtreden möchte? Bauen Sie da nicht vielleicht
einen Popanz auf, den es so gar nicht gibt?
({0})
Zweitens habe ich eine wirklich ernst gemeinte Frage,
obwohl ich nicht erwarte, dass Sie sie jetzt beantworten.
Es ist doch klar: Wünschenswert ist, dass wir möglichst
viele junge Menschen im dualen System direkt in den Betrieben unterbringen; das ist gar keine Frage. Aber was geschieht, wenn solche Arbeitsplätze aufgrund der regionalen Unterschiede nicht vorhanden sind? Da gibt es
vonseiten der Politik verschiedene Möglichkeiten: Man
gibt Mobilitätshilfen und versucht, die jungen Leute dazu
zu bewegen, dahin zu gehen, wo die Lehrstellen sind; das
ist eine vernünftige Strategie. Eine andere vernünftige
Strategie ist die, dass man überbetriebliche Ausbildungsstätten einrichtet und versucht, einen größtmöglichen betrieblichen Kontakt herzustellen. Genau das ist in solchen
Situationen sinnvoll. Dem können auch Sie sich nicht in
den Weg stellen; denn einzig und allein das ist vernünftig.
({1})
Herr Kollege Loske, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jork?
Ja, obwohl meine Frage an den Kollegen Jork mehr rhetorisch gemeint war.
Sie haben mich indirekt gefragt und zwei Vorschläge, die ich richtig finde,
gemacht. Könnten Sie sich vorstellen, dass es vielleicht
noch einen dritten Vorschlag gibt, und zwar den, dass man
diejenigen stärkt, die Lehrstellen bereitstellen, also die
Wirtschaft? Das war immer mein Anliegen. Dazu
gehören auch das Handwerk und der Mittelstand. Wenn
Sie das ergänzen könnten, würde ich mich freuen. Ist das
denkbar?
({0})
Das ist ohne weiteres denkbar.
({0})
Ich bin mit meinen Ausführungen allerdings noch nicht
fertig gewesen. Ich hatte gerade erst begonnen und versucht, zwei Möglichkeiten zu skizzieren. Selbstverständlich ist es so - das hat der Herr Staatssekretär, wie ich
finde, sehr zutreffend ausgeführt -, dass wir bei den Unternehmen einmal durch reale Rahmensetzungen steuerlicher und sonstiger Art, aber natürlich auch durch einen
Appell an ihr Verantwortungsbewusstsein die Bereitschaft
wecken müssen, Auszubildende einzustellen. Das ist völlig klar. Man kann nicht einerseits über Fachkräftemangel
klagen und andererseits selbst keine Lehrlinge ausbilden.
Das passt nicht zusammen. Man muss das ganz klar sehen.
({1})
Deswegen möchte ich von dieser Stelle aus gerne noch
einmal die Wirtschaft bitten, zu ihren Zusagen im Rahmen
des Ausbildungskonsenses auch tatsächlich zu stehen.
Denn Weitsicht ist erforderlich, um den Fachkräftemangel
von morgen zu verhindern.
Ich wollte mich in meinem Beitrag auf den Kollegen
Catenhusen konzentrieren, der sich im Wesentlichen auf
die Bilanz gestützt hat, und noch ein paar Worte zur beruflichen Weiterbildung sagen. Wir in diesem Hohen
Hause sind uns einig, dass in einer Gesellschaft, in der die
Halbwertzeit von Wissen rapide gesunken ist und weiter
sinkt, der beruflichen Weiterbildung ein ganz hoher und
vor allen Dingen wachsender Stellenwert zukommt. Uns
allen ist klar, dass eine Erstausbildung allein nicht mehr
ausreichend ist, um den künftigen Anforderungen der
Wissensgesellschaft gewachsen zu sein. Deshalb muss
berufliche Fort- und Weiterbildung immer selbstverständlicher werden. Wir müssen versuchen, die Rahmenbedingungen dafür zu setzen.
Ich glaube, es ist nicht nur erforderlich und sinnvoll,
über Zahlen, Programme, Geld usw. zu sprechen, sondern
wir sollten auch alles dafür tun, dass sich wirklich eine
Kultur des lebenslangen bzw. lebensbegleitenden Lernens
verbreitet. Denn es ist so, dass viele Menschen immer
noch glauben, dass nebenberufliche Weiterbildung doch
eher eine Last ist und weniger eine Chance. Die Einsicht,
dass Bildung dem Menschen weiterhelfen kann und die
beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist, müssen wir
fördern.
({2})
Wenn man über berufliche Aus- und Weiterbildung redet,
kristallisieren sich vier Bereiche besonders heraus. Erstens müssen wir dafür Sorge tragen - das wurde bereits
angesprochen -, dass bei dem notwendigen quantitativen
Ausbau von Weiterbildung die Qualität nicht auf der
Strecke bleibt. Zweitens müssen wir Chancengerechtigkeit beim Zugang zu Weiterbildungsmaßnahmen sicherstellen. Drittens müssen wir - auch das wurde angesprochen - die internationale Dimension fest im Blick haben,
vor allem die wechselseitige Anerkennung von Abschlüssen. Wenn wir wollen, dass sich unsere jungen Menschen
international stärker orientieren, dann müssen auch ihre
Abschlüsse oder Teilabschlüsse in anderen Ländern anerkannt werden. Viertens müssen wir uns darüber klar werden, in welchem Verhältnis die duale Ausbildung in Zukunft zur Hochschul- und Fachhochschulausbildung
stehen soll. Nach meiner Auffassung müssen wir diese
beiden Ausbildungswege stärker verzahnen.
Qualitätssicherung in der Weiterbildung ist eine elementare Aufgabe des Verbraucherschutzes. Es geht beim
Verbraucherschutz darum, nicht nur im Hinblick auf Rabatte oder Nahrungsmittel, sondern auch im Hinblick auf
die Bildung eine stärkere Transparenz sicherzustellen.
Deswegen setzen wir uns für eine Institution „Bildungstest“ ein, die für Beobachtung und Evaluation sowie für
die Veröffentlichung der Ergebnisse sorgt, sodass die
Menschen wissen, woran sie sind. Nach unserer Meinung
ist Transparenz im Bildungsbereich ein Wert an sich.
({3})
Ab Juli 2002 - auch darauf ist schon hingewiesen worden - wird es bei der Stiftung Warentest eine Abteilung
„Bildungstest“ geben, die die verschiedenen Weiterbildungsangebote auf ihre Qualität hin untersucht.
({4})
Wir werden diese Untersuchungen eine Zeit lang beobachten und dann Schlüsse daraus ziehen, wie wir dieses
Instrument weiterentwickeln wollen.
Es geht aber nicht nur um bessere Information und
Transparenz, sondern auch um bessere Beratungsstrukturen. Wir wollen die Bürger aktiv darin unterstützen, an Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen, und allen die Chancen des lebensbegleitenden Lernens zukommen lassen.
Zum Thema Chancengerechtigkeit: Heute ist leider
folgende Entwicklung zu beobachten. Diejenigen, die bereits hoch qualifiziert sind, beteiligen sich überproportional an Weiterbildungsmaßnahmen, während die geringer
Qualifizierten diese Angebote kaum wahrnehmen. Wir
müssen versuchen, diese Schere wieder zu schließen,
({5})
und zwar vor allen Dingen dadurch, dass wir Anreize
schaffen, Hindernisse abbauen und den Menschen ein
Gefühl dafür geben, dass die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen eine Investition in ihr eigenes Humankapital ist.
Im Hinblick auf die wechselseitige Anerkennung von
Abschlüssen hat die Bundesregierung erste Schritte gemacht. Ich nenne hier den Europass. Diese Initiative geht
in die richtige Richtung, muss aber weiterentwickelt werden. Das müssen wir so, wie wir es bei den Hochschulen
gemacht haben - seit der BAföG-Reform kann das BAföG
ins Ausland mitgenommen werden; zu denken ist ferner an
die wechselseitige Anerkennung von akademischen Abschlüssen bzw. Teilabschlüssen -, auch bei der beruflichen
Bildung hinbekommen, damit die jungen Menschen besser ausgestattet sind. Beim letzten Tagesordnungspunkt
war davon die Rede, dass Europa die tragende Idee unserer Politik sei. Dann müssen auch die Abschlüsse in Europa wechselseitig anerkennungsfähig sein.
({6})
Der letzte Punkt bezieht sich auf das Verhältnis des
dualen Systems und der Hochschulen bzw. Fachhochschulen; das wurde auch vom Kollegen Catenhusen angesprochen. Es ist in der Tat erfreulich, dass Bayern seinen Widerstand aufgegeben hat. Besonders wichtig ist
aber, dass wir den Fachhochschulen und Universitäten in
Zukunft auch die Möglichkeit geben wollen, sich an diesem Weiterbildungsmarkt aktiv zu beteiligen. Es soll also
nicht mehr nur unmittelbar für den Beruf nützliches Wissen an den Fachhochschulen und Hochschulen abgerufen
werden können. Vielmehr sollen sich die Berufstätigen
parallel in den Hochschulen weiterbilden können. Dafür
wollen wir die Universitäten und Fachhochschulen öffnen. Der Zugang soll allen möglich sein, die eine solide
berufliche Qualifikation hinter sich haben.
Danke schön.
({7})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Ernst Burgbacher von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben vor circa
drei Stunden über PISA diskutiert. Wenn ich mich daran
erinnere, wie viele Klagen über das Niveau der Schulabgänger gerade von den Ausbildern in den Betrieben
seit vielen Jahren vorgebracht werden, dann muss ich
heute sagen: Hätten wir früher auf sie gehört, hätte man
vor allem in manchen Bundesländern früher auf sie
gehört, könnten wir uns heute manche Diskussion
sparen.
({0})
Diese Klagen bezogen sich genau auf die mangelnde
Lesefähigkeit, auf das mangelnde Verständnis, auf mangelnde Rechenfähigkeiten; wir alle haben diese Klagen
gehört, wo immer wir hinkamen. Hier ist sicherlich etwas
versäumt worden.
({1})
Wenn wir heute über berufliche Bildung reden, dann
wird das Schlagwort von der Gleichwertigkeit der allgemeinen und der beruflichen Bildung wieder in den Vordergrund treten. Diese Forderung ist Allgemeingut. Leider hapert es mit ihrer Umsetzung. Die Verwirklichung
dieses Projektes pausiert; manchmal sage ich: Es ist schon
Feierabend.
Wir haben einen Antrag vorgelegt, der einen anderen
Weg beschreibt. Wir wollen den Bildungspass, wir wollen
ein modulares Ausbildungssystem. Ich werde nachher auf
einige Punkte hierzu eingehen, möchte aber zuvor einige
Bewertungen im Hinblick auf den Berufsbildungsbericht der Bundesregierung vornehmen.
Dieser Bericht, der die Situation des vergangenen Jahres beschreibt, zeichnet ein zumindest zwiespältiges Bild.
Er ist in keiner Weise Anlass, ein Loblied auf die Regierung zu singen.
({2})
Herr Catenhusen, die Gewerkschaftsvertreter, auf die sich
diese Regierung so gern stützt, kritisieren den Bericht der
Bundesregierung mit herben Worten - ich zitiere -:
Die Bilanzen wurden schöngeredet, kritische Zahlen
ausgeblendet, das Prinzip Hoffnung zum Politikersatz gemacht und im Übrigen darauf vertraut, dass
die Öffentlichkeit schon nichts merken werde.
({3})
So lautet das Minderheitenvotum der Arbeitnehmervertreter im Bericht. Herr Tauss, das sind Ihre Freunde. Wer
solche Freunde hat, braucht sich um Feinde eigentlich gar
nicht mehr zu kümmern.
({4})
Wir sehen das nicht ganz so krass. Die Situation hat
sich 2001 gegenüber dem Jahr 2000 geringfügig, aber viel
zu wenig verbessert. Die Angebot-Nachfrage-Relation
stieg von 100,3 auf 100,6. Die Anzahl der rein betrieblich
abgeschlossenen Ausbildungsverträge sank jedoch um
knapp 8 000.
Die Lage in den neuen Ländern - dazu wurde schon
Stellung genommen - verschlechterte sich erneut.
({5})
Die Gewerkschaftsvertreter kommentieren die Lage so:
Die Ausbildungssituation in den neuen Bundesländern ist weiterhin eine Katastrophe.
So äußern sich Ihre Freunde von den Gewerkschaften.
({6})
Meine Damen und Herren, man kann es auf einen einfachen Nenner bringen: Wäre die wirtschaftliche und konjunkturelle Lage besser und hätten wir eine mittelstandsfreundliche Wirtschaftspolitik, dann hätten wir auch eine
bessere Situation bei der Berufsausbildung. Das ist der eigentliche Schlüssel, um das Problem zu lösen.
({7})
Die kleinen und mittleren Unternehmen bieten den weitaus größten Anteil an Ausbildungsplätzen. Wir müssen
uns die Zahlen schon einmal vor Augen führen: Betriebe
mit unter 500 Beschäftigten bilden 83 Prozent aller Auszubildenden aus, Betriebe mit unter 10 Beschäftigten bilden mit immerhin noch fast 25 Prozent erheblich mehr aus
als alle Großbetriebe mit über 500 Beschäftigten.
({8})
Das zeigt den Fehler in Ihrer Politik. Sie haben eine in
grober Weise mittelstandsfeindliche Politik gemacht.
({9})
Wir können alle Facetten dessen aufführen. Betriebe bilden zum Teil weniger aus, weil sie es schlichtweg nicht
können. Lieber Herr Loske, wenn Sie vorher anmahnten,
dass die Wirtschaft zu ihrem Versprechen stehen solle,
({10})
halte ich Ihnen entgegen: Die Wirtschaft steht dazu, wenn
sie es kann. Wenn ein Betrieb nicht mehr das nötige Geld
verdient, dann hapert es eben auch an der Möglichkeit
auszubilden. Deshalb geht der Weg zu mehr betrieblicher
Ausbildung nicht über irgendwelche Gespräche, sondern
über die Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen.
({11})
- Ich bin immer korrekt.
({12})
Außerdem wissen Sie genau, dass ich insgesamt nur fünfeinhalb Minuten Redezeit habe. Sonst würde ich Ihnen
jetzt genau aufzählen, worin Ihre mittelstandsfeindliche
Politik liegt.
({13})
- Bitte machen Sie das; ich beantworte sie gern.
Ich will noch einiges zu unserem Antrag sagen - das ist
auch ein wesentlicher Vorwurf an Sie -: Die Reform des
Berufsbildungsgesetzes ist schlichtweg verschlafen worden.
({14})
Wir brauchen diese Reform aber. Das duale Ausbildungssystem, das sich grundsätzlich bewährt hat - das ist überhaupt keine Frage - und das weltweit anerkannt ist, muss
weiterentwickelt werden; es kann nicht statisch so bleiben, wie es jetzt ist. Wir haben in Wirtschaft und Gesellschaft eine erhebliche Dynamik. Neue Berufe entstehen
in einer Geschwindigkeit, wie wir es nie gekannt haben.
Das muss sich in der Berufsausbildung widerspiegeln.
Deshalb empfehlen wir das Konzept der Modularisierung.
({15})
Wir dürfen kein starres System schaffen. Wir brauchen
Module, die aufeinander aufbauen. Ich sage ausdrücklich:
Das geht nicht in die Richtung, dass wir nur noch Kurzberufe wollen. Wir wollen die derzeitigen Berufe, aber
mit einem flexibleren System.
({16})
Wir wollen den Ausbildungspass, der dem jungen
Auszubildenden etwa erlaubt, in verschiedenen Betrieben
zu lernen. Dieses Erfordernis wird weit stärker kommen,
als wir alle das heute noch glauben, weil ein Betrieb allein
das oft nicht mehr kann.
({17})
Der Auszubildende kann damit einen Teil seiner Ausbildung im Ausland machen; über die Europäische Union
wurde in diesem Zusammenhang schon gesprochen. Er
bekommt das dokumentiert. So entsteht eine neue Form
der Ausbildung. Das kann sich natürlich später in der Weiterbildung fortsetzen.
Zusammengefasst: Mit dem individuellen Ausbildungspass wollen wir die Chancen und Möglichkeiten der
Berufsbildung deutlich verbessern. Wir wollen den Weg
öffnen - und fordern Sie noch einmal auf, diesen Weg
endlich mit uns zu gehen - für ein liberales, duales und
modulares Berufsbildungssystem in Deutschland.
({18})
Herzlichen Dank.
({19})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Maritta Böttcher von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren vor allem von der Koalition, ich sage es gleich zu Beginn: Ich
bin nicht hier, um Lob zu verteilen.
({0})
Stattdessen sage ich: Ihre Weitsicht ist schon bewundernswert. Als der Berufsbildungsbericht 2001 vorlag,
haben Sie offensichtlich gedacht, dass auf dem Gebiet der
Berufsbildung bis zum nächsten Bericht ohnehin nicht
viel passiert. Mit dieser Vermutung liegen Sie richtig; die
Probleme vom vorigen Jahr existieren leider im Prinzip
fort. Es bestand deshalb für uns auch keine Veranlassung,
den Entschließungsantrag zum Bericht 2001 zurückzuziehen; denn sowohl die dort dargestellte Lage, besonders
ihre Ausmaße in Ostdeutschland, als auch die Eckpunkte
für eine Reform des Berufsbildungsgesetzes haben nicht
an Aktualität verloren.
({1})
Der Bericht 2002 macht deutlich, dass die derzeitigen
statistischen Grundlagen nicht geeignet sind, den Ernst
der Lage zu erfassen. Der Bericht konstatiert für 2001 eine
Angebot-Nachfrage-Relation von 100,6. Obwohl das
noch weit vom verfassungsgerichtlich fixierten Wert von
112,5 entfernt ist, wird das als Erfolg gefeiert. Hinter dieser formalstatistischen Ausgeglichenheit bleiben viele
gravierende Probleme verborgen.
Bürstet man die Erfolgsberichterstattung weiter gegen
den Strich, kommt noch mehr zum Vorschein. Die Zahl
der betrieblichen Ausbildungsverträge ging weiter
zurück und fiel zum Beispiel in Sachsen-Anhalt auf einen
historischen Zehnjahrestiefpunkt. Entsprechend stieg die
Zahl derer, die am Ende in Ersatzmaßnahmen und Warteschleifen landeten. Viele verschwinden nur aus der Statistik. Sie besuchen aufgrund der Schulpflicht mangels Alternative Berufsvorbereitungs- oder Grundbildungsjahre,
sind aber real nicht weniger vorhanden und nicht weniger
an einer qualifizierten Ausbildung interessiert.
Gewachsen ist dafür die Mobilitätsbereitschaft der
Jugendlichen. Allein 19,7 Prozent aus dem Osten finden
ihren Ausbildungsplatz außerhalb ihrer Region. 41 Prozent der Ausbildungssuchenden 2001 waren so genannte
Altbewerber aus den Vorjahren. Herr Jork, bei aller Wertschätzung, mir ist neu, dass Sie hier nun doch noch für die
Ausbildungsplatzumlage werben,
({2})
indem Sie Betriebe, die sich besonders verdient machen
und auch über Bedarf ausbilden, stärken möchten.
Schade, dass Sie jetzt aus dem Parlament ausscheiden. Sie
könnten mit mir gemeinsam in der nächsten Wahlperiode
diesen Gesetzentwurf umsetzen. Schade, aber vielleicht
werden das Ihre Kollegen übernehmen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Tendenzen
in der Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit sind leider Besorgnis erregend. Ein Anstieg der Anzahl der
Arbeitslosen unter 25 Jahren um mehr als 10 Prozent und
ein deutlicher Anstieg der Anzahl der Jugendlichen, die
länger als sechs Monate arbeitslos sind, sind wirklich
keine Erfolgsmeldungen.
Welche Schlussfolgerungen sind allein aus diesen wenigen Tatsachen zu ziehen?
Erstens. Eine grundlegende Reform des Berufsbildungsgesetzes ist überfällig. Diese Reform muss darauf
gerichtet sein, die Berufsausbildung von den konjunkturellen Schwankungen zu entkoppeln und den individuellen Rechtsanspruch auf eine qualifizierte berufliche
Ausbildung zum Ausgangspunkt aller einzelnen Bestimmungen zu machen.
Zweitens. Alle existierenden beruflichen Ausbildungsgänge müssen in den Geltungsbereich des BBiG einbezogen werden.
Drittens. Für die Gesamtheit dieser Ausbildungsgänge
muss das reformierte BBiG gemeinsame Standards zum
Beispiel für Zugang, Qualitätssicherung, Prüfungswesen
und Durchlässigkeit festlegen. Auf diese Weise soll das
duale System als Kern unserer beruflichen Ausbildung
erhalten und fortentwickelt werden; zugleich soll aber die
gesamte nicht akademische berufliche Bildung zu einem
gleichwertigen pluralen Ausbildungssystem ausgestaltet
werden, in dem das duale Prinzip, nämlich die Verbindung
von Theorie und Praxis, durchgängig praktiziert wird.
({4})
Viertens geht es darum, im Berufsbildungsgesetz eine
Finanzierung zu verankern, durch die die Unternehmen
und Verwaltungen verbindlich verpflichtet werden, ihrer
Verantwortung für die berufliche Ausbildung gerecht zu
werden. Diese Finanzierung muss in der nahen Perspektive allen Auszubildenden eine eltern- und partnerunabhängige Existenz ermöglichen.
Schließlich und fünftens muss das reformierte Berufsbildungsgesetz die Grundlage dafür legen, dass die Auszubildenden, die Berufsschulen und das gesellschaftliche
Umfeld größere Mitgestaltungsmöglichkeiten in der Ausbildung erhalten. Wie dringlich das ist, zeigt der skandalöse Umstand, dass das im Deutschen Bundestag
beschlossene bescheidene Sondergesetz für ein Mitspracherecht der Auszubildenden in außerbetrieblichen Einrichtungen im Bundesrat von der Unionsmehrheit vorerst
blockiert worden ist.
({5})
Wenn es uns nicht gelingt, meine Damen und Herren,
unser Berufsbildungssystem zu reformieren, dann werden
wir große Schwierigkeiten haben, es der europäischen Entwicklung anzupassen. Ich erwarte, dass wir gemeinsam
nach Lösungen suchen, um die Situation zu verändern, und
nicht in erster Linie, um Berichte zu beschönigen.
({6})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Willi Brase von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! WolfMichael Catenhusen hat nach meiner, nach unserer Auffassung das Notwendige zur aktuellen Entwicklung der
Ausbildungsstellensituation gesagt. Ich will versuchen,
einige Punkte anzusprechen, die auch bereits in der Debatte deutlich wurden und gezeigt haben, wo wir in diesem Bereich stehen.
Vorab möchte ich Folgendes sagen: Lieber Herr
Dr. Jork, der DGB hat kürzlich in einer Stellungnahme
zum JUMP-Programm sehr offensiv ausgeführt, dass
das absolut Positive an diesem Programm war, dass wir
vor allem junge Leute, die sich aus dem Arbeitsmarktgeschehen verabschiedet hatten, wieder hoch geholt und ihnen eine Perspektive mit vielfältigen Aktivitäten gegeben
haben.
({0})
Ich sehe das als eine sehr soziale und vernünftige Angelegenheit an. Deshalb freuen wir uns über dieses Lob.
Wir haben in den letzten vier Jahren versucht - nach
meiner Auffassung ist uns das gelungen -, einige Eckpunkte in der Diskussion über die berufliche Bildung zu
beachten und voranzutreiben.
Erstens. Wir halten an der Bundeseinheitlichkeit der
beruflichen Bildung fest. Wir sind gegen Versuche, das
System der beruflichen Erstausbildung durch modularisierte Teil- und Zusatzqualifikationen oder durch gestufte
Bildungsgänge zu ersetzen. Wir sind gegen Konzepte in
Richtung Basisberufe und gegen Kurzausbildungsberufe.
Wir sind auch gegen eine Verkürzung der Ausbildungsdauer auf zwei Jahre. Wir halten uneingeschränkt am Berufsprinzip fest. Dieses Prinzip hat sich bewährt. Das
hohe Qualifikationsniveau unserer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in den unterschiedlichen Branchen belegt dies sehr deutlich.
({1})
Deshalb brauchen wir kein System modularisierter Tätigkeiten und keine Schmalspurberufe, und zwar nicht im Interesse der Wirtschaft und schon gar nicht im Interesse der
Jugendlichen. Das zeigt auch die aktuelle Situation.
Zweitens. Unser Land kann auch gerne auf die Ausdifferenzierung der Ausbildungsordnungen und Berufsbilder
in eine Vielfalt von Spezialberufen verzichten, weil sie die
berufliche Mobilität behindern und oft nur modischen
Trends des Stellenmarktes folgen. Ich nenne als Beispiel
den Info-Broker oder den Content-Manager. Diese Berufsbilder können schnell überholt sein, wie der Zusammenbruch der so genannten New Economy deutlich gemacht hat. Ich erwähne auch die klassische, nach meiner
Auffassung abschreckende Liste von 100 neuen Spezialberufen der IHK Hamburg und nenne beispielsweise den
Aufzugsportier und die Garderobefachfrau. Da wir uns in
Europa informationstechnologisch mittlerweile an erster
Stelle befinden, brauchen wir keinen Aufbruch in die
Nostalgie, sondern den Ausbau der Spitzenposition. Entsprechende Maßnahmen werden wir weiterhin umsetzen.
({2})
Wir haben über 70 000 Ausbildungsplätze in den neuen
IT-Berufen. Ich will darauf hinweisen, dass sich mit der
Neuordnung der Metall- und Elektroberufe vor allen Dingen die davon betroffenen Branchen weiterentwickeln
konnten. Nehmen Sie nur einmal die Spitzenstellung des
Maschinenbaus. Es war genau richtig, dass wir diesen
Weg gegangen sind.
({3})
- Das ist doch uninteressant. Wir haben die Maßnahmen
bezüglich der IT-Berufe weiter vorangetrieben. Sie können reden, wie Sie wollen: Es gibt 70 000 Ausbildungsplätze mehr als zugesagt wurden.
({4})
Lassen Sie mich einen Bereich ansprechen, der häufig
erwähnt wird, wenn es darum geht, bestimmte Probleme
in den Griff zu bekommen. Wir haben eine Zunahme von
Ausbildungsverhältnissen außerhalb des BBiG und
der HWO. Herr Dr. Jork, Sie müssen auch zur Kenntnis
nehmen, dass selbst in Ihrem Heimatbundesland Sachsen
über 9 Prozent dieser Ausbildungsverhältnisse ausgeweitet wurden. Wenn Sie das ursprüngliche duale Ausbildungssystem fordern, dann muss ich sagen: Wir müssen
aufpassen, dass in den Bundesländern nicht zu stark auf
der Basis von Ausbildungsordnungen außerhalb des
BBiG und der HWO ausgebildet wird; denn das kann für
die zukünftige Entwicklung der dualen Ausbildung möglicherweise negativ sein. Ich glaube, es hat Sinn zu
schauen, wie in diesem Bereich die Ausbildung läuft.
Es ist wichtig, dass wir auch die Tätigkeit der Berufsschule, die Anerkennung der Berufsschulleistung in den
Prüfungssystemen und auch die Einbeziehung der Berufsschule im BBiG insgesamt intensiver diskutieren. Ich
möchte aber darauf hinweisen, dass es im Gutachten von
Professor Ossenbühl, das im Auftrage des Bündnisses für
Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit auf den
Weg gebracht wurde, dazu eine detaillierte und differenzierte Betrachtung gibt. Wenn Sie wie auch wir von der
Richtigkeit des Gutachtens überzeugt sind, dann müssen
wir uns daranmachen, entsprechende Regelungen über
einen Staatsvertrag zwischen den Bundesländern und dem
Bund zu treffen: Wie kann zukünftig das, was in den
berufsbildenden Schulen und in den Berufsfachschulen
erarbeitet und den Schülerinnen und Schülern gelehrt
wird, möglicherweise in die Abschlussprüfung einbezogen werden? Welchen Stellenwert hat das? Ich weise darauf hin, dass es noch ein langer Weg ist. Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn wir uns an dieser Stelle im
Ausschuss noch einmal auseinander setzen würden.
({5})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der nach unserer Auffassung schon umgesetzt wurde. Das ist der Ausbildungskonsens. Ich glaube, es ist richtig, dass wir die
Verantwortlichkeit der beteiligten gesellschaftlichen
Gruppen erhöht haben und dass wir ihnen Chancen und
Möglichkeiten gegeben haben. Aufgrund des Ausbildungskonsenses können Angebot und Nachfrage in den
Regionen besser bewertet werden. Somit sind wir in der
Lage, Maßnahmen zur Bereitstellung ausreichender Angebote für alle Jugendlichen wesentlich konkreter umzusetzen.
({6})
In den Regionen selbst kann eine Umsetzung viel besser
erfolgen, weil man dort weiß, welche Branchen es gibt
und wie hoch die Zahl der betroffenen Jugendlichen ist.
Man weiß dort auch, was man möglicherweise an vorbereitenden und ergänzenden Aktivitäten beschließen muss,
damit das, was im Ausbildungskonsens vereinbart wurde,
auch umgesetzt wird: Wer kann und will, der bekommt ein
entsprechendes Angebot unterbreitet.
({7})
In der Debatte spielte die Frage der benachteiligten
Jugendlichen zunehmend eine große Rolle. Ich glaube
nicht, dass es hilft, wenn man diesen jungen Menschen die
Modularisierung oder auch die schon angesprochenen
Kurzzeitausbildungsgänge anbietet. Es scheint mir wichtiger zu sein, dass wir sie auch an eine bundeseinheitliche
Beruflichkeit mit dem Ziel einer umfassenden beruflichen
Handlungskompetenz heranführen und dass wir uns in
Bezug auf die Tätigkeit der Jugendberufshilfen überlegen
- sie ist in diesem Bereich vielfach zu verzeichnen und
sorgt häufig mit dafür, dass die Berufsreife und die Befähigung zur Beruflichkeit verbessert wird -, ob wir
zukünftig die Jugendberufshilfe so akzeptieren, wie sie ist
- sie gibt soziale und aufbauende Hilfestellungen -, und
ob wir sie regional stärker mit den Maßnahmen, die im
Rahmen des Berufsbildungsgesetzes vorgesehen sind,
verzahnen. Ich glaube, da tun wir etwas wirklich Gutes.
Ich will einen letzten Punkt ansprechen, den ich für sehr
nachdenkenswert halte. Die Ablehnung der kleinen Novelle zum Berufsbildungsgesetz, also die Ablehnung von
mehr Beteiligung und Mitsprache der jungen Menschen
durch die Mehrheit des Bundesrates kann doch nicht richtig sein, wenn man gleichzeitig davon spricht, dass auch
junge Menschen Rechte und Gestaltungsmöglichkeiten
haben sollen, und wenn man sich die Tatsache vor Augen
führt, dass sie zukünftig vor allen Dingen in Berufen tätig
sein werden, die, wie die Betrachtung unserer Leitbranchen in der Bundesrepublik Deutschland zeigt, mehr Kompetenzen im Bereich des sozialen Handelns erfordern.
Deshalb kann ich nur sagen: Man kann nicht in Sonntagsreden mehr Beteiligung von jungen Menschen einfordern und dann, wenn es konkret darum geht, an der Ausbildungssituation etwas zu ändern, 135 000 jungen
Menschen in öffentlich geförderten Ausbildungseinrichtungen ein Stück Interessenvertretung versagen. Das passt
nicht zusammen; das ist rückwärts gewandt. Das müssen
wir zurückweisen.
({8})
Wir brauchen ein modernes und durchlässiges System
der beruflichen Bildung. Wir werden es auch nach dem
22. September weiterentwickeln. Wir werden aber nicht
zulassen, dass sich die berufliche Ausbildung zukünftig
nur noch an betrieblichen Interessen orientiert oder dass
der Weg der Entstaatlichung vorangetrieben wird. Wir
werden dafür sorgen, dass die Jugendlichen durch Bundeseinheitlichkeit, durch eine bessere Verzahnung der
Aus- und Weiterbildung und durch eine Weiterentwicklung der Ausbildungsordnungen die Chancen bekommen,
die sie in unserem Lande brauchen, und das sind gute
Chancen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der
Kollege Heinz Wiese von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man kann heutzutage keine bildungspolitische Debatte mehr führen,
ohne auf die PISA-Studie einzugehen. Ich denke aber, der
Schlagabtausch zu PISA-E hat in diesem Hohen Hause
schon heute Nachmittag stattgefunden.
Zu der immer noch durchaus unbefriedigenden
Lehrstellensituation in den neuen Bundesländern, zu dem
Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Reform der beruflichen Bildung und zum Berufsbildungsbericht hat mein
Kollege Dr. Jork ausführlich Stellung genommen. Deshalb lassen Sie mich kurz einige Perspektiven im Hinblick
auf die Reform der beruflichen Bildung, auf das, was wir
noch vor uns haben und was die Redner in dieser Debatte
bereits angedeutet haben, aufzeigen.
Wir wissen, dass in den Bundesländern, in denen eine
solide Bildungspolitik betrieben wird, auch das duale
Ausbildungssystem intakt ist. Es hat sich dort bewährt
und ist nach wie vor international konkurrenzfähig, anerkannt und erfolgreich.
({0})
Dass wir aber als rohstoffarmes Land, dessen wichtigstes
Kapital bekanntlich die Köpfe unserer Bürger sind, insgesamt im Ausbildungsbereich neue Konzepte und Strukturen brauchen, ist unbestritten. Die Lage ist zwar ernst,
aber wir dürfen nicht mit Schnellschüssen reagieren. In
der Vergangenheit hat sich immer wieder gezeigt - denken Sie an die so genannte Greencard -, dass Schnellschüsse nicht wirksam und nicht nachhaltig sind und auf
Dauer zu wenig Substanz beinhalten.
({1})
Deshalb ist eine gründliche und schonungslose Analyse der Misere an unseren Schulen bis hin zum beruflichen Schulwesen gefordert. Es gibt auch bereits Anzeichen dafür, dass wir diese Diskussion verstärkt ohne
ideologische Scheuklappen führen können und dass in
konkreteren Diskussionen Tabus teilweise verschwinden.
Dazu sollten wir alle unseren Beitrag leisten.
({2})
Was wir brauchen - das haben wir erkannt, Herr Tauss -,
ist nicht einfach nur mehr Geld. Es ist auch nicht nur eine
bessere Ausstattung der Schulen. Es ist nicht nur eine bessere Ausstattung mit Computern und Laptops.
({3})
- Ich sage: nicht nur! - Es geht nicht nur um eine zeitgemäße Lehrerausbildung.
({4})
Ich denke, das Entscheidende ist viel elementarer: Wir
brauchen ein Umfeld, in dem sich Leistung und Wettbewerb wieder lohnen!
({5})
Das ist in der Wirtschaft und in der Bildungspolitik auch
durchgängig wie ein roter Faden erkannt. Wir brauchen
ein gesellschaftliches Klima, in dem Leistung mehr Anerkennung findet als bisher. Das ist, glaube ich, der richtige
Ansatzpunkt.
Wir müssen die jungen Menschen, die in die Betriebe
kommen, vorher entsprechend fordern und fördern.
Schon auf dem Weg zur Berufsausbildungsreife - das ist
ja die entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche
Berufsreife, die danach kommt - müssen bereits in der
Schule an dieser Schnittstelle neben Wissen auch solche
Werte vermittelt werden wie Teamfähigkeit, Ordnungsliebe, Pünktlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Disziplin, Zuverlässigkeit.
({6})
Früher hat man gesagt, das sind Arbeitstugenden. Heute
sagt man, das sind Schlüsselqualifikationen. Gut, wie man
das Kind tauft, ist am Ende egal. Hauptsache ist, wir kommen dort hin. Das ist konsensfähig, denke ich.
Das ist die Grundlage für eine erfolgreiche Schulzeit,
für ein berufliches Fortkommen und zugleich entscheidend für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung junger
Menschen.
Meine Damen und Herren, auch bei den Berufsschulen müssen wir das noch mehr als bisher berücksichtigen.
Wir müssen die unterschiedlichen Begabungen zur
Kenntnis nehmen. Wir müssen die Veranlagungen, die
Interessen der Jugendlichen in unsere Fördermaßnahmen einbauen. Derjenige, der mehr gefordert werden
kann, der soll auch mehr gefordert werden. Deshalb,
glaube ich, müssen wir diejenigen, die mehr theoretisch
begabt sind, gezielter fordern. Andererseits sollte
unser besonderes Augenmerk denen gelten, die benachteiligt sind, die vielleicht eher praktisch begabt sind.
Das ist ja auch eine Begabung, die nicht zu kurz kommen sollte.
({7})
Deshalb glaube ich durchaus daran, dass es einige Berufsbilder mit vermindertem theoretischen Anforderungsprofil, wie es so schön heißt, geben sollte, damit auch diejenigen, die mehr praktisch begabt sind, mit solchen
Modellen, mit solchen Berufsbildern ihren Weg gehen
können.
Wir sollten natürlich auch das, was die FDP hier beantragt hat, in unser Denken aufnehmen.
({8})
Das betrifft die modularen Ausbildungsgänge und die Anerkennung von Teilzertifikaten. Das alles kann man,
denke ich, auch in einem Ausbildungspass verankern, der
europaweit mehr Anerkennung und mehr Propaganda
verdient. Im europäischen Bereich und auch im Zusammenhang mit der Osterweiterung, Herr Staatssekretär,
sollten wir das gezielt im Auge haben und in einem solchen Ausbildungspass die Ausbildungsabschnitte und die
Zusatzqualifikationen festhalten.
Zur Weiterbildung: Dr. Loske hat ebenso wie der Kollege Brase von der SPD davon gesprochen, dass wir auch
neue Wege in der Verzahnung von Aus- und Weiterbildung gehen müssen; denn wir wissen ja, dass gerade der
Kompetenz des lebensbegleitenden Lernens eine höhere
Bedeutung zukommt. Wir brauchen Fremdsprachenkompetenz. Wir brauchen den verantwortungsbewussten Umgang mit den neuen Medien und wir brauchen die Befähigung zu lebensbegleitendem Lernen - und das von der
Pike auf, wie man sagt.
({9})
Herr Kollege Wiese, kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Damen
und Herren, ich meine, dass wir auch in diesem Bereich
in Baden-Württemberg den richtigen Weg eingeschlagen
haben: die Förderung der interkulturellen Kompetenz mit
einem flächendeckenden Fremdsprachenunterricht in
Englisch demnächst - so hoffe ich, Herr Tauss - im
ganzen Lande bis zum Berufsabschluss. Das, denke ich,
muss gesehen werden. Auch die Berufsschulen dürfen
beim Fremdsprachenunterricht nicht außen vor bleiben.
({0})
Meine Damen und Herren, ich darf ein Letztes sagen.
Wir sind in dem Bereich -
Herr Kollege Wiese, keine langen Ausführungen mehr, bitte! Sie
sind weit über der Zeit.
Herr Präsident,
ich wollte das nur noch einmal aufgreifen. Die Zahlen
sind genannt worden. Ich kann deshalb auf nähere Erläuterungen verzichten. Wir sollten auch in Zukunft, gerade
um die Misere im Osten zu bekämpfen, dem Grundsatz
treu bleiben: Bildung, Ausbildung und Qualifizierung
junger Menschen sind der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit.
({0})
Vielen
Dank. Das war ein sehr schöner Schlusssatz.
Ich danke Ihnen
für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Berufsbil-
dungsberichts 2002 auf der Drucksache 14/8950 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen.
Der hierzu vorliegende Entschließungsantrag der Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
der Drucksache 14/9581 soll zur federführenden Bera-
tung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Tech-
nikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für
Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuss für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend und an den Haushaltsausschuss
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung auf der Drucksache 14/7910. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis
des Berufsbildungsberichts 2001 der Bundesregierung
auf Drucksache 14/5946 die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 14/5984 mit dem Titel
„Mit einem individuellen Ausbildungspass durchs Leben -
für ein liberales, duales und modulares Berufsausbil-
dungssystem in Deutschland“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Gegen-
stimmen der FDP und Enthaltung der CDU/CSU ange-
nommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des
Berufsbildungsberichts 2001 die Ablehnung des Antrages
der Fraktion der CDU/CSU zur Bekämpfung des Lehr-
stellenmangels in den neuen Bundesländern auf der
Drucksache 14/7281. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/
CSU und FDP angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der PDS auf der Drucksache
14/9550 zum Berufsbildungsbericht 2001. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der PDS-
Fraktion abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 e auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulf Fink, Wolfgang Lohmann ({0}), Maria Eichhorn, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verstärkung der
Personalausstattung in Pflegeheimen ({1})
- Drucksache 14/8364 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- Drucksache 14/9561 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Knoche
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst
Seehofer, Wolfgang Lohmann ({5}),
Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Gesundheitswesen patientenorientiert, freiheitlich und zukunftssicher gestalten
- Drucksachen 14/8595, 14/9570 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Lohmann ({6})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Heidi Knake-Werner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Pflege reformieren - Lebensqualität in Gegenwart und Zukunft sichern
- Drucksachen 14/6327, 14/9569 Heinz Wiese ({8})
Berichterstattung:
Abgeordneter Dieter Thomae
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({9}) zu dem Antrag der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fortentwicklung der sozialen Pflegeversiche-
rung
- Drucksachen 14/8864, 14/9562 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Marga Elser
e) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/
CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP
Medizinische Versorgung von Kindern und
Jugendlichen sichern und verbessern
- Drucksache 14/9544 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre und sehe
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Regina Schmidt-Zadel von der SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Antrag, über den wir heute
debattieren, ist mit starken Worten gespickt. Er enthält,
wie nicht anders zu erwarten, ausschließlich negative Bewertungen rot-grüner Gesundheitspolitik.
({0})
Aus der Weitsicht der CDU/CSU sind die apokalyptischen Reiter über ein einstmals blühendes Gesundheitswesen hergefallen. Ihrer Meinung nach haben wir in dieser Legislaturperiode die Qualität der Versorgung der
Patienten verschlechtert und das System ({1})
- warten Sie ab, es kommt noch mehr - in den finanziellen Ruin getrieben.
({2})
Das, was Sie hier bieten, bezeichnet man in der Medizin
- hören Sie gut zu - als Wahrnehmungsstörung und Gedächtnisverlust.
({3})
Unser Gesundheitssystem krankt seit Jahren und Jahrzehnten an Qualitäts- und Effizienzdefiziten. Gegen diesen Mangel haben die unionsgeführten Bundesregierungen nichts, aber auch gar nichts unternommen.
Strukturelle Überkapazitäten haben CDU und CSU als
ebenso gottgewollt angesehen wie Über-, Unter- und
Fehlversorgungen in den Behandlungsprozessen.
Die Union, meine Damen und Herren, hat nie die Kraft
gefunden, Leistungserbringer in die Pflicht zu nehmen.
Diskussionen über die Verbesserung der Qualität und
Wirtschaftlichkeit der Versorgung haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, gefürchtet wie der
Teufel das Weihwasser.
({4})
Für Sie war es viel bequemer, die gesetzliche Krankenversicherung zum Selbstbedienungsladen für Leistungserbringer verkommen zu lassen.
({5})
Nichts anderes steckt hinter Ihrem hochtrabenden Begriff
des Paradigmenwechsels aus dem Jahr 1997.
({6})
- Der war gut, sicher. - Von der Notwendigkeit, die Qualität und Effizienz der medizinischen Versorgung zu verbessern, war bei Ihnen damals keine Rede. Ihr damaliger
Gesundheitsminister hat noch im Frühjahr 1997 Wirtschaftlichkeitsreserven von 25 Milliarden DM im Gesundheitswesen ausgemacht,
({7})
verkündete aber im Herbst 1997 mit stolzgeschwellter
Brust: Jetzt ist kein Geld mehr vorhanden.
Richtig war und ist hingegen, dass in unserem Gesundheitssystem nach wie vor erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven stecken.
({8})
- Suchen Sie sie mal! Dann haben Sie eine Aufgabe.
({9})
Da ist es doch viel einfacher, die Patienten mit Forderungen nach Zuzahlung und in Form von Leistungsausgrenzungen zur Kasse zu bitten. Um Ihre Politik zu bemänteln,
haben Sie einen Paradigmenwechsel - so heißt das so
schön - erfunden: Die finanziellen Aufwendungen der gesetzlichen Krankenversicherung sollen sich am medizinischen Bedarf orientieren,
({10})
und nicht umgekehrt.
({11})
Wir wollen das Kind aber dennoch beim Namen nennen. Abzockerei ist und bleibt Abzockerei! An diese Politik wollen Sie anknüpfen.
({12})
Ihr Wahltarifmodell soll es erlauben, den konzeptionierten Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung durch
eine - so nennen Sie das ja in Ihrem Antrag - maßgeschneiderte individuelle Risikovorsorge abzulösen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
({13})
Die Zeche für die neuen Freiheiten hätten die kranken und
hier vor allem die chronisch kranken Menschen zu zahlen.
Das wollen Sie! Nur Junge und Gesunde - hören Sie gut
zu - könnten es riskieren, Wahloptionen auszuüben. Sie
würden dafür mit Beitragsnachlässen belohnt, hören wir
fast jeden Tag. Dadurch käme aber weniger Geld ins System - das haben Sie bisher nicht gesagt - und die Gesundheitskosten würden nicht sinken.
({14})
Ende vom Lied: Kranke, Rentner und ältere Arbeitnehmer
müssten zwangsläufig eine größere Last schultern. Besonders gebeutelt wären - ich will noch einmal darauf
hinweisen - die chronisch Kranken.
Wahltarife - das will ich Ihnen auch noch einmal ins
Stammbuch schreiben - sind zudem frauen- und familienfeindlich.
({15})
Wie sich das mit Ihrer Familienpolitik verträgt, bleibt Ihr
Geheimnis.
({16})
- Sie haben nicht hingehört, was ich gesagt habe.
({17})
CDU/CSU reden unser Gesundheitssystem schlecht.
Sie tun das in der Absicht, das Solidarsystem mittel- und
langfristig zu beseitigen.
({18})
Sie wollen an seine Stelle ein System der individuellen
Risikovorsorge setzen. Das Risiko „Krankheit“ soll privatisiert werden. Sie wollen mit Ihrem Programm den Zugang zu medizinisch notwendigen Leistungen in Zukunft
vom Geldbeutel des Einzelnen abhängig machen.
({19})
Die Rundumversorgung, die die solidarische Krankenversicherung für alle Versicherten gewährleistet, soll zum
Luxusgut werden, das sich dann nur noch Reiche leisten
können.
({20})
Sie sind auch mit Ihrem Antrag auf dem Weg in eine Zweiklassenmedizin. Diesen Irrweg kann und wird die SPD
nicht mitgehen.
({21})
Wir setzen weiterhin auf das Solidarprinzip. Wir wollen, dass die Jungen für die Alten, die Gesunden für
die Kranken, die Besserverdienenden für die finanziell
Schwächeren und die Singles für die Familien eintreten.
Das Solidarprinzip war und ist ein Eckpfeiler in diesem
Land. Es gehörte und gehört zum Grundkonsens unserer
Gesellschaft.
({22})
Dieser Grundkonsens, meine Damen und Herren - das
will ich ausdrücklich noch einmal betonen -, darf nicht
aufgekündigt werden. Betrachten Sie diesen Wunsch und
diese Aufforderung von mir als mein gesundheitspolitisches Vermächtnis.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Ich höre gerade, verehrte, liebe Frau Kollegin SchmidtZadel, dass dies Ihre letzte parlamentarische Rede gewesen ist. Ich darf Ihnen im Namen der Kolleginnen
und Kollegen für Ihre Arbeit, die Sie in diesem Parlament auf einem wichtigen Feld der Politik geleistet haben, danken. Ich wünsche Ihnen persönlich alles Gute
für Ihre Zukunft.
({0})
Nun gebe ich einer Kollegin das Wort, die sicherlich
nicht beabsichtigt, jetzt ihre letzte Rede in diesem Parlament zu halten, nämlich der Kollegin Annette WidmannMauz. Sie spricht für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich bin versucht, an dieser Stelle zu sagen: „Salve Regina!“, wie man
das in der katholischen Gegend, aus der ich komme, tut.
({0})
Frau Schmidt-Zadel, was Sie erzählt haben, erinnert
mich schon ein bisschen an die Märchen, die mir meine
Großmutter manchmal erzählt hat.
({1})
Ihre Rede enthielt viel Märchenhaftes, viele Fabelfiguren,
aber wenig Reelles und Reales.
({2})
Deshalb muss ich leider ein wenig in die Niederungen
hinabsteigen und auf das, was uns wirklich beschäftigt
und besorgt macht, zu sprechen kommen.
Was wir seit vier Jahren erleben, ist der aufhaltsame
Abstieg des deutschen Gesundheitswesen. Ministerin
Schmidt hat nichts getan, was uns vor der dramatischen
Situation, in der wir heute stecken, bewahrt hätte. Im Gegenteil: Diese Bundesregierung hat diese Situation durch
ihre Plan- und Orientierungslosigkeit maßgeblich zu verantworten. Nach wie vor - das, was Sie hier zum Besten
gegeben haben, unterstreicht dies ganz deutlich - ignorieren Sie schlichtweg die riesigen Herausforderungen des
Gesundheitswesens, nämlich die sinkenden GeburtenraRegina Schmidt-Zadel
ten, die Steigerung der Lebenserwartung und den wachsenden medizinischen Fortschritt.
Die Konsequenz ist völlig klar: Die Ausgabenexplosion wird sich noch erheblich beschleunigen. Alle Fachleute prognostizieren uns Beitragssätze von 20 Prozent in
absehbarer Zeit. Die finanzielle Lage der gesetzlichen
Krankenversicherung ist desolat. Die Versorgung der Patientinnen und Patienten sowie der Pflegebedürftigen verliert Tag für Tag systematisch an Qualität. Die Ärzte und
das Pflegepersonal sind vielfach überlastet und die Krankenversicherungsbeiträge steigen. Dazu kam von Ihnen
kein Wort.
({3})
Ich wäre schon vorsichtig, das Wort „Abzockerei“ überhaupt in den Mund zu nehmen. Sie müssen sich die von Ihnen zu verantwortenden Defizite schon genau ansehen: Im
Jahre 2001 betrug das Defizit 2,8 Milliarden Euro. Die
durchschnittlichen Beitragssätze sind im letzten Jahr um
0,5 Beitragssatzpunkte gestiegen. Im ersten Quartal dieses
Jahres liegt das Defizit bei 0,86 Milliarden Euro. Rechnen
Sie einmal Ihren Ablasshandel mit der Pharmaindustrie
hinzu, - da kam ja eine Menge Geld rein -, dann stellen
Sie fest, dass das Defizit wie im Vorjahr bei deutlich über
1,1 Milliarden Euro liegt,
({4})
und dies, obwohl Sie zusätzliches Geld durch die Beitragssatzerhöhungen, die Selbstverpflichtung der Ärzteschaft und die gestiegenen Kassenrabatte, die Sie ebenfalls zu verantworten haben, bekommen haben. Trotz
dieses Mehr an Einnahmen haben wir erneut dieses hohe
Defizit in der GKV. Sie haben die Probleme nicht erkannt
und haben vor allen Dingen keine Lösungen.
({5})
Durch vermurkste Gesetze und zahlreiche Verschiebebahnhöfe haben Sie die gesetzliche Krankenversicherung
seit dem Jahr 2000 mit jährlich 2,5 Milliarden Euro belastet. Weitere Kostenschübe stehen bevor. Ich denke dabei zum Beispiel an die Reform des Risikostrukturausgleichs und an die Aufhebung der Arznei- und
Heilmittelbudgets ohne gleichzeitige Einführung von Instrumenten zur wirksamen Ausgabensteuerung. Dazu
kommt jetzt die überstürzte und fehlerhafte Einführung
des Fallpauschalensystems in den Krankenhäusern.
Wenn Sie mit Ihren Maßnahmen wenigstens die Qualität verbessert hätten! Aber zum Beispiel bei der Umsetzung der so genannten Disease-Management-Programme
hapert es gewaltig. Der Leiter der Konzertierten Aktion
Brustkrebs-Früherkennung in Deutschland, Professor
Schulz, schreibt Ihnen ja warnend in einem offenen Brief
ins Stammbuch:
In der derzeitigen Form ist das ... Disease-Management-Programm unbrauchbar und
- man höre verschlechtert die Versorgung an Brustkrebs erkrankter Frauen.
Beim Diabetes mellitus schließen Sie teilweise ja sogar
faktisch innovative Arzneimittel aus.
Alle führenden Wirtschaftsforschungsinstitute fordern
eine grundlegende Reform im Gesundheitsbereich. Nach
allen Umfragen sind zwei Drittel der Bevölkerung mit der
gegenwärtigen Gesundheitspolitik wirklich unzufrieden.
Die Studien liegen auf dem Tisch. Nur bei den Damen und
Herren von Rot-Grün scheint diese Erkenntnis noch nicht
angekommen zu sein.
Wir sind auf dem besten Weg in die Zweiklassenmedizin, unter der unter Ihrer Regierung vor allem die sozial
Schwachen zu leiden haben. Den gesetzlich Krankenversicherten werden im Gegensatz zu Privatversicherten oder
Sozialhilfeempfängern zunehmend Leistungen und Arzneimittel verweigert und bestimmte Behandlungen nur
nach längerer Wartezeit angeboten. Budgetierung, Rationierung und dann am Ende Selbstzahlung - das ist die
Reihenfolge Ihrer Politik. Sie untergraben damit die von
Ihnen so vielfach beschworene Solidarität.
({6})
Jetzt wollen Sie es den Menschen auch noch erschweren, sich privat zu versichern. Aber Ihre angedachte Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze wird den Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung kaum
Entlastung bringen. Sie kennen doch die Untersuchungen,
die auf dem Tisch liegen. Danach dürften die Kasseneinnahmen nahezu unverändert bleiben. Im ungünstigsten
Falle ist sogar eine Mehrbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung möglich. Ich will Ihnen sagen, warum
das so ist. Bei einer höheren Versicherungspflichtgrenze
müssten die gesetzlichen Krankenkassen zum Beispiel
deutlich mehr beitragsfrei mitversicherte Kinder verkraften. Die Gruppe, die Sie am Wechsel hindern wollen,
gründet gerade Familien.
Ich fordere Sie auf: Lassen Sie von diesem Angriff auf
die Friedensgrenze zwischen der privaten und der gesetzlichen Krankenversicherung ab! Ich gehe davon aus, dass
Sie uns nicht glauben. Aber selbst der frühere Präsident
des Bundesaufsichtsamtes für das Versicherungswesen,
Dr. Müller, hat Ihnen unbezahlbare Beitragssatzanhebungen in der PKV für den Fall prognostiziert, dass Sie diesen Unsinn nicht lassen. Ich sage es Ihnen ganz klar: Wer
es nicht schafft, die Beiträge von 90 Prozent der Krankenversicherten stabil zu halten, der wird es auch bei einer Quote von 92 Prozent nicht schaffen.
({7})
Hören Sie auch auf, ständig von Entsolidarisierung zu
schwätzen.
({8})
Sogar Kardinal Lehmann hat Ihnen ganz deutlich gesagt
- ich zitiere -:
Das Einwirken des Staates und seine Ansprüche sind
mehr und mehr gewachsen. Schon der demographische Wandel zwingt uns zu mehr Eigenverantwortung in der sozialen Ordnung.
Deshalb müsse umgesteuert werden. Eine Marktwirtschaft umso sozialer zu definieren, je mehr umverteilt
werde, sei ein „unhaltbares Missverständnis“.
Wenn Sie es uns und der Kirche nicht glauben, dann
hören Sie doch auf Ihren Bundeskanzler.
({9})
Er hat schon im Jahr 2000 ausgeführt - ich zitiere wieder -:
Andererseits sind die Möglichkeiten, aber auch die
Kosten der modernen Medizin so komplex geworden, dass ein Gesundheitswesen ohne finanzielle,
geistige und in diesem Fall buchstäblich körperliche
Selbstbeteiligung der Versicherten nicht mehr vorstellbar ist.
({10})
Ich will Ihnen darüber hinaus sagen, warum Sie Ihren
Laden einfach nicht im Griff haben: Sie denken zu einseitig, zu engstirnig. Sie müssen in der Gesundheitspolitik in Zusammenhängen denken und vor allen Dingen
auch die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Impulse
sehen. 1 Prozent mehr Wachstum beim Bruttoinlandsprodukt entspricht bei den Sozialversicherungen einer
Entlastung von 4 Milliarden Euro. Das sind etwa 0,5 Prozentpunkte und würde eine Mehreinnahme von rund
1,6 Milliarden Euro für die GKV bringen. 100 000 Arbeitslose weniger würden allein der Arbeitslosenversicherung 800 Millionen Euro Entlastung und der GKV eine
zusätzliche Mehreinnahme in dreistelliger Millionenhöhe
bringen.
Diese Regierung aber bekommt eben auch auf dem
Arbeitsmarkt nichts in den Griff. Was haben Sie an dieser Stelle nach Ihren dreieinhalb Jahren Regierungsverantwortung überhaupt vorzuweisen? Ich verstehe, dass bei Ihnen die Nerven blank liegen.
({11})
Was wir uns in den letzten Tagen von Frau Schmidt haben
anhören müssen, ist eine wirkliche Frechheit. Die abfälligen Äußerungen gegenüber Horst Seehofer sind ein Sammelsurium von falschen Aussagen und Halbwahrheiten.
Die Ausführungen von Ulla von Münchhausen stellen in
ihrer Hilflosigkeit ganz offensichtlich die letzten Reserven der rot-grünen gesundheitspolitischen Argumentation
dar. Angesichts der Heftigkeit wollen Sie doch nur vom
eigenen Versagen ablenken.
({12})
Wir brauchen - das haben wir in unserem Antrag deutlich gemacht - ein Umsteuern im Gesundheitswesen. Wir
brauchen ein patientenorientiertes, freiheitliches und zukunftssicheres Gesundheitswesen mit den Schwerpunkten Prävention, Transparenz und mehr Selbstbestimmung für die Beteiligten. Ich sage Ihnen ganz klar: Mit
uns wird es das, was Sie wollen, nicht geben.
({13})
Wir wollen mehr menschliche Zuwendung statt Bürokratismus. Wir halten an der freien Arztwahl anstelle einer
Staatsmedizin fest. Wir wollen auch in Zukunft die Therapiefreiheit
({14})
anstelle einer Zunahme der Listenmedizin gewährleisten
und wir wollen mehr Wettbewerb und bessere Leistungen
statt Einheitsversorgung.
Herzlichen Dank.
({15})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Monika Knoche.
({0})
Sehr geehrte Herren und Damen! Ich nehme nicht an, dass
Sie mich mit einbezogen haben, Frau Widmann-Mauz, als
Sie meinten, die Nerven lägen blank. Mir geht es eigentlich gut.
({0})
Ich bin ruhig und auch zuversichtlich und ich bin mir sicher, dass wir das freiheitlichste Gesundheitssystem haben, das es hier gibt.
({1})
Wie oft habe ich schon ausgeführt - ich werde auch nicht
müde, es zu wiederholen -, dass die größte Stabilität und
Sicherheit in der Gesellschaft und der größte gesellschaftliche Zusammenhalt dadurch erreicht werden, dass
alle Menschen die Gewissheit haben, im Falle einer
Krankheit unabhängig von ihrem sozialen Status die bestmögliche Versorgung zu bekommen.
({2})
Das ist der Ausgangspunkt für individuelle Freiheit,
weil es im Zustand der Krankheit zwar Freiheit in Form
von Selbstbestimmung gibt, aber ein kranker Mensch bedarf der Fürsorge. Deshalb muss sichergestellt werden,
dass der Staat, die Gesundheitspolitik und die Akteure des
Gesundheitswesens all ihr Können und ihre Kompetenz
darauf ausrichten, den Menschen eine optimale Versorgung nach innovativen Verfahren zu bieten, ohne sie in
die Zwangslage zu bringen, über etwas entscheiden zu
müssen, das nicht im Bereich ihrer Autonomie liegen
kann, nämlich darüber, welche Indikation welche Leistungen erfordert. Dabei handelt es sich ausschließlich um
eine ärztliche Aufgabe, die möglich bleiben muss.
({3})
Deshalb ist das Sachleistungsprinzip genau das richtige
und geradezu idealtypische Prinzip.
Ich bin es ziemlich leid, dass hier wider besseres Wissen immer wieder gebetsmühlenartig der Mythos von der
Kostenexplosion angeführt wird. Frau Widmann-Mauz
hat das wieder getan.
({4})
Es wäre vielleicht hilfreich, wenn Sie sich mit dem ehemaligen Gesundheitsminister Herrn Seehofer darin abstimmen würden. Er hat diese Aussage schon zum Ende
seiner Amtszeit revidiert und erst kürzlich festgestellt,
dass die ökonomisch verengte Sichtweise auf das Gesundheitswesen falsch ist.
({5})
- Doch, sie hat von einer Kostenexplosion gesprochen.
Ich wäre schon sehr zufrieden, wenn alle, die sich auskennen - das sind sehr viele in diesem Hause -, einräumen würden, dass die Mär von der Kostenexplosion widerlegt ist. Die Leistungsfähigkeit und der Erfolg von
Gesundheitspolitik lassen sich nun einmal nicht an der
Höhe der aktuellen Beitragssätze messen. Das ist der inadäquateste Parameter, um die Leistungsfähigkeit und
Qualität der Gesundheitsversorgung zu beurteilen.
Wenn ich rekapituliere, was alles seit zwölf Jahren
bzw. seit der Wiedervereinigung zu leisten gewesen ist
und in welchem Umfang es möglich war, in den neuen
Bundesländern in außerordentlich kurzer Zeit einen enormen Anstieg der Versorgungsqualität sicherzustellen, und
dass, obwohl das Problem der hohen Arbeitslosigkeit
nicht bewältigt werden konnte, die Beitragssteigerungen
gemessen an der Bruttoinlandsquote nicht zu einer Kosten- und Beitragssatzexplosion geführt haben, dann muss
ich feststellen, dass das bestehende System außerordentlich flexibel und leistungsfähig ist. Diese Erkenntnisse
- ich will keine Illusionen wecken; ich selbst hatte auch
keine, zumindest die Fachwelt ist da einmütig - werden
mittlerweile auch quer durch die Reihen von Sachverständigen bestätigt.
Für mich ist deshalb erstaunlich, dass die CDU nicht an
den Kern ihrer wahlpolitischen Aussagen herangeht und
der Bevölkerung offen sagt, was sie eigentlich will.
({6})
Sie sagt nämlich nicht, warum sie nicht mehr von Wahlund Regelleistungen spricht. Das wäre zu offenkundig.
Sie hat es einmal getan und auch das hat sie die Regierungsverantwortung gekostet. Das Thema wird nicht
mehr angerührt. Hier werden Begriffe wie „Autonomie“,
„Selbstbestimmung“ und „Freiheit“ herangezogen,
({7})
obwohl es tatsächlich darum geht, aus der paritätischen
Finanzierung auszusteigen.
({8})
Was soll es denn anderes bedeuten, wenn Sie sagen, dass
es individuell zugeschnittene Eigenbeteiligungen usw.
geben soll? Was soll es bedeuten?
({9})
Hat ein Mensch, der erkrankt ist, die Wahlfreiheit, Leistungen nicht in Anspruch zu nehmen? Er muss sich doch
darauf verlassen können, dass er die Leistungen bekommt, die er zur Überwindung seiner Krankheit
braucht.
Genau die Frage, wie Sie mit den euphemistischen Begriffen von Eigenverantwortung und Freiheit den Ausstieg
aus dem Sachleistungsprinzip begründen wollen, können
Sie nicht beantworten. Es gibt in der Bundesrepublik
Deutschland niemanden, der argumentieren kann, wie man
verantwortbar aus dem Sachleistungsprinzip aussteigen
kann, ohne diskriminierend zu sein. Es geht nicht.
({10})
Wenn Sie den Ausstieg aus der Parität auf andere Weise
vollziehen wollen, dann begründen Sie das, sozialstaatspolitisch oder auch ökonomisch.
({11})
Sagen Sie, aus welchen Gründen Sie es für zukunftsfähig
halten, dass sich angesichts der gesunkenen Beschäftigungsquote die Arbeitgeber immer weniger an der Finanzierung des Sozialstaats respektive des solidarisch
aufgebauten Gesundheitssystems beteiligen.
({12})
- Das genau ist die Konsequenz Ihres Papiers, das ich gelesen habe und das Herr Seehofer vorgestellt hat.
({13})
Es wird einfach nicht Tacheles geredet. Sie dürfen
nicht glauben, dass die Bevölkerung so uninformiert ist,
dass Sie Ihnen da nicht auf die Schliche kommt.
({14})
Jede und jeder versteht, was gemeint ist, wenn im Bereich
der gesetzlichen Krankenversicherung von Eigenverantwortung und Wahlfreiheit die Rede ist: Es geht immer um
monetäre Aspekte.
({15})
Sie wollen damit aus dem festen Konstitut, das wir haben
und durch das sich die Sozialstaatlichkeit überhaupt erst
so erfolgreich hat entwickeln lassen, nämlich aus der paritätischen Finanzierung,
({16})
auf Umwegen und ohne den Mut zu haben, Tacheles zu
reden, aussteigen.
({17})
- Sie wissen ganz genau, dass ich dieser Rentenreform aus
diesen Gründen nicht zugestimmt habe.
({18})
- Es gibt durchaus die Möglichkeit, als einzelne Abgeordnete zu sagen, warum man einen bestimmten Weg für
falsch hält.
({19})
Jetzt bin ich bei einem anderen Punkt. Sie sprechen in
anderen politischen Aussagen immer wieder von dreimal 40 Prozent und reklamieren zugleich - nicht zu Unrecht -, dass sich über die Absenkung bei der Arbeitslosenhilfe und über immer mehr Verschiebebahnhöfe der
Beitragsdruck bei den gesetzlichen Krankenkassen erhöht
hat. Dabei muss man sehen, dass der Staat zur Reduzierung der Staatsverschuldungsquote, nicht zuletzt wegen
der Euro-Kriterien, eine bestimmte Steuer- und Einnahmepolitik betreiben muss, die es gar nicht zulässt, die
Mindereinnahmen bei den gesetzlichen Kassen auszugleichen.
({20})
Angesichts dessen können Sie nicht mehr sagen, dass die
Höhe des Beitragssatzes ein Ausweis für den Erfolg oder
Misserfolg von Gesundheitspolitik ist. Sie müssen selber
sagen, wie Sie mit diesem Problem und Phänomen umgehen wollen.
({21})
- Das sage ich Ihnen: Ich bin dafür, die Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung für alle Erwerbstätigen zu etablieren.
({22})
Dafür bin ich in der Tat, weil die Zuwächse im interessanten und wichtigen tertiären Bereich, in dem es Arbeitsplatzzugewinne gibt, bisher nicht der Solidarpflicht
unterliegen. Wenn man das Solidarsystem angepasst weiterentwickeln will, dann muss man auch die Beschäftigungsentwicklung auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigen
und die Arbeitsplätze, die neu entstehen, in das System
der GKV einbinden. Deshalb bin ich dafür, die Pflichtversicherungsgrenze anzuheben, weil es gerecht ist. Das
geht konform mit den Entwicklungen am Arbeitsmarkt
und ist nicht so kontraproduktiv, wie wenn eine immer
kleinere Zahl von Beschäftigten die Solidarlast finanzieren und tragen muss. Das geht in der Tat über den reinen
Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus.
({23})
Das große Problem dieser Debatten - das geht zulasten
der Verständlichkeit - ist doch,
({24})
dass überhaupt nicht mehr über die Zusammenhänge zwischen Sozialpolitik und der Wirtschaftspolitik und der allgemeinen Wirtschaftslage gesprochen wird. Wenn ich von
Zukunftsfähigkeit rede und von immer neuen Vorschlägen zu Kostenerstattung und anderem höre,
({25})
dann weiß ich sehr wohl, wie Sie die Frage der Finanzierung, die durch die geringe Lohnquote aufgeworfen
worden ist, in Zukunft beantworten wollen: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, also die Versicherten,
sollen Zug um Zug die Zeche bezahlen.
({26})
Das will ich nicht. Aber darauf geben Sie keine wirklichen
Antworten. Sie versuchen zu verschleiern. Ich bin mir sicher: Man kommt Ihnen auf die Schliche.
({27})
Auch dies
war eine letzte Rede. Auch Ihnen, Frau Kollegin Knoche,
spreche ich unseren Dank und alle guten Wünsche für die
Zukunft aus.
({0})
Nun spricht der Kollege Dr. Dieter Thomae für die
Fraktion der FDP.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Aufgrund der Gesetzgebung der SPD und der planwirtschaftlichen Instrumente wird heute ein großer Anteil der Einnahmen der
gesetzlichen Krankenversicherung in die Überwachung
des Systems gesteckt.
({0})
Es werden immer mehr Mitarbeiter eingestellt, um das
Budget zu kontrollieren. Der medizinische Dienst wird
ganz eindeutig ausgeweitet.
({1})
Die Zahl der Mitarbeiter bei den Krankenkassen wird aufgrund der Gesetzgebung erhöht. Sie werden permanent
zusätzlich mit gesetzlichen Aufgaben belastet, die der
Staat einführt, um das Budget halbwegs im Griff zu halten. Aber es bricht auseinander. Sie haben selber zugegeben, dass das Arzneimittelbudget nicht zu halten war. Es
war völlig idiotisch, ein solches System zu etablieren.
({2})
Dann stellen Sie fest, dass das Arzneimittelbudget zu
großen Problemen führt. Die Honorarsituation in der
Bundesrepublik Deutschland, gerade in den neuen Bundesländern, ist dramatisch.
({3})
Sie werden mit diesem Honorarsystem keine Stabilisierung der Situation der freiberuflichen Ärzte erreichen,
weder in den neuen noch in den alten Bundesländern.
({4})
Das ist der Kernpunkt der Budgetierung.
({5})
Bei der Budgetierung im Krankenhausbereich werden Sie ebenfalls Probleme bekommen, wenn Sie nicht
endlich verstehen, dass es mit der Planwirtschaft vorbei ist.
In vielen anderen Bereichen hat man sich von der Planwirtschaft verabschiedet. Wir hatten in der letzten Wahlperiode das Glück, dass wir die Bereiche Telekommunikation und Energieversorgung öffnen und aus der
Planwirtschaft herausführen konnten. Dies wird ebenfalls
in vielen Bereichen des Gesundheitsbereichs erfolgen. Sie
haben es mit den DRGs gewagt, aber Sie müssen es richtig
wagen und die Budgetierung abschaffen. Andernfalls werden Sie keine Wettbewerbsstrukturen schaffen.
Immer wieder müssen Sie doch feststellen, dass Sie mit
Ihrer Politik das System nicht im Griff halten. Sogar Beitragssatzsteigerungen helfen Ihnen kaum, weil Sie nicht
an die Strukturen herangehen. Dabei gibt es gar nicht so
viele Lösungen. Es gibt nur die Fragen: Wie sieht der
Leistungsumfang aus?
({6})
Wie wollen Sie an die Vertragsgestaltung herangehen?
Wie wollen Sie die Freiberuflichkeit sichern? Auf diese
Fragen geben Sie keine Antwort.
Die Politiker von Rot-Grün haben sehr unterschiedliche Aussagen gemacht. Wie ich gelesen habe, hat die Ministerin gesagt: Wir wollen das Leistungspaket konzentrieren. Ich möchte wissen, was das heißt. Sagen Sie es
doch einmal! Wenn die Gesundheitsministerin sagt: „Ich
will das Leistungspaket konzentrieren“, dann möchte ich
wissen, was das heißt. Man muss wissen: Wir sagen nichts
anderes. Sie sollten aber einmal klarstellen, was mit dieser Aussage der Ministerin gemeint ist.
Sagen Sie uns doch einmal genau, wie Sie Ihre Vorstellungen von Vertragsgestaltungsmöglichkeiten in die
Praxis umsetzen wollen! Auch auf die damit verbundenen
Fragen gibt es keine klaren Antworten. Es gibt lediglich
sehr unterschiedliche Aussagen.
Wie stehen Sie zur Freiberuflichkeit? Ich war sehr erstaunt, als die Staatssekretärin gesagt hat, sie sei eine
große Anhängerin der Polikliniken und sie könne sich
vorstellen, dass die ganze Problematik in den neuen
Bundesländern durch die Schaffung neuer und den Ausbau der bestehenden, traditionellen Polikliniken gelöst
wird.
({7})
- Wenn Sie dafür sind, dann ist das korrekt. Einverstanden, Sie haben mir eine Antwort gegeben.
Wir sehen das anders. Wir wollen die Freiberuflichkeit
stärken.
({8})
Wir wollen dieses System mit freiberuflichen Ärzten stabilisieren. Wir glauben, dass das der richtige Weg ist.
({9})
Mittlerweile haben Sie das Thema Pflege entdeckt.
Uns liegen mehrere Gesetzentwürfe vor. Ich glaube, alle
wissen: Wie in der Rentenversicherung wird es in der
Krankenversicherung nach einer Steuerreform neben einer solidarisch finanzierten Säule sicherlich eine kapitalgedeckte Säule geben müssen. Wir sind nämlich fest davon überzeugt, dass die Folgen von Alterspyramide und
technischem Fortschritt sonst nicht aufzufangen sind. Was
die Rente angeht, so haben Sie das erkannt. Da haben Sie
Mut bewiesen. Sie werden diese Entwicklung auch im
Hinblick auf die anderen Bereiche akzeptieren müssen.
({10})
Wenn es zu dieser Akzeptanz nicht kommt, dann wird
es so sein, dass moderne technische Entwicklungen vom
System nicht mehr angeboten werden. Schon heute ist es
so, dass viele moderne Entwicklungen in unser gesetzliches Krankenversicherungssystem überhaupt nicht oder
erheblich verspätet überführt werden. Sie müssen den Patienten und den Bürgern im Lande einmal erklären,
warum moderne Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nicht angewandt werden. - Weil die Budgets dafür
nicht ausreichen.
({11})
- „Nur für die Privatpatienten“ ist sehr wenig. - Sie sollten den Bürgern erklären, warum moderne Methoden zur
Krebsbehandlung - das können Arzneimittel, bestimmte
Untersuchungsmethoden oder moderne RehabilitationsDr. Dieter Thomae
methoden sein - in diesem System nicht mehr finanziert
werden.
({12})
Aufgrund der Budgetierung fällt der sozial Schwache
heute durch das Netz.
({13})
Da gibt es überhaupt kein Entkommen: Der chronisch
Kranke ist in der Bundesrepublik Deutschland am
schlechtesten versorgt.
An diesem Punkt sind wir fairer und ehrlicher. Wir sind
für Selbstbehalte, also für Selbstbeteiligungen. Auf der
anderen Seite sind wir auch für Härtefallregelungen. Die
Budgetierung muss abgeschafft werden. Nach unseren
Vorstellungen ist der sozial Schwache daher abgesichert
und bekommt immer eine vernünftige medizinische Versorgung.
({14})
- Wir haben heute aufgrund Ihrer Politik eine Zwei- oder
Dreiklassenmedizin.
({15})
Aufgrund Ihrer Politik werden heute viele Bürger von
der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Fragen Sie
einmal die Selbsthilfegruppen! Fragen Sie einmal die Parkinsonkranken! Fragen Sie einmal die Demenzkranken!
Sie können die Folgen Ihrer Politik nicht mehr vertuschen. Die Bürger haben gemerkt, was los ist. Sie lehnen
Ihre Gesundheitspolitik zum Glück in einem hohen Maße
ab; denn sie wissen, dass Sie sie in den letzten vier Jahren
betrogen haben.
({16})
Für die
Fraktion der PDS spricht nun der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Herr Präsident! Meine lieben
Damen und Herren! Drei der fünf Anträge, die jetzt zur
Debatte stehen, beschäftigen sich mit Fragen der Pflege.
Ich erlaube mir, nachdem so lange über die GKV gesprochen wurde, jetzt einmal zur Pflege überzugehen.
Es ist nicht zu leugnen: Wir haben einen Pflegenotstand. Wer da wegschaut, macht sich mitschuldig.
({0})
Wir kommen um diese Tatsache nicht herum. Es handelt
sich nicht um Einzelfälle, wenn wir erfahren, dass es nicht
einmal gewährleistet ist, dass jeder pflegebedürftige
Mensch täglich seine Mahlzeiten und ausreichend Flüssigkeit bekommt.
({1})
Es ist heute keine Selbstverständlichkeit, dass pflegebedürftige Menschen ihr Essen in einem Tempo gereicht bekommen, in dem man kauen und schlucken kann. Es ist
heute keine Selbstverständlichkeit, dass sie täglich und so
oft zur Toilette gebracht werden, wie es nötig ist. Man
muss sich einmal klar vor Augen führen, wie Menschen,
die von anderen abhängig sind, gepeinigt werden. Es ist
nicht selbstverständlich, dass jeder, so oft er es wünscht
oder wenn er es wünscht, täglich wenigstens einmal gewaschen, angezogen und gekämmt wird und dass er vielleicht das Gebiss in den Mund bekommt oder Mundpflege
betrieben wird. Es ist heute nicht selbstverständlich, auf
Wunsch täglich die Möglichkeit zu erhalten, das Bett zu
verlassen und an die frische Luft zu kommen. Es ist heute
auch nicht selbstverständlich, dass jeder pflegebedürftige
Mensch die Möglichkeit hat, seinen Zimmerpartner oder
seine Zimmerpartnerin zu wählen oder auch einmal abzulehnen. Ich könnte noch viele andere Beispiele nennen.
Auch in der Todesstunde ist nicht gewährleistet, dass jemand da ist und die Hand hält.
Insofern haben alle, die in der Pflege arbeiten, meine
volle Hochachtung.
({2})
Aber sie sind strukturell nicht in der Lage, ihre Aufgabe
zu erfüllen. Sie können sich abstrampeln, wie sie wollen,
und Überstunden machen, wie sie wollen, sie werden die
Aufgabe nicht erfüllen können, wenn nicht mehr gut ausgebildetes und gut motiviertes, das heißt auch: gut bezahltes Personal eingesetzt wird, und zwar nicht dort, wo
Sie dies in den letzten vier Jahren bestens organisiert haben, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD
und von den Grünen, nämlich in der Qualitätssicherung,
also im bürokratischen Bereich, sondern am Bett.
({3})
Da gehören die in der Pflege arbeitenden Menschen hin
und dort werden sie gebraucht. - Ich habe noch gar nicht
von soziokulturellen Mindeststandards gesprochen, die
meines Erachtens selbstverständlich zu einer menschenwürdigen Pflege gehören.
({4})
Wir haben einen Antrag mit dem Titel „Pflege reformieren“ eingebracht. Ich wundere mich, dass Sie von der
CDU/CSU und der SPD sagen: Es sind zwar viele vernünftige Dinge in ihm enthalten, aber wir müssen ihn leider ablehnen, weil das Finanzierungskonzept fehlt.
({5})
- Liebe Frau Schmidt-Zadel, lesen Sie doch einmal, was
wir gefordert haben! Wir fordern nichts anderes, als dass
die Regierung einmal Eckpunkte vorlegt, wie eine Pflege
vernünftig organisiert werden kann. Zu diesen Eckpunkten gehört natürlich auch ein Finanzierungskonzept.
Wir haben nur einige paar Punkte aufgeführt, die in diesen Eckpunkten enthalten sein müssten.
({6})
- Liebe Frau Schmidt-Zadel, Sie hätten doch wenigstens
der Aufforderung an die Regierung zustimmen können,
dass sie einmal Eckpunkte vorlegt.
({7})
Wir sagen: Das Wichtigste ist, dass wir von diesem somatischen Pflegebegriff „Satt, sauber, trocken“ wegkommen. Aber nicht einmal „Satt, sauber, trocken“ ist gewährleistet.
({8})
In diesem Zusammenhang möchte ich drei Kriterien
nennen: Erstens: Die Würde des Menschen ist unantastbar, auch im Pflegebedarfsfall. Zweitens: Selbstbestimmung darüber, wie ich meinen Tagesablauf gestalten
möchte, im Bett oder außerhalb des Bettes. Drittens: gesellschaftliche Teilhabe auch im Pflegefall. Die Teilhabe
wird andere Formen annehmen, als man sie 30 oder vielleicht auch 80 Jahre lang in seinem Leben gewohnt war.
Aber auch dann ist man Teil der Gesellschaft und hat
selbstverständlich Anspruch auf diese Teilhabe.
Wenn wir einen solchen Pflegebegriff etablieren - damit wende ich mich an Frau Schmidt-Zadel, aber auch an
die Ministerin und die Staatssekretärin -, dann wird das
Konsequenzen haben und deutlich machen, dass man alles in diese Bereiche hinein umsteuert. Das muss genauso
wie jetzt bei der Bildung diskutiert werden. Ich würde mir
fast wünschen, dass es einmal auch für den Pflegebereich
eine PISA-Studie gibt. Vermutlich würde die Bundesrepublik Deutschland nicht besonders gut abschneiden.
Anschließend sollte genauso heftig darüber diskutiert
werden, wie man es erreichen kann, dass Pflegebedürftige
menschenwürdig leben.
Herr Präsident, erlauben Sie mir noch wenige Bemerkungen zu dem vierten Antrag, der heute noch gar keine
Rolle gespielt hat, nämlich zu dem Antrag zur medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen.
Endlich liegt hier im Hause ein substanzieller Antrag zur
besseren medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen vor. Er hat die volle Zustimmung der PDSFraktion. Teile dieses Antrags - darauf weise ich gerne
hin - sind auf Initiative und unter maßgeblicher Beteiligung meiner Fraktionskollegin Rosel Neuhäuser entstanden, die zurzeit auch Vorsitzende der Kinderkommission ist. Die in der Kinderkommission geleistete Arbeit
verdient nicht zuletzt deshalb allerhöchste Anerkennung,
weil dort nicht Fraktions- und Parteiinteressen, sondern
die Interessen der Kinder und Jugendlichen im Vordergrund stehen.
({9})
Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, konnten Sie Ihre lächerliche Haltung wieder
einmal durchsetzen, dass Sie einen so wichtigen Antrag
nur dann unterstützen, wenn die PDS nicht zu den Antragstellern zählt. Ich kann nur sagen: plump und dumm.
Das haben Sie einfach nicht nötig, Herr Zöller. Die Wählerinnen und Wähler werden sich davon ein Bild machen
und bemerken, wie Stoibers Mannschaft mit unfairen Mitteln kämpft. Solche Kulturlosigkeit hat keinen Zweck,
denn sie ist auf die Vergangenheit und nicht auf die Zukunft gerichtet. Die Zukunft sind unsere Kinder.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe,
dass wir weiter gut zusammenarbeiten werden.
({10})
Ich gebe
nunmehr der Kollegin Marga Elser das Wort. Sie spricht
für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Die Pflegeversicherung gibt
es jetzt seit sieben Jahren. Sie ist ein wichtiger Bestandteil unserer Sozialversicherung. Die Menschen vertrauen
darauf und wir möchten, dass das so bleibt. Vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung müssen wir die
Pflegeversicherung für die Zukunft fit machen. Daher
darf kein Stillstand entstehen.
Wir entwickeln die Pflegeversicherung weiter.
({0})
Dazu gehört, dass Schwachstellen ausgemerzt werden
müssen. Vor allem aber muss die Pflegeversicherung noch
besser auf die Bedürfnisse und Wünsche der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen ausgerichtet werden.
In Zukunft wird es sicherlich immer mehr ältere Menschen mit Demenzerkrankungen geben. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, die Pflege und ihre Rahmenbedingungen zukunftsorientiert zu gestalten. Wir haben in
den letzten vier Jahren wichtige Gesetze verabschiedet und
mit ihnen der Pflegeversicherung neue Anstöße gegeben.
Nun richten wir unser Augenmerk auf die zügige praktische Umsetzung der neu geschaffenen Instrumentarien.
Unser heutiger Antrag „Fortentwicklung der sozialen
Pflegeversicherung“ fordert in Zukunft ein noch effizienteres und zielorientiertes Zusammenwirken aller Beteiligten - also von Bund, Länder, Kommunen, Kosten- und
Einrichtungsträgern - bei der Qualität der Pflege. In diesem Zusammenhang setzen wir uns für die Entwicklung
von Qualitätsstandards in der Pflege ein, was auch von
den Fachverbänden und der Altersforschung seit längerem immer wieder gefordert wird.
Des Weiteren zielt der Antrag auf weitere Verbesserungen bei der Pflege von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz ab. Das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz hat durch die Erprobung neuer modellhafter
Vorhaben hier ganz eindeutig Pilotcharakter. Ich nenne
beispielhaft die Vernetzung von Versorgungsstrukturen
oder die Erprobung neuer Wohnkonzepte im häuslichen,
teilstationären sowie im stationären Bereich. Dabei darf
es keine Entscheidung gegen den Wunsch der Pflegebedürftigen geben. Die Information und die Einbeziehung in
notwendige medizinische und pflegerische Entscheidungen werden wir weiter stärken.
({1})
Wir wollen auch eine bessere Überleitung vom
Krankenhaus in die häusliche Pflege erreichen. Dazu
müssen wir natürlich neue, sinnvollere Strukturen schaffen. Viele Pflegebedürftige würden nach ihrem Krankenhausaufenthalt sehr gern häuslich anstatt dauerhaft stationär weiter gepflegt werden, wie das zurzeit noch viel
zu oft gehandhabt wird. Um diesem Wunsch vieler zu
entsprechen, muss die Überleitung von der Klinik in die
häusliche Pflege besser betreut und organisiert werden.
Wir stellen uns als neuen Einrichtungstyp eine Art Überleitungspflegeeinrichtung vor. Hier gilt es, neue Wege zu
beschreiten.
Zudem ist das so genannte Casemanagement zu forcieren, eine integrierte, auf die Personen zugeschnittene
Versorgung. Gerade Pflegebedürftige in häuslicher Umgebung könnten so von Leistungen sowohl aus der Krankenversicherung als auch aus der Pflegeversicherung profitieren. Personenbezogene Budgets für eine effektive und
wirtschaftliche Versorgung sind vor allem vor diesem
Hintergrund ins Auge zu fassen. Diese integrierten Versorgungssysteme dienen in erster Linie dem Wohl der
Pflegebedürftigen, um das es uns allen geht.
Ein wichtiger Punkt unseres Antrages ist, dass in Zukunft die Rehabilitation im Kontext der medizinischen
und pflegerischen Versorgung sehr viel stärker beachtet
werden muss. Es geht um den Grundsatz „Rehabilitation
vor Pflege“. Das hat die Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ uns allen als Empfehlung ins
Stammbuch geschrieben. Wir werden zur Erfüllung der
Aufgabe beitragen, die Pflege zu sichern und gezielt weiterzuentwickeln.
({2})
Darüber hinaus setzen wir uns für eine noch stärkere
Gewichtung geriatrischer Rehabilitation ein. Dies kann zu
einer zusätzlichen bedeutsamen Erhöhung der Pflegequalität führen. Wir werden in diesem Zusammenhang auch
die von der Enquete-Kommission „Demographischer
Wandel“ im Hinblick auf die geriatrische medizinische
Rehabilitation empfohlene Einführung des SGB-V-finanzierten Budgets in der Pflegeversicherung näher prüfen.
({3})
Schließlich werden wir den Familienlastenausgleich
in der Pflegeversicherung gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, wonach Kinder erziehende Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung beitragsmäßig zu entlasten sind.
({4})
Hier sollte eine Freibetragsregelung angestrebt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
CDU/CSU-Fraktion, da wir heute auch über Ihren Gesetzentwurf reden, kann ich Sie auf zentrale Punkte unserer Politik verweisen. Sie haben Ihren Antrag von dem der
Bayern abgeschrieben, der seinerzeit im Bundesrat keine
Mehrheit fand.
({5})
Darin sind auch sachliche Fehler enthalten. Sie wollen
nicht nur entgegen dem Grundsatz des Vorrangs häuslicher vor stationärer Pflege zusätzliche Mittel der Pflegeversicherung einseitig für die stationäre Pflege aufwenden. Ihre vorgesehene Finanzierung ist einfach unsolide;
({6})
denn die von Ihnen in Aussicht gestellten zusätzlichen
Leistungen können auf Dauer nicht aus den laufenden
Einnahmen der sozialen Pflegeversicherung finanziert
werden, sodass nach derzeitiger Modellrechnung ab 2006
eine Beitragssatzanhebung erforderlich wäre. - Dies ist
nur einer der völlig unfinanzierbaren Vorschläge aus
Ihrem Entwurf.
Meine Damen und Herren, wir von der SPD wollen
schrittweise wirksame und nachhaltige Verbesserungen
für pflegebedürftige Menschen erreichen. Wir dürfen unsere sozialen Sicherungssysteme jedoch nicht völlig überfordern. Das kennen wir ja von der Opposition auf der
rechten Seite des Hauses: ungedeckte Schecks ausstellen,
zumal in Wahlkampfzeiten, ohne den Bürgerinnen und
Bürgern zu sagen, wie das bezahlt werden soll. Eine solche Politik machen wir nicht mit.
({7})
Zur Personalfrage bei der Pflege: Das Qualitätssicherungsgesetz beinhaltet bereits wirkungsvolle Instrumente
für die Festlegung einer ausreichenden Personalausstattung.
Ich gehe noch kurz auf Ihre Forderung ein, eine
Schiedsstelle in der häuslichen Krankenpflege einzurichten. Diese Forderung ist so nicht realisierbar. Die Schiedsamtslösung, wie Sie sie fordern, würde uns verfassungsrechtliche Probleme bereiten;
({8})
denn nicht alle Pflegedienste sind in Verbänden organisiert. Wie wollen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU-Fraktion, die nicht repräsentierten
Dienste in ein solches Verfahren einbeziehen?
({9})
Nach unserer Meinung und auch nach Ansicht des Bundesgesundheitsministeriums würden das Bundesinnenministerium und das Bundesjustizministerium eine derartige
Lösung nicht akzeptieren.
({10})
Weil wir die immer wieder auftretenden Streitigkeiten
im Bereich der häuslichen Krankenpflege zwischen Kassen und Diensten gar nicht abstreiten - da sind wir Ihrer
Meinung -, werden wir die Möglichkeiten eines Schiedsstellenverfahrens, das im Gegensatz zu Ihrem Vorschlag
auch den rechtlichen Ansprüchen genügen würde, prüfen.
Da wir heute drei Anträge zu diesem Bereich zu diskutieren haben, möchte ich noch etwas zum PDS-Antrag sagen. Wir werden auch diesen Antrag ablehnen, obwohl er
in einigen Passagen - Herr Seifert hat es schon dargestellt - einen guten Diskussionsbeitrag leistet. Aber in dieMarga Elser
sem Antrag wird nichts darüber gesagt, wie das Ganze finanziert werden soll. Ich denke, ein Vorschlag, von dem
wir nicht wissen, wie es finanziert werden soll, genügt
nicht.
Deshalb setzen wir uns für die kontinuierliche Fortentwicklung der Pflege ein,
({11})
die qualitätsorientiert, wirtschaftlich und finanziell solide
kalkuliert ist.
Danke.
({12})
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Aribert Wolf. Er spricht für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wie gehen wir in Deutschland, in einem der reichsten Länder der Welt, mit älteren
pflegebedürftigen Menschen um? Der Kollege Seifert hat
diese Frage bereits gestellt. Sie wird auch in der Öffentlichkeit zu Recht immer wieder diskutiert. Wir müssen leider feststellen, dass es hier viel Licht, aber bedauerlicherweise auch viel Schatten gibt. Wer Pflegeheime von
innen kennt, dem werden die Bilder der Frauen und Männer, die dort ihren Lebensabend beschließen, und die Umstände, unter denen das manchmal geschieht, nicht so
schnell aus dem Kopf gehen, wenn er ein bisschen Herz hat.
Insbesondere wir Jüngeren dürfen nicht vergessen,
dass die Generation, die heute in Alten- und Pflegeheimen
versorgt wird, eine Generation ist, die Schweres zu ertragen hatte und die auf der anderen Seite Großartiges für unser Land geleistet hat;
({0})
denn diese Generation hat das zerstörte Deutschland aus
den Trümmern des Zweiten Weltkriegs geholt und wieder
zu einem prosperierenden Land in Europa aufgebaut.
Darum ist es mir persönlich, aber, wie ich weiß, auch
vielen Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion
wichtig, dass wir unser Augenmerk nicht nur auf Wirtschaft, Arbeitsplätze, Globalisierung, Außenpolitik oder
Umweltschutz richten, sondern immer auch ein offenes
Ohr und ein offenes Herz für die Sorgen der älteren Generation haben.
({1})
- Das weiß ich, das nehme ich auch gerne zur Kenntnis,
aber ich spreche jetzt von den Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU-Fraktion.
Deswegen nehmen wir von der Union Berichte und
Meldungen über Missstände in Alten- und Pflegeheimen
sehr ernst. Wir gehen den Ursachen nach und meinen,
dass dort, wo es nötig ist, politische Veränderungen in Angriff genommen werden müssen. Deswegen kann es nicht
hingenommen werden, dass mitten in Deutschland alte
Menschen austrocknen, weil sie zu wenig zu trinken bekommen, dass alte Menschen wund liegen, an Dekubitus
erkranken, weil sie in Pflegeheimen nicht ordnungsgemäß
umgebettet werden oder aus ihren Pflegebetten nicht wenigstens einmal am Tag herausgeholt werden, und dass
Zeitungen und Fernsehsendungen voll sind von Berichten, dass Altenpflegerinnen und Altenpfleger ihre Arbeit
unter schwierigsten Bedingungen leisten müssen. Was
mich ungeheuer ärgert und aufregt, ist, dass jetzt eine
Bundesregierung an der Macht ist, die nichts, aber auch
gar nichts macht, um die Situation der Pflegebedürftigen
und der Arbeitsbedingungen der Altenpflegerinnen und
Altenpfleger zu verbessern.
({2})
Ich ärgere mich gewaltig über diese unglaubliche
Untätigkeit von SPD und Grünen. Bei Veranstaltungen,
bei Podiumsdiskussionen hört sich das immer ganz anders
an. Da hat man viel Verständnis für die Sorgen der Pflegebedürftigen und der Pflegekräfte und macht immer
gleich Versprechungen. Im Parlament kommt es jedoch
darauf an, welche Taten auf den Weg gebracht werden.
Wo sind die Taten dieser rot-grünen Bundesregierung, um
den Pflegebedürftigen zu helfen und ihre Situation zu
verbessern? Leider ist in diesem Bereich nichts oder nahezu nichts passiert. Deswegen legt die CDU/CSU heute
einen Gesetzentwurf vor, der insbesondere dort ansetzt,
wo viele Pflegeverbände und Angehörige immer wieder
den Finger in die Wunde legen, damit die personelle Ausstattung in Altenpflegeheimen endlich schrittweise verbessert wird.
({3})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Worte sind
schnell gesprochen, aber stimmen Sie dann, wenn es ernst
wird, wenn wir etwas für die Menschen tun können, im Parlament auch entsprechend ab! Das wahre Bekenntnis, das
Ihnen abverlangt wird, ist, ob Sie etwas tun oder nur reden.
({4})
Ich persönlich bin stolz darauf - ich war damals nicht
im Bundestag -, dass die CDU/CSU die Pflegeversicherung auf den Weg gebracht hat.
({5})
Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung und der Name
Norbert Blüm sind untrennbar mit der Pflegeversicherung
verbunden.
({6})
Nach 30 Jahren mühsamer und quälender Diskussion haben wir den Knoten durchschlagen und eine Pflegeversicherung realisiert. Bei Rot-Grün ist es folgendermaßen:
Bei den Worten sind Sie riesengroß, aber bei den Taten,
wenn es darauf ankommt, sind sie so klein mit Hut.
Was haben Sie zum Beispiel zur Verbesserung der Situation von Demenzkranken, von Altersverwirrten geMarga Elser
tan? Schauen Sie sich die Situation doch einmal an, wenn
der Vater oder die Mutter, der Opa oder die Oma eigentlich noch guat bei’nand ist, wie man bei uns in Bayern
sagt, aber ab und an Aussetzer hat, sodass man beaufsichtigen muss, schauen muss, dass die Herdplatte nicht an
bleibt und das Haus abbrennt, weil vergessen wurde, sie
auszuschalten. Schauen Sie sich an, welche Belastungen
das oft für Familien sind, welche Beaufsichtigungsmaßnahmen durchgeführt werden müssen, sodass zum Beispiel nicht in Urlaub gefahren werden kann. Generationenübergreifend wird in Hunderttausenden von Familien
in Deutschland eine wirklich tolle soziale Betreuung und
Pflege geleistet. Wenn Sie jedoch mit diesen Familien reden und fragen, wie sie seitens der Pflegeversicherung unterstützt werden, dann hören Sie hunderttausendfach die
Antwort: Wir bekommen leider gar nichts, weil die Eingangsvoraussetzungen nicht erfüllt sind.
Wir müssen heute konzedieren, dass die Eingangsvoraussetzungen zu eng gefasst sind.
({7})
Deswegen, Frau Schmidt-Zadel, haben wir in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der mehr Menschen die Leistungen der Pflegeversicherung, insbesondere wenn sie altersverwirrt sind,
zugänglich machen soll. Aber leider hat die Bundesregierung dies abgelehnt.
Ich nenne einen weiteren Punkt, bei dem Sie sich taub
und stur stellen, nämlich die Richtlinien zur häuslichen
Krankenpflege. Wir haben im Gesundheitsausschuss
wahrlich viele Anhörungen zum Thema Pflege gehabt.
({8})
Es wurde immer wieder gesagt, dass wichtige medizinische Leistungen aus den Richtlinien, die der Bundesausschuss erlassen hat, herausgenommen wurden, zum
Beispiel die Dekubitus-Prophylaxe und Blutzuckermessungen. Die Verbände fordern immer wieder, diese
Richtlinien zu ändern. Eine unionsgeführte Bundesregierung wird dem Bundesausschuss die Richtlinien vorlegen, damit in einzelnen Punkten Änderungen vollzogen werden. Das ist für die Pflegebedürftigen wichtig.
({9})
Ein weiterer Punkt. Auch Sie haben von der Schiedsstelle gesprochen. Wolfgang Zöller hat in seinem Zwischenruf darauf hingewiesen, dass Sie nur faule Ausreden
haben. Es gibt doch auch im Krankenhausbereich ungebundene Häuser. Auch dort gibt es Entscheidungen von
Schiedsstellen. Warum soll dies im Pflegebereich nicht
möglich sein?
Um für die Betroffenen Verbesserungen auf den Weg
zu bringen, ist es notwendig, dass auch Konfliktregelungsmechanismen in Gang gesetzt werden. Wir haben sie
in unserem Gesetzentwurf aufgenommen. Ich bin gespannt, welche Maßnahmen Sie noch umsetzen. In den
letzten Wochen und Monaten reden Sie wieder einmal
viel. Dabei brauchen Sie nur unserem Gesetz zuzustimmen, damit es für viele Menschen Verbesserungen gibt.
Ich erinnere daran, dass die Leistungen der Pflegeversicherung seit 1996 unverändert geblieben sind. Aber
wenn Sie sich einmal anschauen, dass die Verbraucherpreise von 1996 bis 2001 um 8 Prozent gestiegen sind,
({10})
dass die Arbeitskosten, Herr Thomae, um 10 Prozent
gestiegen sind, dann muss man sagen: Es ist bitter nötig,
dass wir gerade bei der stationären Pflege Verbesserungen
durchsetzen und mehr Geld und mehr Personal für eine
bessere Pflege zur Verfügung stellen.
Es ist gefragt worden - dieses Argument kennen wir
ja -, wie wir das finanzieren wollen. An dieser Stelle muss
ich sagen, dass dies ein besonders schändliches Stück der
Politik der Regierung Schröder ist: Sie stellen auf der
einen Seite große Konzerne wie Siemens, Allianz, Eon,
Daimler-Chrysler und die Deutsche Bank völlig frei von
Steuern, aber auf der anderen Seite nehmen Sie zum
Stopfen von Haushaltslöchern und zur Konsolidierung
des Haushalts den Pflegebedürftigen 500 Millionen DM
bzw. 250 Millionen Euro aus der Tasche.
({11})
Und Sie wollen noch das Wort von der sozialen Gerechtigkeit in den Mund nehmen? Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass durch die Politik einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung eine soziale
Schieflage in Deutschland geschaffen wird!
({12})
Ein letzter Punkt. Die Menschen haben gemerkt, dass
Sie ihr Vertrauen verspielt haben.
({13})
- Es gehört nicht zur sozialen Gerechtigkeit, Frau
Schmidt-Zadel, Großkonzerne steuerfrei zu stellen, aber
den Pflegebedürftigen 500 Millionen DM, die zu unserer
Zeit für die Pflege noch zur Verfügung standen,
wegzunehmen.
({14})
Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen das.
Ich bin davon fest überzeugt, dass sie Ihnen am 22. September das Vertrauen entziehen werden. Sie werden
wieder eine unionsgeführte Bundesregierung bekommen,
die für Pflegebedürftige nicht nur schöne Worte hat, sondern endlich konkrete Verbesserungen auf den Weg bringt.
Ich bedanke mich.
({15})
Lieber
Aribert Wolf, Sie waren der Dritte im Bunde, der in dieser
Debatte gesprochen hat und der nicht mehr dem nächsten
Bundestag angehören wird. Auch Ihnen spreche ich unseren
Dank aus und wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft.
({0})
Nun spricht für die SPD die Kollegin Dr. Margrit
Spielmann.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem
Antrag wollen wir nachdrücklich die Bedeutung, die der
medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen
zukommt, unterstreichen. Es ist uns allen in diesem Hause
ein zentrales Anliegen, auf die bestehenden und drohenden Versorgungsdefizite in der Kinder- und Jugendmedizin hinzuweisen und diesen Defiziten mit geeigneten
Maßnahmen entgegenzuwirken.
Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, bei diesem wichtigen Thema einen interfraktionellen Antrag vorzulegen. Es
ist das Ziel unseres Antrages, durch Vorsorge und
Früherkennung Fehlentwicklungen aufzudecken und damit
den Kindern unnötige Leiden und Krankheiten in ihrem
späteren Leben zu ersparen. Es geht uns auch darum, zu
verhindern, dass Kinder mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen in ihrer Entwicklung behindert werden.
Wie wir alle wissen, lassen sich Fehlentwicklungen immer schwieriger korrigieren, je älter die Kinder werden.
Aus medizinischer Sicht stehen dabei unter anderem die
falsche Ernährung und natürlich auch die mangelnde Bewegung in unserem Fokus. Wenn wir nichts unternehmen,
so sagte unsere Ministerin, dann sind diese Kinder die
chronisch Kranken von morgen. Recht hat sie.
({0})
Ein besonderes Augenmerk sollten wir unter anderem
auf die Diagnostik der Hörleistung legen. Das Hören hat
für die kindliche Entwicklung, für die Sprachentwicklung
und die Persönlichkeitsentwicklung eine große Bedeutung. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Aufnahme von Hörscreenings in den Katalog der Neugeborenenuntersuchungen. Dafür brauchen wir allerdings
sichere Erkenntnisse darüber, dass die angewandte Methode eine zuverlässige Aussage über den Grad der
Schwerhörigkeit erlaubt. Das Gesundheitsministerium
hat, wie wir alle wissen, eine wissenschaftliche Evaluierung von modernen Hörscreeningmethoden in Auftrag gegeben. Das begrüßen wir sehr.
({1})
Sobald die Ergebnisse vorliegen, muss zügig an deren
Umsetzung gearbeitet werden.
Eine zentrale Rolle bei der Verbesserung der Kindergesundheit muss wieder der öffentliche Gesundheitsdienst
spielen.
({2})
Viele Kinder und Jugendliche sind nur auf diesem Wege
zu erreichen. Der öffentliche Gesundheitsdienst hat in der
Vergangenheit wichtige Verdienste und Kompetenzen vor
allen Dingen in den Bereichen des Impfschutzes und der
Kariesprophylaxe erworben. Es gilt, den öffentlichen Gesundheitsdienst zu stärken und dort die wichtigen Aufgaben der Gesundheitserziehung und der Vorsorge, der
Prävention, zu verankern.
({3})
Dazu wird es dringend notwendig sein, mit den Kommunen
und den Ländern in einen Dialog über die Aufgaben und
Pflichten des öffentlichen Gesundheitswesens zu treten.
Natürlich kann der öffentliche Gesundheitsdienst nicht
allein diese Aufgabe wahrnehmen. In erster Linie sind die
Eltern gefragt. Sie tragen die Verantwortung. Gesundheitsbewusstes Verhalten muss, wie wir alle wissen, vorgelebt, eingeübt und verfestigt werden.
({4})
Eine wichtige Bedeutung kommt auch den Kindergärten
und den Schulen zu. Die Gesunderhaltung unserer Kinder
sollte uns alle angehen. Ich meine, die Gesunderhaltung
unserer Kinder stellt ein gesamtgesellschaftliches Anliegen dar.
({5})
Die Schlüsselfigur in der medizinischen Versorgung von
Kindern und Jugendlichen sollte der Pädiater spielen. Er
ist mit den physiologischen und psychologischen Aspekten
der Behandlung dieser Patientengruppe am besten vertraut.
Damit eine flächendeckende pädiatrische Versorgung auch
in Zukunft gewährleistet werden kann, müssen unbedingt
Maßnahmen ergriffen werden, damit das Angebot an Weiterbildungsstellen vergrößert werden kann. Kinderkliniken
und Kinderarztpraxen müssen in die Lage versetzt werden,
mehr Weiterbildungsstellen für Pädiater anzubieten. Ansonsten ist das Problem nicht zu lösen.
Die stationäre Behandlung von Kindern und Jugendlichen sollte prinzipiell in pädiatrischen Abteilungen der
Krankenhäuser erfolgen. Von dieser Stelle aus muss an die
Landesregierungen der Appell gerichtet werden, den Beschluss der Gesundheitsminister von 1997 zu realisieren
und die Bettenplanung am Bedarf einer kindgerechten
Versorgung auszurichten.
({6})
Der Impfmüdigkeit und der Vernachlässigung von
Vorsorgeuntersuchungen muss dringend entgegengewirkt werden. Zu diesem Zweck halten wir eine bundesweite Informationskampagne für zwingend notwendig.
Den Eltern muss der Sinn und Zweck der Vorsorgeuntersuchungen von der U 1 bis zur U 10 und der Jugenduntersuchung nahe gebracht werden. Die Schulen, die Kindergärten, der öffentliche Gesundheitsdienst, aber auch
die Medien sollten uns dabei helfen.
Die Arzneimittelsicherheit - auch das ist ein Punkt
in unserem Antrag - muss dringend verbessert werden. Zu den zielführenden Maßnahmen gehören unter
anderem, in Kompetenzzentren systematisch die klinische Erfahrung mit Erwachsenenmedikamenten zu erfassen, sie auszuwerten und zu veröffentlichen sowie
dafür zu werben, dass Eltern ihre Einwilligung zur kliAribert Wolf
nischen Prüfung von Medikamenten an kranken Kindern geben.
In den vergangenen Jahren ist bei Kindern vermehrt die
Diagnose „Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom“, kurz ADHS, gestellt worden. Die Gründe dafür
müssen unbedingt erforscht werden. Für die Behandlung
des ADHS sollten Behandlungsleitlinien mit modalen
Therapiekonzepten entwickelt werden, die verhindern,
dass verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche lediglich medikamentös ruhig gestellt werden. Nötig ist vielmehr eine ganzheitliche Therapie, die psychotherapeutische Aspekte einschließt.
Sehr geehrter Herr Dr. Seifert, ich möchte an dieser
Stelle ganz ausdrücklich die Bemühungen der Kinderkommission erwähnen und deren Mitgliedern für die im
Zusammenhang mit dieser Symptomatik geleistete Arbeit
sehr herzlich danken.
({7})
Es ist zu begrüßen, dass das Robert-Koch-Institut eine
breit angelegte Studie zur Gesundheit von Kindern und
Jugendlichen durchführt. Bislang verfügen wir nicht über
eine umfassende und über die Altersspanne von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr reichende Erhebung über den
Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten unserer Kinder. Die Ergebnisse werden, denke ich, eine wichtige Grundlage für weitere gezielte gesundheitspolitische
Maßnahmen in diesem Bereich sein.
Ich möchte zum Schluss noch einen wichtigen Punkt
hervorheben. Rot-Grün hat in dieser Legislaturperiode
die Prävention gestärkt und die Ministerin hat für die
kommende Legislaturperiode ein Präventionsgesetz angekündigt, das die verschiedenen gesetzlichen Vorschriften bündeln wird. Prävention muss gerade bei Kindern
und Jugendlichen eine gleichberechtigte Säule neben der
kurativen Medizin, der Rehabilitation und der Pflege
werden.
({8})
Sie ist ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste
Grundstein und der Schlüssel einer guten medizinischen
Versorgung von Kindern und Jugendlichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns doch
gemeinsam die Verantwortung für die junge Generation
übernehmen. Vielen Dank für die Zusammenarbeit bei
diesem Antrag. Wir werden sehen, was wir alle gemeinsam daraus machen.
Danke schön.
({9})
Als letzter
Redner in dieser Debatte spricht Kollege Wolfgang Zöller
für die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich besonders im
Interesse der Kinder und Jugendlichen, dass es uns trotz
des Wahlkampfs gelungen ist, einen parteiübergreifenden
Antrag mit der Überschrift „Medizinische Versorgung
von Kindern und Jugendlichen sichern und verbessern“
vorzulegen.
Bei dieser Gelegenheit darf ich mich auch bei denen
bedanken, die hierzu wesentlich beigetragen haben. Stellvertretend darf ich ausdrücklich folgende Namen nennen:
Frau Kors und Frau Dr. Spielmann.
Persönlich freue ich mich natürlich darüber, dass die
wesentlichen Punkte unseres Antrages „Medizinische
Versorgung von Kindern sichern“ vom 25. Januar 2001 in
den gemeinsamen Antrag eingeflossen sind.
Ich glaube, man kann an dieser Stelle auch feststellen,
dass es dem Bemühen und der Beharrlichkeit unserer
Fraktion zu verdanken ist, dass das Anliegen der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen einen
ganz wesentlichen Schritt nach vorn gebracht wurde.
({0})
Es hat lange - wie ich meine: sehr lange - gedauert und
auch eines Umdenkens im Gesundheitsministerium bedurft. Ich darf erinnern: Noch im Juli 2000 lehnte das
Bundesministerium für Gesundheit eine Förderung der
Weiterbildung zum Kinder- und Jugendarzt ab. Daraufhin gab es eine Resolution der Kinder- und Jugendärzte
vom 12. Juli 2000. Ich darf zitieren:
Deshalb fordern wir für Kinder und Jugendliche den
Erhalt und Bestand einer flächendeckenden ambulanten und stationären kinder- und jugendärztlichen
Versorgung sowie Garantie und finanzielle Unterstützung für ausreichende Weiterbildungsmöglichkeiten zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin,
gleichgestellt dem Facharzt für Allgemeinmedizin in
der hausärztlichen Versorgung.
Wir können froh sein, dass diese Grundforderungen in
dem uns heute vorliegenden Antrag enthalten sind. Die
Bundesärztekammer wird aufgefordert, die Weiterbildung zum Kinder- und Jugendarzt zu reformieren. Zur Sicherung der pädiatrischen Versorgung sollen die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die
pädiatrische Weiterbildung wie die allgemeinmedizinische Weiterbildung gefördert wird.
Dass unser Vorschlag, die Budgetierung aufzuheben,
gemeinsam mit Rot-Grün nicht realisierbar war, heißt
nicht, dass wir dieses Ziel nicht weiter verfolgen werden,
damit die medizinische Versorgung besonders von Kindern und Jugendlichen gewährleistet wird.
({1})
Für uns sehr wichtige Punkte sind ebenfalls aufgenommen worden. Ich darf sie nur stichpunktartig aufführen: Die Besonderheiten der häuslichen Kinderkrankenpflege sind bei der Fassung der Richtlinien zu
berücksichtigen - das ist, glaube ich, ein sehr wichtiger
Punkt -; der Erhalt des speziellen Berufs der Kinderkrankenschwester und des Kinderkrankenpflegers ist zu sichern; die Arzneimittelsicherheit bei Kindern ist zu verbesDr. Margrit Spielmann
sern. Ferner haben wir aufgrund vieler Zuschriften betroffener Eltern das Thema Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom angenommen, damit durch wissenschaftliche Studien zu ADHS und seiner Behandlung die
Qualität von Diagnose und Therapie verbessert wird.
Der erste Schritt ist erfreulicherweise gemeinsam getan. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Das sind wir unseren
Kindern und Jugendlichen schuldig.
({2})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf auf
Drucksache 14/8364 zur Verstärkung der Personalausstat-
tung in Pflegeheimen. Der Ausschuss für Gesundheit emp-
fiehlt auf Drucksache 14/9561, den Gesetzentwurf abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
bei Enthaltung der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach un-
serer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Gesundheit auf Drucksache 14/9570 zu dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Ge-
sundheitswesen patientenorientiert, freiheitlich und zu-
kunftssicher gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/8595 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS ge-
gen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Gesundheit auf Drucksache 14/9569 zu dem An-
trag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Pflege refor-
mieren - Lebensqualität in Gegenwart und Zukunft
sichern“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/6327 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen
von CDU/CSU, FDP und PDS angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Fortentwicklung
der sozialen Pflegeversicherung auf Drucksache 14/9562.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/8864 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussem-
pfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP mit dem Titel „Medizinische
Versorgung von Kindern und Jugendlichen sichern und
verbessern“. Dazu liegt eine persönliche Erklärung zur
Abstimmung der Kollegin Rosel Neuhäuser, die zu Pro-
tokoll genommen wird, vor.1)
Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/9544? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Thierse, Doris Barnett, Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Dr. Rita Süssmuth, Hans-Dirk Bierling,
Thomas Kossendey, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten
Rita Grießhaber, Winfried Nachtwei, Kerstin
Müller ({0}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie
der Abgeordneten Ulrich Irmer, Dr. Helmut
Haussmann, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP
Parlamentarische Dimension und die Zukunft
der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ({1})
- Drucksache 14/9554 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Das Haus ist
damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erster Rednerin der Kollegin Monika Griefahn für die Fraktion der
SPD das Wort.
Guten Abend, Herr Präsi-
dent! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vom 6. bis
10. Juli sind wir erstmalig Gastgeber der Parlamentari-
schen Versammlung der OSZE-Konferenz mit 317 Parla-
mentariern aus 55 OSZE-Staaten, darunter 13 unserer Kol-
leginnen und Kollegen. Der Dialog über die Grundwerte
der Demokratie findet traditionell im Juli statt. Für uns ist
das am Ende der Sitzungsperiode ein guter Zeitpunkt für
einen Ausblick auf die Weiterentwicklung der OSZE.
Aus diesem Anlass möchte ich noch einmal die wich-
tigsten Etappen in der Geschichte der OSZE erwähnen
und anschließend einen Blick auf die Empfehlungen und
die zukünftigen Schwerpunkte werfen. Die Konferenz
über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, KSZE,
wurde im Jahre 1973, also vor nunmehr fast 30 Jahren, in
denen sich die Bedingungen der Außenpolitik für alle be-
teiligten Staaten wesentlich verändert haben, als Forum
für den Ost-West-Dialog geschaffen. Diese Herausforde-
rung hat auch die OSZE positiv angenommen.
Die KSZE verständigte sich am 1. August 1975 in
Helsinki darüber, Konflikte in Europa ohne die Anwen-
dung oder Androhung von Gewalt zu regeln, in Sicher-
heits- und Abrüstungsfragen zusammenzuarbeiten, den
1) Anlage 4
Wirtschaftsaustausch über die Systemgrenzen hinweg zu
fördern und die Mitgliedstaaten für die Begegnung der
Menschen und für gegenseitige Informationen zu öffnen.
Damit nahm eine neue Form kooperativer statt konfrontativer Sicherheitspolitik ihren Anfang, durch die nach und
nach die negativen Auswirkungen der Teilung Europas
auf die Menschen spürbar abgemildert werden konnten.
Die Schlussakte von Helsinki bedeutete für uns, dass
die von Deutschland seit Ende der 60er-Jahre bilateral
verfolgte Entspannungspolitik gegenüber dem Osten
- die mit den Namen Willy Brandt und Egon Bahr unauflöslich verbunden ist - nunmehr auf die europäische
Ebene gehoben wurde. Ausgangspunkt und Kern der
KSZE war und ist bis heute der Gewaltverzicht. Gewaltverzicht schließt ein, dass die Grenzen eines Landes nur
einvernehmlich geändert werden dürfen - ein Grundsatz,
der zum Beispiel im Zusammenhang mit der Statusfrage
des Kosovo höchst aktuell ist.
Der Gewaltverzicht wurde durch Abrüstungsverhandlungen und Verhandlungen über militärische vertrauensbildende Maßnahmen untermauert. Zu den herausragenden Erfolgen des KSZE-Prozesses gehört der Vertrag über
konventionelle Abrüstung von 1990 - die „Charta von
Paris für ein neues Europa“ -, der mit einem zweiten Vertrag aus dem Jahre 1999 an die gegenwärtige sicherheitspolitische Situation angepasst worden ist. In der Folge
dieser beiden Verträge wurden Zehntausende von schweren konventionellen Waffen vernichtet und die Gefahr von
Überraschungsangriffen wurde beseitigt.
Die KSZE, vor sieben Jahren in OSZE umbenannt,
fasst keine völkerrechtlich bindenden Beschlüsse. Ihre
politische Strategie ist das Heranführen von Staaten an europäische politische Standards, ist das Einbinden und das
Einüben in Rechtsstaatlichkeit und demokratische Verfahren. Die OSZE lebt vom Prozess und vom Dialog, sehr
viel weniger von der Anwendung rechtsverbindlicher
Festlegungen.
Seit dem Fall der Mauer haben sich die Aufgaben
der KSZE gewandelt. Heute stehen der Abbau ethnischer
Spannungen, die Förderung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen und die Unterstützung der Zivilgesellschaft in den europäischen Transformationsländern
im Vordergrund der OSZE-Aktivitäten.
Die OSZE ist darauf angewiesen, dass ihre Mitgliedsländer kooperieren. Ihre Erfolge sind da am größten, wo
ihre Missionen von den Regierungen selbst unterstützt
werden. So hat die Tätigkeit der OSZE in den beiden baltischen Staaten Estland und Lettland zu einer Verbesserung der Lage der russisch sprechenden Minderheiten geführt, weil die estnischen und lettischen Regierungen von
sich aus den Weg nach Europa gehen und sich dabei europäische Standards zu Eigen machen wollten.
Auch in Moldowa - dem ärmsten Land Europas -, wo
es um die Rechte des Turkvolkes der Gagausen ging,
konnte die OSZE erfolgreich Regelungen für ein friedliches Zusammenleben aushandeln.
Allerdings ist auch festzustellen, dass sich die OSZE
ausschließlich um Probleme und Konfliktlagen in Osteuropa sowie im Kaukasus und in Zentralasien kümmert.
Der Nordirland-Konflikt stand nie auf der Tagesordnung
der OSZE. Auch die Auseinandersetzungen im Baskenland oder in anderen westeuropäischen Regionen haben
für die OSZE bislang keine Rolle gespielt.
Dort, wo die OSZE entscheidend tätig wird - etwa bei
der Wahlbeobachtung und bei der Begleitung und Stärkung demokratischer Entwicklungen -, ist oft ihre so
wichtige Institution, die Parlamentarische Versammlung, am Werk. Die OSZE handelt damit zunehmend zivil und greift eine Strategie zur Früherkennung und Lösung von Konflikten auf, die seit dem 11. September
immer mehr an Bedeutung gewinnt: die zivile Krisenprävention.
Die OSZE entwickelt sich ständig weiter. Sie hat die
Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung in
vielen Bereichen umgesetzt, womit die Parlamentarische
Versammlung eines ihrer wichtigsten Gremien ist: zum
Beispiel mit der Ernennung eines Beauftragten für Medienfreiheit - immer wichtiger in diesen Tagen -, mit der
Ernennung eines Koordinators für ökonomische und ökologische Aktivitäten - ein Junktim, das inzwischen allgemein anerkannt sein müsste, aber längst nicht selbstverständlich ist und mittelfristig für alle nur Vorteile bringt;
in diesem Zusammenhang möchte ich auch erwähnen,
dass die Parlamentarier erreicht haben, dass Wirtschaftsund Umweltaspekte der Sicherheit auf die Tagesordnung
gesetzt wurden -, schließlich mit der Installierung einer
Kontaktstelle für Roma und Sinti innerhalb des ODIHR
und mit der Bestellung eines Beraters für Fragen der
Gleichberechtigung im OSZE-Sekretariat in Wien.
Die Beiträge, die Parlamentarier zu den Aufgaben der
OSZE leisten können, liegen vor allem auf dem Gebiet der
Vertrauensbildung und der Einübung in multilaterale Willensbildung. Die OSZE stellt ein Forum bereit, in dem
sich etwa Abgeordnete aus Aserbaidschan und Armenien
treffen können oder in dem über kontroverse Fragen zur
NATO-Erweiterung, zur internationalen Kriminalitätsbekämpfung oder zu ethnischen Streitfragen gesprochen
werden kann, und dies eben nicht nur bilateral, sondern
multilateral.
Die Parlamentarierversammlungen der OSZE ermöglichen die Einübung in demokratische Verfahren und nehmen durch Dialog und gemeinsame Beschlüsse die Furcht
vor Missachtung. Dies ist insbesondere für kleinere Nationen ein wichtiger Punkt. Sie nehmen auch Einfluss auf
die Tätigkeit der OSZE-Exekutive.
Doch trotz all dieser positiven Aspekte gibt es noch viel
zu tun. Die Krisen im ehemaligen Jugoslawien und in
Tschetschenien haben gezeigt, dass die Handlungsfähigkeit der OSZE verbessert werden muss. Insbesondere
müssen die Möglichkeiten zur Krisenprävention ausgebaut werden. Ein Vorschlag zur Verbesserung sieht hier
vor, eine schnelle Einsatztruppe zur Konfliktverhütung
und Krisenbewältigung nach Konflikten bereitzustellen
sowie zivilpolizeiliche Einheiten und unabhängige Gerichte einzurichten. Dies hat sicherlich in den letzten Jahren die meisten Schwierigkeiten gemacht und hat auch die
Autorität der OSZE bei Missgriffen infrage gestellt.
Nach wie vor gelingt es der OSZE nicht, entscheidende
Durchbrüche in den lang andauernden Konflikten zum
Beispiel um Berg-Karabach oder zwischen Abchasien
und Georgien zu erreichen. Sie ist zwar in der Lage, den
Ausbruch massiver Gewalt in diesen Regionen zu verhinMonika Griefahn
dern, aber abschließende Regelungen sind bislang ausgeblieben. Sie war bislang auch außerstande, gravierende
Wahlfälschungen wie in Georgien, Aserbaidschan, Kasachstan oder Usbekistan zu verhindern. Es wäre wichtig,
die OSZE für derartige Aufgaben zu stärken.
Der weitere Erfolg wird ganz entscheidend auch davon
abhängen, ob der territorial größte Mitgliedstaat der
OSZE, die Russische Förderation, zu einem rationalen
und multilateralen Handeln findet.
Bei den zuvor schon angesprochenen Transformationsstaaten in Europa sollte der Schwerpunkt beim Aufbau stabiler demokratischer Strukturen auf zwei Gebieten
liegen: beim Aufbau eines demokratischen und funktionierenden Rechtssystems von der Verfassung bis zur
Rechtsverordnung und bei der Stärkung und dem Schutz
einer freien und vielfältigen Presse- und Medienlandschaft. Das hat uns in der letzten Zeit die meisten Sorgen
bereitet.
Wie gefährlich hier die Verflechtungs- und Konzentrationsprozesse werden können, beobachten wir derzeit mit
Schrecken im Herzen Europas, in Italien. Wenn dies
Schule macht und gesagt wird, dass wir in dem Teil Europas, der als Urstück der Demokratie gilt, bereits solche
Konzentrationen haben, wie sollen wir dann die Möglichkeit haben, dies in anderen Teilen der OSZE oder in neuen
Gebieten zu verhindern?
({0})
Ich denke, dies ist ein großes Problem.
Die OSZE muss sich verstärkt in neuen Gebieten einsetzen. Dazu gehören sicherlich die Mittelmeerländer und
die Länder über Zentralasien hinaus. Sie muss aber genau
an diesen zentralen Punkten, die ich genannt habe, ansetzen und wir müssen Vorbild sein.
Ich wünsche allen Beteiligten eine fruchtbare und erfolgreiche OSZE-Parlamentarierversammlung hier in
Berlin. Ich freue mich auf unsere ausländischen Gäste und
Kollegen und bin überzeugt, dass wir mit einer gemeinsamen Anstrengung und dem Ringen um den besten Weg für
die OSZE auch in den nächsten 30 Jahren eine positive
Entwicklung erreichen werden.
Zum Schluss möchte ich gern noch einen persönlichen
Dank an Frau Professor Süssmuth und an Rita Grießhaber
aussprechen, mit denen ich gerade in diesem Bereich,
aber auch in anderen außenpolitischen Fragen sowie in
Fragen der auswärtigen Kulturpolitik besonders gerne zusammengearbeitet habe. Ich bedanke mich hier für die
konstruktive Zusammenarbeit.
({1})
Nun hat für
die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Professor
Dr. Rita Süssmuth das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute
Abend den interfraktionellen Antrag mit dem Titel „Parlamentarische Dimension und die Zukunft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
({0})“. Die parlamentarische Dimension ist - wie wir
eben gehört haben - noch relativ jung. Sie wurde 1991
in Madrid gegründet. Da einige von uns zehn Jahre dabei sind, wissen wir um das allmähliche Zustandekommen einer Parlamentarischen Versammlung. Gerade in
Berlin wird sich in der übernächsten Woche entscheiden,
ob wir, gerade was Stringenz und Effizienz dieser Parlamentarischen Versammlung angeht, ein Stück weiterkommen.
Wenn wir in der Bevölkerung fragen, was die OSZE ist,
dann ist die Antwort: Davon habe ich noch nie gehört. - Es
ist eher möglich, etwas über die KSZE zu erfahren, die
Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa. Allerdings verbinden viele Bürgerinnen und Bürger richtigerweise mit der OSZE: Da ging es doch um
Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa.
Wenn wir diese Bürgerrechtsbewegungen nicht gehabt
hätten, dann wäre es möglicherweise nicht zu all diesen
Durchbrüchen gekommen. Wie wichtig war das für die
Staaten, die den Vertrag unterzeichnet haben! Man hatte
so nämlich eine Berufungsinstanz. Das zeigt wiederum,
wie wichtig institutionelle Absicherungen sind.
({1})
Die Umbenennung der Organisation 1994 hat das Verständnis für ihr Wirken nicht unbedingt erhöht.
Es wird immer gesagt, die Charta von Paris sei die
Hauptidee des damaligen amerikanischen Präsidenten
George Bush gewesen; der Beitrag der Europäer wird regelmäßig unterschlagen. Ich möchte deshalb daran erinnern, dass zum Beispiel der damalige Außenminister
Genscher keineswegs einen geringeren Anteil an der
Charta von Paris hatte als Präsident Bush.
({2})
1990 hatte man die Vision eines demokratischen
OSZE-Raums, eines Raumes von Vancouver bis Wladiwostok, in dem Stabilität und Sicherheit herrschen. In der
Charta von Paris hieß es, wie in dem Antrag zitiert wird:
Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu
einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche
Sicherheit für alle unsere Länder.
Das war die Erwartung von 1990/91.
Niemand hat sich zu diesem Zeitpunkt vorgestellt, dass
wir sehr bald wieder einen der brutalsten Kriege in Europa
haben würden. Allerdings hat sich auch niemand vorgestellt, dass sich die gesamte Sicherheitslage sehr rasch verändern würde. Ganz praktisch war daran gedacht, das Vakuum, das beim Wegfall des Warschauer Paktes entstand,
durch die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit
auszufüllen und der Konferenz im Rahmen der DemokraMonika Griefahn
tisierung eine parlamentarische Dimension zu geben, die
gleichsam die Arbeit der Exekutive begleiten sollte.
Ein Kennzeichen dieser Organisation ist, dass sie sich
im Rahmen der zivilen Prävention bewegt und mit diesen
Instrumenten arbeitet. Sie sieht sich nicht nur als
Frühwarnsystem und nimmt ihre Aufgaben in der Vorbereitung und dem Beobachten von Wahlen wahr, sondern
ist gleichermaßen ein System zum Aufbau von Zivilgesellschaften.
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen: Ich habe immer
wieder erlebt, dass man im Zusammenhang mit solchen
Organisationen zwar von Prävention spricht - das ist wie
bei dem Tagesordnungspunkt zur Gesundheitspolitik, den
wir eben diskutiert haben -, sie dann aber doch nicht so
richtig ernst nimmt. Ich weiß das von der Gesundheitspolitik und weiß, dass es bei solchen Organisationen wie der
OSZE genauso ist.
Wenn man das Jahr der Konstituierung der Parlamentarischen Versammlung in Budapest mit dem Jahr 2002
vergleicht, dann muss man unweigerlich feststellen: Dazwischen liegen die fürchterlichen Ereignisse des 11. September des vergangenen Jahres. Was sagen diese Ereignisse über diese Organisation aus? Wie auch immer es um
ihre Zukunft bestellt ist - das ist ja durchaus unsicher -,
man muss sagen: Es stellt eine sehr wichtige Erfahrung
und einen dadurch in Gang gesetzten Lernprozess dar, wie
wichtig es im Verteidigungsfall ist, sich verteidigen zu
können. Wie wichtig es ist, Gewalt zunächst zu stoppen,
haben wir im Balkankrieg gelernt.
({3})
Zwar sind zunächst die Mittel der NATO gefragt, aber
auch die Verankerung der OSZE in den Vereinten Nationen ist enorm wichtig.
Ich möchte heute Abend betonen: Die nächsten Jahre
gehören mehr und mehr der Prävention.
({4})
Unser Kollege Lamers hat es heute schon gesagt: Mit
primär militärischen Mitteln werden wir die Probleme,
vor denen wir stehen, und erst recht den Terrorismus nicht
bewältigen können, sondern von entscheidender Bedeutung sind die Armutsbekämpfung, Demokratisierung, stabile demokratische Institutionen und die Einbindung in
Gewaltächtung sowie eine friedliche Konfliktlösung.
({5})
Wenn es in diesem Jahrhundert nicht gelingt, den Bereich der Prävention und der friedlichen Konfliktlösung
auch dort auszubauen, wo es um andere Probleme geht
- wir werden Ähnliches bei der weltweiten Wanderungsbewegung erleben -, wird das in Kriegen enden, mit denen wir bereits jetzt scheußlichste Erfahrungen machen.
Deswegen wird es entscheidend darauf ankommen, dass
es über die Parlamentarier und die Parlamentarierinnen,
die sich um diesen Bereich kümmern, nicht heißt: Tant
pis, da können sie keinen Schaden anrichten, Wichtiges
entscheiden sie doch nicht. Wir werden von Jahr zu Jahr
mehr lernen, dass wir gerade in diesem Feld der Sicherheit einen ganzheitlichen Ansatz brauchen: Ökonomie,
Soziales, Ökologie und Kultur, gepaart mit Wissenschaft.
Unsere Probleme werden wir nur gemeinsam lösen können.
({6})
Nicht in Konfrontation und Ausgrenzung, sondern nur im
gegenseitigen Einbeziehen und im Miteinander können
wir die Anforderungen bewältigen.
Dass es bei allen Spannungen, die es in der OSZE gegeben hat - bis hin zum Budgetbereich; ich erwähne nur
die Schließung der Missionen in Lettland und Estland -,
zu einer solchen Annäherung in dem neuen NATO-Russland-Rat gekommen ist, ist nicht Ausdruck einer Ausgrenzungspolitik, sondern einer Einbeziehungspolitik.
Wenn wir in allen Bereichen - auch in der Innenpolitik auf diese Weise schrittweise weiterkämen, hätte ich weniger Angst um das Wohl unseres Landes, Europas und der
internationalen Politik.
({7})
Es geht mir auch um die Feststellung, dass wir gleichzeitig sowohl die großen als auch die sehr kleinen Perspektiven im Blick haben müssen. Es geht immer noch
darum, ob das Parlament eine Antwort auf seine Resolutionen bekommt. Vielleicht wird es im Rahmen der Transparenz und der Rechenschaftspflicht eine Antwort bekommen, aber keine Begründung. Dabei ist für uns
Parlamentarier die Begründung, warum etwas abgelehnt
wird, natürlich sehr wichtig. Es geht auch darum, Missionen miteinander abzustimmen. Ich bin sehr froh, dass die
Bundesregierung dies für genauso wichtig hält wie die
Parlamentarische Versammlung.
Es wird um viel Klein-Klein gestritten, zum Beispiel
um die Fragen, welche Informationen geheim bleiben
müssen und was uns mitgeteilt werden darf, wer woran
teilnehmen darf und wann der Präsident im Ministerrat
sprechen darf. Ich hoffe, dass wir all dies auf der Parlamentarischen Versammlung zur Verabschiedung bringen.
Denn viel wichtiger ist - Frau Griefahn hat es eben schon
gesagt -: Wie steht es um die Zukunft der OSZE? Was bedeutet eine OSZE zum Beispiel für Zentralasien? Wird
diese Organisation eines Tages auch im Mittelmeerraum
möglich sein? Wir dürfen uns davon keine Wunder versprechen, aber Tatsache ist: Wenn manche Mission rechtzeitig begonnen worden wäre, wäre sie kriegsverhindernd
gewesen. Gegenwärtig erleben wir, dass die OSZE sehr
viel stärker nach bewaffneten Konflikten als im präventiven Bereich zum Einsatz kommt. Deswegen wünsche ich
mir, dass wir in allen Politikbereichen - das gilt nicht nur
im Sicherheitsbereich - in viel stärkerem Maße von der
Reaktion zur Prävention kommen.
({8})
Ich schließe mich dem Wunsch an, dass wir eine gute
Versammlung haben werden. Die Eröffnung wird im Plenarsaal stattfinden. Sie wissen, dass in außenpolitischen
Fragen die Erwartungen an Deutschland immens sind.
Ich schließe hiermit meine eigentliche Rede und sage
Ihnen noch Folgendes: Ich weiß, dass ich heute Abend das
letzte Mal an diesem Pult stehe. Es ist ein besonderes Pult.
Ich werde sicherlich noch vor vielen Rednerpulten stehen,
aber nicht vor dem im Parlament. Das bleibt für mich ein
sehr bedeutender Ort. Deswegen habe ich einen Wunsch:
Denken Sie dann, wenn Sie hier Politik bewegen,
zunächst in Debatten und dann mit Entscheidungen, an
die Bedeutung des Wortes, das von Pulten dieser Art ausgeht, damit Parlamente stets Anlass haben zu sagen: Wir
verteidigen, was das Parlamentarische ausmacht.
Ich nehme Abschied, freudig, aber es ist auch ein Stück
schade.
Danke.
({9})
Liebe Kollegin Rita Süssmuth, es wird noch manche Gelegenheit
geben, Ihre Arbeit in diesem Haus und insbesondere Ihr
zehnjähriges Wirken als Präsidentin des Deutschen Bundestages zu würdigen. Was Sie gerade gesagt haben, war
eine kleine Liebeserklärung an dieses Parlament. Ich
möchte dazu von hier aus, sicherlich mit Ihrer Zustimmung, sagen: Daran, dass wir in unserem Land in den letzten 50 Jahren eine so friedliche und freiheitliche Entwicklung einer rechtsstaatlichen Demokratie erlebt
haben, hat der Deutsche Bundestag, die Volksvertretung,
einen ganz großen Anteil.
({0})
Ich beschränke mich heute Abend in diesem kleinen,
vertrauten, aber offensichtlich umso liebenswerteren
Kreis darauf zu sagen: Herzlichen Dank für Ihre Arbeit
und alles Gute für die persönliche Zukunft!
({1})
Nun gebe ich der Kollegin Rita Grießhaber für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Allen internationalen Organisationen stellt sich die Frage nach ihrer
Bedeutung, ihren speziellen Fähigkeiten und ihrer Rolle
in der internationalen Staatengemeinschaft, nicht erst seit
dem 11. September, aber seither ganz besonders. Die Anforderungen an die Vereinten Nationen werden immer
vielfältiger und anspruchsvoller. Die NATO steht kurz vor
der Erweiterung und vor der Herausforderung, Rolle und
Aufgabenfelder neu zu definieren. Die Europäische
Union erweitert und vertieft sich auf dem Weg, eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik mit entscheidenden militärischen Strukturen zu schaffen.
Was ist die Rolle der OSZE in dieser Situation? Sie
wird - das wurde im Bukarester Aktionsplan bekräftigt das Ihrige zum Beispiel im Kampf gegen den Terrorismus
beitragen. Dabei ist klar: Man darf von der OSZE viel erwarten, aber überfordern darf man sie nicht. Wir wissen,
wo ihre Vorteile, Stärken und Kompetenzen liegen. Sie
muss sich weiter auf das konzentrieren, was sie kann:
Frühwarnung, Krisenmanagement, Konfliktnachsorge
und - das ist ganz entscheidend - Hilfe beim Aufbau demokratischer Institutionen.
In diesem mühsamen Geschäft gibt es weder rasche
noch spektakuläre Erfolge. Es ist kein Geheimnis, dass
sich die Bekämpfung des Terrorismus, wo auch die
OSZE aktiv ist, nicht auf militärisches Vorgehen gegen
Straftäter erschöpfen kann. Regionale Konflikte, Armut
und Unterentwicklung müssen genauso bekämpft werden
wie zum Beispiel Illegalität.
({0})
Zur Verhinderung von Terrorismus gehört sehr viel: die
Bekämpfung von Armut, die Stärkung der Zivilgesellschaft, aber auch die Förderung der Rechte von ethnischen Minderheiten. Auch das ist eine ganz besondere
Spezialität der OSZE, wo sie sich hohe Kompetenz erworben hat.
Die OSZE kann aus der Pluralität und kulturellen Vielfalt ihrer Teilnehmerstaaten großes politisches Potenzial
schöpfen. Sie kann zur Beruhigung und Stabilisierung der
zentralasiatischen Region, insbesondere der Nachbarländer
Afghanistans, beitragen und sie kann helfen, Widersprüche
zwischen Islamisten und Säkularisten zu überbrücken. Als
optimistisches Beispiel sind die Erfahrungen in Tadschikistan zu nennen, wo sich im Rahmen eines Friedensprozesses Säkularisten und Islamisten auf die Auseinandersetzung
unter Vermittlung der OSZE darüber eingelassen haben,
wie der gemeinsame Staat und das Leben der Muslime in
ihm zu gestalten sind. Das ist ein großer Erfolg.
Die OSZE ist allerdings von einem Konzept für den
Umgang mit der Welt des Islam weit entfernt, sie hat auch
keine spezielle Strategie für den Umgang mit Islamisten.
Jedoch hat sie mit ihrer Konzeption „Sicherheit durch Demokratisierung“, welche das Kernstück ihrer Strategie für
Mittelasien bildet, im zentralasiatischen Raum de facto bereits auf den islamistischen Fundamentalismus reagiert.
Den Dialog der Kulturen trägt die OSZE erfolgreich in
diese Regionen, zum Beispiel mit einem im Februar organisierten runden Tisch in Tadschikistan zum Thema „Religionsfreiheit und freie Meinungsäußerung“ oder mit einer
Konferenz in Kirgisistan zur interreligiösen Toleranz.
Meine Damen und Herren, wo über die Rolle der OSZE
gesprochen wird, dürfen auch Themen wie Handel mit illegalen Drogen, Geldwäsche und illegaler Waffenhandel
nicht fehlen. Wir begrüßen die Ergebnisse der internationalen Konferenz von Bischkek gegen den Terrorismus. Es
gilt, gerade hier die internationale Zusammenarbeit auf
dem Gebiet der Verbrechens- und Terrorbekämpfung zu
intensivieren und die Partnerländer in Zentralasien mit
kompetentem Rat und technischer Hilfe zu unterstützen.
Illegaler Besitz von Waffen und die Verbreitung von
Kleinwaffen stellen ein enormes Gefahrenpotenzial dar.
Hier gilt es, die verschiedenen Exportkontrollregime weiterzuentwickeln. Bei der Umsetzung des Kleinwaffendokuments und bei der Vernichtung von Waffen und Munition hat Deutschland neben technischer Unterstützung
auch Schulungen anzubieten, wie zum Beispiel bei der
Beseitigung von Rüstungsaltlasten in Georgien. Dort helfen deutsche Experten, hochexplosiven Raketentreibstoff
unschädlich zu machen und zu entsorgen, und verhindern
damit, dass er in falsche Hände gelangen kann.
Meine Damen und Herren, dass die Zusammenarbeit von
55 höchst unterschiedlichen Mitgliedstaaten in einem Parlament nicht einfach ist, ist kein Geheimnis; dass das Konsensprinzip die Handlungsfähigkeit stark einschränkt, auch
nicht. Nun ist die OSZE ihrem Charakter nach bei ihrer Entscheidungsfindung vom Mehrheitsprinzip meilenweit entfernt. Aber es wäre schon sehr viel gewonnen, wenn Beschlüsse mit so genanntem annähernden Konsens gefasst
werden könnten. Wenn bis auf einige wenige alle einig sind,
wäre sie dann nicht weiter zur Untätigkeit verdammt. So
könnte nicht nur mehr demokratische Transparenz und Offenheit, sondern auch eine größere Politikfähigkeit erreicht
werden. Ich hoffe, dass wir genau dieses auf der Parlamentarierversammlung in Berlin erreichen.
({1})
Die Parlamentarische Versammlung der OSZE in Berlin wird, wie die vergangenen Parlamentarischen Versammlungen auch, wieder eine ganz besondere Rolle
spielen. Sie wird in der Praxis des parlamentarischen Dialogs die Grundwerte der Demokratie selbst beispielhaft
leben und dafür wünschen wir ihr sehr viel Erfolg.
({2})
Einen ganz besonderen Dank möchte ich an dieser
Stelle Ihnen, verehrte, liebe Frau Kollegin Süssmuth, für
die sehr gute Zusammenarbeit in den letzten Jahren sagen.
Sie sind ja Vizepräsidentin der Parlamentarischen Versammlung der OSZE. Für mich ist es immer wieder eine
ganz besondere Freude, zu erleben, wie Sie insbesondere
dort die weiblichen Abgeordneten mit Ihrem ermutigenden Beispiel stärken. Ich bin dafür dankbar, dass ich das
immer wieder miterleben durfte.
({3})
Frau Kollegin Grießhaber, wie ich gerade höre, ist das auch Ihre
letzte Rede gewesen ist. Daher möchte ich mich auch bei
Ihnen für Ihre Arbeit herzlich bedanken. Dieser Dank sei
von herzlichen und guten Wünschen für Ihre persönliche
Zukunft begleitet.
({0})
Nun gebe ich dem Kollegen Dr. Werner Hoyer für die
Fraktion der FDP das Wort - Herr Hoyer, möchten auch
Sie Ihre letzte Rede halten?
({1})
Herr Präsident, ich bitte,
nicht davon auszugehen, dass ich meine letzte Rede halte.
({0})
- Und das ist gut so!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Angesichts eines von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gemeinsam eingebrachten
und sehr breit unterstützten Antrags ist es kein Wunder,
dass es hier sehr viel Übereinstimmung gibt und dass bereits sehr viel Richtiges gesagt worden ist. Ich habe mich
deswegen entschlossen, mein Manuskript zur Seite zu legen und mich auf einige wenige Punkte zu beschränken.
Frau Professor Süssmuth - häufig spreche ich noch von
„Frau Präsidentin“ - hat an vieles erinnert, was zur Entstehungsgeschichte der Parlamentarischen Versammlung
der KSZE gehört. Ich erinnere mich noch sehr genau an
Sitzungen in Madrid, in denen Sie die Verhandlungen für
Deutschland geführt haben. Aufgrund anderweitiger Verpflichtungen haben Sie mir in langen nächtlichen Sitzungen die Verhandlungsführung übertragen. In diesen Verhandlungen war völlig klar: Die Erwartungen an die
Parlamentarische Versammlung der OSZE sind sehr unterschiedlich, sehr kontrovers. Eine offene Frage war: Wie
ist das Verhältnis zwischen NATO und OSZE? Die Hauptsorge der amerikanischen Freunde war, dass es eine Konkurrenzbeziehung gibt, die wir von vornherein ausblenden müssen. In diesem Punkt gab es gerade zwischen den
Partnern auf den beiden Seiten des Atlantiks von vornherein keineswegs einen Konsens.
Mein alter Freund Steny Hoyer, ein US-Kongressabgeordneter aus Maryland, führte damals die amerikanische Delegation. Ich werde nie vergessen, wie nachts um
drei Uhr der spanische Politiker Cortez, der die Versammlung leitete, sagte: Oh no, it’s Hoyer versus Hoyer
again. Die Verhandlungen waren also gar nicht so einfach,
weil wir erst einmal einen langen Weg hinter uns bringen
mussten, um Meinungsunterschiede zu überwinden.
Wir haben dann große Erfolge von KSZE und OSZE
erlebt. Möglicherweise sind manche Probleme, auch was
Begrifflichkeit und Namen angeht, darauf zurückzuführen, dass „Konferenz“ häufig viel zu statisch als ein
Event, als ein Ereignis, bei dem man zusammenkommt
und über etwas verhandelt, und nicht als ein Prozess begriffen wird. Natürlich waren KSZE und OSZE von vornherein als Prozess angelegt. Ich bin stolz, dass liberale
Außenpolitiker - von Scheel über Genscher bis hin zu
Kinkel - zum Erfolg von KSZE und OSZE weitgehend
beigetragen haben.
Ich freue mich, dass es gelungen ist, diesen gemeinsamen
Antrag zustande zu bringen. Ich hoffe, dass es gelingen
wird, die Parlamentarische Versammlung wirklich zu stärken. Das heißt - Sie haben es angesprochen -, es gilt, dafür
zu sorgen, dass sie auch von den Regierungen ernst genommen wird. Sie sollte übrigens ernster als heute Abend genommen werden; schließlich glaubt das zuständige Ressort
hier nicht vertreten sein zu müssen, wenn wir über die Parlamentarische Versammlung der OSZE diskutieren.
({1})
- Sehr verehrte Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, in allen
Ehren: Diese Angelegenheit ist immer ein Projekt des
Auswärtigen Amtes gewesen und wird es auch immer
bleiben. Und auch das ist gut so!
Ich finde es auch erfreulich, dass wir die Möglichkeit
hatten, einige Ideen in diesen gemeinsamen Antrag einzubringen. Das betrifft zum Beispiel die Frage, inwiefern
wir Konsequenzen aus den Erfahrungen mit KSZE und
OSZE ziehen können, wenn es darum geht, sich mit Konfliktregionen auseinander zu setzen, die, wie der Nahe
Osten, unsere größtmögliche Aufmerksamkeit erfordern.
Auf einer dort stattfindenden Konferenz ähnlichen Typs
müssen verschiedene Körbe, auf die ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen kann, zusammengefügt werden, um sicherzustellen, dass dort eine umfassende Sicherheitslösung gefunden wird.
Ich bin hinsichtlich eines Punktes etwas unglücklich:
Es ist nicht gelungen, die Frage des Zusammenhangs zwischen OSZE und UNO zu behandeln. Ich bin der Überzeugung, dass wir, wenn endlich der große Reformprozess der Vereinten Nationen vorankommt, die OSZE
als eine regionale Abmachung im Sinne der Charta der
Vereinten Nationen begreifen und die entsprechenden
Rechte und Pflichten für die OSZE verankern müssen.
({2})
Ich denke, wir sollten noch einmal darüber sprechen.
Letzter Punkt. Wir müssen die Begriffe klar haben.
Vieles hat uns in der Vergangenheit behindert, weil es
keine wirklich präzise Unterscheidung zwischen Systemen kollektiver Verteidigung und Systemen kooperativer Sicherheit gab und gibt. Wir sollten auch heute
sicherstellen, dass diese Dinge nicht miteinander vermischt werden. Denn es ist ganz wichtig, klar zu machen,
dass wir die OSZE niemals als eine Konkurrenzveranstaltung zur NATO begriffen haben. Niemals haben wir die
Konkurrenz zwischen kooperativer Sicherheit und kollektiver Verteidigung organisiert. Wir sehen allerdings
sehr wohl, welch wesentlichen Beitrag ein leistungsfähiges System kollektiver Verteidigung für die Erreichung der Ziele eines Systems kooperativer Sicherheit
erbringen kann, wie es sich sehr deutlich auf dem Balkan
gezeigt hat und wie ich es mir auch für unsere gemeinsame Arbeit in Afghanistan gewünscht hätte.
In diesem Sinne, Frau Professor Süssmuth, möchte ich
die Kolleginnen und Kollegen, die damals nicht das Glück
hatten, in Madrid dabei sein zu können, noch einmal darauf
aufmerksam machen: Es war ganz wesentlich Ihr persönlicher Beitrag, mit dem das zustande gebracht werden konnte,
was aus der Parlamentarischen Versammlung der KSZE geworden ist. Auf einer Veranstaltung, die übernächste Woche
in Berlin stattfinden wird und zu der wir unsere Kolleginnen
und Kollegen aus den Partnerländern sehr herzlich begrüßen
wollen, wird dies weiterentwickelt werden.
({3})
Die Kolle-
gin Heidi Lippmann von der Fraktion der PDS gibt ihre
Rede zu Protokoll.1)
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der FDP mit dem Titel „Parlamentarische Dimension und die Zukunft der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/9554? -Wer stimmt dagegen? -Wer
enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses
bei Enthaltung der Fraktion der PDS angenommen.
Nun rufe ich in dieser freundlichen Abendstunde Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sperrzeiten für Gaststätten und Biergärten
kundenfreundlicher gestalten
- Drucksachen 14/6188, 14/9520 Berichterstattung:
Abgeordnete Brunhilde Irber
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der Debatte ist für die FDP-Fraktion der Kollege Ernst
Burgbacher.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Zu später Stunde ist
dies eine Debatte über ein Thema, das gerade jetzt viele
Leute draußen bewegt.
({0})
- Es wäre gar nicht schlecht gewesen, das drüben in der
PG zu machen, aber hier ist der Ort der Entscheidung.
Es ist eine Frage, die nicht wenige Menschen bewegt,
weil viele jetzt in gemütlicher Runde draußen sitzen und
wissen: In einer halben Stunde ist Schluss, weil die Bürgersteige bei uns um 22 Uhr hochgeklappt werden. Dies
geschieht selbst in dieser Zeit, in der es ein paar schöne
Tage gibt. Ausländische Touristen, die zu uns kommen,
stehen staunend vor geschlossenen Gaststätten, weil sie es
von Zuhause anders gewohnt sind.
Auch wenn das Thema vielleicht etwas nebensächlich
klingt, ist es für den Tourismusstandort Deutschland
und für den Wirtschaftsstandort Deutschland kein nebensächliches Thema. Deshalb sollte man es einigermaßen ernst nehmen.
({1})
Für viele Gaststätten und jetzt insbesondere für Bier-
gärten, Nachtcafés und auch für Diskotheken hängt von
dieser Frage einiges ab. Während viele Regelungen
althergebracht sind - wir haben heute schon im Zusam-
menhang mit anderen Punkten darüber diskutiert -, haben
sich die Lebensbedingungen einfach verändert. Die Men-
schen gehen später aus und sie bleiben gerne länger sit-
1) Anlage 7
zen. Wir haben das nie der Sommerzeit angepasst, auch
die alte Regierung nicht; das gebe ich gerne zu. Seit Einführung der Sommerzeit haben wir an den Sperrzeiten
nichts geändert.
In diesem Zusammenhang ist es nicht hinzunehmen,
dass wir als Bundesgesetzgeber zuschauen, wie sich ein
Land nach dem anderen nicht mehr an Gesetze des Bundes
hält. Eine ganze Reihe von Ländern geht mit diesem Thema
völlig anders um; jüngste Beispiele sind Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen. Es kann nicht sein, dass
wir nicht bereit sind, Regelungen anzupassen, wenn sie in
den Ländern gar nicht mehr eingehalten werden.
({2})
Wir beantragen heute ganz konkret zweierlei: Erstens
wollen wir § 18 des Gaststättengesetzes dahin gehend ändern, dass die Regelung wegfällt, dass Länder eine Sperrzeitenverordnung erlassen müssen. Damit wollen wir die
Länder zwingen, über ihre Regelungen nachzudenken.
Vor allem aber wollen wir die Verfahrenslast umdrehen.
Heute bedeutet es bürokratischen Aufwand, wenn ein
Gastwirt eine Ausnahmegenehmigung von der Sperrzeitenregelung beantragt; außerdem muss er bei jedem Antrag neu dafür bezahlen. Käme der Bundestag dieser Forderung der FDP nach, entfielen künftig der bürokratische
Aufwand ebenso wie die Kosten für den betroffenen Gastwirt. Wir sind davon überzeugt, dass es der richtige Weg
wäre, wenn über diese Fragen in den Ländern oder - noch
besser - in den Kommunen entschieden würde.
({3})
Zweitens. Im Hinblick auf die Außengastronomie
haben wir eine seltsame Gesetzeslage. Eigentlich gibt es
gar keine Verordnung. Das Thema ist aus den Lärmschutzverordnungen herausgenommen. Die Gerichte berufen sich aber nach wie vor auf sie und entscheiden, dass
um 22 Uhr Schluss ist. Hieraus hat das Parlament bisher
keine Konsequenzen gezogen. Das kann es aber nicht
sein. Was für die Sportstätten gilt - niemand von uns
zweifelt daran, dass es richtig ist, dass ein Fußballspiel
stattfinden kann -, soll jetzt genauso für die Außengastronomie gelten. Wir wollen eine neue Bundes-Immissionsschutzverordnung, die menschlichen Lärm anders als
Maschinenlärm regelt. Es ist doch etwas ganz anderes, ob
Menschen lachen oder ob irgendwo eine Maschine
dröhnt. Wir erbitten auch für diese Änderung Ihre Zustimmung.
({4})
Meine Damen und Herren, die Menschen, die jetzt
draußen in den Biergärten sitzen, verstehen wirklich
nicht, was wir machen. Warum lassen wir den Menschen
denn nicht ihre Freude?
({5})
Warum sagen wir denn nicht, ob dies als störend empfunden wird oder nicht, sei eine Frage der Toleranz, die vor
Ort von den Beteiligten entschieden werden muss?
Warum müssen wir eigentlich alles und jedes von Berlin
aus regeln? Wir wollen das nach unten verlagern.
Nun weiß ich natürlich, liebe Kollegin Bruni Irber, wie
die Mehrheitsverhältnisse heute aussehen werden.
({6})
Ich empfinde das als schade. Bei Einbringung unseres Antrages hat der damalige Staatssekretär Siegmar Mosdorf
gesagt, er halte dies für eine gute Sache, die verwirklicht
werden sollte.
({7})
In der letzten Debatte hat meine sehr geschätzte Kollegin
Bruni Irber gesagt, sie stehe dem FDP-Antrag sehr wohlwollend gegenüber. Dies kann man dadurch unter Beweis
stellen, dass man nachher an der richtigen Stelle die Hand
hebt; so einfach ist das.
({8})
In der letzten Debatte - manchmal lohnt es sich, das
Protokoll nachzulesen - hat die seinerzeit amtierende
Vizepräsidentin Anke Fuchs von der SPD die Debatte
mit dem Hinweis geschlossen, sie hoffe, dass die Neuregelung so zügig verabschiedet werde, dass wir alle im
nächsten Sommer davon profitieren können. Wenn so viel
Schönes gesagt wird, dann gibt es nur eines: Stimmen Sie
unserem Antrag heute zu! Springen Sie über den Schatten,
auch wenn er von der FDP kommt! Es ist vernünftig,
wenn wir für eine Mehrheit im Sinne unserer Bürger und
vieler Gastwirte sorgen. Damit machen wir einen Schritt
zur Entbürokratisierung und zu weniger Kosten. Ich bitte
Sie herzlich um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile der
Kollegin Brunhilde Irber für die Fraktion der SPD das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sommerzeit, Biergartenzeit - wunderbare Zeit!
({0})
Unsere Fraktion unterstützt einhellig das Ziel des Antrags
der FDP.
({1})
In der Debatte in unserer Fraktion hat meine Aussage,
dass wir die Sperrzeiten in Biergärten verkürzen wollen,
große Zustimmung erfahren.
({2})
Den sofort einsetzenden Protesten von Bürgerinnen und
Bürgern, die große Sorge um eine Liberalisierung der Sperrzeiten haben, sind wir gezielt entgegengetreten. Zusammen
mit dem DEHOGA haben wir Überlegungen dazu angeErnst Burgbacher
stellt, wie eine pressewirksame Öffentlichkeitsarbeit entwickelt werden kann, um in der Bevölkerung das Ziel der
Veränderung der Sperrzeiten zustimmungsfähig zu machen.
({3})
Wir wissen auch, dass eine Vielzahl von Gaststätten
insbesondere in der Sommerzeit durch Biergärten das
Geld verdienen muss, mit dem sie ihren Betrieb im Winter über die Runden bringen und damit auch Stammkräfte
in der einkommensschwächeren Zeit als Mitarbeiter behalten kann. Wir wissen ebenso, dass eine Bundes-Immissionsschutzverordnung aber niemals in der Lage sein
kann, effizient zwischen menschlichem Lärm und Maschinenlärm zu differenzieren. Wir wissen auch, dass die
Sperrzeiten in der Außengastronomie die Stimmungsbremse schlechthin sind. Wenn es um 22 Uhr heißt;
Schluss der Vorstellung, dann schafft dies Unmut bei den
Gästen und verhindert Umsätze.
Aber trotzdem kommen wir an einem Punkt nicht vorbei. Lieber Kollege Ernst Burgbacher, euer Antrag zielt
darauf ab, in die ausschließliche Entscheidungshoheit
der Länder in Sachen Sperrzeiten einzugreifen
({4})
und aus der bisherigen Länderkompetenz eine Bundeskompetenz zu machen. Dabei spielen unsere Länder
und auch die B-Länder nicht mit.
({5})
Jedes Bundesland, das eine liberalere Regelung
wünscht, kann diese treffen. Das hast du eben anhand des
Beispiels Baden-Württemberg bewiesen. Aber wenn wir
den Antrag der FDP umsetzten, dürfte kein Land mehr
eine eigenständige Entscheidung treffen.
({6})
Dies geht nicht nur mit dem Freistaat Bayern nicht, sondern auch nicht mit den Ländern, in denen die FDP mit in
der Regierung ist.
({7})
Sonst ist die FDP doch immer für die Subsidiarität; hier
macht sie auch Sinn. Wie wollen wir von Berlin aus wissen, welche Sperrzeitverkürzung im Bayrischen Wald oder
an der Nordsee für die Anwohnerschaft vertretbar ist?
({8})
- Ja, denn bei uns gibt es keine so dicht besiedelten Gebiete. Das ist richtig.
Deshalb meine ich, das sollte am besten vor Ort von
den Ländern bzw. von den Kommunen entschieden
werden.
Eine Regelung über eine BImSchV Außengastronomie entwickelt doch genau die Bürokratie, die auszuweiten ihr uns in jeder Sitzung vorwerft. Man stelle sich einmal dieses Szenario vor: Es wird ein Grenzwert
festgelegt; ein Anwohner hat aber das Gefühl, dieser sei
überschritten, und ruft die Polizei. Sie müsste dann anrücken und mit einem Lärmmessgerät ausgestattet sein,
das circa 500 Euro kostet, und müsste eine gerichtsfeste
Auswertung des gemessenen Wertes liefern.
({9})
Anschließend ginge es in der bürokratischen Mühle weiter. Da kann ich nur sagen: Oh heiliger Bürokratius!
({10})
Deswegen können wir eurem Antrag in der vorgelegten
Fassung nicht zustimmen. Wir fordern die FDPdeshalb auf,
({11})
in allen Länderparlamenten Anträge mit der Maßgabe
zu stellen, dass die Länder nicht über komplizierte Bestimmungen, sondern per Beschluss eine großzügigere
Regelung in die jeweiligen Landesverordnungen über die
Sperrzeiten einbauen. Unser Vorschlag für eine solche
Regelung wäre, in den Monaten, in denen die Sommerzeit
gilt, der Außengastronomie eine um eine Stunde verkürzte
Sperrzeit zuzubilligen. Mit anderen Worten: Wir legen
fest, dass die Sperrzeit auf 22 Uhr mitteleuropäischer Zeit
festgeschrieben wird. Das würde automatisch bedeuten,
dass sie bei der mitteleuropäischen Sommerzeit um eine
Stunde nach hinten auf 23 Uhr verlegt würde.
({12})
Wir wissen den DEHOGA bei einer Kampagne an unserer Seite, um eine solche Veränderung durchzusetzen.
Ich will aber trotzdem daran erinnern, dass eine solche
Änderung mit der allgemeinen Nachtruhe kollidiert. Entsprechende Schadenersatzansprüche bleiben bestehen.
Wenn man dieses Problem grundsätzlich angehen will,
muss man eben alle Gesetze verändern, die heutzutage die
Nachtruhe auf 22 Uhr festschreiben.
({13})
Es tut mir außerordentlich Leid, aber der Antrag ist
eben nicht auf eine Entscheidung im Bundestag orientiert,
({14})
sondern kann sich nur an die Länder richten. Mit unserem
Tourismusförderprogramm haben wir bereits erreicht,
dass alle Länder außer Bayern eine großzügigere Neuregelung bei der allgemeinen Sperrzeit geschaffen haben.
Das wünschen wir uns auch für die Biergärten. Ich fordere
die CSU-Abgeordneten in diesem Saale auf, in Bayern in
ihrem Regierungslager dafür zu sorgen, dass die allgemeine Sperrzeit wie in den anderen Bundesländern auf die
Besenstunde verkürzt wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Hinsken.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich
vor, Sie säßen jetzt im Biergarten und müssten schnell
trinken, damit Sie bis 22 Uhr das Glas leer haben, weil um
22 Uhr geschlossen wird. Verehrte Frau Kollegin Irber,
das, was Sie hier vorgeführt haben, war ein Eiertanz par
excellence.
({0})
Wenn man von einer Sache so überzeugt ist, wie Sie das
meinten, zum Ausdruck bringen zu müssen, dann sollte
man auch dafür eintreten. Aber leider tun Sie das nicht.
({1})
Mehr als ein Drittel aller Bürger wollen in diesem Jahr
den Sommerurlaub zu Hause verbringen, wie Meinungsforscher herausgefunden haben. Wer aber seinen Urlaub
schon auf Balkonia verbringt, geht abends natürlich gerne
einmal in einen Biergarten oder in ein Straßencafe;
({2})
schließlich möchte man sich ein Stück annehmbares Lebensgefühl nach Hause holen. Was erwartet den Urlauber
da? - Gerade dann, wenn es gemütlich wird, werden die
Stühle hochgestellt. In keinem anderen europäischen
Land gibt es eine ähnlich rigide Sperrzeit wie bei uns.
({3})
Bei den meisten unserer Nachbarn kennt man sogar überhaupt keine Sperrzeiten.
({4})
Eine flexiblere Gestaltung der Sperrzeitenregelung in
der Außengastronomie ist daher längst überfällig. Ich
möchte den Kollegen Burgbacher nachhaltig unterstützen
und ihm Recht geben.
({5})
Bisher müssen die Biergartenwirte meist kostspielige
Sondergenehmigungen einholen, bevor sie auch nach
22 Uhr ihren Gästen noch ein kühles Bier servieren können.
({6})
Unser Ziel muss es sein, dieses Verfahren zu ändern; da
pflichte ich der Frau Kollegin Irber bei - sie möchte, aber
sie kann nicht und darf nicht.
({7})
Wir meinen, die Sperrzeit sollte auf 24 Uhr verlängert
werden. Um den Interessen von Anwohnern und Nachbarn Rechnung zu tragen, muss den Städten und Gemeinden aber die Möglichkeit gegeben sein, im Einzelfall
strengere Regelungen zu treffen. Vor Ort ist man nämlich
am besten in der Lage, die lokalen und kulturellen Besonderheiten zu berücksichtigen.
Den verantwortlichen Bürgermeistern stellt sich allerdings das Problem, wie sie Geräusche, die der Betrieb einer Außengastronomie verursacht, beurteilen sollen. Es ist
doch unmöglich: Aus Hilflosigkeit behandeln Behörden
und Gerichte Lärm aus menschlicher Kommunikation einfach wie Industrielärm. Kann man aber Reden und Lachen wirklich mit Bohren, Hämmern oder Sägen vergleichen? Bei den Sportanlagen wurde dieses Problem
erkannt; daher gibt es seit einigen Jahren eine Immissionsschutzverordnung für Sportstätten. Deshalb fordern
wir mit der FDP die Bundesregierung auf, eine entsprechende Verordnung für die Außengastronomie zu erlassen.
({8})
Seit immer mehr Gewerbe- und Einzelhandelsansiedlungen
auf der grünen Wiese die Kundenströme anziehen, haben
unsere Innenstädte eine Wiederbelebung dringend nötig.
Insbesondere die abendliche Öffnung von Straßencafés und
Außenterrassen könnte hierzu wesentlich beitragen. Eine
größere Attraktivität der Innenstädte käme wiederum dem
Tourismusstandort Bundesrepublik Deutschland zugute.
({9})
Aber nicht nur der Tourismusstandort, sondern auch unser Gastgewerbe hätte etwas von dieser Regelung. Das
Statistische Bundesamt hat für April dieses Jahres immerhin einen Umsatzrückgang von vier Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum vermeldet.
({10})
Die Gastwirte könnten dieses Bonbon wirklich gut
gebrauchen, sind sie doch durch die Neuregelung der
325-Euro-Jobs und durch die Ökosteuer von Ihnen arg gebeutelt worden. Deshalb sollten diese Änderungen vorgenommen werden.
({11})
Die Außengastronomie ist aber nur eine Seite der Medaille. Der Antrag der FDP-Fraktion zielte im zweiten Teil
auf die Freigabe der Sperrzeit für die Innengastronomie.
Dies macht natürlich auch Sinn, denn gerade in den Großstädten haben sich die Lebensgewohnheiten der Bürger in
den letzten Jahren entscheidend verändert. Dies gilt insbesondere für die Jugend. Die Sperrzeiten bei der Innengastronomie sind von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich geregelt.
(Brunhilde Irber [SPD]: Genau!
Wer die Sperrstunde verlängern möchte, braucht eine
Ausnahmegenehmigung, die natürlich Geld kostet.
({12})
Somit haben wir schon wieder zwischen den Bundesländern Wettbewerbsverzerrungen, ganz zu schweigen von
den Wettbewerbsverzerrungen im Grenzgebiet zum Ausland.
({13})
Daher sollte man sich die Änderung des § 18 des Gaststättengesetzes wirklich einmal durch den Kopf gehen
lassen: Denn vom Grundsatz her gibt es keine Sperrzeiten; den Ländern und Kommunen bleibt es freigestellt,
angepasst an die örtlichen Gegebenheiten, Sperrzeitenregelungen zu erlassen oder eben nicht.
({14})
Der Interessen der ruhebedürftigen Anwohner wird auf
dieser Basis ebenso entsprochen, wie es durch die derzeitige Regelung der Fall ist. Die zumeist mittelständischen Gastwirte würden indes erheblich entlastet und der
Steuerzahler bekäme gleichzeitig einen schlankeren
Staat.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn der Bürger
schon tagsüber fast nicht mehr erträglich durch Bürokratie gegängelt wird,
({15})
dann sollte er wenigstens am Abend unbürokratisch sein
Bier trinken können. Diese Meinung vertreten wir.
({16})
- Sie auf der linken Seite des Hauses erwecken den Eindruck, als kämen Sie eben aus einem Biergarten. Diesen
Eindruck vermitteln Sie mir.
({17})
- Ich glaube, ich liege mit dieser Einschätzung nicht ganz
falsch. Aber ich möchte das lobend hervorheben, weil Sie
dadurch der Hotellerie und Gastronomie einen Schub gegeben haben, den Sie ihr durch eine politisch falsche Weichenstellung entzogen haben.
Herr Kollege
Hinsken, wollen Sie eine Zwischenfrage beantworten?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Hinsken, bei
aller Ernsthaftigkeit in der Diskussion um das Thema
Sperrstunde frage ich mich: Meinen Sie nicht auch, dass
es, wenn wir über die 22-Uhr-Regelung nachdenken, vernünftiger wäre, wenn der Mann bei der Frau und die Frau
beim Mann wäre, damit Familienleben noch gelingen
kann?
({0})
Wenn ich die Möglichkeit habe, in einen Biergarten zu gehen, dann ist meine
Frau selbstverständlich dabei.
({0})
Im Gegenteil vielleicht zu Ihnen werde ich von meiner
Frau immer wieder animiert, hin und wieder eine Stunde
Zeit zu opfern, um mit ihr wenigstens bis 22 Uhr einen
Biergarten aufsuchen zu können. Dann habe ich alle Not,
ihr klar zu machen, dass ich gerne länger bleiben würde,
aber die SPD dagegen ist.
Danke schön.
({1})
Das sind die Debatten an einem Sommerabend. - Das Wort hat jetzt die
Abgeordnete Sylvia Voß.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich wäre lieber heute Abend mit meinem Mann in
einem Biergarten; aber leider hindert mich die FDP daran.
Das finde ich nicht ganz fair.
({0})
Erst vor einer Woche war Sommeranfang und wir hatten schon ein paar schöne Abende, eigentlich ein zünftiger Auftakt. Wenn wir aber das Wort „zünftig“ hören, fällt
uns sogleich der Bayer in der Krachledernen oder die
Bayerin im Dirndl ein. Denn in wohl keinem anderen
Land gehören die Biergärten fester zur Freizeitgestaltung
als in Bayern.
({1})
Aber ausgerechnet in Bayern - wie wir wissen, der
Hochburg der CSU, Herr Hinsken - hat vor wenigen Tagen jemand klar gemacht, dass an der Sperrzeit festgehalten wird.
({2})
Wie erklären Sie sich das? Wieder einmal stellt die
CDU/CSU-Fraktion in diesem Parlament ihr Talent unter
Beweis, in der Opposition immer alles zu kritisieren oder
zu fordern, was sie in ihrer eigenen Regierungszeit nicht
gemacht hat.
({3})
Bemerkenswert ist auch die Begründung aus Bayern;
denn in Bayern - ich zitiere aus einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ - „vertritt man die Auffassung, dass
die Stadt“ - gemeint ist München - „sowieso schon liberal
mit der Verordnung umgeht“. Genau das ist der Punkt. Die
derzeitige Handhabung der Sperrzeitenregelung ist nämlich schon jetzt kundenfreundlich. Es gelten zwar deutschlandweit Sperrfristen, aber - das haben Sie selbst zugegeben - sie können durch Ausnahmen individuell an die
jeweilige Einrichtung und Umgebung angepasst werden.
Das regeln die Länder. In vielen Fällen geben sie die Kompetenz auch an die betreffenden Kommunen ab, da diese
sich von der Situation vor Ort ein noch viel genaueres Bild
machen und der Lage angemessen entscheiden können.
In der Debatte vor einem Jahr waren wir uns alle relativ darin einig, dass sich die Lebensgewohnheiten vieler
Menschen geändert haben. Wir zogen daraus den Schluss,
dass längere Ausschank- und Öffnungszeiten für die vielen Biergärten, Weinstuben und Lokale attraktiv wären
und somit auch durchaus touristischen Wert hätten.
({4})
Doch in einer Sache waren wir uns nicht einig. Die Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU vergaßen nahezu
komplett, dass Anwohner auch noch Bedürfnisse haben.
Diese Tatsache haben sie total ausgeblendet.
({5})
Zwar lieferten die lieben Kollegen halbherzige Mitleidsbekundungen in Richtung der Anwohner; aber das musste reichen. Tenor war, dass es sich doch nur um ein paar warme
Tage im Jahr handele und dass es schon gut gehen werde.
Das unterscheidet uns aber von Ihnen: Wir versuchen nämlich, optimale Lösungen für alle Beteiligten zu finden. Deswegen können wir dem Antrag der FDP nicht zustimmen.
({6})
Wir wollen uns doch nichts vormachen, Herr Hinsken.
Es geht doch nicht nur um die paar Tage, die wirklich
warm und schön sind und an denen man in diesen nördlichen Breiten draußen sitzen kann. Schon bei den ersten
Sonnenstrahlen im März oder April werden Stühle und
Tische herausgeholt. Die Wirte scheuen auch schon längst
nicht mehr vor der Anschaffung von Wärmestrahlern
zurück, die man herausstellen kann, damit man noch im
Oktober lange an der frischen Luft sitzen kann, weil es
den Gästen wohlig und warm ist.
({7})
- Ich gebe Ihnen Recht, dass das schön ist. Aber wir müssen auch die Belange der Anwohner berücksichtigen.
({8})
Zurück zu Ihren völlig richtigen Bemerkungen, dass
sich die Lebensgewohnheiten ändern und dass man aufgrund der veränderten Arbeitsbedingungen später mit
dem Feiern beginnen kann. Leider ist Ihnen nicht in den
Sinn gekommen - eine Kollegin hat eben schon von ihrem
Bedürfnis gesprochen -, dass nicht alle Menschen, die
erst um 19, 20 Uhr oder - wie wir - noch viel später das
Büro verlassen, schnurstracks in den nächsten Biergarten
laufen. Nein, auch in die entgegengesetzte Richtung haben sich Lebensgewohnheiten geändert. Viele Menschen
sehnen sich heute einfach nach mehr Ruhe. Wo kämen
wir denn hin, wenn diese Ruhe zu keiner Zeit mehr und
nicht einmal in den eigenen vier Wänden garantiert werden könnte?
Vielerorts haben sich Clearingstellen bewährt - das
wissen wir -, in denen man versucht, die gegnerischen
Seiten zu einem Kompromiss zu führen. Das funktioniert
auch in den meisten Fällen. Wir wollen, dass dieser Weg
weiter beschritten wird. Allerdings - das ist Ihnen offensichtlich entgangen oder Sie blenden das immer wieder
aus - verzeichnen wir eine Zunahme der Beschwerden.
Das heißt: Rücksichtslosigkeit ist durchaus an der Tagesordnung. Wohin würde es wohl führen, wenn wir die
Sperrzeiten ganz aufgeben und den Weg für die große
Tag-und-Nacht-Party frei machen würden?
Herr Hinsken hat vorhin gesagt, dass es diese Sperrzeiten in keinem anderen europäischen Land geben
würde. Ich kann hier konstatieren, dass es in keinem anderen europäischen Land so viel Rücksichtslosigkeit, so
viel lautes Grölen und so viel Randale in bier- und weinseliger Laune gibt.
({9})
Das ist wohl wahr. Wer in der Toskana war, hat feststellen
können, dass dort nicht so herumgegrölt wird wie in
Deutschland. Auch in der Provence gibt es das nicht.
({10})
Dort geht es trotz der Möglichkeit, lange draußen zu sitzen, viel ruhiger und romantischer zu.
Ich sage Ihnen noch einmal: Schon jetzt gibt es für die
Kommunen die Möglichkeiten individueller Regelungen.
Warum brauchen Sie dann diesen bier- bzw. weinseligen
Antrag zu dieser Zeit? Wir unterstützen die von Ihnen gezogenen Schlüsse nicht und sagen Nein zu Ihrem Antrag.
Vielen Dank.
({11})
Die Kollegin
Neuhäuser hat gebeten, Ihre Rede zu Protokoll geben zu
dürfen.1)
({0})
Aber der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt
möchte sprechen.
({1})
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Freund der
Biergärten möchte ich hier noch unbedingt etwas sagen,
({0})
obwohl ich nach den Einwendungen des Kollegen
Hinsken das Gefühl habe, dass ich etwas überfordert bin.
({1})
1) Anlage 8
Eines möchte ich feststellen: Als Berliner haben wir die
mit langen Öffnungszeiten von Biergärten verbundenen
Probleme nicht so unmittelbar, obwohl es auch hier sehr
differenzierte Situationen gibt. Wir alle wollen im Biergarten sitzen, Herr Hinsken, und das mit oder ohne Frau
bzw. mit oder ohne Mann, je nachdem, wie es gerade
passt. Wir wollen der Wirtschaft in unserer Stadt und in
unserem Land dazu verhelfen, mehr Umsätze zu machen
und attraktiver zu erscheinen.
Auch mich beunruhigen die zwischen den einzelnen
Bundesländern bestehenden Unterschiede bei den Öffnungszeiten von Biergärten und die daraus folgenden
Wettbewerbsverzerrungen sehr. Jede Landesregierung,
jede Kommune ist gehalten, ihre Spielräume auszuschöpfen; Sie wissen das.
Ich habe übrigens gehört, Bayern soll, was die Biergärtenöffnungszeiten betrifft, die rote Laterne erhalten haben. Kann das sein, Herr Hinsken?
({2})
Es soll einschlägige Gerichtsurteile geben, bis hin zu einem Urteil zum Sperrbezirk, über den im Rahmen der
neuen deutschen Welle gesungen worden ist.
({3})
Da ging es aber nicht um den Biergarten, sondern um etwas anderes, was sich in Ihrer Landeshauptstadt abgespielt haben soll.
Auf jeden Fall sollten wir die Kirche im Dorf lassen.
Ich habe ganz große Probleme damit,
({4})
dass die Partei der Freiheit, der Liberalität und der Deregulierung auf einmal fordert, die Öffnungszeiten vor Ort
möglichst europarechtlich zu regeln, um dem Ganzen ein
Dach zu verleihen, das Ganze aber zumindest in einer
bundeseinheitlichen Regelung zu klären.
({5})
Ist das alles nicht ein bisschen übertrieben, liebe Kolleginnen und Kollegen?
({6})
Lassen wir die Kirche im Dorf und überlassen wir dem
Dorfschulzen die Entscheidung, ob er an der einen oder
anderen Ecke in dieser oder in jener Weise arbeiten
möchte! Das wird sich schon richten. Vielleicht ist dieser
Antrag ja auch damit zu verbinden, dass die FDP im
kommunalen Bereich relativ spärlich vertreten ist.
({7})
Vor diesem Hintergrund hat die FDP das Problem, dort
nicht ihre Finger im Spiel zu haben.
Bei aller Sympathie für lange Öffnungszeiten von Biergärten apelliere ich an Sie: Seien Sie an dieser Stelle liberal, offen und weiterhin dezentral orientiert! Das ist der
Weg, auf dem wir am ehesten einen Kompromiss zwischen demjenigen finden, der sich vielleicht durch Lärm
belästigt fühlen könnte, und demjenigen, der gerne noch ein
oder zwei Stunden länger seinen Schoppen trinken würde.
Eines füge ich hinzu: Man kann im Übrigen auch durch
die Wahl des Biergartens entscheiden, ob man länger in
demselben verweilen darf oder nicht. Das hängt eben immer ein bisschen davon ab, ob es sich um einen Biergarten in einem dicht besiedelten Ortsteil oder gegebenenfalls eher an der freien Luft, in der Nähe eines Waldes oder
einer Wiese, handelt.
({8})
Insofern sollten Sie hier differenzieren, sich öffnen und
Ihrer liberalen Grundgesinnung zum Durchbruch verhelfen. Das wäre mein Vorschlag, Herr Kollege.
Gestatten Sie
denn eine Zwischenfrage, Herr Staatssekretär?
Immer.
({0})
- Eine Zwischenfrage darf er. Wir haben jetzt 22 Uhr,
noch könnten wir im Biergarten weitermachen. Also lassen Sie ihn bitte ran.
Herr Staatssekretär Staffelt,
wären Sie wenigstens bereit, unseren Antrag zu lesen?
({0})
Und wenn Sie dann gelesen haben, dass wir jede bundeseinheitliche Regelung abschaffen wollen, sind Sie dann
bereit, unserem Antrag zuzustimmen?
Danke schön.
Herr Hinsken,
Sie klatschen so, als wäre das Ihr Antrag. Ich war kürzlich
bei Ihnen in der Gegend im Urlaub. Da haben Sie ja nicht
einmal durchgesetzt, dass man nach 20 Uhr noch etwas
Ordentliches zu essen bekommt.
({0})
Zugegebenermaßen war Winter.
({1})
- Das sollten Sie zurücknehmen.
Herr Staatssekretär, die Frage hatte jetzt aber nicht Herr Hinsken gestellt.
Ich sage Ihnen:
Ich unterstütze den Antrag der FDP-Fraktion nicht. Ich bin
nach wie vor - ähnlich, wie schon von anderen vorgetragen - der Auffassung, dass wir das den kommunalen und
den landesrechtlichen Bestimmungen überlassen sollten.
({0})
Und dann rufen wir dazu auf, dort, wo es nur irgend geht,
die Öffnungszeiten so weit wie möglich nach hinten zu verschieben, und dort, wo wir andere Interessen zu berücksichtigen haben, eine ortsorientierte Entscheidung zu treffen.
Das wollte ich hier noch einmal aus grundsätzlichen
Erwägungen gesagt haben.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Jetzt hat der
Kollege Klaus Brähmig das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Können wir den
Lärmpegel ein bisschen herunterfahren, damit wir uns
noch verstehen können?
Sommer, Sonne, Strand
und Meer und die ruhige Hand am kühlen Bier - so oder
so ähnlich stellen sich Gerhard Schröder und Millionen
deutsche Bürger die abendlichen Stunden in der Sommerzeit vor. Was im Ausland Normalität ist, ist bei uns in
Deutschland schnell beendet, denn derzeit müssen deutsche Biergärten durchschnittlich gegen 22 Uhr schließen.
Das ist ein Ärgernis für die Menschen in Deutschland.
Die FDP-Fraktion will mit ihrem Antrag zur Liberalisierung der Sperrzeiten in der Außengastronomie dieses
Ärgernis beseitigen. Freiluftgaststätten wie zum Beispiel
Biergärten sollen in Zukunft bis mindestens 24 Uhr öffnen
dürfen. Damit soll dem unter anderem aufgrund längerer
Ladenöffnungszeiten geänderten Ausgehverhalten unserer
Bürger Rechnung getragen werden und dies ist gut so.
({0})
Diese Lösung wäre aber auch ein weiterer kleiner Mosaikstein, um die Attraktivität des Tourismusstandortes
Deutschland zu erhöhen.
Und wieder einmal zeigt es sich, dass der Wähler am
22. September 2002 eine deutliche politische Alternative
hat.
({1})
Der Antrag unseres Kollegen Burgbacher steht für Deregulierung im mittelständisch geprägten Gastronomiegewerbe und deswegen werden wir ihn heute unterstützen.
({2})
Im Gegensatz dazu steht die Meinung der rot-grünen Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen, die diesen
Antrag ablehnen werden. Was ist Ihr Argument für diese
ablehnende Haltung, meine sehr verehrten Damen und
Herren von der zukünftigen Opposition? Da letztendlich
die einzelnen Verwaltungen in den Städten und Gemeinden die Verantwortung für die konkrete Ausgestaltung der
Sperrzeiten tragen müssen, halten Sie eine bundeseinheitliche Vorgabe der Sperrzeiten für unannehmbar. Dies
ist ein fadenscheiniges Argument, denn Sie haben sich in
den vier Jahren Ihrer Regierungszeit sonst einen feuchten
Kehricht um die Bedürfnisse der Länder und Kommunen
gekümmert.
({3})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Steuerund Sozialpolitik, die die Haushaltslasten des Bundes einseitig auf die Kommunen abwälzt bzw. zu Mindereinnahmen in Milliardenhöhe bei Ländern und Kommunen geführt hat.
({4})
Wo war damals Ihr Bekenntnis zu den Aufgaben der Länder und Kommunen? Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch gerne noch einmal an die Abschaffung der
Trinkgeldbesteuerung. Auch dieser Beitrag zur Deregulierung und zur Stärkung der Dienstleistungsmentalität ist
doch nur dem Druck der Opposition zu verdanken gewesen.
({5})
Die letzten vier Jahre rot-grüner Regierungspolitik haben aber auch gezeigt, welches Unternehmerbild diese
Bundesregierung hat. Winston Churchill hat einmal gesagt:
Es gibt Leute, die halten den Unternehmer für einen
räudigen Wolf. Andere meinen, der Unternehmer sei
eine Kuh, die man ununterbrochen melken könne.
Nur wenige sehen in ihm das Pferd, das den Karren
zieht.
({6})
Sieht man sich die Regierungspolitik der letzten vier Jahre
genau an, so besteht das deutsche Unternehmertum bei Ihnen nur aus räudigen Wölfen und die 1998 viel beschworene
neue Mitte wurde zur Melkkuh der Nation umfunktioniert.
({7})
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird ab dem 22. September die deutschen
Unternehmer in die Lage versetzen, den festgefahrenen
Karren aus dem rot-grünen Sumpf zu ziehen.
({8})
Ich hoffe, dass die FDP uns dabei unterstützen wird.
({9})
Meine Damen und Herren, in den tourismuspolitischen Leitlinien unserer Fraktion haben wir einige
Punkte herausgearbeitet, die der Tourismuswirtschaft
wieder mehr Luft zum Atmen geben sollen. Einige
möchte ich hier kurz skizzieren.
Erstens. Wir brauchen eine mittelstandsfreundliche Arbeitsmarktpolitik. Ich erinnere hier nur an unser Konzept,
die Verdienstgrenze für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse von 325 Euro auf 400 Euro zu erhöhen. Dadurch
werden Anreize zur Arbeitsaufnahme geschaffen.
Zweitens. Wir brauchen eine deutliche steuerliche Entlastung für die Tourismuswirtschaft. Insbesondere für die
mittelständischen Unternehmer brauchen wir eine Steuerreform, die die Möglichkeiten zur Bildung von Eigenkapital verbessert.
({10})
In diesem Zusammenhang ist es geradezu grotesk,
wenn der niedersächsische Ministerpräsident Gabriel jetzt
einen Antrag zur Einführung einer Spieleinsatzsteuer bei
Spielautomaten in den Bundesrat einbringen will. Dies
trifft gerade viele kleine und mittlere Betriebe im Gastgewerbe und die deutsche Automatenwirtschaft.
Der DEHOGA erklärte heute dazu:
Bei seit Jahren rückläufigen Umsätzen, die im April
2002 bis zu real 10 Prozent betragen, sind die Gastwirte auf die regelmäßigen Einnahmen aus dem Automatengeschäft dringend angewiesen.
Kreativität besitzt Rot-Grün nur bei der Erfindung neuer
Steuern, die die Melkkuh Mittelstand weiter aussaugen.
Rinderwahnsinn und Steuerwahnsinn liegen anscheinend
eng beieinander.
({11})
Meine Damen und Herren, ich möchte mich an dieser
Stelle ganz herzlich bei einigen Kollegen bedanken, die innerhalb unserer Fraktion und im Ausschuss jahrelang aktiv
an der Gestaltung der Tourismuspolitik mitgearbeitet haben. Hannelore Rönsch, Monika Brudlewsky, Marianne
Klappert, Sylvia Voß, Rosel Neuhäuser und mein sächsischer Landsmann Wolfgang Dehnel werden leider dem
nächsten Deutschen Bundestag nicht mehr angehören. Vielen Dank für die gute kameradschaftliche Zusammenarbeit.
Lassen Sie mich angesichts der begonnenen Ferienzeit
und der vor uns liegenden Sommerpause noch eine Werbung für das Reisen mit den Worten von Wilhelm Busch
an Sie richten:
Ein, zwei, drei im Sauseschritt,
Läuft die Zeit, wir laufen mit,
Schaffen, schuften, werden älter,
Träger, müder und auch kälter,
Bis auf einmal man erkennt.
dass das Leben geht zu End!
Viel zu spät begreifen viele,
Die versäumten Lebensziele:
Freude, Schönheit der Natur,
Gesundheit, Reisen und Kultur,
Darum, Mensch, sei zeitig weise!
Höchste Zeit ist’s! Reise, reise!
({12})
Danke schön. So
endet diese Debatte mit Wilhelm Busch.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf der Drucksache 14/9520 zu dem
Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Sperrzeiten
für Gaststätten und Biergärten kundenfreundlicher gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf der Drucksache 14/6188 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP und gegen eine Stimme aus der PDS
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in
Deutschland stärken
- zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Jüdisches Leben in Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Dr. Max Stadler, Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in
Deutschland stärken
- Drucksachen 14/9226, 14/4245, 14/9261,
14/9480 Berichterstattung:
Abgeordnete Sebastian Edathy
Martin Hohmann
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP
fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
Sebastian Edathy.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema Parlamentsreform ist sicherlich ein Dauerthema. Vielleicht
sollte man in Zukunft auch einmal darüber nachdenken,
ob es sinnvoll ist, ein Thema wie den Antisemitismus in
Deutschland zu einer so späten Stunde im Parlament und
ausgerechnet nach einer Diskussion über die eventuelle
Verlängerung der Öffnungszeiten von Biergärten zu behandeln.
({0})
Der jüngst veröffentlichte Verfassungsschutzbericht
für das Jahr 2001 spricht, was antisemitische Straftaten
betrifft, leider eine sehr deutliche Sprache. 1 200 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund sind verübt worden,
darunter 70 Straftaten, die in Angriffen auf jüdische Einrichtungen bestanden haben.
Vor zwei Jahren haben die beiden Wissenschaftler
Dietmar Sturzbecher und Ronald Freytag eine Studie vorgelegt. Grundlage dieser Studie war die Befragung von
4 500 Jugendlichen im Alter von 14 bis 19 Jahren in Brandenburg. Es ging um das Thema Antisemitismus. Ein Drittel der befragten Jugendlichen in Brandenburg hat geäußert,
sich nicht vorstellen zu können, mit einer Person jüdischen
Glaubens befreundet zu sein. Das macht deutlich: Antisemitismus findet sich nicht nur bei den Ewiggestrigen.
Der Geist der Ausgrenzung, der Geist der Abwertung,
die Stigmatisierung von Menschen sind eine ständige
Herausforderung unserer Demokratie. Sich dieser Herausforderung zu stellen ist Aufgabe aller demokratischen
Kräfte in unserem Land.
({1})
Wo Menschen ausgegrenzt und erniedrigt werden, nimmt
die gesamte Demokratie Schaden.
({2})
In unserer Verfassung ist mit gutem Grund ein Satz verankert, der zugleich ein Auftrag ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wer in Menschen wegen ihrer Religionszugehörigkeit Menschen minderen Wertes erblickt,
der verstößt gegen diesen Grundsatz. Antisemitismus ist
demokratiefeindlich. Deswegen muss für uns als Demokraten gelten: Bei diesem Thema dürfen wir nicht zweideutig und missverständlich, da müssen wir eindeutig und
unmissverständlich auftreten.
({3})
Dazu gehört die Feststellung: Antisemitismus kann
man nicht rechtfertigen, wie das ansatzweise unser früherer Kollege Jürgen Möllemann getan hat. Antisemitismus
kann man nur verachten. Und vor allen Dingen: Man
muss ihn bekämpfen,
({4})
unter anderem durch Aufklärung, durch Bildungsarbeit
und durch Projekte, wie wir sie mit Bundesmitteln beispielsweise aus dem Programm „Civitas“ mit einem
Schwerpunkt in den neuen Ländern mitfinanzieren. Aber
neben Aufklärung, neben Bildungsarbeit muss die einvernehmliche Feststellung aller Demokraten stehen, dass wir
uns darüber im Klaren sind und dass wir Gewissheit darüber vermitteln müssen, dass ein Zusammenleben in
Vielfalt nicht durch die Vielfalt gefährdet wird, sondern
allenfalls durch die Einfalt von Menschen. Dieser Einfalt
zu begegnen ist eine ständige Herausforderung.
({5})
In Deutschland leben 95 000 Bürgerinnen und Bürger
jüdischen Glaubens. Sie sind Teil unserer Gesellschaft, deren Ausgrenzung wir nicht, auch nicht in Ansätzen, zulassen dürfen. Wer hier in Berlin die Polizeiwagen vor der
Synagoge in der Oranienburger Straße sieht, dem wird drastisch vor Augen geführt, dass das Bestehen von jüdischen
Gemeinden in Deutschland nicht so selbstverständlich ist,
wie wir uns das wünschen würden. Dass jüdische Einrichtungen an vielen Orten in Deutschland eines solchen polizeilichen Schutzes bedürfen, ist beschämend. Noch beschämender wäre es freilich, wir würden uns mit diesen
Verhältnissen abfinden. Nein, das dürfen wir nicht. Wir
müssen dafür sorgen und Verantwortung dafür übernehmen, diese Verhältnisse zum Besseren zu verändern.
({6})
Ob sich jüdische Bürgerinnen und Bürger respektiert,
sicher und frei fühlen können, ist eine Frage, an der sich
auf Dauer entscheiden wird, wie stark unsere Demokratie
ist und wie ernst wir den Verfassungsauftrag nehmen, die
Unverletzlichkeit der menschlichen Würde zu garantieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte mir gewünscht, es wäre gelungen, zu diesem Thema einen fraktionsübergreifenden Antrag zur Abstimmung zu stellen.
({7})
Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der unsäglichen Äußerungen von Herrn Möllemann nicht gelungen.
({8})
Ich will hier, ohne unnötige Schärfe in die Debatte zu
bringen, sehr deutlich sagen,
({9})
dass mir insbesondere das Verhalten der FDP völlig unverständlich ist,
({10})
die einen Antrag vorgelegt hat, den sie Wort für Wort inklusive der Überschrift von der Koalition abgeschrieben hat.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn Sie
es ernst damit meinen, dass antisemitische Aussagen in
Deutschland keinen Raum bekommen dürfen, wie das in
Ihrem oder - besser gesagt - unserem Antrag steht, muss
das auch für Sie in Ihren eigenen Reihen gelten.
({12})
Dann wäre es glaubhafter, wenn Sie sich längst von Ihrem
stellvertretenden Bundesvorsitzenden getrennt hätten.
({13})
Es ist, gelinde gesagt, halbherzig, sich mit einem Antrag im Bundestag gegen Antisemitismus auszusprechen,
aber in der eigenen Partei nicht für klare Konsequenzen in
Bezug auf ein Verhalten zu sorgen, das vom Instrumentalisieren antisemitischer Klischees geprägt ist.
({14})
Der Umgang mit dem Thema Antisemitismus verträgt
aber keine Halbherzigkeit, sondern muss von einer Eindeutigkeit geprägt sein, die nicht nur eine Frage der Achtung anderer, sondern eine Frage der Selbstachtung ist.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Lammert.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der
CDU/CSU-Fraktion mit dem Titel „Jüdisches Leben in
Deutschland“, über den heute Abend abschließend befunden wird, stammt aus dem Herbst des vorletzten Jahres.
Anlass waren damals Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Deutschland.
In der Debatte, die der Deutsche Bundestag damals auf
unsere Anregung hin spontan vereinbart hat, hat unser
Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz die Anliegen verdeutlicht, die wir in unserem Antrag formuliert haben: das
demonstrative Bekenntnis zu jüdischem Leben in Deutschland, die Würdigung des herausragenden Beitrags jüdischer Bürgerinnen und Bürger zur Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur in Deutschland, die
Erinnerung an NS-Diktatur und Holocaust, die Bekräftigung der besonderen Verantwortung Deutschlands, die
Aufforderung zu Toleranz und Respekt, zu Zivilcourage im
Alltag und unsere Freude über die Wiederbegründung jüdischer Gemeinden in Deutschland sowie deren Unterstützung. Nichts davon hat sich seitdem erledigt,
({0})
das Anliegen nicht, die Erklärungen nicht, die Anlässe leider auch nicht.
Seit der damaligen Debatte ist manches geschehen, in
Israel wie in Deutschland. Der Umgang mit dem Thema
ist nicht leichter geworden. Dies ist neben den schrecklichen Ereignissen in Israel und Palästina die Folge einer
Auseinandersetzung in Deutschland in den letzten Wochen, von der sich heute vermutlich alle Beteiligten wünschen, dass sie uns erspart geblieben wäre.
({1})
Diese Debatte war durch zum Teil absurde Vorwürfe, haltlose Verdächtigungen, maßlose Übertreibungen, unbegreifliche Entgleisungen und tiefe Verletzungen gekennzeichnet, nicht nur auf einer Seite.
Die Folgen dieser Auseinandersetzung sind keineswegs überwunden. Eine ganz unmittelbare bedauerliche
Folge ist, dass wir heute keine gemeinsame Beschlussempfehlung haben, obwohl sich der Antrag der Koalitionsfraktionen das damals formulierte Anliegen der Union
nicht nur in der Sache, sondern weitgehend auch in den
Formulierungen ausdrücklich zu Eigen macht. Die Beschlussempfehlung hat nun freilich eine andere Überschrift und damit einen etwas anderen Akzent.
Deswegen nutze ich die Gelegenheit gerne, vor der Abstimmung über diese Beschlussempfehlung die Positionen unserer Fraktion noch einmal zu verdeutlichen. Ich
freue mich, dass ich das ausdrücklich auch für die Kolleginnen und Kollegen aus der Arbeitsgruppe Innenpolitik
und für unseren Berichterstatter Martin Hohmann tun
darf.
Antisemitismus, wo immer er auftritt, ist nicht akzeptabel. In Deutschland ist er unerträglich.
({2})
Die deutsche Geschichte begründet bei diesem Thema eine
besondere Empfindlichkeit. Dies rechtfertigt nicht jede
Maßlosigkeit in der Zurückweisung tatsächlicher oder vermeintlicher Verstöße gegen diesen Konsens aller Demokraten. Schon gar nicht rechtfertigt dies, Herr Kollege Özdemir,
die Attitüde moralischer Überlegenheit bei gleichzeitiger
Rücksichtslosigkeit bis zur Menschenverachtung.
({3})
Wir haben sowohl für jüdische Bürger in Deutschland
wie für das Existenzrecht und die Sicherheit des Staates
Israel sowie auch für jedes andere Volk eine besondere
Verantwortung. Dies schließt die kritische Auseinandersetzung über den Eindruck von Fehlentwicklungen, Versäumnissen oder Verirrungen in Deutschland wie in Israel
nicht aus, sondern unbedingt ein. Israel muss mit denselben moralischen Maßstäben wie jeder andere Staat gemessen werden.
({4})
Diese Selbstverständlichkeit hat vor wenigen Wochen
der israelische Publizist Uri Avnery unmissverständlich
festgehalten. Er hat hinzugefügt - ich zitiere -:
Das Schreckliche, das Deutsche den Juden vor
60 Jahren angetan haben, hat mit der heutigen israelischen Politik nichts zu tun. Daraus den Schluss zu
ziehen, Deutsche müssten schweigen, wenn sie glauben, dass wir Unrecht begehen, ist unmoralisch. Das
Vermächtnis des Holocaust sollte doch sein, dass gerade Deutsche mehr als andere gegen Unrecht auftreten, ganz egal wo es passiert.
({5})
Deswegen habe ich insbesondere an die jüdischen Mitbürger und nicht zuletzt auch an die Repräsentanten die
herzliche Bitte - ({6})
- Es gibt deutsche wie jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wenn zu irgendeinem Thema der Streit nicht
lohnt, dann vermutlich der zu dieser terminologischen
Spitzfindigkeit.
({7})
- Herr Stiegler, die historischen Belehrungen von Ihnen
sind immer der unüberbietbare Höhepunkt parlamentarischer Auseinandersetzungen.
({8})
Ich habe jedenfalls ausdrücklich die herzliche Bitte an
die jüdischen Bürgerinnen und Bürger unseres Landes
und nicht zuletzt auch an die Vertreter des Staates Israel:
Nehmen Sie konstruktive Kritik an der Politik Ihres Landes bitte nicht übel, sondern ernst.
({9})
Missverstehen Sie deutliche Worte ausgewiesener, jahrzehntelanger Freunde Israels nicht als Abwendung von
Ihrem Land oder gar als populistische Verirrung, sondern
verstehen Sie sie als Ausdruck einer hellen Verzweiflung
über manche Entwicklungen in Ihrem Land, die uns und
Ihnen alles andere als gleichgültig sein können.
({10})
- Ich rechtfertige überhaupt nichts. So, wie Sie Ihre Position vortragen können und dies sicherlich tun werden, tue
ich das auch für mich und unsere Fraktion.
Im Bewusstsein unserer Geschichte und unserer Verantwortung wollen wir die historische Erinnerung an die
NS-Diktatur und den Holocaust wach halten. Aber wir
wollen und dürfen jüdisches Leben in Deutschland nicht
auf Erinnerungskultur reduzieren. Die beiden wichtigen
Entscheidungen des Deutschen Bundestags in dieser Legislaturperiode - die Entscheidung für den Bau eines
Mahnmals für die ermordeten Juden Europas und die Entscheidung zur Übernahme des Jüdischen Museums Berlin
in die Zuständigkeit des Bundes und damit in nationale
Verantwortung - sind Zeugnis dieser Verpflichtung und
zugleich Ausdruck der notwendigen Verbindung des einen mit dem anderen.
Wir wollen wieder an die jahrhundertelange Tradition
des Zusammenlebens in Toleranz und gegenseitigem Respekt, die es in Deutschland gegeben hat, anknüpfen. Deshalb begrüßen und fördern wir das Entstehen und Wachsen jüdischer Gemeinden als Ausdruck des Vertrauens in
unsere Demokratie und als Bereicherung für unser Land.
Wir wollen nicht nur eine Vertiefung des Dialogs, sondern insbesondere des christlich-jüdischen Dialogs der
Religionen. Wir wünschen uns vor allem eine Vertiefung
in der Alltagskultur, in der Begegnung und in der gelebten Gemeinsamkeit.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
würde zum Schluss gern - wenn ich das noch darf - zitieren, was György Konrad, der Präsident der Berliner Akademie der Künste, Anfang dieses Jahres zur Eröffnung einer Berliner Holocaust-Ausstellung gesagt hat. Er hat sich
mit der Schwierigkeit der Identifizierung mit einer Zeit
und Ereignissen auseinander gesetzt, die inzwischen viele
Jahrzehnte hinter uns liegen und dennoch in unser aller
Bewusstsein wach geblieben sind. György Konrad hat gesagt:
Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind wir weder
Täter noch Opfer. Durch Blutsbande, Bekanntschaften oder kulturelle Bindungen aber gehen sie uns etwas an. Wir wissen von ihnen. ... Auf einer inneren
Bühne sind sie anwesend, lassen sich nicht verscheuchen. Sie kommen.
Ich weiß, dass diese Erinnerungen kommen. Ich will, dass
sie bleiben. Aber noch wichtiger als die Erinnerungen
müssen uns die Menschen sein. Deswegen wünsche ich
mir, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger kommen, und
ich hoffe, dass sie bleiben können.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Cem Özdemir.
Frau
Präsident! Meine Damen und Herren! Nach einer Studie
des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt und der Uni
Leipzig - sie ist jüngst veröffentlicht worden und betrifft
den Zeitraum ab dem Jahr 1999 - haben in unserer Gesellschaft antisemitische und antiarabische, aber auch antiamerikanische Haltungen zugenommen. Der Aussage
„Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Juden
unangenehm sind“ beispielsweise wird immerhin von
36 Prozent der Bevölkerung unseres Landes zugestimmt.
Das ist mehr als vor drei Jahren. Nur etwa 38 Prozent lehnen diese Position klar ab.
Wenn wir uns diese Zahlen vor Augen führen, dann
müssen wir zugeben, dass wir in unserer Gesellschaft ein
Problem mit Antisemitismus haben. Angesichts dessen
kann man sich nicht empören, wenn beispielsweise Herr
Friedman davon spricht, dass ungefähr 20 Prozent in unserer Gesellschaft diese Haltung haben.
Ich glaube, der erste Schritt zur Bekämpfung dieses
Phänomens besteht darin, dass wir anerkennen, dass wir
ein Problem haben.
({0})
Damit ist man noch nicht antideutsch. Damit ist man noch
nicht in Gegnerschaft zur eigenen Bevölkerung. Damit
denunziert man niemanden. Man erkennt lediglich an,
dass man ein Problem hat. Das ist immer der erste Schritt
zur Besserung.
Der zweiten Aussage, nämlich „Die Juden sind schuld,
dass wir so große Weltprobleme haben“, wird immerhin
noch von einem Drittel der Befragten zugestimmt.
Die Aussage schließlich „Deutschland den Deutschen“
wird von 44 Prozent positiv gesehen. Auch das ist deutlich mehr als vor drei Jahren.
Ich will mit diesen Zahlen nicht sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland schlimmer ist als andere Staaten. Das wäre eine falsche Aussage. Wir wissen, dass es
mit Antisemitismus nicht nur in unserer Gesellschaft,
sondern auch in vielen anderen Staaten, auch in vielen unserer Nachbarstaaten, Probleme gibt. Keine Gesellschaft,
egal, welche Religionszugehörigkeit dominiert, ist völlig frei von Antisemitismus, ist frei von dieser Art von
Einstellung.
({1})
- Warten Sie ab, Herr Kollege.
Ich glaube schon, dass wir alle miteinander aufgefordert sind, gerade bei uns in besonders hohem Maße sensibel damit umzugehen. Diese Sensibilität ist notwendig.
Wie bereits mein Vorredner gesagt hat, ist es für diese Gesellschaft eine gute Nachricht, wenn sich Juden, beispielsweise aus Osteuropa, entscheiden, in unsere Gesellschaft zu
ziehen. Gleiches gilt für diejenigen, die Überlebende des
Holocaust sind und sich nach 1945 entschieden haben, in
diese Gesellschaft zu ziehen oder in dieser Gesellschaft zu
bleiben. Insofern sollten wir uns über jeden freuen, der mit
uns gemeinsam zu dieser Gesellschaft beitragen möchte und
diese Gesellschaft als seine Gesellschaft betrachtet.
({2})
Alle Angriffe, die es gibt oder gegeben hat, beispielsweise im März dieses Jahres der Angriff auf die Synagoge
in Kreuzberg, beispielsweise der Vorfall, bei dem zwei orthodoxe Juden auf dem Kudamm mit Schmährufen bedacht worden sind, oder der Vorfall, bei dem zwei Frauen,
die den Davidstern trugen, angegriffen worden sind - wir
haben es in der Presse gelesen -, sind nicht einfach nur
Angriffe auf jüdische Bürger oder auf jüdisch-stämmige
Menschen dieser Gesellschaft, sondern es sind Angriffe
auf uns alle.
({3})
Es sind Angriffe auf mich als Menschen, der muslimischer Herkunft ist, auf meine Kolleginnen und Kollegen,
die christlicher Herkunft sind, auf Atheisten, auf andere,
die in dieser Gesellschaft leben. Nur wenn wir diese Angriffe so betrachten, wenn wir die Einschränkungen des
Lebens von Juden in dieser Gesellschaft dadurch, dass sie
sich mit Polizeischutz bewegen müssen, weil sie etwa
Funktionäre der jüdischen Gemeinde sind, dass es, wenn
sie ihre Kinder in jüdische Schulen schicken, mit besonderen Schutzmaßnahmen verbunden ist, als Einschränkungen unseres Lebens betrachten, haben wir den Antisemiten die Antwort gegeben, die wir ihnen geben müssen.
({4})
Einen Satz möchte ich noch sagen, bevor ich auf das
angesprochene Thema Schlingensief zu sprechen komme.
Auch ich bedauere es sehr, dass es nicht möglich war, einen gemeinsamen Antrag hinzubekommen. Der Kollege
Edathy hat darauf hingewiesen, woran es lag; deshalb will
ich da nicht noch einmal nachlegen.
({5})
- Sie können es nachher richtig stellen. Eine Kollegin von
der FDP wird ja noch sprechen.
Eines möchte ich für alle Fraktionen doch noch einmal
deutlich sagen; das ist wichtig für die Außenwirkung, für
den Zentralrat der Juden und für alle, die diese Debatte
verfolgen können - es sind leider nur wenige -:
({6})
In diesem Parlament gibt es keine Fraktion, die in der
Frage der Bekämpfung des Antisemtismus eine andere
Meinung als die heute zu beschließende Meinung hätte.
Hier sind sich alle einig. Das ist ein gutes Zeichen, auch
wenn es uns nicht gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag zustande zu bekommen.
({7})
- Sie kennen die Debatte. Wir brauchen das jetzt hier nicht
alles zu wiederholen, Herr Kollege.
Jetzt zu Schlingensief. Ich habe in Düsseldorf einen
Gastauftritt in einer Inszenierung von Schlingensief gehabt, die zuvor in der Volksbühne in Berlin aufgeführt
worden ist und mehrfach durch die Presse ging. Die Anfrage bezog sich darauf, dort mitzumachen. Dieses habe
ich gemacht. Ich habe nicht, wie fälschlicherweise auf
Seite 1 in der „Welt“ stand, in Düsseldorf an einer Aktion
vor der Firma von Herrn Möllemann teilgenommen. Die
„Welt“ hat das leider nur mit einem Satz korrigiert. An
dieser Aktion war ich nicht beteiligt. Bei dem Theaterauftritt, an dem ich beteiligt war, sind keine Strohpuppen
verbrannt und keine Plakate von demokratischen Parteien
in Deutschland zerstört oder verbrannt worden. Ich lege
Wert darauf, ausdrücklich festzustellen, dass ich an jener
Aktion nicht beteiligt war.
Zu dem Theaterauftritt, an dem ich beteiligt war, Herr
Kollege, sind zwei Fragen gestellt worden. Meine Rolle
bestand darin, die Antworten des Publikums per Mikrofon
zu übertragen.
({8})
Dafür kann man mich kritisieren. Ich habe mich am Montag deutlich dazu geäußert.
({9})
Dann geben Sie mir doch die Chance, das zu tun. Ich habe
am Montag eine Erklärung dazu abgegeben, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Alles was nach
meinem Auftritt auf der Bühne geschah und was die
Grenzen des guten Geschmacks verlassen hat, auch
wenn es den Rahmen der künstlerischen Freiheit für sich
in Anspruch nimmt - auch dieses ist falsch -,
({10})
habe ich klar kritisiert und verurteilt und ich habe mich
davon in jeder erdenklichen Weise distanziert.
({11})
- Ohne jede Hintertür, Herr Kollege Gerhardt. Wenn Sie
meine Erklärung, die Ihnen zugegangen ist, gelesen haben, wissen Sie, dass ich mich ohne jedes Wenn und
Aber davon distanziert habe. Da muss man auch nicht
versuchen, einen anderen Eindruck zu erwecken.
({12})
Sollte irgendjemand in diesem Hause das Gefühl haben, dass er oder sie in irgendeiner Weise in eine Ecke
gerückt wurde, in die er oder sie ohne jeden Zweifel nicht
gehört, dann möchte ich in aller Deutlichkeit sagen, dass
das nicht meine Absicht war. Selbst wenn ich selber nicht
daran beteiligt war, entschuldige ich mich dafür; denn mit
der Teilnahme an der Veranstaltung - auch das räume ich
ein - übernehme ich dafür Verantwortung.
Ich bin bereit, mich bei jedem Einzelnen in diesem
Haus zu entschuldigen, wenn es sein muss. Ich bin bereit,
bei jedem Einzelnen von Ihnen Abbitte zu leisten. Eines,
meine Damen und Herren, werde ich aber mit Sicherheit
nicht machen: Ich werde garantiert Herrn Möllemann
nicht den Gefallen tun, ihm zu ermöglichen, dass er, wie
von ihm von Anfang an inszeniert, hier die Opferrolle
übernehmen kann.
({13})
Das ist nicht mein Job, meine Damen und Herren. Das tragen Sie, bitte schön, nicht mit mir aus.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt
die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Mitglied des Führungsgremiums der FDP-Bundespartei und
natürlich auch als jemand, dessen sehr klare Haltung in
Fragen des Umgangs mit Deutschen jüdischen Glaubens auch von der FDP-Fraktion und der Bundespartei
geteilt wird, spreche ich heute in dieser Debatte.
Mit großer Sorge sehen die in Deutschland lebenden
Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens, dass ein
friedliches Nebeneinander der in Israel lebenden Menschen und der in den Autonomiegebieten lebenden Palästinenser in weiter Ferne liegt und sich die Schaffung eines
demokratischen Palästinenserstaates neben einem Staat
Israel in gesicherten Grenzen derzeit als Vision erweist.
Umso wichtiger ist es, dass die Deutschen jüdischen
Glaubens, die in den vergangenen Jahren in Deutschland
ihre Heimat gefunden haben, sich sicher, geborgen und
wohl fühlen können. Denn dieser Zusammenhalt der gesamten deutschen Gesellschaft ist vor dem Hintergrund
der jüngsten Geschichte, der nationalsozialistischen Diktatur und des Holocaust, auch heute in Teilen unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich.
({0})
Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb von Anfang an
die Überlegungen unterstützt, einen gemeinsamen Antrag
aller Fraktionen zur Ächtung des Antisemitismus und zur
Stärkung des Zusammenhalts in Deutschland zu formulieren, einzubringen und die Gemeinsamkeit aller Demokraten, die auch von Vorrednern hier im Hause nicht bestritten wurde, mit einem Beschluss, der mit überwältigender
Mehrheit dieses Hauses zustande kommt, deutlich zu machen.
({1})
Umso mehr bedauern wir, die FDP-Bundestagsfraktion, dass diese Gemeinsamkeit hier, in diesem Hause,
von Ihnen, Kolleginnen und Kollegen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen, aufgekündigt worden ist
({2})
und dass die zurückliegenden Debatten in Deutschland
über den Nahen Osten und über den Antisemitismus zum
Anlass genommen wurden, die FDP-Bundestagsfraktion
auszugrenzen.
({3})
Jetzt besteht die groteske Situation, dass SPD und
Bündnis 90/Die Grünen auf der einen Seite sowie FDP auf
der anderen Seite zwei gleich lautende Anträge eingebracht haben. Es gibt keine Differenz in der inhaltlichen
Auseinandersetzung
({4})
und in unserer Auffassung, mit Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland nicht nur zusammenzuleben, sondern
auch alles zu tun, damit sie sich hier wohl fühlen.
({5})
Durch die aufgespaltene Einbringung dieses Antrags
haben Sie in diesem Hause versucht, die FDP-Fraktion an
den Pranger zu stellen und das Thema „Antisemitismus
ächten“ zu instrumentalisieren. Die Auseinandersetzung
über Ursachen des Antisemitismus, über antisemitisch
motivierte Straftaten sowie über die Schändung von jüdischen Friedhöfen und Synagogen braucht die Gemeinsamkeit der Demokraten in Deutschland.
Frau Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich
sage Ihnen ganz klar und deutlich: Das, was in unserem
Antrag steht, ist die Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion.
({0})
Sie finden hier keinen Einzigen, dem Sie diesen Vorwurf
machen können.
({1})
Die Führungspersönlichkeiten der FDP, der Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion und der Vorsitzende
der Partei, haben dafür gesorgt
({2})
- er hat sich sehr klar geäußert -, dass die zu Recht zu kritisierenden Äußerungen, die aus der FDP gekommen sind,
hier entsprechend gewertet worden sind.
Frau Kollegin,
Sie müssen mir jetzt mitteilen, ob Sie die Zwischenfrage
der Kollegin Schmidt beantworten wollen.
Bitte schön.
Frau Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger, ich nehme Ihnen das, was
Sie gesagt haben, gerne ab. Ich darf aber aus Punkt 5 Ihres
Antrags - Sie haben eben darauf hingewiesen, dass Ihr Antrag und der von Rot-Grün gleich lautend sind - zitieren:
Der Deutsche Bundestag verurteilt alle Versuche, das
antisemitische Argument, die Juden seien schuld am
Antisemitismus, wieder aufleben zu lassen.
Gibt es die Chance, dass die Mehrheit der Delegierten eines Parteitages der FDP diesem Satz überhaupt zustimmt?
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin, wir haben diesen Satz nicht
aus Ihrem Antrag abgeschrieben, ohne den Inhalt zu lesen.
Wir haben ihn vielmehr ganz bewusst aufgenommen;
denn er gibt das wieder, was wir in der Auseinandersetzung der letzten Wochen, die der FDP natürlich am meisten geschadet hat, immer wieder zum Ausdruck gebracht
haben. Wir haben diese Form von Argumentation und
Auseinandersetzung ganz deutlich verurteilt und uns von
anderen Auffassungen distanziert.
({0})
Deshalb verstehe ich nicht, dass es hier, in diesem Haus,
nicht möglich ist, gemeinsam mit der Fraktion der FDP einen Antrag zu beschließen, der genau diesen Satz enthält.
({1})
An den Zwischenrufen und an Ihren Bemerkungen erkenne ich: Leider erliegen manche der Versuchung, dieses
Thema in einer Art und Weise zu instrumentalisieren, die
seiner Bedeutung nicht gerecht wird.
({2})
Wir haben die Auseinandersetzung in allen Facetten geführt. Die Demokratie lebt von der kontroversen Auseinandersetzung.
Ich sage auch ganz klar: Die Meinungsfreiheit hat
Grenzen. Herr Özdemir, Sie sind darauf eingegangen:
Immer dann, wenn zur Tötung eines Menschen konkret
aufgerufen wird, ist jeder Bundestagsabgeordnete, der
von diesem Aufruf gehört hat oder dabei war, gefordert,
dagegen ganz klar Stellung zu beziehen.
({3})
Große liberale Demokraten, wie Theodor Heuss,
Hildegard Hamm-Brücher, Walter Scheel, Hans-Dietrich
Genscher, Otto Graf Lambsdorff, Burkhard Hirsch und
Gerhart Baum - das sind nur einige -, haben in den vergangenen Jahrzehnten in der FDP in unterschiedlichen
Funktionen gegen antisemitische Tendenzen und rassistische Strömungen in Deutschland gekämpft. Das setzen
heute viele junge und ältere Liberale in Führungspositionen, zu denen ich gehöre, engagiert fort. Deshalb lassen
wir uns nicht pauschal verunglimpfen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Heinrich Fink.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist reicher geworden: 1989 waren 30 000 Juden in Deutschland, 2001
waren es 90 000 Juden. Reicher geworden sind wir heute
durch Zuwanderung, vor allem aus Osteuropa. Jüdisches
Leben hat erneut zu pulsieren begonnen wie in den 20erJahren des vergangenen Jahrhunderts. Es gibt wieder jüdisches Theater. Es gibt wieder Diskussionen in Deutschland über die entsprechende jüdische Tradition.
Aber von 1989 bis 2001 registrierten wir auch
3 473 Straftaten, die antisemitische Motive hatten. Günter
Gaus meint: Es ist eine sich verbreitende Überzeugung einer arglosen Grenznähe zum gewöhnlichen Antisemitismus. Es ist wichtig und richtig, antisemitische Straftaten
zu verhindern und, wo sie doch geschehen, die Täter zu
ergreifen und zu bestrafen. Das ist die Pflicht eines
Rechtsstaates.
Aber was geschieht auf der Ebene der kulturellen Auseinandersetzungen? Was geschieht in der arglosen
Grenznähe zum Antisemitismus? Gäbe es eine PISA-Studie über den Wissensstand von Erwachsenen in Sachen
Geschichte der Juden in Deutschland, wie wäre wohl das
Ergebnis?
({0})
Kann man erwarten, dass deutsche Bürgerinnen und Bürger wissen, dass bereits Könige und Fürsten und auch die
christlichen Kirchen beider Konfessionen offen oder latent
Antisemitismus vertraten oder Antijudaismus gepredigt
haben? Natürlich haben auch die deutschen Universitäten
dazu beigetragen. Als Heinrich von Treitschke 1886 seine
große Vorlesung über Europa gehalten hat, überlegte er,
wie Deutschland in Europa führend werden könne, und er
befürchtete: Überall, wo wir Deutschen hinkommen, sind
bereits die Juden; die Juden sind unser Unglück.
Die Auseinandersetzung wird auch heute geführt, unter anderem in der Wissenschaft. Ich bin sehr froh, dass
man jetzt in Deutschland an 36 Universitäten Judaismus
oder jüdische Wissenschaften studieren kann. Das ist ein
unwahrscheinlicher Fortschritt, den wir nicht von der
Hand weisen können.
Aber die Auseinandersetzung mit der immer noch in den
Arierparagraphen, der Ariergesetzgebung Hitlers, wurzelnden Überzeugung kann nicht nur mit kostenloser Zivilcourage überwunden werden. Um die gefährliche Mischung
von Falschwissen und Unwissen überhaupt bewusst zu
machen, bedarf es sorgfältiger Auseinandersetzung. Diese
sorgfältige Auseinandersetzung muss uns etwas kosten.
Denn Antisemitismus deckt einen tief greifenden Mangel
an Kenntnis und demokratischer Überzeugung auf.
Die Aufklärung über den Antisemitismus ist ein Kampf
wider die Dummheit. Wir brauchen heute eine zweite
Aufklärung. Diese zweite Aufklärung gibt uns die Gelegenheit, gerade auch in diesem Parlament darüber zu diskutieren. Was aber, wenn zum Beispiel Schulklassen den
Theaterbesuch von Hochhuths „Stellvertreter“ nicht mehr
bezahlen können? Was aber, wenn ein jüdischer Kulturverein in Berlin bald seine Existenz aufkündigen muss,
weil er nicht mehr finanziell unterstützt wird?
Liebe Freunde, ich glaube schon, dass gerade in dieser
Auseinandersetzung auch ein Stück Ohnmacht deutlich
wird. Dieser Ohnmacht sollten wir uns erst einmal stellen
und erklären, dass wir alle immer noch unsere Probleme
mit dieser Geschichte haben und diesen Reichtum, der zu
uns kommt, eigentlich nicht annehmen.
Ich betone noch einmal: Deutschland ist reicher an jüdischer Kultur geworden, auch an Klezmer, an jiddischer Sprache und jiddischem Theater. Sind wir bereit,
diese neue Chance für ein Nachdenken über uns selbst,
diese Herausforderung anzunehmen? Ich hoffe für unsere
Kinder und Enkelkinder im Zusammenleben von Juden
und Nichtjuden in Deutschland auf eine neue Zukunft
ohne Furcht vor neuerlichem Antisemitismus.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Cornelie
Sonntag-Wolgast.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! Manchmal ist es nötig, dass Parlament und Regierung Selbstverständliches artikulieren.
Dieser Zeitpunkt ist angesichts der Antisemitismusdebatte
dieser Wochen gekommen. Nun weiß ich sehr wohl um
die lange Vorgeschichte der Anträge, über die wir heute
reden. Vor fast zwei Jahren ging es um eine klare Verurteilung antisemitischer Anschläge. Inzwischen aber entzündet sich der Disput an aktuellen Äußerungen, die der
Zentralrat der Juden als schlimmste Beleidigung der jüdischen Gemeinschaft seit 1945 wertet. Es geht um die
Unfähigkeit oder auch den geplanten Unwillen mancher
prominenter Politiker - Frau Leutheusser-Schnarrenberger,
ich weiß nicht, warum Sie das nicht richtig auffassen können -, die notwendige Trennschärfe zwischen legitimer
Kritik am Vorgehen der palästinensischen wie auch der israelischen Seite im Nahostkonflikt einerseits und boshaften Äußerungen über bei uns lebende jüdische Bürger andererseits beizubehalten, und um das Interesse dieser
Politiker, das daraus entstehende dumpfe Gebräu zum
Stimmenfang zu nutzen. Diese Vermischung verlangt die
klare Ablehnung des Parlaments.
({0})
Ich glaube schon, dass unsere Demokratie gefestigt ist.
Aber es ist und bleibt gefährlich, auf der Tastatur antisemitischer Gefühle zu spielen. Unsere Geschichte legt uns
eine dauerhafte Verantwortung auf, uns mit allen Kräften
dagegen aufzulehnen. Der Abgrund, in den dieser Wahn
geführt hat, war zu tief und zu erschreckend, um nach der
so genannten Normalität zu rufen.
({1})
Die Statistik für das Jahr 2001 ist einschlägig: Sie zeigt
insgesamt über 1 600 antisemitische Straftaten, darunter
24 Fälle von Körperverletzung, über 1 000 Fälle von Volksverhetzung und fast 300 Propagandadelikte sowie 24 Fälle
von Störung der Totenruhe, also Schändungen von Grabmalen auf jüdischen Friedhöfen. Ist das „Normalität“?
Nach fundierten Forschungsergebnissen gibt es bei 15 bis
20 Prozent der Bevölkerung einen latenten Antisemitismus; manche Wissenschaftler sprechen sogar von einer
steigenden Tendenz. Jeder Versuch, diese Ressentiments
anzuheizen, ist einfach verabscheuungswürdig.
({2})
Man hört dieser Tage wohlfeile Sprüche. Einer endet
meist mit Floskeln wie „Das muss man doch auch mal sagen dürfen“.
({3})
Es ist für uns in Deutschland schwierig und erfordert viel
Sachverstand und Fingerspitzengefühl, etwa den Nahostkonflikt zu kommentieren und dabei die Kritik auszubalancieren. Unser Außenminister Joschka Fischer kann
das. Er kennt die Stimmungslage vor Ort und genießt mit
vollem Recht den Respekt beider Seiten.
({4})
Andere zerstören leider mit verantwortungslosen Formulierungen mühsam aufgebautes Vertrauen, übrigens bei
Juden und Muslimen.
Es gibt keine jüdische Gemeinschaft in Europa, die
derzeit so schnell wie die in Deutschland wächst; inzwischen sind es 95 000 Menschen. Jüdisches Leben fängt
überhaupt wieder an, sich zu entfalten. Synagogen werden neu gegründet, Fernsehspiele zeigen auch schon mal
Familienfeste nach jüdischem Brauch. Wir bekommen
erstmals seit Jahrzehnten die Chance, all das kennen zu
lernen. Darüber muss man doch einfach heilfroh sein!
({5})
Klar, die Zuwanderung, vor allem aus Osteuropa,
klappt nicht immer reibungslos. Deswegen unterstützt die
Bundesregierung die jüdischen Gemeinden bei dieser
harten Integrationsarbeit. Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wird seit Jahrzehnten gefördert, aber auch Projekte wie der interreligiöse Dialog,
die Hochschule für jüdische Studien, das Leo-BaeckInstitut oder kulturpolitische Initiativen. Selbstverständlich und leider auch nötig ist es, dass unsere zusätzlichen
Programme gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,
Entimon, XENOS und Civitas, die Bekämpfung des
Antisemitismus einschließen.
Übrigens gibt es in letzter Zeit noch einen anderen
Satz, den wir nicht durchgehen lassen dürfen. Er heißt
etwa so: „Der oder die legt es aber auch darauf an, dass
man zum Antisemiten wird.“ Was heißt das eigentlich?
Müsste sich der ebenso unbarmherzige wie brillante Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki seine manchmal ätzenden Kommentare verkneifen, weil er Jude ist? Das
wäre doch schrecklich.
({6})
Oder ärgern sich Michel Friedmans Talkshowgäste über
provozierende Fragen und seine häufigen Unterbrechungen, weil er Jude ist?
Kein jüdischer Bürger in unserem Land will in philosemitische Watte gepackt werden. Aber wenn wir - nach
dem Motto: Wir haben ja eigentlich nichts gegen die Juden, aber sie sollen doch bitte leise und hübsch bescheiden sein - wieder anfangen, ethnische und religiöse Zugehörigkeit zum Maßstab für Verhalten und Auftreten
sowie zum Maßstab für unsere Toleranz zu machen, dann
ist Gefahr im Verzuge.
({7})
Antisemitismus auf das Gebaren jüdischer Gesprächspartner zurückzuführen markiert den Weg in den Rassismus.
({8})
Antisemitismus - ich muss es noch einmal sagen kann man nicht rechtfertigen oder begründen; man kann
ihn nur verurteilen.
({9})
Das haben wir in der Aktuellen Stunde vor 14 Tagen getan. Wir tun es heute noch einmal mit aller Klarheit. Das
ist richtig und leider auch nötig.
Danke schön.
({10})
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses auf Drucksache 14/9480. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 14/9226 mit dem Titel „Antisemi-
tismus ächten - Zusammenhalt in Deutschland stärken“
in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Enthaltung von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/4245 mit dem Titel „Jüdi-
sches Leben in Deutschland“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei
Enthaltung von FDP und PDS angenommen worden.
Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Nr. 3
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9480 die
Ablehnung des Antrages der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 14/9261 mit dem Titel „Antisemitismus ächten -
Zusammenhalt in Deutschland stärken“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und einer Stimme aus der PDS
gegen die Stimmen der FDP und einige Stimmen aus der
CDU/CSU bei Enthaltung der meisten Abgeordneten der
CDU/CSU-Fraktion und einer Stimme von Bündnis 90/
Die Grünen sowie der meisten Stimmen der PDS ange-
nommen worden.
Ich rufe die Ta-
gesordnungspunkte 11 a bis 11 c sowie den Zusatztages-
ordnungspunkt 12 auf:
11. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kurt-Dieter Grill, Matthias Wissmann, Dr. Peter
Paziorek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Der Energiebericht des Bundesministers für
Wirtschaft und Technologie und seine Bedeu-
tung für ein Energiekonzept der Bundesregie-
rung
- Drucksachen 14/7854, 14/9171 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, JochenKonrad Fromme, Reinhard Freiherr von Schorlemer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Ausgleich für die nuklearen Entsorgungsstandorte Gorleben und Salzgitter ({1}) in Niedersachsen und Morsleben in
Sachsen-Anhalt
- Drucksachen 14/7786, 14/8708 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Kubatschka
Winfried Hermann
Birgit Homburger
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Brigitte Adler, Ingrid
Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Michaele Hustedt, Hans-Josef Fell, Dr. Angelika
Köster-Loßack, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Deutsche Exportinitiative - Erneuerbare Energien
- Drucksachen 14/8278, 14/9120 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten KurtDieter Grill, Matthias Wissmann, Dr. Christian
Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Mehr Chancen für den Export und die Forschungs- und Entwicklungszusammenarbeit
durch marktwirtschaftliche Ansätze bei den
erneuerbaren Energien
- Drucksache 14/9539 Zur Großen Anfrage liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktion der CDU/CSU sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Rolf Hempelmann.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich darf mich zunächst
einmal - als Einstieg ist das vielleicht etwas ungewöhnlich - bei meinen Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion
bedanken. Sie sind dafür verantwortlich, dass dieser
Punkt auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Das gibt
uns, das gibt mir Gelegenheit, etwas zur energiepolitischen Bilanz dieser rot-grünen Bundesregierung und der
sie tragenden Fraktionen in den letzten vier Jahren zu sagen.
({0})
Zu einer guten Bilanz gehört natürlich auch, dass man
den Ausgangspunkt ein bisschen klar macht. Wie sah das
1998 aus? Jeder weiß: In den Jahren zuvor wurde der europäische Binnenmarkt für leitungsgebundene Energien
liberalisiert. Dazu wurden europäische Richtlinien erlassen, die dann hier in Deutschland und natürlich auch in
anderen Mitgliedstaaten der Union in nationales Recht
umgesetzt wurden. Das Ergebnis war: Entgegen dem Jubel, der allseits stattfand, herrschten weiterhin ungleiche
Wettbewerbsbedingungen. Es gab weiterhin geschützte
Monopole in Südeuropa - insbesondere in Frankreich und Staatsunternehmen, die frei agieren konnten, und
zwar nicht nur auf ihren eigenen Märkten, sondern zum
Beispiel auch auf dem deutschen Markt. Die 60-prozentige Beteiligung der EDF, also des französischen
Staatsmonopolisten, an der EnBW ist, glaube ich, ein beredtes Beispiel.
Ganz anders sieht die Energiebilanz dieser Bundesregierung aus. Das 100 000-Dächer-Photovoltaik-Programm beispielsweise
({1})
- Herr Grill freut sich einerseits heute noch, dass wir es
gemacht haben; andererseits ärgert er sich, dass er nichts
auf sein eigenes Dach geschnallt hat ({2})
hat einen erheblichen Beitrag zum Klimaschutz in unserem Lande geleistet und geholfen, 20 000 Arbeitsplätze zu
schaffen.
({3})
Ich denke, das ist auch der Grund für die eben hier artikulierte Freude.
Darüber hinaus - das ist ja unumstritten, sonst wäre der
Protest hier ganz anders - haben wir durch unser Markteinführungsprogramm für erneuerbare Energien und insbesondere durch unser EEG, also das ErneuerbareEnergien-Gesetz, endlich dafür gesorgt, dass ein großer
und größer werdender Anteil unserer Stromerzeugung
durch erneuerbare Energien abgedeckt wird. Das ist gut
so. Daran werden wir weiter arbeiten.
({4})
- Ich glaube, es ist eher Ihr Spezialgebiet, Reiche noch
reicher zu machen - ob mit oder ohne Koffer, sei dahingestellt -; da sind wir ja eher Waisenknaben.
({5})
- Ich freue mich über Ihre Begeisterung.
Auf jeden Fall haben wir damit über 100 000 zusätzliche Arbeitsplätze in unserem Lande geschaffen. Ich
denke, darauf können wir stolz sein. Das ist der richtige
Weg. Diesen Weg werden wir fortsetzen.
({6})
Meine Damen und Herren, es liegt ein Antrag der
CDU/CSU-Fraktion - abgeschrieben von einem Antrag
von Rot-Grün und ein bisschen variiert - zu einer deutschen Exportinitiative für erneuerbare Energien vor. Das,
was wir vorgelegt haben, findet übrigens breites Lob in
der Öffentlichkeit,
({7})
unter anderem vom VDMA, also vom Verband der Deutschen Maschinen- und Anlagenbauer.
({8})
Wenn ich das richtig sehe, haben nicht alle dort ein rotes
oder grünes Parteibuch. Insofern ist das eine ganz neutrale
Instanz.
({9})
Von daher freuen wir uns darüber. Diese sind ganz offensichtlich der Auffassung, dass Ihr Antrag entweder überflüssig ist oder zu spät kommt. Im Allgemeinen sagt man
ja: Besser spät als nie. Sie hätten aber auch einfach sagen
können: Toll, was die Roten und Grünen gemacht haben.
Wir stimmen dem zu. - Dazu konnten Sie sich jedoch
nicht überwinden. Vielleicht kommt das ja noch.
Energieeinsparverordnung und CO2-Minderungsprogramm sind die nächsten Stichworte. Wir haben mit unseren Gesetzesbeschlüssen dafür gesorgt, dass man bei
Neubauten in Zukunft mit 30 Prozent weniger Energie
auskommen wird. Das Niedrigenergiehaus wird sozusagen Standard. Auch für den Altbestand haben wir einiges
getan. Die von uns aufgelegten Programme sorgen dafür,
dass über entsprechende Wohnraummodernisierung CO2Einsparungen und Energie- und Ressourcenschonung
stattfinden.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt zu
einem Punkt, der uns sehr viel Beifall in der Bevölkerung
und sehr viel Zustimmung in der Wirtschaft gebracht hat.
({11})
- Sie merken, ich baue Spannung auf; der Herr Obermeier
denkt schon, was kommt jetzt.
({12})
- Das wäre auch eine gute Variante. Ein Punkt, bei dem
die CDU/CSU-Fraktion und einige Abgeordnete der
FDP-Fraktion glauben, sie könnten die Schlachten von
gestern schlagen, ist der Ausstieg aus der risikobehafteten Kernenergie. Wie gesagt: positiver Widerhall in Bevölkerung und Wirtschaft. Sie kündigen nicht nur in den
Ausschüssen des Bundestages, sondern auch in der Enquete-Kommission an, dass Sie, wenn Sie an die Regierung kommen sollten - man kann auch einmal über solche theoretischen Szenarien sprechen -,
({13})
den Weg zurück in Richtung Atomenergie suchen wollen.
Sie müssen jedoch lange suchen, denn ihn will keiner
mehr mitgehen, schon gar nicht die Wirtschaft.
({14})
Der Präsident des Umweltbundesamtes - immerhin ein
CDU-Mitglied; hier sollten Sie vielleicht einmal zuhören - sagt, dass das, was Sie vorhaben, ein Szenario ohne
Zukunft ist.
({15})
Sie sollten darüber noch einmal mit Ihrem Kanzlerkandidaten reden. Vielleicht ist er doch noch zu überreden, sein
Kompetenzteam sozusagen auf Zukunft zu programmieren.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch auf anderen
Feldern hat diese Bundesregierung Erfolge zu verbuchen.
Zum Beispiel - das können wir hier ja einmal festhalten;
wir haben ja auch besondere Freunde der Steinkohle hier
an Bord ({17})
ist es in den letzten Wochen gelungen, in Brüssel dafür zu
sorgen, dass das, was Sie 1997 mit der deutschen Steinkohleindustrie vertraglich vereinbart haben, bis 2005 auch
tatsächlich umgesetzt werden kann. Sie wissen, dass die
Rechtsgrundlage der EGKS Mitte dieses Jahres entfällt.
({18})
Diese Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass die Verträge, die Sie gemacht haben, eingehalten werden. Darüber sollten Sie sich freuen, denn ansonsten hätten Sie
sozusagen öffentlich dafür in Haftung genommen werden
können.
({19})
Des Weiteren ist dafür gesorgt, dass der deutsche Steinkohlebergbau bis 2010 und darüber hinaus eine Perspektive hat. Sie müssen sich einigen, was Sie wollen, ob Ihr
Peter Müller Recht hat, der durch die Lande reist und sagt,
wir wollen sofort aus der Kohlesubvention heraus, oder
ob diejenigen Recht haben, die den Antrag, den Sie heute
vorgelegt haben, unterschrieben haben und sagen, sie
wollen die weitere Förderung der deutschen Kohletechnologie. Wer die Kohletechnologie in Deutschland fördern will, der muss erst einmal dafür sorgen, dass in
Deutschland Kohle gefördert wird.
({20})
Wenn wir keine Kohlebasis in Deutschland haben, wenn
die deutsche Kohletechnologie keinen Markt in Deutschland hat, dann wird sie auch keine Absatzchancen im Ausland haben. Ihr redet immer davon, dass wir den Transrapid nur verkaufen können, wenn wir ihn in Deutschland
anwenden. Das Gleiche gilt für die Kohle. Wir müssen die
Kohle in Deutschland fördern und entsprechende Technologien hier anwenden, dann können wir sie im Ausland
verkaufen.
({21})
In diesem Punkt muss man schon konsequent bleiben.
Auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, eingerichtet vor zweieinhalb Jahren - ich gebe
zu, auf Wunsch der Opposition -, hat jedenfalls in Teilen
gute Arbeit geleistet. Rot-Grün hat, wie ich finde, ein
gutes Konzept für die Zukunft vorgelegt. Wir sind nicht
den Weg zurück in die Vergangenheit gegangen.
Herr Kollege
Hempelmann, Sie haben Ihre Redezeit bereits weit überschritten.
Ich komme zum Schluss. Ich bin ganz sicher, die Bundesregierung wird in der
nächsten Legislaturperiode unsere Vorschläge aufgreifen
und sie in ein Energiekonzept der Zukunft einarbeiten. Ich
freue mich über Ihre Begeisterung und über die nachfolgenden Reden.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist
der Kollege Kurt-Dieter Grill für die Fraktion der
CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Hempelmann, wer Ihrer
Rede gelauscht hat,
({0})
der weiß, dass hier jemand geredet hat, der gar nicht weiß,
was auf der Tagesordnung steht. Es geht nämlich um die
Beratung der Großen Anfrage zum Energiebericht des
Bundeswirtschaftsministers.
({1})
Man könnte ja der Meinung sein, dass bezüglich der von
Hempelmann vorgetragenen Erleuchtung der alte Bergmannspruch gilt: „Vor der Hacke ist es duster.“
({2})
Licht in die Energiepolitik hat es jedenfalls nicht gebracht.
({3})
Der Kollege Hempelmann hat sich über die Monopole
in Südeuropa beschwert. Dazu muss ich sagen: Vielleicht
sollten wir die Bundesregierung einmal fragen, warum sie
eigentlich die Nichtöffnung der französischen und spanischen Energiemärkte akzeptiert hat, als über die Öffnung
der Binnenmärkte in Europa diskutiert wurde.
({4})
Hat das vielleicht doch etwas mit der Steinkohle zu tun?
Wer sich über die Beteiligung von EDF an EnBW so
wie Sie auslässt, der sollte noch andere Fragen beantworten, die ebenfalls im Energiebericht des Bundeswirtschaftsministers enthalten sind. Innerhalb der Gesetzgebung ist der Wettbewerb nicht die Stärke der Regierung.
({5})
Wenn man sich einmal die Bilanz der Bundesregierung anschaut, so wie sie Rolf Hempelmann vorgetragen
hat, dann kommt man zu der Feststellung, dass sie aus
100 000 Solardächern und aus der Kohle besteht und dazwischen gar nichts.
({6})
Genau genommen, gibt es eigentlich gar keine Bilanz der
Bundesregierung in Bezug auf die Energie, weil der Bericht des Bundeswirtschaftsministers nicht der Bericht der
Bundesregierung ist.
({7})
Ein Bundeswirtschaftsminister, der in den Hinterzimmern mit der Wirtschaft darüber spricht, wie verfehlt die
Subventionspolitik dieser Bundesregierung ist,
({8})
der sich darüber aufregt, dass das EEG vollkommen
falsch ist, dass die KWK-Prämie eine Schrottprämie ist
und dass die Arbeitsplätze in der Windenergie mittlerweile mit 170 000 Euro subventioniert werden, kann in
seinem Energiebericht keine Perspektive für die deutsche
Energiepolitik aufzeigen.
({9})
In der Antwort tritt klar zutage, dass diese Bundesregierung nicht hinter dem Bundeswirtschaftsminister und seinem Energiebericht steht.
({10})
Diese Bundesregierung hat keine Perspektive für die
deutsche Energiepolitik aufgezeigt.
({11})
- Es ist aber so. Frau Kastner, Sie sind nach dreieinhalb
Jahren, also am Ende Ihrer Regierungszeit, nicht in der
Lage, ein Energieprogramm bis zum Jahre 2020 vorzulegen. Es liegt uns nur ein Bericht vor, in dem Ihre Fehler
beschrieben werden. Aber Sie haben kein Energieprogramm vorgelegt, in dem Perspektiven bis zum Jahr 2020
enthalten sind. Das ist die Realität.
({12})
Die beschworene Energiewende, die heute Mittag gerade wieder eine Rolle gespielt hat, findet nicht statt. Wo
denn auch? Der Energiebericht zeigt sie nicht auf.
({13})
- Im Vergleich zu Ihnen könnte ich selbst als Blinder noch
sehen, Frau Ganseforth.
({14})
Die beschworene Energiewende wird nicht beschrieben. Ich könnte Ihnen jetzt haufenweise Zitate anführen,
in denen der Bundeskanzler davon spricht, dass es noch
lange dauern wird, bis sich die Solarenergie durchsetzt,
und dass erst einmal Großkraftwerke auf Steinkohle- und
Braunkohlebasis gebaut werden müssen. Auch der Bundeswirtschaftsminister spricht davon. Aber für die Energieforschung in Sachen Kohlekraftwerke hat er nichts getan.
Ich könnte Ihnen anhand des Vattenfall-Kongresses, einer Veranstaltung von Daimler-Chrysler im November 2000 und einiger anderer Veranstaltungen konsequent
nachweisen, dass die Perspektive der Bundesregierung
bedeutet - ich spreche nicht darüber, was manche in diesem Hause dazu gesagt haben -:
({15})
Die Nutzung der Kernenergie wird beendet und an die
Stelle von Kernkraft werden Kohlekraftwerke gesetzt.
Um es klipp und klar zu sagen: Die Bundesregierung hat
das Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren, aus ihrer Klimapolitik bzw. ihrer Nachhaltigkeitsstrategie gestrichen, weil sie Kohlekraftwerke bauen
will. Selbst wenn sie die modernsten baut, bedeutet das im
Vergleich zur Nutzung der Kernenergie eine Erhöhung
des CO2-Ausstoßes.
({16})
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große
Anfrage macht auch deutlich, dass die eigentliche Schwierigkeit gar nicht darin besteht, das eine oder andere, zum
Beispiel das 100 000-Dächer-Programm hier oder das
KWK-Gesetz dort, zu beschreiben, sondern darin, dass
SPD und Bündnis 90/Die Grünen nicht in der Lage sind,
an den entscheidenden Stellen einen Konsens zu finden.
({17})
Wir haben das in der Enquete-Kommission erlebt.
In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU zur Energiepolitik hat die Bundesregierung Ziele formuliert: Die Energiepolitik soll staatsfrei
und subventionsfrei sein und auf Wettbewerb beruhen.
Dazu muss ich sagen:
Erstens. Die Subventionen steigen und fallen nicht; geschweige denn, dass Sie eine subventionsfreie Energiepolitik machen.
Zweitens. Es gibt immer weniger Wettbewerb, weil es
immer mehr Staat gibt.
Drittens. Sie reden einer Energiepolitik das Wort, in der
im Grunde genommen von unten nach oben verteilt wird.
An diesem Pult hat der Kollege Jung bei der Behandlung
des KWK-Gesetzes offen und deutlich gesagt: Wir begrenzen die Belastung der energieintensiven Industrie, indem das Netznutzungsentgelt höchstens um 0,05 Cent pro
Kilowattstunde erhöht werden darf, und legen das, was
die Großen nicht bezahlen, auf den Mittelstand und die
Tarifkunden um. - Sie betreiben mit der Energiepolitik
soziale Ungerechtigkeit und belasten den Mittelstand ein
weiteres Mal.
({18})
Wir sprechen über die Energiepolitik der Bundesregierung. Wenn man in der Antwort der Bundesregierung
nachsehen will, welche Ziele die Bundesregierung für das
Jahr 2020 nachprüfbar, also anhand von Fakten, formuliert hat, dann stellt man fest: Fehlanzeige!
({19})
Wenn man nachsehen will, wie die Klimaziele für 2020
aussehen, dann finden sich zwar viele Ausreden, warum
es keine gibt. Aber es finden sich keine klaren Formulierungen.
({20})
Sie haben nicht aufgezeigt, wie das Ziel einer Verminderung des CO2-Ausstoßes um 40 Prozent erreicht werden
kann. Ich füge hinzu: Der Bundeskanzler und der Bundeswirtschaftsminister propagieren Kohlekraftwerke auf
Braunkohle- und Steinkohlebasis.
Lieber Rolf Hempelmann, ich habe mir noch einmal
das Protokoll der Enquete-Kommission und den Beschlussvorschlag von Herrn Wodopia durchgelesen.
({21})
Es waren die Vertreter von Rot-Grün, die den Vorschlag
von Herrn Wodopia hinsichtlich der deutschen Steinkohle
mit einem klaren Nein niedergestimmt haben.
({22})
Ihr seid die Letzten, die davon sprechen können, dass die
Kohlepolitik der CDU/CSU fragwürdig sei.
Nun möchte ich über die Dinge sprechen, die in den
letzten Tagen und Wochen eine entscheidende Rolle gespielt haben. Da gibt es erstens ein paar Leute wie die Kollegin Hustedt, die durch das Land ziehen und die These
verbreiten - ich habe Ihnen das bereits öffentlich gesagt -,
es gebe bei der CDU/CSU und der FDP einen politischen
Beschluss, 50 neue Kernkraftwerke zu bauen.
({23})
Das ist gelogen. Sie wissen ganz genau, dass die CDU/
CSU an keiner Stelle, weder in der Enquete-Kommission
noch in anderen energiepolitischen Programmen, die ich
geschrieben habe, auch nur in einem Satz darauf verwiesen hat, dass sie für den Bau von 50 bis 70 Kernkraftwerken sei.
({24})
Sie brauchen diesen Popanz für den Wahlkampf und für
nichts anderes. Denn Sie bekommen Ihre Leute nicht
mehr in Schwung. Frau Hustedt, ich fordere Sie an dieser
Stelle auf,
({25})
diese Behauptungen zurückzunehmen und sich dafür zu
entschuldigen. Sie machen Wahlkampf mit Lügen; das ist
das Faktum.
({26})
- Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun? Herr
Kubatschka, Sie müssen blind sein, wenn Sie nicht lesen
können!
({27})
Ich sage Ihnen ein Zweites: Draußen erklären Sie, die
CDU/CSU würde bei einem Regierungswechsel das EEG
abschaffen und die erneuerbaren Energien nicht mehr finanzieren. Auch das ist falsch. Sie machen draußen mit
Angst Politik. Wir werden das EEG verändern, aber wir
werden es nicht abschaffen. Unter einer Regierung von
CDU und CSU wird es auch eine Förderung der erneuerbaren Energien geben, aber eine wettbewerbsorientierte
Politik und nicht eine Subventionspolitik, wie Sie sie fortgeschrieben haben.
({28})
Im Übrigen, meine Damen und Herren, will ich noch
zu drei Anträgen etwas sagen.
Erstens. Der Antrag der CDU/CSU zu der Frage der
Exportförderung von erneuerbaren Energien hat die Zustimmung all derjenigen, die davon leben, unter anderem
zum Beispiel des Solarforschungsverbundes. Das, was im
Antrag von Rot-Grün steht, bringt viel Bürokratie in
Deutschland und wenig Hilfen für den Export erneuerbarer Energien in Entwicklungsländern mit sich. Wir haben
in diesem Hause deutlich gemacht, dass der Antrag des
Kollegen Schuster aus dem Entwicklungshilfeausschuss,
der von den Interessen der Entwicklungsländer her denkt,
durchaus mit uns verhandelbar gewesen wäre. Aber das,
worüber wir heute entscheiden sollen, ist ein schlechter
Antrag, der mit viel Bürokratie in Deutschland verbunden
ist, ohne für die Entwicklungsländer etwas zu bringen.
({29})
Zweitens. Bei der Initiative für Advanced Global
Technology geht es darum, dass wir in Deutschland aufpassen müssen, dass in der Kohletechnologie kein Fadenriss entsteht; denn die Materialien der Kohlekraftwerke
der Zukunft sowie deren Effizienzziele müssen noch einmal auf den Prüfstand. Wir brauchen sowohl im Interesse
der deutschen Braunkohle als auch im Interesse der deutschen Steinkohle, aber auch der internationalen Kohlepolitik eine solche Forschung. Wir sind gespannt, wie Sie
mit diesem Antrag umgehen werden.
Ein Letztes, meine Damen und Herren: Ich sehe, dass
meine Kollegen gar nicht mehr hier sind, weil sie der Antrag überhaupt nicht interessiert. Dass Sie heute mit der
Begründung, Niedersachsen habe keinen Antrag gestellt,
einen Lastenausgleich für die Entsorgungsstandorte in
Niedersachsen verweigern, ist eine Unverschämtheit.
({30})
Unter der Regierung Helmut Kohl und unter der Regierung Ernst Albrecht hat es einen Lastenausgleich für die
Standorte gegeben, die die Last der nationalen Entsorgung
getragen haben.
({31})
Sie nehmen Ihre Verantwortung nicht wahr. Sie haben
1998 den Bürgerinnen und Bürgern in Niedersachsen und
auch in meinem Wahlkreis erklärt, wenn Sie an die Regierung kommen, hören die Transporte auf, wird in Gorleben alles eingerissen. Sie haben das Endlager genutzt
und haben sich bis heute bei den Menschen in LüchowDannenberg dafür nicht einmal entschuldigt. Herr Trittin
hat hinter dem Stacheldrahtzaun mit Journalisten diskutiert,
aber nicht mit Bürgern. Sie sind den Menschen in LüchowDannenberg sozusagen eine Entschuldigung schuldig, weil
Sie sie belogen haben, meine Damen und Herren!
({32})
Das ist die Wahrheit. Sie werden am 22. September zu
spüren bekommen, dass Sie sich noch nicht einmal entschuldigt haben und im Gegensatz zu allen Ministern der
CDU/CSU und der SPD das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern verweigert haben. Heute verweigern Sie
die Hilfe. Wir werden das zur Kenntnis nehmen.
Herzlichen Dank.
({33})
Es spricht jetzt die
Kollegin Michaele Hustedt für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe es
erwartet. Jetzt kommt wieder die alte Leier: Die Bundesregierung hat kein Energieprogramm.
({0})
Richtig ist: Wir haben kein Papier zur Abstimmung gestellt.
({1})
Das hatten Sie in den letzten zwei Legislaturperioden, in
denen Sie an der Regierung waren, auch nicht.
Wir haben kein Energieprogramm; das heißt aber nicht,
dass wir kein Energiekonzept hätten. Im Gegenteil, wir
haben die Taten sprechen lassen. Und davon möchte ich
einige aufzählen.
({2})
Mit der Ökosteuer haben wir eine ökologische Finanzreform begonnen, die bereits erste Wirkungen zeigt.
({3})
Wir haben einen Konsens mit der Energiewirtschaft
über den Atomausstieg erreicht. In 20 Jahren geht das
letzte AKW vom Netz - weltweit der schnellste Ausstieg,
den es gibt.
Durch das EEG und diverse Förderprogramme haben
wir einen Boom bei der Gewinnung von Energie aus
Sonne, Wind und Biomasse. Wir sind das Innovationsland
Nummer eins durch unsere Förderungen geworden.
({4})
Durch die KWK-Gesetzgebung haben wir inzwischen
eine Investitionsbereitschaft in der Größenordnung von
einem AKW; so wird es weitergehen. Auch das KWK-Bonus-Gesetz zeigt seine Wirkung. Wir haben den Grundstein für den Marktdurchbruch der Brennstoffzelle gelegt
und die Mittel für die Altbausanierung verzehnfacht
- Herr Grill, hören Sie einmal zu, das ist ein Hobbyprojekt Ihres Kollegen Lippold -, und zwar trotz des Sparhaushalts. Wir haben eine Energieeinsparverordnung,
({5})
die den Niedrigenergiehausstandard festschreibt, und den
Energiepass als neues marktwirtschaftliches Instrument
auf den Weg gebracht.
Wir haben die Erdgas- und die Biotreibstoffe von der
Steuer befreit und in der Forschungspolitik, auf die sich
einer Ihrer Anträge bezieht, mehr erreicht als Sie. So haben wir zum Beispiel die Mittel für die nicht nukleare Forschung in der Energiewirtschaft von 117 Millionen Euro
auf 148 Millionen Euro - ich wiederhole: 148 Millionen
Euro - erhöht. Wir haben also gegenüber Ihren Vorschlägen, was in der Energieforschung getan werden sollte,
deutlich aufgestockt.
({6})
Sie haben die Subventionen angesprochen. Ich weiß
nicht, ob Sie die Haushaltszahlen des Wirtschaftsministeriums kennen. Der Etat sinkt um 10 Prozent. Warum? Herr
Grill, können Sie mir die Antwort geben? Er sinkt, weil
die Subventionen für die Kohle sinken. Wir verzeichnen
ein Minus von 10 Prozent;
({7})
das ist die größte Senkung in einem Haushalt.
({8})
Hören Sie doch mit Ihren Forderungen, wir müssten mehr
Forschung betreiben und die Subventionen senken, auf.
Das tun wir und darüber hinaus haben wir noch auf der
ganzen Breite zukunftsweisende Maßnahmen ergriffen.
({9})
Wir haben die Weichen gestellt. Die Bilanz: In
Deutschland gibt es eine neue Energiepolitik und ein Konzept, das in die Zukunft weist. Wir setzen auf Innovationen in der Energiepolitik und schaffen dabei Arbeitsplätze. Es gab allein im Bereich der erneuerbaren
Energien 130 000 neue Arbeitsplätze.
({10})
Auch durch die Ökosteuer und die KWK-Gesetzgebung
werden neue Arbeitsplätze geschaffen.
Wir zeigen damit, dass es sich für den Standort
Deutschland lohnt, Vorreiter im Klimaschutz zu sein, und
wir damit Exportmärkte erobern können. Wir beweisen
damit, dass man auch dann, wenn man Pioniermärkte besetzt, wirtschaftlich erfolgreich sein kann.
({11})
Wir geben damit weltweit den Anreiz, uns nachzueifern.
Frankreich und Brasilien beispielsweise haben unser Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien übernommen. Es gibt große Aufmerksamkeit für die neue Energiepolitik der rot-grünen Regierung in unserem Land. Wir
machen eine Politik ohne radioaktive Strahlung, aber mit
großer Ausstrahlung auf die ganze Welt.
({12})
Unser Konzept lautet zusammengefasst gemäß Erich
Kästner: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Das haben wir in dieser Legislaturperiode bisher getan.
({13})
Jetzt komme ich zu Ihnen. Was fällt Ihnen ein? Haben
Sie von der CDU/CSU heute ein Energiekonzept vorgelegt? Das ist mir ehrlich gesagt entgangen. Sie haben hier
nur herumgekrittelt. Sie jammern wieder einmal über das
Ende der Atomkraft. Aber wenn wir den Ansatz „Klimaschutz durch Atomkraft“ durchrechnen - jetzt komme
ich auf die Arbeit der Enquete-Kommission zu sprechen -,
dann sagen Sie: Bloß nicht, damit haben wir nichts zu tun.
Denn Sie wissen genau, dass Klimaschutz durch Atomkraft in unserem Land nicht durchsetzbar ist. Klimaschutz
durch Atomkraft heißt, 50 bis 70 Atomkraftwerke zu
bauen. Das waren die Szenarien, die wir in der EnqueteKommission durchgerechnet haben.
({14})
Dazu können selbst Sie nicht stehen.
({15})
Verständigen wir uns doch darauf, dass der einzige
vernünftige Weg zu einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Energiewirtschaft derjenige ist, den die rot-grüne
Bundesregierung eingeschlagen hat. Dazu gehören drei
Säulen: Energieeinsparung, Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Diese drei Säulen haben wir in dieser
Legislaturperiode gestärkt. Das ist der einzige vernünftige
Weg in die Zukunft. Das belegt auch die Diskussion in der
Enquete-Kommission.
({16})
Es liegt mir am Herzen, noch etwas zu der Exportoffensive zu sagen. Ich freue mich, dass die CDU/CSU dazu
einen eigenen Antrag eingebracht hat. Ich habe immer gesagt, dass ich auch Sie hierfür gewinnen will. Unser Ziel
ist dasselbe. Wir halten es für gut, dass diese Branche, die
es nun einmal gibt - ob man sie liebt oder nicht, da mögen wir unterschiedlicher Auffassung sein -, ein zweites
Standbein bekommt. Ich finde, Ihr Antrag bleibt relativ
blass, während unser Antrag sehr konkret ist. Aber ich
hoffe, dass wir uns, wenn wir heute auch nicht gemeinsam
stimmen, doch in nächster Zeit annähern werden.
Ich möchte einmal sagen, was wir wollen. Wir möchten einer Branche, die über eine Spitzentechnologie verfügt, womit wir Innovationsmärkte besetzen, die gleichzeitig jung und mittelständisch organisiert ist, nicht nur
helfen, auf dem Binnenmarkt einen Absatzmarkt zu finden, sondern auch dabei, sich ein zweites Standbein im
Export zu schaffen. Dies wollen wir tun, indem wir zum
Beispiel helfen, Informationen darüber zu sammeln und
zu komprimieren, in welchem Land es sich überhaupt
lohnt, aktiv zu werden, etwa in Form einer Top-Ten-Liste.
Frau Kollegin
Hustedt, kommen Sie bitte zum Schluss.
Andere haben ihre Redezeit auch überzogen, aber ich
komme zum Schluss. - Es geht darum, Kontakte herzustellen, Botschaften zu schulen, Kioto-Instrumente in diesem Sinne weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund
finde ich Ihren Vorwurf, wir würden da zu nationalistisch
denken, ehrlich gesagt komisch.
({0})
Wenn wir Vorreiter sind, wollen wir natürlich auch etwas
davon haben, und zwar Exportchancen.
({1})
Lassen Sie uns doch gemeinsam darum kämpfen, dass wir
aus der Vorreiterrolle im Klimaschutz auch Vorteile für
unseren Wirtschaftsstandort Deutschland ziehen! Das ist
der Kern dieser Initiative. Die dena soll kein Ersatz für die
anderen Insititutionen sein.
Frau Kollegin
Hustedt, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin jetzt am Schluss. - Sie sollen Ihre Aufgaben wahrnehmen und Motor bzw. Moderator sein, damit es einen
Ansprechpartner gibt.
Abschließend: Ich wünsche und hoffe, dass dieses
kleine Pflänzchen Exportoffensive in der nächsten Legislaturperiode zu einem Baum wird, der Früchte trägt,
({0})
den wir dann gemeinsam gießen und auch begrüßen.
Danke.
({1})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Walter Hirche für die FDP-Fraktion. Er bekommt
auch gleich eine Minute mehr.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin ganz dankbar dafür, dass Frau
Hustedt hier mit umfangreichen Worten vorgeführt hat,
dass das, was sie sich unter Energiepolitik vorstellt, in
völligem Widerspruch zu dem Energiebericht des Bundeswirtschaftsministers steht.
({0})
Die Bundesregierung hat ja auf die etwas simple Frage
der CDU/CSU, wer denn eigentlich für die Energiepolitik
zuständig sei, gesagt: der Bundeswirtschaftsminister.
Wenn dem so ist, dann muss man den Energiebericht des
Bundeswirtschaftsministers ja für bare Münze nehmen.
Das will ich einmal tun.
Im Energiebericht steht zum Beispiel nicht, dass sich
die Bundesregierung das Ziel einer 40-prozentigen Reduktion der Treibhausgase zu Eigen macht. Dort heißt es,
dass es, wenn andere Industrienationen nicht ebenfalls
Verpflichtungen wie die Bundesrepublik eingehen, zu einem Schaden für unsere Volkswirtschaft käme. Hier wurde
nichts zu den Kosten gesagt. Der Bundeswirtschaftsminister führt in seinem Bericht zum zweiten Szenario das allen
Wunschvorstellungen von Frau Hustedt entspricht, aus,
dass dies eine zusätzliche Belastung der deutschen Volkswirtschaft bis zum Jahr 2020 von 256 Milliarden Euro bedeuten würde,
({1})
zusätzlich zu dem, was nach dem ersten Szenario, das dort
auch berechnet ist, aufgebracht werden muss.
Meine Damen und Herren, der Bundeswirtschaftsminister, der nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung für die Energiepolitik zuständig sein soll, hat in diesem Jahr in einer Pressemitteilung geäußert, dass jeder
Arbeitsplatz, der im Bereich der Windenergie geschaffen
worden sei, mit 150 000 Euro subventioniert wurde. Das
war wohlgemerkt der zuständige Wirtschaftsminister. Er
hat die in den Augen der rot-grünen Koalitionäre kleine
Unverfrorenheit besessen,
({2})
auf ein Thema aufmerksam zu machen, das in der Vergangenheit, lieger Kollege Hempelmann, immer im Zentrum der Energiepolitik gestanden hat. Wir machen Energiepolitik nämlich zur Voraussetzung für Wohlstand und
Arbeitsplätze in dieser Gesellschaft.
({3})
Deswegen ist es wichtig, dass Energiepolitik auch Kostengesichtspunkte berücksichtigt,
({4})
dass die für die Volkswirtschaft kostengünstigste Variante
gefunden wird. Dies gilt auch im Zusammenhang mit der
Vermeidung von CO2-Emissionen und Treibhausgasen.
({5})
Es geht immer darum, die Vermeidung von CO2-Emmissionen zu den geringstmöglichen Kosten vorzunehmen.
Deswegen hat meine Fraktion vorgeschlagen, im Zusammenhang mit der von der EU verfügten Steigerungsquote für erneuerbare Energien ein Zertifikatemodell
vorzuschreiben und nicht einzelne Techniken zu fördern,
vonseiten des Staates festzulegen, wer welches Geld bekommt. Lasst doch - wie wir es in unserer Wirtschaft seit
Ludwig Erhard mit großem Erfolg praktizieren - den
Markt und den Wettbewerb darüber entscheiden, welche
Technik sich im Einzelnen am besten durchsetzen kann.
Sie wollen Subventionen für Teilbereiche der Wirtschaft organisieren. Sie betreiben in diesem Bereich eine
Klientelpolitik, die letzten Endes die Leute entweder über
ihre Steuern oder auf dem Weg über die Stromrechnung
und die Mineralölsteuer bezahlen müssen, die davon letzten Endes nichts haben, weil sie selber sich die verschiedenen Abschreibungungsmodelle nicht leisten können.
Die hier betriebene Politik ist unsozial.
({6})
Dies ist kein Zufall. Ich möchte darauf aufmerksam
machen, dass der Bundeswirtschaftsminister in seinem Energiebericht neben vielen anderen eine interessante Feststellung getroffen hat. Er schreibt dort, dass für die BunMichaele Hustedt
desregierung - man muss diesen Unterschied betonen nach wie vor die drei Grundsätze von Rio - Ökologie,
Sozialverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit - gleichrangig Gültigkeit haben. Was erleben wir in der EnqueteKommission zur Energie? Die rot-grünen Koalitionäre sagen: Das ist Schnee von gestern. Das Soziale und das
Wirtschaftliche interessiert uns überhaupt nicht.
({7})
Wir wollen den Primat der Ökologie.
(Monika Ganseforth [SPD]: Nein, wir haben
gesagt, dass es Naturschranken gibt!
Sie haben noch besonderen Wert darauf gelegt. Dies ist
ein Widerspruch zu dem, was der Bundeswirtschaftsminister in seinem Energiebericht der Öffentlichkeit sagt,
was wir im Übrigen teilen.
({8})
Nur wenn der Gleichklang zwischen Sozialverträglichkeit, Wirtschaftlichkeit und Ökologie beachtet wird, werden wir die Probleme in Deutschland lösen können. Nur
dann können wir in einer Exportoffenisve überhaupt erfolgreich sein.
Ich komme zum Schluss. Das Problem der Energiepolitik dieser Koaltion ist, dass der Wirtschaftsminister
Müller immer dann, wenn es darauf ankommt, hustet.
Es kommt keine klare Linie heraus. Wir wissen aber
alle, wer den grünen Star hat und an Sehschwäche leidet.
({9})
Was unsere Politik braucht, sind Klarheit, Zukunftssicherheit und Zielorientiertheit. Dies versuchen wir nach
dem 22. September zu erreichen. Dann gibt es nämlich die
Operation gegen den grünen Star.
({10})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte gibt Anlass, Bilanz über die Energiepolitik der Bundesregierung
Teil eins zu ziehen und einen Blick in die Zukunft zu werfen. Teil zwei folgt nächste Woche Donnerstag.
Ich möchte mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz
beginnen und Rot-Grün an dieser Stelle auch einmal loben. Ich halte es nämlich für eines der besten Gesetze im
Umweltbereich, die in dieser Legislaturperiode beschlossen wurden.
({0})
Die Überprüfung der Vergütungssätze steht an; das
wissen Sie. Wir hatten erwartet, dass diese Überprüfung
abgeschlossen ist. Meine Damen und Herren, haben Sie
mehr Mut! Ich meine, dass die Kostendeckung der Photovoltaik überprüft und angehoben werden muss.
({1})
Auch der Deckel bei der Förderung der Solarenergie
muss fallen. Wir brauchen eine Offensive für den weltweiten Einsatz regenerativer Energien. Deshalb begrüßen
wir die Exportinitiative für regenerative Energien, auch
wenn der Koalitionsantrag die entscheidende Frage der
Finanzierung offen lässt.
({2})
- Das ist mit die wichtigste Frage.
Damit sind die Gemeinsamkeiten mit der Koalition
aber schon erschöpft.
({3})
Einer nachhaltigen Energiepolitik steht die Wirtschaftspolitik Ihres Kanzlers und Ihres Wirtschaftsministers im
Wege. Der Atomkonsens ist eine Investitionsgarantie für
die Betreiber von Atomkraftwerken.
({4})
Sie haben sich der Atomwirtschaft so weit angenähert, dass
Union und FDP diese Atompolitik nicht mehr zu revidieren
brauchen, sondern eigentlich nur fortschreiben müssen.
Sie, Herr Hempelmann, haben von einem Szenario ohne
Zukunft gesprochen. Leider hat es in dieser Bundesrepublik noch viel zu lange Zukunft. Ich verstehe nicht, warum
sich Herr Grill immer so aufregt. Die AKWs laufen noch
sehr lange, unserer Meinung nach viel zu lange.
({5})
Ihre Politik stößt auf wachsende Ablehnung. Die Menschen in Lüchow-Dannenberg und in der Region Salzgitter haben ihre Hoffnungen auf Rot-Grün gesetzt. Leider haben sie diese Hoffnungen nun aufgegeben. Das
finde ich schade. Die Chancen zur Aufgabe der Endlagerprojekte haben Sie vertan. Die Menschen werden am
22. September sicherlich honorieren, wie Sie mit ihnen
umgegangen sind.
Eine Frage dieser Legislaturperiode war, wie die Überkapazitäten an installierter Kraftwerksleistung abgebaut
werden sollen. Wir hatten uns das durch einen schnellen
Atomausstieg erhofft. Hauptleidtragende Ihrer Deregulierungspolitik waren und sind jedoch Stadtwerke und Eigenversorger. Ich nenne an dieser Stelle noch einmal die
Zahl von 80 000 vernichteten Arbeitsplätzen, auch wenn
Sie das nicht gerne hören. Alternativen zur Selbstverpflichtung der Stromwirtschaft über Klimaschutz und den
Erhalt der Kraft-Wärme-Kopplung wurden von Ihnen nie
diskutiert. Unseren Gesetzentwurf zur Einführung einer
wachsenden Quote von Strom aus KWK-Anlagen haben
Sie abgelehnt.
({6})
Die Folge ist, dass Ihnen wahrscheinlich nicht einmal der
Erhalt des KWK-Anteils gelingen wird.
Auch die Verbändevereinbarungen über die Durchleitung von Strom und Gas waren für Sie alternativlos, weil das
Bundeswirtschaftsministerium an einer anderen Regelung
zu keinem Zeitpunkt Interesse hatte. In der Folge ist die Zahl
der Anbieter rapide geschwunden. Aber die Senkung und
Abschaffung von Monopolprofiten gehörten eigentlich nie
zu den Zielen Ihrer Energiemarktliberalisierung.
Wir haben andere Ziele und fordern nach wie vor eine
Regulierungsbehörde. Sie wissen, dass wir das einzige
Land in Europa sind, dass keine solche Behörde hat. Sie
hätte zum einen die Aufgabe, Durchleitungskosten zu ermitteln, zum anderen aber auch die Aufgabe, dafür Sorge
zu tragen, dass Haushalte und Kleinverbraucher nicht die
Verluste aus dem Dumpingwettbewerb um Sondervertragskunden zu tragen haben.
({7})
Die Tarifaufsichtsbehörden der Länder sind mit dieser
Aufgabe überfordert. Allein in den vergangenen vier Jahren haben Sondervertragskunden Preisabschläge in Höhe
von 30 Prozent erzielen können, während private Haushalte und Kleinverbraucher keine Kostenentlastungen erhielten. Das nenne ich einen Skandal. Wenn hier von allen möglichen Seiten von Umverteilung gesprochen wird,
dann kann ich dazu nur sagen: Das ist wirklich Umverteilung von unten nach oben.
({8})
Frau Kollegin, Sie
müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum
Schluss: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir fordern Sie
auf, sich bei der Ruhrgas-Fusion nicht über die Bedenken der Kartellexperten hinwegzusetzen. Ich bitte Sie daher, unserem Antrag zuzustimmen.
({0})
Eine Ministererlaubnis würde die Arbeit der Kartellbehörde zur Farce werden lassen. Die Arbeit der Kartellbehörde muss stattdessen gestärkt werden. Für eine soziale und gerechte Verteilung der Kosten für den Umbau
der Energieversorgung benötigen wir diese funktionierende Regulierung des Energiesektors und nicht wieder
einen Konsens mit den Bossen.
Danke.
({1})
Jetzt spricht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu so später
Stunde noch einige Anmerkungen zu diesem Thema machen. Für die Bundesregierung stellt die Energie bekanntlich einen Schlüsselfaktor für die Entwicklung gerade der
deutschen Wirtschaft dar.
({0})
Was wir brauchen, ist bezahlbare Energie, auf die wir uns
verlassen können, die uns allen Luft zum Atmen und der
Wirtschaft Raum für Wachstum lässt. Das heißt, wir bekennen uns zu den Prinzipien und der hier angesprochenen Gleichrangigkeit von Ökologie, sozialer Verantwortung und Wirtschaftlichkeit.
({1})
In allen diesen Punkten war die Politik der Opposition
rückwärts gewandt. Sie hat bestenfalls Stillstand und Stückwerk produziert. Aus genau diesen Versatzstücken speist
sich auch Ihr aktueller Vorschlagskatalog in Sachen Energie.
Ich möchte zunächst das Beispiel Klimaschutz herausgreifen. Sie haben in Ihrer Regierungszeit zwar immer wieder versucht, grün zu reden, haben aber letztlich,
wenn ich das so sagen darf, immer tiefschwarz gehandelt.
Sie haben zwar ein nationales Klimaschutzziel verkündet
und sind auch entsprechende internationale Verpflichtungen eingegangen,
({2})
aber um die Kärrnerarbeit der Umsetzung haben Sie sich
immer wieder herumgedrückt.
({3})
Ich nenne des Weiteren das Beispiel Kernenergie. Sie
haben diese Dissensenergie gegen die breite Mehrheit der
Bevölkerung am Leben erhalten und damit einen energiepolitischen Scherbenhaufen hinterlassen.
({4})
Dabei hat sich die energie- und gesellschaftspolitische
Debatte gerade dadurch beruhigt, dass die Bundesregierung durch den Konsens zum Ausstieg Risiken abbaut.
Aber was macht die Opposition in diesem Zusammenhang? Der Vorsitzende der Enquete-Kommission „Nachhaltige Energieversorgung“ schlägt zurzeit in der Presse
einen weiteren abenteuerlichen Salto mortale rückwärts.
Frau Hustedt hat bereits ausgeführt, dass Sie zurzeit über
weitere 70 Kernkraftwerke in Deutschland spekulieren,
Herr Grill.
({5})
Erklären Sie das einmal den Bürgern in unserem Lande!
Dann reden wir weiter darüber.
Es gibt zwei Nachfragen.
Ich lasse keine
Zwischenfragen zu.
Ich nenne auch das Beispiel Kohle. Sie haben in Ihrer
Regierungszeit munter Verträge abgeschlossen, aber statt
diese zu erfüllen, haben Sie immer wieder herumgeeiert.
Kein Wunder, dass Ihnen der Slogan „Versprochen - Gebrochen“ so leicht über die Lippen geht.
Ich nenne das Beispiel Liberalisierung der Stromund Gasmärkte. Sie haben zwar die Märkte auf dem Papier geöffnet, aber keinerlei praktikables Regelwerk geschaffen, das dem Wettbewerb tatsächlich Beine machen
würde.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
angesichts dieser energiepolitischen Schauplätze nicht
nur geredet, gehofft und angekündigt, sondern auch gehandelt.
({0})
Wir betreiben eine engagierte und verantwortungsbewusste Klimaschutzpolitik. Unser Klimaschutzprogramm
schont unsere eigenen Energiereserven, fördert die Energien der Zukunft und berücksichtigt gleichzeitig die Interessen der Wirtschaft. Wichtige Teile sind das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das KWK-Gesetz und auch die
Ökosteuer.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht von
unserer Förderung von Forschung und Entwicklung zu
den attraktiven Zuschüssen und den Darlehenskonditionen des Marktanreizprogramms und ist beim 100 000-Dächer-Programm noch lange nicht zu Ende.
({1})
Dank des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist Deutschland heute Windkraftweltmeister und auch in der Photovoltaik mischen wir mittlerweile weit vorn in der Weltliga
mit. Deutsche Hersteller sind in nahezu allen regenerativen Energietechnologien führend. Ich meine, dass diese
hohe heimische Kompetenz in Exporterfolge umgesetzt
werden muss. Frau Hustedt und andere haben dies bereits
gesagt.
Wir brauchen gar nicht so weit zu gehen. Schauen Sie
sich allein die Mittelmeerregion und die dortigen Probleme mit der Energieversorgung an und bedenken Sie,
was wir technologisch anzubieten haben! Da haben wir
als Regierung eine Türöffnerfunktion wahrzunehmen.
Mit den Techniken, die wir im Bereich der Infrastruktur
haben, was die Wasseraufbereitung, das Thema Wasser
insgesamt oder auch das Thema Abfall betrifft, können
wir das Nützliche für unsere Volkswirtschaft mit dem
Notwendigen für die dortigen Volkswirtschaften verbinden. Hier sehen wir uns in der Verantwortung. Auf diesem
Gebiet haben wir wesentliche Fortschritte erzielt.
({2})
Was die Instrumente angeht, so will ich hier noch
einmal sagen: Es geht um mehr als nur darum, einfach in
den alten Atomforschungskategorien weiterzumachen.
Beschreiten wir endlich neue Wege! Wir haben in diesem
Bereich eine wirkliche Änderung von Grund auf und damit eine qualitativ neue Perspektive geschaffen. Zu der
bekennen wir uns. Mit der werden wir auch landauf, landab ziehen, was die hier so viel diskutierte Mittelstandspolitik angeht, weil da gerade Chancen für die kleinen und
mittleren Unternehmen der Forschung und der Technologie in unserem Land bestehen.
({3})
Meine Damen und Herren, im Übrigen - das will ich
hier doch ganz klar sagen - haben wir Ihr Wort in der
Kohle gehalten. Wir haben die Verhandlungen über ein
neues EU-Beihilferegime für die Steinkohle kürzlich
erfolgreich abgeschlossen. Auf dem letzten EU-Energieministerrat wurde eine entsprechende Verordnung
angenommen. Erst mit dieser Regelung wird der Kohlekompromiss von 1997 mit seiner Laufzeit bis 2005 endgültig abgesichert.
({4})
Der deutsche Steinkohlebergbau erhält damit Planungssicherheit bis zum Jahr 2010. Das ist eine Perspektive, die
wir denen, denen Sie einmal eine Perspektive versprochen
haben, schuldig sind. All jenen in Nordrhein-Westfalen,
im Saarland, in Brandenburg und anderswo werden wir
immer wieder sagen,
({5})
dass wir es waren, die zu Ihren Verträgen gestanden haben,
({6})
während Sie hier immer wieder versucht haben, uns vorzuwerfen, dass wir das einhalten, was Sie einmal zugesagt
haben.
({7})
Ein letzter Aspekt. Wir werden mit Bundesminister
Müller - ({8})
- Beruhigen Sie sich ein bisschen! Sie brauchen mir nicht
vom Braunkohletagebau in Brandenburg und auch nicht
von dem in Nordrhein-Westfalen zu erzählen. Ich weiß
das sehr genau.
({9})
Ich weise Sie auf eines hin: Es gibt Zusammenhänge.
({10})
Die Kumpel an der Ruhr und die in Brandenburg und anderswo fühlen, wer seine Versprechen in diesem Land hält
und wer sie immer wieder auf die Rolle schiebt. Da wissen sie sehr wohl zu unterscheiden.
({11})
Bundesminister Müller hat, so glaube ich, eine sehr
kluge und geradlinige Energiepolitik in unserem Land betrieben
({12})
- Sie sind so laut; ich muss zum Ende kommen; lassen Sie
mich meinen Satz doch zu Ende führen -,
({13})
anerkannt von Wirtschaft und Bevölkerung in unserem
Land.
({14})
Wir brauchen uns an dieser Stelle nicht zu verstecken,
sondern wir werden das, was wir auf diesem Feld getan
haben, in den nächsten Wochen in unserem Land offensiv
vertreten; dessen dürfen Sie gewiss sein.
({15})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Kurt-Dieter Grill
das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär Staffelt,
Sie haben sich bemüßigt gefühlt, im Rahmen Ihrer Rede
die Behauptung aufzustellen, dass ich mich als Vorsitzender der Enquete-Kommission öffentlich für den Bau von
50 bis 70 Kernkraftwerken ausgesprochen habe. Ich fordere Sie hiermit auf, mir einen Beleg für diese Behauptung vorzulegen.
({0})
- Das ist in der Rede genau nachzulesen. Meine Damen
und Herren, fangen Sie jetzt nicht an, darum herumzureden!
Sie haben hier die Unwahrheit gesagt. Ich fordere Sie
auf, sich entweder zu entschuldigen oder sofort einen Beleg für das, was Sie hier behauptet haben, vorzulegen. Sie
sind den Fehlinformationen von Frau Hustedt, Herrn
Trittin und Herrn Fischer aufgesessen. Entweder nehmen
Sie Ihre Behauptung zurück oder ich verlange von Ihnen
in den nächsten Tagen einen Beleg für das, was Sie hier
gesagt haben. Den werden Sie nicht liefern können.
Ich will noch ein Zweites sagen: Das, was Sie hier zur
Kohlepolitik geäußert haben, entbehrt jeder Grundlage.
Sie brauchen offensichtlich für den Wahlkampf die
Schimäre, die Union hätte nicht für die Kohle gestanden.
Dies ist ebenso schlicht und einfach unwahr. Sie basieren
Ihre Kohlepolitik auf dem, was Helmut Kohl 1997 geschaffen hat. Es ist eine Unverschämtheit. Sie haben die
Kohleforschung gegen die Wand gefahren und nicht weitergeführt. Sie haben keine Antwort auf die Kohletechnik
der Zukunft. Deswegen sage ich Ihnen: Ihre Rede war alles andere als ein Beitrag zur deutschen Energiepolitik.
({1})
Zur Erwiderung Herr
Kollege Dr. Staffelt, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe gar keinen
Grund, mich zu entschuldigen; denn nach dem, was ich
weiß,
({0})
jedenfalls nach bisherigem Sachstand, spekulieren Sie
aufgrund Ihrer Aussagen über 70 neue Kernkraftwerke in
Deutschland.
({1})
Dabei kann ich zunächst einmal bleiben.
({2})
Ich sehe gar keinen Grund, mich an dieser Stelle in irgendeiner Weise zu entschuldigen, schon gar nicht nach
den Ausfällen, die Sie hier vorhin an den Tag gelegt haben. Sie müssen einmal Ihre eigene Rede nachlesen; erst
dann können wir überhaupt miteinander in Dialog treten,
Herr Abgeordneter.
({3})
Zum zweiten Punkt sage ich Ihnen Folgendes.
({4})
- jetzt rede ich und nicht Sie -: Was die Thematik Kohle
betrifft, so werfen Sie uns doch immer vor, wir würden
Subventionstatbestände schaffen. Dabei hat sich diese
Regierung bemüht,
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Mühe
allein reicht nicht!
im Einvernehmen mit allen Beteiligten die dringend erforderlichen Subventionen aufrechtzuerhalten, aber eben
auch möglichst über das hinauszugehen, was Sie einmal
festgelegt haben. Sie unterlassen es nicht, uns immer wieder in einer besonderen Weise zu denunzieren, als seien
wir diejenigen, die über alle Maßen Subventionstatbestände schaffen und damit die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland blockieren. Das ist die Art und Weise,
wie Sie Politik in diesem Lande machen. Diese Jacke
ziehe ich mir nicht an. Deshalb bleibe ich an dieser Stelle
genauso hart, wie ich es hier formuliert habe.
({5})
Wir fahren jetzt in der
Debatte fort. Ich erteile das Wort der Kollegin Dagmar
Wöhrl für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich glaube, auch wenn es schon sehr spät
ist, sollten wir heute Abend sachlich und wahrheitsgemäß
miteinander umgehen.
Wer wissen wollte, welchen Stellenwert der Wirtschaftsminister in der rot-grünen Koalition hat, der hat am
27. November letzten Jahres die Antwort erhalten. An diesem Tag hat Minister Müller seinen Energiebericht vorgelegt, der sich sehr sorgfältig mit verschiedenen Szenarien
einer künftigen Energieversorgung in Deutschland auseinander setzt, und zwar sowohl in ökonomischer als auch in
ökologischer Sicht. Das war offenbar mehr Ökonomie, als
SPD und Grüne hier vertragen. Das hat man gemerkt.
Herr Michael Müller, stellvertretender Vorsitzender
der größeren Regierungsfraktion, lässt sich im „Handelsblatt“ mit der Aussage zitieren, der Bericht sei schlicht
nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Herr Schlauch und Frau
Hustedt von den Grünen bemängeln, der Bericht beruhe
auf unvollständigen und überholten Daten und führe deshalb zu falschen Aussagen und Konsequenzen.
Dann ist etwas bisher Einzigartiges passiert. Ein
Minister ist von der Regierungsfraktion mit besonderer
Härte angegriffen worden und der Kanzler hat es nicht für
nötig befunden, sich vor seinen Minister zu stellen, die
Ruhe in seinem Laden wieder herzustellen und seinem
Kabinettsmitglied wieder Respekt zu verschaffen.
({0})
Tatsache ist: Eine leistungsfähige und preiswerte
Energieversorgung ist ein Standortfaktor ersten Ranges.
Wir brauchen sie, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, um Arbeitsplätze und Wohlstand in unserem Land zu sichern und zu mehren.
Die rot-grüne Energieverteuerungspolitik ist schädlich
für unser Land. Es ist eine Schnapsidee, mit den Einnahmen aus Mineralölsteuererhöhungen und aus der Stromsteuer die Sozialversicherungssysteme zu subventionieren und sich auf diese Art und Weise vor den notwendigen
Reformen zu drücken.
({1})
Aber Sie haben Ihre Schnapsidee nicht einmal konsequent durchgehalten:
({2})
Zum 1. Januar dieses Jahres haben Sie nicht nur die Ökosteuer, sondern auch die Sozialversicherungsbeiträge erhöht. Das ist ein Betrug an den Bürgerinnen und Bürgern,
denen Sie etwas ganz anderes versprochen haben.
({3})
Energiepolitik als Standortpolitik hat noch einen zweiten Aspekt: Es ist eine nationale Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass Deutschland Energieproduktionsstandort bleibt. Das
gilt vor allem im Hinblick auf den Strom.
Strom ist schließlich strategische Infrastruktur für
uns alle.
Das hat nicht irgendeiner von uns hier gesagt, sondern
Minister Müller bei einer Rede in Köln.
({4})
- Genau! - Wir wollen, dass der Strom auch in Zukunft
nicht nur aus deutschen Steckdosen, sondern auch aus
deutschen Kraftwerken kommt, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierung.
Aber Rot-Grün setzt die heimische Stromerzeugung
aufs Spiel. Kanzler Schröder hat es auf dem EU-Gipfel in
Barcelona doch nicht einmal geschafft, faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Stromwirtschaft durchzusetzen.
Frankreich darf seinen Markt nach wie vor abschotten.
({5})
Was sagt Minister Eichel dazu? Er sagt: Wir begreifen,
dass jedes Land seine eigene Perspektive hat. - Ja, wo
sind wir denn? Wir begreifen, dass Schröder und Eichel in
Barcelona beim Thema Energie den Preis dafür bezahlen
mussten, dass die anderen Mitgliedstaaten Deutschland
zuvor den an sich verdienten blauen Brief erspart haben.
So ist es, liebe Kolleginnen und Kollegen. Da waren politische Teppichhändler am Werk und niemand anders.
({6})
Was bringt uns der von Rot-Grün durchgesetzte Atomausstieg? Er macht uns mittelfristig zum Stromimportland,
({7})
da im eigenen Land weit und breit kein ökonomisch und
ökologisch vertretbarer Ersatz in Sicht ist. Deshalb wollen wir Ihr Ausstiegsgesetz nach einem Regierungswechsel rückgängig machen. Wir sehen nicht ein, was es bringen soll, Wertschöpfung und Arbeitsplätze in der
Stromwirtschaft bei uns zu vernichten, um dann aus dem
Ausland Atomstrom zu importieren; zumal wir - das ist
viel schlimmer - auf die Sicherheitsstandards der Kernkraftwerke im Ausland keinerlei Einfluss mehr haben.
Ich wiederhole: Energiepolitik ist Standortpolitik. Es
nutzt nichts, dass Minister Müller das weiß und es in seinem Energiebericht zum Ausdruck bringt, solange er gegen die ideologische Verbohrtheit in den Reihen der Regierungsfraktionen nicht ankommt.
Unserer Volkswirtschaft geht es nicht gut. Es ist notwendig, dass es endlich wieder aufwärts geht. Deswegen
hoffen wir auf den 22. September.
Vielen Dank.
({8})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Horst Kubatschka für die
SPD-Fraktion.
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand soll behaupten, dass das Parlament nicht auch zur nächtlichen
oder zur sehr frühen Stunde erbittert über Themen streitet.
Das ist auch notwendig.
Herr Grill und Herr Hirche - manchmal ist es nötig, etwas zurückzuweisen und auf etwas anderes hinzuweisen -,
was Sie geboten haben, waren Zerrbilder.
({0})
Herr Hirche, was Sie aus der Enquete-Kommission berichtet haben, hat so nicht stattgefunden; es war ein Zerrbild.
({1})
- Ich war wiederholt dabei und ich habe das sehr wohl
verfolgt.
Herr Grill behauptet immer wieder, wir hätten kein
Konzept. Auch das ist ein Zerrbild. Wir haben sehr wohl
ein Konzept. Das Gute an der Regierung ist: Wir setzen
dieses Konzept bereits in die Wirklichkeit um. Das ist
ganz entscheidend.
({2})
Herr Hirche, noch einmal zu Ihren Farbenspielen mit
dem grünen Star: Passen Sie auf, dass Sie sich am 18. September kein blaues Auge holen.
({3})
Ich möchte noch kurz auf den Antrag der CDU/CSU
über die Entsorgungsstandorte eingehen. Im Antrag verlangt die CDU/CSU einen Lastenausgleich aus Bundesmitteln für die drei atomaren Entsorgungsstandorte.
({4})
Wenn man den Antrag durchliest, weiß man aber: Es geht
vor allem um Gorleben. Die Standorte Morsleben und
Schacht Konrad finden nur am Rande statt. Die Antragsteller samt FDP müssen aber etwas zur Kenntnis nehmen: Mit der Zehnten Novelle zum Atomgesetz hat die
rot-grüne Koalition den Atomausstieg im Konsens beschlossen. Dieser Konsens beinhaltet auch ein geändertes
Entsorgungskonzept. Die rot-grüne Koalition hat auch
den so genannten AkEnd eingerichtet. Dieser Arbeitskreis
hat die Aufgabe, objektive Kriterien für ein Endlager zu
finden. Der AkEnd soll ferner ein Verfahren für die Suche
nach einem geeigneten Endlager ausarbeiten, das möglichst breite Akzeptanz bei allen Beteiligten findet. Das
Ergebnis der Arbeiten des AkEnd muss zuerst einmal abgewartet werden; alles andere wäre unsolide und kontraproduktiv und so ist Ihr Antrag.
Im Einvernehmen mit der Energiewirtschaft haben wir
die Vorfestlegung auf den Entsorgungsstandort Gorleben
beendet. Sie sollten dies in der Opposition endlich zur
Kenntnis nehmen.
({5})
Noch kurz zu Morsleben: Bei Ihnen ist das ja nur eine
Beifügung und keine ernsthafte Auseinandersetzung mit
dem Thema. Die CDU/CSU-FDP-Koalition hat es zugelassen, dass jahrelang Atommüll nach Morsleben gebracht wurde. Rot-Grün aber hat das einsturzgefährdete
Morsleben geschlossen. Wir beginnen mit der Sanierung.
Das sind die Tatsachen.
Der Bundestag hat beschlossen, dass der Bundesumweltminister in der nächsten Legislaturperiode einen nationalen Entsorgungsplan vorlegen muss. Dann beginnt
die eigentliche Arbeit.
({6})
Egal wie man zur Kernenergie steht, wir müssen anfangen, die Entsorgungsfrage zu lösen. Diese Lösung wird
nur im politischen Konsens möglich sein.
({7})
- Herr Obermeier, Sie können noch so sehr plärren, dadurch werden Sie nicht klüger.
({8})
Darauf sollten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, hinarbeiten und nicht mit immer neuen Anträgen
die Betroffenen verunsichern.
Die rot-grüne Koalition und die Bundesregierung haben eine Energiewende eingeleitet. Wir haben die notwendigen Gesetze eingebracht. CDU/CSU und FDP haben immer nur Nein gesagt. Bei der Energiewende sind
Sie die großen Nein-Sager. Sie haben damit die Chance
verpasst, Kompetenz für die Energiezukunft unseres Landes zu entwickeln.
({9})
Es kommt aber noch schlimmer. Sie sagen nicht nur
Nein, sondern Sie wollen auch das Rad der Energiewende
zurückdrehen. Die Frau Kollegin hat es gerade bestätigt.
({10})
Die Kernenergie ist eine Energie des vergangenen Jahrhunderts. Die Aufgaben des 21. Jahrhunderts sind, den erneuerbaren Energien zum Durchbruch zu verhelfen, EnerDagmar Wöhrl
gie dramatisch zu sparen, ohne dass es zu einem Wohlstandsverlust kommt, und Energie vor allem effizienter
einzusetzen.
Herr Stoiber, der bayerische Ministerpräsident - dies
wird er auch noch im Herbst 2003 sein -,
({11})
hat es ja schon angekündigt: Er wird den Ausstieg aus der
Kernenergie rückgängig machen. Bisher hat Herr Stoiber
nichts erreicht und er wird auch weiterhin nichts erreichen. Er hat sich als Prozesshansel erwiesen und ist von
den Gerichten klar abgewiesen worden.
({12})
Die bayerische Staatsregierung hat diese Energiewende
erbittert bekämpft. Sie hat nicht einmal die Chancen des
Erneuerbare-Energien-Gesetzes begriffen.
({13})
Begriffen haben es aber die bayerischen Bürgerinnen
und Bürger; denn 40 Prozent der Finanzmittel für die Photovoltaik aus Berlin fließen nach Bayern.
({14})
Damit sind die bayerischen Bürger die großen Gewinner,
und zwar gegen die CDU/CSU und gegen die bayerische
Staatsregierung.
({15})
Es waren die handelnden Bürger, die diese Chance erkannt haben.
({16})
Die Energiewende lässt sich auch mit Zahlen belegen.
So ist in Deutschland in den letzten Jahren der Primärenergieverbrauch um 2,5 Prozent gesunken. Die begrenzten Energievorräte dieser Welt werden durch die
neuen Energiequellen wie Wind und Sonne geschont. Eigentlich ist das Erdöl viel zu schade, um nur verbrannt zu
werden.
Durch die rot-grüne Politik sind wir Weltmeister geworden. Im Fußball werden wir das am Sonntag, bei der
Windenergie sind wir es schon geworden.
({17})
Bei den anderen erneuerbaren Energien schaffen wir das
auch noch. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat den
Durchbruch gebracht. Auch andere Länder wollen unseren Weg gehen. Damit kann die bei uns entwickelte Technik ein ökologischer Exportboom für unsere Wirtschaft
werden. Aber das muss genauso angestoßen werden wie
der Einsatz erneuerbarer Energien in unserem Land.
Dazu haben wir eine deutsche Exportinitiative für erneuerbare Energien vorgeschlagen. Wir können diesen modernen Techniken in vielen Ländern zum Durchbruch
verhelfen.
Unsere Politik der Energiewende bringt mehrfach Dividende: Sie ist gut für Umwelt und Wirtschaft und sie
schafft Arbeitsplätze.
({18})
Nun sollen auch andere Länder davon ihren Nutzen haben.
Wir haben die Energiewende eingeleitet. Es ist ein erster Schritt getan. Weitere müssen folgen. Auch auf diesem
Gebiet ist Herr Stoiber mit der Opposition aus CDU/CSU
und FDP nicht zukunftsfähig. Sie wollen zurück zur Kernenergie. Dies ist aber eine strahlende Sackgasse ohne Zukunft.
({19})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge zur Großen Anfrage der Fraktion der
CDU/CSU.
Zunächst kommen wir zur Abstimmung über den
Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/9582. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/
CSU, FDP und PDS abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/9583. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9548.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.
({0})
- Es gab auch eine Stimme von Bündnis 90/Die Grünen
für diesen Entschließungsantrag.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf
Drucksache 14/8708 zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU zu einem Ausgleich für die nuklearen Entsorgungsstandorte Gorleben, Salzgitter und Morsleben. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7786
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und
FDP angenommen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/9120 zu dem Antrag der Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Deutsche Exportinitiative - Erneuerbare Energien“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8278 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/9539 mit dem
Titel „Mehr Chancen für den Export und die Forschungsund Entwicklungszusammenarbeit durch marktwirtschaftliche Ansätze bei den erneuerbare Energien“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDSFraktion abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 b auf.
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse,
Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Volker Beck ({1}), Hans-Christian Ströbele,
Kerstin Müller ({2}), Rezzo Schlauch und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung
- Drucksache 14/9218 ({3})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4})
- Drucksache 14/9593 Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Dr. Jürgen Gehb
Volker Beck ({5})
Christina Schenk
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/9594 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Albrecht Feibel
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uwe-Jens Rössel
Die Kolleginnen und Kollegen Margot von Renesse,
Jürgen Gehb, Volker Beck, Jörg van Essen und Christina
Schenk haben ihre Reden zu Protokoll gegeben1). - Ich
höre keinen Widerspruch dagegen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrach-
ten Gesetzentwurf zur Errichtung einer Magnus-
Hirschfeld-Stiftung, Drucksache 14/9218. Der Rechts-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/9593, den Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen
die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und
einer Enthaltung aus der Fraktion der PDS angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die diesem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge-
genprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zwei-
ten Beratung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Francke, Matthias Wissmann, Ulrich Adam,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Wirtschaftspolitische Auswirkungen der EUOsterweiterung
- Drucksachen 14/8316 ({7}), 14/9497 -
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Uwe Hiksch, Monika Balt, Dr. Klaus Grehn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Vorbereitung der Grenzregionen auf die
Osterweiterung der EU
- Drucksachen 14/8001, 14/9498 -
Auf Drucksache 14/9547 liegt ein Entschließungsan-
trag der Fraktion der PDS zu ihrer Großen Anfrage vor.
Die Kolleginnen und Kollegen Christian Müller, Klaus
Francke, Werner Schulz, Gudrun Kopp, Uwe Hiksch so-
wie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar
Staffelt haben ihre Reden ebenfalls zu Protokoll gege-
ben2). - Große Begeisterung im ganzen Saale.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9547. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinten Nationen im Jahr 2001
- Drucksache 14/9466 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 9 2) Anlage 10
Die Kolleginnen und Kollegen Brigitte Adler, Clemens
Schwalbe, Birgit Homburger, Petra Bläss und der Staats-
minister Dr. Volmer haben ihre Reden sämtlich zu Protokoll
gegeben1). - Auch hiergegen erhebt sich kein Widerspruch.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/9466 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Katherina Reiche, Dr. Maria Böhmer, Horst
Seehofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Anwendung von Gentests in Medizin und Ver-
sicherungen
- Drucksachen 14/6640, 14/9584 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Die Kolleginnen und Kollegen Carola Reimann,
Katherina Reiche, Monika Knoche, Detlef Parr, Angela
Marquardt sowie die Parlamentarische Staatssekretärin
Gudrun Schaich-Walch haben ihre Reden ebenfalls zu
Protokoll gegeben2). - Auch hiergegen erhebt sich kein
Widerspruch.
Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion
der CDU/CSU zur Anwendung von Gentests in Medizin
und Versicherungen Drucksache 14/9584. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6640 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung von
FDP und PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian
Lange ({10}), Dr. Hans-Peter Bartels,
Dagmar Freitag, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Kerstin Müller ({11}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages - Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages
- Drucksache 14/9100 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({12})
Rechtsausschuss
Was Wunder: Die Kolleginnen und Kollegen Christian
Lange, Hans-Peter Bartels, Eckart von Klaeden, Gerald
Häfner, Jörg van Essen und Dr. Evelyn Kenzler haben ihre
Reden ebenfalls zu Protokoll gegeben3). Auch hiergegen
erhebt sich kein Widerspruch.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/9100 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehen keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({13})
- zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2000 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({14}) - zu der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
2001 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung ({15})
- Drucksachen 14/5858, 14/7018, 14/7413 Nr. 2,
14/9460 Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Titze-Stecher
Obwohl es bereits 00.19 Uhr ist, begrüße ich zu dieser
Debatte ganz herzlich den Präsidenten des Bundesrechnungshofes Dr. Dieter Engels. Er ist im Übrigen ein ehemaliger Mitarbeiter des Hauses.
({16})
Wir freuen uns ganz besonders, dass Sie dieser Debatte so
große Wertschätzung entgegenbringen. Sie haben den
Beifall des ganzen Hauses gehört.
Jetzt erteile ich der Kollegin Uta Titze-Stecher das
Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe noch verharrende Kolleginnen und Kollegen! Ich
grüße Sie zu dieser Stunde. Auch für mich ist es eine Pre-
miere, so spät zu reden. Ich bedanke mich bei den Vertre-
tern des Bundesrechnungshofes, dass auch sie bis jetzt
ausgehalten haben. Ich denke, nach zwölfeinhalb Minu-
ten haben wir es hinter uns gebracht.
Die Materie scheint, wenn man auf die Formulierung des
Tagesordnungspunktes schaut, durchaus dröge zu sein - sie
ist es aber nicht. Immerhin geht es um die Entlastung der
Bundesregierung, das heißt, um die Jahresrechnung 2000
auf der Grundlage der Bemerkungen des Bundesrech-
nungshofes 2001 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 11
2) Anlage 12 3) Anlage 13
einschließlich der Feststellungen zur Jahresrechnung des
Bundes 2000. Das heißt, Sie, die verbleibenden Kolleginnen und Kollegen, entscheiden heute durch Abstimmung
darüber, ob der Bundesregierung für ihre Haushaltsführung Entlastung erteilt werden kann. Dies ist, da es um
den Nachweis der korrekten Verwendung von Steuermitteln geht, eine höchst spannende Sache und keinesfalls,
wie es ein Geschäftsführer mir gegenüber geäußert hat,
ein nur formaler Akt.
Der Bundesrat hat bereits grünes Licht für die Entlastung gegeben, und zwar im November letzten Jahres. Der
Rechnungsprüfungsausschuss hat die Anträge des Finanzministeriums sowie die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes in sechs Sitzungen ausführlich beraten
und dem Haushaltsausschuss mehrheitlich - gegen die
Stimme der PDS - die Entlastung empfohlen. Der Haushaltsausschuss hat die Entlastung einstimmig - also mit
der Stimme der PDS - beschlossen, das heißt, Ihnen ans
Herz gelegt, die Bundesregierung zu entlasten.
Sie sehen also, dass heute mit der Entlastung, die wir
nachher vornehmen werden, der Kreislauf des Haushalts
abgeschlossen ist. Natürlich ist kein einziges Mitglied des
15-köpfigen Rechnungsprüfungsausschusses in der Lage,
die gesamte Haushaltsführung der Bundesregierung oder
gar die Haushalts- und Vermögensrechnung des Bundes
oder die finanzwirtschaftliche Entwicklung im Detail zu
prüfen. Sie ahnen schon, warum wir am Anfang den Bundesrechnungshof und seinen Präsidenten begrüßt haben:
Dies wird professionell durch die Prüfer des Rechnungshofes erledigt. Der Hof ist immer dabei, und zwar auf allen Stufen des Haushaltskreislaufes, als da wären: die
Aufstellung des Bundeshaushaltes durch das Kabinett, die
Beratung durch das Parlament und speziell durch den
Haushaltsausschuss, schließlich der Haushaltsvollzug
- da ist wieder die Verwaltung dran - und zuletzt die Kontrolle durch den Rechnungsprüfungsausschuss mit dem
Schlusspunkt der Entlastung.
Die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes sind
also die Grundlage für die parlamentarische Kontrolltätigkeit. Wir, der Rechnungsprüfungsausschuss, befassen uns intensiv mit der Kritik des Hofes zum Einnahmeund Ausgabeverhalten des Bundes. Als Ergebnis seiner
Beratungen fasst der Ausschuss zu jeder Bemerkung einen Beschluss.
({0})
- Da braucht ihr nicht klatschen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet jetzt geklatscht wird. Das ist
erst am Schluss nötig.
({1})
- Nein, das ist nicht nötig.
({2})
- In Ordnung. Das ist praktizierte Demokratie. Damit bin
ich einverstanden.
Aus der bisherigen Beschreibung ist vielleicht erkennbar, dass das Verhältnis zwischen Ausschuss und Bundesrechnungshof ausgesprochen eng ist. Wir, die Mitglieder
des Ausschusses, sind nur so gut, wie der Bundesrechnungshof uns informiert. Der weisungsunabhängige Bundesrechnungshof prüft, berät, empfiehlt und kommt damit
seinem gesetzlichen Auftrag, dargestellt in Art. 114 Abs. 2
des Grundgesetzes, nach, die Voraussetzungen und bzw.
oder die Auswirkungen politischer Entscheidungen in seinen Prüfungsergebnissen darzulegen. Ich sage ganz deutlich: Die politische Entscheidung und damit die Verantwortung dafür liegen beim Gesetzgeber, also bei uns.
({3})
Das ist auch gut so. Der Bundesrechnungshof selbst weiß
das und respektiert das - die andere Seite, die Politik,
nicht immer. Die politische Entscheidung unterliegt nämlich nicht der Bewertung durch den Bundesrechnungshof.
Der Hof wird tätig auf Bitten des Parlaments oder der Regierung. Er kann auch Hinweisen und Anstößen aus der
Bevölkerung nachgehen. Er kann auch - und tut dies sehr
oft - selbstständig Themen aufgreifen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass sich niemand über
Prüfungen freut, weder ein Ministerium noch ein Verband. Nur, solange und soweit es um Geld des Steuerzahlers geht, muss dessen ordnungsgemäße Verwendung
überprüfbar sein nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist allemal besser!
({4})
Denn jede Regierung, jede öffentliche Verwaltung hat die
Verwendung des öffentlichen Geldes zu legitimieren.
({5})
Ohne Legitimationsdruck wären der Verschwendung und
Steuerhinterziehung Tür und Tor geöffnet.
({6})
Der Hof hat allein durch die Art seiner Tätigkeit natürliche Gegner, aber auch natürliche Verbündete, als da
sind: wir, die Mitglieder des Haushalts- und Rechnungsprüfungsausschusses, und - davon gehe ich aus, Herr
Staatssekretär - das BMF. Aber auch wir, die Mitglieder
des Ausschusses, sehen uns mehr oder weniger oft und
unregelmäßig Konflikten ausgesetzt, wenn als Folge unserer Beschlüsse der Abbau nicht mehr gerechtfertigter
Besitzstände eingeleitet wird, wenn es um die Prüfung der
Wirtschaftlichkeit von vor allem militärischen Beschaffungen geht, wenn es beispielsweise um die Prüfung der
Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit von Privatisierungsvorhaben geht. Ich bin seit drei Legislaturperioden
Mitglied im Rechnungsprüfungsausschuss, davon acht
Jahre in der Opposition und die letzten vier Jahre als Mitglied der Regierungsfraktion
({7})
- das ist auch gut so - und in der Position der Vorsitzenden.
Was muss ich jedoch erleben? - Das Rollenspiel zwischen
allen drei Beteiligten, nämlich dem prüfenden Hof, der geprüften Regierung, der Verwaltung, dem kontrollierenden
und beschließenden Rechnungsprüfungsausschuss, funktioniert immer nach dem gleichen Muster - unabhängig
von der jeweiligen Regierungszusammensetzung.
({8})
Die Regierung empfindet unsere Arbeit, die des Hofes
und des Ausschusses, bestenfalls als notwendig, aber immer als lästig.
({9})
- Manchmal wird der Überbringer der schlechten Nachricht mit dem Verursacher verwechselt. - Dies hat aber
unsere Arbeit - hinter mir sitzt mein Stellvertreter, Herr
Fuchtel, der das bestätigen kann - nie beeinträchtigt. Die
Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss betrachten sich
als Kontrolleure der Regierung und weniger als Angehörige von Regierung und Opposition, und das ist auch
gut so, denn darin liegt die Stärke des Ausschusses.
({10})
Ich bin davon überzeugt, dass sich das Parlament auch
in Zukunft dieses scharfen Instrumentes bedienen und es
nicht zulassen wird, dass es stumpf wird.
An dieser Stelle ein ausdrückliches Dankeschön an alle
Kolleginnen und Kollegen für die äußerst sachliche Zusammenarbeit und das vertrauensvolle Klima. In den
Dank einschließen möchte ich natürlich die Mitglieder
meines Sekretariats, Frau Monreal, Herrn Linke, Frau von
Pendzich-Winter, die frühere Leiterin, und die jetzige Leiterin, Frau Krägenow.
({11})
Mein ganz besonderer Dank gilt den Mitgliedern des
Bundesrechnungshofes - sie sitzen auf der Tribüne -, stellvertretend dem Präsidenten Herrn Professor Dr. Engels
und seiner Vorgängerin, Frau Hedda von Wedel.
Zur Ehrenrettung der geprüften Verwaltungen sei allerdings gesagt: Jährlich verlassen den Hof und seine Prüfungsämter Hunderte von Prüfungsermittlungen. Die
Vorschläge und Anregungen werden anstandslos von den
Verwaltungen unmittelbar umgesetzt. Darüber berichtet
jedoch kein Schwein.
({12})
- Keine Presse! Ich meine damit nicht Sie!
({13})
Denn naturgemäß wird über Erfolge nicht berichtet, weil
Erfolge keine News sind. Auf der Tagesordnung des Ausschusses finden sich auch immer häufiger Punkte mit dem
Vermerk „o.B.“ - ohne Beratung -, und zwar schlicht und
einfach deswegen, weil diese Bundesregierung bestrebt
ist, die Vorschläge des Hofes und die Beschlüsse des Parlamentes umzusetzen,
({14})
und zwar zum eigenen Vorteil, denn dadurch kann der
Bundeshaushalt um mehrere hundert Millionen Euro im
Jahr entlastet werden.
Lassen Sie mich zur Begründung für die Empfehlung,
diese Bundesregierung für die Jahresrechnung 2000 zu
entlasten, ein paar Ausführungen machen.
Die Prüfung der Jahresrechnung 2000, bestehend
aus Haushalts- und Vermögensrechnung, hat keine für die
Entlastung wesentlichen Abweichungen zwischen den
Beträgen in den Rechnungen und Büchern ergeben. Dies
gilt auch für die Rechnungen der 17 Sondervermögen. So
weit, so gut! Was ich allerdings, Herr Staatssekretär, überhaupt nicht verstehe - ich kann es gar nicht nachvollziehen -, ist, dass ich hier denselben Satz wiederholen muss
wie vor einem Jahr, nämlich, dass es zu unzutreffenden,
widersprüchlichen und unklaren Angaben, das heißt zu
formalen Fehlern, gekommen ist. Ich begreife einfach
nicht, dass das Ausfüllen von Vordrucken bei Kassenanordnungen nicht gelernt werden kann.
({15})
Ich finde, dass das Finanzministerium mit mehr Nachdruck bei den Haushaltsbeauftragten der Ressorts auf die
Beachtung der einschlägigen Vorschriften dringen muss.
Zur Haushaltsführung möchte ich fünf knappe Bemerkungen machen.
({16})
- PISA spielt da bestimmt nicht herein.
Erstens. Die Ausgaben lagen mit 478 Milliarden DM
im Haushaltsjahr 2000 um 0,8 Milliarden DM unter dem
veranschlagten Soll. Die Einnahmen lagen mit 431,3 Milliarden DM über dem veranschlagten Soll. Das Finanzierungsdefizit betrug 46,7 Milliarden DM und war damit
um knapp 3 Milliarden DM niedriger. Ich denke, das ist
ein Pluspunkt.
Erwähnenswert ist auch, dass im Vergleich zum Vorjahr - obwohl die Einnahmen nahezu gleich geblieben
sind - die Ausgaben um knapp 5 Milliarden DM
trotz Mehrausgaben gesunken sind. Ich erwähne stichpunktartig: höhere Leistungen an die Rentenversicherung
- roundabout 9 Milliarden DM -, der Beitrag für die
Zwangsarbeiterstiftung, die Inanspruchnahme von Gewährleistungen, Heizkostenzuschuss, EXPO-Beitrag
usw. Entlastend ins Gewicht fielen geringere Aufwendungen für den Arbeitsmarkt in Höhe von rund 10 Milliarden
DM und, dank der Verwendung der Erlöse aus der UMTSVersteigerung zum Schuldenabbau, geringere Zinsausgaben. Dafür gebührt der Bundesregierung ein großes Lob.
({17})
Zweitens. Ein besonderes Problem sind die Ausgabereste. Sie steigen seit 1992 kontinuierlich an. Das ist keine
gute Entwicklung; denn ihre Inanspruchnahme belastet
den Haushalt des folgenden Jahres in dem Ausmaß, in
dem sie beansprucht werden. Nun hat zwar das Bundesministerium der Finanzen durch eine Regelung dafür gesorgt, dass sich die Gesamtausgaben des Haushaltsplanes
nicht erhöhen. Dass dies aber im Rahmen der HaushaltsUta Titze-Stecher
durchführung auch beachtet wird, bezweifelt der Bundesrechnungshof und regt daher an, zu prüfen, ob die Einhaltung der gesetzlich vorgesehenen Verfügbarkeitsfrist,
nämlich ein Zeitraum von zwei Jahren, nicht sichergestellt werden kann.
Auch meldet der Bundesrechnungshof Bedenken gegen die bisherige Haushaltspraxis an, nach der Ausgaben
zuerst zulasten vorhandener Ausgabereste verbucht werden, bevor die für das laufende Haushaltsjahr bewilligten
Mittel in Anspruch genommen werden.
Positiv beurteilt der Bundesrechnungshof die Umsetzung der flexiblen Haushaltsinstrumente. So ist das bisher
zu beobachtende Dezemberfieber in gravierender Weise
zurückgegangen. Auch die unterjährige Ausgabenentwicklung ist wesentlich gleichmäßiger als in den Vorjahren.
Drittens. Die Bundesverwaltung hat im Haushalt 2000
über- und außerplanmäßige Ausgaben in einer Gesamthöhe von rund 11 Milliarden DM geleistet. Das ist entschieden zu viel. Dies entspricht etwa 2,25 Prozent des
Haushaltssolls und ist damit doppelt so viel wie im Vorjahr. Das heißt, sowohl die Höhe als auch die Fallzahl haben sich erhöht. Das ist einfach unakzeptabel. Deswegen
moniert der Bundesrechnungshof dies zu Recht. Diese
Verstöße gegen das Haushaltsrecht sind abzustellen und
für eine haushaltsrechtlich mängelfreie Mittelbewirtschaftung ist zu sorgen.
Die im Haushaltsplan vorgesehenen globalen Minderausgaben sind erwirtschaftet worden. Das ist eine gute Sache. Ebenfalls eine gute Sache ist die Tatsache - auch dies
stellt der Bundesrechungshof fest -, dass zum ersten Mal
seit Jahren die Schulden des Bundes zurückgegangen
sind. Sie betragen zwar immer noch 1,4 Billionen DM am
Ende des Jahres 2000. Wenn man die nicht im Haushalt
eingestellten Sondervermögen dazuzählt, hat der Bund
sogar Schulden in Höhe von 2,5 Billionen DM. Aber insgesamt ist die Verschuldung am Ende des Jahres 2001
zurückgegangen. Dieses wird vom Bundesrechnungshof
ausdrücklich anerkannt.
({18})
Ich möchte eine Bemerkung zur weiteren Perspektive
machen. Dazu gehört auch die Überlegung zur weiteren
finanzwirtschaftlichen Entwicklung des Bundes. Der jetzt
vorgelegte Entwurf des Bundeshaushalts 2003, vor allem
im Zusammenhang mit der Finanzplanung bis 2006, ist
ein weiterer überzeugender Etappenposten auf dem Weg
der Konsolidierung. Das konzidiert auch der Bundesrechnungshof. Er stellt also fest, dass sich im Finanzplan eine
Verstetigung der finanzwirtschaftlichen Eckwerte abzeichnet, das heißt, der richtige Weg beschritten wird.
Ich möchte noch kurz zwei weitere Probleme ansprechen. Der Bundesrechnungshof weist zu Recht auf eine
Besorgnis erregende Ausgabenstruktur hin. Er erwähnt
zwei besondere Blöcke, nämlich die Sozialausgaben und
die Zinsausgaben. So sind im Haushalt 2001 mehr als die
Hälfte der Steuereinnahmen für Sozialausgaben verwendet worden; für Zinsausgaben ist es noch jede fünfte Steuermark. Im Bereich der Sozialausgaben - hören Sie
einmal genau zu - sind die Zuschüsse zur Rentenversicherung seit 1995 als Folge der demographischen Entwicklung massiv angestiegen.
({19})
- Das ist eine andere Sache. Ich rede nur von den Fakten. Sie betragen heute mehr als ein Viertel der Gesamtausgaben des Bundeshaushalts. Der Bundeshaushalt trägt heute
ein Drittel der Gesamtausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung, nämlich sage und schreibe 135 Milliarden
DM von 430 Milliarden DM. Dieser Anteil lag vor zehn
Jahren noch bei rund einem Fünftel.
({20})
Diese Fakten rechtfertigen die Rentenreform; darüber
brauchen wir nicht mehr zu debattieren.
({21})
Eine letztes Wort zum europäischen Stabilitätspakt: Im
Rahmen des Solidarpaktfortführungsgesetzes hat die
Bundesregierung eine Neuregelung eingeführt: § 51 a
Haushaltsgrundsätzegesetz, das heißt ein Verfahren zur
innerstaatlichen Umsetzung der Vorgaben des europäischen Stabilitätspaktes.
Dafür ist ja ein bundesdeutscher Finanzminister, Herr
Waigel, verantwortlich gewesen. Nun könnte man annehmen, dass deswegen von uns die Vorgaben dieses Stabilitätspaktes besonders beachtet werden. Ich stelle aber
fest, dass trotz aller Vereinbarungen zwischen Bund und
Ländern, also trotz der Vereinbarungen zur Ausgabenbegrenzung ab 2003 und zur Rückführung der Nettoneuverschuldung, eine Sache fehlt, Herr Staatssekretär: verbindliche Regeln zur Aufteilung möglicher von der EU
verhängten Sanktionen, falls die Defizitobergrenze von
3 Prozent des BIP überschritten wird. Aus der fehlenden
Regelung kann ich nur schließen, dass die Regierung sehr
optimistisch ist, von keiner Überschreitung ausgeht und
ihr finanzwirtschaftliches Handeln danach ausrichtet, niemals in diese missliche Lage zu kommen. Dazu kann ich
nur sagen: Das ist gut so; das hoffe ich.
({22})
Nichtsdestotrotz richte ich mich lieber nach dem
Sprichwort „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“
und empfehle, den Rat des Bundesrechnungshofes
schnellstmöglich umzusetzen
({23})
und ein Regelwerk zur Aufteilung möglicher EU-Sanktionen aufzulegen. Denn der Gelackmeierte ist sonst der
Bund. Wir haben die höchsten Schulden, nämlich zwei
Drittel der öffentlichen Schulden. Ich sehe überhaupt nicht
ein, warum wir für die gesamtstaatliche Verschuldung haften und im Falle der Überschreitung der vorgesehenen
Höchstgrenze für die Sanktionen zuständig sind. Das, Herr
Staatssekretär, muss der nächste Bundestag regeln.
Frau Kollegin, ich tue
es sehr ungern - denn es ist Ihre letzte Rede -, aber ich
muss Sie an die Überschreitung Ihrer Redezeit erinnern.
Die ist nämlich schon gewaltig.
Am Ende meiner Ausführungen komme ich zu den gleichen Empfehlungen wie
der Bundesrechnungshof und der Haushaltsausschuss. Ich
bitte Sie um die Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2000.
({0})
Frau Kollegin TitzeStecher, dies war Ihre letzte Rede in diesem Hohen Hause
zu symbolischer Zeit und, wie wir alle bereits festgestellt
haben, unter den Augen des Präsidenten des Bundesrechnungshofes. Vielen Dank für Ihre Arbeit, vor allem für die
als Vorsitzende des Rechnungsprüfungsausschusses!
({0})
Als Haushälterin haben Sie sich im gesamten Hause eine
hohe Achtung erworben. Alles Gute für Ihren kommenden
Lebens- und Arbeitsabschnitt!
Die Kollegen Josef Hollerith, Oswald Metzger und
Jürgen Koppelin sowie die Kollegin Heidemarie Ehlert
haben ihre Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Pro-
tokoll gegeben.1)
Deshalb kommen wir jetzt zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem
Antrag des Bundesministeriums der Finanzen zur Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2000 und
zu den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 2001,
Drucksachen 14/5858 und 14/7018 und 14/9460. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des gesamten Hauses angenommen.
({1})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 sowie Zusatzpunkt 13
auf:
18. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christian Müller ({3}), Dr. Rainer Wend,
Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner
Schulz ({4}), Ulrike Höfken, Kerstin Müller
({5}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ als regelgebundenes Fördersystem erhalten
- Drucksachen 14/9242, 14/9589 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Müller ({6})
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Hofbauer, Matthias Wissmann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Regionalpolitik stärken - Chancen nutzen
- Drucksache 14/9595 Die Kollegen Christian Müller ({7}), Ulrich
Klinkert und Rolf Kutzmutz, die Kolleginnen Ulrike
Höfken und Gudrun Kopp sowie der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.2) - Das wird widerspruchslos zur
Kenntnis genommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache
14/9589 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Die Gemeinschaftsaufgabe‚Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur‘ als regelgebundenes Fördersystem erhalten“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/9242 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Regionalpolitik
stärken - Chancen nutzen“. Wer stimmt für den Antrag
auf Drucksache 14/9595? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU bei Enthaltung der FDP abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar Bartsch, Heidemarie
Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Verteilung und Verteilungswirkungen der Steuern und Abgaben
- Drucksachen 14/7912, 14/9492 Ich eröffne die Aussprache. Rednerin für die PDSFraktion ist die Kollegin Dr. Barbara Höll.
({8})
Ich möchte Sie doch des
Vergnügens nicht berauben, der Rede lauschen zu können.
Liebe Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten die Große Anfrage zu Verteilung und
Verteilungswirkungen der Steuern und Abgaben, die die
PDS vor einem guten halben Jahr, Ende Dezember des
vergangenen Jahres, gestellt hat. Die Herausgabe der Antwort wurde durch die Regierung um einige Wochen verzögert und fällt nun passenderweise in die Zeit der Abrechnung mit rot-grüner Politik.
Im Bereich der Steuer- und Finanzpolitik ist die Bilanz
leider sehr ernüchternd.
({0})
Vier Jahre Rot-Grün, das bedeutete eben keinen Politikwechsel, nicht mehr soziale Gerechtigkeit und auch
keine Stabilität in den öffentlichen Haushalten.
({1})
1) Anlage 14 2) Anlage 15
Das „Handelsblatt“ charakterisierte bereits am 10. Januar 2000 - ich erlaube mir zu zitieren -:
Die rot-grüne Koalition plant in ihrer Steuerpolitik
einen konservativen Wandel, den eine christlich-liberale Regierung niemals gewagt hätte. Doch es ist
eine sympathische Entwicklung, wenn die SPD ihre
marxistischen Wurzeln mit Stumpf und Stiel ausrottet und eine Shareholder-Value-Partei werden will.
({2})
Ein tolles Lob für Ihre Politik! Zwei Jahre später
schauen wir uns das Ergebnis an. Wir können heute in
ebendiesem Blatt, aber auch in anderen wie der „Frankfurter Rundschau“ nachlesen, dass Sie sehr wohl eine
Steuerpolitik zugunsten von Großunternehmen und Vermögenden durchgezogen haben.
({3})
Herr Ulrich Schneider, der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, stellte in dieser Woche
fest: „Auch unter Schröder wurden die Armen ärmer.“ „Die SPD ist in Gerechtigkeitsfragen ein unsicherer Kantonist geworden“, so die „Frankfurter Rundschau“.
({4})
Wir haben ja nicht umsonst diese Anfrage gestellt. Wir
wollten Ihnen die Chance geben, mit Zahlen die Situation
anzeigen zu können.
({5})
Im Ergebnis hat sich die Regierung doch redlich
bemüht, mit ihren Antworten die fiskalisch und verteilungspolitisch verheerenden Ausführungen ihrer Steuerund Finanzpolitik zu verschleiern.
({6})
Von 75 Anfragen wurden etwa 20 gar nicht oder unvollständig beantwortet. Sie können noch so laut schreien, ich
werde Ihnen trotzdem einige Fakten vorstellen.
Nehmen wir einmal das Problem der Einkommensmillionäre, also der Steuerpflichtigen, die zu versteuernde
Einkünfte von mehr als 1 Million DM haben. Zwischen
1992 und 1995 ist die Zahl der Einkommensmillionäre
um rund 4 000 von 25 265 auf 21 000 gesunken. Aktuellere Zahlen liegen leider nicht vor, weil Sie die Statistiken
daraufhin nicht auswerten. Die Ursache dafür, dass die
Zahl der Einkommensmillionäre gesunken ist, ist allerdings nicht darin zu suchen, dass ihre Zahl tatsächlich geringer geworden wäre, sondern darin, dass die waigelsche
Finanzpolitik damals umfangreiche Sonderabschreibungen ermöglichte. Diese Sonderabschreibungen hatten um
das Jahr 1995 ihren Höhepunkt erreicht.
({7})
- Hören Sie doch einfach einmal zu, oder können Sie das
um diese Tageszeit nicht mehr? Sie haben wohl gar keine
Kondition? Schwach! - Ab 1998 wurden auf Gewinne
und Vermögenserträge wieder mehr Steuern bezahlt, aber
nicht etwa deshalb - es ist mir wichtig, das zu betonen -,
weil Sie eventuell die Bemessungsgrundlage verbreitert
hätten, nein, sondern weil einfach die Sonderabschreibungen ausgelaufen sind.
Und wie reagierten Sie nun 1998? Man hätte ja sagen
können, man wolle die Einkünfte. Nein, Sie widmeten
sich der öffentlichen Reichtumspflege. Die Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer wurden massiv gesenkt. Befristete Steuervergünstigungen von Waigel haben Sie neu aufgelegt bzw.
fortgeführt. Damit haben Sie - so muss man sagen - die
Politik für die wirklich Reichen in dieser Republik verstetigt.
({8})
Die Belastung der Vermögenserträge und Gewinne
- nehmen wir die aktuelle Zahl von 2001 - ist gesunken.
Dazu finde ich leider nichts in der Antwort auf die Große
Anfrage. Ich habe mich daher selber hingesetzt und das
ausgerechnet. Die Belastung der Vermögenserträge und
Gewinne ist im vergangenen Jahr sogar niedriger gewesen als 1998, als Sie die Regierung übernommen haben.
Sie liegt 7,5 Prozent unter dem Niveau von 1998. Die Belastung der Kapitalgesellschaften ist sogar um 40 Prozent
gesunken.
({9})
Wenn die Regierung, die jetzt leider nicht mehr vertreten ist - zumindest nicht mehr auf der Regierungsbank -,
heute noch betont, soziale Gerechtigkeit sei wieder eine
Kategorie der Steuerpolitik, ist das schlicht eine Unverschämtheit, weil sie sich nur der Besitzstandswahrung
von Vermögenden und Großunternehmen gewidmet hat.
({10})
Sie haben die Vermögensteuer nicht wieder eingeführt
und die Erbschaftsteuer nicht reformiert. Erbschaften in
Höhe von rund 150 Milliarden Euro jährlich werden von
Ihnen gerade einmal mit durchschnittlich 2 Prozent Erbschaftsteuer belegt. Damit werden also gerade einmal
3 Milliarden Euro jährlich eingenommen.
({11})
Die Kehrseite der Vermehrung des Reichtums ist die
Vermehrung der Armut. Diesen Vorwurf muss man Ihnen
machen. Das größte Armutsrisiko in der Bundesrepublik
Deutschland zu Beginn des neuen Jahrhunderts sind Kinder. Daran haben Sie überhaupt nichts geändert. Das ist
auch in Ihrem Armuts- und Reichtumsbericht nachzulesen. Sie behaupten heute, die Förderung von Kindern
durch Sie vorangekommen; das stimmt aber nicht.
({12})
Wir haben das duale System der Kinderentlastung.
Während 1998 noch 95 Prozent der Familien tatsächlich
gefördert wurden und nur 5 Prozent vom Kinderfreibetrag
profitiert haben, hat sich dieses Verhältnis verschoben.
Frau Kollegin Höll,
Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.
({0})
Heute werden nur noch
77 Prozent der Familien mit Kindern entlastet. Die Alleinerziehenden lassen Sie draufzahlen und Sozialhilfeempfänger haben überhaupt nichts von Ihren Regelungen.
Das Schlimmste ist, dass die Menschen, die kein oder nur
ein geringes Einkommen beziehen, zusätzlich betroffen
sind, weil Sie die öffentlichen Haushalte ruiniert haben.
({0})
Sie können sich nicht einfach jedes Buch kaufen, das sie
interessiert.
Frau Kollegin, bitte
kommen Sie zum Schluss.
Sie sind auf die öffentliche
Infrastruktur angewiesen. Deshalb fordern wir Sie auf,
endlich Ihre Politik zu ändern.
({0})
Dann werden wir sehen, welche Chance Sie erhalten.
Frau Kollegin Höll,
ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Unser Druck von links bleibt
auf alle Fälle bestehen.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache; denn die Kolleginnen und Kollegen Dr. Frank
Schmidt, Wolfgang Steiger, Ulrike Höfken und Gisela
Frick haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Dr. Rainer Wend,
Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD, sowie der Abgeordneten Werner
Schulz ({1}), Andrea Fischer ({2}),
Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weltweite Märkte für Meerestechnik erschließen
- Drucksachen 14/9223, 14/9587 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({5}), Matthias
Wissmann, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft Meer - Für eine verantwortungs-
bewusste Nutzung der Meerestechnologie
- Drucksachen 14/9352, 14/9588 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Margrit Wetzel
Die Kolleginnen und Kollegen Margrit Wetzel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Wolfgang Börnsen, Hans-
Josef Fell, Hans-Michael Goldmann, Wolfgang Bierstedt
sowie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar
Staffelt haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)
({6})
Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf der Drucksache 14/9587 zu dem Antrag der Fraktion der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Weltweite
Märkte für Meerestechnik erschließen“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf der Drucksache 14/9223 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf der Drucksache 14/9588 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Zukunft Meer - Für eine verantwortungsbewusste Nutzung der Meerestechnologie“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf der Drucksache
14/9352 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei
Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Georg
Brunnhuber, Marita Sehn und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Baugesetzbuchs ({7})
- Drucksache 14/9132 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Die Kolleginnen und Kollegen Wolfgang Spanier,
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Michaele Hustedt,
Marita Sehn sowie Christine Ostrowski haben ihre Reden
zu Protokoll gegeben.3) - Auch hierzu gibt es keinen
1) Anlage 16
2) Anlage 17
3) Anlage 18
Widerspruch im Hause. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 14/9132
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 12:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unternehmen
- Drucksache 14/9356 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hartmut Schauerte für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist sicherlich
meine späteste, aber nicht meine letzte Rede.
({0})
Ich rede zu dieser späten Stunde, weil es hier in erster Lesung um ein Gesetzgebungsvorhaben geht, das wohl das
schnellste Gesetzgebungsvorhaben in der Geschichte des
Parlamentes werden wird. Es soll heute in erster Lesung
beraten, und in der nächsten Woche zur Schlussabstimmung geführt werden.
Es ist ein Gesetz, das in erhebliche Rechtstatbestände
eingreift und erhebliche Auswirkungen hat. Es geht um
das Korruptionsregister.
({1})
- Damit wir das gleich ganz klar haben, Herr Kollege
Schmidt: Wir wollen ein Korruptionsregister für rechtskräftig festgestellte Korruptionsfälle von Unternehmen,
die deswegen von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen
sind. Ein solches Gesetz brauchen wir, gerade auch wegen
der vielen Korruptionsfälle in jüngster Zeit. Städte wie
Köln und Solingen oder das Land Schleswig-Holstein lassen grüßen. Also brauchen wir ein solches Gesetz - ohne
Wenn und Aber!
Was mit dem vorliegenden Gesetzentwurf aber gemacht wird, ist etwas anderes. Hier wird nicht ein Gesetz
zur Einrichtung eines Registers für Korruptionsfälle erlassen, sondern zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unternehmen. Im Gesetzentwurf heißt es,
man wolle „schwere Verfehlungen“ erfassen. Dann sind
mehr als zehn Tatbestände aufgeführt, eingeleitet mit dem
Wort „insbesondere“. Das heißt, der Katalog kann täglich
erweitert werden.
({2})
Sie eröffnen damit eine neue Kultur - ich will besser sagen: Unkultur - der Überwachung und der Kontrolle, weil
Sie einen Generalverdacht gegenüber Unternehmen und
Unternehmern hegen. Sie nehmen so Arbeitsplätze in
unübersehbarer Zahl in Kollektivhaftung für Fehler, die in
der einen oder anderen Weise passiert sind.
({3})
Ich will das einmal verdeutlichen. Der Gesetzentwurf
enthält zum Beispiel den Vorschlag, dass in dieses Register
Verstöße gegen das Kartellverbot des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen aufgenommen werden sollen.
Aufgrund dieses Gesetzes hat VW in den letzten Jahren
zweimal eine Strafe von mehr als 500 Millionen DM wegen
Preisabsprachen von der Europäischen Kommission bekommen - ein eindeutiger Verstoß gegen Wettbewerb! VW
darf kein Auto mehr an die öffentliche Hand verkaufen.
Bei dem Vorgang um Trienekens und RWE - wie auch
immer er gelaufen ist, was ich hier gar nicht beleuchten
will - hätten 4 000 Mitarbeiter ihren Hut nehmen können.
Wissen Sie, was die Landesregierung von NordrheinWestfalen gemacht hätte? - Die hätte eine Landesbürgschaft gewährt, damit das nicht passiert. Sie aber haben
vor, solche Unternehmen in einem Register zu erfassen,
was bedeuten würde, dass Sie die Bude schließen müssten. Das kann doch nicht wahr sein!
({4})
Ihr schlechtes Gewissen wegen Köln und Wuppertal muss
so kolossal sein, dass Sie bei der Behandlung des Vorgangs jedes Maß verlieren.
({5})
Es ist unerträglich, wie hier in solch wichtige Verfahren eingegriffen wird. Hier wird Folgendes passieren: Sie
sezten für morgen früh
({6})
- heute früh! - eine Sondersitzung des Wirtschaftsausschusses durch.
Heute Mittag um 12 Uhr beschließen Sie ein Hearing, benennen die Sachverständigen für das Hearing - diese
Sachverständigen wissen von ihrem Glück noch nichts und hören sie am kommenden Montag um 12 Uhr. Was
meinen Sie, wie diese Sachverständigen darauf warten,
dass wir sie für kommenden Montag um 12.00 Uhr einladen! Ein ordnungsgemäßes Beratungsverfahren für dieses
erheblich eingreifende Gesetz ist nicht gewährleistet,
Herr Kollege Staffelt.
({7})
Deswegen können wir diesem Verfahren nicht zustimmen.
Ich wollte Ihnen aber heute in der ersten Lesung doch
die Chance geben, Ihren Kenntnisstand ein bisschen zu erweitern, damit die Fehler, die Sie bei diesem Verfahren
noch machen werden, nicht so schrecklich groß werden.
({8})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Ich habe Ihnen die Hälfte der Redezeit erspart, aber
mindestens dies musste gesagt werden.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die
Aussprache, denn die Kolleginnen und Kollegen Klaus
Wiesehügel, Werner Schulz, Gudrun Kopp, Ulla Lötzer
sowie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ditmar
Staffelt haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
({0})
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/9356 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Wir haben es
also noch kurz vor 1 Uhr geschafft.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 28. Juni 2002, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.