Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Erwin Marschewski, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Placebo statt Plebiszit,
({0})
das ist das, Herr Kollege Bachmaier, was mir zu Ihrer
Rede eingefallen ist. Zwischen der Überschrift und dem
Inhalt Ihres Gesetzentwurfs ergibt sich wieder einmal eine
sehr große Differenz.
({1})
Herr Schlauch, das ist genauso wie bei der Zuwanderungsdebatte: Zwischen Überschrift und Inhalt besteht
eine riesige Differenz. Sie missbrauchen eine populäre
Forderung für ein populistisches Scheinangebot. Das ist
das Problem.
({2})
- Jetzt hören Sie mal zu! - „So tun, als ob, ist kein Mehr
an Demokratie“,
({3})
so wurde in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu
Recht geschrieben.
Ansonsten - das hat die Anhörung gezeigt - hat Ihr
Entwurf schwere Mängel. Es geht um eine Verfassungsänderung. Diese Verfassungsänderung kann man nicht
ein paar Tage vor der Bundestagswahl gewissermaßen als
Hermann Bachmaier
Geschenk an die Grünen, als Äquivalent für irgendetwas,
durchziehen.
({4})
- Herr Kollege Bachmaier, hören Sie zu und schreien Sie
nicht so viel! - Angst und Misstrauen, wie Sie es vorhin
angesprochen haben,
({5})
hat das Volk nicht hinsichtlich seiner Rechte, sondern hinsichtlich der Politik von SPD und Grünen, Herr Kollege
Schlauch. Das ist die Problematik.
({6})
Es kann doch nicht sein, dass ein Gesetzentwurf zustande kommt, weil 10 Prozent und ein Stimmberechtigter zustimmen,
({7})
oder dass eine Verfassungsänderung mit Zustimmung von
27 Prozent der Stimmberechtigten möglich ist.
({8})
Sie wollen kurz vor Toresschluss eine Verfassung ändern,
die 50 Jahre lang Demokratie gewährleistet und die freiheitlich-demokratische Grundordnung bewahrt hat. Es
ist überhaupt kein Grund ersichtlich, etwas zu ändern. Das
will auch keiner außerhalb dieses Hauses.
({9})
- Herr Kollege Schlauch, kommen Sie gerade vom Fußballplatz?
({10})
Da gab es vorgestern wenig zu jubeln. Vielleicht können
Sie übermorgen positivere Zurufe machen.
Im parlamentarischen Verfahren haben wir uns - das ist
die Erfahrung des Dritten Reiches - erhebliche Hürden
gesetzt: Zwei Drittel der gesetzlich festgelegten Mitgliederzahl von Bundestag und Bundesrat müssen zustimmen, um das Grundgesetz zu ändern. Die Sachverständigen haben uns dies vor Augen geführt: Entweder sind die
Quoren so niedrig, dass das Mehrheitsprinzip gefährdet
ist, oder so hoch, dass durch Boykott der Gegner ein Erfolg von vornherein aussichtslos ist.
Sie haben die Konsequenzen aus der Anhörung nicht
gezogen. Was Sie vorschlagen, ist vielmehr ein Abschied
von der Mehrheitsdemokratie;
({11})
es ist der Einstieg in eine zufällige „Minderheitsmehrheit“.
({12})
Ein weiterer Punkt: Trotz erheblicher Bedenken haben
Sie an der Vorwegkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht festgehalten. Ex-ante-Kontrolle heißt doch:
Sie halten das Volk für dümmer als die Politik, also Volkes
Meinung wohl eher für verfassungswidrig. Wer sollte
denn sonst verstehen, dass Volksgesetze vor Einbringung
durch das Bundesverfassungsgericht geprüft werden,
({13})
Gesetzentwürfe von Abgeordneten, meine Damen und
Herren der Grünen, aber nicht?
Ich sage Ihnen eines: Gäbe es eine Ex-ante-Kontrolle
in Bezug auf dieses Gesetz, so hätte der rot-grüne Gesetzentwurf diese Ex-ante-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht nicht überstanden, weil der Entwurf
verfassungswidrig ist. Ihr Entwurf ist deswegen verfassungswidrig, weil er gegen Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes verstößt, Herr Schlauch.
({14})
Die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes umfasst nicht
nur die Menschenwürde, das Demokratieprinzip und den
sozialen Rechtsstaat;
({15})
die Ewigkeitsgarantie umfasst vielmehr auch die
„grundsätzliche Mitwirkung der Bundesländer an der Gesetzgebung“. Dies verändern Sie hier.
Bei den Einspruchsgesetzen - das hat die Anhörung
doch klar gezeigt - berücksichtigen Sie dies in keiner Hinsicht. Ihr Entwurf - ich wiederhole es - verstößt eklatant
- und das ist ein Mangel - gegen Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes. Er ist daher verfassungswidrig.
({16})
Noch etwas politisch Wichtiges: Die Mitwirkung des
Bundesrates bedeutet die Berücksichtigung der Vielfalt
der Länder. Die Mitwirkung des Bundesrates ist lebendiger Ausdruck des Föderalismus. Die Mitwirkung des
Bundesrates bedeutet eine geschichtlich begründete Begrenzung von Zentralismus in Deutschland. Meine Damen und Herren, das darf nicht angetastet werden. Deswegen sind wir auch politisch gegen Ihren Gesetzentwurf.
({17})
Erwin Marschewski ({18})
Völlig unverständlich - dazu können Sie sich melden,
Herr Schlauch ({19})
ist Ihr ursprünglicher Ausnahmekatalog. Sie wollten um
die Abgeordneten herum gewissermaßen einen Volksabstimmungszaun errichten.
({20})
Warum um Himmels willen wollten Sie eigentlich jene
Gesetze ausklammern,
({21})
die uns Abgeordnete betreffen? Meine Damen und Herren
von SPD und Grünen, Volksverbundenheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten würden eben nicht geschwächt,
wenn unsere Rechtsstellung direkt vom Volk bestimmt
würde, so zum Beispiel in der Frage von Abgeordnetenmandat und oft bezahlter Interessenvertretung bei Gewerkschaften, Unternehmen und Verbänden.
({22})
Abgeordnete müssen unabhängiger werden und hierbei wird uns der Souverän mit Sicherheit unterstützen.
Auch Ihr jetzt reduzierter Ausnahmekatalog ist so nicht
nachvollziehbar. Das Volk soll zwar mehr Steuern zahlen; aber das Mitentscheiden über die Höhe und die
Struktur der Steuern wollen Sie weiterhin verbieten.
Fürchten Sie, Herr Struck oder Herr Schlauch, vielleicht,
dass das Volk Ihre unsinnige Ökosteuer wieder abschafft?
({23})
Eines ist klar: Durch die Verankerung von Volksentscheiden im Grundgesetz - das schlagen Sie vor - kann
das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik nicht gestärkt werden. Politik- und Politikerverdrossenheit - hören Sie genau zu! - entstehen dadurch, dass sich die Regierenden - Herr Schlauch, auch Sie sind gemeint - vom
deutschen Volk meilenweit entfernt haben, und dadurch,
dass sie die Sorgen und Nöte der Menschen nicht mehr
kennen.
({24})
Um es mit Oskar Lafontaine zu sagen - das wird Peter
Struck besonders interessieren -: „Politikverdrossenheit
ist eine direkte Folge gebrochener Wahlversprechen.“
({25})
Wenn dann noch Klüngel und Korruption hinzukommen,
sind ganz andere Konsequenzen zu ziehen.
Die „Berliner Morgenpost“ hat Recht, wenn sie
schreibt, dass Ihr Gesetz ein scheinheiliger Vorstoß sei. Es
sei der Versuch, populistische Themen für den Wahlkampf
zu besetzen. - Dies muss scheitern, weil sich die parlamentarisch-repräsentative Demokratie bewährt hat.
({26})
Herr Schlauch, wir ziehen daraus die Konsequenz, dass
wir diese parlamentarisch-repräsentative Demokratie sichern und stärken müssen. Wir wollen sie nicht aufweichen. Plebiszite - das wissen Sie doch - verengen die Entscheidung selbst bei schwierigsten Problemen auf ein
schlichtes Ja oder Nein.
({27})
Plebiszite erlauben eben nicht die Kompromisse, die Wesensinhalt der Demokratie sind. Sie blenden die Orientierung am Gemeinwohl sehr oft aus. Herr Bachmaier, leider
geht es doch oft auch um die Durchsetzung egoistischer
Interessen Einzelner.
({28})
Ihre Forderungen sind Wahlkampf. Sie bedeuten keine
Stärkung der Demokratie. Sie nützen niemandem. Sie,
meine Kollegen von der SPD und den Grünen, wissen aus
den Ausschussberatungen, dass ich weder populistischer
Befürworter noch fanatischer Neinsager bin. Dieser Gesetzentwurf ist allerdings nicht zustimmungsfähig, weil er
trotz der Komplexität der Materie mit heißer Nadel gestrickt und verfassungswidrig ist sowie vor allem - das ist
für mich der wesentliche Punkt - den Föderalismus, die
demokratische und moderne Mitwirkungsform in unserer
bundesstaatlichen Ordnung, aushebelt.
Diese Mitwirkung - ich sage dies insbesondere in
Richtung der Damen und Herren von SPD und Grünen auf Bundesebene zu schwächen bedeutet, die historische
Erfahrung nicht zu kennen und gegenwärtig Erlebtes
- schauen Sie sich doch um! - zu ignorieren.
Der Föderalismus ist ein Segen für unser Land! Auch
deswegen sagen wir zu Ihrem Gesetzentwurf Nein.
({29})
Ich erteile dem Kollegen Gerald Häfner, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland will mehr Demokratie wagen. Dieses
Versprechen wurde diesem Land nicht erst seit den 70erJahren, sondern bereits mit dem Grundgesetz gegeben.
Wir nehmen unser Grundgesetz ernst, in dem es heißt:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom
Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Im Unterschied zu den Wahlen - wir Politiker brauchen diese Wahlen, um gewählt zu werden - sind die
Erwin Marschewski ({0})
Abstimmungen bis heute nicht geregelt. Das wollen wir
jetzt ändern.
Herr Marschewski, Ihre Rede hat mich an den Amtsvorgänger von Herrn Stoiber - zu Herrn Stoiber selbst
sage ich gleich auch noch etwas - erinnert.
({1})
- Herr Merz, hören Sie zu! - Herr Streibl, der damalige
bayerische Ministerpräsident, hat, als das Bundesverfassungsgericht seine letzte Entscheidung zum Abtreibungsrecht gefällt hat, aschfahl und mit einem leeren Gesichtsausdruck vor den Kameras gestanden und gesagt: Es kann
doch nicht sein, dass das Bundesverfassungsgericht heute
nur aufgrund des Zeitablaufs anders entscheidet als vor
20 Jahren.
Das ist Ihr Verständnis von Politik. In diesen 20 Jahren
hat sich diese Republik doch verändert, und zwar ganz gewaltig. In diesen 20 Jahren hat sich aufgrund der Frauenbewegung, der Bürgerbewegung, der Demokratiebewegung usw. sehr viel getan. Das haben Sie anscheinend
überhaupt nicht mitbekommen.
({2})
Das hat Ihr Verständnis von Politik überhaupt nicht
berührt. Ich sehe schon Herrn Stoiber, der dann, wenn der
Volksentscheid im Gesetzblatt steht, sagen wird, es könne
nicht sein, dass das Parlament anders als vor 20 Jahren
entschieden habe. Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren anders
als heute entscheiden werden.
({3})
Demokratie ist nie fertig, sondern immer etwas, was sich
entwickeln muss.
Ich kann gut verstehen, dass die Väter und Mütter des
Grundgesetzes 1949 nach der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus zwar das Grundprinzip der direkten Demokratie, „Wahlen und Abstimmungen“, im Grundgesetz verankert, zunächst aber nicht ausgestaltet haben,
weil sie „bindende Verantwortung“ ausschließlich in den
Parlamenten sichern wollten, da sie Bedenken hatten, einem Volk, das den Nationalsozialismus mitgemacht
hatte, sofort plebiszitäre Rechte zu geben. Allerdings bestand damals die Auffassung - Sie können das in den
Protokollen des Parlamentarischen Rates nachlesen -,
dass der Begriff „Abstimmungen“ später durch den Gesetzgeber ausgefüllt werden müsse. Das tun wir nun,
53 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes. Das
ist ein mehr als langer „Zeitablauf“, um diesen Auftrag
endlich zu erfüllen.
Nicht nur diese Koalition will das. 82,7 Prozent der Bevölkerung wollen dies ebenfalls, übrigens auch drei Viertel Ihrer Wählerinnen und Wähler, Herr Marschewski.
({4})
Sie sind schlechte Sachwalter der Interessen jener Menschen, die Sie gewählt haben, wenn Sie sich nicht für deren, sondern nur für Ihre eigenen Interessen einsetzen.
({5})
Herr Stoiber hat nicht zu irgendeiner Schimäre, sondern zu diesem Vorhaben der rot-grünen Koalition nach
Erscheinen unserer Koalitionsvereinbarung in der Münchener „Abendzeitung“ wörtlich gesagt:
Deshalb werde ich die Absicht der rot-grünen Koalition, ... einen Volksentscheid auch auf Bundesebene
einzuführen, unterstützen.
({6})
Was ist das für ein Kanzlerkandidat und was ist von seinen Ankündigungen zu halten?
({7})
Herr Späth und andere - früher hat das Herr Merz gemacht - kassieren die Ankündigungen dieses Kandidaten
vor laufenden Kameras ständig wieder ein. Was ist das für
ein Kanzlerkandidat, der von den Menschen gewählt werden will und das Gegenteil dessen tut, was er zu tun versprochen hat?
({8})
Die Entscheidung, dass die Union unseren Gesetzentwurf
nicht mitträgt, ist, wie Sie alle wissen, im Stoiber-Team,
in Ihrem Headquarter, gefallen, nicht aber hier im Hause.
Auch das ist ein schlechtes Zeichen für den Zustand unserer Demokratie und vor allem für den Zustand der rechten Seite dieses Hauses.
Herr Marschewski, ich habe lange gewartet, ob bei Ihnen noch ein sachliches Argument kommt. Das war nicht
der Fall. Deswegen kann ich es mir weitgehend ersparen,
auf Ihre Rede einzugehen.
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die
Frage der Bürgerbeteiligung außerordentlich ausgewogen und vernünftig regelt. Nach wie vor wird das Schwergewicht der politischen Verantwortung im Parlament liegen. Über 99 Prozent der Gesetze werden im Parlament
entschieden werden. Aber es muss und wird die Möglichkeit geben, dass sich die Bürgerinnen und Bürger auch
zwischen den Wahlen unmittelbar einmischen können.
Ich sagte bereits, dass 82,7 Prozent der Bevölkerung
dieses Vorhaben unterstützen. Unter den Jugendlichen in
Deutschland sind es 93 Prozent. Auch das sollten wir ernst
nehmen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zu der Jugend
unseres Landes sagen, weil ich glaube, dass sie zu viel und
oft auch zu Unrecht geschmäht wird. Unter ihnen sind
sehr viele engagierte und interessierte Menschen. Aber
wir müssen zur Kenntnis nehmen - das hat mit dem zu
tun, was Herr Streibl „Zeitablauf“ nannte -, dass die vorhandenen Formen der politischen Beteiligung für viele
junge Menschen heute nicht mehr die Attraktion haben,
die sie früher hatten. Das hat auch damit zu tun, dass sich
das Land und die Rolle der Parteien in der Gesellschaft
verändert haben und Parteibindungen nicht mehr wie
früher bestehen. Dennoch sind junge Menschen sehr
gerne bereit, sich für ein Ziel zu engagieren, wenn sie wissen, dass sie real und in einer vernünftigen Zeit etwas verändern können, nicht aber dann, wenn sie den Eindruck
haben, sie könnten nur zuschauen und sonst nichts machen, weil „die da oben“, wie es oft so unschön heißt, sowieso machen würden, was sie wollen. Deswegen müssen
wir auch den jungen Menschen in diesem Land ein Angebot machen, wie sie sich stärker beteiligen können.
({9})
Die direkte Demokratie ist ein solches Angebot. Sie
führt - das zeigen alle Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet - erstens zu einer Versachlichung der Politik, die uns
im Übrigen außerordentlich gut täte. Sie führt darüber hinaus zu einer „Entschleunigung“ der Politik. In meinen
Augen ist es ein Problem der heutigen Politik, dass alle
paar Wochen - lassen Sie es mich als Bayern so drastisch
sagen - eine neue Sau durchs Dorf gejagt wird, dass also
schon das nächste Thema kommt, bevor man eine Sache
vernünftig diskutiert und sich ein Urteil gebildet hat. Daran sind wir nicht immer unschuldig.
Weiterhin beobachten wir eine immer stärkere Personalisierung, die immer stärker von den Sachfragen ablenkt. Direkte Demokratie führt dazu, dass anders als bei
den Wahlen, bei denen man nur Personen und Parteien
wählen kann, eine Sachfrage im Mittelpunkt steht und sie
ausführlich und gründlich in der Bevölkerung diskutiert
und abgewogen wird.
({10})
Ich saß vor einiger Zeit - das ist ein Schicksal, das wir
Abgeordnete häufig haben - zu noch recht nachtschlafender Zeit auf dem Weg zum Münchner Flughafen in der
S-Bahn. Neben mir saßen sechs Männer im Anzug und
mit Aktenkoffern und diskutierten hoch diffizile Fragen
der Verfassung, Fragen des Ausbalancierens von Rechten
verschiedener Organe usw. Ich habe sie schließlich gefragt, ob sie Politiker oder Juristen seien. Nein, sie waren
Bürger, aber eben Bürger aus der Schweiz, und hatten als
Bürger über eine Revision ihrer Verfassung abzustimmen.
Machen Sie sich einmal bewusst, was es bedeutet,
wenn die Menschen erleben, dass solche Entscheidungen
nicht nur Sache der Politiker, sondern ihre eigene Sache
sind, dass es um ihr Land, um ihre eigene Verfassung und
um ihre Gesetze geht.
({11})
Das Wichtigste, um das es bei diesem Thema geht, ist,
dass wir die Distanz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten verringern müssen, dass wir die Bürger wieder mehr beteiligen und ihr Engagement stärken müssen.
Die Bereitschaft dazu ist durchaus vorhanden. Wir müssen die Möglichkeit schaffen, dass sich die Bürger wieder
mehr mit dem Gemeinweisen identifizieren.
Manchmal diskutieren wir hier im Bundestag über kurzfristige Tagespolitik hinausreichende längerfristige
Perspektiven. Zum Beispiel wurde für die Enquete-Kommission, die sich mit der Zukunft bürgerschaftlichen Engagements beschäftigte, viel Geld aufgewandt. Viele Wissenschaftler sind angereist, um uns einen Bericht vorzulegen.
Ich frage mich, wer ihn überhaupt gelesen hat. In diesem Bericht, der ohne Gegenstimmen verabschiedet wurde
({12})
- ich weiß, mit einigen Enthaltungen; es gab auch aus der
Union keine Gegenstimmen; in der Kommission saßen einige aus Ihren Reihen, die sich jahrelang mit diesem
Thema beschäftigt haben -, steht klar und deutlich, dass
wir die Bürgerbeteiligung auf Bundesebene, dass wir direktdemokratische Verfahren wie Volksbegehren und
Volksentscheid einführen sollten, um die Bürger stärker
an Entscheidungen über Sachfragen zu beteiligen.
({13})
Was hat es denn für einen Wert, wenn wir solche Kommissionen einrichten und dann deren Ergebnisse überhaupt nicht ernst nehmen?
({14})
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Sätze sagen, die ein klein wenig über den Horizont des eben Gesagten hinausgehen. Dies ist voraussichtlich meine letzte
Rede im Deutschen Bundestag; ich werde nicht wieder
kandidieren. Was ich jetzt sage, richtet sich an uns alle, inklusive meine Person. Ich habe die Sorge, dass mit der
Übernahme politischer Ämter schleichend und oft fast
unmerklich eine bestimmte Form der Gravität einhergeht,
die sich immer mehr so auswirkt, dass der Wunsch immer
wichtiger wird, die eigene Bedeutung einschließlich der
Bedeutung der eigenen Fraktion und Partei zu mehren,
während der Wunsch, die Bedeutung der Bürger unseres
Landes zu mehren, demgegenüber in den Hintergrund
tritt. Ich halte es für wichtig, dass wir über allem, was wir
im Hinblick auf Einzelfragen in diesem Hause immer
wieder zu entscheiden haben und worüber wir uns auch
streiten, eines nicht aus dem Auge verlieren und uns darin
wirklich einig sind: Wir sitzen nicht für uns hier, sondern
für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes; wir haben einen Auftrag für sie zu erfüllen. Dieser Auftrag geht
weit darüber hinaus, dieses und jenes gut zu regeln; er lautet vielmehr, dem Land eine Perspektive zu geben, mit der
sich die Menschen identifizieren können.
In einem unterscheidet sich unser Grundgesetz von allen Verfassungen dieser Welt. Es enthält zwei Grundsätze,
die die so genannte Ewigkeitsgarantie besitzen. Dies sind
Art. 1 und Art. 20. Ich will es hier noch einmal aussprechen, obwohl es jedem ohnedies bewusst sein könnte. Das
ist zum einen der Grundsatz:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt.
Das ist die genaue Umkehrung dessen, was im Nationalsozialismus galt: Der Einzelne galt nichts, das Volk war
alles. Oder: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“, hieß es damals. Das Grundgesetz aber sagt: Im Mittelpunkt all dessen, was der Staat tut, steht der einzelne Mensch, das freie
Individuum. Damit korrespondiert Art. 20 des Grundgesetzes, denn dieses Freiheitsprinzip funktioniert nicht
ohne das Demokratieprinzip, insbesondere den zweiten
Absatz des Art. 20:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom
Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt.
Diese beiden Grundsätze, die Rechte des Einzelnen zu
mehren und im gleichen Zug die Demokratie zu stärken,
sind bedeutsam. Vieles von dem, was wir heute weltweit
beklagen, die Ohnmachtsgefühle, die sich bei rechten
Rattenfängern - dabei denke ich nicht nur an diejenigen,
die gegenwärtig auch orographisch ganz rechts im Parlament sitzen, sondern auch an andere - breit machen, das,
was dort aufgegriffen wird, und der Unmut, der sich vielfach zu Recht gegen die Globalisierung regt,
({15})
hat mit einem Mangel an eigenen Möglichkeiten, auf
diese Entwicklungen Einfluss zu nehmen, mit einem
Mangel an Demokratie zu tun.
Wenn ich kurz etwas zu Ihnen, der FDP, sagen darf:
({16})
Ich war oft sehr begeistert von den Programmen der
FDP. Ich war auch von dem Beschluss, den Sie vor zwei
Jahren auf Ihrem Nürnberger Parteitag mit überwältigender Mehrheit gefasst haben, eingebracht von Ihrem Bundesvorsitzenden Guido Westerwelle, begeistert, in dem es
heißt, dass ein notwendiger Schritt die Ausdehnung von
Bürgerentscheiden, Bürgerbegehren und Bürgerbefragungen auch auf Landes- und Bundesebene sei. Ich habe gedacht, dies sei eine Ankündigung dessen, was die FDP zu
tun gedenkt. Die FDP wird hier nicht ja, ja oder nein, nein
sagen, sondern ein klares Jein sagen. Sie wird dem widersprechen, was sie immer gefordert hat, nämlich mehr direkter Demokratie auf Bundesebene. Ich finde es ausgesprochen schade, dass Sie sich auch in diesem Bereich
von sinnvollen Forderungen verabschieden.
Ich möchte mit einem Wort enden, das nun schon ziemlich alt und überhaupt kein Brüller ist. Es hat aber eine solche Tiefe, dass es sich lohnt, immer wieder darüber nachzudenken. Es stammt aus der Hochzeit des deutschen
Geistes, dem deutschen Humanismus. In den „Maximen
und Reflexionen“ von Goethe heißt es:
Welche Regierung die beste sei? Diejenige, die uns
lehrt, uns selbst zu regieren.
Ich danke Ihnen.
({17})
Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Der Kollege Gerald Häfner
hatte sich offensichtlich vorgenommen, eine dem Thema
angemessene und tief schürfende Rede zu halten. Ich
finde, Herr Häfner, dazu hat es nicht gepasst, dass Sie am
Ende der Versuchung erlegen sind, hier noch mit kleinem
Karo Wahlkampf gegen die FDP zu betreiben.
({0})
Dennoch möchte ich, Herr Kollege Häfner, den Leitgedanken, den Sie am Schluss formuliert haben, aufgreifen. Sie haben gesagt, die politischen Institutionen, die
Parteien und diejenigen, die gewählt sind, haben die Neigung, wenn sie dann die Ämter und die Macht inne haben,
die Bürgermacht zurückzudrängen und die Rechte des
Einzelnen hintanzustellen.
Genau dem wollen wir begegnen. Ein Leitsatz im
Wahlprogramm der FDP lautet daher: Wir wollen die
„Parteienmacht zugunsten von mehr Bürgermacht
zurückdrängen“. Deswegen machen wir Ihnen, dem gesamten Hohen Haus, heute ein ganz konkretes Angebot.
Wir als FDP haben einen Änderungsantrag für die zweite
Lesung eingebracht, mit dem wir vorschlagen, dass wir
hier und heute beschließen, das neue Institut der Volksinitiative in das Grundgesetz aufzunehmen.
Ich appelliere an alle Fraktionen, dem zuzustimmen.
Ich appelliere an die Regierungsfraktionen, weil Politik
doch auch die Kunst des Möglichen ist.
({1})
Wir wissen alle ganz genau, dass mehr heute nicht erreichbar ist. Es ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich,
um Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene
einzuführen. Diese Zweidrittelmehrheit kann nur im Konsens mit der Union erlangt werden. Die Union hat aber
klipp und klar erklärt, dass sie dem hier nicht zustimmen
wird.
Also folgen wir doch dem Rat, den uns Sachverständige wie etwa Hans-Jochen Vogel, der frühere SPD-Vorsitzende, in der Expertenanhörung gegeben haben. Lassen
Sie uns dem Rat folgen, den wir auch aus der Publizistik
erhalten, wie etwa von Sigrid Averesch in der gestrigen
Ausgabe der „Berliner Zeitung“, und heute das beschließen, was zurzeit möglich und wofür Einvernehmen
erreichbar ist! Lassen Sie uns heute durch das Instrument
der Volksinitiative eine stärkere Bürgerbeteiligung und
mehr Bürgerrechte schaffen! Das ist unser Vorschlag.
({2})
Wir appellieren auch an die Unionsfraktion, sich dem
nicht zu verschließen.
Ich möchte das aufgreifen, was zu Edmund Stoiber gesagt worden ist. Bayern ist doch ein Bundesland mit einer
über 50-jährigen Tradition der Volksgesetzgebung.
({3})
Wir, die wir aus Bayern kommen, sind stolz auf die
bayerische Verfassung, die wir in vielen Bereichen für
moderner halten, obwohl sie älter ist als das Grundgesetz.
Wir sollten uns daher gemeinsam - ich appelliere insbesondere an die CSU, weil sowohl Edmund Stoiber als
auch Günther Beckstein dem gegenüber aufgeschlossen
sind - diesen ersten Schritt in der bayerischen Verfassung
zum Vorbild nehmen und heute die Volksinitiative einführen.
Wenn unser Änderungsantrag abgelehnt wird, kommt
es selbstverständlich zur Abstimmung über den weiter gehenden Gesetzentwurf der Koalition über die Einführung
von Volksbegehren und Volksentscheid. Die FDP hat beschlossen, diese Abstimmung für ihre Mitglieder freizugeben. Das ist aber eigentlich eine unrichtige Formulierung; denn einen Fraktionszwang gibt es ohnehin nicht. In
unserem eigenen Parteiprogramm, das kürzlich auf dem
Bundesparteitag in Mannheim verabschiedet worden ist,
heißt es:
Die FDP lehnt daher, entsprechend ihrer eigenen
Tradition, die Ausübung von Fraktionszwang und die
Maßregelung von Abgeordneten aufgrund abweichender Auffassungen ... entschieden ab.
({4})
Das werden wir gleich praktizieren, indem jeder einzelne
unserer Abgeordneten gemäß seiner eigenen Gewissensentscheidung über Ihren weiter gehenden Vorschlag zum
Volksbegehren und Volksentscheid abstimmen wird.
({5})
Sie von der Koalition haben es allerdings den Befürwortern wahrlich nicht leicht gemacht. 1998 haben Sie im
Koalitionsvertrag angekündigt, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene einzuführen. Dreieinhalb
Jahre haben Sie gebraucht, bis Sie sich intern auf einen
Gesetzentwurf verständigt haben. Sie haben ihn erst in
diesem Frühjahr vorgelegt. Es ist allgemein bekannt - ich
wiederhole, was ich bereits in der ersten Lesung gesagt
habe -, dass ohne die engagierten Kollegen Hermann
Bachmaier und Gerald Häfner am Ende nicht einmal dieser Entwurf vorgelegt worden wäre.
({6})
Es ist diesem schwierigen Thema nicht angemessen, es
am Ende einer Legislaturperiode noch in aller Eile abzuhandeln.
({7})
Ich verhehle aber nicht, dass es in unserer Fraktion
auch Kolleginnen und Kollegen mit prinzipiellen Bedenken gegen die Einführung dieser Instrumente gibt, weil sie
befürchten, dass damit die bewährte Balance von repräsentativer Demokratie und Volksbeteiligung ins Wanken
geraten könnte.
({8})
Es wird auch Ja-Stimmen aus der FDP-Fraktion geben;
({9})
denn uns ist bekannt, dass in den Bundesländern gute
Erfahrungen mit einer stärkeren Volksbeteiligung an der
Gesetzgebung gemacht worden sind.
Ich möchte denjenigen, die wie ich mit Ja stimmen werden, noch eine verblüffende Erkenntnis aus der Sachverständigenanhörung mitteilen. Der Schweizer Experte
Professor Thürer hat dargelegt, dass eine größere Volksbeteiligung an der Gesetzgebung eher zu einer sparsameren
Haushaltsführung führt, als wenn nur das Parlament - denn
ein Oswald Metzger allein macht noch keinen Sommer über die Haushaltsgesetze entscheidet. Das gibt zu denken.
Professor Thürer hat noch etwas ausgeführt, was ich
Ihnen nicht vorenthalten will. Er hat sogar festgestellt,
dass die Menschen dort, wo es Volksbegehren und Volksentscheide gibt, glücklicher leben. Das lässt sich natürlich
nur schwer überprüfen; deswegen ist das vielleicht doch
nicht das entscheidende Argument, um die Erfahrungen
der Schweiz auf die Bundesrepublik zu übertragen.
Alles in allem bleibt es dabei: Unabhängig davon, welche Entscheidung heute getroffen wird, wird uns dieses
Thema - weil die Union nicht mitzieht - in der nächsten
Legislaturperiode aufs Neue beschäftigen.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die PDS-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf zustimmen. Wir tun dies nicht unkritisch. Es gibt für diese Kritik sachliche Gründe. Aber es
ist endlich eine Grundgesetzänderung im Sinne von mehr
und nicht von weniger Demokratie.
({0})
Allerdings muss man sich zuerst das Verhalten der
CDU/CSU anschauen. Sie haben im Ausschuss zu Protokoll gegeben, Sie hätten keine grundsätzlichen Vorbehalte
gegen die Volksgesetzgebung. Ihnen ginge es vornehmlich um den knappen Zeithorizont. Ich frage Sie:
Was ist denn das für ein Parlaments- und Demokratieverständnis, wenn man die Losung ausgibt, dass am Ende der
Legislaturperiode beschlossene Gesetze schlechter als
solche sind, die am Anfang beschlossen worden sind?
({1})
Was Sie wirklich von Demokratie halten, meine Damen und Herren von der Union, lesen wir in einem amtlichen Papier aus Bayern. Ich zitiere:
Die rechtspolitische Sprecherin der PDS-Fraktion
Dr. Evelyn Kenzler ... plädierte für eine „neue
Kombination aus repräsentativer und direkter Demokratie“.
Das stimmt, das hat sie so gesagt, das geht in Ordnung.
Trotzdem handelt es sich nicht um eine Werbeschrift aus
Bayern für die PDS oder Evelyn Kenzler - beide hätten es
wohl verdient -, sondern um ein Zitat aus dem Verfassungsschutzbericht des Landes Bayern vom ersten Halbjahr 2000.
({2})
Dort wird - das ist das, was mich so empört - eine Initiative für Volksgesetzgebung unter der Rubrik „Linksextremismus“ abgehandelt. Hier offenbaren Sie Ihre wahre Gesinnung! Das werden wir so nicht hinnehmen. Das ist ein
Grund mehr gegen Edmund Stoiber.
({3})
Ich verstehe viele Bayerinnen und Bayern, dass sie den
Ministerpräsidenten Stoiber loswerden wollen, aber bitte
schieben Sie ihn nicht nach Berlin ab.
({4})
Zum Verhalten der FDP. Zu der Tatsache, dass Sie
diesen Sachverhalt einmal so und einmal anders darstellen, fällt mir wirklich nur ein Spruch aus dem Wahlkampf
in meiner Heimatstadt in Halle aus dem Jahre 1990 ein,
der meines Erachtens heute aktueller denn je ist. Er heißt:
Wie winden sich die Aale? - Wie Liberale!
({5})
Da lobe ich mir die PDS. Die PDS hat bereits 1999 in
Bonn einen Gesetzentwurf zur Volksgesetzgebung eingebracht. Sie haben ihn damals, wie Sie es so oft mit unseren Vorschlägen machen, als populistisch abgetan. Die
Vorteile dieses Gesetzentwurfes waren aber: Er lag in der
Tat rechtzeitig auf dem Tisch. Er ging mit gesellschaftlichen Initiativen konform. Er hat eine vernünftige Unterschriftenzahl vorgeschlagen. Sie hingegen wollen jetzt für
ein Volksbegehren 3 Millionen Unterschriften. Wir meinten und meinen noch immer, dass 1 Million Unterschriften reichen müssen.
({6})
Nun einige Worte an die Adresse der SPD. Wir hätten
es für ein klareres Bekenntnis zur Volksgesetzgebung gehalten, wenn Sie sich für die Verankerung in Art. 20 des
Grundgesetzes ausgesprochen hätten. Jetzt haben wir
eine eher beiläufigere Verankerung. Wir finden, dass Sie
bei den Unterschriftenzahlen sehr hohe Hürden errichtet
haben. Meine Hauptkritik an die Adresse der Sozialdemokraten ist aber die: Ich werde beim Hinundherüberlegen den Eindruck nicht los, dass Sie die Grundgesetzänderung erst dann beantragt haben, als Sie sich völlig
sicher waren, dass eine Grundgesetzänderung an der
CDU/CSU scheitern wird.
({7})
Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich nicht alleine diesen Eindruck habe.
Trotz alledem ist ein spätes Gesetz besser als keines.
Deshalb werden wir heute zustimmen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort
der Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Heute hat der Deutsche Bundestag wieder
einmal die Chance, die Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger zu stärken und mit Zweidrittelmehrheit
dafür einen klaren verfassungsrechtlichen Rahmen zu
schaffen. Wir sollten diese Chance und damit die vielen
guten Erfahrungen nutzen, die man mit stärkeren Mitwirkungsrechten, mit Bürgerbegehren, mit Volksbegehren
und Volksentscheiden nicht nur in den Gemeinden und in
den Ländern, sondern auch in anderen Demokratien
Europas gemacht hat.
({0})
Wir alle wissen, dass das so ist.
Der Entwurf der rot-grünen Koalition bringt noch einmal sehr klar zum Ausdruck, worum es geht. Es handelt
sich im Wesentlichen um folgende beiden Schritte:
Zum einen geht es darum, den Bürgerinnen und Bürgern das Recht zu geben, sich in Sachfragen unmittelbar
an den Bundestag zu wenden und dort Gehör zu finden,
wenn die entsprechenden Quoren erfüllt sind. Das will die
Volksinitiative. Ich darf wiederholen, was hier gesagt
wurde: Wer kann eigentlich etwas dagegen haben?
Zum anderen wollen wir, dass die Bürgerinnen und
Bürger das Recht bekommen, in Sachfragen über Volksbegehren und Volksentscheide mehr mitzuwirken. Das
muss ebenfalls in einem klaren verfassungsrechtlichen
Rahmen geschehen, der nicht manipuliert werden kann.
Wir ergänzen damit die parlamentarisch-repräsentative
Demokratie. Es ist also weder eine Revolution noch etwas
anderes Dunkles oder Gefährliches.
Es ist daher völlig unverständlich, dass die Union nach
mehr als einem Jahrzehnt der Auseinandersetzung hier
noch immer kategorisch Nein sagt.
({1})
Neu ist eigentlich nur, dass die alten Begründungen immer verändert wieder vorgebracht werden.
Ich fand es heute außerordentlich originell, wie der
Kollege Marschewski sein Nein vorgetragen hat. Das war
deswegen so originell, weil seine Argumente so überaus
widersprüchlich waren: Er hat auf der einen Seite erklärt,
der Gesetzentwurf sei ein Placebo; das heißt auf Deutsch,
er verändere nichts. Gleichzeitig hat er jegliches zur Ablehnung in der Sache dienende Geschütz aufgefahren, das
ihm eingefallen ist.
({2})
Übrigens, alle diese Argumente sind - das ist ja bekannt - nicht haltbar. Unser Vorgehen ist weder politisch
falsch noch verfassungswidrig. Es bedeutet auch nicht
den Eintritt in eine Minderheitsdemokratie. Ein Verstoß
gegen Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes ist es schon gar
nicht.
Verehrter Herr Kollege Marschewski, das Einzige, was
man heute wieder gesehen hat, ist: Sie wollen die zusätzlichen Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger
nicht. Uns zeigt sich wieder: Herr Stoiber sagt in der Öffentlichkeit das eine, während Sie das andere machen. Uns
drängt sich in der Tat der Eindruck auf, dass von Ihrer Seite
wieder einmal Wahlkampf gemacht wird, so oder so!
({3})
Ich halte das für außerordentlich bedauerlich. Der Kollege Bachmaier hat völlig Recht: Das Thema „Mehr Mitwirkungsrechte für Bürgerinnen und Bürger“ wird auf der
Tagesordnung dieses Parlaments bleiben. Es ist nicht
schwer, das vorherzusehen: Der CDU/CSU wird es dabei
so gehen wie bei den anderen Grundgesetzänderungen,
denen Sie sich fälschlicherweise lange entgegengestemmt
haben; Herr Bachmaier hat den Naturschutz, Umweltschutz und Tierschutz schon erwähnt. Ich will auch daran
erinnern, wie lange es gedauert hat, Ihren, wie ich finde,
sachlich nicht berechtigten Widerstand gegen die Integration und gegen das Verbot der Diskriminierung von Behinderten zu überwinden.
({4})
Neben den schon bekannten guten Gründen will ich einige herausgreifen, die die Einführung von mehr Mitwirkungsrechten gerade heute so wichtig erscheinen lassen.
Gerade wir verantwortlichen Politikerinnen und Politiker
machen in unseren Gesprächen jeden Tag die Erfahrung,
dass die Unsicherheit bei vielen Menschen durch die Europäisierung, durch die Globalisierung und die Veränderungen, die wir in unserem Alltag erleben, ständig zunimmt; jeder weiß das. Die Aufgabe der gesamten Politik
kann nur, muss aber auch sein, durch Sicherheit und durch
Gerechtigkeit für jeden Einzelnen die notwendigen Innovationen und die Modernisierung vorzubereiten, die unsere Demokratie stärken, die mithelfen, unsere soziale
und demokratische Rechtsstaatlichkeit in den Nationalstaaten Europas und darüber hinaus zu verankern und damit zum Aufbau einer friedensfähigen Gesellschaft beizutragen.
({5})
Das kann man, verehrte Damen und Herren von der
CDU/CSU, den Menschen nicht verordnen, und man
kann nicht so verfahren, wie Sie das tun, nämlich Sicherheit verringern und Rechte aushöhlen und dann meinen, man könne die Menschen für Innovationen und Modernisierung gewinnen. Das geht nicht. Dazu braucht
man, und das wollen wir: mehr Sicherheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Rechte.
Damit komme ich auf die Stärkung der Mitwirkungsrechte zu sprechen. Mehr Mitwirkungsrechte für die Bürgerinnen und Bürger sind der richtige Weg, die Veränderungen, vor denen wir stehen, mitzugestalten. Deswegen
ist es so fatal, dass Sie sich jeder Diskussion über die Stärkung der Mitwirkungsrechte der Bürgerinnen und Bürger
verschließen.
({6})
Was sagen denn die Menschen in unserem Land, wenn
man sie auf unsere Demokratie anspricht? - Sie sagen:
Jawohl, wir dürfen alle vier Jahre wählen; das finden wir
gut. Aber auch unsere Bürger stellen in ihrem täglichen
Leben fest, dass es längst einen anderen Trend gibt als nur
den zu der bekannten Verbändedemokratie oder - darauf
hat der Kollege Scholz, dem ich an dieser Stelle nachträglich zu seinem 65. Geburtstag gratuliere, zu Recht hingewiesen - einer pluralen Demokratie. Unsere Demokratie
ist besonders in den langen Jahren, in denen Sie regiert haben, gelegentlich zu einer Interessen- und Lobby-Demokratie degeneriert. Das hat bei den Bürgerinnen und Bürgern den Eindruck bestärkt, dass derjenige, der über Geld
oder Medienmacht verfügt, seine Mitwirkungsrechte,
sprich: seinen Einfluss, in ungeahnter Weise stärken kann.
Die Gruppen, die das können, setzen durch die Forderung
nach Besitzstandswahrung jeder Veränderung, jeder Innovation und jeder Form von Modernisierung Widerstand
entgegen. Das trägt zu dem Frust, zu dem Desinteresse
und zu dem Protest bei, den wir überall spüren. Das muss
uns allen Sorge bereiten.
Ich möchte an dieser Stelle noch Folgendes erwähnen:
Wir alle haben in den letzten Wochen gesehen, wie schädlich es ist, wenn eine Partei auf den vorhandenen Frust,
das Desinteresse und den Protest mit noch mehr unpolitischer Gaukelei oder sogar mit dem Verstärken von Vorurteilen - das ist ein gefährliches Spiel - reagiert.
({7})
Mag das als Reaktion auf den Frust, das Desinteresse und
den Protest gemeint sein. Aber das versetzt der Demokratie einen schweren Schlag. Das schadet allen, auch der
Friedensfähigkeit unserer Gesellschaft. Deswegen müssen
Demokraten sagen: Ein solcher Weg darf nicht beschritten werden. Der Weg der Stärkung der Mitwirkungsrechte
der Menschen durch Volksinitiativen, Volksbegehren und
Volksentscheide hingegen ist richtig, weil er dazu beitragen kann, den Frust, das Desinteresse und den Protest in
aktives Engagement für unsere soziale, freiheitliche und
rechtsstaatliche Demokratie umzuwandeln.
({8})
Ich finde, dass Karl Jaspers völlig Recht hat, der heute
in einer großen deutschen Tageszeitung mit dem Satz
zitiert wird: „Ein Volk, dem das Referendum versagt ist“ er meint, dass das von den Staatsbürgern selber ausgehen
muss -, „wird in seiner Unmündigkeit festgehalten.“ So ist
es. Dieser Satz gehört natürlich gerade ihnen in der
CDU/CSU ins Stammbuch geschrieben, die Sie sich seit
Jahren beharrlich und - lassen Sie mich das auch sagen aus Eigeninteresse jeder inhaltlichen Diskussion versagen.
({9})
Übrigens, Kollege Stadler, ich habe gerne gehört, was
Sie gesagt haben. Sie wissen aufgrund meiner zahlreichen
Ausführungen dazu, dass ich den Weg, den Sie beschrieben haben, für denkbar gehalten hätte, wenn nicht klar
wäre, dass auch er heute an dem kategorischen Nein der
CDU/CSU-Opposition scheitern wird. Mir tut das Leid.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der Union
auch darum, über ihren eigenen Schatten zu springen und
sich ihre Einwände nochmals vor Augen zu führen. Wenn
Sie das tun, dann werden Sie feststellen, dass Ihre Einwände unseren Argumenten nicht standhalten.
In Deutschland besteht in der Tat die Neigung, dass
jede gute Idee zunächst einmal auf mindestens 18 Bedenkenträger stößt. Das steht auch dem „Ruck durch
Deutschland“ entgegen, den Altbundespräsident Herzog
zu meiner großen Freude immer wieder einfordert und
den diese Bundesregierung mit ihrer Politik der Modernisierung und Gerechtigkeit in den letzten vier Jahren auch
begonnen hat.
Sie aber, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
mäkeln an Quoren, an Ausnahmevorschriften oder an anderen Details des Gesetzentwurfs herum, dessen inhaltlicher Beratung Sie sich entzogen haben. Wir hätten mit Ihnen gern über diese Einzelheiten auch sachlich geredet!
Selbstverständlich ist dieser Gesetzentwurf keine Revolution, sondern ein erster Schritt, dem sicherlich noch
weitere Überlegungen und ein breiter Konsens zu weiteren Fragen folgen müssen. Denn die Gefahr, dass Parteien
Gaukelei statt Politik betreiben oder meinen, mit Vorurteilen gegen Minderheiten Vorteile zu erhalten, kann
durch die modernen Medien und ihre Vermarktung auch
größer werden. Auch das müssen wir in diesem Kontext
berücksichtigen. Deswegen müssen wir gemeinsam für
einen neuen Konsens in unserer Gesellschaft werben, dass
es zur Ehrenpflicht von Medienunternehmen gehören
muss, im demokratischen Sinne umfassend zu informieren, Verständnis zu fördern und damit die Grundlage für
demokratische Abstimmungen zu legen.
({10})
Wir hätten das alles gern mit Ihnen durchdiskutiert.
Wir halten es für außerordentlich bedauerlich, dass Sie
von CDU und CSU sich jeder inhaltlichen Auseinandersetzung entzogen haben. Ich wage dennoch den Appell:
Stimmen Sie heute in der Abstimmung unserem Gesetzentwurf zu! Es ist der richtige Weg und es ist ein erster
guter Schritt.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rupert Scholz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die antragstellenden Fraktionen SPD und Grüne vertreten mit viel Pathos die Meinung - und die Bundesjustizministerin hat es
eben wieder sehr deutlich zum Ausdruck gebracht -, es
ginge um mehr Mitwirkungsrechte für Bürger. Damit
möchte ich beginnen, weil das der entscheidende Punkt ist.
Meine Damen und Herren, niemand kann in einer Demokratie gegen mehr Mitwirkungsrechte von Bürgern
sein. Aber das muss richtig organisiert sein und das muss
wirklich demokratisch sein.
({0})
Das ist der entscheidende Punkt, der schon aus demokratiestaatlichen Gründen in entscheidender Weise gegen
diese Initiative spricht. Demokratie heißt bekanntlich
Mehrheitsprinzip, Demokratie heißt Fähigkeit zum Kompromiss und Demokratie basiert in entscheidender Weise
auf der Gleichheit aller Staatsbürger. Das Recht auf gleiche Teilhabe findet seine Grenze im Recht des anderen auf
ebenso gleiche Teilhabe.
Wenn ich eine Regelung dieser Art schaffe, die in der
Tat wie Erwin Marschewski es deutlich belegt hat, den
Einstieg in die Minderheitendemokratie bedeutet - 10 Prozent plus eine Stimme schaffen ein Gesetz, 26,6 Prozent
können eine Verfassungsänderung realisieren -, nehme ich
die Privilegierung von Minderheiten und damit den Einstieg in eine verfassungsmäßige Ungleichheit in Kauf.
({1})
Schon aus diesem Grunde ist das nicht akzeptabel und ist
das Pathos hohl und unglaubwürdig, mit dem hier der Anschein zu erwecken versucht wird, es ginge um die Gewährleistung von mehr Mitwirkungsrechten für den Bürger. Es geht nicht um die Gewährleistung von mehr
Mitwirkungsrechten, es geht in Wahrheit - das sagen wir
hier in aller Deutlichkeit - um den Einstieg in weniger
Mitwirkungsrechte, weil um weniger Gleichheit der Bürger in der demokratischen Partizipation.
Darüber hinaus wird - das ist der zweite entscheidende
Punkt - von der Politikverdrossenheit und der Parteienverdrossenheit der Bürger gesprochen. In der Tat, es gibt
Politikverdrossenheit in unserem Land, es gibt auch Parteienverdrossenheit in unserem Land. Aber die Feststellung dessen ist an die politischen Parteien zu adressieren - und das geht im Übrigen an alle.
({2})
Die politischen Parteien selbst sind aufgefordert. Das ist
ihr Verfassungsauftrag in der parteienstaatlichen Demokratie: aus ihrer Verantwortung heraus mit ihrem Engagement Verdrossenheit und Frust zu überwinden.
Ihre Initiative ist in dieser Frage wiederum kontraproduktiv. Wir wissen doch alle - das zeigen auch die Erfahrungen aus den Ländern -: Wenn ich ein Volksbegehren,
das Verfahren einer Volksinitiative, einen Volksentscheid
durchführen will, brauche ich natürlich eine bestimmte
Organisation, die das Ganze gestaltet, präpariert, auf den
Weg bringt, die dafür wirbt. Meine Damen und Herren,
ich prophezeie Ihnen: Wenn das, was Sie hier vorhaben,
Realität würde, wüchse die von Ihnen hier so beklagte
Macht der politischen Parteien massiv an. Denn natürlich
würden sich die politischen Parteien, dann legitimermaßen, dieses neuen Instruments bedienen. Sie würden es
nutzen. Das würden Sie tun und das würden auch wir tun.
Das liegt doch auf der Hand.
Aber was bedeutet das für die parlamentarische Demokratie? - Dies bedeutet - auch das prophezeie ich in
aller Deutlichkeit - den Wechsel von der verantwortlichen
parlamentarischen Demokratie in die Schönwetterdemokratie.
({3})
Denn dann würden hier im Parlament nur noch die Dinge
entschieden, bei denen man sagt: Ach, das können wir
noch so machen. Aber wenn es schwierig wird - und an
der Schwierigkeit hat sich eine Demokratie, hat sich ein
Parlament zu bewähren -, würden wir sagen: Ach, das lassen wir da draußen entscheiden. Das wäre die Konsequenz.
Meine Damen und Herren, Sie treiben ein leichtfertiges Spiel mit bewährten Institutionen, die uns zum ersten
Mal in der Geschichte Deutschlands eine stabile Demokratie beschert haben. Mit einer solchen Errungenschaft,
für die wir dankbar zu sein haben, spielt man nicht. Die
mag man hier und dort fortentwickeln. Da mag man über
Einzelheiten sprechen. Das ist immer möglich, aber im
Übrigen nicht wenige Wochen vor einer Bundestagswahl;
dann ist das Ganze äußerst durchsichtig.
Ich will an dieser Stelle auf den FDP-Antrag eingehen.
Ich habe schon in der ersten Lesung gesagt, dass ich persönlich mir durchaus vorstellen kann, dass ein richtig
strukturiertes Verfahren einer Volksinitiative als eine
sinnvolle Ergänzung der parlamentarischen Demokratie
diskutabel sein kann. Aber das, was Sie jetzt vorschlagen,
Herr Stadler, ist auch nicht ausgereift. Das sieht man
schon daran sehr deutlich, dass 400 000 Stimmen für eine
Volksinitiative genügen sollen. Ich halte das Quorum für
zu niedrig; darüber kann man aber reden. Zusätzlich sehen Sie jedoch ein Anhörungsrecht vor. Wie soll denn das
funktionieren? Das macht deutlich, dass die Gesamtproblematik nicht wirklich verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch ausdiskutiert ist.
Wir haben nämlich - auch darauf habe ich schon in der
ersten Lesung hingewiesen - nicht nur demokratiestaatliche, sondern auch rechtsstaatliche Aspekte zu berücksichtigen. Das rechtsstaatliche Verfahren der Petition, hier
möglicherweise der Massenpetition, muss man sehr deutlich in Relation setzen. Man muss fragen und kann ernsthaft darüber diskutieren, wie die Dinge zusammenpassen
und wie sie gegebenenfalls weiterzuentwickeln sind. Aber
so ist es leider zu unausgegoren, Herr Stadler, und es
kommt zu sehr aus dem hohlen Bauch. Deshalb wird die
Union auch diesem Vorschlag, obwohl er unvergleichlich
verantwortlicher ist als das, was Rot-Grün vorschlägt,
nicht zustimmen.
Meine Damen und Herren, ein Letztes zum Demokratieprinzip in unserem Land. Aus gutem Grunde ist unsere
Demokratie eine föderative Demokratie. Ein Volksentscheid und ein Volksbegehren in der Form, wie Sie sie hier
vorschlagen, würden - auch unter dem Aspekt der Minderheitendemokratie; Erwin Marschewski hat mit Recht
darauf hingewiesen - in der Tat in verfassungswidriger
Weise - auch ich zitiere ausdrücklich Art. 79 Abs. 3 unseres Grundgesetzes - unser System der föderativen Gewaltenteilung und Demokratie aus den Angeln heben. Der
Bundesrat wäre ausgeschaltet.
Der Bundesrat hat im Übrigen nicht nur eine demokratiestaatliche Funktion. Er ist auch ein ganz eigentümliches,
aber hochbewährtes Element der Gewaltenteilung zwischen den exekutiven und den legislativen Gewaltenträgern. Das alles wäre weg. Das können Sie auch nicht kompensieren, indem Sie nun erklären: Wir zählen die Stimmen
etwas anders aus, je nachdem, wie groß die Einwohnerzahl
der jeweils beteiligten Bundesländer, umgerechnet auf das
Bundesvolk, ist. Das ist nicht mehr der Föderalismus unseres Grundgesetzes. Das ist der Einstieg - ich sage wieder
das Wort vom Einstieg - in den Zentralstaat. Das ist der Abschied von unserem Bundesstaat.
({4})
Das werden Sie mit einer Fraktion wie der CDU/CSU, die
entscheidend zum Aufbau und zur Entwicklung des funktionstüchtigen deutschen Föderalismus beigetragen hat,
nicht machen können. Wir sind Föderalisten und wir werden unseren Föderalismus nicht durch hohle Manöver
dieser Art aushöhlen oder zerstören lassen.
({5})
Das gilt im Übrigen auch für unseren Kanzlerkandidaten
Edmund Stoiber, dessen Aussagen Sie hier mehrfach
falsch und ungenau zitiert haben.
Meine Damen und Herren, die föderative und repräsentative Demokratie dieser Republik ist das Fundament
unseres Landes.
({6})
Darüber haben wir damals schon in der Verfassungskommission diskutiert, die Argumente gewogen und abgewogen und richtig entschieden. So werden wir auch heute
richtig entscheiden, wenn wir mit Nein stimmen.
Danke.
({7})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Einführung von Volks-
initiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das
Grundgesetz, Drucksache 14/8503.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 14/9260, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den
Änderungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksa-
che 14/9296? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der FDP-
Fraktion abgelehnt.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen, PDS und einigen Stimmen
aus der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-
Fraktion und einer Reihe von Stimmen aus der FDP-Frak-
tion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach
Art. 79 des Grundgesetzes ein Gesetz zur Änderung des
Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln der Mit-
glieder des Bundestages, das heißt mindestens 444 Stim-
men, benötigt.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Bei der
Stimmabgabe bitte ich alle Kolleginnen und Kollegen,
sorgfältig darauf zu achten, dass die Stimmkarten, die Sie
verwenden, Ihren Namen tragen. Zur Abstimmung liegt
eine persönliche Erklärung des Kollegen Niebel vor.1)
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen be-
setzt, sodass wir mit der Abstimmung beginnen können? -
Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch
ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme
nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be-
ginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.2)
Wir setzen die Beratungen fort.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia Maier,
Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Einführung eines existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohns
- Drucksache 14/8921 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion
der PDS zehn Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Pia
Maier, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wissen Sie eigentlich, was eine Friseurin
in Nordrhein-Westfalen verdient? - 1 114 Euro. In Sachsen bekommt eine Friseurin nach Tarif 637 Euro. Ist
Ihnen bewusst, dass 150 000 Menschen Vollzeit arbeiten
und trotzdem Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe haben,
weil der Lohn niedriger ist als die Sozialhilfe, die ja eigentlich das Existenzminimum darstellt? Diese 150 000
sind aber bestimmt noch nicht alle, die arbeiten und trotzdem arm sind; die Dunkelziffer ist hoch.
Fragen Sie Arbeitslose, welche Jobs ihnen vom Arbeitsamt angeboten werden. Löhne unter 5 Euro sind die Regel. Haben Sie einmal einen der Fahrer, die uns Bundestagsabgeordnete fahren, gefragt, was er verdient? Mir hat
neulich einer gesagt, er habe drei Jobs, einer würde nicht
reichen. Weiter nachgefragt, sagte er - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident -: „Was ich hier verdiene,
liegt unter der Kotzgrenze.“
Das ist leider die Realität in diesem Land. Das ist die
alltägliche Erfahrung derer, die Arbeit suchen. Die Realität ist, dass Menschen arbeiten und trotzdem arm sind.
Das wollen wir verändern.
({0})
Deswegen legt die PDS-Fraktion einen Antrag zur Ein-
führung eines existenzsichernden gesetzlichen Mindest-
lohnes vor. Wir fordern einen bundesweit einheitlichen
branchenübergreifenden Mindestlohn in Höhe von
68 Prozent des nationalen Durchschnittslohnes. Das sind
ungefähr 9,42 Euro pro Stunde und macht gut 1 500 Euro
brutto im Monat bei einer vollen Stelle.
Ein existenzsichernder Mindestlohn kann Armut ver-
meiden, er kann die Wirtschaft ankurbeln und damit für
mehr Arbeitsplätze sorgen. Wer davon nicht überzeugt
ist, glaubt seit Jahren an die neoliberale Politik, die für die
Massenarbeitslosigkeit verantwortlich ist, vor der wir
jetzt stehen. Alle Fraktionen dieses Hauses außer der PDS
machen seit Jahren eine Politik, die davon ausgeht, es
brauche nur ein günstiges Angebot, dann würden die
Leute schon kaufen, und die Arbeit müsse für die Arbeit-
geber nur noch günstiger werden, dann würden schon
Arbeitsplätze entstehen. Aber dieser Weg ist ein Irrweg.
Wo sind denn die Arbeitsplätze? In den letzten Jahren ist
die Arbeit billiger geworden; es sind aber keine Arbeits-
plätze entstanden. Wo sind denn die vielen Arbeitsplätze
im Osten, wo die Löhne schon so niedrig sind?
Ihre neoliberale angebotsorientierte Wirtschaftspolitik
hat viele Familien in die Armut gestürzt, obwohl sie Ar-
beit haben. Sie haben zwar Arbeit, aber sie haben zu we-
nig Geld, um sich viel zu leisten. Die Wirtschaft können
sie mit ihrer Nachfrage jedenfalls nicht ankurbeln. Sie
kurbeln auch den Dienstleistungsbereich nicht an, weil sie
keinen Fensterputzer bezahlen können, auch wenn der
schon für einen Hungerlohn arbeitet.
Das Ergebnis Ihrer Politik - heute Morgen wurden die
aktuellen Arbeitslosenzahlen veröffentlicht -: Es gibt im-
mer noch knapp 4 Millionen Arbeitslose. Geschenkt, dass
es ein paar weniger geworden sind! Von den 4 Millionen
sind ein Drittel Langzeitarbeitslose. Geschenkt, dass es
ein paar weniger geworden sind! Wirkliche Besserung ist
nicht in Sicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, fraktionsübergrei-
fend verkaufen Sie immer wieder das Instrument der
Präsident Wolfgang Thierse
1) Anlage 2
2) Seite 24032 C
Niedriglöhne als Ausweg aus der Beschäftigungskrise.
Entsprechende Modelle hat Rot-Grün jüngst bundesweit
eingerichtet. Ihre Kombilohnjobs will aber keiner haben.
Wann geben Sie endlich zu, dass dies der falsche Weg ist,
und wechseln zu einer anderen, zu einer nachfrageorientierten Politik?
({1})
Eine Politik, die auf Nachfrage setzt, braucht für den
Konsum höhere Löhne. Mit einem gesetzlichen Mindestlohn, wie die PDS ihn fordert, kommt mehr Geld in die
Taschen derer, die es richtig brauchen können. Dann hätten diejenigen mehr Geld in der Tasche, die zu Dumpinglöhnen arbeiten, die in den Niedriglohnbereichen im
Osten arbeiten, wo selbst die geringsten Tariflöhne noch
unterschritten werden, die sich mit zwei oder drei Jobs gerade über Wasser halten können. Genau diese Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen haben Nachholbedürfnisse.
Sie wollen konsumieren, weil sie seit Jahren an der Butter auf dem Brot sparen mussten. An der fehlenden Butter
auf dem Brot ändert sich nichts, nur weil etwas ein paar
Euro billiger wird, wie die neoliberalen Angebotsstrategen schon seit Jahren predigen.
Die Menschen konsumieren erst dann mehr, wenn sie
mehr Geld zur Verfügung haben, das sie selbst verdient
haben. Dann kaufen sie natürlich auch hierzulande ein
und sorgen damit für mehr Beschäftigung. Diese Logik
der Nachfrage funktioniert. Bei den öffentlichen Investitionen haben das auch die Wirtschaftsweisen mittlerweile
erkannt, bei der privaten Nachfrage ist das nicht anders.
Meine Damen und Herren, 9,42 Euro sind keine unanständige Größe. Im Gegenteil. Das macht brutto
1 500 Euro, netto bei Steuerklasse drei 1 250 Euro. Angenommen, wir Abgeordneten arbeiteten hier für unsere
Diäten die gesetzliche Höchstarbeitszeit von 60 Stunden
pro Woche - mehr dürfen wir ja eigentlich nicht -, dann
bekommen Abgeordnete pro Stunde 26,35 Euro. Und da
wollen Sie vielen, die schwer arbeiten, 9,42 Euro nicht
gönnen? Wir schon.
({2})
Für uns gilt: Von Arbeit muss man leben können, Arbeit
darf nicht arm machen.
Arbeiter und Angestellte wurden in den letzten Jahren
aber immer ärmer. Die Löhne stiegen kaum, mit dem Versprechen, es gebe dann mehr Arbeitsplätze. Die Gewerkschaften haben sich bis vor kurzem zurückgehalten. Erklärt wurde das unter anderem mit der Billigkonkurrenz,
entweder der internationalen oder der aus dem Osten.
Was ist passiert? - Nach Tarif bezahlte Arbeit wurde
immer öfter durch Outsourcing, durch Ausgründungen,
durch Auswege aus den Tarifverträgen in Billigarbeit
umgewandelt, aber eben nur umgewandelt. Mit der Schaffung von Niedriglohnjobs in der Industrie entstehen keine
zusätzlichen dauerhaften Arbeitsplätze. Billigjobs werden
vorübergehend eingerichtet und schnell wieder abgebaut.
Niedriglöhne helfen nur der Statistik und nicht den Arbeitslosen. Das ist für die PDS keine Lösung der Massenarbeitslosigkeit.
({3})
Auch in den Dienstleistungsbereichen, zum Beispiel
bei den Gebäudereinigern, würden anständige Löhne zu
mehr Arbeit führen. Zugegeben, die Angebote würden
teurer. Aber erstens haben dann die Menschen mehr Geld,
überhaupt Dienstleistungen einzukaufen, und zweitens
führt ein ordentlicher Lohn dazu, dass der Ausweg, Sozialleistungen zu kassieren und schwarz zu arbeiten, seltener als bisher gegangen wird.
Wer genug verdient, wird nicht mehr drei Jobs haben
müssen, um genug Geld zur Verfügung zu haben. Der
braucht auch nicht in die Schattenwirtschaft auszuweichen. Gerade Dienstleistungsunternehmen bekämen mehr
Aufträge, weil Schummeln nichts mehr bringt. Sie würden Leute finden, die dort motiviert arbeiten würden.
Vielleicht haben auch Sie diese T-Shirts beim IG-BauStreik gesehen: „Solange mein Chef so tut, als würde er
mich richtig bezahlen, tue ich so, als würde ich richtig arbeiten.“ Ich finde, der Spruch trifft es: Arbeit muss sich
wieder lohnen.
({4})
Verhältnisse wie in den USA mit Millionen Working
Poors wollen wir hier nicht. Die Einführung eines Mindestlohnes könnte Armut verhindern. Niedrige Löhne
führen viele in die Sozialhilfe. Darüber beklagen sich die
Kommunen zu Recht. Niedrige Löhne führen in die Altersarmut. Wer schon heute zu wenig zum Leben hat, kann
von einem Rentenniveau in Höhe von 64 Prozent erst
recht nicht leben und auch keine private Vorsorge bezahlen.
Meine Damen und Herren, für soziale Sicherheit brauchen wir gute Löhne. Nicht nur die Rentnerinnen und
Rentner haben ein Problem, wenn sie von ihrer geringen
Rente leben sollen. Auch die Rentenkassen haben ein Problem, wenn zu wenig verdient wird und die Löhne kaum
steigen. Die Einnahmen der Sozialkassen hängen von der
Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und von
der Höhe der Entgelte ab.
Ein höheres Niveau der Löhne kurbelt nicht nur die
Nachfrage an und schafft nicht nur jetzt und später soziale
Sicherheit, sondern sichert auch die Einnahmen der Renten- und Krankenkassen. Viele Spardiskussionen, die wir
hier führen, weil die Kranken angeblich zu teuer und die
Rentner angeblich zu zahlreich sind, bräuchte es dann
nicht mehr. Es braucht die nötigen Einnahmen durch anständige Löhne. Das wäre eine gute Grundlage, um unser
solidarisches Rentensystem zu erhalten und auszubauen.
({5})
Die PDS ist nicht nur davon überzeugt, dass Arbeit besser bezahlt werden muss. Was hätten die 4 Millionen
Arbeitslosen davon? Wir haben gerade ein beschäftigungspolitisches Programm zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit vorgelegt. Darin zeigen wir, wie man
1,3 Millionen Arbeitsplätze schaffen könnte. Wir schlagen eine öffentlich geförderte Beschäftigung, Investitionspauschalen und den Schutz vor unverschuldeter Insolvenz vor. Mit all diesen Maßnahmen könnten
Arbeitsplätze geschaffen werden. Damit würden wir die
Arbeitslosenstatistik wirklich verändern und nicht nur
eine bessere Vermittlung versprechen, ohne gleichzeitig
zu sagen, wohin man eigentlich vermitteln will, und ohne,
wie die Union und die FDP es vorschlagen, die Arbeitslosen mit weniger Lohn und mehr Druck aus der Statistik
zu drängen.
Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Wir
stehen zur Tarifautonomie. Kein Mindestlohn enthebt die
Gewerkschaften davon, künftig für bessere Tarifverträge
zu streiten. Das Ziel muss sein, mehr als das Mindeste zu
bekommen. Für manche Branchen ist der von uns vorgeschlagene Mindestlohn ohnehin das untere Ende der Tariflohnskala. Der Mindestlohn sollte zudem künftig an die
Lohnentwicklung angepasst werden.
Die Gewerkschaft Nahrung - Genuss - Gaststätten fordert schon lange einen gesetzlichen Mindestlohn. Sie
weiß, warum. Weitere Gewerkschaften griffen diese Forderung mittlerweile auf. Wir bringen sie hier ein, überzeugt davon, dass es politisch erforderlich ist, mit einem
Mindestlohn für soziale Sicherheit und mehr Gerechtigkeit zu sorgen.
Wir fordern bewusst einen branchenübergreifenden
Mindestlohn, weil in den schlecht entlohnten Bereichen
eine deutliche Steigerung nötig und eine Angleichung der
Branchen überfällig ist. Wir fordern ebenso bewusst einen
für Ost und West einheitlichen Mindestlohn. Mit dem gesetzlichen Mindestlohn wäre dann ein gutes Stück des
Weges zur Angleichung der Löhne geschafft - und das
gerade in den Bereichen, in denen man bestimmt nicht
von unterschiedlicher Produktivität sprechen kann und in
denen die Löhne sowieso sehr niedrig sind. Oder glauben
Sie wirklich, einen Fensterputzer nach Ost und West unterscheiden zu können? Der Tarif von 11,25 Euro pro
Stunde in Hessen und 8 Euro in Mecklenburg-Vorpommern macht aber einen deutlichen Unterschied. Das darf
so nicht bleiben.
({6})
Ich komme zum Schluss. Heute findet der Aktionstag
der Arbeitslosen statt. Er hat das Motto: Hände weg von
der Arbeitslosenhilfe! Von den Arbeitslosen wird ein gesetzlicher Mindestlohn genauso gefordert, weil auch deren Probleme dann geringer würden. Das unterstützen wir
an dieser Stelle voll und ganz. Insofern stehe ich zwar jetzt
hier im Plenum, aber im Grunde genommen auch bei denjenigen, die heute auf den Straßen gegen die Arbeitslosigkeit und die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe demonstrieren.
Danke.
({7})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich komme zu Tagesordnungspunkt 17
zurück und gebe das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Einführung
von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in
das Grundgesetz bekannt: Abgegebene Stimmen 549. Mit
Ja haben gestimmt 348, mit Nein haben gestimmt 199,
Enthaltungen zwei. Der Gesetzentwurf ist damit, weil
444 Stimmen erforderlich waren, abgelehnt.
({0})
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 549;
davon
ja: 348
nein: 199
enthalten: 2
Ja
SPD
Brigitte Adler
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({1})
Klaus Barthel ({2})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({3})
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({4})
Bernhard Brinkmann
({5})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({6})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Petra Ernstberger
Lothar Fischer ({7})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({8})
Harald Friese
Anke Fuchs ({9})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Günter Graf ({10})
Angelika Graf ({11})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({12})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({13})
Walter Hoffmann
({14})
Frank Hofmann ({15})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Dr. Uwe Jens
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Peter Kemper
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Präsident Wolfgang Thierse
Karin Kortmann
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({16})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({17})
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({18})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller ({19})
Christian Müller ({20})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({21})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Joachim Poß
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Bernd Reuter
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({22})
Birgit Roth ({23})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({24})
Ulla Schmidt ({25})
Silvia Schmidt ({26})
Dagmar Schmidt ({27})
Wilhelm Schmidt ({28})
Dr. Frank Schmidt
({29})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({30})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Brigitte Schulte ({31})
Reinhard Schultz
({32})
Volkmar Schultz ({33})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({34})
Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({35})
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({36})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({37})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({38})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({39})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({40})
Waltraud Wolff
({41})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Dr. Christian SchwarzSchilling
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({42})
Volker Beck ({43})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Annelie Buntenbach
Amke Dietert-Scheuer
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({44})
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Dr. Angelika Köster-Loßack
Dr. Helmut Lippelt
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({45})
Werner Schulz ({46})
Christian Simmert
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({47})
Margareta Wolf ({48})
FDP
Ina Albowitz
Ulrike Flach
Dr. Wolfgang Gerhardt
Klaus Haupt
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Dr. Irmgard Schwaetzer
Dr. Max Stadler
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
PDS
Monika Balt
Wolfgang Bierstedt
Petra Bläss
Maritta Böttcher
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Rolf Kutzmutz
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Manfred Müller ({49})
Kersten Naumann
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Fraktionslose Abgeordnete
Christa Lörcher
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Otto Bernhardt
Dr. Joseph-Theodor Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Dr. Norbert Blüm
Präsident Wolfgang Thierse
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({50})
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Hartmut Büttner
({51})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Peter H. Carstensen
({52})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Dr. Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Anke Eymer ({53})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({54})
Axel E. Fischer
({55})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({56})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({57})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Norbert Geis
Georg Girisch
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({58})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({59})
Gerda Hasselfeldt
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Manfred Heise
Siegfried Helias
Detlef Helling
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Rudolf Kraus
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Werner Lensing
Peter Letzgus
Walter Link ({60})
Dr. Manfred Lischewski
({61})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
({62})
Dr. Martin Mayer
({63})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Meinolf Michels
Bernward Müller ({64})
Elmar Müller ({65})
Günter Nooke
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Norbert Otto ({66})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Christa Reichard ({67})
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({68})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({69})
Andreas Schmidt ({70})
Dr. Andreas Schockenhoff
Reinhard Freiherr
von Schorlemer
Gerhard Schulz
Clemens Schwalbe
Marion Seib
Heinz Seiffert
Werner Siemann
Johannes Singhammer
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({71})
Michael Stübgen
Dr. Susanne Tiemann
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({72})
Gerald Weiß ({73})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({74})
Hans-Otto Wilhelm ({75})
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Willy Wimmer ({76})
Werner Wittlich
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
FDP
Hildebrecht Braun
({77})
Ernst Burgbacher
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({78})
Joachim Günther ({79})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann
Dr. Heinrich L. Kolb
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({80})
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Marita Sehn
Gudrun Serowiecki
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Gerhard Scheu
FDP
Günther Friedrich Nolting
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des
Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({81})
Lintner, Eduard Palis, Kurt Raidel, Hans Schmitz ({82}), Hans Peter
CDU/CSU SPD CDU/CSU CDU/CSU
von Schmude, Michael Dr. Süssmuth, Rita Zierer, Benno
CDU/CSU CDU/CSU CDU/CSU
Nun zurück zu unserer gegenwärtigen Debatte. Ich erteile der Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist einige Zeit her, da
haben wir auf Antrag der FDP in einer Aktuellen Stunde
über das Angebot von VW diskutiert, 5 000 Arbeitsplätze
für 5 000 DM zu schaffen. Damals habe ich erklärt, dass
staatliches Handeln dem Grundsatz „Schuster, bleib bei
deinem Leisten!“ zu folgen hat. Als sich die Damen und
Herren von der FDP in die Tarifpolitik der IG Metall einmischen wollten, habe ich ihnen gesagt: Bleiben Sie bei
Ihrem Leisten! Ich sage auch Ihnen von der PDS: Lassen
Sie die Finger von der Tarifpolitik!
Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes gewährt Tarifautonomie, ein Grundrecht soll dabei vor staatlichem Handeln
schützen. Das Bundesverfassungsgericht hat Sinn und
Zweck der Tarifautonomie sehr schön beschrieben:
Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie wird ein staatlicher Freiraum gewährleistet, in
dem die Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessensgegensätze in eigener Verantwortung austragen
können. Diese Freiheit findet ihren Grund in der historischen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergebnisse erzielt werden, die den Interessen der widerstreitenden Gruppen und dem Gemeinwohl
gerecht werden, als bei einer staatlichen Regelung.
Das Bundesverfassungsgericht nimmt deshalb eine
Normsetzungsprärogative zugunsten der Koalition an.
Deshalb sage ich Ihnen von der PDS noch einmal: Lassen
Sie die Finger von der Tarifautonomie!
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in
der Bundesrepublik Deutschland in den letzten 50 Jahren
exzellente Erfahrungen mit der Tarifpolitik der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände gemacht. Das
hängt auch damit zusammen, dass sich in Deutschland
eine starke Gewerkschaftsbewegung entwickelte. Es ist
eine relative Wohlstandssicherung auch zugunsten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen erreicht.
({1})
Gesetzliche Mindestlöhne sind demgegenüber in vielen Ländern, zum Beispiel in den USA, ein Ersatz für fehlende Tarifverträge. In Deutschland existieren demgegenüber 8 000 tarifvertragliche Abkommen, in denen für
die verschiedenen Wirtschaftssektoren oder Branchen
verbindliche Mindestlöhne festgehalten werden.
({2})
1990 betrug nach OECD-Angaben der tarifvertragliche
Abdeckungsgrad in Deutschland 90 Prozent. Dieser Anteil dürfte sich zwar in der Zwischenzeit nach unten verändert haben, ist aber durchaus noch erheblich.
Eine schweizerische Studie aus dem Jahre 2000 untersuchte für den Zeitraum zwischen 1986 und 1991, wie
viele Jahre Arbeitnehmer durchschnittlich auf einer Tieflohnstelle verbleiben. Für Dänemark ergab sich eine Verweildauer von 1,8 Jahren, für Deutschland von 2,8 Jahren;
beide Länder kennen keinen gesetzlichen Mindestlohn.
Beschäftigte in Großbritannien brauchten demgegenüber
3,8 Jahre, in den USAsogar 4 Jahre, bis sie ihren Verdienst
merklich steigern konnten. Diese Länder haben Mindestlohnregelungen.
Das ist ein Beleg für die Funktionsfähigkeit und die
Flexibilität des deutschen Tarifsystems. Unter Umständen
zementiert ein gesetzlicher Mindestlohn sogar das Niedriglohngefüge, so könnte eine Schlussfolgerung aus der
Studie lauten. Hierfür spricht auch, dass in Ländern wie
Frankreich und Luxemburg, in denen es relativ hohe Mindestlöhne gibt, ein relativ hoher Anteil der Arbeitnehmer
- 13,6 Prozent der Beschäftigen bzw. 15,5 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen - beim Mindestlohn
verbleiben.
Ich meine sogar, ein gesetzlicher Mindestlohn könnte
das Erfolgssystem der Bundesrepublik Deutschland einseitig zulasten der Gewerkschaften nicht unerheblich
schwächen.
({3})
Zum einen dürfte das Interesse der Tarifvertragsparteien
an autonomen Regelungen im Niedriglohnbereich abnehmen, zum anderen dürfte wohl das Organisationsinteresse
der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen vor allem in
den unteren Lohngruppen, auf die die Mindestlohnregelung zielt, massiv nachlassen. Die Folge wäre eine allgemeine Lohnsenkungstendenz.
Neben den tarifvertraglichen Regelungen sind die
gesamten wirtschaftlichen, arbeitsmarktpolitischen und
arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland für die Verdienstsituation der Arbeitnehmer entscheidend. Das System der Tarifautonomie,
das sich gerade im Bereich der Löhne bewährt hat, wird
durch gesetzliche Sicherungssysteme lediglich ergänzt.
Man braucht gar nicht so weit in die Vergangenheit
zurückzuschauen, um auf die Einrichtung eines neuen gesetzlichen Mindestlohnes zu stoßen; gemeint ist der Mindestlohn am Bau. Mit dem Ziel, die Niedriglohnkonkurrenz aus dem Ausland, das Lohndumping und die illegale
Beschäftigung zurückzudrängen, wurde für einen einzelnen Sektor des Arbeitsmarktes ein Entgeltschutz im Rahmen des Entsendegesetzes geschaffen. Die rot-grüne Koalition hat diese Regelung 1998 zu Recht ausgedehnt.
Wenn es das öffentliche Interesse erfordert, können Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt werden. Das
bedeutet, dass ein Tarifvertrag - wie ein Gesetz - unabhängig von der Tarifbindung des einzelnen Unternehmens
für eine ganze Branche gilt. Alle Arbeitnehmer einer
Branche können sich, auch wenn sie nicht tarifgebunden
sind, auf den Tarifvertrag berufen. In der Praxis erfolgt die
Allgemeinverbindlichkeitserklärung vor allen Dingen
in den Bereichen, in denen die Arbeitnehmer eine schwache Stellung haben, insbesondere im Baubereich, im Hotel- und Gaststättengewerbe und im Reinigungsgewerbe.
Eine Art Mindestlohnregelung existiert auch für die in
Heimarbeit Beschäftigten. Die obersten Arbeitsbehörden
Präsident Wolfgang Thierse
der Länder können Entgelte festsetzen. Von dieser Regelung machen sie zuhauf Gebrauch. Auch Auszubildende
haben gemäß § 10 des Berufsbildungsgesetzes Anspruch
auf eine angemessene Vergütung.
Genauso könnte das Tariftreuegesetz, dem Sie, meine Damen und Herren von der Union, im Bundesrat unangemessenerweise nicht zugestimmt haben, einen Beitrag für die Durchsetzung angemessener Lohnstandards
leisten.
({4})
Es gibt zwei weitere wichtige rechtliche Schranken für
eine unangemessen niedrige Entlohnung. Eine Unterschreitung des Tariflohnes um mehr als 20 Prozent führt
- ebenfalls unabhängig von einer Tarifbindung - zur
Nichtigkeit der Lohnvereinbarung gemäß § 138 BGB. Jeder Arbeitnehmer hat dann Anspruch auf die übliche Vergütung. Anknüpfungspunkt für die übliche Vergütung ist
immer der Tarifvertrag. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen können dann den Tariflohn einfordern. Eine solche Regelung greift viel weiter als ein gesetzlicher Mindestlohn: Es wird ein Berufsgruppen- und damit ein
Qualifikationsschutz gewährt. Ein Arbeitgeber, der die tariflichen Mindestlöhne in der beschriebenen Weise unterschreitet, macht sich darüber hinaus nach § 302 a Abs. 1
Nr. 3 StGB strafbar. Die vorgesehene Strafe ist durchaus
beachtlich.
Sozialdemokratische Politik hat andere Aufgaben, als
sich in die Tarifpolitik der Gewerkschaften einzumischen.
Wir haben für die Tarifvertragsparteien allerdings funktionsfähige Arbeitsbedingungen zu schaffen. Deshalb
wird es mit uns keine Politik geben, die durch die Aushöhlung des Günstigkeitsprinzips - das wollen FDP und
CDU/CSU - Tarifverträge zu einer unverbindlichen Meinungsäußerung macht.
({5})
Wir wollen keine Erpressbarkeit der Betriebsräte vor Ort.
Wir wollen, dass Betriebsräte nicht vor die Alternative
Lohnreduzierung oder Arbeitsplatzabbau gestellt werden.
Auch zum Zwecke der Wiederherstellung funktionsfähiger Arbeitsbedingungen für die Gewerkschaften
haben wir das Kündigungsschutzgesetz und die Befristungsregelung wieder geändert sowie das Betriebsverfassungsgesetz modernisiert.
({6})
Staatliche Politik hat staatliche Aufgaben zu bewältigen. Sozialdemokratische Politik steht für soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz.
({7})
In den letzen dreieinhalb Jahren haben wir kontinuierlich
und intensiv daran gearbeitet, Ihre Versäumnisse, meine
Damen und Herren der FDP und der Union, aufzuholen.
({8})
Der Eingangssteuersatz betrug 1998 noch 25,9 Prozent;
im Jahr 2005 wird er bei nur noch 15 Prozent liegen.
Gleichzeitig wurde der Grundfreibetrag von 6 322 Euro
auf 7 235 Euro in diesem Jahr angehoben.
({9})
Zum 1. Januar 2005 steigt er auf 7 664 Euro. Das Kindergeld liegt zurzeit um 42 Euro pro Monat höher als 1998.
({10})
- Hören Sie gut zu! - Eine Familie mit einem Jahreseinkommen von 30 000 Euro hat im Jahr 2002 rund
1 900 Euro mehr zur Verfügung als 1999.
({11})
- Hören Sie weiterhin gut zu, Sie können etwas lernen!
({12})
In der 13. Legislaturperiode, also unter der Regierungsverantwortung von Union und FDP, sanken die Nettoverdienste der Arbeitnehmer um 0,48 Prozent. Seit 1998
sind sie demgegenüber um 8,4 Prozent angestiegen.
({13})
Auch preisbereinigt hat sich das 5,3-prozentige Minus bei
den Arbeitnehmerverdiensten, das in der 13. Wahlperiode
zu verzeichnen war, in ein Plus von 1,5 Prozent umgekehrt.
Andere unserer Maßnahmen haben sich ebenfalls auf
den Geldbeutel der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
ausgewirkt, so die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und
das Schlechtwettergeld am Bau. Etwa 420 000 Haushalte
kommen zusätzlich in den Genuss von Wohngeld. In den
alten Ländern hat sich das durchschnittliche Wohngeld
von 283 DM auf 368 DM pro Monat erhöht. Statt 341 000
erhalten künftig 445 000 Schüler und Schülerinnen sowie
Studenten und Studentinnen BAföG.
Die beste Garantie einer existenzsichernden Entlohnung sind eine gute und solide Ausbildung und lebenslange Fortbildung.
({14})
Deshalb haben wir große Anstrengungen im Bereich von
Bildung und Ausbildung unternommen. So haben mehr
als 400 000 Jugendliche am JUMP-Programm teilgenommen. Das Job-AQTIV-Gesetz sieht eine frühzeitige Weiterbildung zur Reintegration in den Arbeitsmarkt vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter einer sozialdemokratisch-grünen Koalition existiert jedenfalls ein ausgewogenes und ausgeklügeltes System des staatlichen
Nebeneinanders von gesetzlichen Regelungen und Tarifpolitik. Hieran werden wir auch in der nächsten Legislaturperiode weiterarbeiten. Durch ein System flächendeckender Ganztagsschulen wird es gerade Frauen
möglich sein, Erwerbstätigkeit aufzunehmen bzw. fortzusetzen. Damit sichern wir Existenzen.
Gestatten Sie mir einen allerletzten Satz, meine Damen
und Herren von der PDS: Auch dieser Antrag zeugt wieder einmal von äußerstem Praxisbezug. Zur Klarstellung:
Das ist ironisch gemeint. Sie wollen einen europaweit einzigartig hohen Mindestlohn. Selbst Frankreich setzt nur
55,5 Prozent des Durchschnittseinkommens als Mindestlohn an. Ihr Vorschlag sieht nicht einmal eine Übergangsregelung vor. Haben Sie sich einmal vorgestellt, was in einigen Betrieben passierte, wenn es von heute auf morgen
rigorose Lohnsteigerungen gäbe, beispielsweise bei den
Gebäudereinigern oder den Friseurinnen?
Vielen Dank.
({15})
Ich erteile dem Kollegen Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Für meine Fraktion stelle ich gleich zu Beginn meiner
Rede fest: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt die
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ab.
({0})
Wir haben gerade gehört, dass die SPD dies auch tut.
({1})
Selbst die Gewerkschaften in Deutschland halten nichts
von der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes,
weil sie dadurch ihre Tarifautonomie verletzt sehen. Dass
die Arbeitgeber keinen gesetzlichen Mindestlohn wollen,
brauche ich hier nicht näher zu erläutern. Sehr geehrte
Frau Kollegin Maier, insofern sehe ich beim besten Willen keine gesellschaftliche Unterstützung für Ihren
Wunsch, einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland
einzuführen.
In Europa gibt es durchaus Länder, die in ihrer Rechtstradition Mindestlöhne kennen. Die OECD hat sich in
vielen Untersuchungen mit den Auswirkungen von gesetzlichen Mindestlöhnen beschäftigt. Selbst dort, wo es
gesetzliche Mindestlöhne gibt, sind sie nicht das Nonplusultra zur Bekämpfung der Armut.
({2})
Sie gehen logischerweise erst einmal an allen Menschen
vorbei, die gar keine Beschäftigung haben.
({3})
Des Weiteren führen sie dazu, dass Menschen von ihnen
profitieren, die gar nicht zu den Bedürftigen gehören.
Gleichwohl ist man unter vernünftigen Menschen normalerweise der Meinung, dass man in einem Land ein bestimmtes Lohnniveau braucht, weil der Lebensunterhalt
eine gewisse Summe Geldes kostet. Niemand hier im
Bundestag hält es für gerecht, wenn Menschen nach einer
dreijährigen handwerklichen Berufsausbildung und einem qualifizierten Berufsabschluss in einigen Regionen
Deutschlands Löhne bekommen, die weit unter den Tariflöhnen liegen, weil mittlerweile keine Tarifbindungswirkung mehr vorhanden ist. Ich war vorgestern Abend auf
einer Veranstaltung in Dresden. Dort sind noch 15 Prozent
der Unternehmen Mitglied des Unternehmerverbandes.
Jeder weiß, welche Auswirkungen das auf die Bindungskraft von Flächentarifen hat.
Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir dieses Problem nur lösen können, wenn es uns gelingt, in Deutschland zu einem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung
und zu mehr Beschäftigung zu kommen. Wir streiten uns
in diesem Haus schon seit längerer Zeit darüber, mit welchen politischen Rezepten man dazu einen Beitrag leisten
kann. - Politik kann auch dazu nur einen Beitrag leisten;
allein kann sie es mit Sicherheit nicht bewerkstelligen. Darüber gibt es hier im Hause zwei Auffassungen. Eine
davon sieht vor, das Arbeitsrecht noch enger zu fassen.
Das ist von der jetzigen Mehrheit hinsichtlich des Betriebsverfassungsgesetzes, der befristeten Arbeitsverträge
und des Rechtsanspruchs auf Teilzeitarbeit gemacht worden. Auf der anderen Seite, bei CDU/CSU und FDP, besteht die Vorstellung, hinsichtlich solcher Fragen flexiblere Regelungen zu treffen.
({4})
Dazu haben wir Vorschläge gemacht, die Sie auch in unserem Regierungsprogramm nachlesen können und die
von Ihnen auf das Heftigste kritisiert werden.
Heute ist wieder einer der denkwürdigen Tage, an dem
um 9 Uhr die Arbeitslosenzahlen veröffentlicht worden
sind. Ich stelle ganz ruhig und gelassen fest, dass auf dem
Arbeitsmarkt nach wie vor eine sehr schwierige Situation
besteht und wir in Deutschland schlicht und ergreifend
keine Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zu vermelden haben.
({5})
Als der Bundesarbeitsminister in der letzten Woche zusammen mit Herrn Müller, dem Wirtschaftsminister, eine
Pressekonferenz abgehalten hat, von der ich gelesen habe,
und gesagt hat, die Arbeitslosigkeit sei in diesem Monat
um 150 000 Personen zurückgegangen,
({6})
habe ich mich schon gefragt, wie er eigentlich zu diesen
Zahlen kommt; denn ich weiß, wie die Zahlen über die
Landesarbeitsämter ermittelt werden. Die traurige Tatsache ist, dass die Arbeitslosigkeit nur um 78 000 zurückgegangen ist.
({7})
Wie können zwei Bundesminister, die für diesen Bereich
zuständig sind, noch vor einer Woche eine Pressekonferenz abhalten, bei der sie bei dem Zahlenmaterial um
100 Prozent daneben liegen? Das ist wirklich keine seriöse
Politik mehr; daran sieht man, wie hier gearbeitet wird.
({8})
Nach den Zahlen, die heute veröffentlicht wurden, liegt
die Arbeitslosigkeit um 225 000 höher als vor einem Jahr.
Saisonbereinigt ist die Arbeitslosigkeit um 60 000 gestiegen.
({9})
Wir werden in diesem Jahr wahrscheinlich eine durchschnittliche Arbeitslosigkeit von 3,98 Millionen haben;
im letzten Jahr lag sie bei 3,78 Millionen.
({10})
Eines macht mich aber vor allen Dingen sehr nachdenklich - ich habe es mir heute Morgen extra noch einmal
angeschaut -: Vor genau drei Jahren, als das Job-AQTIVGesetz in Kraft trat, gab es in Deutschland 368 000 Jugendliche unter 25 Jahren, die arbeitslos waren. Heute
sind es trotz Job-AQTIV-Gesetzes, trotz der 1 Milliarde Euro, die dafür jedes Jahr in die Hand genommen
werden, 453 000 arbeitslose Jugendliche.
({11})
Dann höre ich von Ihnen, Frau Kramme, dass das
JUMP-Programm Gott weiß was gebracht habe. Ich kann
Ihnen nur sagen: Als wir das JUMP-Programm nicht hatten, war die Jugendarbeitslosigkeit niedriger als heute.
({12})
- Ich habe nicht gesagt, dass das JUMP-Programm an
dieser Steigerung schuld ist. Aber tun Sie bitte nicht so,
als hätten Sie das Problem der Jugendarbeitslosigkeit
im Griff. Auch hier baut sich aufgrund der schlechten
wirtschaftlichen Lage und der schlechten Arbeitsmarktzahlen eine immer problematischer werdende Situation
auf.
Ich glaube schon, Sie müssen auch sehen, dass mit der
Art, wie Sie in den letzten Jahren Politik gemacht haben,
zwar die Zahl der Erwerbstätigen zugenommen hat - das
hat mit den 630-DM-Jobs und anderen Zählweisen zu
tun -, aber das Entscheidende ist, dass die Zahl der Erwerbstätigenstunden, also das in diesem Land vorhandene
Gesamtarbeitsvolumen, schlicht und ergreifend abgenommen hat. Das ist ein ganz schlechtes Beweismittel
und zeigt, dass Ihre Arbeitsmarktpolitik schlicht und ergreifend völlig erfolglos war.
Ich will Ihnen noch einmal sagen, worüber wir uns angesichts dieser Arbeitslosenzahlen noch mehr Sorgen machen müssen. Es ist völlig klar, dass bei der Entwicklung
der Arbeitslosenzahlen von April auf Mai aufgrund der so
genannten Sommerkonjunktur immer ein starker Rückgang der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen ist. Von April
auf Mai 1998 hat die Arbeitslosenzahl um 220 000 abgenommen, von April auf Mai 1999 um 145 000, von April
auf Mai 2000 um 200 000, von April auf Mai 2001 um
140 000 und - jetzt kommt es - von April auf Mai 2002
waren es minus 78 000.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren vom Regierungslager, Sie haben nicht einmal mehr eine Sommerkonjunktur. Selbst diese, die wir traditionell immer gehabt haben, haben Sie in diesem Land erdrosselt und
erstickt.
({14})
Es gibt noch einen weiteren Punkt: Zur Arbeitsmarktpolitik hört man von der Regierung eigentlich nie etwas
Neues. Wenn man etwas hört, dann wird das JobAQTIV-Gesetz gelobt.
({15})
Wir haben im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
- weil Sie dort Mitglied sind, waren Sie dabei - Herrn
Gerster gefragt, welche Erfolge es denn mit diesem JobAQTIV-Gesetz gebe. Herr Gerster teilte uns im Ausschuss mit, dass von den 132 000 Menschen, die zwischen
März und April 2002 nicht mehr in der Statistik geführt
wurden, lediglich 30 000 eine ungeförderte Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt aufgenommen haben.
Noch einmal: Von März bis April 2002 gab es 132 000 weniger Arbeitslose, aber nur 30 000 haben eine ungeförderte reguläre Beschäftigung gefunden.
({16})
Die restlichen 100 000 Menschen sind schlicht und
ergreifend aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Sie beziehen als über 58-Jährige unter erleichterten Voraussetzungen Arbeitslosengeld, sind in Altersteilzeit oder in anderen Maßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes.
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen spricht das Bundesarbeitsministerium doch tatsächlich davon, dass die Talsohle auf dem Arbeitsmarkt durchschritten sei. Wenn angesichts dieser Zahlen, die Sie mir nicht widerlegen
können, weil sie schlicht und ergreifend stimmen, und die
auch nicht in irgendeiner CDU-Zentrale ausgerechnet
worden sind, sondern im Bericht der Bundesanstalt für
Arbeit stehen, unter Ihrem Parteifreund Herrn Gerster ermittelt und heute an die Öffentlichkeit gebracht,
({17})
der Bundesarbeitsminister sagt, die Talsohle auf dem Arbeitsmarkt sei durchschritten,
({18})
wenn er so etwas in einer solchen Situation sagt, dann lebt
er nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern unter einer
Käseglocke. Ein solcher Mensch sollte in Deutschland
nicht mehr in einer Bundesregierung für diesen sensiblen
Bereich verantwortlich sein.
({19}) [CDU/CSU]: Er sollte
lieber zurücktreten!)
Deswegen werden wir natürlich in den kommenden
Wochen und Monaten, in den gut 100 Tagen bis zur BunKarl-Josef Laumann
destagswahl, mit den Menschen in diesem Land über
diese unterschiedlichen Politikrezepte reden.
({20})
Sie - wie Sie dies heute in der Debatte gezeigt haben - stehen auf der einen Seite für mehr Staat, mehr Regulierung
und für ein strengeres Arbeitsrecht, und wir stehen auf der
anderen Seite für einen Weg, der Flexibilisierung und Sicherheit für die Menschen ermöglicht, der aber vor allen
Dingen darauf abzielt, dass die Menschen einen besseren
Arbeitsmarkt haben.
({21})
Nur dann, wenn wir einen besseren Arbeitsmarkt haben, werden wir auch wieder zu gerechteren und zu vernünftigen Löhnen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland kommen.
Dafür zu kämpfen ist eine wunderschöne Aufgabe. Sie
können Gift darauf nehmen, dass wir, die CDU, mit allen
uns zur Verfügung stehenden demokratischen Mitteln versuchen werden, dass wir die gestaltende Kraft werden, damit endlich den kleinen Leuten in unserem Land wieder
geholfen wird.
Schönen Dank.
({22})
Ich erteile der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes.
({0})
Das wichtigste Argument, das dagegen spricht, hat meine
Vorrednerin von der SPD-Fraktion schon angeführt, nämlich die garantierte Tarifautonomie, die wir in Deutschland haben. Dies ist ein gut funktionierendes Tarifverhandlungssystem. Es ist ein System, in dem bereits über
Mindestentgelte debattiert wird, die auch schon an vielen
Stellen festgeschrieben sind. Dieses System hat sich bewährt. Es war schon immer und wird auch in Zukunft ein
Erfolgsmodell für Deutschland sein. Davon wollen wir
auf keinen Fall abrücken.
({1})
Lassen Sie mich zu sehr einfachen Fragen kommen,
nämlich zu Fragen der Praktikabilität eines solchen Vorschlags. Sie wollen eine übergeordnete Festsetzung. Ich
frage mich, wie Sie das machen wollen. Die Durchschnittslöhne in Deutschland unterscheiden sich je nach
Branche. Es ist schließlich ein Unterschied, ob jemand als
Arzt oder als Arbeiter eingestellt ist.
({2})
Sie können doch nicht alles über einen Kamm scheren und
einen x-beliebigen Vertrag aufsetzen.
Wie wollen Sie dabei die Lebenshaltungskosten einberechnen? Das sind doch die wesentlichen Fragen einer
Lohndebatte. Wie wollen Sie das Ganze kontrollieren?
Wer soll die Kontrollen durchführen? Soll das die BA machen? Das wäre dann noch eine versicherungsfremde Leistung mehr, obwohl wir doch gerade die versicherungsfremden Leistungen aus der BA herausholen wollen.
Wollen Sie dafür neue Stellen und Institutionen schaffen?
Und vor allem: Wer trägt die Kosten?
Das sind einfache Fragen zur Praktikabilität, auf die
Sie keine Antworten geliefert haben. Sie halten das auch
nicht für nötig.
Kommen wir zum dritten Punkt der Debatte. Welches
Ziel wird mit einer solchen Forderung verfolgt? Was soll
damit bezweckt und was soll damit erreicht werden? Ich
behaupte, Sie wollen mit solch einem Mindestlohn für die
Erreichung des Ziels der sozialen Sicherheit der Menschen kämpfen. In diesem Punkt hätte Ihre Forderung in
einem anderen Sozialstaatssystem durchaus ihre Berechtigung. Wenn wir uns in einem Land der Dritten Welt befänden, in dem es keine sozialen Netze gäbe und auf das
die Begriffe „Billiglohnland“ und „Lohndumping“ zuträfen - beispielsweise in Ländern in Südostasien oder Lateinamerika -, wäre eine solche Forderung berechtigt.
Deutschland ist aber bekanntlich kein Entwicklungsland.
({3})
Deutschland ist ein Land, das auf mehreren sozialen Sicherungssystemen beruht. In Deutschland gibt es ein
Netzwerk, das Menschen davor bewahrt, in Armut zu fallen. Sie bekommen Hilfestellung vom Staat und werden
durch ein komplexes System der sozialen Sicherung aufgefangen. Deshalb hat eine solche Forderung mit dem Anspruch, soziale Sicherheit zu schaffen, in Deutschland
keinen Platz.
({4})
Ein weiteres Anliegen, aus dem eine solche Forderung
aufgestellt werden kann, ist die Armutsbekämpfung.
Das ist in der Tat eine wesentliche Frage, über die wir immer wieder reden, für die jeder seine eigenen Lösungen
und in Bezug auf die jeder seine eigene Herangehensweise hat. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang
eine Aussage aus Ihrem Antrag herausgreifen, nämlich
die, dass Erwerbstätigkeit nicht vor Armut schützt. Ich
aber meine, dass die Erwerbsarbeit nach wie vor die beste
Form der Armutsbekämpfung ist.
({5})
Die beste Form der Armutsbekämpfung besteht darin,
seine eigene Existenz zu sichern, für die Menschen Arbeit
zu schaffen und die Rahmenbedingungen so zu setzen,
dass Arbeit und Berufstätigkeit möglich werden. Wir haben Arbeit geschaffen. Wir haben in Deutschland neue
Arbeitsplätze geschaffen. Vor allem im Bereich der neuen
Technologien, der alternativen und der erneuerbaren Technologien, haben wir eine Reihe neuer Berufe, neuer Lehrberufe und Aktivitäten geschaffen. Bis zu 200 000 Arbeitsplätze wurden allein im Bereich der ökologischen
Modernisierung in Deutschland geschaffen.
({6})
Was sind darüber hinaus unsere Antworten auf die Fragen der Lohnentwicklung? Dazu gehört zum Beispiel, den
Menschen durch Senkung der Lohnnebenkosten mehr Geld
zu verschaffen. Das war unser Ziel, das wir auch umgesetzt
haben. Wir wollten in der Tat aus dem Niedriglohnsektor
heraus. Die beste Form, den Menschen zu einer - auch sehr
gut bezahlten - Erwerbsarbeit zu verhelfen, ist nach wie
vor, sie zu qualifizieren und ihnen die Möglichkeit zu bieten, besser zu verdienen. Das haben wir getan, und zwar
durch Maßnahmen der Weiterbildung, durch Jobrotation
und die einzelnen Elemente von Job-AQTIV.
Wir haben noch mehr getan. Wir haben Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern den Zugang zu Maßnahmen des Arbeitsamtes ermöglicht, um sie zu qualifizieren, um ihre Chancen zu steigern und um das zu
erreichen, was sie eigentlich wollen, nämlich irgendwann
einmal in eine besser qualifizierte Arbeit mit einem angemessenen Gehalt zu kommen. Das nenne ich eine aktive
und individuelle Förderung, die bei den Menschen ankommt und von den Menschen gefordert wird.
({7})
Wir haben mehr als das getan. Ich will jetzt gar nicht all
die Programme aufzählen, die schon mehrfach genannt
worden sind, das JUMP-Programm, Programme für ältere
Menschen oder Schwerbehinderte, um sie besser in Arbeit
zu bringen. In diesem Bereich sehen die Zahlen sehr gut
aus. Ich will einen anderen Punkt nennen, der mir sehr
wichtig ist. Armut in Deutschland betrifft nach wie vor vor
allem Familien und Alleinerziehende. Alleinerziehende
sind nicht deshalb häufig in der Sozialhilfe, weil sie faul
sind und nicht arbeiten wollen, sondern weil sie nicht wissen, wer sich um die Kinder kümmern soll, wenn der Kindergarten um 12 Uhr schließt, sie aber bis 12.30 Uhr arbeiten müssen. Sie wissen nicht, wie sie gleichzeitig die
Kinder betreuen und einer Erwerbsarbeit nachgehen sollen.
Ein Lösungsansatz hierfür ist eine gute Familienpolitik, wie wir sie bereits gemacht haben. Weiterhin haben
wir Investitionen in Ganztagsschulen und Kinderbetreuungseinrichtungen angekündigt sowie Teilzeitmodelle
gefördert. Herr Laumann, durch das Recht auf Teilzeit für
Eltern oder Alleinerziehende können Beruf und Familie tatsächlich vereinbart werden. Damit bleibt dies in
Deutschland nicht nur eine leere Hülse, sondern wird
Realität.
({8})
Aber das darf nicht nur für die Mütter ein Thema bleiben. Wir haben ein Elternzeitmodell geschaffen, mit dem
auch Väter angesprochen werden, zu Hause zu bleiben,
um so eine Arbeitsteilung in der Familie zu ermöglichen.
Nicht zuletzt möchten wir auch über die Sozialhilfereform debattieren. In diese Richtung hat sich übrigens
auch die Sprecherin der PDS-Fraktion gestern in der Arbeitsmarktdebatte geäußert. Sie hat im Namen der PDS
gesagt, man müsse im Sinne eines aktiven Sozialstaates
auch über die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe debattieren. Wenn dies die Linie der PDS
ist, dann sollte sie dabei bleiben.
({9})
Wir haben ein Modell zur Kindergrundsicherung vorgestellt, um Familien aus der Armut herauszuholen. Wir
haben ein zweites Modell zum Durchbrechen der Teilzeitmauer entwickelt. Darüber hinaus haben wir ein weiteres Modell zur Grundsicherung durch Zusammenlegung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf den Tisch gelegt,
wobei dies nicht als Spar- oder Strafmaßnahme definiert
werden soll, sondern als eine aktivierende Maßnahme gedacht ist, um Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die
Menschen in den Arbeitsmarkt zurückfinden.
({10})
In Deutschland wird ein Bündel von Maßnahmen in
der Finanzpolitik, der Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik gebraucht, um diese Debatte zum Arbeitsmarkt
führen zu können. Platte und einfache Antworten gibt es
hier nicht. Das Ganze ist eine Herausforderung. Die Grünen stellen sich dieser Herausforderung und haben die
richtigen Antworten.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die PDS beweist mit dem
vorgelegten Antrag einmal mehr, dass sie ihre Ideen oft
aus der ideologischen Mottenkiste holt.
({0})
Mit der Realität am Arbeitsmarkt, Frau Maier, hat Ihr Vorschlag eines Mindestlohnes jedenfalls nichts zu tun.
({1})
Ich frage mich wirklich, wie bei einem von der rot-grünen Bundesregierung zu verantwortenden aktuellen Stand
von knapp 4 Millionen Arbeitslosen ein Mindestlohn
mehr Menschen in Arbeit bringen soll. Nur darum kann es
gehen. Ist eine Maßnahme geeignet, auch geringer qualifizierten Menschen eine Arbeitsstelle bieten zu können,
({2})
eine Arbeit, die sie ausfüllt und mit der sie zum eigenen
Lebensunterhalt beitragen? Das hat letztendlich etwas mit
der Würde des Menschen zu tun.
({3})
Der von Ihnen angestrebte gesetzliche Mindestlohn
im produzierenden Gewerbe würde - ich habe das anhand der Zahlen des Statistischen Bundesamtes für das
Jahr 2000 berechnet; Sie haben es bestätigt - für Arbeiter
1 452 Euro und für Angestellte 2 321 Euro betragen. Das
sind jeweils 68 Prozent des durchschnittlichen Bruttoverdienstes.
Betrachten wir einmal den Fall des Arbeiters, der
1 452 Euro verdient. Ich weiß nicht, welcher Arbeitgeber
einem Arbeiter 1 452 Euro im Monat für Tätigkeiten bezahlen könnte, die nur eine geringe Qualifikation erfordern. Das muss man sehen. Es handelt sich ja nicht um
eine Frage des Wollens, sondern des Könnens; denn - um
es volkswirtschaftlich auszudrücken - die Faktorpreise
setzen sich natürlich in Produktpreise um. Unternehmen
drücken das oft einfacher aus: Nicht die Unternehmen,
sondern die Kunden bezahlen die Löhne. Das heißt, nur
dass, was man am Markt erzielen kann, ist auf Dauer als
Lohn zu gewährleisten.
({4})
Es stellt sich nur die Frage: Wollen Sie zusätzlich zum
gesetzlichen Mindestlohn noch eine gesetzliche Verpflichtung, Arbeitsplätze zu schaffen, sprich: Menschen
einzustellen?
({5})
Ein entsprechendes Vorhaben haben wir in dieser Woche
- Gott sei Dank in großer Gemeinsamkeit - bei der Überarbeitung der Gewerbeordnung im Ausschuss abgelehnt.
Wir haben gesagt: Es bleibt bei der Abschlussfreiheit des
Arbeitgebers; kein Unternehmen kann gezwungen werden.
Damit ist eigentlich schon alles gesagt, was man zu dieser
Forderung nach Einführung eines Mindestlohns sagen
muss. Wir von der FDP lehnen diesen Vorschlag klar ab.
Frau Maier, ich gebe Ihnen und der PDS in einigen
Feststellungen, die Ihr Antrag enthält, Recht.
({6})
Den Menschen in Deutschland, Frau Lotz, bleibt von
ihrem vergleichsweise hohen Bruttoeinkommen netto einfach zu wenig. Das muss man doch einmal sehen. Der internationale Vergleich zeigt: Die Bruttolöhne in Deutschland sind nicht so schlecht.
({7})
- Herr Schmidt, hören Sie zu! - Die ansehnlichen Bruttolöhne und Bruttogehälter in Deutschland verdunsten
nämlich unter der alles versengenden rot-grünen Steuerund Abgabensonne; deswegen reicht es für die Menschen
am Schluss nicht.
({8})
An diesem Punkt müssen wir ansetzen. Um im Bild zu
bleiben: Die Menschen in Deutschland brauchen einfach
einen wirksamen Sonnenschutz. Mit anderen Worten: Sie
brauchen ein einfaches und gerechtes Steuersystem mit
niedrigen Steuern. Steuersätze in Höhe von 15 Prozent,
25 Prozent und 35 Prozent werden dazu führen, dass die
Menschen entlastet werden und dass solche Steuern wieder gezahlt werden, die dem Finanzamt heute vorenthalten werden. Es ist doch kein Zufall, dass dem Fiskus in
Deutschland durch Schwarzarbeit pro Jahr 350 Milliarden Euro entgehen und dass gerade der Sektor der
Schwarzarbeit der einzig noch boomende Sektor unserer
Volkswirtschaft ist.
Wir müssen die Steuern senken; aber wir müssen auch
die Höhe der Sozialabgaben senken. Frau Rennebach, da
brauchen Sie gar nicht den Kopf zu schütteln. Das in Ihrer Koalitionsvereinbarung enthaltene große Ziel, die
Höhe der Sozialversicherungsbeiträge auf 40 Prozent zu
senken, ist, wie eigentlich alle Ihre Ziele - ob das die Senkung der Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen oder die
Senkung der Zahl der arbeitslosen Schwerbehinderten um
50 000 ist - nicht erreicht worden. Man kann es auf die
Formel bringen: Sie haben regelmäßig alle Messlatten gerissen, die Sie sich aufgelegt hatten. Nennen Sie mir ein
Ziel, das Sie erreicht haben! Wir brauchen mehr Mut zu
Reformen, mehr Wettbewerb und mehr Eigenverantwortung. Nur so lassen sich die Beiträge zu den Sozialversicherungen senken.
Mich erschüttert immer wieder, dass Sie die umfangreichen Gutachten des Sachverständigenrates der rot-grünen Bundesregierung offensichtlich nicht zur Kenntnis
nehmen. Herr Brandner, auf Seite 196 ff. des aktuellen
Gutachtens steht das sehr deutlich geschrieben. Wenn Sie
sich an die Ratschläge des Sachverständigenrats dieser
Bundesregierung halten würden, dann hätten wir nicht die
gewaltigen Probleme, mit denen wir auf dem Arbeitsmarkt gegenwärtig konfrontiert werden.
({9})
Damit mehr Menschen - auch im Niedriglohnbereich in Arbeit kommen, brauchen wir bessere Vermittlungsund Qualifizierungsinstrumente als bisher. Die Bundesregierung ist auf diesem Feld aktiv geworden, was
wir in der Tendenz durchaus anerkennen; aber - Frau
Rennebach, ich sage das auch im Hinblick auf Ihren nachfolgenden Redebeitrag - das ist nur die eine Seite der
Medaille. Ich erinnere an die Demonstration der Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg vor wenigen Wochen. Die Demonstranten haben gesagt: Was sollen wir denn vermitteln, wenn es keine Arbeitsstellen
gibt? Aktivierende Sozialpolitik, „Fordern und Fördern“,
reicht nicht, wenn es nicht gleichzeitig in den Unternehmen, insbesondere im Mittelstand, ein entsprechendes
Angebot an Arbeitsplätzen gibt. Das wird aber nur funktionieren - leider blenden Sie das in Ihren Überlegungen
vollkommen aus -, wenn man den ersten Arbeitsmarkt
endlich flexibilisiert. Auch das steht übrigens in dem
Sachverständigengutachten.
Nun komme ich - ich werde Ihnen das so lange sagen,
bis Sie es verstehen; vielleicht kapieren Sie das bis zum
Ende Ihrer Regierungszeit überhaupt nicht mehr - auf das
Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit zu
sprechen.
({10})
Das Gesetz zur Regelung der Teilzeitarbeit und befristeter
Arbeitsplätze muss flexibilisiert werden. Teilzeit kann
man nicht verordnen. Auch ein befristeter Arbeitsplatz
- das muss man immer wieder deutlich sagen - ist ein
guter Arbeitsplatz für denjenigen,
({11})
der vorher arbeitslos war.
Auch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz muss dringend flexibilisiert werden. Unsere europäischen Nachbarn zeigen eindrucksvoll, wie man mit Zeitarbeit eine
Brücke in den ersten Arbeitsmarkt hinein bauen kann.
Auch das Betriebsverfassungsgesetz sollte ein Thema
sein.
Den Kündigungsschutz - das ist eine unangenehme
Wahrheit; man muss sie aber aussprechen - müssen wir
einer kritischen Betrachtung unterziehen. Wir wollen den
Kündigungsschutz nicht abschaffen. Aber wir müssen uns
überlegen, ob er nicht in zu vielen Fällen ein Einstellungshindernis darstellt und, wenn ja, wie wir es beseitigen können. Wir haben mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass der niedersächsische Ministerpräsident
Sigmar Gabriel in dieser Woche das ebenfalls erkannt hat
und erstmals einen entsprechenden Vorschlag gemacht
hat. Er ist immerhin auf dem richtigen Weg.
({12})
Auch wir erkennen, dass man mit dem Arbeitsentgelt
aus einfachen Tätigkeiten seinen Lebensunterhalt nur sehr
schwer oder gar nicht bestreiten kann. Aber ein gesetzlicher Mindestlohn hilft diesen Menschen nicht. Er führt
nur dazu, dass diese Menschen nicht nur zum Teil, sondern vollständig von der Arbeitslosen- oder der Sozialhilfe leben müssen, weil bestimmte Arbeitsplätze in Zukunft nicht mehr angeboten werden.
Die FDP-Fraktion hat wiederholt Vorschläge zur Reform des Niedriglohnsektors vorgelegt. Wir müssen die
Anreize erhöhen, auch gering entlohnte Arbeitsplätze anzunehmen. Das ist der richtige Weg. Letztendlich ist das
nach unseren Vorstellungen nur möglich, wenn der Staat
lohnergänzende Leistungen etwa in Form eines Bürgergeldes erbringt.
Herr Kollege,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ein Mindestlohn ist der
falsche Weg.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Er hat sofort auf
meine Ermahnung reagiert.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Rennebach.
({0})
Frau Schwaetzer, Sie
können sich wie immer verhalten. Sie müssen mich nicht
schonen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Kolb hat eben die PDS bezichtigt, in die
Mottenkiste gegriffen zu haben. Ich möchte seinen Beitrag nicht weiter kommentieren. Aber ich hatte den Eindruck, dass hier eine Diskussion zwischen FDP und
PDS über Vorschläge aus der Mottenkiste stattgefunden
hat.
({1})
Die Opposition redet ständig von Deregulierung. Sie
sprechen von desaströsen und dramatischen Verhältnissen.
({2})
Ich erinnere nur an die Zeit, als ein Bundeskanzler namens
Helmut Kohl gesagt hat: Wir wollen die Arbeitslosigkeit
halbieren. Damals lag sie schon über 4 Millionen. Was hat
er, der sich das vorgenommen hat, bis zum Ende seiner
Regierungszeit tatsächlich geschafft? Er hat die Arbeitslosigkeit verdoppelt.
({3})
- Herr Kolb, jetzt rede ich. Ich werde meine Rede so halten, wie ich mir das vorgenommen habe.
({4})
Ich habe mir lange genug Ihre Beschimpfungen und die
des Kollegen Laumann angehört, der sich jetzt leider der
Debatte entzieht, obwohl ich auf ihn eingehen möchte.
({5})
Der Kollege hat über die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geredet. Ich sage Ihnen: Wir haben jetzt 450 000 Arbeitslose weniger als 1998, als Sie regiert haben. Wir haben 1,2 Millionen Arbeitsplätze mehr als Sie geschaffen.
Ich erinnere noch einmal daran: Sie wollten die Arbeitslosigkeit halbieren. Tatsächlich haben Sie sie verdoppelt.
({6})
Sie haben 16 Jahre lang - glauben Sie, die Menschen
haben ein so kurzes Gedächtnis? - die soziale Schraube
immer weiter nach unten gedreht, bis den Menschen kaum
noch etwas übrig blieb.
({7})
Während Ihrer Regierungszeit hatten die Menschen weniger Geld in der Tasche, mussten sie mehr Steuern und
Abgaben zahlen und hat sich die Armut in unserem Land
vergrößert. Wir haben die Schraube zuerst angehalten und
sie dann langsam nach oben gedreht. Im Laufe meiner
Rede werde ich noch darauf eingehen, was wir alles dafür
getan haben, um die soziale Schraube langsam nach oben
zu drehen.
({8})
Ich sage es Ihnen noch einmal: Glauben Sie nicht, dass die
Leute ein so schlechtes Gedächtnis haben!
({9})
Wenn Sie hier schwarze Propaganda für eine Politik machen, die Sie nie gemacht haben, wir uns aber daran erinnern, was Sie in diesem Land angerichtet haben, dann
glauben Sie doch nicht, dass die Menschen Ihnen das abnehmen werden.
({10})
- Das werden wir sehen, ja.
Liebe Kollegen
und Kolleginnen, wenn man nicht einen halben Satz ohne
Zwischenrufe hinter sich bringen kann, ist es recht schwer
zu reden. Ein bisschen weniger und dann konzentrierter
wäre vielleicht gut.
Ich bedanke mich aufrichtig, Frau Präsidentin, und werde jetzt fortsetzen.
Ich werde mich gegen den Antrag eines existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohnes als Gewerkschafterin und ehemalige Betriebsratsvorsitzende aussprechen,
die sich immer gegen Lohn- und Sozialdumping in dieser
Republik und auch in ihrem Betrieb eingesetzt hat, aber
- und das muss ich der PDS sagen - nicht unter falschen
Prämissen. Ihr Antrag hat zwei entscheidende Fehler. Er
beinhaltet erstens die falsche Diagnose und damit zweitens die falschen Forderungen zur Umsetzung fairer
Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland.
Zuerst komme ich zur falschen Diagnose. Das Grundproblem ist: Sie beschreiben im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts, zugegebenermaßen so, wie sie Herrn Kolb gefallen würde: Unterteilung in Schwarz und Weiß, in „die
da oben“ und „wir da unten“. Auf der einen Seite
- O-Ton im Antrag - das Kapital, das - wieder O-Ton grundsätzlich die soziale Notlage der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer zur Steigerung der Rendite ausnutzt,
auf der anderen Seite völlig rechtlose, unorganisierte
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich Niedriglöhne diktieren lassen müssen.
Woran liegt das wohl? Es liegt daran, dass immer mehr
Arbeitgeber in den neuen Ländern aus der Tarifgemeinschaft austreten.
({0})
Es liegt daran, dass immer weniger Menschen in die Gewerkschaften eintreten, weil von ihnen nicht mit propagiert wird, dass nur ein gerechter Ausgleich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern stattfinden kann, wenn
Gewerkschaften und Arbeitgeber in Augenhöhe miteinander diskutieren können.
({1})
Da können Sie mithelfen, aber nicht mit einer Diskussion
um Mindestlohn. Denn, zugegeben, die neuen Länder haben Probleme mit untertariflichen Löhnen, die neuen Länder sind ein Billiglohngebiet. Das stimmt. Aber wir können gemeinsam etwas an dieser rechtlosen Situation
ändern. Hier wird doch gegen ein Gesetz verstoßen. Wenn
wir das gemeinsam anprangern, haben wir eher Chancen
als beim Bemühen des Gesetzgebers.
Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns im
21. Jahrhundert mit einer rot-grünen Bundesregierung in
einer pluralistischen Gesellschaft mit starken Gewerkschaften. Diese Bundesregierung hat mit dem sozialen
Kahlschlag der Kohl-Ära Schluss gemacht. Statt neoliberaler Pferdeäpfeltheorie nach der Methode „Wenn ich die
Großen füttere, kommt auch hinten mehr für die Kleinen
raus“, haben wir eine soziale Marktwirtschaft, die ihren
Namen auch verdient.
({2})
Nur einige Beispiele - stichwortartig -, wie für RotGrün faire Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt aussehen:
Arbeitnehmerentsendegesetz, gleicher Lohn für gleiche
Arbeit, Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping auf
deutschen Baustellen. Dies haben wir in die Wege geleitet. Sie haben illegale Beschäftigung auf Baustellen erst
salonfähig gemacht.
({3})
Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung auf Baustellen
wurden von Ihnen zu einem Kavaliersdelikt erklärt.
16 Jahre lang haben Sie dieses Problem nicht gelöst; wir
haben damit angefangen.
({4})
Wir haben die Sanktionen verschärft, wir haben die
Scheinselbstständigkeit bekämpft, auch eine Methode
von Ihnen, Menschen zu suggerieren, sie seien selbstständig, und sie in Abhängigkeit zu halten.
({5})
Wir haben das 325-Euro-Gesetz geschaffen und damit
4 Millionen Menschen, insbesondere Frauen, mehr
sozialversichert, als Sie es geschafft haben.
({6})
Wir haben das Gesetz zur Förderung von Teilzeitarbeit geschaffen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Ich würde gern im Zusammenhang reden, Herr Kolb. Ich habe Sie auch nicht
unterbrochen, obwohl es mich mehrfach gejuckt hat.
Wir haben das Gesetz zur Förderung - ({0})
- Frau Präsidentin, soll ich jetzt mit den Kollegen der Opposition im Chor singen oder darf ich allein weiterreden?
({1})
Wir haben das Gesetz zur Förderung der Teilzeitarbeit
geschaffen. Wir haben die hundertprozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder eingeführt usw. usf.
Ich spreche jetzt wieder die PDS an: Sie unterschätzen
die wichtige Rolle der Tarifautonomie. Auch wenn Sie
das Gegenteil behaupten: Das bisherige freie Tarifverhandlungssystem mit starken Gewerkschaften hat sich
bewährt. Ein Gleichgewicht der Kräfte von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften und ein allenfalls vermittelnder Staat bilden die Tarifautonomie. So muss sie erhalten werden.
Löhne und Arbeitsbedingungen werden in Deutschland frei zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern vereinbart. Wir haben ein pluralistisches Verhandlungssystem und keine von oben nach unten organisierte
Gesellschaft, in welcher der Staat die Bedingungen diktiert. Das ist auch gut so. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften übernehmen es, bei allen tarifvertraglichen
Arbeitsverhältnissen Mindestentgelte und Mindestarbeitsbedingungen im Geltungsbereich des Tarifvertrages
festzulegen, wie es das Grundgesetz vorschreibt.
Der aktuelle Streit in der Bauwirtschaft zeigt doch die
Folgen eines Mindestlohnes. Dieser Mindestlohn wird
auch noch unterschritten und kein Mensch hält sich daran.
({2})
Der Mindestlohn ist ein Papiertiger. Da halte ich mich lieber an klare Vorschriften in Tarifverträgen, die zur Not
auch für allgemein verbindlich erklärt werden können, sodass die Welt sich daran hält. Es muss auch mehr Kläger
geben. Dazu könnten Sie die Leute auffordern, statt sich
mit ihnen in die Ecke zu setzen und gemeinsam mit ihnen
zu jammern.
({3})
Aus der falschen Diagnose ergibt sich auch die falsche
Behandlungsmethode in Ihrem Antrag. Durch Einführung
eines gesetzlichen Mindestlohnes von 68 Prozent der nationalen Durchschnittsentlohnung und der Forderung
nach staatlichen Sanktionen bei Nichteinhaltung würde es
vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schlechter
gehen als zuvor - ein Szenario, das auch Sie nicht wollen
können.
Ich komme auf Ihr Beispiel mit dem hessischen Fensterputzer, der 11 Euro verdient, und dem ostdeutschen Fensterputzer, der 8 Euro verdient. Mit Ihrem Mindestlohn
wollen Sie doch, dass der Hesse weniger verdient; der Ostdeutsche hat nicht eine müde Mark mehr in der Tasche.
({4})
Das ist ein Beispiel, das auf jeden Fall hinkt.
Staatlicher Mindestlohn müsste notgedrungen niedrig
sein. Denn Tarifverträge mit ohnehin niedrigen Bruttolöhnen, teilweise unter 6 Euro, dürften nicht überboten
werden. Auch das ist Gesetz in dieser Republik. Daraus
folgt, dass Sie mit Ihrem Mindestlohn die Lohnspirale
nach unten drehen würden. Tarifvertragsparteien versänken in Lethargie. Untere Einkommensgruppen sähen keinen Grund mehr, für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, sich gewerkschaftlich zu
organisieren. Bezieher von mittleren und höheren Löhnen
gerieten auch unter Hinweis auf den festgesetzten
Mindestlohn in den Sog einer Niedriglohnspirale. Denn
der Mindestlohn würde sich sicher als Standard durchsetzen. Gesamtwirtschaftliche Konsequenz: Rückgang der
Binnennachfrage.
Noch einmal: Wir wollen nicht Staatsdirigismus. Von
oben diktierte Löhne sind nicht der richtige Weg. Für eine
moderne, demokratische Gesellschaft ist diese Lösung
keine Möglichkeit, den Arbeitsmarkt zu regeln. Das bewährte System, dass alle wichtigen gesellschaftspolitischen Vertreter an einem Tisch sitzen, muss erhalten
bleiben. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland sind gerade wegen der Gewerkschaften
keine unorganisierte „industrielle Reservearmee“ mehr
und wegen unseres Tarifsystems keine „working poor“
wie in den USA, jedenfalls nicht bei normalen Arbeitsverhältnissen, wo Tarifverträge eingehalten werden.
Daher der Appell an die PDS: Nicht mit einer kapitalismuskritischen Grundsatzdebatte zum großen Wurf ausholen und damit genau das Gegenteil des Gewollten bewirken!
({5})
Nicht spalten, sondern gemeinsam darauf aufbauen, was
in den letzten vier Jahren erreicht wurde!
Jetzt komme ich zu meinem letzten Wort. Kolleginnen
und Kollegen, dies wird meine letzte Rede im Deutschen
Bundestag sein. Ich war zwölf Jahre Mitglied dieses Parlaments und der SPD-Fraktion. Ich habe diese zwölf Jahre
sehr gerne gearbeitet, die letzten vier Jahre in der Regierung allerdings viel lieber als die ersten acht Jahre in der
Opposition.
({6})
Die rot-grüne Bundesregierung hat wahrhaftig gestaltet
und die erforderlichen Rahmenbedingungen für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern und eine bessere wirtschaftliche Situation gesetzt
oder angefangen zu setzen. Das zeigen die Zahlen. Sie gehen in unserer Regierungszeit deutlich nach oben. Den
Menschen geht es besser. Wir werden diese vier Jahre als
Beginn einer Wende in dieser Republik betrachten und in
den nächsten vier Jahren einer rot-grünen Bundesregierung
die Sachen, die wir in die Wege geleitet haben, vollenden.
An die Adresse von Herrn Laumann - schön, dass er
wieder da ist ({7})
möchte ich auch noch einen Satz sagen: Sie haben ja das
Job-AQTIV-Gesetz mit dem JUMP-Programm verwechselt.
({8})
Das verzeihe ich Ihnen und trage ich Ihnen nicht nach.
Das Job-AQTIV-Gesetz haben wir seit dem 1. Januar
2002.
({9})
Wir sind zugleich mit Umstellungen bei der Bundesanstalt
für Arbeit beschäftigt. Ein bisschen Geduld - das muss ich
Ihnen ehrlich sagen - ist erforderlich, wenn ein solch hervorragendes Gesetzeswerk in die Tat umgesetzt wird.
({10})
Kolleginnen und Kollegen, ich habe gesagt, wie lange
ich hier gearbeitet habe. Ich wünsche dieser rot-grünen
Bundesregierung, dass sie weitere vier Jahre und auch
noch länger regieren kann. Ich glaube, dass sich die Menschen, da sie ja ein gutes Gedächtnis haben, die alten Zeiten nicht wieder zurückwünschen werden, sondern RotGrün unterstützen werden. Ich wünsche euch und Ihnen
viel Erfolg bei der weiteren Arbeit.
Ich bedanke mich.
({11})
Liebe Frau Kollegin Rennebach, da es, wie Sie sagten, Ihre letzte Rede
war, möchte ich Ihnen auch im Namen des Hauses für Ihre
Arbeit danken. Sie haben ja gesehen, dass es dann, wenn
es um so schlichte menschliche Tatsachen wie einen Abschied geht, auch im Hause ruhig wird und Sie Beifall von
allen Seiten bekommen.
Aber man kann sich auch täuschen; denn vielleicht war
es doch nicht Ihre letzte Rede. Jetzt bekommt nämlich das
Wort zu einer Kurzintervention der Herr Kollege Kolb.
Darauf könnten Sie dann noch einmal antworten.
Liebe Kollegin
Rennebach, ich muss mich auf diesem Weg an Sie wenden,
weil Sie ja meine Zwischenfrage nicht zugelassen haben.
({0})
- Nein.
Auch ich möchte vorweg eine persönliche Bemerkung
machen. Wir haben in den letzten vier Jahren intensiv zusammengearbeitet; wir waren in der Summe selten einer
Meinung,
({1})
aber trotzdem habe ich persönlich die Zusammenarbeit
mit Ihnen als angenehm empfunden. Dafür bedanke ich
mich.
({2})
Sie haben in Ihrer Rede gesagt, dass Sie offensichtlich
sehr viel lieber regieren als Oppositionsarbeit machen.
Von daher ist es nur konsequent, wenn Sie am 22. September aufhören.
({3})
Sehr charmant.
Ich wollte zu zwei Punkten in der Sache etwas sagen. Zum ersten Punkt sollten
Sie, Frau Rennebach, vielleicht doch noch einmal das
Wort ergreifen und das klarstellen.
Sie haben an die Adresse der früheren CDU/CSUFDP-Koalition gesagt, wir hätten Schwarzarbeit in
Deutschland salonfähig gemacht.
({0})
Das ist, wie ich finde, ein ungeheuerlicher Vorwurf. Ich
möchte Sie wirklich bitten, das zurückzunehmen. Wir haben zu allen Zeiten deutlich gemacht, dass Schwarzarbeit
kein Kavaliersdelikt ist, dass es aber zugleich nicht reicht,
die Symptome zu kurieren. Vielmehr muss man an die
Wurzel des Übels herangehen.
({1})
Wir müssen daher bei der Bekämpfung der Schwarzarbeit - wobei auch wir ja nicht besonders erfolgreich waren - darauf achten, Frau Rennebach, dass diejenigen
Unternehmen, die legal arbeiten, am Schluss nicht über
Gebühr durch neue, zusätzliche Bürokratie belastet werden. Das ist meine Kritik, die ich an Ihren Vorlagen zur
Bauabzugsteuer und zur Nachunternehmerhaftung sowie
an Ihrem Tarifvertragsgesetz übe. Hierbei sind diejenigen,
die sich korrekt verhalten, am Schluss die Dummen und
bleiben auf der Strecke, während dem Grundübel nicht
wirksam abgeholfen wird.
({2})
Zweiter Punkt in der Sache, den ich ansprechen muss
- dazu nur ein kurzer Satz -: Sie haben gesagt, es sei Ihr
Verdienst, dass 4 Millionen Frauen jetzt sozialversicherungspflichtig seien. Man muss ehrlicherweise dazu sagen, dass sie nur insofern in der Sozialversicherung sind,
als zwar Beiträge, aber nicht ad personam gezahlt werden.
Sie erwerben persönlich keine Ansprüche, es sei denn,
Frau Rennebach, sie würden noch selber Beiträge einzahlen. Aber davon machen weniger als 5 Prozent der Betroffenen Gebrauch. Im Klartext heißt das: Sie haben ein
Problem gelöst, das aus Sicht der Betroffenen offensichtlich nicht bestand.
Insbesondere zu dem ersten Punkt, dem ungeheuerlichen Vorwurf, wir hätten Schwarzarbeit salonfähig gemacht, möchte ich Sie doch noch einmal bitten - ich sehe,
dass Sie das Mikrofon schon richten -, das Wort zu ergreifen.
({3})
Herr Kolb, dass Sie meinen Abgang verlängern, finde ich sehr sympathisch. Wir
haben im Laufe der letzten vier Jahre irgendwann einmal
eine neue Höflichkeit zwischen uns beschlossen und sie
hat in der Tat über weite Strecken funktioniert. Ihre letzte
Bemerkung zu meinem Abgang war allerdings nicht der
neuen Höflichkeit entsprechend. Das muss ich wirklich
rügen.
({0})
Das, was ich zur Schwarzarbeit und zur illegalen Beschäftigung gesagt habe, Herr Kolb, habe ich bereits in
der Oppositionszeit, in den letzten vier Jahren Ihrer Regierungszeit, gesagt. Damals ist von Ihnen nicht widersprochen worden.
({1})
Somit ist das heute eine Wiederholung. Außerdem ist es
die Wahrheit: Die Schwarzarbeit beginnt zurückzugehen.
({2})
- Frau Schwaetzer bleiben Sie sitzen, keine künstliche
Aufregung. - Wir sind die erste Bundesregierung, die in
diesem Land etwas gegen Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung unternimmt.
({3})
Sie haben die Schwarzarbeit ins Uferlose steigen lassen,
und zwar durch Ihr Nichtstun.
Ich erinnere mich an das Wort eines früheren Staatssekretärs aus dem Arbeitsministerium, als Blüm noch
Minister war. Ich habe ihn gefragt: Warum sorgt ihr nicht
für eine Generalunternehmerhaftung? Denn dieser Staatssekretär und ich, wir haben uns um Baustellenkontrollen
gekümmert, wir sind auf die Baustellen gegangen und waren uns einig, dass die Generalunternehmerhaftung ein
wirksames Mittel ist. Wissen Sie, was er mir daraufhin gesagt hat? - Beschweren Sie sich bei der FDP! Die FDP
verhindert die Generalunternehmerhaftung seit Jahren.
Danke.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Weiß.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was viel zu
vielen Menschen in Deutschland zur eigenen Existenzsicherung und zur Existenzsicherung ihrer Familien fehlt,
ist nicht ein per Gesetz vorgeschriebener Mindestlohn,
sondern überhaupt eine Arbeit, mit der sich ein Lohn verdienen lässt. Diese Menschen erwarten von uns Abgeordneten nicht irgendeine Geisterdebatte über irgendwelche
sozialistischen Hirngespinste, sondern sie erwarten, dass
wir die Realitäten dieses Landes zur Kenntnis nehmen
und ihnen eine Antwort auf die zentrale Frage geben: Wie
schaffen wir Arbeit und Wohlstand für alle in Deutschland?
Die heute in Deutschland herrschende Massenarbeitslosigkeit ist Folge zahlreicher Fehlentscheidungen der
rot-grünen Bundesregierung.
({0})
Der hier von der PDS vorgelegte Gesetzentwurf ist kein
Gesetzentwurf zur Korrektur der Fehlentscheidungen,
sondern er setzt noch eine weitere obendrauf.
({1})
Es ist kein Gesetzentwurf zum Abbau der Arbeitslosigkeit, sondern ein Gesetzentwurf zur Steigerung der Arbeitslosigkeit.
Ich finde es sehr gut, dass dieser Gesetzentwurf zu einer öffentlichkeitswirksamen Zeit in der Bundesregierung
diskutiert wird, weil wenige Wochen vor der Bundestagswahl so für jeden in Deutschland klar und deutlich werden kann:
({2})
Wenn Rot-Rot oder Rot-Rot-Grün nach der Wahl regieren
würde, dann würde der Karren in Deutschland erst recht
an die Wand gefahren werden und die Arbeitslosen hätten
erst recht keine Perspektive.
({3})
Arbeit schafft man nur durch die Ankurbelung der
Wirtschaft und vor allem dann, wenn man dabei vor allem
diejenigen nicht vergisst, die in Deutschland Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze schaffen; das sind unsere
kleinen und mittleren Unternehmen.
({4})
Zu den Hauptfehlern der Wirtschaftspolitik dieser rot-grünen Koalition gehört, dass sie die Großkonzerne faktisch
von der Körperschaftsteuer befreit hat.
({5})
Das bringt dem Genossen der Bosse, Gerhard Schröder,
vielleicht Applaus in seinen Zigarrenrunden, aber eben
keine Arbeitsplätze für Deutschland.
({6})
Deutschland ist Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum in Europa. Das Urteil der Wirtschaftsforschungsinstitute ist eindeutig: Die wirtschaftlichen Auftriebskräfte in Deutschland sind zu schwach und die
wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen falsch gesetzt.
({7})
Karl-Josef Laumann hat es zu Eingang der Debatte
schon vorgetragen: Die heute veröffentlichten Arbeitslosenzahlen sind eine Katastrophe.
({8})
Es ist beschämend, dass Sie von Rot-Grün in dieser Debatte versuchen, die Zahlen gesundzubeten, indem Sie
Äpfel mit Birnen vergleichen.
({9})
Meine Damen und Herren, seit Monaten haben wir in
Deutschland die Situation, dass jeden Monat mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Ruhestand gehen als junge Leute in den Arbeitsmarkt nachkommen.
Die Arbeitslosigkeit müsste „bei ruhiger Hand“ automatisch sinken. Das Gegenteil ist der Fall. Das zeigt die
wahre Katastrophe, die Sie in der Arbeitsmarktpolitik in
Deutschland verursacht haben.
({10})
Deswegen lassen sich die Deutschen nicht davon abhalten, Gerhard Schröder an seinem großspurigen Versprechen, die Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen zu senken,
wirklich zu messen.
({11})
Was man aber dreieinhalb Jahre versäumt hat, lässt sich
kurz vor der Wahl nicht mehr reparieren und gesundbeten.
({12})
Das untauglichste Mittel zur Reparatur ist natürlich der
vorliegende Vorschlag der PDS zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es genügt schon ein Blick über den Rhein nach
Frankreich, wo gerade dieser Mindestlohn jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern den Zugang zum
Arbeitsmarkt erschwert und versperrt. Es zeigt sich leider,
wie wenig die in der PDS versammelten Postkommunisten nach wie vor
({13})
- so ist es - von einer freien Gewerkschaft halten, die autonom mit Arbeitgebern die Löhne aushandelt. Lieber setzen die Erben Erich Honeckers auf den ewig gestrigen
Staatsdirigismus.
({14})
Mit gutem Grund verbietet in Deutschland die verfassungsmäßig garantierte Tarifautonomie dem Staat, Mindestlöhne festzusetzen. Es wundert nicht, dass die PDS
nach 40 Jahren ihrer totalitären Alleinherrschaft im Osten
Deutschlands Nachhilfeunterricht in Sachen demokratischer Grundregeln und freier Gewerkschaften und in
Fragen der Tarifautonomie braucht. Ich will einen der angesehensten Grundgesetzkommentare unseres Landes zitieren, in dem es heißt:
Der grundsätzliche Übergriff in das Regelungsfeld
„Lohn“ ist mit der Tarifautonomie prinzipiell unvereinbar.
({15})
Übrigens zeigt die wirtschaftspolitische Totalignoranz
der PDS ein weiteres Mal, warum die DDR ökonomisch
und politisch untergehen musste und warum zum Beispiel jetzt in Sachsen-Anhalt nach Jahren rot-roten Regierens eine neue CDU-geführte Landesregierung die
Trümmer einer gescheiterten Wirtschaftspolitik beseitigen muss.
({16})
Eine solche Katastrophe, wie sie die Bürgerinnen und
Bürger in Sachsen-Anhalt erleben mussten, wollen wir
Gesamtdeutschland ersparen.
Meine Damen und Herren, unser Problem in Deutschland ist nicht der Mindestlohn. Unser Problem ist
({17})
Peter Weiß ({18})
das Versagen dieser Bundesregierung bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit.
({19})
Die Bürgerinnen und Bürger haben mittlerweile genug
davon, dass Sie ihnen - wie in dieser Debatte erneut - vorrechnen und vortragen, was Sie alles getan haben, was angeblich zu Entlastungen beispielsweise bei den Steuern
führt.
({20})
Die Bürgerinnen und Bürger fragen sich: Was kommt bei
der Politik, die Sie gemacht haben, unter dem Strich für
mich heraus?
({21})
Entlastungen und Belastungen müssen saldiert werden,
das ist der Punkt.
Sie haben versprochen, die Steuern, die Rentenbeiträge und die Krankenversicherungsbeiträge zu
senken.
({22})
Stattdessen haben wir Beitragserhöhungen und eine Ökosteuer, die eine Preisspirale sondergleichen nach oben
ausgelöst hat.
({23})
Die meisten Bürgerinnen und Bürger in unserem Land haben durch Ihre Politik unter dem Strich weniger. Das ist
Faktum.
({24})
Arbeitsplätze kann eben letztlich nicht der Staat schaffen. Arbeitsplätze können nur geschaffen werden, indem
wir die brachliegenden Kräfte für mehr Wachstum in
Deutschland endlich mobilisieren und frei werden lassen.
({25})
Die von Ihnen zu verantwortenden lähmenden Wirkungen
übermäßiger Bürokratie und einer zu hohen Steuer- und
Abgabenlast müssen beseitigt werden. Das ist der Punkt,
auf den es ankommt.
({26})
Es muss Schluss damit sein, dass der Staat als Arbeitsplatzvernichter agiert. Mit Ihrem 630-Mark-Gesetz haben Sie ein neues Bürokratiemonster geschaffen, das in
Deutschland keine neuen Arbeitsplätze bewirkt, sondern
sie vernichtet hat. Das ist das Faktum.
({27})
Für viele Menschen stellt sich nicht nur die Frage
„Finde ich eine Arbeit?“, sondern auch: Lohnt es sich für
mich überhaupt zu arbeiten?
({28})
Für die meisten Menschen, die sich in den unteren Lohnsegmenten befinden, lohnt es sich nicht zu arbeiten, weil
die Steuer- und vor allem die Abgabenlasten, die Sie erhöht haben, die Arbeitsaufnahme uninteressant machen.
Das ist der Punkt.
({29})
Deshalb wird, wenn wir die Regierung übernehmen, Ihr
630-Mark-Gesetz keinen Bestand haben.
({30})
Wir werden für Geringverdiener eine Gesetzgebung
schaffen, die abgestufte Sozialversicherungsbeiträge
vorsieht, sodass es überhaupt erst wieder interessant wird,
eine Beschäftigung als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer anzunehmen.
({31})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Christa Luft?
({0})
Bitte
schön.
Herr Kollege Weiß, könnten
Sie dem Hohen Hause und allen, die uns zuschauen, bitte
erklären, wie das Lieblingsprojekt der Union, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenzulegen mit
dem Ziel, die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen, arbeitslosen
Menschen Anreize geben kann, einen Job anzunehmen,
der sie in die Lage versetzen würde, die Abgabenlast, von
der Sie soeben gesprochen haben, zu tragen?
({0})
Verehrte
Frau Kollegin Luft, wir werden am Freitag der kommenPeter Weiß ({0})
den Woche die Gelegenheit haben, über diese Frage ausführlich zu diskutieren.
({1})
Ein gemeinsames, neues Hilfesystem für arbeitslose
Menschen, die heute entweder Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe erhalten, ist nur dann wirkungsvoll - das ist unser Vorschlag -, wenn ihnen zum einen geholfen wird, einen Job zu finden, und sie ein Angebot zur Qualifizierung
erhalten und sie zum anderen dann, wenn sie einen Job gefunden haben - sei er noch so niedrig entlohnt -, von diesem Verdienst mehr behalten dürfen als heute. Genau das
ist der Inhalt des Konzepts von CDU/CSU.
({2})
Wer eine Arbeit annimmt, soll mehr Geld zur Verfügung
haben als heute, damit sich für ihn Arbeiten wieder lohnt.
({3})
Gestatten Sie
noch eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?
({0})
Bitte
schön.
Wenn dann jener, der einen
niedrigst bezahlten Job angenommen hat, wieder arbeitslos wird, wovon soll dieser dann leben?
({0})
Verehrte
Frau Kollegin Luft, dann kommt er wieder in das Hilfesystem, das ihm das gleiche Angebot wie vor Annahme
des Jobs macht. Die Erfahrung aber ist: Wenn ein Langzeitarbeitsloser, der Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe bezieht, erneut den Einstieg in die Arbeit gefunden hat, hat
er wesentlich bessere Aussichten als bisher,
({0})
im Beschäftigungsbereich wirklich wieder Fuß zu fassen.
({1})
Das ist der Sinn und das Ziel unseres Angebotes, das
wir Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfeempfängern in
Deutschland machen wollen.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das Programm der
Union ist:
({3})
Arbeit in Deutschland muss sich wieder lohnen. Mit diesem
Programm werden wir das Vertrauen der Bürgerinnen und
Bürger am 22. September erhalten und mit dem Chaos, das
uns Rot-Grün hinterlassen hat, endlich aufräumen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8921 an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für
die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen
Absicherung der Friedensregelung für das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244
({1}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des militärisch-technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({2}) und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksache 14/8991 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({3})
- Drucksache 14/9248 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({4})
Karl Lamers
Dr. Helmut Haussmann
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/9253 Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Titze-Stecher
Herbert Frankenhauser
Antje Hermenau
Dr. Werner Hoyer
Dr. Uwe-Jens Rössel
Peter Weiß ({6})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Antrag der Fraktion der PDS
Bundeswehreinsätze beenden - Politische Lösungen auf dem Balkan durch UNO und OSZE
durchsetzen
- Drucksachen 14/5964, 14/6194 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({8})
Karl Lamers
Ulrich Irmer
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Bundesregierung werden wir, wie Sie wohl wissen, später
namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Uta Titze-Stecher.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag
berät und beschließt heute bereits zum vierten Mal über
das Mandat der Bundeswehr im Kosovo. Es handelt sich
dabei um die dritte Verlängerung des so genannten
KFOR-Mandats über den 10. Juni des Jahres hinaus.
Der Beratung liegt ein Antrag der Bundesregierung
vom 8. Mai dieses Jahres zugrunde. Darin wird um die
Fortsetzung der Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo gebeten. In der Begründung
heißt es, die Verlängerung sei zum einen nötig, um ein sicheres Umfeld für die Flüchtlingsrückkehr zu gewährleisten, und zum anderen, um die Friedensregelung für
das Kosovo militärisch abzusichern. Ich werde auf die
beiden Punkte noch genauer eingehen.
Für das verlängerte Mandat sollen die gleichen völkerrechtlichen und verfassungsmäßigen Voraussetzungen
gelten wie für den von uns gemeinsam bereits gefällten
Beschluss des Deutschen Bundestages vom 9. Mai letzten
Jahres. Die einsatzbedingten Zusatzkosten sind mit der
Haushaltslage des Bundes vereinbar, so sieht es der gesamte Haushaltsausschuss bis auf seine PDS-Mitglieder;
denn in der geltenden Finanzplanung sind die dafür notwendigen Finanzen im Einzelplan 14 bereits im Rahmen
des Stabilitätspaktes in Höhe von 1,023 Milliarden Euro
pro Jahr etatisiert. Dieser Betrag bezieht sich allerdings
auf beide Einsätze: auf das KFOR- und das SFOR-Mandat. - So weit zum Antrag der Bundesregierung; der Bundesverteidigungsminister wird ihn sicher noch präzisieren.
Schauen wir uns die Realität im Kosovo an, dann wird
deutlich, warum es bis auf weiteres keine Alternative zur
Mandatsverlängerung gibt.
({0})
Niemand verkennt, dass das Kosovo auf dem schwierigen
Weg in die demokratische Normalität Fortschritte gemacht hat. So waren die ersten demokratischen Wahlen
vom 17. November letzten Jahres ein wichtiger Schritt hin
zur Normalität. Dabei hat sich auch schon gezeigt, dass
sich die im Kosovo vertretenen Parteien bewusst sind,
dass letzten Endes die Verantwortung für einen erfolgreichen Wiederaufbau in der Region bei ihnen selbst liegt.
Die internationale Unterstützung kann immer nur die
Funktion von vorübergehender Hilfe haben, ähnlich der
von Krücken nach einer Operation; irgendwann hat man
sie nicht mehr nötig und stellt sie weg.
Auch die am 4. März dieses Jahres erfolgte Wahl von
Präsident Rugova und die Installierung des Kabinetts
- Geburtshelfer dabei war der Sonderbeauftragte des VNGeneralsekretärs für das Kosovo, Michael Steiner; ihm
möchte ich von hier aus für seinen Erfolg danken ({1})
schaffen die Voraussetzung dafür, dass die Kosovaren im
Rahmen provisorischer Selbstverwaltungsorgane nun wesentliche Bereiche ihres Gemeinwesens selbst gestalten
können.
Allerdings muss man ehrlich sagen, dass die neue
Regierung vor unendlich schwierigen und langwierigen
Aufgaben steht: Rechtsstaatliche Strukturen müssen aufgebaut und Korruption und organisierte, vor allem grenzüberschreitende Kriminalität bekämpft werden. Neue
wirtschaftliche Perspektiven müssen entwickelt werden,
was angesichts einer Arbeitslosigkeit von 70 Prozent sehr
schwierig ist. - Im Vergleich dazu leben wir hier im Paradies, möchte ich an die CDU/CSU gerichtet sagen. - Bewegungsfreiheit und öffentliche Sicherheit sind für alle
Kosovaren zu verbessern. Darauf hoffen alle ethnischen
Gruppierungen und diese Hoffnungen dürfen wir nicht
enttäuschen.
({2})
Trotz wachsender Einsicht in die Notwendigkeit der
Zusammenarbeit ist das Verhältnis zwischen den KosovoAlbanern und den ethnischen Minderheiten noch äußerst
fragil. Das betrifft nicht nur die Lebensrealität der serbischen Minderheit - da gibt es besondere Schwierigkeiten -, sondern auch das Lebensumfeld aller anderen Minderheiten, der Roma, Ashkali, Ägypter, Bosniaken und
Gorani.
Es gibt zwei aktuelle Berichte vom April dieses Jahres
zur Situation im Kosovo: einen von der Schweizerischen
Flüchtlingshilfe mit dem Titel „Kosova - Situation der
Minderheiten“ und einen aktualisierten UNHCR-Bericht
zur fortdauernden Schutzbedürftigkeit von Personen aus
dem Kosovo. Man sollte diese Berichte lesen. Wenn man
die Situation von Deutschland aus betrachtet, könnte man
- sofern man die Verhältnisse nicht kennt - zu der Meinung gelangen, dass die Flüchtlinge langsam alle zurückkehren könnten. Die überwiegende Mehrheit der KosovoAlbaner ist auch zurückgekehrt. Das ist in Ordnung und
erfreulich. Dies gilt allerdings nur sehr bedingt bis gar
nicht für Personen aus dem Kosovo, die nicht albanische
Volksangehörige sind. Sie sind weiterhin ernsthaften Gefahren für ihre Freiheit, für Leib und Leben ausgesetzt, die
oft genug Anlass sind, die Provinz zu verlassen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Zur Begründung der Mandatsverlängerung sage ich:
Trotz unbestrittener Verbesserungen der allgemeinen Situation im Kosovo wie der Wiederherstellung der zivilen
Verwaltung und der Verbesserung des Polizei- und Justizwesens - das Auswärtige Amt unterstützt zurzeit den Aufbau der Justizvollzugsverwaltung - gibt die Lage der
Minderheitengruppen Anlass zu größter Sorge.
Die Gefahren für die persönliche Sicherheit dauern an.
Es besteht für die Minderheitengruppen eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit, weil Gefahr besteht, sobald
sie sich aus ihren enklavenartigen Bezirken hinausbewegen. Dies ist nicht nur aus humanitären Gründen, sondern
vor allem aufgrund der destabilisierenden sozialen Wirkung unakzeptabel. Die Situation eines Menschen, der
nur begrenzten Zugang zu Grundleistungen hat und Aktivitäten, die zum Überleben notwendig sind, gar nicht
durchführen kann, bezeichnen wir als unbefriedigend.
Hinzu kommen Probleme bei der Ausübung von Sprache,
Religion und Kultur.
Akzeptable inländische Alternativen zur Flucht sind
- so die Berichte - nicht vorhanden. Deswegen halte ich
es für politisch absolut korrekt und richtig, dass der Menschenrechtsausschuss Rückführungen nur befürwortet,
wenn sie auf freiwilliger Basis erfolgen, und an die Innenministerkonferenz appelliert hat, eine Aussetzung der
Rückführung von Jugendlichen und Minderheiten aus
dem Kosovo zu beschließen.
({3})
Ohne diese Rücksichtnahme würden alle bisher getätigten
Initiativen und Maßnahmen konterkariert, weil die Rückkehr nicht nachhaltig wäre.
({4})
- Darüber muss man reden. Ich bin gespannt, was vonseiten der Regierung zu diesem Punkt gesagt wird.
Die internationale Sicherheitspräsenz ist aber nicht nur
wegen der von mir beschriebenen ethnisch begründeten
Übergriffe, also wegen der Situation der Minderheiten,
weiterhin erforderlich. Die Lage ist schlicht und einfach
weder ruhig noch stabil. Nach wie vor werden enorme
Mengen an Waffen und Munition sichergestellt. Illegale
Aktivitäten albanischer Extremisten destabilisieren die
Region. Um den grenzüberschreitenden Extremismus
- organisierte Kriminalität, Drogenhandel, Menschenhandel, Schmuggel - in den Griff zu bekommen, hat die
KFOR bereits im letzten Jahr im Rahmen ihrer Operation
„Eagle“ den Schwerpunkt auf die Sicherung der Grenzen
zu Mazedonien, Albanien und zur Bundesrepublik Jugoslawien gelegt. Zur Beherrschung dieser Gefahrensituation
ist die militärische Präsenz unabdingbar.
Sie ist aber auch erforderlich, um die demokratische
Entwicklung voranzubringen. Insofern hängt - das sage
ich in Richtung PDS - das eine mit dem anderen zusammen. Ich kann nicht das eine sein lassen und glauben, das
andere tun zu können.
({5})
Sieht man von den militärischen Maßnahmen ab - sie
funktionieren aufgrund der verbindenden Klammer durch
die NATO recht gut -, stellt man fest, dass die vielfältigen
Aktivitäten der Akteure diesseits und jenseits des Atlantiks
im Rahmen des Stabilitätspaktes ohne Einbindung in ein
Gesamtkonzept für den Balkan, geschweige denn mithilfe
wirksamer Absprachen zur Vermeidung von Doppelstrukturen oder Mehrfachaktivitäten, erfolgen. Daher begrüßen wir
das erste deutsch-amerikanische Südosteuropa-ExpertenTreffen im März dieses Jahres, das vom Auswärtigen Amt
und der Südosteuropa-Gesellschaft initiiert wurde. Dabei
wurde in aller Offenheit gesagt, dass der Weg zu einem gemeinsamen Konzept noch sehr weit ist. Es wurde aber
auch darauf hingewiesen, dass sich das Koordinatensystem
Amerikas seit dem 11. September letzten Jahres - Sie wissen, worauf ich hinweisen möchte - verschoben hat, mit
dem Ergebnis, dass sich Amerika in Zukunft auf die
Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität konzentrieren wird. Demzufolge wird Europa mehr
Verantwortung, sprich die Hauptverantwortung, für die Verhältnisse auf dem Balkan und in Südosteuropa übernehmen
müssen. Ich halte das für absolut verständlich, da es sich
schließlich um Probleme vor unserer Haustür handelt.
Die schrittweise Übertragung der Zuständigkeiten
der KFOR insbesondere im Bereich der inneren Sicherheit auf zivile lokale Stellen und zivile internationale Organisationen muss natürlich Rücksicht darauf nehmen,
dass keine unkalkulierbaren Risiken für die Stabilität der
Lage vor Ort entstehen, also keine Sicherheitslücke
zurückgelassen wird. Praktisch muss dafür gesorgt werden, dass synchron zur Reduzierung die Implementierung
der Restrukturierungs- und Flexibilisierungsmaßnahmen
erfolgen wird.
Zu diesem Komplex wird es zwei Konferenzen geben.
Bei der einen, dem NATO-Herbsttreffen, soll die NATO
einen bis dahin erarbeiteten Implementierungsplan vorlegen, der in drei Phasen die Voraussetzungen für die eben
angesprochenen Reduzierungen beim SFOR- und KFORMandat schaffen soll. Die im Juni stattfindende Truppenstellerkonferenz wird sich mit dem gesamten Einsatzgebiet Balkan befassen. Beide Treffen werden ihre
Entscheidungen entlang der bis dahin erzielten Fortschritte in den politischen Prozessen fassen.
Ich komme zum Schluss. Auf der Grundlage der beiden Konferenzen und ihrer zu erwartenden Ergebnisse ist
nach unserer Auffassung dem Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung des KFOR-Mandats zuzustimmen - auch von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der PDS; denn die von Ihnen geforderte politische
Lösung für Südosteuropa kann am sichersten und am
ehesten mit der eben beschriebenen Doppelstrategie erreicht werden.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete von Schorlemer.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die „Neue
Zürcher Zeitung“ schrieb kürzlich: „Gefährlicher Stillstand im Kosovo. Internationaler Aktivismus - fehlende
Perspektiven“. Diese fehlende Perspektive birgt die Gefahr, dass wir uns mit der Situation wie mit einem notwendigen Übel abfinden. Dies darf aber nicht sein, denn
es würde den Menschen im Kosovo und in der Region
nichts nutzen, sondern ihnen schaden. Außerdem wäre es
eine große politische Niederlage für Europa.
Seit 1999 ist die KFOR als ein unerlässliches Instrument
der Friedenssicherung im Kosovo. Derzeit ist nicht absehbar, wie lange ihre Präsenz nötig ist. Der gegenwärtige
Stand des Aufbaus eines Quasi-Staatswesens im Kosovo
und dessen immer noch ungeklärter endgültiger Status in
den Beziehungen zu Serbien und der Bundesrepublik Jugoslawien lassen eine Beendigung der militärischen wie auch
der zivilen Mission der Vereinten Nationen im Kosovo
auch für die nächsten Jahre unmöglich erscheinen. Weder
der Stabilitätspakt noch die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen der EU können das ersetzen, was dringend nötig ist: ein umfassendes Konzept, das den Ländern
und der Bevölkerung der Region eine realistische Perspektive bietet. Es muss eine europäische Perspektive sein, die
das Mögliche und Nötige klar beim Namen nennt.
({0})
Das vor kurzem auf EU-Ebene vorgestellte Papier ist nach
unserer Meinung schlecht abgestimmt und noch nicht der
große Wurf.
Gestern haben die Verteidigungsminister der NATO
einen Fahrplan für die Truppenreduzierung auf dem Balken beschlossen. Wir würden schon gerne wissen, was
dies ganz konkret für den Einsatz der Bundeswehr im
Rahmen des KFOR-Kontingents im Kosovo bedeutet.
({1})
Wir sind es nämlich den Menschen in der Region ebenso
wie der eigenen Bevölkerung schuldig, zu sagen, wie unser Ordnungskonzept für die Zukunft aussieht, wie lange
wir noch Zehntausende von KFOR-Soldaten allein im
Kosovo und daneben weitere Soldaten in BosnienHerzegowina und in Mazedonien stationieren wollen.
Wir Europäer können es uns nicht leisten, unsere militärischen Fähigkeiten über Jahrzehnte hinweg zur Kontrolle
überhitzter ethnischer und nationalistischer Umtriebe in
einem Teil Europas zu binden.
Ganz klar möchte ich sagen: Die Bundeswehr leistet im
Kosovo eine vorzügliche Arbeit.
({2})
Zugleich bleibt sie jedoch sträflich unterfinanziert.
Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU hat sich stets zu
ihrer Verantwortung für unsere Soldaten bekannt. Die
Bundeswehr stellt bei ihren schwierigen und gefährlichen
Einsätzen immer wieder ein großes Maß an Professionalität und Können unter Beweis.
({3})
Wir müssen aber auch darüber nachdenken, ob die Verweildauer im Interesse der Soldaten und ihrer Angehörigen verkürzt werden kann.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird der Verlängerung des Kosovo-Einsatzes der Bundeswehr zustimmen. Sie tut dies, da es zur Präsenz einer starken KFOR
derzeit keine Alternative gibt. Sie tut es aber auch verbunden mit der nochmaligen klaren Aufforderung an die
Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass diese Mission
eine politische Perspektive bekommt und in ein politisches europäisches Gesamtkonzept für die Region eingebettet wird.
({4})
Während dieser Rede erinnere ich mich an das Jahr
1987 oder 1988, als ich mit dem damaligen Vorsitzenden der Deutsch-Jugoslawischen Parlamentariergruppe,
Hans-Peter Repnik, nicht nur in Belgrad, sondern auch in
Pristina war. Jugoslawien war damals noch eine Einheit.
Die flehentlichen Hilferufe der Kosovaren wegen der kulturellen Unterdrückung in den Schulen und Hochschulen,
im Zeitungswesen und bei der Religionsausübung sowie
die Berichte über die Postenvorherrschaft der serbischen
Minderheit und die polizeilichen Maßnahmen, die von
Belgrad ausgeübt wurden, gaben damals schon Anlass zu
großer Sorge. Als wir anschließend in Belgrad die große
Arroganz der kommunistisch-nationalistisch geprägten
serbischen Gesprächspartner erlebten, nahm diese Besorgnis bei uns nur noch weiter zu.
Vielleicht haben wir im Westen die Menschen dort zu
lange sich selbst überlassen. Der Schaden und auch unsere
Kosten sind dadurch nicht geringer, sondern wahrscheinlich größer geworden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach
22-jähriger Tätigkeit im Deutschen Bundestag ist dies
heute meine letzte Rede im Parlament.
({5})
Ich habe übrigens in fünf Plenarsälen sprechen dürfen.
Diese 22 Jahre waren für mich eine faszinierende Zeit: die
Wiedervereinigung, die weitere europäische Integration,
die Rückkehr unserer östlichen Nachbarn zur Demokratie
sowie die völlig neue Rolle Russlands in Europa und im
Verhältnis zu den USA. Wir leben mit all unseren Nachbarn in Freundschaft und enger Partnerschaft.
In meiner außenpolitischen Arbeit waren für mich gerade die parlamentarischen Kontakte zu unseren östlichen
Nachbarn - bei allen Problemen angesichts unserer wechselvollen und schmerzlichen Geschichte - immer ein
großes Erlebnis. Über zehn Jahre war ich Vorsitzender der
Deutsch-Ungarischen Parlamentariergruppe. Ich bin
glücklich und dankbar, diese Aufgabe wahrgenommen zu
haben. So wünsche ich Ungarn, das ein Nachbarland Serbiens ist - eine große ungarische Minderheit lebt in Serbien -, dass es den Platz in Europa einnimmt, der ihm zusteht, und dass es ein wichtiger Bestandteil der
Europäischen Union werden möge, einer Union, in der
jede Nation ihre Identität wahren soll.
({6})
Erlauben Sie mir zum Schluss noch einige persönliche
Bemerkungen. Ich bin oft gefragt worden: Wie ist denn
wirklich der Kontakt zwischen den Abgeordneten, gerade
auch zwischen den Abgeordneten unterschiedlicher FrakReinhard Freiherr von Schorlemer
tionen? Ich erwähne dies, weil ich als ehemaliger Präsident der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft und
als deren jetziger Vizepräsident diese Gesellschaft immer
als einen Ort gesehen habe, an dem die menschlichen
Kontakte und Begegnungen zwischen den Kolleginnen
und Kollegen der einzelnen Fraktionen ungetrübt stattfinden können, menschliche Begegnungen, ohne die eine
parlamentarische Demokratie nicht leben kann und ohne
die wir für unsere Mitmenschen nicht verantwortungsbewusst wirken können.
({7})
Das war mir neben der eigentlichen parlamentarischen
Arbeit immer ein Anliegen, bei dem ich viel Freude, viel
Freundschaft und viel Unterstützung erfahren habe.
Vielen Dank.
({8})
Herr Kollege
von Schorlemer, ich möchte mich bei Ihnen auch im Namen des Hauses und aller Kolleginnen und Kollegen, die
Ihnen bereits applaudiert haben, für Ihre Arbeit, Ihre herzliche Kollegialität sowie die von Ihnen wahrgenommenen
führenden Aufgaben bedanken. Eine 22-jährige Zugehörigkeit zum Parlament erreicht kaum ein Parlamentarier. Allen Respekt! Ich glaube, es gibt bald auch noch
ein Fest der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft.
({0})
Auch der nächste Redner, Helmut Lippelt, dem ich
jetzt das Wort erteile, hält - glaube ich - seine letzte Rede.
({1})
- Das ist nicht sicher, sie ist aber so angekündigt worden.
Frau Präsidentin, da bin ich nicht so ganz sicher. Jedenfalls habe ich mich nicht darauf vorbereitet, dass dies
meine letzte Rede ist.
({0})
Ich habe auch nicht so oft in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft getafelt, um hier etwas dazu sagen zu
können, was für ein tolles Verhältnis wir haben.
Aber eines kann ich sagen: Ich freue mich über die beiden Reden, die ich zuvor gehört habe. Ich freue mich sehr,
dass wir in der Sache, also bezüglich dessen, was im Kosovo zu tun ist, übereinstimmen.
({1})
Ich weiß, dass eine Fraktion nicht zustimmen wird. Das
ist nun einmal so. Ich habe aber immer mehr den Eindruck, lieber Kollege, dass das, was Sie hier vertreten,
mehr eine Frage der Dogmatik und nicht des von Ihnen
empfundenen Pazifismus ist.
({2})
- Nein, es genügt aber, Sie im Ausschuss zu hören und
sich zu fragen, ob man sich immer wieder dieselben Argumente anhören muss.
Wir sind davon überzeugt, dass es zum Verbleib der
KFOR im Kosovo keine Alternative gibt. Wir sind auch
überzeugt davon, dass es richtig ist, dass wir den Einsatz
des deutschen Kontingents noch um ein weiteres Jahr verlängern. Wir wissen, dass die Lösung des Kosovo-Problems auf einem guten Weg ist. Im Gegensatz zu all den
so oft betonten Problemen, die dort nach wie vor bestehen
und die ich überhaupt nicht leugnen möchte - ich komme
vielleicht noch auf das eine oder andere -, muss man sagen: Politisch sind wir vorangekommen.
Unter dem letzten Kosovo-Beauftragten, unter
Haekkerup, ist eine Rahmenverfassung verabschiedet
worden. Entsprechend dieser Rahmenverfassung hat es
Wahlen gegeben, vor denen schließlich nach einigem Zögern auch die serbische Regierung ihren Leuten gesagt
hat: Macht mit! Ein großer Teil der Serben hat dann mitgemacht. Danach hat es die Bildung der provisorischen
Selbstverwaltungsinstitutionen inklusive der Wahl eines
Präsidenten und einer Regierung gegeben.
Ich möchte hier ganz klar sagen: Dies ist auch deshalb
so gut gelaufen, weil wir jetzt Herrn Steiner im Kosovo
haben. Dies darf man vielleicht einmal sagen - trotz aller
Hintergedanken, die man dabei auch haben mag.
({3})
Hier hat er aber wirklich ein Meisterstück abgelegt.
Zu dieser politischen Entwicklung und der Frage nach
den politischen Perspektiven muss man, Herr von
Schorlemer, noch eines sagen: Nicht nur die vorletzte
Deutsch-Jugoslawische Parlamentariergruppe, sondern
auch die jetzige, wieder neu gegründete Parlamentariergruppe ist über Belgrad nach Pristina gefahren, aber nicht
um zu sagen: Zu Belgrad gehört auch Pristina, sondern
um den Serben zu sagen: Wir fahren auch zu einem Parlament, das jetzt im Kosovo gewählt ist.
Ich glaube, wir haben uns gute Einblicke in das schwierige Verhältnis der beiden Völker zueinander verschafft.
Ich glaube, dies wird auch weiterhin schwierig bleiben.
Wir werden sehr daran arbeiten müssen, damit es eine
Perspektive für eine Versöhnung gibt.
Eines muss aber auch gesagt werden: Wenn man immer
über die anhaltenden Gewaltsamkeiten klagt, muss man
aber auch sehen, was der jetzige UNMIK-Chef vor dem
UN-Sicherheitsrat ausgeführt hat, dass nämlich die Zahl
der Morde von 500 in 1999 über 250 in 2000 und 156 in
2001 jetzt in der Zeit von Januar bis April 2002 auf 16 gesunken ist.
Ich habe in den Statistiken geblättert und festgestellt,
dass darin ja nicht zwischen ethnisch begründeten und
kriminellen Handlungen - bei all dem Schmuggel im
Grenzverkehr - unterschieden wird. Ich kann Ihnen sagen: Diese Zahlen unterscheiden sich nicht sehr von den
Zahlen der Morde und Gewalttaten dieser Art in den anderen Ländern Europas. Vielleicht hat das Kosovo in dieser Beziehung die Zahlen für andere Länder schon unterschritten.
Deshalb sprechen auch derzeit im Kosovo alle Seiten
über die Rückkehr der serbischen Flüchtlinge. Dazu
muss man wissen, dass es sich noch um 200 000 Flüchtlinge handelt. Selbst die Serben entwickeln Pläne zur
Rückkehr. Aber auch die nationalistische Partei von Herrn
Thaci hat eine Resolution verabschiedet, in der in idealistischen Worten vom Recht auf Heimat, Rückkehr und Eigentum die Rede ist. Man kann es sich zwar kaum vorstellen; aber es ist tatsächlich so.
Es ist wohl realistisch, wenn die UNMIK zunächst in
14 oder 15 Dörfern eine langsame Rückkehr versuchen
will. Ich meine, selbst das geht noch zu weit und wird
nicht funktionieren. Denn das persönliche Gefühl der Bedrohung lässt sich nicht durch Verweis auf Statistiken
überwinden. Da die Angelegenheit auf einem guten Weg
und an diesem Punkt angelangt ist, ist festzustellen, dass
die deutschen Innenminister aus diesem Grund der Situation in keiner Weise gewachsen sind.
({4})
Wie sieht denn die innenpolitische Lage aus? Es waren
200 000 Flüchtlinge aus dem Kosovo in Deutschland. Die
Innenminister haben 1999 nach dem Ende des KosovoKriegs dankenswerterweise beschlossen, dass sie nicht
zurückgeschickt werden. 85 000 Flüchtlinge sind längst
freiwillig zurückgekehrt. Worüber sprechen wir eigentlich? - Wir sprechen über 120 000 Flüchtlinge.
Ich meine, wenn der Weg der freiwilligen Rückkehr
und der Unterstützung all derer, die freiwillig zurückgehen wollen, weiterverfolgt würde, dann würde es nicht zu
einer Belastung des Kosovo kommen, zu der es derzeit
leicht kommen kann.
({5})
Deswegen appelliere ich dringend, keine Abschiebungen
durchzuführen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass
im Kosovo 50 Prozent der Menschen arbeitslos sind. Diejenigen, die Häuser besitzen, sind schließlich schon
zurückgekehrt. Das heißt, diejenigen, die abgeschoben
werden, haben dort weder Arbeit noch ein Haus oder ein
Stück Land, auf dem sie ein Haus bauen könnten. Wohin
werden sie denn abgeschoben? Statt einen Teil der Lösung
des Problems darzustellen - indem sie nämlich hier bleiben und ihren Sippen auch weiterhin Geld schicken -,
werden sie in massiver Weise zu einem Teil des Problems.
({6})
Das geschieht zudem zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Parteien im Kosovo entschlossen sind, erst einmal Sorge für die
Rückkehr der Flüchtlinge aus dem Nachbarland zu tragen.
Lassen Sie mich mit folgender Bemerkung schließen:
Als ich auf dem Landweg von Pristina nach Belgrad
zurückgefahren bin, bin ich über die Brücke gefahren, auf
der es damals durch einen Fehlschuss der NATO zu der
Zerstörung eines Flüchtlingstrecks gekommen ist. Die
Brücke war auf beiden Geländern über und über mit Blumen bedeckt. Ich meine, das macht sehr deutlich, dass es
einige Zeit dauert, bis sich die Wunden schließen. Wir
sollten nicht erneut Salz hineinstreuen. Die Wunden müssen sich schließen. Das dauert seine Zeit und dafür
braucht man auch Geduld. Deshalb halte ich das, was die
Bundesregierung in ihrem Antrag beabsichtigt, für richtig
und bitte darum, dass die Innenminister künftig auch etwas mehr nachdenken.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Walter Hirche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte den letzten Gedanken von
Herrn Lippelt aufgreifen, weil in Debatten auch auf den
Vorredner eingegangen werden sollte. Ich meine, dass der
Faktor Zeit in der Tat wichtig ist, insbesondere in Prozessen, in denen wir es mit der Überwindung von Vorurteilen, Klischees, historischen Zerrissenheiten und aktuellen
Konflikten zu tun haben. Von daher ist es sicherlich für
niemanden in diesem Hause oder draußen in der Öffentlichkeit eine Überraschung, dass wir darüber debattieren,
dass eine Verlängerung des Mandats angebracht ist.
Wenn wir einmal zurückblicken, dann ist es vielen in diesem Hause seinerzeit sicherlich nicht leicht gefallen, sich für
dieses Mandat zu entscheiden. Ich habe dafür nachträglich
Respekt. Ich glaube allerdings, dass die Entwicklung, die
wir im Kosovo erkennen können, deutlich macht: Es war
richtig, sich in dieser Weise zu entscheiden und mitzuhelfen,
dass dort zunächst einmal ein Stück mehr Befriedung möglich wird und dann parallel zu dem militärischen Einsatz ein
Aufbau ziviler Strukturen vor sich geht.
In der Medienberichterstattung der letzten Zeit ist es
um den Kosovo etwas still geworden. Wenn Sie aber die
Mediengesetzlichkeiten kennen - wir alle tun das -, dann
wissen wir: Wenn es irgendwo still geworden ist, dann
sind die Dinge meist besser geregelt, als wenn über eine
Region lautstark und überhitzt berichtet wird.
Von daher kann man sagen, dass zum Beispiel die Regierungsbildung im März zu spürbaren Fortschritten bei der
Selbstverwaltung im Kosovo geführt hat, dass die Wiederaufbaubemühungen der internationalen Gemeinschaft insbesondere im Rahmen des Stabilitätspaktes zu einer Verbesserung der Lebensumstände geführt haben, dass sich die
Infrastruktur verbessert hat, dass die Wiedereingliederung
zurückkehrender Flüchtlinge und erste ausländische Investitionen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft begründen.
Ich stehe nicht an, dem Koordinator Steiner den Dank meiner Fraktion auszusprechen. Dort ist vorzügliche Arbeit geleistet worden. Das sollte man festhalten.
({0})
Wir alle wissen gleichzeitig, dass der Kosovo noch
weit davon entfernt ist, ohne die Sicherheitskomponente
der NATO zu einer eigenen selbsttragenden Stabilität zu
finden. Insbesondere im Norden, an den Grenzen zu
Serbien und Montenegro, bestehen die ethnischen SpanDr. Helmut Lippelt
nungen fort. Während in vielen anderen Teilen des Amselfeldes der Wiederaufbau nach Kriegsende in Gang gekommen ist, gibt es in den so genannten Zonen des Vertrauens, in denen die wenigen übrig gebliebenen Albaner
im ansonsten von Serben dominierten Nordteil Mitrovicas wohnen, noch ganz erhebliche Konfliktpotenziale.
Aber auch in anderen Teilen des Kosovo ist die Stabilität
durch grenzüberschreitende serbische und albanische Extremisten bedroht.
Deshalb ist es unerlässlich, dass der durch UNMIK und
KFOR garantierte Sicherheitsrahmen so lange aufrechterhalten wird, bis die Voraussetzungen für ein friedliches
Zusammenleben einer multiethnischen Gesellschaft gegeben sind. Daher unterstützt die FDP-Bundestagsfraktion den von der Bundesregierung gestellten Antrag zur
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz um ein Jahr grundsätzlich und
stimmt diesem Antrag zu.
Es ist auch wichtig, dass die Bundeswehr - das sage
ich, weil hier ein anders lautender Antrag vorliegt - im
Rahmen der NATO ihre Aufgaben wahrnimmt. Wir haben
uns für Bündnispolitik in der NATO und für europäische
Integration entschieden. Wir sollten diesen Aspekt unserer Politik, die Einbettung in europäisches Handeln in allen Phasen, in denen Europa gefordert ist, durchhalten.
({1})
Nichtsdestoweniger geht es darum, zu überlegen, wie
der Einsatz deutscher Streitkräfte im Rahmen des Mandats flexibel gestaltet werden kann. Wenn die Amerikaner
eine weitere Reduzierung ihrer KFOR-Kräfte ankündigen, dann würden wir heute vom Bundesverteidigungsminister gerne wissen, was mit den 4 700 Mann, die die
Bundeswehr im Kosovo stellt, passiert, wie weit die Zahl
deutscher Streitkräfte im Rahmen einer allgemeinen Reduzierung reduziert wird. Das ist deswegen nötig, weil die
Bundeswehr durch die vielfältigen Einsatzaufgaben in der
Welt die Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht hat und bei
ihrem miserablen Ausrüstungsstandard jede Möglichkeit
zu Einsparungen nutzen sollte. Ich sage das an dieser
Stelle, weil wir höchsten Respekt vor der Leistung unserer Soldaten im Kosovo haben.
({2})
Es wird international anerkannt, wie professionell die
Bundeswehr - ich sage das bewusst - als Wehrpflichtarmee in diesem Gebiet wirkt. Wir würden es begrüßen,
Herr Verteidigungsminister, wenn Sie etwas zu den
Standzeiten der Soldatinnen und Soldaten sagen würden.
Wir denken, dass diese im Einsatzgebiet auf drei bis vier
Monate reduziert werden sollten, weil Studien belegen,
dass eine darüber hinausgehende Standzeit in Konfliktregionen zu erheblichen physischen und psychischen Beeinträchtigungen führen kann.
Wir möchten ferner - ich knüpfe an einen vorhin geäußerten Gedanken an -, dass die EU im Rahmen des
KFOR-Prozesses mehr Verantwortung übernimmt.
Lassen Sie mich noch einmal betonen, dass parallel zu
der militärischen die zivile Seite, also der Wiederaufbau
im Kosovo, bedacht werden muss. Das betrifft insbesondere die Bemühungen um den Aufbau funktionierender
staatlicher Institutionen in den Bereichen Justiz und Polizei, aber sicherlich auch - das ist eben schon angesprochen worden - im Bildungssektor: Schule, Kultur und anderes. Ich schließe mich den Vorrednern, die gesagt
haben: „Behandelt das Problem der Rückkehrer, der in
Deutschland verbliebenen Flüchtlinge sensibel!“ ausdrücklich an.
Wir müssen die noch verbleibende Zeit nutzen, um
über das Thema „zukünftiger Status des Kosovo“ zu reden. Dazu habe ich hier noch nicht so viel gehört. Wir
müssen darüber weiter diskutieren. Wenn es im Anschluss
an die Debatten der nächsten Zeit keine Lösung, keine
Regelung gibt, dann werden wir auf diesem Gebiet nicht
weiterkommen. Es muss ein Rahmen gefunden werden,
der den legitimen Ansprüchen der Kosovo-Albaner auf
Autonomie und Selbstbestimmung gerecht wird, ohne
neue Konfliktherde entstehen zu lassen.
Lassen Sie mich abschließend den Kollegen danken,
die vor mir gesprochen haben. Auch ich werde am Ende
dieser Legislaturperiode aus dem Deutschen Bundestag
ausscheiden, allerdings mit der Absicht, auf der Bundesratsbank als Folge des Ergebnisses einer Landtagswahl
Platz zu nehmen.
({3})
Ich kenne die Kollegen Lippelt und Schorlemer aus
Niedersachsen seit den 70er-Jahren. Herr Lippelt gehörte
früher einer anderen Partei an. Frau Titze-Stecher, er war
damals - ich halte das für eine durchaus bemerkenswerte
Laufbahn - in Ihren Reihen. Reinhard von Schorlemer bin
ich als Abgeordnetem des Niedersächsischen Landtags
begegnet.
Auch ich schätze - Frau Präsidentin, das darf ich vielleicht als letzten Satz noch sagen -, dass insbesondere wir
im Auswärtigen Ausschuss - ich war in einigen anderen
Ausschüssen; es ist nicht überall das Gleiche - versuchen,
in Ruhe Analysen unterschiedlicher Art zu erarbeiten und
anschließend Meinungen auszutauschen. Die internationalen Probleme sind manchmal so kompliziert und so
vielfältig, dass man es sich nicht so einfach machen darf,
wie es manchmal bei tagespolitischen Fragen in der Innenpolitik geschieht. Wir stimmen der Verlängerung des
Mandats zu und freuen uns, wenn das auch der Bundestag
mit einer breiten Mehrheit tut.
({4})
Auch Ihnen im
Namen des Hauses vielen Dank für das, was Sie selbst als
Zwischenetappe bezeichnet haben.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
({0})
Das ist ein hoher Leistungsdruck! - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte zu Beginn meiner Rede den drei
Kollegen, die vorher gesprochen haben, auch meinen
herzlichen Dank für ihre Debattenbeiträge, für den Streit,
für die Kameradschaft und für die Solidität ausdrücken.
Das ist wahrscheinlich das einzig Versöhnliche, was ich in
dieser Rede zu sagen habe. Es kommt aber von Herzen;
die Betreffenden wissen das.
({0})
Wir kehren mit dieser Debatte am Ende dieser Legislaturperiode
({1})
faktisch an ihren Anfang zurück. Am Anfang der Legislaturperiode sah die Situation im ehemaligen Jugoslawien
ohne Zweifel folgendermaßen aus: Terror, Nachfolgekriege,
Bürgerkriege und Verzweiflung. Damals fiel die Entscheidung, gegen die Bundesrepublik Jugoslawien militärisch
vorzugehen. Am Anfang stand der Bombenkrieg der NATO.
({2})
Am Anfang stand ein dreifacher Rechtsbruch: Bruch des
Völkerrechts, Bruch des Verfassungsrechts, Bruch des internationalen Rechts.
({3})
Am Anfang standen die zivilen Opfer. Haben wir
denn das Wort „Kollateralschäden“ vergessen? Am Anfang standen Vertreibungen verschiedener Art und Weise.
Gerade deswegen kann ich heute über die Vertreibung von
Serben und Roma aus dem Kosovo nicht schweigen.
({4})
Ich bitte die Bundesregierung sehr, insbesondere was die
Roma angeht, von einer Abschiebung in den Kosovo abzusehen. Die Roma sagen selber, dass das, was sie erlebt
haben, das größte Pogrom an ihnen seit dem Zweiten
Weltkrieg gewesen sei. Man darf die Roma also nicht
dorthin abschieben.
({5})
Am Anfang stand auch - das kann ich der Bundesregierung nicht ersparen; das weiß sie auch -: Die deutsche
Bevölkerung ist über den Krieg im Kosovo nach Strich
und Faden belogen worden, und zwar auch von Mitgliedern dieser Bundesregierung.
({6})
Wenn ich an den Anfang denke, dann stelle ich fest,
dass Rot-Grün für viele Hoffnung und Aufbruch war und
für das Versprechen stand, dass deutsche Außenpolitik
Friedenspolitik ist. Der Kosovo-Krieg war aus meiner
Sicht der Anfang vom Ende dieses Verständnisses. Mit
diesem Krieg ist man auf die schiefe Bahn geraten. Auf
diese haben und werden wir uns nicht zerren lassen.
({7})
Dieser Krieg war der Sündenfall der rot-grünen Regierung. Das ist nicht nur meine Auffassung. Ich möchte
hier gern jemanden, der damals noch in der Regierung saß
und Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Partei
Deutschlands war - das ist noch nicht so lange her -, zu
Wort kommen lassen, indem ich ihn zitiere. In seinem
neuen, sehr lesenswerten Buch schreibt Oskar Lafontaine:
Der außenpolitische Sündenfall der Regierung
Schröder war der Kosovo-Krieg, bei dem auch die
NATO auf das Recht des Stärkeren setzte. Es war ein
historischer Fehler, die USA darin zu bestärken, internationales Recht zu missachten.
Das schreibt Ihr ehemaliger Parteivorsitzender und Finanzminister in seinem neuen Buch.
({8})
Zumindest darüber sollten Sie nachdenken und damit
sollten Sie sich auseinander setzen.
Nun sagt die Bundesregierung, dass der Erfolg ihr
Recht gebe. Kein Zweifel, die Gewalt im Kosovo ist
zurückgegangen. Es gibt einen gewissen Zuwachs an
Stabilität. Das Leben verläuft in halbwegs gesicherten
Bahnen. Das will ich überhaupt nicht bestreiten. Aber die
Philosophie, die dem zugrunde liegt, ist, dass der Zweck
bzw. der Erfolg die Mittel heiligt. Das kann nicht funktionieren.
({9})
Auch der beste Zweck, wenn es ihn denn gegeben haben
sollte - ich bestreite das ja -, heiligt nicht die Mittel. Unheilige Mittel zerstören den Zweck selber. Lassen Sie
mich das etwas volkstümlich formulieren: Auf den Ruinen eines Bordells kann man eben keine Kirche bauen.
Das erleben wir immer wieder.
({10})
Deswegen brauchen wir politische Lösungen. Wir müssen endlich über den Status des Kosovo debattieren und
darüber diskutieren, ob es nicht besser ist - das schlagen
wir vor -, wenn sich die Bundesregierung um das Zustandekommen einer wirklichen UNO-Mission bemüht, an
der die damals Krieg führenden Staaten nicht teilnehmen
sollten. Darum hat sich die Bundesregierung nie bemüht.
Dieser Frage ist sie immer aus dem Weg gegangen.
({11})
Dieser Weg wäre vielleicht eine Alternative, um Sicherheit, Stabilität und die Einhaltung des Völkerrechts zu
gewährleisten.
({12})
Das alles konnte ich Ihnen nicht ersparen. Sie haben ja
erwartet, dass ich das vortrage. Ich wollte Ihre Erwartungen nicht enttäuschen.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesverteidigungsminister, Rudolf
Scharping.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Drei Jahre
nach Beginn des internationalen Engagements im Kosovo
kann man feststellen: Die militärische Mission der NATO
und die zivile Mission der Vereinten Nationen haben gemeinsam mit der OSZE und der Europäischen Union viel
erreicht.
({0})
Sie haben gemeinsam eine weitere Stabilisierung der
Sicherheitslage erreicht und die Rückkehr eines Großteils
der Flüchtlinge ermöglicht. Sie haben gemeinsam den
Wiederaufbau eingeleitet und die Fundamente für ein normales öffentliches und wirtschaftliches Leben gelegt. Sie
haben nicht zuletzt gemeinsam die staatsrechtlichen
Grundlagen für ein demokratisch orientiertes Kosovo geschaffen.
Zwei Entwicklungen der vergangenen zwölf Monate
sind besonders bemerkenswert: die allgemeinen Wahlen
im Kosovo vom 17. November 2001 und das in Belgrad
verabschiedete Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem
Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen. Wir
alle wissen, die Wahlen verliefen ordnungsgemäß und
friedlich. Rund 1,2 Millionen Wähler, darunter circa
180 000 serbischer Abstammung, haben sich registrieren
lassen und haben am demokratischen Prozess und an der
Gestaltung ihrer Zukunft teilgenommen.
Am 4. März, leider ziemlich spät, haben sich die Parteien auf eine Übergangsregierung verständigt. Das ist
aber, selbst wenn es spät kam, ein substanzielles Zeichen
von Autonomie auf der Grundlage der Beschlüsse des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.
({1})
Ich erwähne diesen Umstand, weil es auch für die Zukunft
wichtig sein wird, dass insbesondere die zivile Mission
der Vereinten Nationen diese neue Regierung nicht allein
lässt, sondern engagiert, geduldig und mit Fingerspitzengefühl sowie mithilfe der so genannten Principal International Officers sich weiter engagiert. Nur auf diese Weise
kann sichergestellt werden, dass sich Hoffnungen verstärken, die Erwartungen der Bevölkerung erfüllt werden und
die guten Erfahrungen ausgebaut werden können, die das
Kosovo mit den allgemeinen Wahlen und mit der Entwicklung, die sich insgesamt aus heutiger Sicht als positiv darstellt, bisher gemacht hat.
Im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Zusammenarbeit mit dem VN-Kriegsverbrechertribunal will ich darauf aufmerksam machen, dass sechs der 23 noch gesuchten Angeklagten auf das Belgrader Ultimatum, das ja in
diesem Gesetz steckt, reagiert und sich gestellt haben. Ein
weiterer ist zwischenzeitlich verhaftet worden.
Wir sollten uns vor der Illusion hüten, dass es damit getan sei. Der Prozess der Auseinandersetzung auch mit der
eigenen Vergangenheit muss in der gesamten Region vorangebracht werden.
({2})
Ohne vollständige und schonungslose Aufdeckung der
Wahrheit wird nämlich einer Legendenbildung und revisionistischen Tendenzen Vorschub geleistet, wichtiger
noch, der Aussöhnungsprozess substanziell erschwert. Ich
sage das vor dem Hintergrund, dass auch heute noch die
Hälfte der serbischen Bevölkerung, wenn man Umfragen
trauen darf, beispielsweise das Massaker von Srebrenica
leugnet und viele auch das Gefühl haben, dass das serbische Volk in Den Haag auf der Anklagebank sitze, nicht
aber Milosevic für Kriegsverbrechen, für die er verantwortlich gemacht wird.
In diesem Rahmen vollzieht sich das Engagement der
internationalen Staatengemeinschaft auch mit militärischen Fähigkeiten. Zurzeit sind 37 000 Soldaten aus
38 Nationen im Kosovo engagiert. Wir wissen um die besondere Rolle der Bundeswehr und der Bundesrepublik
Deutschland. 4 700 Soldatinnen und Soldaten sind dort
eingesetzt, übrigens gemeinsam mit Soldaten aus sieben
weiteren Nationen im deutschen Verantwortungsbereich,
Soldaten aus Aserbaidschan, Bulgarien, Georgien, Österreich, der Schweiz, der Slowakei und der Türkei. Wir machen damit auch im Kosovo deutlich, dass wir an multinationalem Handeln und an enger Integration in Europa
und mit Partnernationen außerhalb der NATO oder der
Europäischen Union interessiert sind.
({3})
Es ist hier bereits ganz zu Recht gesagt worden, dass
unsere Soldatinnen und Soldaten persönliche Einschränkungen in Kauf nehmen, eine unverzichtbare Aufgabe
leisten und im Übrigen auch Ansehen für unser Land erwerben.
({4})
Unsere Soldatinnen und Soldaten sind hoch angesehen.
Das will ich hier ausdrücklich erwähnen und mit einem
Dank verbinden, in den ich auch die zivilen Kräfte sowie
die Nichtregierungsorganisationen und alle anderen
einbeziehe.
({5})
Meine Damen und Herren, Sie alle wissen, dass die
Bundeswehr zurzeit sechs größere internationale Einsätze
zu bewältigen hat. Das bedeutet aber auch, dass wir Raum
brauchen, nicht etwa für zusätzliches Engagement, sondern für die Entlastung der Angehörigen der Bundeswehr
und übrigens auch ihrer Familien.
In diesen Zusammenhang gehört, dass das Bündnis
gestern beschlossen hat, sich bei einer weiteren Entspannung der Sicherheitslage nicht nur einer neuen Struktur
von KFOR zuzuwenden, nicht nur mobile Reserven zur
Verfügung zu stellen, sondern ebenso wie in Bosnien den
Umfang des Engagements zu reduzieren. Genaue Zahlen
dazu, Herr Kollege Hirche und andere, wird man nennen
können, wenn die Abstimmung zwischen allen Truppen
stellenden Nationen abgeschlossen ist. Man kann nicht
Multinationalität einfordern und praktizieren und dann
isolierte eigene Entscheidungen treffen wollen.
({6})
Ich glaube, es ist dennoch realistisch, davon auszugehen, dass der Gesamtumfang des Engagements der Bundeswehr in Bosnien, im Kosovo und Mazedonien um etwa
1 000 Mann reduziert werden kann. Man kann das noch
nicht präzise sagen; aber in dieser Größenordnung wird es
liegen.
Dennoch müssen wir die Fähigkeit aufrecht erhalten,
unseren Teil der Aufgabe bei der Gewährleistung von Sicherheit zu erfüllen. Das wird leichter werden, je stärker
internationale Organisationen ihren Teil der Aufgabe,
nämlich die zivilen Aufgaben, eigenverantwortlich übernehmen.
Ich will dafür ein Beispiel nennen: die Polizei. Es sind
immerhin 4 500 Beamte - ein großer Teil davon aus
Deutschland - im Kosovo im Einsatz. Sie werden von
dem neu aufgebauten Kosovo Police Service unterstützt.
Das ist ein Beispiel dafür, dass das, was in der Vergangenheit zum Teil mithilfe von Soldaten geleistet wurde,
jetzt zunehmend von zivilen Organisationen übernommen
wird.
({7})
Meine Damen und Herren, Illusionen sind nicht angebracht. Es ist trotz enormer Fortschritte noch sehr viel zu
tun, damit innere und äußere Sicherheit gewährleistet,
selbsttragende Strukturen errichtet und übrigens auch das
Problem der Flüchtlingsrückkehr verantwortlich gelöst
werden können. Die Grundlage dafür ist mit der Resolution 1244 des Sicherheitsrates geschaffen.
Unbeschadet dessen, was zum Beispiel der Kollege
Lippelt gesagt hat, gibt es auch immer noch eine latente
Gewaltbereitschaft zwischen den Ethnien. Sie wird leider
durch eine doch beachtlich hohe Kriminalität - Drogenhandel, organisierte Kriminalität, Schmuggel und vieles
andere - ergänzt. Das macht deutlich, dass die Präsenz
von KFOR im Kosovo unverzichtbar bleibt. Im Zusammenhang und im Auftrag der Vereinten Nationen ist das
nicht zuletzt eine Erfolgsbedingung für den Stabilitätspakt.
({8})
Die Verlängerung des KFOR-Mandats für die Bundeswehr ist eine absolut notwendige politische Entscheidung.
Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich die sich abzeichnende sehr breite Mehrheit in diesem Hause und
dankt Ihnen im Namen der Soldatinnen und Soldaten, die
wir im Kosovo und andernorts einsetzen, für die Unterstützung.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ursula Lietz.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich denke, wir alle haben die Bilder von Flucht,
von Vertreibung, von umherirrenden Menschen mit ihren
Kindern aus dem Frühjahr 1999 noch vor Augen. Menschen wurden schlimmer als Tiere behandelt, nur weil sie
einer anderen ethnischen Gruppe angehörten. Diese Zeiten sind - gottlob! - vorbei. Im Verbund mit unseren
Freunden und Aliierten in der NATO haben wir es im Kosovo nicht zugelassen, dass ein so barbarischer Bürgerkrieg wie in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina zu Beginn und in der Mitte der 90er-Jahre stattfand.
({0})
Auf der Grundlage der Resolution 1244 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und des MilitärischTechnischen Abkommens zwischen der KFOR und den
Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien haben wir in diesem Hause am
11. Juni 1999 zum ersten Mal die Entsendung von deutschen Soldaten in das Kosovo zur Friedenssicherung beschlossen. Diese Mission geht nun in ihr viertes Jahr. Zurzeit sind 4 661 Bundeswehrsoldaten im Kosovo stationiert,
darunter - ich denke, auch das sollte man hier einmal erwähnen - 98 Frauen. Es waren schon einmal 8 500 Soldaten. Das zeigt sehr deutlich, dass dort unten etwas passiert
ist, was sich zugunsten des Landes ausgewirkt hat.
Zugunsten des Landes wird es sich auch auswirken,
dass Slobodan Milosevic als Gefangener in Den Haag
sitzt. Ich glaube fest daran, dass weitere Verantwortliche
für Krieg und Vertreibung dorthin überstellt werden.
Der Staatenbund Serbien und Montenegro ist an die
Stelle der Bundesrepublik Jugoslawien getreten. Das serbische Volk hat die Chance, in den Kreis der freien Völker Europas einzutreten. Auch wenn wir noch lange nicht
an diesem Punkt angekommen sind, unterstützen wir dies
nachdrücklich. Nur wenn es dem größten Volk auf dem
Balkan, nämlich den Serben, dauerhaft besser geht und
gleichzeitig ein Ausgleich mit den Albanern hergestellt
wird, kann auch diese Region als Ganze befriedet werden.
Demilitarisierung und die Rückkehr zu zivilen Strukturen sind unser Hauptziel. Das Problem, wie man den
Hass zwischen den Serben und Albanern in den Griff bekommen und letztendlich abbauen kann, haben wir noch
lange nicht gelöst. Das ist vielleicht sogar ein Generationenproblem. Vor diesem Hintergrund sollten wir alle uns
ehrlich eingestehen, dass unsere Mission da unten noch
lange nicht zu Ende ist. Wir sollten das auch sehr viel ehrlicher gegenüber den Soldaten und Soldatinnen tun, die da
unten stationiert sind. Die Einheiten der Nationen, die für
den Friedensdienst gebraucht werden, können wir zum
jetzigen Zeitpunkt nicht abziehen, weil neue Kriege entstehen würden, die niemand, weder Deutschland noch
Europa noch die Vereinigten Staaten von Amerika, verantworten kann. Das heißt, wir müssen das Mandat für die
KFOR-Mission erneut verlängern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bau des Hauses
der Freiheit, das gerade in Europa entsteht, ist es wert,
weiterhin militärisch unterstützt zu werden. Das Fundament für dieses Haus, Herr Verteidigungsminister - dazu
haben Sie eben überhaupt nichts gesagt -, muss allerdings
auch durch eine solide Finanzierung gesichert werden.
Wenn ich sehe, dass die insgesamt 2,3 Milliarden Euro,
die wir für alle Auslandseinsätze benötigen, bis heute
noch nicht gesichert sind, und wenn ich höre, was für ein
Streit zwischen Ihnen und dem Finanzminister bei den
Haushaltsvorbereitungen entstanden ist, dann kann ich
dazu nur sagen, dass mir das ganz große Sorgen hinsichtlich der Zukunft unserer Bundeswehr macht.
({1})
Unsere Soldaten haben da unten eine schwierige Aufgabe; sie erfüllen sie gut. Ich möchte mich dem herzlichen
Dank, der hier schon mehrfach ausgesprochen wurde,
ausdrücklich anschließen.
({2})
Ich möchte hier aber auch einmal erwähnen, dass 20 Prozent der Soldaten, die dort unten im Moment aktiv für den
Frieden arbeiten freiwillig länger Wehrdienst Leistende
sind, die ihren Kameraden dorthin freiwillig gefolgt sind.
Auch das bedarf einmal eines besonderen Lobes.
({3})
Die Bundeswehr hat sich dort unten
({4})
als ein Stabilitätsfaktor erwiesen. Ich habe das in vielen
Besuchen im Kosovo feststellen können, ob im Gespräch
mit Serben oder Albanern, mit Christen oder Moslems.
Angesichts der Tatsache, dass man Menschen hilft, damit
langsam, aber sicher wieder der Friede einkehrt, weiß
man, dass unsere Entscheidung damals richtig war. Es
geht darum, den Menschen in ihrer Heimat ein Stück
Hoffnung auf ein zukünftiges Zusammenleben in Frieden
zu geben. Ich gebe all denen Recht, die gesagt haben: Wir
müssen uns genau überlegen, wie dieses Kosovo in Zukunft auszusehen hat und welchen Status es bekommen
soll.
Lassen Sie mich auch erwähnen, dass unsere deutsche
Bundeswehr, weil sie eine Armee aus Wehrpflichtigen
ist, dort unten ein besonderes Ansehen hat. Die Soldaten
haben nämlich, bevor sie zur Bundeswehr gekommen
sind, zum Teil zivile Berufe ausgeübt; sie waren Dachdecker oder Installateure, also Handwerker, die jetzt
beim Wiederaufbau aktiv Hand anlegen und mithelfen.
Das können Berufsarmeen nicht leisten; deshalb beteiligen sich die anderen dort stationierten Armeen nicht an
diesen Aufgaben.
Es muss jedoch auch an dieser Stelle deutlich gesagt
werden: Die Leistungen im Kosovo erbringen die Soldaten der Bundeswehr nicht wegen, sondern trotz der Politik dieser Bundesregierung.
({5})
Hier zu Hause feiert der Verteidigungsminister die Bundeswehrreform als eine Jahrhundertreform. Herr Verteidigungsminister, die Soldaten im In- und Ausland nehmen
Ihre Aussagen zu diesem Thema nicht mehr ernst.
({6})
Vor drei Wochen war ich mit einer Delegation in Afghanistan. Wir haben von Brigadegeneral von Butler sehr
eindringlich nahe gelegt bekommen, dass die Politik den
Soldaten gegenüber ehrlicher sein muss, nicht nur hinsichtlich der Gesamteinsatzzeiten, sondern auch in vielen
anderen Beziehungen. Er hat sehr deutlich gesagt - darüber habe ich mich besonders gefreut -, dass er die sechsmonatige Stehzeit für Soldaten für falsch hält und dringend dazu rät, endlich zu Beratungen zu kommen, die eine
flexible Einsatzzeit als Resultat haben.
({7})
Das hat mich deswegen besonders gefreut, weil ausgerechnet Frau Beer die entsprechende Frage gestellt hat
und eine Antwort bekommen hat, die sie so eigentlich
nicht erwartet hätte. Sie hat dann in Radio Andernach,
dem dortigen Soldatensender, gesagt, sie sei schon immer
für eine flexible Einsatzzeit gewesen. Ich denke, wir sollten sie bei einem unserer nächsten Anträge zu diesem
Thema beim Wort nehmen.
({8})
Frau Kollegin,
denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit jetzt vorbei ist.
({0})
Herr Verteidigungsminister, Sie, der Finanzminister und letztendlich auch der Bundeskanzler haben die Verantwortung für diesen Einsatz.
Sie haben diese Verantwortung nicht wahrgenommen. Sie
wird Ihnen demnächst vom deutschen Volke per Wahl entzogen.
({0})
Wir stimmen der Verlängerung des KFOR-Einsatzes
zu.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesaußenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten
Sie mir einige kurze Bemerkungen anlässlich der Verlängerung des KFOR-Mandats.
Das KFOR-Mandat ist die Voraussetzung für den zivilen Wiederaufbau. Der Kosovo insgesamt hat die entscheidende Schlüsselrolle bei der Orientierung der gesamten
Region des westlichen Balkans auf das Europa der Integration hin. Es ist demnach für Frieden und Stabilität unerlässlich. Insofern möchte ich mich bei allen Kolleginnen und
Kollegen bedanken, dass sie diesem Mandat - hier greife
ich der Abstimmung vor, ohne deswegen irgendetwas zu
präjudizieren - zustimmen werden. Es ist sehr wichtig für
Frieden und Stabilität in der gesamten Region.
({0})
All diejenigen, die meinen, wir könnten die Verlängerung dieses Mandats ablehnen, müssen sich über die Konsequenzen im Klaren sein. In der Tat, es geht hier nicht um
einen Sündenfall durch den Einsatz der NATO. Dieser
Sündenfall, wenn es ihn gegeben haben sollte, hat in den
Jahren 1991/92 stattgefunden, indem nämlich zu spät eingegriffen wurde und es zu furchtbaren Menschenrechtsverletzungen kam.
({1})
Außerdem ist durch den Einsatz eine positive Entwicklung möglich, indem es keinen Rückfall in einen
neuen Nationalismus gibt, sondern diese europäische Region den Weg nach Brüssel gehen kann, und zwar auf der
Grundlage von Frieden und Demokratie.
({2})
Der Kosovo hat - ich habe es gerade angesprochen eine zentrale Bedeutung. Er ist gewissermaßen der archimedische Punkt für die Gesamtneuordnung dieser Region. Der Ansatz, den wir dort gewählt haben, ist, eine Renationalisierung zu vermeiden und diese Region Schritt
für Schritt an das Europa der Integration heranzuführen.
Es hat sich dort auch gezeigt, gerade im Zusammenhang
mit dem Kosovo und später mit Mazedonien, dass das
Verhältnis von NATO und Europäischer Union auf eine
völlig neue Grundlage gestellt wurde. Ich denke, dies ist
ebenfalls über den Tag hinaus von zentraler Bedeutung.
Alles in allem entscheiden wir uns mit der heutigen
Verlängerung des Mandats dafür, den Beitrag, den wir in
militärischer Hinsicht geleistet haben, fortzusetzen. Dieser Beitrag in militärischer Hinsicht ist aber lediglich die
Voraussetzung für den zivilen Beitrag.
({3})
Ich möchte allen Soldatinnen und Soldaten, aber auch
den zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr sowie den Nichtregierungsorganisationen recht
herzlich danken, die dort eine unverzichtbare Aufbauarbeit leisten.
({4})
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache
14/9248 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortset-
zung der deutschen Beteiligung an der internationalen Si-
cherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt,
dem Antrag auf Drucksache 14/8991 zuzustimmen. Es ist
namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte alle Kolle-
ginnen und Kollegen, bei der Stimmabgabe sorgfältig da-
rauf zu achten, dass die Stimmkarten, die sie verwenden,
ihren Namen tragen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen be-
setzt? - Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hause anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Nein. Dann schließe ich
jetzt die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Die Kollegin Amke Dietert-Scheuer hat eine persönliche
Erklärung zur Abstimmung abgegeben, die wir zu Protokoll
nehmen.2) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Wir setzen die Abstimmungen fort. Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
auf Drucksache 14/6194 zu dem Antrag der Fraktion der
PDS mit dem Titel „Bundeswehreinsätze beenden - Politische Lösungen auf dem Balkan durch UNO und OSZE
durchsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/5964 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, von CDU/CSU und
FDP gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 sowie Zusatzpunkt 17
auf:
20. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulf Fink,
Wolfgang Lohmann ({0}), Dr. Wolf
Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Prävention umfassend stärken
- Drucksache 14/9085 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 17 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Stärkung von Prävention und Gesundheitsförderung
- Drucksache 14/9224 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
1) Seite 24063 C
2) Anlage 3
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die Gesundheitsreform
wird eine der ganz wichtigen innenpolitischen Reformen
der nächsten Legislaturperiode sein. Leider sind die vergangenen vier Jahre nicht genutzt worden,
({0})
um sich diesem großen Thema wirklich intensiv und zukunftsgerichtet zu widmen.
Aus diesem Grund legt meine Fraktion heute einen Antrag vor mit dem Titel „Prävention umfassend stärken“.
Wir alle wissen: Wenn nichts Entscheidendes geschieht,
werden die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung in den nächsten Jahren steigen. Im Jahre 2030
wird der Beitragssatz nach heutiger Schätzung bei 20 bis
25 Prozent liegen; heute beträgt er 14 Prozent. Dies ist
eine wirklich dramatische Entwicklung. Deshalb ist es
von allergrößter Bedeutung, dass man sich rechtzeitig mit
dem Thema Gesundheitsreform beschäftigt.
Bisher haben wir immer gesagt, dass die Zahl und die
Schwere der Erkrankungen im Wesentlichen vorgegeben
sind, und haben uns mehr oder weniger damit beschäftigt,
wie wir die Kosten der Behandlung in den Griff bekommen. Ein Grundfehler des bundesdeutschen Gesundheitswesens ist es, im Wesentlichen auf die Heilung oder Linderung von Krankheiten orientiert zu sein, während das
Thema, dass Krankheiten gar nicht oder zumindest nicht
so schwer entstehen - dies ist mit dem Begriff „Prävention“ gemeint -, einen zu geringen Stellenwert hat. Mit
unserem Antrag wollen wir erreichen, dass die Prävention
im deutschen Gesundheitswesen endlich den Stellenwert
bekommt, den sie verdient.
({1})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Herr Kollege Fink, können
Sie mir einmal sagen, warum Sie im Rahmen des Beitragsentlastungsgesetzes den § 20 SGB V, gemäß dem die
Prävention vorgeschrieben war, zu einer Restgröße zusammenschrumpfen ließen?
({0})
Herr Kollege Kirschner, wir
können uns über den § 20 sicherlich vertiefter unterhalten.
({0})
Auch ich frage mich, ob das, was an dieser Stelle geschehen ist, so weise gewesen ist. Ich teile die Meinung: Das
hätte man auch anders machen können.
({1})
Aber Sie stimmen doch mit mir darin überein, dass der
§ 20 in keiner Weise dazu geeignet ist, das große Thema
Prävention auch nur annähernd zu lösen.
({2})
Dieser Paragraph ist ein sehr kleiner Teil im Verhältnis zu
dieser großen Aufgabe. Lieber Kollege Kirschner, nach
dem üblichen parteipolitischen Spiel könnte ich auf Ihre
Frage entgegnen: Wer hat denn den § 20 überhaupt eingeführt?
({3})
Dies war die CDU/CSU-Fraktion. Als Sie mit Schmidt
und Brandt die Regierung gestellt haben, gab es gar keinen § 20. Wir haben den erst eingeführt.
({4})
Herr Kollege
Fink, es besteht noch ein Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Selbstverständlich gerne.
({0})
Herr Kollege, Stichwort § 20: Haben nicht auch Sie es für
richtig gehalten, dass dieser seinerzeit von uns eingeführte Paragraph um gewisse Auswüchse, zum Beispiel
Bauchtanzkurse, Taucherbrille und Partnerschaftsmassage, bereinigt wurde?
({0})
Herr Kollege Lohmann, man
muss einräumen, dass mit dem § 20 nicht nur Gutes, sondern zum Teil auch Dinge gemacht worden sind, die nicht
im Mittelpunkt der Präventionsaufgabe stehen.
Lassen Sie mich nun zum wirklich großen Thema der
Zukunft zurückkommen. In Deutschland gibt es pro Jahr
allein 300 000 Herzinfarktfälle. Rund 6 Milliarden DM
geben wir jährlich dafür aus, um mit den Folgen fertig zu
werden.
Wir haben eine sehr sorgfältige Studie des RobertKoch-Instituts vorliegen. Wenn nichts Entscheidendes geschieht, wird in den nächsten 30 Jahren die Zahl der
Herzinfarkte in Deutschland um 120 000 bis 150 000 ansteigen. Das bedeutet - unabhängig von den menschlichen Schicksalen -, dass die Kosten von 6 auf 9 Milliarden DM ansteigen. Dabei wissen wir, dass die Zahl der
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Herzinfarkte etwa halbiert werden könnte, wenn wir für
mehr Bewegung und gesunde Ernährung sorgen und den
Alkohol- und Nikotinmissbrauch eindämmen. Das ist
auch nicht unmöglich.
In Finnland wurde eine umfassend angelegte Präventionskampagne zur Senkung der Sterblichkeitsrate bei
Herz-Kreislauf-Erkrankungen angelegt. Finnland belegte
vor dieser Kampagne einen der letzten Plätze in der internationalen Skala. Inzwischen hat es einen der vorderen
Plätze erreicht. Das zeigt doch, dass sehr viel möglich ist,
wenn man sich mit der Aufgabe richtig beschäftigt.
Ähnliches haben wir auch in Deutschland erlebt, als
wir die Aidspräventionskampagne starteten. Auf diesem
Feld haben wir sehr viel erreicht. Wäre diese Kampagne
nicht durchgeführt worden, sähe es in Europa vielleicht
genauso schlimm aus wie in Afrika. Das zeigt, dass die
allgemeine Auffassung - Prävention ist ja etwas Gutes,
aber die Leute werden es ja doch nicht machen, lassen wir
es also, es hat keinen Sinn, das ist nur was für Sonntagsreden - falsch ist.
Ich will an dieser Stelle mit allem Nachdruck sagen: Es
ist gegenüber der Zukunft der Bundesrepublik Deutschland, unserem Gesundheitswesen und den Menschen unverantwortlich, die Prävention klein zu schreiben; stattdessen ist es notwendig, die Prävention ernst zu nehmen
und zu einer zentralen Aufgabe zu machen.
({0})
Es gibt einiges, was man auf diesem Feld tun kann. Wir
haben uns mit unseren Reformkommissionen, denen der
CSU und der CDU, besonders darum gekümmert. Wir haben beispielsweise ein Gutachten bei Frau Dr. Walter und
Professor Schwartz in Auftrag gegeben. Das ist eines der
umfassenden, grundlegenden Werke für die Prävention.
Es freut mich sehr, dass, wenngleich ohne Quellenangabe,
die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherungen ihre Stellungnahme zur Prävention mit einem
Schaubild aus diesem Gutachten, das für die „Kommission Humane Dienste“ der Christlich Demokratischen
Union erarbeitet worden ist, beginnen. Das finde ich gut.
Ich finde es auch gut, dass der Runde Tisch, der sonst
nicht so viel zustande bekommen hat, beeinflusst und beflügelt durch die Vorschläge, die wir zum Thema Prävention gemacht haben, wenigstens an dieser Stelle einige
Themen und positive Gemeinsamkeiten zustande bekommen hat. Aber was muss in der nächsten Legislaturperiode
gemacht werden?
Wir brauchen ein umfassendes Aktionsprogramm,
das sich nicht auf die gesetzliche Krankenversicherung
beschränkt. Es wäre ein grundlegender Fehler, wenn man
die Prävention lediglich einem Bereich, nämlich den
durch Beiträge finanzierten gesetzlichen Krankenversicherungssystemen, überantworten würde. Die gesetzliche
Krankenversicherung spielt dabei eine wichtige Rolle,
aber sie allein kann das Problem nicht lösen. Es ist notwendig, dass Bund, Länder, Gemeinden und die Sozialversicherungseinrichtungen an der Prävention mitarbeiten, denn sonst wird es nichts werden.
In den Studien steht, dass für die Verlängerung der Lebenserwartung vielleicht zu 30 bis 50 Prozent der Medizinbetrieb verantwortlich sei, aber zu 70 bis 50 Prozent sei
eben nicht der Medizinbetrieb verantwortlich; stattdessen
spielten das Bildungs- und Verkehrssystem, die Ernährung und andere Dinge dabei eine ganz wichtige Rolle.
Deshalb ist es unabdingbar notwendig, das Aktionsprogramm nicht auf die gesetzliche Krankenversicherung zu
beschränken, sondern die anderen Beteiligten mit ins
Boot zu nehmen.
({1})
Das kann daher auch nicht nur eine Aufgabe des Bundesgesundheitsministers sein. Es muss eine Aufgabe des
Bundeskanzlers sein, er muss sich dieses Thema zu Eigen
machen und dafür sorgen, dass die Ministerpräsidenten
der Länder und alle Beteiligten die Prävention zu einem
zentralen Thema der deutschen Politik machen.
({2})
Dazu gehört auch Folgendes: Wir wissen doch, dass auf
den öffentlichen Gesundheitsdienst, der eine wesentliche
Rolle spielen und eine der großen Säulen des deutschen
Gesundheitssystems sein sollte, mittlerweile nicht einmal
mehr 1 Prozent der Gesundheitsausgaben in Deutschland
entfällt. Das ist nicht in Ordnung und muss geändert werden. Man darf nicht nur auf die beitragsfinanzierten Systeme schauen; auch die steuerfinanzierten Systeme müssen ihren Beitrag dazu leisten.
({3})
Es gibt einen zweiten Punkt. Es ist selbstverständlich
richtig, dass der Bund die Dinge tun muss, die in seiner
Verantwortung liegen. Er ist für die gesetzliche Krankenversicherung, für das Bundessozialhilfegesetz, für
die Unfallversicherung und für den Arbeitsschutz verantwortlich, um nur einige Beispiele zu nennen. Es ist
dringend an der Zeit für ein Gesetz, das die verschiedenen, völlig unabgestimmten Begriffe der Prävention, die
überall in diesen Bereichen auftauchen, einmal harmonisiert und dafür sorgt, dass die Systeme, für die der
Bund verantwortlich zeichnet, wirklich gut zusammenarbeiten.
Wir haben lange gebraucht, bis wir ein Rehabilitationsgesetz erreicht haben. Ich finde, wir sollten die nächste
Legislaturperiode nutzen, um ein Präventionsgesetz auf
die Beine zu stellen, das dafür sorgt, dass die völlig unabgestimmten Begriffe und Verantwortlichkeiten besser koordiniert werden.
Dritter Punkt. Selbstverständlich muss die gesetzliche Krankenversicherung in diesem Zusammenhang einen ganz wesentlichen Beitrag leisten. Da fragt man sich
nun sehr, ob man beim Thema Prävention immer nur auf
Verhältnisprävention setzen sollte, also sagt, wir müssen
die Verhältnisse so ändern, dass die Dinge gut laufen,
oder ob man auch auf Verhaltensprävention setzen
sollte, dass man sich also dafür einsetzt, dass die Menschen gesünder und bewusster mit ihrer Gesundheit umgehen.
Das ist der grundlegende Fehler Ihrer Gesundheitspolitik, den ich Ihnen vorwerfe: Sie haben geringUlf Fink
fügige Selbstbeteiligungselemente zurückgenommen.
Es kommt darauf an, dass wir den Menschen, der sich
gesundheitsbewusst verhält, belohnen müssen.
({4})
Es hat keinen Sinn, einfach zu sagen: Das geht alles irgendwie und ist von irgendjemanden vorbestimmt. - Nein,
es handelt sich um mündige Menschen. In unserem System müssen wir denjenigen, der nicht alles tut, um seine
Gesundheit zu ruinieren, sondern sich gesundheitsbewusst
verhält, belohnen.
({5})
Das ist übrigens etwas, was man sehr gut durchführen
kann. Zum Beispiel beim Zahnersatz haben wir einen
richtigen Ansatz: Demjenigen, der sich um seine Zahngesundheit kümmert, wird für den Zahnersatz ein höherer Prozentsatz gezahlt. Das ist ein richtiger und guter
Ansatz.
({6})
Aber es muss weitergehen, indem man beispielsweise
Personen, die sich gesundheitsbewusst verhalten, von bestimmten Zuzahlungen ausnimmt. Das wäre ein Schritt in
die richtige Richtung.
Deshalb sage ich noch einmal: Wir werden der Prävention und dem deutschen Gesundheitswesen dann eine gute
Chance geben, wenn wir darauf setzen, dass die Menschen auch selber in ihrer Verantwortung angesprochen
werden und wir den mündigen Bürger erreichen. Dann haben wir eine gute Chance für mehr Prävention im deutschen Gesundheitswesen.
({7})
Bevor ich
dem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich Ihnen
zwei Mitteilungen machen.
Erstens. Der Tagesordnungspunkt 25 - Geldwäschebekämpfungsgesetz - wird einvernehmlich von der Tagesordnung abgesetzt. - Ich sehe, es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Zweitens gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo“ bekannt.
Abgegebene Stimmen 523. Mit Ja haben gestimmt 483,
mit Nein haben gestimmt 36, Enthaltungen 4. Der Antrag
ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 523;
davon
ja: 483
nein: 36
enthalten: 4
Ja
SPD
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({2})
Kurt Bodewig
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Rainer Brinkmann ({3})
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Martin Bury
Hans Büttner ({5})
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Karl Diller
Peter Dreßen
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Dr. Peter Eckardt
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Petra Ernstberger
Lothar Fischer ({6})
Gabriele Fograscher
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({7})
Harald Friese
Anke Fuchs ({8})
Arne Fuhrmann
Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Günter Graf ({9})
Angelika Graf ({10})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Frank Hempel
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({11})
Stephan Hilsberg
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({12})
Walter Hoffmann
({13})
Frank Hofmann ({14})
Ingrid Holzhüter
Eike Hovermann
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Hans-Peter Kemper
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Hans-Ulrich Klose
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Christine Lambrecht
Brigitte Lange
Christian Lange ({15})
Detlev von Larcher
Christine Lehder
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({16})
Gabriele Lösekrug-Möller
Erika Lotz
Dieter Maaß ({17})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Ulrike Mascher
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Christoph Matschie
Heide Mattischeck
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ursula Mogg
Christoph Moosbauer
Michael Müller ({18})
Jutta Müller ({19})
Christian Müller ({20})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({21})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Dietmar Nietan
Günter Oesinghaus
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Albrecht Papenroth
Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Carola Reimann
Margot von Renesse
Bernd Reuter
Dr. Edelbert Richter
Christel RiemannHanewinckel
Reinhold Robbe
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({22})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Otto Schily
Dieter Schloten
Horst Schmidbauer
({23})
Ulla Schmidt ({24})
Silvia Schmidt ({25})
Dagmar Schmidt ({26})
Wilhelm Schmidt ({27})
Dr. Frank Schmidt
({28})
Regina Schmidt-Zadel
Heinz Schmitt ({29})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Brigitte Schulte ({30})
Reinhard Schultz
({31})
Volkmar Schultz ({32})
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Antje-Marie Steen
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({33})
Dr. Peter Struck
Joachim Tappe
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({34})
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({35})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({36})
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Jürgen Wieczorek ({37})
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({38})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({39})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Verena Wohlleben
Hanna Wolf ({40})
Waltraud Wolff
({41})
Heidemarie Wright
Uta Zapf
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Otto Bernhardt
Dr. Heribert Blens
Dr. Norbert Blüm
Antje Blumenthal
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Hartmut Büttner
({42})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Dr. Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Anke Eymer ({43})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Ingrid Fischbach
Axel E. Fischer ({44})
Herbert Frankenhauser
Dr. Gerhard Friedrich
({45})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({46})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Norbert Geis
Dr. Reinhard Göhner
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({47})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({48})
Gerda Hasselfeldt
Helmut Heiderich
Manfred Heise
Siegfried Helias
Detlef Helling
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Martin Hohmann
Josef Hollerith
Dr. Karl-Heinz Hornhues
Siegfried Hornung
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Dr. Harald Kahl
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Irmgard Karwatzki
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Hartmut Koschyk
Dr. Hermann Kues
Werner Kuhn
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Walter Link ({49})
Dr. Manfred Lischewski
({50})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({51})
Dr. Martin Mayer
({52})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Hans Michelbach
Meinolf Michels
Bernward Müller ({53})
Elmar Müller ({54})
Franz Obermeier
Friedhelm Ost
Norbert Otto ({55})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Christa Reichard ({56})
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Kurt J. Rossmanith
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Dr. Gerhard Scheu
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({57})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({58})
Andreas Schmidt ({59})
Dr. Andreas Schockenhoff
Reinhard Freiherr von
Schorlemer
Dr. Erika Schuchardt
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Gerhard Schulz
Clemens Schwalbe
Dr. Christian SchwarzSchilling
Marion Seib
Heinz Seiffert
Bernd Siebert
Werner Siemann
Bärbel Sothmann
Margarete Späte
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({60})
Michael Stübgen
Dr. Rita Süssmuth
Edeltraut Töpfer
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({61})
Gerald Weiß ({62})
Heinz Wiese ({63})
Hans-Otto Wilhelm ({64})
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
Wolfgang Zöller
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({65})
Volker Beck ({66})
Angelika Beer
Matthias Berninger
Amke Dietert-Scheuer
Dr. Thea Dückert
Franziska Eichstädt-Bohlig
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({67})
Joseph Fischer ({68})
Rita Grießhaber
Winfried Hermann
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Dr. Angelika Köster-Loßack
Dr. Reinhard Loske
Oswald Metzger
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Christine Scheel
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({69})
Werner Schulz ({70})
Christian Sterzing
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({71})
Margareta Wolf ({72})
FDP
Hildebrecht Braun
({73})
Ernst Burgbacher
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({74})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({75})
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Irmgard Schwaetzer
Marita Sehn
Gudrun Serowiecki
Dr. Max Stadler
Jürgen Türk
Dr. Guido Westerwelle
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({76})
Willy Wimmer ({77})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Monika Knoche
Hans-Christian Ströbele
PDS
Monika Balt
Wolfgang Bierstedt
Petra Bläss
Maritta Böttcher
Roland Claus
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Dr. Barbara Höll
Carsten Hübner
Ulla Jelpke
Sabine Jünger
Rolf Kutzmutz
Heidi Lippmann
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Manfred Müller ({78})
Kersten Naumann
Petra Pau
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Dr. Winfried Wolf
Fraktionslose Abgeordnete
Christa Lörcher
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Annelie Buntenbach
Irmingard Schewe-Gerigk
Christian Simmert
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des
Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete({79})
Lintner, Eduard Palis, Kurt Raidel, Hans Schmitz ({80}), Hans Peter
CDU/CSU SPD CDU/CSU CDU/CSU
von Schmude, Michael Zierer, Benno
CDU/CSU CDU/CSU
Wir setzen die Aussprache fort. Als nächster Redner
hat der Kollege Eike Hovermann von der SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Da eben
Herr Lohmann die mehr oder minder vorbereitete oder
aus dem großen Schatz der Erkenntnis gewonnene Frage
an Herrn Fink stellte, ob es seinerzeit nicht um Bauchtanz
gegangen sei
({0})
- ich versuche, es etwas zu verkürzen -,
({1})
und Herr Fink darauf antwortete, erinnere ich nur an die
wirklichen Zusammenhänge. Herr Fink, mit Sätzen wie
„Krankenkassen finanzieren Bauchtanz“ wurde ein populärer Angriff gegen die Kassen gestartet, um im Zusammenhang mit dem berühmten Beitragsentlastungsgesetz und insbesondere dem Gesetz für Arbeit und
Beschäftigung Rückenschulung, Diabetikerberatung usw.
plattzureden.
({2})
Ich erinnere an eine Sitzung in Bonn im Jahr 1998, als Sie
noch die Regierung geführt haben, in der der Vorsitzende
des Bayerischen Heilbäderverbandes, Herr Gnan, damals
noch Mitglied der CSU, sagte, Seehofer habe mit seiner
Politik nicht nur den Kurorten, sondern insbesondere der
Rehabilitation und der Prävention geschadet.
({3})
Sie sollten sich also auch an das erinnern, was Sie in der
Vergangenheit im Hinblick auf Prävention gemacht haben. Das war ein populärer Angriff, um Geld aus der
Prävention herauszuziehen und in die Akutmedizin zu
stecken.
({4})
Heute beklagen Sie das Ergebnis dessen, was Sie selbst
verursacht haben. Die „SZ“ hat das sehr deutlich charakterisiert, als sie über Herrn Seehofer schrieb:
Der CSU-Politiker kennt bestens die Fallgruben dieses Systems. Er hat das auch zunächst als ein solches
geortet und ist immer äußerst flexibel in seinen Meinungen geblieben,
- jetzt kommt das, was ich für richtig halte die er gerne nach dem öffentlichen Wind ausrichtete.
Damals war es sehr populär, gegen Prävention zu sprechen, da Prävention seinerzeit häufig unter Bauchtanz
subsumiert wurde.
({5})
Das ist es aber nicht gewesen. Wenn die Pflanze damals
auch noch so zart war, so hätte sie doch gegossen werden
müssen. Das ist aber nicht gemacht worden.
({6})
Gleichwohl gibt es zwischen uns einige Übereinstimmungen. Wir müssen nur sehen, ob wir diese Übereinstimmungen später in ein gemeinsames Konzept - vielleicht Lüdenscheid II - gießen.
({7})
- Jetzt lassen Sie mich erst einmal reden! Wenn Sie eine
Frage stellen wollen, dann werde ich sie auch gerne beantworten.
Unser Ziel muss es im Grunde sein, aus dem Reparaturbetrieb einen Gesunderhaltungsbetrieb zu machen. In
diesem Punkt sind wir uns einig. Der überwiegende Teil der
zur Verfügung stehenden Mittel in Höhe von 270 Milliarden wird in der Akutmedizin verbraten. Gleich wichtig ist
aber, dass die Versicherten der Erhaltung ihrer Gesundheit
größeren Wert als bisher beimessen. Wir können es uns
nicht länger leisten, Gesundheit als ein selbstverständliches
Gut zu betrachten, über das wir erst dann nachdenken,
wenn es uns abhanden gekommen ist. Die beklagenswert
geringe Inanspruchnahme von Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen ist eine ganz wesentliche Ursache für
viele Krankheiten. Hier wird auch der berühmte § 1 des Sozialgesetzbuches V von Patienten und Beitragszahlern
nicht ernst genug genommen - oft zulasten der Solidarität
und damit letztlich zum eigenen Schaden.
Gerade im Hinblick auf die Behandlung von Krebs - Sie
führten dies auch an -, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen könnten durch Prävention erhebliche Fortschritte erzielt werden. Das senkte langfristig die Behandlungskosten, sicherte die Produktivkraft der Beschäftigten
und trüge unter anderem dazu bei, die Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall zu senken, das verhinderte nicht zuletzt
frühzeitige Berufs- und Erwerbsunfähigkeit und entlastete
damit auch die Rentenkassen, die ebenfalls - das haben Sie
bei diesen Bausteinen vergessen - verstärkt in präventive,
integrierte Versorgungsabläufe einzubinden sind. Aber Sie
alle kennen das besondere Verhältnis zwischen den Rentenkassen und den Krankenkassen; hier ist noch viel Arbeit
zu leisten.
In all diesen Politikfeldern hat die Bundesregierung
neue Akzente gesetzt, die wir in den nächsten Jahren ausbauen werden. Trotzdem müssen wir heute leider feststellen, dass die Ausgaben der GKV für Prävention immer
noch auf 4,5 Prozent der Gesamtausgaben beschränkt sind.
Wir sind uns wohl alle einig, dass das viel zu wenig ist.
Lassen Sie mich ein Beispiel aus dem Alltag referieren:
Ein Unding in diesem Zusammenhang ist, dass sich die
Krankenkassen gegenseitig blockieren, wenn es darum
geht, Präventionsleistungen im Rahmen der betrieblichen
Gesundheitsvorsorge zu leisten. So ist es bei Maßnahmen
zur Hautkrebsvorsorge geschehen. Der Verband der Angestelltenkrankenkassen hatte hier die BKK beim Bundesversicherungsamt mit der Folge angeschwärzt, dass diese
Präventionsleistung eingestellt worden ist. Dies nur einmal
als kleines Aperçu zum Thema „Mehr Gestaltungsräume
und mehr Wettbewerb der Kassen um mehr Qualität“.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen, es
gibt noch viel zu tun. Ich lade deshalb alle hier versammelten Fraktionen ein
({8})
- Herr Lohmann, stellen Sie doch bitte eine Frage; dann
kann ich sie gut beantworten -, gemeinsam mit uns die
Empfehlungen der Arbeitsgruppe 5 des Runden Tisches
zum Thema Prävention umzusetzen. Damit kommen wir
dem Ziel ein Stück näher, die Prävention neben der Akutmedizin, der Rehabilitation und der Pflege zur gleichberechtigten Säule des Gesundheitssystems zu machen.
Ich darf Sie erinnern, Herr Fink: Ich kenne Ihren Vaterschaftsanspruch, Sie hätten all das, was Prävention anbeEike Maria Hovermann
trifft, schon längst gemacht. Wenn man aber Vater eines
Kindes wird und ihm anschließend das Geld entzieht, wäre
das nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch eine Klage wert.
({9})
Darüber muss man sich klar werden.
Ich darf Sie an viele Aktionsbündnisse wie „Allergieprävention“ und „Umwelt und Gesundheit“ sowie an das
Forschungsprojekt „Gesund Altern“ - Herr Lohmann,
auch dieses Forschungsprojekt gehört dazu - bis hin zu
den hervorragenden Leistungen im Bereich der Drogenund Suchtprävention erinnern.
Jetzt kommen Sie, Herr Fink, drei Monate vor der Wahl
mit einem Antrag zur Prävention. Erstens stehen darin
Forderungen
({10})
- das ist keine alte Platte -, für deren Erfüllung Sie
16 Jahre Zeit hatten. Zweitens stellt sich natürlich die
Frage, wie Sie denn zu dieser späten Einsicht gekommen
sind und wie ernst es Ihnen diesmal ist; denn mit denselben Worten - ich habe die Rede von Herrn Fink aus dem
Jahr 1994 nachgelesen - hatten Sie ursprünglich die
Prävention als Leitbild für Ihre Gesundheitspolitik definiert. Das hinderte Sie allerdings nicht daran, die Prävention zwei Jahre später fast völlig aus dem Leistungskatalog des Sozialgesetzbuches V zu streichen, wie Kollege
Kirschner aus Baden-Württemberg dankenswerterweise
schon sagte. Das bedeutete damals faktisch das Aus für
Prävention als Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen.
({11})
- Ich weiß nicht, was ich von dieser transparenten Unterhaltung untereinander halten soll. Nachher sitzt mir der
Präsident im Nacken.
({12})
Es musste erst eine neue, SPD-geführte Bundesregierung
her, um diese gesundheitspolitisch und im Grunde auch ökonomisch völlig unsinnige Entscheidung zu revidieren.
Fast mit Goethe sage ich: Herr Fink, Ihre Botschaft von
der Prävention hör ich wohl, allein, mir fehlt der Glaube
({13})
- ich bin bei den Jesuiten aufgewachsen; ich weiß, was los
ist -, insbesondere, da Sie nun unter dem Deckmantel von
Freiheit und Selbstbestimmung versuchen, Instrumente
der privaten Krankenversicherung wie Selbstbehalte und
Beitragsrückerstattungen auf die GKV zu übertragen.
Dass dies nicht ohne weiteres möglich ist, können Sie
in einem sehr interessanten Aufsatz aus der „Ärzte Zeitung“ nachlesen:
Denn wenn die Jungen und Gesunden mit Beitragsnachlässen belohnt werden, kommt insgesamt
- so die Studie weniger Geld ins System.
Die Studie fährt wie folgt fort:
Für Alte und Kranke stehen solche Wahloptionen ohnehin nur auf dem Papier, sie blieben in den jeweils
teuersten Volltarifen.
Dies würde eine Spirale von Tarifwechseln in Gang
setzen, an deren Ende womöglich ein Einheitstarif
auf niedrigem Versorgungsniveau steht.
({14})
- Fragen Sie mich ruhig dazu! Ich bin bereit, Ihre Fragen
in einem größeren Zusammenhang zu beantworten.
({15})
Wenn die Versicherten dann noch auf notwendige Leistungen verzichten würden, nur um Selbstbehalte zu sparen oder um Beitragsrückerstattungen nicht zu gefährden,
hätten wir genau das, was wir nicht wollen, nämlich eine
erneute Ausgrenzung von Prävention. Das ist im Grunde
die Zielrichtung Ihrer Politik, die alle negativen gesundheitlichen und ökonomischen Folgen in Kauf nimmt.
Wie sollten dagegen weitere, verantwortungsvolle
Schritte hin zu mehr Prävention aussehen? - Um das herauszufinden, hat die SPD-geführte Bundesregierung
genau das getan, was die ehemalige CDU-geführte Regierung - wenn ich nicht alle wichtigen Dokumente übersehen
habe - 16 Jahre lang versäumt hat. Zum ersten Mal werden
in Zusammenarbeit mit den beteiligten Akteuren im Gesundheitswesen Gesundheitsziele definiert, um eine ganz
schlichte Frage beantworten zu können: Was können und
was wollen wir in welchen Bereichen überhaupt erreichen?
Erste Arbeitsergebnisse dazu liegen bereits vor. Auch
der Runde Tisch hat in seiner Sitzung am 22. April konkrete Handlungsempfehlungen vorgestellt, die nun umgesetzt werden müssen. Die darin genannten Möglichkeiten
sind geeignet, um Prävention tatsächlich zu einem Leitbild
der Gesundheitspolitik werden zu lassen. Das wollen wir,
aber nicht wie Sie nur drei Monate vor der Wahl. Wir haben seit 1998 Resultate und Aktionen. Wir haben unter anderem dafür gesorgt, dass die Prävention als Querschnittsaufgabe zum Beispiel in der Ausbildung von Pflegenden
und Medizinern einen größeren Raum als bisher erhält.
Deswegen haben wir sie in der neuen ärztlichen Approbationsordnung sowie im novellierten Krankenpflegegesetz
verankert. Für beides war die Bundesregierung maßgeblich verantwortlich, denn auch die Prävention muss selbstverständlich in die Perspektive der integrierten Versorgung
nach § 140 SGB V eingebaut werden.
Wir haben nicht zuletzt dafür gesorgt, dass der Vorrang
der Prävention vor Reha und Rente im neuen SGB IX verankert wird, übrigens ein Projekt, das die CDU-geführte
Regierung nach der Verabschiedung der Ergänzung des
Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes 1992 in der Schublade
verschwinden ließ, um auch hier den Vorrang der Prävention nicht durchzusetzen. All dies hat die jetzige Regierung nicht nur eingeleitet, sondern in großen Teilen bereits umgesetzt. Wir werden dies selbstverständlich nach
dem 22. September weiter ausbauen.
({16})
Zusätzlich müssen wir auch die Krankenkassen mehr
als bisher in die Pflicht nehmen, ihre Versicherten zu
einer Gesundheitsvorsorge zu bewegen, so wie es
§ 25 SGB V vorsieht. Das, was hier gegenwärtig passiert,
ist bei weitem noch nicht ausreichend, zumal die Kassen
selbst noch - oftmals ohne Not - Gelder in die Kuration
fließen lassen.
Im Zusammenhang mit der Prävention ist es sicherlich
richtig, Herr Fink, über Anreizsysteme nachzudenken, um
die Eigenverantwortung der Versicherten im System zu
stärken, zumal dies als Auftrag im berühmten § 1 SGB V
steht.
({17})
Im Gegensatz zur Union bedeutet mehr Eigenverantwortung für die SPD nicht, den Beitragszahlern einfach
tiefer in die Tasche zu greifen oder es allein dem Patienten zu überlassen, für seine Prävention und damit für seine
Gesundheit zu sorgen.
({18})
- Bevor Sie lachen, lesen Sie sich einmal den Text Ihres
Antrags durch! Er folgt nämlich genau den Intentionen
von Professor Beske, was herauszunehmen ist und was
nicht. Er war der Erste, der gesagt hat: Prävention gehört
nicht zu den Pflichtleistungen der Kassen.
({19})
Mehr Eigenverantwortung zuzulassen muss also in Bezug auf die Prävention vor allem heißen, dass wir die
Menschen erst einmal in die Lage versetzen, Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen. Hierfür sind
Voraussetzungen zu schaffen, Herr Parr.
({20})
- Ihr macht mich völlig stumm. Ich habe einen ganzen
Katalog von Dingen vorgestellt, wo wir den Patienten
nicht nur mehr zutrauen, sondern auch abfordern. Dann
sagen Sie erneut, wir müssten den Patienten mehr abfordern. Sie machen genau das Gegenteil. Sie geben ihm kein
Geld, lassen ihn allein und sagen ihm: Sieh mal zu, was
du mit der Prävention machst.
({21})
Wir wollen einen ganzheitlichen Ansatz von Prävention, wobei schrittweise die Zuständigkeiten geklärt und
eine konstruktive Zusammenarbeit mit all den Gremien,
die mit Prävention zu tun haben, ermöglicht werden
muss.
Dieser Präventionsgedanke muss dann unter anderem
auch in den Schulunterricht einfließen. Denn eine AOKStudie aus Stuttgart - damit schließe ich ab - stellt fest,
dass viele Schüler nicht mehr in der Lage sind, rückwärts
zu laufen. Wiewohl es nicht zu den gepflegtesten Alltagsübungen gehört, rückwärts zu laufen, kann man daran
erkennen, ob der Bewegungsapparat noch in Ordnung ist,
Herr Zöller.
({22})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Diese Studie
hat also festgestellt, dass viele Kinder nicht mehr rückwärts laufen können. Außerdem nehmen durch frühzeitiges Rauchen die obstruktiven Atemwegserkrankungen in
katastrophaler Weise zu. Dies sind die chronisch Kranken
von morgen, wenn wir nicht heute etwas tun. Ich möchte
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, daher alle auffordern, mit Begeisterung für unseren Antrag zu stimmen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({23})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Detlef Parr von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Kollege Hovermann, mit dem Rückwärtslaufen haben Sie ein schönes Bild dessen gezeichnet, was
typisch für das ist, was sich hier seit dreieinhalb Jahren in
der Gesundheitspolitik abspielt.
({0})
Ich würde mir dabei wenigstens das Tempo der Echternacher Springprozession wünschen, wo man zwei Schritte
voraus und einen zurück macht. Dies ist aber ein anderes
Thema.
Prävention ist heute unser Thema. Prävention ist zu einem Zauberwort in der aktuellen gesundheitspolitischen
Diskussion geworden. Ich frage mich allerdings: zu Recht
oder zu Unrecht? Zu Recht, weil präventives Verhalten zu
einer erheblichen Steigerung der Lebensqualität führen
kann. Wer von uns verzichtet bei Geburtstagswünschen
schon gern auf den Hinweis auf gute Gesundheit? Sie ist
ein hohes Gut. Zu Unrecht, weil manche von uns vorgaukeln wollen - das kommt auch in den heute vorliegenden
Anträgen gelegentlich zum Ausdruck -, es bedürfe nur einer nachhaltigen Präventionsstrategie und schon ließen
sich die finanziellen Engpässe beheben, in die uns die
falsche Gesundheitspolitik der letzten Jahre getrieben hat.
So einfach ist das nicht. Das Krankheitsgeschehen in der
Bevölkerung hat sich in den vergangenen Jahren deutlich
verändert. Früher dominierten die akuten Infektionskrankheiten; heute bestimmen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronisch degenerative Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates
und Suchterkrankungen das Bild. 90 Prozent der Todesfälle sind auf diese Erkrankungen zurückzuführen.
In der Tat wären langfristig erhebliche Einsparungen
zu erzielen, wenn es uns gelingen würde, diese Erkrankungen deutlich zu reduzieren. Darin sind wir uns einig.
Dieses Ziel können wir aber nur erreichen, wenn diese
Erkrankungen völlig vermieden statt nur auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.
Der Schlüssel zum Erfolg liegt - darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, Herr Kollege Hovermann - bei jedem Einzelnen von uns selbst. Dabei müssen wir ihm
mehr zutrauen. Es müssen positive Anreize für Verhaltensänderungen geschaffen werden. Gesunde Lebensführung - das kann ich nur unterstützen, Herr Kollege
Fink - muss sich lohnen. Es muss die Aufgabe einer Aufklärungs- und Motivationsstrategie sein, die Einsicht in
die Vorteile eines gesundheitsbewussten Lebensstils zu
vermitteln.
Wenn die FDP von Eigenverantwortung spricht, Frau
Kollegin Schmidt-Zadel, wird uns immer unterstellt, es
ginge um die Erhöhung der finanziellen Eigenbeteiligung.
({1})
Darauf reduzieren Sie das immer. In Wahrheit geht es für
uns vorrangig um die Mitbestimmung und Eigenverantwortung des Einzelnen für seine Gesundheit durch sein
Verhalten. Dazu gehören auch mehr Wahlfreiheiten in
dem gesetzlichen Krankenversicherungssystem.
({2})
Die Autonomie des Einzelnen muss gestärkt werden.
Auch müssen persönliche Kompetenzen entwickelt werden, um auf die eigene Gesundheit Einfluss zu nehmen.
Das muss schon in den Kindergärten beginnen und in den
Schulen gefestigt werden. Kindern können zumindest in
den ersten Lebensjahren Gewohnheiten vermittelt werden,
die dann auch in die Familien hineingetragen werden und
lebenslang ihre Bedeutung behalten können. Das bezieht
sich zum Beispiel auf die Fragen der Ernährung, der Bewegung und des Freizeitverhaltens. Gesundheitserziehung
heißt zunächst Bewegungserziehung.
Über den Sport- und Spielbereich hinaus müssen Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung zu einem
integralen Bestandteil unserer Bildungseinrichtungen,
des Lebens in unseren Gemeinden und des Arbeitens in
unseren Betrieben und Unternehmen werden. Wir müssen
den Einzelnen durch eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik und die Schaffung gesundheitserhaltender Lebensbedingungen unterstützen.
Die Grundvoraussetzung dafür sind intakte und leistungsfähige Kommunen. Ich beobachte - wie Sie alle hoffentlich auch - mit Sorge die finanzielle Not. Ich habe
gestern mit den Bürgermeistern meines Wahlkreises über
die finanziellen Probleme, die Haushaltssicherungskonzepte und Ähnliches gesprochen, Frau Schmidt-Zadel.
Musikschulen und Altentagesstätten werden geschlossen
und die Förderung von Sportvereinen muss eingeschränkt
werden. Angebote, die das Leben erst lebenswert machen,
werden zurückgefahren. Ich meine, dass zu einer Präventionsstrategie auch gehören muss, die Finanzkraft unserer Städte und Gemeinden zu stärken, damit ein Umfeld
geschaffen wird, das gesundheitsbewusstes Leben erst ermöglicht.
Lassen Sie uns abschließend noch einen Blick auf die
gesundheitliche Vorsorge werfen. Wir haben eine Anhörung zu der Problematik der Erfassung von Krebserkrankungen durchgeführt, in der wieder einmal deutlich
geworden ist, wie wichtig Früherkennungsmaßnahmen
und Vorsorgeuntersuchungen sind. Unsere Bevölkerung geht mit den Risiken von Brust-, Darm- oder Prostataerkrankungen, um nur einige Beispiele zu nennen, zu
leichtfertig um. Es muss uns gelingen, im Rahmen einer
umfassenden Präventionsstrategie auch dieses Verhalten
zu ändern und Anreize dafür zu schaffen, Vorsorgeuntersuchungen rechtzeitig wahrzunehmen.
Prävention löst die großen finanziellen Probleme der
gesetzlichen Krankenversicherungen kurzfristig nicht, sie
muss aber Teil einer Gesundheitsreform sein, die Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Wettbewerb stärkt
sowie Wahlfreiheiten und Transparenz herstellt. Auf diesem Wege werden wir gern mitarbeiten, wenn die Anträge
im Ausschuss diskutiert werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Katrin Göring-Eckardt vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei so viel Einigkeit geht es möglicherweise nur noch um
die Ausführung. Manche sind eben eher und andere später so weit.
({0})
Es ist jedenfalls sehr erstaunlich, Herr Lohmann. Aus dem
Antrag der Union wird ersichtlich, dass bei Ihnen Einsicht
eingekehrt ist. Ich zitiere aus Ihrem Antrag:
Eine entscheidende Voraussetzung, um die Herausforderung des Gesundheitswesens im 21. Jahrhundert zu bestehen, liegt in der Stärkung von Gesundheitsförderung und Prävention.
Das ist wohl wahr. Das ist eine Erkenntnis, die Grüne und
SPD schon während ihrer Regierungszeit nicht nur vor
sich hergetragen, sondern eben auch umgesetzt haben.
Mich verwundert deswegen, dass Sie auf diese Tatsache
erst jetzt stoßen.
Wenn man sich anschaut, wie das in anderen europäischen Ländern ist und was der Sachverständigenrat dazu
gesagt hat, dann kann man nur feststellen, dass Ihr Antrag - aller Wahlkampf in Ehren - weiß Gott eher hätte
kommen können. Auch hätten Sie im Rahmen der Gesundheitsreform 2000 den Regelungen zur Prävention zustimmen können. Das haben Sie nicht getan.
({1})
Ebenso hätten Sie es unterlassen können - das ist hier
ebenfalls schon angesprochen worden -, die Präventionsleistungen aus dem Leistungskatalog zu streichen.
Ich sage Ihnen jetzt, warum Sie meiner Meinung nach
Ihren Antrag vorgelegt haben. Ich habe nach der Lektüre
Ihres Antrags den Eindruck gewonnen, dass Sie erst die
Umfrage des EMNID-Instituts gebraucht haben. Diese
machte deutlich, dass Ihre Gesundheitspolitik an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger weit vorbeigeht,
({2})
weil die Versicherten wirkliche Vorsorgemaßnahmen wollen. Wir haben gestern über die Frage der so genannten Eigenverantwortung debattiert, unter der Sie Zuzahlung
verstehen. Eine DIW-Studie hat nachgewiesen, dass solche zusätzlichen Zuzahlungen von den Bürgerinnen und
Bürgern nicht gewollt werden. Auch das können Sie in
Ihrem Wahlprogramm umsetzen. Jetzt ist Ihnen zunächst
einmal klar geworden, wie wichtig Prävention ist.
Sie erwähnen zu Recht, dass für Prävention zurzeit nur
4,5 Prozent der Gesamtausgaben der GKV verwendet
werden. Auch wir sind der Meinung, dass dies nicht dem
tatsächlichen Bedarf entspricht. Was Sie dabei vergessen
zu erwähnen, ist, dass in den letzten Jahren die Ausgaben
für Prävention gestiegen sind, und zwar im ersten Quartal 2002 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum im Bereich
der Vorsorge- und Rehamaßnahmen um 2,7 Prozent und
bei den sozialen Diensten sogar um 6,8 Prozent. Zumindest das hätte dazu gehört, wenn Sie einen solchen Antrag
schreiben.
Sie haben durchaus Recht mit Ihrer Feststellung, dass
noch nicht genügend Präventionsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Wir mussten die Präventionsmaßnahmen in
§ 20 SGB V gegen Ihren Widerstand durchsetzen. Die Debatte um den Bauchtanz - dieser wird in den Rückenschulen eher den Frauen angeboten; bei den Männern sind
es die Besuche in Fitnessstudios für Bodybuilder, die sicherlich nicht gesundheitsfördernd sind - hat gezeigt,
welchen Stellenwert die Prävention in Ihrer Regierungszeit tatsächlich hatte.
Wenn Sie in Ihrem Antrag die Ergebnisse des von Ulla
Schmidt einberufenen runden Tisches als Ihre Ideen verkaufen, dann machen Sie dies bitte nicht halbherzig; Herr
Hovermann hat darauf hingewiesen. Dazu gehört, eine
Antwort auf die Frage nach der Geldquelle zu geben. Das
haben Sie nicht getan. Deswegen halte ich das insgesamt
für nicht sehr seriös.
Am Schluss möchte ich Ihnen ein weiteres Beispiel
nennen, warum insbesondere wir Grünen Ihren Antrag ablehnen. Wir glauben, dass Patientinnen und Patienten
unabhängige Beratung wollen, und zwar bevor das Kind
in den Brunnen gefallen ist, also bevor ein Versicherter als
Patient zum Arzt oder zur Ärztin gehen muss. Deswegen
muss es eine unabhängige Beratung und Gesundheitstests
geben, die ähnlich wie bei der Stiftung Warentest deutlich
machen, worauf man sich bei der gesundheitlichen Versorgung verlassen kann und worauf nicht.
Falls Sie es mit der Stärkung der Prävention doch ernst
meinen, dann empfehle ich Ihnen, unserem Antrag zuzustimmen. Damit wäre den Bürgerinnen und Bürgern wirklich geholfen. Die Prävention sollte in der Tat auch außerhalb der GKV sehr früh anfangen. Sie haben zum Beispiel
das Verbraucherinformationsgesetz im Bundesrat
blockiert. Auch daran sieht man, dass das Reden über Prävention mit Ihren Taten offensichtlich nichts zu tun hat.
Wenn es anders wäre, dann würden Sie den Gesetzentwürfen, die Prävention von Anfang an fördern, zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort die
Kollegin Dr. Ruth Fuchs von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Liebe Kollegin Göring-Eckardt, ich kann
keinem Gesetzentwurf zustimmen, an dem vielleicht drei
Zehntel gut sind, aber dessen restliche sieben Zehntel ich
nicht teilen kann. Ich denke, wir sollten uns auf die vorliegenden Anträge konzentrieren. Letztendlich sind in
beiden Anträgen für mich völlig neue Inhalte enthalten.
Ich wäre sehr froh, wenn wir gemeinsam dafür sorgten,
dass die in beiden Anträgen enthaltenen Forderungen in
die Praxis umgesetzt würden und damit unserem Gesundheitswesen und den Patienten einen Vorteil brächten.
({0})
Beide Anträge enthalten das Ziel, der Prävention und
der Gesundheitsförderung im Gesundheitssystem einen
neuen Stellenwert zu verschaffen. Besonders hat mich verwundert, dass Sie erstmals von Gesundheitszielen reden.
In den vergangenen zwölf Jahren, in denen ich Abgeordnete des Deutschen Bundestages bin, war es nicht möglich,
Gesundheitsziele zu definieren. Ich glaube, dass eine solche Definition absolut notwendig ist. Forderungen nach einer solchen Definition sind richtig und begrüßenswert.
Auch im Hinblick auf das Bekenntnis, dass Prävention
niemals ausschließlich das Gesundheitswesen, also nur
einen einzigen Bereich, betreffen sollte, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, haben Sie unsere volle
Unterstützung. Notwendig ist darüber hinaus eine Harmonisierung sämtlicher Strukturen. Dazu muss die einschlägige Gesetzgebung wirklich erweitert werden.
An dieser Stelle hört mein Lob auf.
({1})
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, die Behauptung, die Bundesregierung habe zum Beispiel durch die
Novellierung von § 20 SGB V und die Einrichtung eines
runden Tisches tatsächlich entscheidende Weichenstellungen in Richtung stärkerer Prävention getroffen, ist
nicht nur übertrieben, sondern auch sehr kühn.
({2})
Wäre das tatsächlich so, würden für eine nachhaltige
Prävention doch nicht, wie derzeit, nur weniger als
4,5 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben - diese
Feststellung enthalten beide Anträge - zur Verfügung stehen. Es hat sich auf diesem Gebiet nicht viel getan. Die
Tatsachen sprechen eine deutliche Sprache. Wir müssen
- das habe ich schon gesagt - für die Zukunft wirklich
eine grundlegende Neuausrichtung planen. Daran sollten
wir alle arbeiten.
({3})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Ihr Antrag ist ohne Frage inhaltlich gut. Über die Selbstbeteiligung reden wir zu einer anderen Zeit. Man muss über die
Finanzierung der Selbstbeteiligung klare, umfassende
Aussagen machen. Richtig ist auch, dass nicht nur Verhaltensprävention, sondern auch Verhältnisprävention
eine ganz wichtige Rolle spielen muss.
({4})
- Ich weiß, das Ihr Antrag diese Forderung enthält. Sie
müssen es aber auch umsetzen!
Lieber Kollege Fink - ich hoffe, dass ich Ihnen mit
dem Wort „lieber“ nicht wehtue -:
({5})
Wenn Sie in Ihrer 16-jährigen Regierungszeit nur einen
kleinen Teil Ihrer Forderungen umgesetzt hätten, dann
müssten wir alle miteinander jetzt nicht einen solchen
Rückstand in der Prävention und in der Gesundheitsförderung beklagen. Kollege Fink, Sie sagten, Sie bedauerten es, dass nur 1 Prozent der Mittel für den öffentlichen
Gesundheitsdienst ausgegeben wird. Sie müssen sich die
Fragen gefallen lassen: Wer ist denn dafür verantwortlich,
dass der öffentliche Gesundheitsdienst in den Ländern immer mehr ausgedünnt worden ist? Wer hat den - ohnehin
begrenzten - Versuch, die Gesundheitsförderung in der
GKV zu verankern, im Keim erstickt?
Kollege Fink, angesichts der Tatsache, dass Sie in der
Vergangenheit politisch so versagt haben, ist es, ehrlich
gesagt, ein bisschen unverfroren, die Behauptung aufzustellen - das steht in Ihrem Antrag -, dass der CDU/CSU
die politische Urheberschaft für diesen Bereich zuzuschreiben ist.
Ich komme zum Schluss.
Frau Kollegin Fuchs, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage?
Eigentlich ist Ihre Redezeit abgelaufen; aber wenn Sie die
Zwischenfrage zulassen, dann lasse ich auch Ihre Antwort
darauf zu.
Gerne.
Frau
Bergmann-Pohl, bitte.
Frau Kollegin Fuchs, stimmen Sie mir darin zu, dass ich in den acht
Jahren meiner Zeit als Parlamentarische Staatssekretärin
permanent darüber Klage geführt habe, dass die Länder
den öffentlichen Gesundheitsdienst - sie sind es, die dafür
zuständig sind - einschränken?
Ich kann die Frage ganz einfach beantworten - das sage ich auch achtungsvoll -: Ich
weiß, dass Sie sich als Staatssekretärin um diese Frage
sehr viel gekümmert haben. Das tun Sie auch heute als
Abgeordnete. Sie sind mit Vehemenz und Ehrlichkeit
dafür eingetreten.
Auch die Länder werden aber von politischen Parteien
regiert.
({0})
Man muss deshalb sagen: Es gibt Zusammenhänge, die
nicht nur ich, sondern auch Sie bedauern. Ich weiß, dass
auch Ihr Einsatz für andere Einrichtungen auf Landesebene ein Kampf gegen Windmühlen war.
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, da meine Redezeit vorbei ist, möchte ich es ganz kurz machen:
({0})
Sehr kurz.
Es bringt nichts, dem anderen
immer nur vorzuhalten, was er in der Vergangenheit alles
falsch gemacht hat. Die vorliegenden Anträge enthalten
sowieso nur Ansätze. Keiner der Anträge zeigt einen Weg
auf, wie man die Ziele erreichen kann. Lassen Sie uns in der
nächsten Legislaturperiode diesbezüglich etwas Vernünftiges auf die Beine bringen - nicht zugunsten einer Partei,
sondern zugunsten der Versicherten und der Menschen!
Danke.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/9085 und 14/9224 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/9085 soll zusätzlich an den
Sportausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
möchte ich Folgendes anmerken: In der Diskussion über
den Tagesordnungspunkt 18 - zu dieser Zeit hat Frau
Vizepräsidentin Vollmer präsidiert - hat ausweislich des
Protokolls der Kollege Wilhelm Schmidt ({0})
mehrere Zwischenrufe gemacht. Darunter war folgender:
Jetzt ist aber Schluss mit dem Lügen! Sie sind ein
Lügner! Unglaublich!
Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, mit Ihren
Formulierungen das Maß einzuhalten, das im Deutschen
Bundestag üblich sein sollte, und sich insbesondere dann
zurückzuhalten, wenn es um persönliche Kritik geht.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Joachim Stünker,
Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({1}), Hans-Christian
Ströbele, Grietje Bettin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES
90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung
- Drucksache 14/8586 ({2})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen
Sicherungsverwahrung
- Drucksache 14/9041 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses
({4})
- Drucksache 14/9264 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Volker Beck ({5})
Dr. Evelyn Kenzler
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/
CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Kollege Joachim Stünker von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir heute die Neuregelung der Sicherungsverwahrung - man kann auch von
einer Ergänzung sprechen - für besonders gefährliche
Wiederholungsstraftäter - wir alle wissen ja, dass es sich
dabei im Wesentlichen um Sexualstraftäter handelt - in
zweiter und dritter Lesung zum Abschluss bringen. In der
Tat war der Beratungsbedarf bezüglich des vorliegenden
Gesetzentwurfs sehr groß. Ich glaube, wir haben im
Rechtsausschuss insgesamt drei Sachverständigenanhörungen durchgeführt. Alle Sachverständigenanhörungen waren sehr gut, das heißt, wir haben immer etwas im
Hinblick auf die Regelung dieser schwierigen Problematik dazugelernt. Das sehen Sie unter anderem auch daran,
dass wir sogar noch in dieser Woche eine Änderung in unseren Gesetzentwurf aufgenommen haben. Angesichts
der Bedeutung der Maßnahme, um die es hier geht, war es
richtig, dass wir uns Zeit genommen und sehr gründlich
diskutiert haben; denn die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist eigentlich die schärfste Maßnahme, die der
Staat bei der Durchsetzung seines strafrechtlichen Anspruchs überhaupt ergreifen kann. Diese Maßnahme ist
nämlich das eigentliche „Lebenslänglich“.
Ich hoffe, dass der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden werden, nicht im Bundesrat scheitern und
dann in den Vermittlungsausschuss verwiesen wird. Daher appelliere ich schon an dieser Stelle an Sie, Herr van
Essen, und Ihre Kollegen von der FDP - ich weiß ja, dass
Sie den Gesetzentwurf mittragen wollen -, mit dafür
Sorge zu tragen, dass wir damit nicht in den Vermittlungsausschuss müssen. Dort wäre er im Endeffekt nicht
besonders gut aufgehoben.
Wir haben in erster Lesung - lassen Sie mich das kurz
rekapitulieren - über zwei gegensätzliche Gesetzentwürfe
diskutiert. Die Union war die erste Fraktion, die hierzu einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Diesen habe ich im vorigen Jahr in zwei Reden als in verfassungsrechtlicher
Hinsicht sehr problematisch bezeichnet. Diese verfassungsrechtlichen Bedenken, die ich nicht alle im Einzelnen wiederholen möchte - ich hatte sie damals alle genannt -, haben sich in den Anhörungen bestätigt.
Heute liegt Ihnen in zweiter und dritter Lesung ein Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vor, der auf eine Vorbehaltslösung hinausläuft. Das heißt, das erkennende Gericht muss sich bei der Beurteilung eines Straftäters mit der
Frage auseinander setzen, ob er ein gefährlicher Wiederholungstäter ist, ob also zu erwarten ist, dass er nach seiner
Haftentlassung wieder vergleichbare Straftaten begeht.
Wir schaffen heute mit diesem Gesetz die Möglichkeit,
dass das Gericht genau die Regelung, dass dann Sicherungsverwahrung anzuordnen ist, im Urteil vorbehalten
kann. Was heißt „vorbehalten kann“? Das heißt, es wird im
Urteilstenor der Ausspruch stehen müssen: „Die Sicherungsverwahrung bleibt vorbehalten.“ Dann muss im Laufe
des Vollzuges, wenn sich weitere Erkenntnisse zu diesem
Straftäter, zu diesem Menschen, zu dieser Persönlichkeit
ergeben, geprüft werden, ob die Staatsanwaltschaft, die die
antragstellende Behörde ist, Anhaltspunkte dafür hat, zu sagen: Jawohl, wenn wir den entlassen, geht er morgen los
und macht das Gleiche in ähnlicher Art und Weise wieder. Das sind die schlimmen Fälle, die wir kennen und weshalb
wir uns mit diesem Thema heute hier beschäftigen.
Für diesen Fall - und das ist das Neue in der Änderung,
die wir Ihnen vorgelegt haben - muss sich das erkennende
Gericht, also das Gericht, das diesen Straftäter verurteilt
und den Vorbehalt ausgesprochen hat, noch einmal in einer öffentlichen Hauptverhandlung mit entsprechenden
Sachverständigengutachten mit dieser Person beschäftigen und muss sozusagen die endgültige Abwägung treffen, ob denn nun Sicherungsverwahrung anzuordnen ist.
Das heißt, das erkennende Gericht prüft in einem zweiaktigen Erkenntnisprozess zunächst, ob es den Vorbehalt
ausspricht, und dann, am Ende des Vollzuges bzw. zu dem
Zeitpunkt, zu dem die Entlassung ansteht, ob er umgesetzt
werden muss.
Wir als Koalitionsfraktionen sind mit dieser Regelung,
wie wir sie jetzt gefunden haben, sehr zufrieden; denn wir
meinen, dass wir hiermit eine verfassungsrechtlich saubere Lösung vorgelegt haben, die Strafprozessordnung als
Magna Charta des Beschuldigten - und das ist sie ja immer noch - wirklich ernst nehmen und die Prämissen und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Anforderungen der Strafprozessordnung an einen fairen Strafprozess erfüllen. Diese Punkte sind: mündliche
öffentliche Hauptverhandlung, die Beteiligung von Schöffen, die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme - es muss zu
diesem Punkt noch einmal die Beweisaufnahme erfolgen und die Möglichkeit des Einlegens von Revision gegen das
Urteil, und zwar in der ganzen Breite; der Bundesgerichtshof hat diese Entscheidung dann zu überprüfen. Natürlich
muss dem Angeklagten, dem Beschuldigten in der Hauptverhandlung ein Pflichtverteidiger bestellt werden.
Meine Damen und Herren, ich meine, das ist eine
rechtsstaatlich wirklich vorzeigbare Lösung der Problematik dieser Sicherungsverwahrung. Wir wissen aus empirischen Erhebungen, dass es im Jahr drei bis sechs Fälle
gibt, für die überhaupt derartige Regelungen in Betracht
kommen. Aber das sind dann eben die Fälle, die wirklich
schlimm sind und die wir aus den Medien kennen. Um
solche Vorkommnisse auszuschließen, haben wir jetzt die
entsprechenden Änderungen in der Strafprozessordnung
vorgenommen. Ich finde, das ist ein guter Weg, weil er im
Interesse des Opferschutzes liegt, zu mehr innerer Sicherheit führen wird und im Sinne derjenigen ist, die das Gesetz anzuwenden haben, nämlich Staatsanwaltschaft und
Gerichte. Denn wir bewegen uns in den bekannten Gleisen und von daher wird man mit dieser Regelung auch
sehr vernünftig umgehen können.
Ich meine, diejenigen, die zustimmen wollen, haben in
den Monaten der Beratung - es hat ja einige Zeit gedauert - eine wirklich gute Lösung gefunden. Dafür möchte
ich mich bedanken.
Schönen Dank.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Jürgen Gehb von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Es ist nicht davon auszugehen, dass
alle Zuschauer und alle Zuhörer Rechtsexperten sind,
rechtskundig sind, den Unterschied zwischen Strafe,
Maßregel und Besserung kennen. Deswegen erlaube ich
mir, ein bisschen zur Genesis dieses Gesetzes und auch
zur Unterscheidung darzulegen.
Wer ein Verbrechen begeht, wird bestraft, wenn er eine
rechtswidrige Tat schuldhaft begangen hat. Über die Verurteilung hinaus kommt eine Anordnung der Sicherungsverwahrung in Betracht, wenn es sich um einen Hangtäter
handelt, der gemeingefährlich ist und vor dem die Bevölkerung geschützt werden muss. Nach geltendem Recht ist
diese Sicherungsverwahrung gleichzeitig mit dem Urteil
im Erkenntnisverfahren anzuordnen. Das heißt, es muss
in diesem Zeitpunkt eine Gefährlichkeitsprognose getroffen werden.
Sollte der Strafgefangene im Laufe seiner Strafhaft zeigen, dass er nicht mehr gefährlich ist - auch das gibt es;
das sollte man ruhig einmal sagen -, weil er sich gebessert hat, weil ihm die Strafe als Warnung gedient hat, weil
er, vielleicht auch aus Altersgründen oder wegen Gebrechlichkeit, nicht mehr als Sexualtäter in Betracht
kommt, so muss er nicht in die Sicherungsverwahrung,
obwohl sie angeordnet ist.
In dem umgekehrten Fall, dass das Gericht bei der Verhängung der Strafe aus welchen Gründen auch immer - sei
es wegen eines Justizirrtums, sei es, weil es im Zeitpunkt
der Urteilsfällung die Gefährlichkeitsprognose nicht mit
hinreichender Sicherheit hat geben können - die Anordnung der Sicherheitsverwahrung unterlassen hat, muss es
doch möglich sein - insofern unterscheiden wir uns nicht
von den Koalitionsparteien -, dass jemand nicht mehr
freigelassen wird, also nachträglich die Sicherungsverwahrung angeordnet wird, wenn er sich als gefährlich für
die Allgemeinheit herausstellt.
Anträge mit diesem Ziel haben unionsgeführte Länder
seit 1998 ständig gestellt. Sie sind immer wieder an SPD
und Grünen gescheitert. Einen Entwurf mit diesem Ziel
hat auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebracht;
die Drucksachennummer 14/6709 weiß ich noch auswendig. Aber auch dieses Gesetz zur Verbesserung des
Schutzes vor Sexualverbrechen ist hier an Rot-Grün gescheitert, übrigens mit der Begründung, der Bundesgesetzgeber sei nicht zuständig, weil es sich dabei eher um
ein präventives Gesetz zur Gefahrenabwehr handele.
Deswegen haben einige Länder, unter anderem Bayern, ein Gesetz zur Unterbringung hochgradig rückfallgefährdeter, für die Allgemeinheit gefährlicher Täter als
Landesgesetz verabschiedet. Allerdings wird damit dem
Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung insbesondere auf dem Gebiet des Strafrechts nicht hinreichend
Rechnung getragen. Es ist also eine Krücke, aber immerhin etwas.
Nun passierte Folgendes: Der Bundeskanzler hat in einer bekannten Boulevardzeitung in seiner üblichen beifallsheischenden Art und Weise gesagt: Wer sich an kleinen
Mädchen vergreift, muss weggeschlossen werden - „und
zwar für immer!“ Wenn ich das gesagt hätte, dann hätte es
wieder geheißen: Der Gehb will die Lufthoheit über den
Stammtischen erobern. Bei Bundeskanzler Schröder hat es
viel Applaus gegeben. Dann haben sich plötzlich auch die
Rechtspolitiker beider Koalitionsfraktionen - übrigens
auch nicht alle rechtskundig - dazu durchgerungen, einen
Entwurf einzubringen: die so genannte Vorbehaltslösung,
wie Herr Stünker sie genannt hat - eine Mogelpackung, ein
Etikettenschwindel, wie er schlimmer nicht geht.
Wir wollen die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung schon kraft Gesetzes vorbehalten.
Warum zum Kuckuck muss eigentlich der erkennende
Richter diesen Vorbehalt noch einmal aussprechen, wenn
wir im Anschluss daran ein mit allen rechtsstaatlichen
Kautelen ausgestattetes Verfahren haben, mit staatsanwaltschaftlicher Prüfung, Gutachtern vorne und hinten,
einem erstinstanzlichen Urteil, Revision und BGH?
In erster Lesung hatten wir gedacht, die Vorbehaltslösung bleibe zwar hinter unserem Antrag zurück, sei aber
gegenüber der jetzigen Gesetzeslage ein bisschen besser.
Weit gefehlt!
({0})
- Frau von Renesse, solch ein Beitrag von Ihnen? Seit Sie
wissen, dass Sie den Bundestag verlassen, kultivieren Sie
sich in einer unglaublichen Art und Weise. Ich habe Sie
immer geschätzt. Jetzt machen Sie solche dümmlichen
Zwischenrufe.
({1})
In diesen Fällen bringt Ihr Entwurf sogar eine Verschlechterung gegenüber der jetzigen Rechtslage. Ich will
Ihnen das erklären.
({2})
- Ja, hören Sie gut zu, Herr Stünker!
Erstens werden alle, die jetzt einsitzen, von Ihrer Vorbehaltslösung nicht mehr erfasst. Deswegen kann ich
nicht verstehen, wie die Frau Bundesjustizministerin gestern vollmundig sagen konnte: „Wer es mit dem Schutz
von Kindern vor Sexualstraftätern ernst meint, darf das
Gesetz nicht verzögern.“ Ich möchte einmal wissen, wie
Sie den Opfern, den Hinterbliebenen oder den Angehörigen erklären, wo der Schutz bleibt, wenn das Gesetz mit
der Vorbehaltslösung nicht greift. Denn Altfälle werden
nicht gelöst.
Zweitens ist es doch klar - Richter sind auch nur Menschen -: Wenn der Richter die Möglichkeit hat, die Sicherungsverwahrung direkt anzuordnen, wird er versucht
sein, die weichere Variante zu wählen. Er wähnt sich damit auf der sicheren Seite, weil er, wenn er sich die Sicherungsverwahrung vorbehält, sehen kann, wie sich der
Delinquent in Zukunft entwickelt.
({3})
- Das ist kein Misstrauen, sondern das muss man so sehen. Sonst könnte man doch gleich die Sicherungsverwahrung anordnen. Der Vorbehalt macht ja nur so Sinn.
Schließlich mögen Sie, Herr Stünker, die Sicherungsverwahrung eigentlich gar nicht. Sie haben vorgestern in
der Sitzung des Rechtsausschusses in entwaffnender Art
und Weise gesagt: Also, unter Zurückstellung der Bedenken gegenüber der Notwendigkeit einer Sicherungsverwahrung überhaupt haben wir diese Lösung eingebracht.
Hier möchte ich im Übrigen auch noch etwas zu den
Grünen sagen: Deren einzige Sorge ist offenbar - das haben Sie, Herr Beck, auch in der Rechtsausschusssitzung
gesagt -, wie man die armen Sicherungsverwahrten besser unterbringt. Sie haben nicht den Opferschutz, sondern
immer nur den Täterschutz im Sinne. Auch das muss an
dieser Stelle einmal gesagt werden.
({4})
Eine dritte latente Schwierigkeit ist auch ganz offensichtlich - diese ist in der Konzeption der Sicherungsverwahrung ja geradezu angelegt -: Durch die vorverlagerte
Prüfung der Gefährlichkeitsprognose, nämlich sechs
Monate vor dem Verbüßen von zwei Dritteln der Strafe,
ist möglicherweise der empirische Datenbestand gar nicht
groß genug, um eine hinreichende Gefährlichkeitsprognose zu stellen. Das hätte zur Konsequenz, dass man
dann, wenn in einem Verfahren, in dem aufgrund des Vorbehalts von einer Anordnung der Sicherungsverwahrung
abgesehen wurde, nach wenigen Monaten schon wieder
prüfen muss, obwohl man gar nicht genügend Erkenntnisse darüber hat, ob der Täter sich zum Besseren gewandelt hat oder eine tickende Zeitbombe ist. Was passiert
also? Die Sicherungsverwahrung wird überhaupt nicht
angeordnet.
Eine weitere, sehr schwere Schwäche beinhaltet der
Gesetzentwurf von Rot-Grün: All diejenigen Täter, die
mehrmals eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bekommen haben, aber nie mehr als drei Jahre, können trotz
erkannter Gemeingefährlichkeit nicht in Sicherungsverwahrung untergebracht werden. Das ist ein unmöglicher
Zustand, meine Damen und Herren.
({5})
Alles in allem kann man nur sagen: Nach langem Bohren und einem Machtwort des Bundeskanzlers dazu, der
Sie wiederum einmal zum Jagen getragen hat, weil Sie gemerkt haben, wie populär solche Forderungen sind
- „Wegschließen, und zwar für immer!“; es gab noch ein
paar andere Sprüche in dieser Richtung -, entspricht das
Gesetz, nachdem es Akademiker in die Hand bekommen
haben, plötzlich nicht mehr den Forderungen des Bundeskanzlers. Erst holen Sie sich den Beifall bei den Leuten, die in der Frühstückspause bei einem Brot mit Gehacktem und ein paar Gürkchen die „Bild“-Zeitung lesen;
aber Ihre Akademiker machen dann jeglichen guten Ansatz an der Wurzel zunichte.
({6})
Deswegen kann ich dazu nur sagen: Die Vorbehaltslösung
stellt gegenüber der gegenwärtigen Rechtslage eine eindeutige Verschlechterung dar.
({7})
Ein wirklicher Schutz der Opfer vor Hangtätern, insbesondere vor Sexualverbrechern, kann in Zukunft nur
auf der Basis des Entwurfs, den die CDU/CSU früher einmal eingebracht hat, verwirklicht werden. Da dieser aber
aufgrund des Wiederbefassungsverbotes in dieser Wahlperiode nicht mehr eingebracht werden kann, kann er erst
wieder nach der Bundestagswahl beraten werden. Ich
gehe davon aus, dass das nach dem 22. September der Fall
sein wird.
({8})
Noch eines: Die Bundesjustizministerin hat ja gestern
im Interview mit dem Deutschen Depeschen-Dienst
voller Larmoyanz gesagt, dass im Bundesrat Gesetzesvorhaben verschleppt werden. Ich kann dazu nur sagen:
Da wird nichts verzögert; dort liegen genügend Anträge,
die in diese Richtung zielen, vor. Gleichzeitig hat sie aber
mit keiner Silbe erwähnt, dass ein viel griffigeres Gesetz
mit den Stimmen ihrer Partei abgelehnt worden ist. Sie
muss wohl jeglichen Bezug zur Realität vollkommen verDr. Jürgen Gehb
loren haben. Dass sie dieses dann auch noch mit Inbrunst
und voller Überzeugung vertritt, zeugt von einer Beratungsresistenz - gestern Abend, als ich die Frau Ministerin bei Maybrit Illner gesehen habe, dachte ich, dass diese
eigentlich gar nicht mehr zu überbieten sei -, die die Ministerin immer wieder aufs Neue bestätigt und dann sogar
noch toppt.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sicherungsverwahrung ist der schwerwiegendste Eingriff in die
Freiheitsrechte eines Menschen, den unser Strafgesetzbuch vorsieht. Sie ist das eigentliche Lebenslänglich.
Möglich ist das Weggeschlossensein für immer und ewig.
Deshalb ist die Verhängung dieser einschneidenden Maßnahme nur zu rechtfertigen, wenn sie zum Schutz der Bevölkerung vor schwerwiegenden Straftaten absolut unerlässlich ist. Sie ist auch nur zu rechtfertigen, wenn das
Verfahren insgesamt auf verfassungsrechtlich solider
Grundlage steht.
Beides haben wir mit diesem Gesetzentwurf sichergestellt. Wir Grünen haben in den Beratungen Wert besonders darauf gelegt, dass der ursprüngliche Entwurf um einige Punkte angereichert wurde, die die rechtsstaatliche
Qualität dieses Gesetzes deutlich erhöhen. Der Vorbehalt
soll durch das erkennende Gericht - da waren wir uns mit
den Kollegen in unserer Fraktion von Anfang an einig und nicht durch die Vollstreckungskammer verhängt werden. Dies ist vorzugswürdig, weil so die Einheit des gesamten Verfahrens gewahrt wird. Wir meinen, dass es so
nicht zu einer inflationären Verhängung von Vorbehalten
durch die Gerichte kommen wird. Denn auch, wenn wohl
die personelle Besetzung der Kammer Jahre später nicht
mehr dieselbe sein wird: Es gibt keinen Grund, daran zu
zweifeln, dass die Richterinnen und Richter mit diesem
scharfen Schwert verantwortungsvoll umgehen werden.
Wir haben im Gesetz ebenfalls klargestellt, dass im
Vorbehaltsverfahren immer auch ein medizinischer Gutachter sein Votum abgeben muss. Wir haben gewährleistet, dass, wenn die Sicherungsverwahrung später nicht
verhängt wird, dieser Vorbehalt auch nicht in einem
Führungszeugnis auftaucht. Welcher Arbeitgeber würde
denn eine Person einstellen, die einmal mit dem Stempel
„hochgefährlich“ belegt wurde?
Wir schließen eine Gesetzeslücke, die, wenn auch nur
in sehr wenigen Fällen, dazu führen könnte, dass Personen selbst dann aus der Strafhaft entlassen werden, wenn
nahezu sicher feststeht, dass sie danach weitere schwere
Straftaten begehen werden. Wir optimieren den Schutz
der Bevölkerung vor schweren Straftaten, insbesondere
vor schweren Sexualstraftaten. Die Menschen sind durch
Einzelfälle bewegt worden, in denen man eine weitere
Straftat vielleicht hätte verhindern können. Das muss uns
jede Mühe wert sein. Aber auch die rechtsstaatlichen Gesichtspunkte müssen dabei Beachtung finden.
Wir beschränken den Anwendungsbereich auf
schwere Delikte, auf Straftaten gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder die körperliche Unversehrtheit. Die Entscheidung über die Sicherungsverwahrung muss spätestens ein halbes Jahr vor dem Zeitpunkt
getroffen werden, zu dem über die Aussetzung des
Strafrestes zur Bewährung entschieden werden kann.
Dieser Entwurf ist unseres Erachtens der einzige Weg,
um die Gesetzeslücke in rechtsstaatlich vertretbarer
Weise zu füllen. Wären wir Ihnen, verehrte Kolleginnen
und Kollegen von der Union, wirklich gefolgt, dann hätten wir mit Sicherheit Probleme in Karlsruhe bekommen.
({0})
Wer hat denn etwas von einem Gesetz, bei dem die
Rechtsfolgen später von Karlsruhe aufgehoben werden,
nicht, weil sie nicht sachgerecht wären, sondern weil die
Rechtsgrundlage verfassungswidrig ist?
({1})
Deshalb haben die potenziellen Opfer mehr von einem
Gesetz, das verfassungsrechtlich Bestand hat, weil dann
auch die Sanktionen Bestand haben werden.
({2})
- Herr Schröder hat hier kein Modell vorgeschlagen. Er
hat eine Linie vorgegeben und das ist auch die Aufgabe
des Bundeskanzlers.
({3})
Um die Details müssen sich die Fachpolitiker und die
Fachressorts kümmern und das hat das Fachressort in vorzüglicher Art und Weise mit den Rechtspolitikern der Koalition getan.
Die Sachverständigen haben in der Anhörung ganz
deutlich gemacht, dass der Weg, den Sie gehen, verfassungsrechtlich in keiner Weise zu halten ist.
({4})
Viele Sachverständige haben selbst bei diesem Gesetzentwurf ein mulmiges Gefühl, was unter rechtsstaatlichen
Gesichtspunkten verständlich ist. Aber wir haben als Politiker beides abzuwägen und zu berücksichtigen: die
rechtsstaatlichen Grundlagen und die Sicherheit der Bevölkerung. Deshalb mussten wir diesen Weg gehen.
Herr Gehb, ich wundere mich: Ich denke, bei dieser Art
von Sanktion, die keine Strafe ist, sondern die Hinzufügung
eines Übels nach Verbüßung der Strafe, muss sich jeder
Rechtspolitiker, auch wenn das draußen vielleicht nicht populär ist, dreimal fragen, ob es am Ende wirklich die trifft,
bei denen das Ganze notwendig ist, um Sicherheit zu produzieren. Man kann damit nicht so leger umgehen.
({5})
Mir ist bei solch einem Gesetz nie wohl und ich finde es
richtig, dass man sich immer fragt: Ist es gerechtfertigt?
Ist es notwendig? Wir kommen zu dem Ergebnis: „Das ist
es“, aber wir haben das hier mit allen Kautelen erwogen.
Herr Kollege Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Gehb? - Bitte schön, Herr Gehb.
Herr Beck, gibt es empirische Erkenntnisse, die den Schluss zulassen, dass ausgerechnet in der Bundesrepublik Deutschland, in der die
Rechtsstaatlichkeit so ausgeprägt ist, dass sie für andere
beispielhaft ist, sowohl Strafgefangene als auch Personen
in Sicherungsverwahrung unmenschlich behandelt werden, eingekerkert werden oder sogar einen Eisenklumpen
am Fuß haben, dass es bei uns, jedenfalls im Verhältnis zu
anderen demokratischen Staaten, also unbedingten Nachholbedarf gibt, während wir die Frage, ob die Bevölkerung zu schützen ist, eher mit spitzen Fingern oder am
besten gar nicht anfassen?
Herr Gehb, es stimmt einfach nicht, dass man das mit spitzen Fingern anfasst,
({0})
sondern man muss wirklich in Abwägung beider Problemstellungen - einerseits der Schutz gerade von Kindern vor
Sexualstraftaten, anderseits aber auch die Zufügung eines
Übels nur da, wo es unabdingbar ist - die Frage beantworten und zu einer ausgewogenen Entscheidung kommen.
Ich möchte Ihnen aber gern noch etwas dazu sagen, wie
Sicherungsverwahrung tatsächlich stattfindet. Es ist
natürlich nicht so, wie Sie hier bildreich darstellen, dass
die Leute mit einer Metallkugel am Fuß ihr Leben fristen
müssen. Wenn Sie sich die Strafanstalten einmal von innen
anschauen
({1})
und von der Strafabteilung zur Abteilung Sicherungsverwahrung gehen, werden sie den Wechsel nicht bemerken,
wenn es Ihnen keiner sagt. Da sehe ich ein Problem. Der
Strafgefangene muss die Eingriffe in seine Rechte erdulden, weil er eine Strafe zu verbüßen hat. Das ist recht und
fair. Bei einem Sicherungsverwahrten ist die Strafe verbüßt; er bringt danach noch ein Opfer wegen seiner vermeintlichen oder tatsächlichen Gefährlichkeit für die Sicherheit der Bevölkerung.
({2})
Ich meine, Herr Gehb, dass wir an diesem Punkt wirklich in eine Debatte über die Grundlagen des Vollzugs der
Sicherungsverwahrung eintreten müssen. Ich wünsche
mir, dass wir in der nächsten Wahlperiode gemeinsam mit
den Bundesländern, die hier nicht vertreten sind - vielleicht sagt ihnen jemand, dass es diesen Wunsch aus diesem Haus gibt -, zu einem Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz kommen, das versucht, nur die notwendigen
Sicherungsmaßnahmen zu treffen, aber im Übrigen nicht
notwendige Einschnitte in die Rechte der Verwahrten
vermeidet. Ich wünsche mir diese Diskussion. Ich weiß,
das ist nicht populär; aber ich finde, wir sind uns als Politiker solche Fragestellungen schuldig.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Problem der nachträglichen Sicherungsverwahrung beschäftigt uns tatsächlich schon
lange Zeit. Es hat bisher erheblichen Widerstand - Herr
Gehb, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen - seitens der
rot-grünen Landesregierungen gegeben, die mit diesen
Fragen befasst waren. Es hat übrigens auch in diesem
Hause Widerstand gegeben. Ich erinnere mich noch sehr
gut daran, welche Position hier vertreten wurde, beispielsweise an den Hinweis, dass das Ganze im Ordnungsrecht
und nicht im Strafprozessrecht zu verankern sei.
Wir als FDP haben uns, weil wir uns dem Opferschutz
verpflichtet fühlen, immer dafür eingesetzt, hier zu einer
Regelung zu kommen. Ich muss gestehen, dass ich am
Anfang auch für eine offenere Gestaltung war, wie sie der
Änderungsantrag der CDU/CSU vorsieht. Herr Stünker,
Sie haben zu Recht auf mehrere Sachverständigenanhörungen hingewiesen. Ich bin nach diesen Sachverständigenanhörungen nachdenklich geworden und war nicht
mehr sicher, ob das alles tatsächlich mit der Verfassung zu
vereinbaren ist.
Für diejenigen, die keine Rechtsspezialisten sind, ganz
kurz der Hinweis: Es gibt den Grundsatz, dass man wegen
einer Straftat nicht zweimal bestraft werden kann. Natürlich ist Sicherungsverwahrung keine Strafe; aber - auch
das ist in der Debatte zu Recht schon gesagt worden - Sicherungsverwahrung ist das wahre Lebenslänglich, weil
beim „richtigen“ Lebenslänglich nach 15 Jahren geprüft
wird, ob eine weitere Vollstreckung notwendig ist oder
nicht. Bei der Sicherungsverwahrung findet in aller Regel
ein sehr viel längerer und intensiverer Vollzug statt. Ich
habe einen Fall erlebt, in dem diese Sicherungsverwahrung mehr als 40 Jahre gedauert hat. Das macht deutlich,
dass deshalb besondere Anforderungen an eine Regelung
zu stellen sind. - Das ist der eine Gesichtspunkt, den man
zu berücksichtigen hat.
Auf der anderen Seite haben uns die Sachverständigen
in der Anhörung deutlich gemacht - auch das ist in dieser
Debatte zu Recht angesprochen worden -, dass es tatsächlich Fälle gibt, bei denen sich erst im Vollzug herausstellt,
dass jemand gefährlich ist. Wir haben gegenüber der Bevölkerung bzw. gegenüber uns allen die Verantwortung,
dass diese Täter nicht erneut schwerste Straftaten begehen
können.
Volker Beck ({0})
Ich glaube, dass das, was jetzt eingebracht worden ist,
ein verfassungsfester Mittelweg ist. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung - Herr Gehb, da bin ich anderer Meinung als Sie - wird nach meiner Auffassung nicht dazu
führen, dass sich Gerichte vor der Verantwortung drücken
({1})
oder dass sie etwa weniger oft eine Sicherungsverwahrung verhängen. Das geschieht schon deshalb nicht, weil
sie so ausgestaltet ist, dass eine spätere Entscheidung das
Gericht natürlich belastet. Es muss neu in die Sache eingestiegen und es muss verhandelt werden. Deshalb wird
derjenige, der sich Arbeit vom Hals schaffen will - ich
glaube nicht, dass das bei Richtern der Fall ist; aber unterstellen wir einmal, dass diese theoretische Möglichkeit
besteht -, gleich mitentscheiden.
Im Übrigen habe ich das Gefühl, dass man eher häufiger entscheiden wird, sich die Sicherungsverwahrung
vorzubehalten, wenn Anzeichen für deren Notwendigkeit
vorhanden sind. Das ist genau das Ergebnis, das wir wollen. Durch das jetzt vorgesehene Verfahren wollen wir sicherstellen, dass in den Fällen, in denen es Anzeichen gibt
- auch wenn es nur geringfügige sind -, hinterher Klarheit
geschaffen werden kann.
({2})
Von daher ist es kein Rückschritt, sondern ein Fortschritt,
den wir hiermit erzielen.
({3})
Eine Frage, bei deren Beantwortung ich durchaus anderer Auffassung bin als zu Beginn der Debatte, lautet:
Wer soll die Sicherungsverwahrung anordnen? Zwei
Möglichkeiten bestehen: zum einen die Strafvollstreckungskammer oder zum anderen das Gericht, das ursprünglich über die Tathandlung geurteilt hat. Auch da hat
uns die Anhörung gezeigt, dass es viele Gründe dafür gibt,
dem erkennenden Gericht die Zuständigkeit dafür zuzuweisen.
Wir haben im Übrigen auf dem FDP-Bundesparteitag
in Mannheim außerordentlich sorgfältig über die Regelungen diskutiert und sind zu dem Beschluss gekommen,
dass das erkennende Gericht diese Entscheidung treffen
soll. Das Ergebnis ist damit: Die FDP-Bundestagsfraktion
wird heute diesem wichtigen Schritt, mehr Opferschutz zu
erreichen, zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich Ihnen, Herr Kollege
Hartenbach, das Wort.
Im Namen der SPD-Fraktion möchte ich Herrn van Essen, der als Praktiker für
Praktiker gesprochen und den Nagel auf den Kopf getroffen hat, herzlich danken.
({0})
Möchte
jemand entgegnen? - Nein.
Dann erteile ich der Kollegin Evelyn Kenzler von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe selten erlebt, dass sich die
Regierungskoalition bei einer ihrer Gesetzesinitiativen so
gequält hat wie bei dem heute zu debattierenden Gesetzentwurf.
({0})
Nicht nur die Vertreter des Bündnisses 90/Die Grünen
mussten sich wenden. Nein, auch die Kollegen der SPD
haben sich aus guten Gründen schwer getan. Doch ein
Kanzlerwort verpflichtet eben. So war die Quadratur des
Kreises angesagt: nachträgliche Sicherungsverwahrung,
aber bitte rechtsstaatlich.
({1})
- Wenn Sie das meinen.
Natürlich ist auch meiner Fraktion der Schutz der Bürgerinnen und Bürger und insbesondere der der Kinder vor
gefährlichen Gewaltverbrechern außerordentlich wichtig.
Aber dabei dürfen der Schutz der Persönlichkeitsrechte
und das Verfahren nicht auf der Strecke bleiben.
({2})
Diese schwierige Balance ist von uns ohne externen
Sachverstand kaum zu leisten.
Deshalb habe ich mit großem Interesse die Expertenanhörung verfolgt. Das Votum gegen die vorbehaltene Sicherungsverwahrung hat mich dann allerdings in seiner
Eindeutigkeit überrascht. Viele meiner grundsätzlichen Bedenken aus der ersten Lesung wurden bestätigt. So lehnte
Herr Pollähne vom Bremer Institut für Kriminalpolitik den
Gesetzentwurf aus verfassungsrechtlichen und rechtspolitischen Gründen ab. Die in der Verfassung begründete Unschuldsvermutung „in dubio pro reo“ werde unterlaufen,
wenn künftig „im Zweifel“ der Vorbehalt einer Sicherungsverwahrung angeordnet werde. Außerdem habe die
Sicherungsverwahrung erhebliche Nebenwirkungen auf
den Strafvollzug, da die Betroffenen von Freigang, Außenbeschäftigung und Ausgang ausgeschlossen würden.
Ebenso gravierende Einwände hatte Herr Kinzig vom
Max-Planck-Institut. So könne das Gesetzesvorhaben gegen das Rückwirkungsverbot sowie das Verbot der Doppelbestrafung verstoßen.
Als sehr fragwürdig stufte auch Herr Professor Egg
von der Kriminologischen Zentralstelle eine Gefährlichkeitsprognose ein, die zu einer deutlich ungünstigeren
Bewertung des Straftäters komme und damit für eine
nachträgliche Sicherungsverwahrung ausreichend sei.
Auch die von der CDU/CSU benannten Experten waren gegen diese Gesetzesinitiative. Sie waren das allerdings deshalb, weil ihnen die Regelung nicht weit genug
geht - Herr Gehb hat das hier ausgeführt - und sie eine
nachträgliche Sicherungsverwahrung ohne Einschränkung wollen.
Die Anhörung brachte also eine eindeutige Ablehnung
des Gesetzentwurfs.
({3})
Den einen gehen die Regelungen nicht weit genug, den
anderen gehen sie viel zu weit. Summa summarum lässt
das doch wohl nur einen Schluss zu: den Gesetzentwurf
nicht zu verabschieden. Wozu brauchen wir denn sonst
Expertenanhörungen?
({4})
- Weiter diskutieren und darüber nachdenken, welche Alternativen es zur Sicherungsverwahrung gibt.
({5})
Die Nachbesserungen im Gesetzentwurf mögen eine
sauberere Lösung für die StPO sein, wie Sie, Herr Kollege
Stünker, es im Rechtsausschuss ausgeführt haben, doch
sie sind in der Sache selbst keine bessere Lösung. Eine absolute Sicherheit vor gefährlichen Straftätern gibt es leider nicht, auch dann nicht, wenn dieser Gesetzentwurf
geltendes Recht werden sollte. Wir sollten die Bevölkerung darauf hinweisen und ihr kein falsches Sicherheitsgefühl vorgaukeln.
Im Rahmen dieser Relativität von Sicherheit gibt es
selbstverständlich auch Alternativen zur Sicherungsverwahrung, die rechtsstaatlich unproblematischer sind und
mit Persönlichkeitsrechten vorsichtiger umgehen. Für mich
ist und bleibt die nachträgliche Sicherungsverwahrung deshalb, ob mit oder ohne Vorbehalt, nicht akzeptabel.
({6})
Für die
Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Pick.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Erlauben Sie mir eine Vorbemerkung. Es ist ein
Lob für die Gremien dieses Hauses, wenn festgestellt
wird, dass man durch Anhörungen und die Erfahrungen
anderer klüger geworden ist.
({0})
Das ist nicht die Regel, egal wer die Regierung stellt. Insofern stimmt das, was Herr van Essen gesagt hat. Die unterschiedlichen Auffassungen, übrigens auch die Diskussion mit dem Bundesrat, Herr Gehb, haben uns in der Tat
zu einer Lösung gebracht, die wir unter allen Gesichtspunkten für die beste halten.
Ich fand es aber nicht sehr glücklich, Herr Gehb, dass Sie
Kollegen aus dem Rechtsausschuss zitiert oder so getan haben, als zitierten Sie sie. Zumindest war das mein Eindruck.
Ich denke aber, dass es in einem nicht öffentlichen Gremium möglich sein muss, etwas zu sagen, was man hinterher in der Debatte etwas anders formulieren würde.
({1})
Ich hatte zumindest den Eindruck, dass Sie den Kollegen
Stünker zitiert haben.
Meine Damen und Herren, wenn wir heute über die
vorbehaltene Sicherungsverwahrung diskutieren, haben
wir aufwühlende Berichte von Sexualverbrechen, vor allem an Kindern, vor Augen. Gemeinsam tragen wir die
Verantwortung dafür, unsere Kinder so gut wie möglich
zu schützen, damit ihr Leben nicht auf eine brutale Weise
zerstört wird. Hier sind sicherlich Vorbeugung und Behandlung der Täter gefragt; aber das ist ganz gewiss nicht
alles. Selbstverständlich muss es möglich sein, die Gesellschaft vor anhaltend gefährlichen Straftätern zu schützen, und zwar, wenn nötig, für immer.
Die Gerichte haben heute schon eine Reihe von Möglichkeiten, solche Taten streng zu bestrafen und dafür zu
sorgen, dass die Täter - wenn nötig - in Sicherungsverwahrung gelangen, also ihre entsetzlichen Taten nicht
wiederholen können.
Der Gesetzentwurf, der Ihnen jetzt vorliegt, verbessert
über die bestehenden Regelungen hinaus den Schutz der
Bevölkerung vor besonders gefährlichen Straftätern, vor
Gewalt- und Sexualverbrechen, vor allem an Kindern.
Der Gesetzentwurf wird eine mögliche Regelungslücke
- da die Bundesministerin der Justiz schon mehrfach angesprochen wurde, darf ich in Klammern hinzufügen,
dass sie schon Mitte der 90er-Jahre in schriftlicher Form
auf diese Regelungslücke hingewiesen hat - für die Fälle
schließen, in denen hochgefährliche Straftäter entlassen
werden könnten, deren Gefährlichkeit zum Zeitpunkt des
Urteils noch nicht sicher festgestellt werden konnte,
({2})
deren Gefährlichkeit aber bei der Entlassung feststeht.
Wir wollen den Gerichten die Möglichkeit geben, in
Zweifelsfällen abzuwarten, welche Erfahrungen man im
Strafvollzug mit dem Täter macht, damit sie dann in
Zweifelsfällen zutreffende Prognosen stellen können. Insofern, Herr Gehb, ist es natürlich eine andere Regelung,
als die, die wir bisher haben. In Fällen, in denen sich die
Gerichte heute mit der Frage schwertun, Sicherungsverwahrung zu beschließen oder nicht, können sie eine Vorbehaltslösung finden. Ich denke, dass die Gerichte von
dieser zusätzlichen Möglichkeit verantwortungsvoll Gebrauch machen werden.
({3})
Der Entwurf sieht vor, dass das erkennende Gericht
in seinem Urteil die Unterbringung in der SicherungsverDr. Evelyn Kenzler
wahrung vorbehalten kann und die endgültige Anordnung
später erfolgt, wenn nach Teilverbüßung der Strafe die
Gefährlichkeit des Verurteilten feststeht. Diese Regelung
ermöglicht es, bei der Gefährlichkeitsprognose nicht allein die Umstände der Tat und ihre Vorgeschichte, sondern
auch die Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Strafvollzug Eingang finden zu lassen. Die neue Möglichkeit
gibt den Gerichten gerade bei schwersten Straftaten mehr
Beurteilungssicherheit in den Fällen, in denen die Grundlage für eine Kriminalprognose bisher nicht ausreichte, in
denen also das Gericht bisher zu wenig sicher vorhersagen konnte, ob der Straftäter auch weiterhin eine Gefahr
für die Bevölkerung darstellt.
Dieses Vorbehaltsmodell hat - dies ist bereits gesagt
worden - gegenüber der nachträglichen Sicherungsverwahrung entscheidende Vorteile und unterliegt im Gegensatz zur nachträglichen Sicherungsverwahrung auch keinen rechtsstaatlichen Bedenken. Insbesondere hat der
Bundesgesetzgeber lediglich für die vorbehaltene, nicht
aber für die nachträgliche Sicherungsverwahrung Gesetzgebungskompetenzen. Es ist nach wie vor die Auffassung
der Bundesregierung, dass Prävention Sache der Länder
ist und typisches Gefilde des Polizeirechts. Auf diesem
Gebiet hat der Bund - selbst wenn er dies wollte - keine
Gesetzgebungskompetenz.
({4})
Die Regelungskompetenz des Bundes folgt aus dem Titel
„Strafrecht“, während für die isoliert angeordnete
nachträgliche Sicherungsverwahrung die Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern liegt.
Die Vorbehaltslösung hat auch den Vorteil, dass die
spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht die
Rechtskraft des Urteils durchbricht und nicht die Gefahr
besteht, dass die neue Regelung zur Korrektur des Urteils
benutzt wird.
Wir haben uns hinsichtlich der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung für ein zweiaktiges Verfahren entschieden; das hat Herr Stünker bereits ausgeführt. Wir behalten
dem erkennenden Gericht die Entscheidung über die endgültige Sicherungsverwahrung, ja oder nein, vor. Ich
denke, dass das eine rechtsstaatlich einwandfreie Lösung
ist. Hinsichtlich des erkennenden Gerichts haben wir uns
davon überzeugen lassen, dass das die angemessenere Lösung ist. Die Möglichkeit der einheitlichen Rechtsprechung wird hier befördert und es bestehen die gleichen
verfahrensrechtlichen Rechte zugunsten des Verurteilten.
Es handelt sich also insgesamt um eine zweckmäßige und
rechtsstaatliche Lösung.
Vielen Dank.
({5})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über
den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/
Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung
der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, Drucksache 14/8586. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9264, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
anzunehmen. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU auf Drucksache 14/9298 vor, über den wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im Übrigen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen mit Ausnahme einer Stimme aus
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, die dagegen
war, und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen von
CDU/CSU und PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
({0})
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses auf Drucksache 14/9264 zu dem von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf auf Drucksa-
che 14/9041 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung
der FDP-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im Übri-
gen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und b auf:
22. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Faße, Reinhard Weis ({2}), Hermann
Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Albert Schmidt ({3}), Helmut Wilhelm
({4}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Für einen sanften Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate
Blank, Dirk Fischer ({5}), Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Verbesserung der Schifffahrtsverhältnisse
im Donauabschnitt zwischen Straubing
und Vilshofen
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansMichael Goldmann, Horst Friedrich ({6}),
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Ausbau der Donau zwischen Straubing und
Vilshofen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-
Schröter, Dr. Winfried Wolf, Uwe Hiksch und
der Fraktion der PDS
Ausbau der Donau zwischen Straubing und
Vilshofen ökologisch gestalten
- Drucksachen 14/8589, 14/8484, 14/8497, 14/7196,
14/9251 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({7}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Dirk
Fischer ({8}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Notwendigkeit des Saaleausbaus
- Drucksachen 14/8485, 14/9247 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin spricht
für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Am 17. Oktober
1996 erklärten der damalige Verkehrsminister Wissmann
und der derzeitige Kanzlerkandidat von CDU und CSU,
Stoiber, zum geplanten Donauausbau:
Bund und Bayern vereinbaren daher in Abwägung
der finanzpolitischen Situation der öffentlichen
Hand, der verkehrswirtschaftlichen Situation und
ökologischen Ziele einen Ausbau in zwei Schritten:
Zunächst werden in den Jahren 1998 und 1999 Optimierungsmaßnahmen mit einem Investitionsvolumen von 24 Millionen DM durchgeführt, die bereits
eine beachtliche Transportkostensenkung erreichen.
... Die Entscheidung über die Art des zweiten Ausbauschrittes soll im Jahre 2000 unter Berücksichtigung der weiteren verkehrlichen Entwicklung auf
der Donau erfolgen.
Die „Süddeutsche Zeitung“ stellte gestern treffend
fest:
Und ein Verkehrsminister der CDU, Matthias
Wissmann, war es, der in der vorhergehenden Legislaturperiode alle Ausbaupläne auf Eis legte. Einziger
Grund: Geldmangel.
Sie wollen heute die Maximallösung mit drei Staustufen, für die fast 800 Millionen Euro veranschlagt werden
müssen. Ich erinnere nur daran, dass sich der Bayerische
Rechnungshof wegen dieser Summen schon einmal kritisch über allzu große Pläne geäußert hat.
({0})
Immerhin wurde 1996 ein umfangreiches Untersuchungsprogramm auf den Weg gebracht, durch das insbesondere dargestellt werden sollte, welche Ergebnisse
sich mit flussregelnden Varianten erzielen lassen. Wie wir
alle wissen, sind diese Untersuchungen abgeschlossen
und von uns intensiv fachlich und juristisch geprüft worden. Nach Abschluss dieser Prüfung ist der Bund davon
überzeugt, dass es richtig ist, ausschließlich die Ausbauvariante A in ein Raumordnungsverfahren zu bringen.
Die vertieften Untersuchungen zeigen, dass nur die
sensible Variante A wesentliche Verbesserungen in einem
angemessenen Zeitraum ermöglicht. Hier gilt sicherlich
ein Satz, der von allen verstanden wird: Zeit ist Geld.
({1})
Vor dem Hintergrund der deutlich veränderten europäischen Rechtslage im Umweltschutz würde die Forderung
nach Staustufen möglicherweise jahrelange Verzögerungen bedeuten. Die Nachteile einer Staustufenlösung liegen auf der Hand: erhebliche Umweltnachteile, wesentlich höhere Ausbaukosten und die beschriebenen
rechtlichen Risiken, die einem zügigen Ausbau entgegenstehen.
Die Kosten für die Ausbauvariante A liegen bei etwa
125 Millionen Euro zuzüglich der Kosten für den Hochwasserschutz in Höhe von knapp 300 Millionen Euro. Damit ist diese Variante günstiger als alle anderen. Sie hat
obendrein das beste Nutzen-Kosten-Verhältnis; das heißt,
sie ist auch volkswirtschaftlich besonders sinnvoll.
({2})
Naturschutz und Verbesserungen für die Binnenschifffahrt stehen also nicht im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich. Eine Blockade der Bayerischen
Staatsregierung wäre also zum Schaden für die Binnenschifffahrt, aber auch für Mensch und Natur. Ich hoffe daher, dass sich auch Bayern zum Wohle des Vorhabens einbringt.
({3})
Der Schifffahrt ist mit einer schnelleren und durchsetzbaren Lösung wesentlich mehr gedient. Bayern sollte deshalb nicht aus Wahlkampftaktik Verbesserungen für die
Schifffahrt blockieren.
Unser Ziel ist es jetzt, das Raumordnungsverfahren
für die Variante A möglichst schnell einzuleiten, denn nur
das bringt die notwendigen Verbesserungen für die Schifffahrt. Die Bayerische Staatsregierung kann uns nicht
zwingen, auch die Staustufenvarianten untersuchen zu
lassen. Allerdings kann sie ein Raumordnungsverfahren
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
zur Variante A blockieren. Das würde einen erheblichen
Schaden für die Binnenschifffahrt bedeuten.
({4})
Ich hoffe deshalb auf Einsicht und Vernunft in München.
({5})
Es ist unumstritten, dass der Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen notwendig ist.
({6})
Diese Strecke stellt einen qualitativen und quantitativen
Engpass im nationalen und internationalen Verkehrsnetz
dar.
({7})
Der Donausaubau ist eine verkehrspolitische Voraussetzung für eine konkurrenzfähige Binnenschifffahrt. Ich
gehe deshalb davon aus, dass der Deutsche Bundestag heute die Bundesregierung beauftragt, nunmehr das
Raumordnungsverfahren und weitere Planungen für den
Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen einzuleiten und dabei ausschließlich die Ausbauvariante A,
also flussregelnde Maßnahmen, zugrunde zu legen.
({8})
Um die planungsrechtlichen Voraussetzungen für den
Ausbau der Donau zu schaffen, wird das Bayerische
Staatsministerium für Wirtschaft, Verkehr und Technologie zeitnah darüber unterrichtet werden, dass die Wasserund Schifffahrtsverwaltung des Bundes bei der zuständigen Landesplanungsbehörde einen Antrag auf Einleitung
eines Raumordnungsverfahrens stellt.
({9})
Der von den Koalitionsfraktionen vorgeschlagene Beschluss für den Ausbau ohne Staustufen eröffnet ein
neues Kapitel in der Geschichte der Donau. Ich bin sicher,
dass damit ein zukunftsweisender Kompromiss gefunden
wird, der sowohl die deutschen und europäischen Interessen an einem Lückenschluss als auch die wirtschaftlichen
und ökologischen Belange der Region berücksichtigen
wird.
Der Bayerischen Staatsregierung empfehle ich in
diesem Zusammenhang die Lektüre der „Süddeutschen
Zeitung“ vom 6. Juni. Darin heißt es:
Eine realistische Annahme geht dahin, dass es entweder einen sanften Ausbau ohne Staustufen oder
- jedenfalls für lange Zeit - gar keinen Ausbau geben
wird.
({10})
Bayerns Regierung muss es sich gut überlegen, ob
sie juristisch gegen die Entscheidung des Bundestages ... vorgehen soll. Die Sache wird bis zur letzten
Instanz ausgefochten werden und für die Schifffahrt
auf der Donau wäre in all diesen Jahren nichts gewonnen.
({11})
... Ob es hingegen ein Erfolgskonzept ist, mit der
Forderung nach Staustufen in den Bundestagswahlkampf zu ziehen, das ist sehr zweifelhaft. Gut möglich, dass der Unionskandidat Edmund Stoiber dieses
Risiko dann doch lieber nicht eingeht.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({12})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Renate Blank von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Frau Staatssekretärin, die Binnenschifffahrt sieht Ihre Aussage allerdings etwas anders;
({0})
denn aus unserer Sicht wird der Verkehrsminister - er
hat gut daran getan, nicht da zu sein - heute wieder einmal von der Regierungskoalition brüskiert und bloßgestellt.
({1})
Noch im letzten Oktober hat er, nachdem alle Gutachten
vorgelegt worden waren, in Aussicht gestellt, in das
Raumordnungsverfahren zum Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen drei mögliche Ausbauvarianten einzubeziehen. Nun muss er eine verkehrspolitische Wende vollziehen.
({2})
Diese Kehrtwende macht er in erster Linie auf Druck der
Grünen,
({3})
die sonst laut Zeitungsmeldungen richtig Ärger gemacht
hätten.
Kollege Schmidt, Ihre Haltung wird den Grünen in
Niederbayern keinen einzigen zusätzlichen Wähler bringen, auch wenn Sie noch so viele Lagerfeuer wie an
Pfingsten veranstalten. Wie mager der Besuch war,
konnte man den Fernsehbildern entnehmen.
Auch die SPD wird davon bei der Bundestagswahl
nicht profitieren. Das haben schon die Kommunalwahlen
im März gezeigt, als das Ergebnis der SPD einen
Tiefstand erreichte. Kollegin Irber, Sie mussten das bei
dieser Wahl schmerzlich erfahren.
({4})
Zum Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen wurde in den letzten 20 Jahren nun wirklich alles
untersucht, was zu untersuchen war. Nahezu 30 Gutachten wurden erstellt; eine umfangreiche Expertenanhörung
wurde noch im Februar dieses Jahres durchgeführt. In dieser Anhörung haben sich die Sachverständigen mehrheitlich für eine Staustufenlösung ausgesprochen. Rot-Grün
missachtet die Ergebnisse dieser Anhörung jedoch in
eklatanter Weise. Angesichts dessen frage ich mich schon,
wozu Anhörungen überhaupt durchgeführt werden, wenn
die daraus gewonnenen Erkenntnisse einfach so vom
Tisch gewischt werden.
({5})
Die Sachverständigen müssen sich ja auf dem Arm genommen fühlen. Eine drastischere Ausdrucksweise vermeide ich.
Damit kein Irrtum aufkommt: Auch wir wollen, dass
die Verbesserung der Schifffahrtsverhältnisse unter Berücksichtigung ökologischer Belange erfolgt,
({6})
weshalb wir nichts gegen die Einleitung der Raumordnungsverfahren für drei Varianten, nämlich die Varianten C, D2 und A, eingewandt hätten. Nur vergleichende
Raumordnungsverfahren führen zu einem überzeugenden Ergebnis und zu einem ordentlichen Planfeststellungsverfahren.
Diese Chance eines vergleichenden Raumordnungsverfahrens vertun Sie, wenn Sie ausschließlich zur Variante A, also nur zu flussbaulichen Maßnahmen ein Raumordnungsverfahren einleiten wollen.
({7})
Ich frage mich allerdings, warum Sie bei nur einer Variante nicht gleich in ein Planfeststellungsverfahren gehen.
Vielleicht können Sie mir darauf eine Antwort geben.
({8})
Kollege Schmidt, Sie werden ja nach mir sprechen und
sicher wieder Ihre juristischen Fähigkeiten unter Beweis
stellen, indem Sie erklären, dass gegen Staustufen geklagt
und dann jeder Prozess - bis hin zum Europäischen Gerichtshof - zugunsten der frei fließenden Donau verloren
werden wird. Wer sagt denn, dass bei einem Planfeststellungsverfahren zur Variante A mit flussbaulichen Maßnahmen keine Klagen eingehen werden?
({9})
Flussbauliche Maßnahmen allein bringen für die
Binnenschifffahrt nichts, sondern sind eine Verschwendung von Steuergeldern. Denn mit der Variante A kann
über die Hälfte des Jahres eine sinnvolle Abladetiefe nicht
erreicht werden. So wird die Binnenschifffahrt auch weiterhin nicht in der Lage sein, verlässliche Logistikketten
aufzubauen, die notwendig wären, um mehr Verkehr auf
das Binnenschiff zu verlagern. Sie sind die Totengräber
der Binnenschifffahrt!
({10})
Man kann nicht ständig scheinheilig von der Verlagerung des Güterverkehrs auf den umweltfreundlichen
Verkehrsträger Binnenschifffahrt reden und dann den
notwendigen Ausbau mit ideologischen Scheuklappen
blockieren. Sie werden mit Ihrer Politik immer unglaubwürdiger, vor allem wenn Sie in Ihrem Antrag davon
reden, dass der Verkehrsträger Binnenschifffahrt eine besondere Förderung verdient, Sie aber mit Ihrer Verweigerungshaltung der Binnenschifffahrt das Wasser abgraben.
Den Donauausbau zwischen Straubing und Vilshofen
kann man nicht isoliert betrachten. Es geht um die
Binnenschifffahrtsverbindung zwischen Nordsee und
Schwarzem Meer. Die Donau ist die Verkehrsalternative
der Zukunft, insbesondere im Hinblick auf die Staaten
Mittel- und Osteuropas, und deshalb volkswirtschaftlich
unverzichtbar. Die EU-Kommission hat dies auch erkannt
und die Donau in die transeuropäischen Netze und in die
Prioritätenliste des Weißbuchs der EU-Kommission aufgenommen.
Die Bundesregierung muss jetzt mit dem Freistaat Bayern reden. Ich gehe davon aus, dass beim Donauausbau
noch nicht das letzte Wort gesprochen wurde. Schließlich
gibt es Verträge zwischen dem Freistaat Bayern und dem
Bund, die - das wurde auch von den Sachverständigen in
der Anhörung bestätigt - einzuhalten sind.
Unser Ziel ist es, mehr Verkehr auf das umweltfreundliche Binnenschiff zu verlagern. Sie jedoch opfern die Binnenschifffahrt auf dem Altar der Koalition und tragen dazu
bei, dass mehr Verkehr auf der Straße stattfinden wird.
({11})
Auf der Tagesordnung steht auch noch der Saaleausbau. Wir wollen diesen Ausbau - die Frau Staatssekretärin hat kein Wort dazu gesagt -, denn er hat erhebliche
Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und die
Arbeitsplätze in der Region. Es ist schon sehr verwunderlich, wenn die Abgeordneten von Rot-Grün, die für die
Binnenschifffahrt zuständig sind, vor Ort den Eindruck
erwecken, als ob sie für den Ausbau sind, und dann hier
im Plenum unseren Antrag ablehnen. Mit Ihrer Ablehnung
dokumentieren Sie, dass Sie nicht für einen Aufschwung
Ost, sondern für den Abstieg Ost sind.
({12})
Deshalb wurden Sie in Sachsen-Anhalt abgewählt. Die
neue Landesregierung wird sich für den Ausbau der Saale
einsetzen.
({13})
Zu Ihrer völlig unverständlichen Haltung zum Ausbau
der Wasserstraßeninfrastruktur fällt mir, nachdem der
Ausbau der Main-Donau-Wasserstraße bereits seit 1921
festgelegt ist, nur noch ein Witz ein: Ein amerikanischer
und ein deutscher Wasserbauer wetten darauf, wer mit seinem Projekt, dem Ausbau einer Wasserstraße, zuerst fertig ist. Nach einem Jahr fragt der Amerikaner bei seinem
deutschen Kollegen nach: Noch 30 Tage und die Schiffe
können ganzjährig fahren. Darauf der Deutsche: Noch
30 Gutachten und wir können im nächsten Jahrhundert
anfangen.
So lange muss die Binnenschifffahrt nicht warten; denn
mit dem 22. September wird sich der Wind zugunsten des
umweltfreundlichen Verkehrsträgers Binnenschiff wenden.
({14})
Ich erteile
dem Kollegen Albert Schmidt vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer in diesen Tagen im Mündungsgebiet der Isar
entlang der Donau spazieren geht, erlebt eine wilde
Auenlandschaft, wie sie in Deutschland, vielleicht sogar
in Europa einmalig ist. Probieren Sie das einmal aus, Frau
Kollegin Blank! Ich lade Sie ein.
({0})
Orchideen, Knabenkraut, Schwertlilien und Frauenschuh
blühen auf; Pirol, Blaukehlchen und Silberreiher tummeln
sich dort.
({1})
Hunderte - das ist keine Übertreibung - von Tier- und
Pflanzenarten, die auf der Roten Liste stehen und vom
Aussterben bedroht sind, haben in dem 2 800 Hektar
großen Mündungsgebiet der Isar ihre Heimat. Dabei handelt es sich um ein Paradies, das zu Recht als der niederbayerische Dschungel bezeichnet wird.
({2})
Die Natur feiert dort zurzeit ein Fest. Es ist ein Fest,
das jeden, der dafür offen ist, Ehrfurcht empfinden lässt Ehrfurcht vor dem lebendigen Reichtum dieser Landschaft und der Schöpfung. Wir dürfen dieses Fest heute
mitfeiern, liebe Kolleginnen und Kollegen. Denn mit unserer heutigen Entscheidung für einen sanften Ausbau der
Donau entscheiden wir auch, dass dieser Reichtum erhalten wird,
({3})
dass wir ihn achten und zu schätzen wissen und ihn an die
Generationen nach uns weitergeben wollen. Das ist das
eigentlich Historische an diesem Beschluss. Ich würde
mich nicht darüber lustig machen, wie es aufseiten der
CDU/CSU in diesem Hause geschieht. Denn wenn Sie
sich darüber lustig machen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, zeigt das nur, wie kalt und egoistisch eine Politik ist, die von sich behauptet, christlich und
konservativ zu sein, in Wahrheit aber respektlos, gefühllos und zerstörerisch mit unserer Heimat umgeht.
({4})
Der Abschnitt der Donau zwischen Straubing und
Vilshofen steht zu Recht unter dem besonderen Schutz der
Vogelschutz- und der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der
EU. In zahllosen Untersuchungen wurde die ökologische
Einzigartigkeit dieser letzten 70 Kilometer frei fließender
Donau nachgewiesen. Deshalb fördert das Bundesamt für
Naturschutz seit Jahren mit erheblichen Mitteln Maßnahmen und Gebietsankäufe im Isar-Mündungsgebiet an
der Donau. Deshalb hat übrigens auch die Europäische
Kommission in ihrem Weißbuch zur Verkehrspolitik am
12. September vergangenen Jahres den Ausbau der
Donau in die Liste der Transeuropäischen Netze aufgenommen, liebe Kollegin Blank, mit der Maßgabe der
„Beachtung gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften zum
Umweltschutz“.
({5})
Das Europäische Parlament hat dies vor wenigen Tagen in
einem eigenen Beschluss noch einmal bekräftigt. Das bedeutet, dass die europäischen Richtlinien nur die flussregulierende Ausbauvariante zulassen.
Ein vernichtender Eingriff durch Staustufen wäre nur
dann zulässig, wenn es keine zumutbare Alternative gäbe.
Aber es gibt sie: Die Variante A ist nicht nur zumutbar,
sondern auch ökologisch verträglich und zugleich ökonomisch überlegen.
({6})
Das haben die zusammenfassenden Gutachten der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Süd gezeigt: Die Variante A
ist nicht nur die umweltverträglichste, sondern zugleich
auch die kostengünstigste Variante und weist mit 8,3
den mit Abstand besten Kosten-Nutzen-Faktor auf. Sie
erbringt mit 11 Millionen Jahrestonnen 90 Prozent der
Verkehrsleistung einer Staustufenlösung.
({7})
Das heißt, diese Lösung ist nicht nur ökologisch sinnvoll,
sondern auch ökonomisch angebracht.
({8})
Der sanfte Ausbau ist auch gerichtsfest;
({9})
denn keiner der Verträge zwischen dem Bund und Bayern
- wir haben genau zugehört - verlangt eine Staustufenlösung mit Kanal. Deshalb bedanke ich mich ausdrücklich
bei Ihnen, Frau Staatssekretärin, und bei dem Minister
selbst für die klaren Worte in diesen Tagen, dass die rechtliche Prüfung abgeschlossen ist und ergeben hat, dass die
sanfte Variante A nicht nur mit den Verträgen kompatibel
ist, sondern auch die einzige Variante darstellt, die einen
jahre- oder jahrzehntelangen Rechtsstreit mit den Umweltverbänden bis hinauf zum EuGH vermeidet, den die
Staustufenlobby letztlich verlieren würde.
({10})
Nur die Variante A beendet die jahrelange Investitionsblockade und führt schnell zu einer verbesserten Schifffahrt.
({11})
- Frau Kollegin Blank, ich appelliere an Sie - richten Sie
das Ihrem Parteivorsitzenden aus - und an die Bayerische
Staatsregierung: Die Betonstrategie der CSU hat mit dem
heutigen Tag auf der Donau Schiffbruch erlitten.
({12})
Respektieren Sie doch endlich den Willen der niederbayerischen Bevölkerung und der Bundestagsmehrheit!
Drohen Sie nicht länger mit Rechtsmitteln gegen diesen
Ausbau! Die juristischen Gefälligkeitsgutachten, die Herr
Badura vorgelegt hat, sind völlig wertlos.
({13})
Sie haben gegen das europäische Umweltrecht keine
Chance.
Ebenso wenig haben Sie gegen eine ganz große Koalition, die von Naturschützern und Grünen über Sozialdemokraten bis zum Altabt der Abtei Niederaltaich,
Emmanuel Jungclaussen, reicht, eine politische Chance. Er
hat dieser Tage erklärt, dass er unsere heutige Entscheidung
mit tiefer Dankbarkeit zur Kenntnis nimmt, und spricht von
einem Erfolg für sein Beten, Frau Kollegin Blank. Was lernen wir daraus? Dass gegen den lieben Gott noch nicht einmal die Bayerische Staatsregierung eine Chance hat.
({14})
Hören Sie also auf, weiterhin die Zerstörung dieses wunderbaren Teils unserer Heimat zu betreiben!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Entscheidung ist ein Sieg für die Umwelt. Sie ist gleichzeitig
ein positives Signal an die Binnenschifffahrt. Naturschutz
und Interessen der Schifffahrt können miteinander in Einklang gebracht werden. Die Botschaft des heutigen Tages
ist: Die Donau bleibt ein Fluss.
Nachdem nun meine Redezeit zu Ende ist, Herr Präsident, sehe ich mich gezwungen, die letzten vier Zeilen zu
singen:
Für uns in Bayern gibt’s heit was zum Feiern,
nämlich unsere Donau bleibt ein freier Fluss.
Und des zoagt uns: Die Vernunft wird siegen
und dass Rot und Grün Regierung bleiben muss.
({15})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Michael Goldmann von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schmidt, das haben Sie wirklich hübsch gemacht. Aber nicht alles, was
hübsch ist, ist richtig. Lesen Sie noch einmal im Protokoll
nach, was Sie zum Teil an blumigen Bildern gebracht haben. Ich bin sehr dafür, dass die Natur Feste feiert. Als
Biologe habe ich davon ein bisschen Ahnung. Dass Sie
das aber mit den maßlosen Angriffen gegen die Christdemokraten verbinden, fand ich nicht sehr geglückt.
({0})
Ich bin als Liberaler in dieser Woche gegenüber Worten vielleicht besonders sensibel.
({1})
Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich glaube nicht, dass
der Abt mit dem, was Sie eben gemacht haben, einverstanden ist.
({2})
Herr Schmidt, wir sollten uns einmal miteinander unterhalten. Ich weiß nicht, in welchem Maße Sie praktizierender Katholik sind. Ich jedenfalls bin es.
({3})
Ich möchte diese Verbindung nicht herstellen.
({4})
Hier hat jemand gebetet und der liebe Gott hat ihn erhört. Deswegen reagiert die Bayerische Staatsregierung
Albert Schmidt ({5})
eventuell in der einen oder anderen Form. - Das hat mir
nicht gefallen. Das, was Sie gemacht haben, ist mir zu
platt und zu populistisch.
({6})
- Wenn Sie das genauso sehen, dann freut mich das. Ich
möchte Ihnen in diesem Fall empfehlen, darauf nicht
zurückzugreifen.
Lassen Sie mich zur Sache kommen. In der Sache liegen Sie schlicht und ergreifend falsch, Herr Schmidt. Sie
behaupten, dass die Binnenschiffer mit dieser Lösung einverstanden sind. Sie sind es nicht. Sie sagen bei jeder
Gelegenheit - Sie machen das sehr engagiert und qualifiziert -, dass Sie eine Abladetiefe von 2,50 Meter brauchen. Sie erreichen diese Abladetiefe nicht.
({7})
Deswegen ist Ihre Ausbauvariante ungeeignet, um den Interessen der Binnenschiffer Rechnung zu tragen.
Sie sagen, die Variante D2, die mit einer Abladetiefe
von 2,50 Meter unserer Favorit ist, sei ökologisch nicht
akzeptabel. Diese Aussage ist falsch. Sie haben anscheinend Angst davor, diese Variante zu prüfen; sonst würden
Sie in das sicherlich notwendige Raumordnungsverfahren
eine solche Variante aufnehmen.
Sie behaupten schlicht und falsch, dass die Variante A
die einzig vernünftige ökologische und die richtige ökonomische ist. Herr Schmidt und liebe Frau Kollegin Faße,
auch das ist falsch. Lesen bildet. Lesen Sie die „DonauNachrichten“. In der Ausgabe 14 steht unter der Überschrift „Volkswirtschaftlicher Nutzen - richtig gerechnet“, dass die Variante D2 wirtschaftlicher als die
Variante A ist. Es geht eben nicht nur um den Nutzen-Kosten-Faktor, sondern auch um die Differenz aus den Nutzen- und den Kostenbarwerten. Dabei errechnet man einen Quotienten von 4,36 für die Variante D2. Jeder, der
sich mit ökonomischen Fragestellungen beschäftigt,
weiß, dass das der echte Bezugswert und die Grundlage
für die Feststellung der Notwendigkeit eines Ausbaus ist.
Nebenbei bemerkt: Die Donau ist ein Fluss, den ich relativ gut kenne und an dem ich mich sehr gerne aufhalte;
ich bin an seinem Ufer möglicherweise schon öfter spazieren gegangen als Herr Schmidt.
({8})
- Herr Kollege Schmidt, ich war vor Ort und habe mich
nach Ihren Aktivitäten dort erkundigt. Sie sind zwar aus
der Presse bekannt, nicht aber aufgrund konkreter Aktivitäten vor Ort. Das Wahlverhalten der Bürgerinnen und
Bürger bei der letzten Kommunalwahl und bei den letzten
Landtagswahlen hat das auch widergespiegelt. Ihre Position wird vor Ort überhaupt nicht verstanden. Das zu glauben ist Ihrerseits ein großer Irrtum.
({9})
Die Wahlergebnisse belegen, dass die Parteien, die für einen vernünftigen, sachgerechten und zukunftsfähigen
Ausbau eintreten, besonders erfolgreich sind.
Gerade die Kollegen, die in der Parlamentariergruppe
„Binnenschifffahrt“ sind, reden immer wieder darüber,
dass es notwendig ist, für verbesserte Rahmenbedingungen auf dem Gebiet der Binnenschifffahrt zu sorgen. Sobald vonseiten der Binnenschiffer Wünsche geäußert werden, etwas für sie, beispielsweise an der Donau, an der
Saale, beim Jade-Weser-Port, an der Elbe oder an anderen
Flüssen, zu tun, sagen die Grünen: Auf keinen Fall, das
kann überhaupt nicht sein, das ist rechtlich überhaupt
nicht möglich, das ist auf europäischer Ebene nicht umsetzbar. Das ist falsch. Ich habe schon im Ausschuss versucht, Ihnen klar zu machen, dass es nicht von vornherein
ausgeschlossen ist, Eingriffe in ein FFH-Gebiet oder ein
Naturschutzgebiet vorzunehmen; vielmehr muss man
diese Eingriffe ausgleichen. Fachleute sagen eindeutig,
dass man diese Eingriffe ausgleichen kann.
({10})
Es gibt eine sehr genaue Untersuchung über die Auenwälder. Ich komme von der Ems; dort gibt es auch Auenwälder. Es gibt genaue Untersuchungen, die belegen, dass
es keine Beeinträchtigung der Auenwälder gibt, wenn
man auf 2,50 Meter geht und - das sieht die Variante D2
vor - Ausgleichsmaßnahmen vornimmt.
Wir sollten hier ehrlicherweise sagen: Heute verlieren
die Binnenschiffer in Deutschland wieder einmal; heute
verlieren auch die Menschen in den östlichen Nachbarländern.
({11})
Fahren Sie einmal nach Ungarn und unterhalten Sie sich
mit den Schiffern darüber, wie sehr sie auf einen Ausbau
der Donau warten, der der Binnenschifffahrt bessere
Chancen einräumt! Der Ausbau auf 2,50 Meter - Variante D2 - ist ökologisch verträglich. Das hat die Anhörung
all derer, die bereit waren, wirklich zuzuhören, ergeben.
In diesem Sinne bedauere ich sehr, dass die Bundesregierung und auch die sozialdemokratischen Vertreter im
Plenum heute eine grüne Kröte schlucken, die ich persönlich für überhaupt nicht akzeptabel halte; schließlich
müsste es darum gehen, der Binnenschifffahrt eine Zukunft zu geben.
({12})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Steffi Lemke
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Verehrter Herr Kollege Goldmann, in Ihrer Rede haben Sie
das Thema Saaleausbau angesprochen. Die Opposition
hat dazu heute einen Antrag eingebracht. Ich möchte Sie
darauf hinweisen, dass Sie hinsichtlich der Debatte um
den Donauausbau eben argumentiert haben, es gebe keine
ökologische Benachteiligung, wenn die Maßnahme entsprechend ausgeglichen werde.
Ich möchte Sie weiter darauf aufmerksam machen, dass
es zum Saaleausbau Gutachten gibt, die eindeutig belegen,
dass die von Ihnen geplante Staustufe am letzten frei
fließenden Abschnitt der Saale gravierende ökologische
Auswirkungen auf die Flussmündung der Saale hätte. Ihnen ist es bisher in keiner Weise gelungen, auf der Grundlage realer Schifffahrtsprognosen einen auch nur geringen
ökologischen Nutzen dieser Maßnahme nachzuweisen.
Frau Blank, die Landesregierung von Sachsen-Anhalt
- FDP und CDU - beabsichtigt, diese Maßnahme durchzuführen, obwohl dadurch ökologische Schäden eintreten
werden und ein ökonomischer Nutzen ausbleiben wird.
Sie will diese Maßnahme realisieren, ohne ein Raumordnungsverfahren durchzuführen. Von der Bundesregierung
wurden Untersuchungen zu der Frage der ökologischen
Verträglichkeit in Auftrag gegeben. Die Landesregierung
will die Ergebnisse aber nicht abwarten. Mit dieser Maßnahme werfen Sie das Tafelsilber der deutschen Einheit in
den Mülleimer.
Ich erwarte von der Landesregierung Sachsen-Anhalt
- von Ihnen, Herr Goldmann, erwarte ich, dass Sie entsprechend Einfluss nehmen -, dass sie sich wenigstens an
geltendes Planungsrecht hält, ein Raumordnungsverfahren durchführt und nicht gegen die geltende FFH-Richtlinie verstößt, zumal sicher ist - das haben Bürgerinitiativen und Umweltverbände angekündigt -, dass gegen den
Bau der jetzt zur Diskussion stehenden Staustufe geklagt
werden wird. Sie riskieren zum Schaden des Landes Sachsen-Anhalt, dass keine Strukturfondsgelder mehr fließen.
Mit diesem Vorhaben werden Sie keine positive Entwicklung in Sachsen-Anhalt in Gang setzen.
({0})
Zur Erwiderung Herr Goldmann.
Liebe Kollegin
Lemke, wir haben im Ausschuss über den Saaleausbau
diskutiert. Wir, die Parlamentariergruppe „Binnenschifffahrt“, haben uns das vor Ort angeschaut. Die geschätzte
Kollegin Faße und unser lieber Freund Wilhelm waren
auch dabei. Die Lösung, die uns vor Ort präsentiert wurde,
haben wir in ökologischer Hinsicht beeindruckend gefunden. Es ist ja an dieser letzten Staustufe sehr lange „herumgedoktert“ worden.
({0})
- Das mag ja sein, liebe Frau Lemke. Das kann ich nicht
beurteilen. Ich habe doch gesagt, dass ich nicht beurteilen
kann, welche Informationen Sie haben. Ich kann nur das
wiedergeben, was damals alle, die an Bord waren - es waren Vertreter der Wirtschaftsverbände, der betroffenen
Gemeinden und der Umweltverbände sowie Fachleute
dabei, die sich mit der Binnenschifffahrt befassen -, gesagt haben. Frau Lemke, Sie hätten ja mitfahren können.
Das wäre doch kein Problem gewesen. Auch Sie sollten
solche Termine wahrnehmen.
Wir, die Parlamentariergruppe „Binnenschifffahrt“,
sind jedenfalls angeschrieben und gefragt worden, ob wir
etwas für die wirtschaftliche Entwicklung der Schifffahrt
auf der Saale und damit auch für Sachsen-Anhalt tun
können, also für ein Land, in dem - darauf haben Sie zu
Recht hingewiesen - die Entwicklung nicht gerade positiv verläuft. Wir sind dorthin gefahren, haben uns das vor
Ort angeschaut und die Vorschläge aufgegriffen, die man
uns gemacht hat. Wir arbeiten daran.
Die Stadt Halle und die Industrie- und Handelskammern haben uns geschrieben und Varianten für die dort zu
entwickelnde so genannte Brunnengalerie vorgeschlagen,
die dazu beitragen soll, dass der Wasserstand nicht abfällt.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich fand es faszinierend, welche Lösung die Wasserbauer vorgeschlagen haben, um der dortigen ökologischen Situation - das ist notwendig - Rechnung zu tragen. Wenn wir uns aber Ihre
Haltung zu Eigen machen - die Sie gerade wieder vorgetragen haben, nämlich im Grunde genommen von vornherein dagegen zu sein -, dann werden wir den von uns allen in ökologischer Hinsicht geschätzten Verkehrsträger
Wasserweg nicht so nutzen können, wie ich das für notwendig erachte. Deswegen bemühen wir uns um Kompromisse und um einen Ausgleich zwischen Ökologie und
Ökonomie.
Ich meine, an dieser Stelle sollten wir Ihrer Position
nicht folgen. Wir sollten vielmehr darauf hinwirken, dass
an der Saale mehr passiert, natürlich unter Berücksichtigung ökologischer Gesichtspunkte. Letzteres ist für mich
überhaupt kein Thema. Jemand, der wie ich von der Küste
kommt, weiß sehr wohl, dass die ökologischen Belange
einer Region geschützt werden müssen. Sonst könnten
wir in den Küstenregionen gar nicht mehr leben.
({1})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin BullingSchröter von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Radikalausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen scheint jetzt vorerst vom Tisch zu sein. Die Koalition hat sich endlich zu
einem Antrag durchgerungen, der belegt, dass sie die jahrelangen Proteste von Bürgerinitiativen und Fachleuten
gegen die Staustufenprojekte ernst nimmt. Den Bürgerinitiativen und den Fachleuten muss endlich einmal Dank
ausgesprochen werden.
({0})
- Ich war bei der Anhörung dabei, auch wenn Sie mich
nicht gesehen haben.
Unklar bleibt allerdings, warum sich Rot-Grün noch
nicht einmal dazu durchringen konnte, sich bei der Abstimmung über unseren Antrag, der als erster vorlag, zu
enthalten. Ich verstehe das erst recht nicht, wenn man uns
dann unterstellt, wir hätten ihn nur abgeschrieben. Egal,
im Kern ist der Antrag, den Sie vorgelegt haben, mit unserem vergleichbar. Auf jeden Fall hat die Vernunft gesiegt. Die letzten naturnahen Donauabschnitte - das muss
man feststellen - werden jetzt so ausgebaut, dass nur ein
minimaler Schaden für die Umwelt und ein großer Nutzen
für einen umweltfreundlichen Güterverkehr auf dem
Wasser entsteht.
Mit den vorgesehenen strombaulichen Maßnahmen
können 92 Prozent - ich betone: 92 Prozent - des Ausbauziels erreicht werden. Ihre Variante des Staustufenausbaus wäre um eine halbe Milliarde Euro teurer gewesen.
Man muss den Wählerinnen und Wählern, auch den
bayerischen, einmal sagen, wie Sie mit deren Geld herumwerfen.
({1})
Sie sagen immer, dass die öffentlichen Kassen leer sind
und dass Sie sparen wollen. Hier kann ökologisch gespart
werden. Das muss man den Leuten sagen. Darum, meine
ich, ist der heutige Beschluss ein Glücksfall für Bayern.
({2})
Allein die CSU-Staatsregierung will sich nicht beglücken lassen. Mit erstaunlicher Ignoranz hat sie sich gegenüber ihren eigenen Bürgermeistern und auch dem umweltpolitischen Sprecher der CSU, der hier schon öfter
eine Rolle gespielt hat - vielleicht kommt er in den Bundestag und es verändert sich etwas -, durchgesetzt.
({3})
- Gut, das werden wir sehen. - Sie setzen bis heute auf
Beton; das hat sich immer wieder gezeigt. Glücklicherweise - das kann man in diesem Fall einmal sagen - ist
die Donau eine Bundeswasserstraße. Da können meine
Kollegen von der CSU hier und auch der Stoiber Edi in
Bayern wie im Übrigen auch Ihre Bauspezies im Kreis
hüpfen: Diesmal ist nichts zu holen, auch am 22. September nicht, obgleich Sie das immer meinen.
({4})
Wir sind ja mit 7 Prozent zufrieden.
({5})
Jetzt zu Saale und Elbe. Hier ist die Kuh noch nicht
vom Eis. Die Union spielt ihr übliches Spiel und die SPD
mit gezinkten Karten.
({6})
Es wird nicht ausgebaut, so hört man von den Sozialdemokraten im Verkehrsministerium, das seien alles nur Unterhaltungsmaßnahmen. Dabei werden uralte Pläne aus
den 30er-Jahren aus den Schubladen gezogen. Dass sich
der Fluss in diesen 70 Jahren verändert hat und damit die
so genannte Unterhaltung einem Ausbau gleichkommt,
dürfte klar sein. Deshalb haben wir etwas dagegen.
Im Unionsantrag zum Saaleausbau stehen so viele
Märchen, dass man schon mitleidig wird. Der so genannte
Flaschenhals, von dem Sie schreiben, besteht nicht nur an
der unteren Saale, sondern auf der gesamten Elbe mit ihrer Tauchtiefe von 1,40 Metern. Ein Ausbau der Saale hat
also nur Sinn, wenn die Elbe dran glauben muss. Für solche Dinge stehen wir nicht zur Verfügung.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Annette Faße.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen zum Ausbau der Donau
und wir stehen zur Variante A.
({0})
Dies ist keine Kröte, die wir hier schlucken müssen. Man
konnte in den letzten Wochen und auch heute wieder feststellen, dass suggeriert wird, damit passiere für die Binnenschifffahrt gar nichts. Dies ist aber völliger Unsinn;
das wissen Sie. Um das eindeutig zu sagen: Die Binnenschifffahrt wird gewinnen, wenn auch nicht so, wie sie es
sich vorgestellt hat.
({1})
Wofür streiten wir heute? Wir streiten über den Umfang des Ausbaus. Wir streiten über den Nutzen der verschiedenen Ausbauvarianten für die Schifffahrt und die
wirtschaftliche Entwicklung der Region. Wir streiten über
die Folgen des Donauausbaus für die Natur und für die
Menschen. Wir streiten über das künftige Erscheinungsbild einer alten Kulturlandschaft und die Folgen für den
Tourismus.
({2})
Wir streiten über den effizienten Einsatz von Bundesmitteln im Wasserstraßenbau.
Die Antworten, die Sie geben, sind sehr schlicht und
sehr einseitig. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Binnenschifffahrt hängt nämlich nicht allein davon ab,
wie die Donau zwischen Straubing und Vilshofen ausgebaut wird.
({3})
Wir haben uns die Entscheidung für die Variante A sicherlich nicht einfach gemacht. Die Anhörung hat dazu
geführt, dass wir die Entscheidung so schnell treffen
konnten. Wir haben diese Anhörung sehr wohl ernst
genommen; das müssten Sie allmählich einmal zur
Kenntnis nehmen.
({4})
Die Variante A ist die einzige Variante, bei der die Chance
besteht, dass sie überhaupt realisiert wird. Sie ist die einzige Variante, bei der nicht die Gefahr besteht, dass sie irgendwo auf dem langen Instanzenweg der Verwaltungsgerichte auf der Strecke bleibt. - Sie ist die einzige
Variante, die sich rasch realisieren lässt.
({5})
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Wir stehen sicherlich vor der Schwierigkeit, dass wir nicht wissen, was
die EU-Kommission zu den Ausbauvarianten in der Vielfalt, wie Sie sie gerne hätten untersuchen lassen, sagen
würde. Bei den Varianten C, D1 und D2 würden wir auf
jeden Fall vor einem Gericht landen.
({6})
Ob wir dort mit der Variante A landen werden, wage ich
zu bezweifeln. Warum sollten wir parallel Varianten untersuchen, mit denen wir eindeutig scheitern werden? Die
Variante A hat die größte Chance. Den Zeitfaktor sollten
wir nicht unterschätzen.
({7})
Herr Goldmann, da kann man zehnmal hin und her
rechnen: Der Kosten-Nutzen-Faktor ist bei Variante A mit
8,3 der beste. Das heißt, wir haben hier auch die geringsten Kosten.
({8})
Die Varianten, die Sie fordern, kosten das Doppelte.
Gleichzeitig stellen Sie sich hier in Berlin munter hin und
sagen: Wir wollen die Staatsquote senken.
({9})
Die CDU/CSU will sie auf 40 Prozent, die FDP sogar auf
ein Drittel senken.
({10})
Im Ergebnis bedeutete das, dass die Verkehrsinvestitionen
von derzeit 11,5 Milliarden Euro auf 7,5 Milliarden Euro
sinken würden.
({11})
Diesen Betrag hätten wir nicht mehr für die Finanzierung
von Verkehrsprojekten.
({12})
Es wäre überhaupt kein neues Verkehrsprojekt möglich.
({13})
Sie fordern hier und wollen auf der anderen Seite das Geld
nicht geben ({14})
nicht einmal für die Variante A; für die Variante D kriegen
Sie es schon gar nicht gebacken, um es deutlich zu sagen.
Dies ist für mich unglaubwürdig.
({15})
Ich möchte noch einmal auf den Vorwurf eingehen, der
auch im Ausschuss immer wieder vorgebracht wurde, wir
würden hier vertragsbrüchig. Ich sage ganz klar: Man
muss irgendwann einmal anerkennen, dass die Verträge
von 1921 und 1976 im EU-Recht ein Stück weiterentwickelt wurden.
({16})
Auch Bayern muss einmal anerkennen, dass wir ein europäisches Planungs- und Umweltrecht haben, das anzuwenden ist. In der Anhörung wurde deutlich, dass diese
Verwaltungsabkommen uns als Parlament sehr wohl das
Recht zur Entscheidung lassen.
({17})
Wir, die frei gewählten Abgeordneten des Deutschen
Bundestages, treffen die letzte Entscheidung über das Wie
des Donauausbaus
({18})
und auch über die Mittel, die wir dafür zur Verfügung stellen. Das ist rechtlich korrekt. Diese Entscheidung sollten
wir uns auch nicht nehmen lassen.
({19})
Darüber entscheidet Gott sei Dank nicht die Bayerische
Landesregierung
({20})
und auch nicht der Herr Stoiber, sondern wir hier in Berlin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch ein Wort zur
Saale. Es ist richtig, dass wir die Bereisung dort vorgenommen haben. Aber es ist auch richtig und wichtig, dass
wir zu den Vereinbarungen, die wir mit Sachsen-Anhalt
getroffen haben, stehen. Das heißt, im Rahmen des BunAnnette Faße
desverkehrswegeplans findet eine Überprüfung statt. Danach werden wir mit diesem Thema weiter umgehen, wie
es vereinbart ist, und zwar ökologisch und ökonomisch
sinnvoll.
({21})
Wir haben hier nach über 20 Jahren Diskussion, nach
vielen Anhörungen vor Ort, nach vielen Gutachten eine
Entscheidung zu treffen. Mein Kompliment an die Kolleginnen und Kollegen, die das über Jahre oder Jahrzehnte
mitverfolgt haben! Für sie ist es heute ein schöner Tag.
Aber ich meine, auch für die Donau ist es heute ein schöner Tag.
Danke.
({22})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Bartholomäus Kalb.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr
Kollege Schmidt, wie ernst Sie ein solches Thema nehmen, haben Sie mit Ihrer Schlusspassage mit dem Gstanzel gezeigt, das Sie hier gesungen haben.
({0})
Ich hatte gedacht, hier würde ernsthaft diskutiert und wir
befänden uns hier nicht in einem Komödienstadel.
({1})
Zweitens halte ich es für infam, wie Sie gegen den Donauausbau agitieren. Sie erwecken hier den Eindruck, als
würde durch den Donauausbau das für den Gesamtstaat
repräsentative Gebiet an der Isarmündung oder etwa auch
die Sammerner Heide geschädigt oder sogar beseitigt.
({2})
Das ist nicht der Fall. Als langjähriger Vorsitzender der
Mehrheitsfraktion im Kreistag von Deggendorf und als
Mitinitiator dieses Projektes weiß ich, wie sehr uns daran
gelegen ist. Der Landkreis, der Freistaat Bayern und der
Bund engagieren sich seit vielen Jahren mit erheblichen
Beträgen für das Projekt Isarmündung.
({3})
Sie schlagen sich an der Donau in die Büsche und erzählen hier Märchen. Das ist der wahre Sachverhalt.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD,
der Antrag, den Sie heute durchbringen wollen, ist voll
von Widersprüchen. In den Vorbemerkungen weisen Sie
nach, wie wichtig die Wasserstraßen für die Bewältigung
der Verkehrsprobleme in Deutschland sind und wie wichtig es ist, dass die Engpässe beseitigt werden.
({5})
Wörtlich heißt es hier:
Hierbei spielen Abladetiefe und Fahrrinnenbreite der
Wasserstraßen, aber auch die Höhe der Brücken über
die Wasserstraßen eine wichtige Rolle.
Weiterhin weisen Sie dann für den Bereich zwischen
Straubing und Vilshofen darauf hin:
... dieser Abschnitt wird im Bericht des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({6}) an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen des Deutschen Bundestages vom
Dezember 2001 als einer der wesentlichsten Engpässe im bundesdeutschen Wasserstraßennetz qualifiziert. Dessen zügige Beseitigung ist Voraussetzung
dafür, Verlagerungspotenziale von der Straße auf die
Wasserstraße zu realisieren.
({7})
Auch die Europäische Kommission hat in ihrem
Weißbuch über die „europäische Verkehrspolitik bis
2010“ vom 12. September 2001
({8})
eine Verbesserung der Befahrbarkeit der Donau zwischen Straubing und Vilshofen als eines der vorrangigen Verkehrsprojekte beschrieben.
({9})
So weit das Zitat aus Ihrem eigenen Antrag.
({10})
Bei der Beschlussempfehlung steht dann das Gegenteil. Hintergrund dafür ist doch, dass Sie sich selber, wie
der Herr Kollege Schmidt ja schon früher zum Ausdruck
gebracht hat, im Krieg befinden.
({11})
- Ja, er selber hat den Begriff „im Krieg befinden“ gebraucht.
({12})
Die Grünen hatten der SPD den Krieg erklärt und dann kapituliert. Das ist umso leichter gefallen, als man auch vor
Ort mit Blick auf die Landratswahlen eingeknickt ist, die
man noch mithilfe eines Frühstücksgesprächs zwischen
Struck und Schlauch günstig beeinflussen wollte.
({13})
- Wenn man sich anschaut, dass Sie vorher mit 70 Prozent
bei der Landratswahl rechneten und dann 37 Prozent bekamen, kann man das nicht als ein besonders gutes Ergebnis qualifizieren.
({14})
Aber die örtlichen Dinge können wir hier beiseite lassen.
Ich bedauere sehr, dass man in einem so hohen Maße
verantwortungslos mit wichtigen Fragen umgeht.
({15})
Erst führt man vertiefende Untersuchungen, die zweistellige Millionenbeträge an Kosten verursachen, und Expertenanhörungen durch und beteuert dabei immer, auch von
Ihrer Seite, Frau Irber und Herr Schmidt, dass man die Ergebnisse ganz sorgfältig auswerten wolle.
({16})
Man hat sogar angekündigt, dass es vor der Sommerpause
gar nicht mehr möglich sein werde, sachlich und fachlich
fundierte Entscheidungen zu treffen. Aber all diese Erkenntnisse wischt man dann einfach so vom Tisch.
({17})
Wenn ein Funken von Verantwortungsbereitschaft vorhanden wäre und man diese Erkenntnisse in die weiteren
Prozesse hätte einfließen lassen wollen, dann hätte man
zumindest dem Vorschlag, ein vergleichendes Raumordnungsverfahren für die Varianten A, C und D einzuleiten, zugestimmt. Darüber bestand ja schon weitestgehend zwischen den Fachministerien in Bayern und Berlin
Konsens. Auf der Grundlage der daraus gewonnenen Ergebnisse und Erkenntnisse hätte man dann wirklich eine
fachlich und sachlich saubere Entscheidung treffen können.
Sie wissen ganz genau, dass der Beschluss, den Sie
jetzt fassen wollen - deshalb haben Sie die Beratung des
Antrages um weitere vier Monate verzögert, damit er erst
jetzt, in den letzten Wochen dieser Legislaturperiode, behandelt wird -, so nicht vollzogen werden kann, weil er
gegen geltende Verträge verstößt.
({18})
Mit einer solchen Vorgehensweise können die von Ihnen
selbst geforderten Ausbauziele nicht erreicht werden.
Danke.
({19})
Ich wundere
mich, dass so spät am Freitagnachmittag noch so viel Aufregung ist. Herr Kalb, ich kann Ihnen leider nicht mehr
das Wort geben, weil Ihre Redezeit vorbei ist.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brunhilde Irber.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein schöner Tag für die Donau.
({0})
Das hat die Kollegin Faße gesagt und ich kann ihr nur zustimmen. Ich bin die Heimatabgeordnete aus der Donauregion in Niederbayern, aus Osterhofen, wo die Ausbaumaßnahme am meisten greift. Seit 24 Jahren kämpfe ich
im Kreistag von Deggendorf für einen sanften Ausbau der
Donau, der Natur und Schifffahrt in Einklang bringt und
die Belange der Bevölkerung berücksichtigt.
({1})
Heute ist mein schönster Tag im Deutschen Bundestag,
dem ich nun seit zwei Wahlperioden angehöre, weil mein
großes Anliegen, das mich in den Deutschen Bundestag
getrieben hat, heute zu einem glücklichen Abschluss
kommt.
({2})
- Ich bleibe auch, Herr Goldmann; das bleibt Ihnen nicht
erspart. - Auch die Widersprüche, die heute noch einmal
bei der CDU/CSU und der FDP zutage getreten sind, können mir die gute Laune nicht verderben.
({3})
Aber interessieren würde mich schon, Herr Goldmann,
wieso Ihre Kollegen von der bayerischen FDP inklusive
des Herrn Kollegen Stadler, der Mitglied dieses Hauses
ist, sich bei allen Donaukongressen für einen sanften Ausbau der Donau ausgesprochen haben
({4})
- öffentlich, das ist dokumentiert -, aber Sie hier im Bundestag anderer Auffassung sind. Der Herr Kollege
Friedrich, Ihr verkehrspolitischer Sprecher, ist nicht einmal hier. Das lässt tief blicken.
({5})
Jetzt zum Herrn Kollegen Kalb. Herr Kollege Kalb, Sie
fordern einen zügigen Ausbau der Donau, um die Schifffahrt zu befördern. Das machen wir, denn mit der heutigen Entscheidung kann in das Raumordnungsverfahren
eingetreten und dann zügig das PlanfeststellungsverfahBartholomäus Kalb
ren durchgeführt werden. Die Variante A erfüllt 92 Prozent der Zielvorgabe.
({6})
und ist am schnellsten zu realisieren. Damit hat sich die
Vernunft durchgesetzt.
({7})
Ich möchte heute zum Abschluss wirklich allen herzlich
danken, die sich dafür eingesetzt haben, dass die Donau ein
Fluss bleiben kann. In diesen Dank möchte ich die Kollegin Annette Faße einschließen - sie hat sich sehr bemüht -,
({8})
den Kollegen Müller und vor allem den Kollegen Horst
Kubatschka,
({9})
denn er hat dieses Anliegen hier schon in der 12. Legislaturperiode vertreten. Wir haben leider so wenig Redezeit,
dass wir sie nicht mehr teilen konnten, sonst hätte er heute
auch noch etwas gesagt.
Ich möchte mich ebenso bei den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, bei der Bundesregierung, bei dem Koalitionspartner, den Grünen, und vor allem bei den vielen Bürgerinitiativen und bei den beiden Kirchen bedanken, die
dieses Anliegen über eine breite Bevölkerungsschicht
vertreten haben.
Ich glaube, dass die CSU gut beraten wäre, wenn sie
ihre Haltung hier ändern würde. Einerseits betreibt sie die
Renaturierung der Isar in Niederbayern und im Münchener Raum, andererseits will sie die Donau in ein neues Betonkorsett zwängen. Das passt nicht zusammen.
({10})
- Natürlich war ich da, Herr Goldmann.
({11})
Die Frau Präsidentin klingelt schon, ich muss jetzt aufhören. Ich möchte mich aber bei allen herzlich bedanken,
auch bei Iris Gleicke, unserer stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, die nicht unmaßgeblich am Zustandekommen beteiligt war, sowie bei Reinhard Weis. Herzlichen
Dank allen, die dazu beigetragen haben, dass die Donau
weiter fließt. Auch ich könnte jetzt singen: „Oh Donau, so
blau, so blau, so blau ...“
({12})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/9251. Unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/8589 mit
dem Titel „Für einen sanften Ausbau der Donau zwischen
Straubing und Vilshofen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/8484 mit dem Titel „Verbesserung der Schifffahrtsverhältnisse im Donauabschnitt
zwischen Straubing und Vilshofen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
FDP mit dem Titel „Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit demselben eben festgestellten Stimmenverhältnis angenommen worden.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/7196 mit dem Titel „Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen
ökologisch gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Drucksache 14/9247, zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Notwendigkeit des Saaleausbaus“. Der
Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Rechts der Vertretung durch
Rechtsanwälte vor den Oberlandesgerichten
- Drucksache 14/8763 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 14/9266 Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Volker Beck ({2})
Dr. Evelyn Kenzler
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst das Wort
dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Eckhart
Pick.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Mir ist auf die Schnelle nicht eingefallen, welches
Lied sich auf den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf beziehen könnte, weil es sich doch um sehr unterschiedliche
Materien handelt, wie wir alle wissen.
({0})
Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf wird der Lokalisationszwang vor den
Oberlandesgerichten aufgehoben. Dies ist ein weiterer
Schritt zur Modernisierung und auch zur Deregulierung
der Justiz. Längst gibt es keinen einleuchtenden Grund
mehr für die Beschränkung, dass ein Rechtsanwalt in
Zivilprozessen nur vor dem Oberlandesgericht auftreten
darf, bei dem er auch zugelassen ist.
({1})
Auf der Ebene der Landgerichte haben wir diesen
Grundsatz bekanntlich schon zum 1. Januar 2000 abgeschafft. Nach Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht
zugestandenen Übergangsfrist bis zum 30. Juni 2002 können wir diesen Schritt nun auch auf der Ebene der Oberlandesgerichte vollziehen. Die Rechtsuchenden sind
dadurch nicht länger gezwungen, für das Berufungsverfahren den Anwalt zu wechseln. Der erstinstanzlich
tätige Anwalt ihres Vertrauens kann nunmehr auch vor dem
Oberlandesgericht auftreten, wenn er nur überhaupt bei einem Oberlandesgericht zugelassen ist. Diese Vereinfachung führt zu Einsparungen für den Rechtsuchenden und
auch für die Haushalte der Länder, die von zusätzlichen
Prozesskostenhilfeausgaben entlastet werden.
Möglich wurde diese Deregulierung erst durch den
Wegfall der verfassungswidrigen Singularzulassung zum
1. Juli dieses Jahres. Die vom Bundesverfassungsgericht
insoweit formulierte Übergangsregelung ist eindeutig. Ich
habe deswegen kein Verständnis für das Ansinnen, die
verfassungswidrige Singularzulassung für einen längeren
Übergangszeitraum aufrechtzuerhalten.
({2})
Ein Gesetz mit einer solchen Regelung könnte im Übrigen vom Bundesverfassungsgericht sofort per einstweiliger Anordnung wieder gestoppt werden.
({3})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir Regelungen auch zu anderen Bereichen treffen. Wichtig ist
mir insbesondere, dass wir durch Vorschriften im Zivilund Verfahrensrecht die Rechte behinderter Menschen
weiter stärken. So werden in Zukunft blinde, sehbehinderte sowie hör- und sprachbehinderte Menschen vor Gericht Dokumente in einer für sie wahrnehmbaren Form,
zum Beispiel in Brailleschrift oder auf Tonträgern, erhalten. Weiterhin wird eine Vorschrift in das BGB aufgenommen, die erwachsene Geschäftsunfähige in die Lage
versetzt, Geschäfte des täglichen Lebens mit den ihnen
zur Verfügung stehenden Mitteln zu bewirken. Behinderte
sollen im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten, zum
Beispiel beim Kaufmann um die Ecke, Gegenstände des
täglichen Bedarfs rechtlich wirksam kaufen können. Auch
dies entspricht übrigens einer langjährigen Forderung der
Behindertenverbände.
Ein weiterer wesentlicher Regelungskomplex des vorliegenden Gesetzentwurfes betrifft die Verbraucherrechte bei Darlehensverträgen zur Finanzierung von
Immobilien. Der Europäische Gerichtshof hat am 13. Dezember des vergangenen Jahres in der Sache Heininger. /.Hypo-Vereinsbank entschieden, dass dem Verbraucher
jedenfalls dann ein gesetzliches Widerrufsrecht eingeräumt
werden muss, wenn der Immobiliardarlehensvertrag ein
Haustürgeschäft ist. Er hat weiterhin entschieden, dass die
Ausübung dieses Widerrufsrechts nicht befristet werden
darf, wenn der Verbraucher nicht ordnungsgemäß über
sein Widerrufsrecht belehrt worden ist. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf passen wir das deutsche Recht
nicht nur an diese Vorgaben an, sondern verbessern darüber hinausgehend den Verbraucherschutz auf diesem
Gebiet.
Das betrifft die folgenden Änderungen des Widerrufsund Beurkundungsrechts:
Zum einen soll es künftig auch für Immobiliardarlehensverträge ein generelles Widerrufsrecht des Verbrauchers innerhalb von zwei Wochen geben, das unabhängig
davon besteht, ob der Vertrag in einer Haustürsituation geschlossen worden ist oder nicht. Verbraucherdarlehensverträge sind bereits heute grundsätzlich innerhalb von zwei
Wochen widerruflich. Dieses Widerrufsrecht hat der Gesetzgeber vorgesehen, weil es bei Verbraucherdarlehensverträgen aller Art auf die Einzelheiten der Bedingungen
und der Konditionen ankommt und der Verbraucher die
Möglichkeit haben soll, diese sorgfältig zu prüfen. Ausgerechnet für den wichtigsten Darlehensvertrag eines Verbrauchers, den Immobiliardarlehensvertrag für das eigene
Haus bzw. die eigene Wohnung, gilt diese Regelung bislang nicht. Dies wollen wir ändern.
Zum anderen soll wie bei allen anderen Darlehensverträgen der Widerruf des Darlehensvertrages auch die
Rückabwicklung des finanzierten Geschäfts zur Folge
haben, wenn Darlehensvertrag und finanziertes Geschäft
eine wirtschaftliche Einheit darstellen. Denn es ist niemandem zu vermitteln, weshalb bei einem Immobiliardarlehensvertrag das ausgeschlossen sein soll, was bei
jedem anderen Darlehensvertrag gilt. Wenn der Verkäufer
und der Darlehensgeber wirtschaftlich eng zusammenarbeiten, dann müssen beide die Konsequenzen eines Widerrufs tragen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Die zweiwöchige Widerrufsfrist beginnt nach diesem
Vorschlag erst mit einer ordnungsgemäßen Belehrung
über das Widerrufsrecht. Wenn der Unternehmer den Verbraucher nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht
belehrt, dann soll diese Widerrufsfrist nicht laufen und vor
allem das Widerrufsrecht nicht mehr wie bisher nach Ablauf von sechs Monaten erlöschen.
Ich glaube, dass wir mit diesen Maßnahmen einen
großen Schritt zur Verbesserung des Verbraucherschutzes
tun. Ich bitte um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat der
Kollege Norbert Röttgen das Wort.
Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unter dem
harmlosen Titel „Gesetz zur Änderung des Rechts der
Vertretung durch Rechtsanwälte vor den Oberlandesgerichten“ verbergen sich völlig unterschiedliche Gesetzgebungsmaterien, die im Verfahren draufgesattelt worden
sind, die ohne inneren Zusammenhang und in der Sache
völlig unterschiedlich zu bewerten sind. Wir stimmen
etwa den Regelungen zur Verbesserung der Rechtsstellung von behinderten Menschen ausdrücklich zu. Bei anderen Regelungen gilt aber das Gegenteil.
Bevor ich zum Inhalt komme, will ich eine an alle
Fraktionen gerichtete Bitte äußern - wir reden in diesen
Tagen und auch bei diesem Gesetz viel über den Verbraucherschutz -: Vielleicht wäre es eine sinnvolle Maßnahme
des Verbraucherschutzes, Titel und Inhalt von Gesetzen
wieder mehr in Übereinstimmung zu bringen. Der Titel
dieses Gesetzes sagt über seinen Inhalt gar nichts aus.
({0})
Was uns allerdings viel mehr beschwert, ist die Tatsache, dass wir es erneut mit einem parlamentarischen
Schnellverfahren zu tun haben. Am Montag gab es die
Sachverständigenanhörung zu ganz unterschiedlichen
- das will ich noch einmal betonen -, jeweils sehr komplexen und komplizierten Materien, am Dienstag wurden
die Gesetzentwürfe substanziell geändert, sodass am Mittwoch über 100 Seiten an Änderungsanträgen in den
Rechtsausschuss kamen. Es gab kaum Gelegenheit zur
Kenntnisnahme. Und heute, Freitagnachmittag, finden die
zweite und dritte Lesung statt.
Meine Damen und Herren, ich bedauere es sehr, feststellen zu müssen, dass es nach meiner festen Überzeugung noch nie eine Mehrheit im Bundestag gegeben hat,
die an der Entparlamentarisierung der Gesetzgebung so
mitgewirkt hat wie die jetzige rot-grüne Mehrheit.
({1})
Das hat über dieses Gesetz hinaus Bedeutung; denn es ist
leider kein Einzelfall. Es ist im Grunde die Dauermethode
Ihrer Rechtspolitik in wichtigen Bereichen.
({2})
- Sie werden doch auch nicht konsultiert. Es ist exekutive
Gesetzgebung. Ihre Fraktion und die Fraktion der Grünen
sind genauso wenig an der Gesetzgebung beteiligt, wie es
die Oppositionsfraktionen sind. Wir jedenfalls beanstanden das, während Sie diesen Prozess noch unterstützen.
({3})
Das geht das gesamte Parlament etwas an. Es sind auch
Ihre Rechte betroffen. Wir haben ein Ausmaß an exekutiver Gesetzgebung erreicht, das nicht gut ist.
({4})
Dieser Trend ergreift nun auch das Verhältnis von Bundestag zu Bundesrat. Die Bundesregierung hat beim
Bundesrat beantragt, der Fristverkürzung zuzustimmen.
Sie können diesen Gesetzentwurf dem Bundesrat nicht
mehr unter Einhaltung der vorgeschriebenen Fristen zuleiten. Der Bundesrat hat dem Antrag auf Fristverkürzung
nicht zugestimmt.
Ich fordere Sie heute auf, sich zu erklären, ob Sie bereit und entschlossen sind, unter Verletzung der Frist, die
für das Zuleitungsverfahren an den Bundesrat vorgesehen
ist, dieses Gesetzesvorhaben dem Bundesrat kampfweise
zuzuleiten. Ich bitte Sie, sich dazu heute im Bundestag zu
erklären. Das wäre erneut eine Verletzung der Verfahrensrechte des Bundesrates. Sie sollten heute darüber
Auskunft geben, ob Sie dazu bereit sind oder nicht.
Es gibt einen sachlichen Grund, um einen ganz bestimmten Teil dieses Gesetzes eilig zu beschließen. Es
drohen nämlich Staatshaftungsansprüche gegen die
Bundesrepublik Deutschland, auf Deutsch gesprochen:
Schadensersatzansprüche gegen den Staat wegen legislativen Fehlverhaltens.
Dieses legislative Fehlverhalten fand in jüngster Zeit
statt. Es entstammt einem anderen parlamentarischen
Schnellverfahren, nämlich der Schuldrechtsreform. In
dem Schuldrechtsreformgesetz hat die rot-grüne Mehrheit, die in ihren Überschriften sehr viel vom Verbraucherschutz redet, den Verbrauchen die Rechte, die ihnen
nach einer europäischen Richtlinie, der Haustürgeschäfterichtlinie, zustehen, beschnitten. Es wurde auch nicht
übersehen, dass hier noch etwas umzusetzen war. Vielmehr ist das, was Herr Professor Pick, der Parlamentarische Staatssekretär, als den jetzigen Regelungsgehalt dargestellt hat, Inhalt der europäischen Richtlinie, die das
Ziel hat, die Verbraucher zu schützen.
({5})
Das war bekannt; darüber wurde diskutiert.
Ihre politische Auffassung war, den Verbrauchern diese
Rechte zu beschneiden, obwohl diese Rechte dem Wortlaut wie dem Zweck nach eindeutig in der entsprechenden
Richtlinie ausgeführt worden sind. Die Folge war: Der
Europäische Gerichtshof hat Ihnen mitgeteilt, dass dieses
Gesetz europarechtswidrig ist und Sie es ändern müssen.
Das hat der Europäische Gerichtshof allerdings schon im
Dezember 2001 getan.
Ich möchte fragen, was das für eine enorme Reaktionsgeschwindigkeit des Bundesjustizministeriums ist.
Sie haben ein halbes Jahr für die Korrektur zweier relativ
marginaler Regelungsbereiche benötigt. Ich kann das
nicht verstehen. Das ist eine Schneckenhaftigkeit, die ich
für erklärungsbedürftig halte.
({6})
Vielleicht kann man heute darüber Auskunft erlangen.
({7})
Wir jedenfalls haben immer deutlich gesagt, dass wir
uns dieser notwendigen Korrektur Ihres eigenen Gesetzes
nicht verschließen werden. Wir sind für diese europäische
Richtlinie und auch für Verbraucherschutz auf diesem Gebiet und auch in anderen Bereichen. Unfair ist aber, dass
Sie diesen Regelungsbereich, die Notwendigkeit dieser
Korrektur, als Vehikel benutzen, um andere - hochproblematische, hochsensible und komplexe - Regelungsmaterien, die in der Beratung und nun auch in der Vorlage
unausgereift sind, durch das Parlament zu bringen.
Ich spreche insbesondere von dem hochproblematischen und ebenso komplexen wie sensiblen Thema der so
genannten verbundenen Geschäfte. Wir haben es hier
mit einer Fallkonstellation zu tun, in der sich Hunderttausende von Menschen bzw. Verbrauchern geschädigt und
um ihre Rechte betrogen fühlen. Ich sage das bewusst so
subjektiv, um deutlich zu machen, wie die subjektive
Wahrnehmung bei unbestritten Hunderttausenden von
Menschen ist.
Rechtlich-technisch gesprochen geht es um die Frage:
Wann bilden ein Verbraucherkreditvertrag und ein Grundstückskaufvertrag - der Kreditvertrag ist abgeschlossen
worden, um den Grundstückskauf zu finanzieren - ein so
genanntes verbundenes Geschäft? Wann bilden sie eine
wirtschaftliche Einheit, sodass beide Verträge nicht als
rechtlich selbstständig anzusehen sind, sondern der Mangel des einen auch auf den anderen Vertrag durchschlägt?
Die Antwort auf diese Frage, also wie dies gesetzlich
bewertet wird, ist entscheidend für die Effektivität der
Verbraucherrechte. Sie ist genauso entscheidend für die
Kalkulierbarkeit des wirtschaftlichen Risikos auf der Anbieterseite, nämlich bei den Banken und der Bauwirtschaft.
Wir haben nicht über das Ob einer Regelung gestritten;
eine Regelung ist nötig. Wir haben über die Methode gesprochen. Sollen wir das der Rechtsprechung vorbehalten? Sollte man sich von Fall zu Fall hangeln? Ist das besser so oder soll das der Gesetzgeber machen? Ich meine,
der Gesetzgeber sollte es machen. Die Schwierigkeiten
liegen jedoch nicht im Ob, sondern im Wie.
Das, was Sie nun in der Schnelligkeit und der Hektik
dieses Gesetzgebungsverfahrens vorgelegt haben, ist untauglich. Ich bedauere, das hier sagen zu müssen. Es wird
ganz sicher Rechtsunsicherheit für beide Seiten nach sich
ziehen. Sie haben ins Subjektive gehende Formulierungen
gewählt, die ungenau sind. Sie haben nur die bisherige
Rechtsprechung rezipiert und dann eine allgemeine Öffnungsklausel formuliert. Für beide Seiten bedeutet dies
Rechtsunsicherheit. Die Banken werden möglicherweise
rechtsunsicher. Vielleicht werden die Geschäfte teurer
und vielleicht wird es solche Geschäfte in Zukunft nicht
mehr geben.
Aber mindestens so schwer und in den Auswirkungen
vielleicht noch schwerer wiegt, dass diese Rechtsunsicherheit natürlich die Bürger bzw. die Verbraucher betrifft. Durch Rechtsunsicherheit bei solchen Prozessen,
bei denen es um Immobilienkäufe geht und die natürlich
einen sehr hohen Streitwert haben, belasten Sie die Verbraucher, die sich geschädigt fühlen und möglicherweise
in ihrer Existenz getroffen sind, weil sie sich voll mit dem,
was sie haben, und sogar mit mehr wirtschaftlich engagiert haben. Sie bürden ihnen durch die gesetzliche Formulierung, für die Sie sich entschieden haben, im Grunde
ein untragbares Prozessrisiko in Form eines Kostenrisikos
auf.
Es ist nicht so einfach, alles hinzukriegen. Die Hektik
des Gesetzgebungsverfahrens hat die schlechte Qualität
der Gesetze bewirkt. Das muss hier so deutlich angesprochen werden.
Ich möchte ein zweites Thema ansprechen. Das hat
Herr Pick in seinem Beitrag auch thematisiert, nämlich
die Frage einer Übergangsregelung für das Auslaufen der
Singularzulassungen, die verfassungsgerichtlich angeordnet worden ist. Wir haben nun die besondere Konstellation, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf eine Beschwerde von betroffenen
Bürgern und Anwälten hin mit dieser Sache befasst. Er ist
in die Sachprüfung eingetreten und die Fragen, die er an
die Bundesrepublik Deutschland gestellt hat, lassen es
- um es zurückhaltend zu formulieren - nicht ausgeschlossen erscheinen, dass der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte zu dem Ergebnis kommen kann,
dass das praktische Fehlen einer Übergangsfrist oder jedenfalls einer maximal halbjährlichen Übergangsfrist
konventionswidrig ist, nämlich eine rechtswidrige entschädigungslose Enteignung darstellt.
Das kann passieren. Wir wissen es nicht; denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat noch nicht
entschieden. Darum haben wir vorgeschlagen, den
Rechtszustand, der seit 50 Jahren gilt, noch um ein paar
Monate zu verlängern und die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abzuwarten,
um im Lichte dieser Entscheidung über eine gesetzliche
Regelung befinden zu können.
Was wäre denn die Folge, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entscheiden sollte, diese
Maßnahme sei konventionswidrig gewesen? Dann hätten
wir die sehr unerfreuliche Kollision einer Entscheidung
des höchsten deutschen Gerichtes, des Bundesverfassungsgerichts, mit einer Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte. Wir sind nicht mehr
allein für uns, auch nicht in der Rechtsordnung und in der
Rechtsprechung. Die Rechtsprechung ist in die europäische und die internationale Gerichtsbarkeit eingebettet.
Wir sollten versuchen, Kollisionen unvermittelt nebeneinander stehender Entscheidungen, die die Autorität und
Glaubwürdigkeit der Rechtsprechung beeinträchtigen,
aufzulösen. Eine weitere Folge einer solchen EntscheiDr. Norbert Röttgen
dung des Europäischen Gerichtshofes wäre nicht die Kassation der staatlichen Maßnahme, sondern wahrscheinlich
die Auslösung erheblicher Schadensersatzansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland. Auch das sollten
wir verhindern.
Darum lautet unser praktischer Vorschlag: Lasst es uns
noch ein paar Monate lang so machen, wie wir es 50 Jahre
lang gemacht haben. Dann könnten wir auf Basis der
Kenntnis der neuen Sach- und Rechtslage entscheiden. Da
es wahrscheinlich ein Vermittlungsverfahren geben wird,
appelliere ich an Sie, dass wir darüber wie auch über andere Punkte noch einmal reden. Wir bedauern ausdrücklich - um es noch einmal zu sagen - dass hier in einem
Schnellverfahren entscheidende Probleme, die für die betroffenen Bürger von hoher Relevanz sind, nur unzureichend geklärt worden sind. Darum können wir diesem
Gesetzentwurf nicht zustimmen, obwohl wir in Teilpunkten mit ihm einverstanden sind.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das heutige
Gesetz ist eine durch und durch gelungene Mischung:
({0})
ein leistungsstarker, topmoderner Omnibus. Mit den
neuen Regelungen über das Widerrufsrecht bei Immobiliardarlehensverträgen stärken wir den Verbraucherschutz. Mit dem Wegfall der Singularzulassung für die
Anwälte bei den Oberlandesgerichten stärken wir die Berufsfreiheit und beenden einen verfassungswidrigen Zustand. Mit den Vorschriften im GVG und den diversen
Prozessordnungen stärken wir die Rechte behinderter
Menschen. Wir komplettieren damit das Bundesgleichstellungsgesetz, das wir vor kurzem bereits verabschiedet
haben.
Meine Damen und Herren von der Opposition, es gibt
überhaupt keinen Grund, sich über dieses Omnibus-Gesetz so aufzuregen, wie Sie es tun. Im Gegenteil, Grund
zur Aufregung haben allenfalls wir, und zwar über Sie;
denn Sie scheren sich offensichtlich einen Dreck um das,
was das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei
der OLG-Zulassung aufgetragen hat. Sie wollen allen
Ernstes zugunsten einer kleinen Gruppe von OLG-Anwälten, deren Anliegen ich im Übrigen in Straßburg keine
großen Chancen einräume, den Karlsruher Richterspruch
ignorieren. Sie wollen eine Fristverlängerung, obwohl
Karlsruhe uns klare Vorgaben gemacht hat. Das ist ein
echter Skandal, wenn auch bei Ihnen nicht wirklich neu.
In den vergangenen Wahlperioden haben Sie die Umsetzungsfristen von EU-Richtlinien regelmäßig nicht so eng
gesehen. Jetzt nehmen Sie offensichtlich nicht einmal
mehr das Bundesverfassungsgericht ernst.
Wir stärken heute mit der Beendigung des Verbotes der
Simultanzulassung von Anwälten bei Oberlandesgerichten die Berufsfreiheit und machen zugunsten des gesamten Berufstandes der Anwälte Schluss mit den Privilegien
einiger weniger. Eine Verlängerung der Übergangsfrist ist
auch von der Sache her nicht gerechtfertigt. Das Urteil ist
den OLG-Anwälten seit dem 13. Dezember 2000 bekannt; es gab also hinreichend Zeit, sich darauf einzustellen. Seitdem können sich die OLG-Anwälte auch an den
Landgerichten zulassen, um unnötigen Konkurrenzdruck
zu vermeiden.
Meine Damen und Herren, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 13. Dezember 2001 in der Sache Heininger ./. Hypo- und Vereinsbank war ein großer
Sieg für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Hunderttausende geprellter Kunden, denen unter zweifelhaften
Bedingungen Schrottimmobilien angedreht wurden, können jetzt hoffen. Die Möglichkeit, solche kreditfinanzierten Immobiliengeschäfte per Widerruf rückgängig
zu machen, wird jetzt geschaffen. Das ist gut so. Deshalb
sage ich Ihnen auch hier, sehr verehrte Kolleginnen und
Kollegen von Union und FDP: Es gibt überhaupt keinen
Grund, diese europäischen Vorgaben nicht so schnell wie
möglich in unser Recht umzusetzen. Ihnen ist aber am
Verbraucherschutz offensichtlich nicht viel gelegen; das
haben wir auch in der Landwirtschaftsdebatte immer wieder hören müssen. Sie wollen, dass die Praxis unseriöser
Geschäftemacher zulasten der kleinen Leute fortgesetzt
wird. Wir erteilen dem eine klare Absage.
Unsere Lösung ist bis ins letzte Detail ausgewogen und
tragfähig. Gemeinsam mit der Bundesnotarkammer haben wir eine Lösung erarbeitet, die künftig die Pflichten
der Notare bei der Beurkundung von Verbraucherverträgen klar umreißt. Verbraucher werden künftig frühzeitig
und umfassend über diese Art von Geschäften informiert.
Zusammen mit diesem Omnibus-Gesetz geben wir
auch einige Verbesserungen für sehbehinderte und blinde
ebenso wie für hör- und sprachbehinderte Menschen in
das Gesetzgebungsverfahren: im Prozessrecht, im Recht
der Geschäftsfähigkeit und beim Errichten von Testamenten. Diese Vorschriften folgen der Linie des am 1. Mai in
Kraft getretenen Gleichstellungsgesetzes. Sie fördern
Selbstbestimmung und stärken die Rechte von behinderten Menschen. Diese Regelungen runden die großen Reformprojekte für behinderte Menschen für diese Wahlperiode ab. Wir gehen einen weiteren Schritt in eine im
umfassenden Sinne barrierefreie Gesellschaft.
Gleichwohl ersetzen diese Bestimmungen nicht ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz für Behinderte.
Ein wirksames und rechtsstaatliches, zielgenaues Gesetz
zur Verhinderung von Diskriminierungen im Zivilrecht
bleibt eine wichtige Aufgabe für die nächste Wahlperiode.
Wir werden dafür sorgen, dass es dann auch kommt.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unter dem harmlos klingenden Titel
„Gesetz zur Änderung des Rechts der Vertretung durch
Rechtsanwälte vor den Oberlandesgerichten“ soll heute
ein Gesetz verabschiedet werden, das immerhin 34 Artikel umfasst und zum Teil gravierende Veränderungen unserer Rechtsordnung vorsieht.
Ich räume ein, dass es leider in diesem Parlament insbesondere am Ende einer Legislaturperiode nicht unüblich
ist - sogar unabhängig von der jeweiligen Koalition -, dass
solche Artikelgesetze häufig auch als Reparaturgesetze
der vergangenen Beschlüsse vorgelegt werden. Bei dem
schlecht formulierten Schuldrechtsmodernisierungsgesetz
({0})
ist es kein Wunder, dass mit dem heute vorliegenden Reparaturgesetz auch einige schuldrechtliche Bestimmungen geändert werden müssen.
({1})
Ungewöhnlich ist jedoch, dass nach Einbringung eines Gesetzes durch so genannte Formulierungshilfen wesentliche Änderungen und Ergänzungen des Bürgerlichen Gesetzbuches insbesondere hinsichtlich der so
genannten Verbundverträge hineingemogelt werden,
ohne dass sie in erster Lesung beraten werden. Dies ist
auch nicht mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs oder des Europäischen Gerichtshofs zu rechtfertigen. Der Anlass für die Rechtsprechung dieser Gerichte
war die Verkaufspolitik einiger Banken und Sparkassen
insbesondere zu Beginn der 90er-Jahre. Es ist in der Tat
einzuräumen, dass damals Anleger geschädigt worden
sind. Diese Mängel der Gesetzgebung sind inzwischen
schon längst behoben, nicht zuletzt durch die Rechtsprechung und durch die Arbeit dieses Parlamentes; denn wir
haben die Steuervergünstigungen, die bei diesen Steuermodellen üblich waren, beseitigt. Die jetzt gefundene
Formulierung in § 358 Abs. 3 BGB wird der Rechtsprechung leider mehr Steine als Brot geben. Die Formulierungen sind schwammig und auslegungsbedürftig. Dadurch besteht die Gefahr, dass sowohl bei den Banken
und bei den Bauträgern als auch bei den Kreditnehmern,
also den Käufern von Eigentumswohnungen, ganz erhebliche Unsicherheiten entstehen.
Dies birgt natürlich große Risiken, im Übrigen auch für
die Verbraucher. Dies wird immer wieder verkannt. - Herr
Beck ist leider schon wieder nicht mehr da. Gerade die
Verbraucher, die er schützen möchte, werden hier unter
Umständen geschädigt, weil sie höhere Zinsen für den
höheren Aufwand der Banken in Kauf nehmen müssen.
({2})
Man hätte schon die unterschiedlichen Interessen genau
abwägen müssen. Dies war aber angesichts der Kürze dieser Beratung und der Hetze, die wiederum von dem Bundesjustizministerium ausgelöst worden ist, gar nicht möglich.
({3})
- Ja, auch das ist richtig, Herr Koppelin. Wir müssen dies
aber eigentlich nicht immer hinnehmen. Aber leider haben
die Koalitionsfraktionen dies mit ihrer Mehrheit hingenommen. Dies wird zu erheblichen Schäden für die Gesamtwirtschaft führen,
({4})
sowohl bei der Bauindustrie als auch bei den Banken und
natürlich auch den Kunden.
Dasselbe gilt für den eigentlichen Anlass dieses Gesetzes, nämlich die Vertretung von Rechtsanwälten vor
Oberlandesgerichten. Hier kann ich nur Herrn Röttgen
folgen: Es hätte überhaupt nichts geschadet, wenn wir
noch ein halbes Jahr abgewartet hätten, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden hätte.
Auch das Bundesverfassungsgericht hätte die neue Sachund Rechtslage sicherlich akzeptiert
({5})
und die Drohung, die Sie, Herr Pick, ausgesprochen haben, wäre sicherlich nicht Wirklichkeit geworden.
({6})
Lassen Sie mich abschließend sagen, dass auch in diesem Artikelgesetz eine Reihe von guten Regelungen enthalten ist, zum Beispiel zu den Rechten der Behinderten.
Die von mir aufgezeigten Mängel sind jedoch so gravierend und das Verfahren ist wieder einmal so angreifbar,
dass wir dieses Gesetz insgesamt ablehnen müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christine Ostrowski.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es klingelt an
Ihrer Haustür, ein seriös aussehender Herr bietet Ihnen
eine Immobilie als Altersvorsorge zum Kauf an: bankgeprüft, in bester Lage, steuersparend, mit Mietgarantie.
Und wie schön: Der Herr hat auch die Finanzierung gleich
in der Tasche, denn da die Immobilie bankgeprüft ist, gibt
die Bank selbstverständlich sofort den Kredit. Alles rechnet sich von selbst. Es gibt Fälle, bei denen eine monatliche Belastung von 104 DM ausgerechnet worden ist. So
viel Autorität überzeugt Sie. Ehe Sie sich versehen, haben
Sie den Kaufvertrag und den Darlehensvertrag unterschrieben.
Nach drei oder vier Jahren kommt das böse Erwachen.
Erst dann merken Sie, dass das eingespielte Team zwischen Bank, Vermittler, womöglich noch Treuhänder und
Notar Sie über den Tisch gezogen hat, weil die Mietgarantie futsch ist, weil die Immobilie Schrott ist, weil sie
überbewertet war, eine Provision in Höhe von 30, 40 oder
50 Prozent im Kaufpreis enthalten war, weil Sie keine
Einnahmen mehr haben, sondern nur noch Kosten über
Kosten. Zusätzlich zu diesen Kosten müssen Sie die Zinsen für das Darlehen an die Bank zahlen. Nichts rechnet
sich mehr von selbst. Sie sind finanziell am Ende.
Es gibt mindestens 300 000 solcher Fälle. Damit Sie
wissen, worüber ich rede: Ich rede hier nicht über Boris
Becker oder solche Leute, sondern über Menschen, die
keineswegs ein hohes Einkommen, sondern ein normales
bis niedriges Einkommen haben und denen es ganz
dreckig geht.
Diese mindestens 300 000 Menschen kommen nach
jetzigem Recht aus dieser Situation nahezu überhaupt
nicht heraus. Sie haben im Moment kein Widerrufsrecht.
Das ist bereits gesagt worden. Wenn sie sich dann den Mut
nehmen, einen Rechtsanwalt finden und vor Gericht ziehen, sind sie nach heutigem Recht Beweislastschuldner
gegenüber der Bank.
Nun haben Sie unter dem Druck dieser 300 000 Immobiliengeschädigten, ihrer Rechtsanwälte und der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes und nicht aus
eigenem Antrieb nach langer Zeit und natürlich in letzter
Minute im Eiltempo einen Verbraucherschutzartikel in ein
Gesetz aufgenommen, das eigentlich gar nicht so viel damit zu tun hat. Es beruhte also nicht auf Ihrem eigenen
Antrieb.
({0})
Sie haben gesagt, Sie hätten das Problem zugunsten der
Verbraucher gelöst; natürlich für die Zukunft, denn rückwirkend hilft dies nicht. Ich versichere Ihnen: Sie haben
es eben nicht gelöst. Sie haben die Definition eines verbundenen Geschäfts - das eingespielte Team zwischen
Bank, Vermittler usw., das die Leute über den Tisch zieht verschnörkelt, aber nicht wirklich etwas zugunsten der
Verbraucher geregelt. Denn - das ist das Entscheidende die Beweislast liegt auch in Zukunft immer nur bei dem
kleinen Mann, der gegenüber einer Bank hilflos dasteht,
weil die Bank nicht verpflichtet ist, ihre Dokumente offen
zu legen und Aufklärung zu leisten.
Sie haben auch hinsichtlich des Widerrufsrechts einen
Trick angewandt. Sie führen das Widerrufsrecht zwar
wieder ein, aber einige Paragraphen später - nämlich im
§ 506 - haben Sie eine Hintertür eingebaut; damit kann es
wieder ausgehebelt werden.
Wir haben einen Änderungsantrag vorgelegt, der die
Knackpunkte beseitigen würde. Ein Widerrufsrecht
muss unbefristet gelten, das heißt, grundsätzlich und dauerhaft, und zwar ohne Hintertür. Wenn es zu Streitigkeiten
kommt, muss die Beweislast bei den Banken liegen. Deshalb ist nach unserer Definition bei einem bankfinanzierten Immobilienerwerb im Normalfall immer davon auszugehen, dass es sich um ein verbundenes Geschäft
handelt und die Bank notfalls beweisen muss, dass dies
nicht der Fall ist. Nur so ist ein Ausweg aus dieser gesamten Dramatik möglich.
({1})
Im Übrigen ist Ihr Artikelgesetz zum Verbraucherschutz reine Kosmetik. Ich bin entsetzt darüber, dass Sie
zwar - wenn auch zu Recht - im Rahmen einer Regierungserklärung gestern stundenlang den Nitrofen-Skandal diskutiert haben, dass Sie aber in dieser Debatte, in der
es um die finanziell und sozial brenzlige Situation von
Hunderttausenden geht, den Verbraucherschutz derart
stiefmütterlich behandeln.
Damit auch das klar ist, Herr Dr. Röttgen: Es hat mich
schon ein bisschen gewundert, dass in der Expertenanhörung am Montag dreimal so viele Experten wie Abgeordnete anwesend waren. Sie haben sich vorhin in Richtung
Verbraucherschutz aufgespielt, aber am Montag haben Sie
dazu kein Wort gesagt; Ihre Fragen gingen in eine andere
Richtung. Ich war im Rechtsausschuss und auch im Bauausschuss und habe dort miterlebt, wie CDU/CSU und FDP
den in Rede stehenden Artikel zum Verbraucherschutz in
dem Gesetzentwurf heruntergemacht haben. Das bezieht
sich auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung, für unseren gilt das sowieso; wir sind ja daran gewöhnt, dass unsere
Gesetzentwürfe abgelehnt werden.
Frau Kollegin!
Ich komme zum
Schluss. - Selbst die kosmetischen Änderungen, die die
SPD und die Grünen vorhaben, haben Sie in den Ausschüssen mit großer Entschiedenheit vom Tisch gewischt,
sodass Sie hier nicht so tun können, als hätten Sie sich wie
verrückt für die Verbraucher eingesetzt.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Alfred Hartenbach.
Frau Präsidentin! Ich
freue mich, dass ich die Gelegenheit habe, am Ende unserer gemeinsamen Parlamentarierzeit gemeinsam mit meinem alten Weggefährten Joachim Tappe am Rednerpult
stehen zu dürfen. Das ist das erste Mal, Achim. Darüber
freue ich mich sehr.
Die Kollegen Röttgen und Funke haben sich heute in
Scheinheiligkeit überschlagen.
({0})
Wissen Sie, Herr Kollege Röttgen und auch Herr Kollege
Funke, die Richtlinie, von der Sie gesprochen haben und
die den Widerruf von Haustürgeschäften regelt, stammt
aus dem Jahr 1985 und ist damals von Ihrer Regierung
nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden.
({1})
Erst das Urteil des Europäischen Gerichtshofs hat uns
dazu gezwungen zu reagieren. Wir müssen in der Tat reagieren, um keine Staatshaftung auf uns zukommen zu lassen. Daraus ergibt sich auch die Eilbedürftigkeit des Gesetzes.
Aber das ist Ihre Art, nämlich etwas zu behaupten und
darzustellen, von dem sich später herausstellt: Alles heiße
Luft. Sie haben Glück, dass Sie hier geblieben sind; sonst
wäre ich jetzt noch etwas lauter geworden, Herr Röttgen.
({2})
Ihr Vorhaben, die Singularzulassung bei den Oberlandesgerichten zu verlängern, zeigt, meiner lieber Herr
Röttgen und auch mein lieber Herr Funke - Sie wollen das
schließlich auch -, dass ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht beachtet wird. Ich gehe so weit, zu sagen: Das zeigt Ihr Verfassungsverständnis.
({3})
- Sie mögen darüber lachen. Aber die Bevölkerung wird es
schon richtig zu werten wissen, dass Herr Röttgen von der
CDU/CSU-Fraktion höhnisch grinst, wenn man ihm vorwirft, er begehe sehenden Auges einen Verfassungsbruch
und missachte ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
({4})
- Sehen Sie, so machen Sie Politik.
({5})
Eben hat Herr Stünker gesagt, der Wähler möge uns vor
Ihnen als Regierungspartei bewahren. Ich kann das nur
wiederholen.
({6})
Wir möchten mit diesem Gesetz so viel Gutes erreichen.
Wir werden es endlich schaffen, dass - wie bei den Geschäften der Hypo-Vereinsbank, bei denen wir nicht wissen, in welcher Weise Herr Stoiber dabei seine Finger im
Spiel hat - nicht wieder 300 000 Immobiliengeschädigte
auf der Matte stehen. Das sind Menschen, die durch diese
Machenschaften, die meine Vorredner angeprangert haben,
teilweise ihrer Existenz beraubt worden sind. Wir schaffen
ein klares Verbraucherrecht, mit dem der Verbraucher
endlich die Sicherheit hat, dass diejenigen, die solche Geschäfte abwickeln, dafür geradestehen müssen.
Das Wichtigste an diesem Gesetzentwurf ist für mich
die Tatsache, dass wir nun auch beim Beurkundungsrecht klare Richtlinien geschaffen haben und die vielen
tausend rechtschaffenden Notare, die dieses Recht beachten, unterstützen, damit es nicht mehr zu Überrumpelungsbeurkundungen kommen kann, wie dies bei Immobiliengeschäften dieser Art oft der Fall gewesen ist. Wir
wissen: Die Notarkammern in Deutschland sind uns für
diese gesetzliche Richtigstellung dankbar.
Letztlich werden wir mit diesem Gesetzentwurf auch
die Rechte von Menschen mit Behinderung stärken. Es
war lange überfällig, dass nach dem öffentlich-rechtlichen Gleichstellungsgesetz nun die Menschen mit Behinderung, die ihre Geschäfte nicht so abwickeln konnten,
wie das von ihnen erwartet wurde, zum Beispiel auch Verträge in Behindertenwerkstätten abschließen können.
Wenn Sie das wollen, dann stimmen Sie dem Gesetz
zu, Herr Funke.
({7})
- Herr Funke, Sie sollten vielleicht Justizminister der
Sahelzone werden.
({8})
Das, was Sie an Inhalten vortragen, entspricht der Dürre
in der dortigen Region. Ihre Ankündigungen sind genauso
schillernd wie die dortigen Fata Morganen.
Wir stärken die Rechte der Menschen mit Behinderungen. Dies ist einer der wichtigsten Teile in diesem Gesetzentwurf. Deswegen bitte ich Sie: Stimmen Sie diesem
Gesetzentwurf zu. An dieser Stelle bitte ich insbesondere
den Bundesrat, diesen Gesetzentwurf nicht abzulehnen;
denn Sie würden damit den Verbrauchern einen Bärendienst erweisen.
({9})
Sie würden darüber hinaus den Menschen mit Behinderungen einen Bärendienst erweisen. Auch würden Sie der ganz
großen Masse der Anwälte, die auf ihre Zulassungen zum
Oberlandesgericht warten, einen Bärendienst erweisen.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Rechts der Vertretung durch Rechtsanwälte vor den
Oberlandesgerichten. Der Rechtsausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9266,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt dafür? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag
ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stim-
men der PDS abgelehnt worden.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und einer Stimme aus der PDS gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Kollegin
Ostrowski in zweiter Beratung angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist so, wie ich es eben in der zweiten Beratung festgestellt
habe, angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms,
Hildebrecht Braun ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 14/5331 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 14/8314 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Grasedieck
Hansgeorg Hauser ({3})
Carl-Ludwig Thiele
Heidemarie Ehlert
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Ina
Albowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Steuerrecht vereinfachen - illegale Betätigung
im Baugewerbe sinnvoll bekämpfen
- Drucksache 14/7541 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Sind Sie damit einverstanden, dass die Reden der Ab-
geordneten Grasedieck, Fromme, Scheel, Schüßler und
Ehlert zu Protokoll gegeben werden?1) - Das ist der Fall.
Dann verfahren wir so.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der FDP zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/8314, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP abgelehnt worden. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt damit die weitere Beratung.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/7541 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2003 ({5})
- Drucksache 14/8985 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7})
- Drucksache 14/9250 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS
vor.
Sind Sie damit einverstanden, dass die Reden der Kol-
legen Skarpelis-Sperk, Bernhardt, Fell, Kopp, Kutzmutz
und der Parlamentarischen Staatssekretärin Wolf zu Pro-
tokoll gegeben werden?2) - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens.
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/9250, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU,
Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Enthaltung der PDS
angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen worden.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/9290. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen
die Stimmen der PDS abgelehnt worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung
und sonstiger gewerberechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/8796 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({9})
- Drucksache 14/9254 Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Schulz ({10})
Sind Sie damit einverstanden, dass die Reden der Kol-
legen Lange, Schauerte, Kopp, Kutzmutz und der Parla-
mentarischen Staatssekretärin Wolf zu Protokoll gegeben
werden?3) - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 14/9254, den Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen worden.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
1) Anlage 4
2) Anlage 5
3) Anlage 6
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung tierarzneimittelrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/8613 ({11})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({12})
- Drucksache 14/9252 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Bleser
Sind Sie damit einverstanden, dass die Reden der Kol-
legen Teuchner, Lamp, Höfken, Sehn und Laumann zu
Protokoll gegeben werden?1) - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt
auf Drucksache 14/9252, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und
der FDP angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Mineralölsteuergesetzes
- Drucksache 14/8711 ({13})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({14})
- Drucksache 14/9265 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Schultz ({15})
Heinz Seiffert
Dr. Reinhard Loske
Carl-Luwig Thiele
Dr. Barbara Höll
Sind Sie damit einverstanden, dass die Kollegen
Schultz, Schindler, Loske und Schüßler sowie die Kolle-
gin Höll ihre Reden zu Protokoll geben?2) - Das ist der
Fall. Dann verfahren wir so.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
14/9265, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU, Drucksache 14/9302, vor, über den wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und PDS gegen
die Stimmen der FDP angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben,
wenn Sie dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 12. Juni 2002, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen,
die hier so lange gearbeitet haben, und natürlich auch
allen anderen sowie den Besuchern ein schönes Wochenende.