Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile dem Kollegen Klaus Lippold von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Unionsfraktion
hat vorsorgender Verbraucherschutz absolute Priorität.
({0})
- Bleiben Sie ganz ruhig! - Vorsorgender Verbraucherschutz ist Gesundheitsschutz, der gewährleistet werden
muss.
({1})
Frau Ministerin Künast hat bei ihrem Amtsantritt unendlich hohe Erwartungen geweckt.
({2})
Ich sage hier: Sie hat diese Erwartungen enttäuscht.
({3})
Sie hat angekündigt, aber nicht gehandelt. Bei jedem
Skandal gab es neue Ankündigungen. Heute erleben
wir es wieder. Warum, Frau Ministerin, haben Sie
nicht früher gehandelt? Sie hätten ausreichend Zeit gehabt.
({4})
Da Sie aufseiten der SPD meiner Argumentation nicht
folgen können, will ich aus dem „Spiegel“ zitieren:
Schwer getroffen: die forsche Verbraucherschutzministerin Renate Künast ..., die vorerst die Aura
der grünen Wunderfrau eingebüßt hat. Nicht nur in
Brandenburg, überall in deutschen Amtsstuben versickerten monatelang Warnhinweise auf NitrofenFunde,
als wäre immer noch Künasts lascher Vorgänger ... im
Dienst. Das ist die Gleichsetzung von Frau Künast mit
Herrn Funke, den der Kanzler damals gefeuert hat, weil er
die Verantwortung nicht übernehmen wollte. Herr
Schröder feuert diese Ministerin nicht - er müsste vor der
Wahl eigentlich eine ganze Reihe von anderen Ministern
feuern; ich verweise nur auf Scharping -,
({5})
sondern lässt diese unfähige Ministerin im Amt.
({6})
Ich kann neben dem „Spiegel“ - damit Sie von der
SPD-Fraktion beruhigt sind - noch andere Quellen zitieren:
Natürlich ist auch die grüne Ministerin beschädigt.
({7})
Renate Künast hat den Mund zu voll genommen. Sie
trägt zudem Mitverantwortung für das Versagen
eines immer noch nicht hinlänglichen Kontroll- und
Meldesystems.
Damit wird das, was ich eben gesagt habe, von neutraler
Seite bestätigt. Wir machen keine Polemik,
({8})
wir begründen, warum wir kritisieren. Sie müssen diese
Kritik schon ertragen.
({9})
- Wer laut ist, hat nicht immer Recht.
({10})
Deshalb zitiere ich leise Stimmen aus dem sozialdemokratischen Bereich, die aber nicht überhört werden
sollten. Niedersachsens Landwirtschaftsminister Bartels
sagte, die einseitige Grünen-Politik nach dem Motto
„Öko ist gut und sicher und konventionell ist weniger
gut und sicher“ sei schon immer ein Trugschluss gewesen. Die Ministerin solle deshalb in sich gehen und die
von ihr seit eineinhalb Jahren verantwortete Politik der
Bundesministerin Renate Künast
Polarisierung überdenken. - Diese Aussage von Herrn
Bartels ist richtig.
({11})
Ich sage ganz offen, Frau Künast: Ihre Politik des übereilten, hastigen und nassforschen Herangehens an die Verwirklichung der 20-Prozent-Zielsetzung hat den ökologisch wirtschaftenden Betrieben geschadet.
({12})
Gerade dieser Skandal zeigt, dass Sie das Ziel Klasse statt
Masse nicht erreicht haben. Durch die Herabsenkung der
Anforderungen bei Ihrem Ökosiegel haben Sie Masse
statt Klasse im Ökobereich erreicht. Das ist falsch, das
sollten Sie überdenken.
({13})
Ich zitiere nun - wiederum für die Freunde aus der
SPD - Friedhelm Farthmann:
({14})
Offensichtlich funktioniert jedoch ihr Apparat nicht
richtig. Der ist den von ihr lauthals propagierten Ansprüchen nicht gerecht geworden. Nach den
Grundsätzen der politischen Verantwortung hat die
Landwirtschaftsministerin dafür einzustehen.
({15})
- Das sagt ein fachkundiger Kollege der SPD, den Sie
jetzt niederbrüllen wollen, weil Ihnen das nicht passt.
Wir kritisieren mit Fachleuten aus Ihrem eigenen Bereich die grüne Verbraucherschutzministerin. Das ist
keine einseitige Kritik, das ist schon flächendeckende
Kritik.
({16})
Frau Ministerin Künast, Sie haben am Wochenende
vorschnell das Ende des Skandals verkündet, obwohl es
noch gar nicht feststeht, und damit wissenschaftliche
Sachverhalte ignoriert oder schlicht nicht gewusst. Ihr
Kollege Backhaus aus Mecklenburg-Vorpommern spricht
davon, dass eine so hohe Kontamination des Futterweizens nicht allein durch die Verseuchung der Halle in Malchin verursacht worden sein kann. Dem muss man nachgehen. Man kann nicht als Ankündigungsministerin und
Macherin einen Skandal vorzeitig für beendet erklären,
der noch nicht beendet ist.
({17})
- Herr von Larcher, Ihre Zurufe sind so unerträglich wie
sachlich falsch. Wenn das von mir so unrichtig gewesen
wäre, wie Sie es mit Ihren Zurufen behaupten, dann hätte
doch der Parlamentarische Staatssekretär Thalheim anders reagiert. Ich zitiere „ddp“:
Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium, Gerald Thalheim ({18}), widerspricht der Einschätzung, der Nitrofen-Skandal sei
bereits aufgeklärt. Es wäre leichtfertig, zu behaupten,
die Quelle für die Verseuchung des Futterweizens sei
gefunden, ... Damit wandte er sich gegen die Ansicht
seiner Ministerin Renate Künast ..., die am Wochenende feststellte, dass die Ursachen für die Verunreinigung des Futterweizens ermittelt worden seien.
({19})
Frau Ministerin, das kommt aus Ihrem eigenen Haus und
nicht von der Union. Herr von Larcher, gehen Sie zu
Herrn Thalheim und lassen Sie sich von ihm informieren!
({20})
Lernen Sie daraus, statt hier mit Geschrei von den eigentlichen Verantwortlichkeiten abzulenken!
Frau Ministerin, Sie haben heute davon gesprochen,
dass neue Strukturen geschaffen werden sollen. Das hätte
schon viel früher geschehen müssen; wir haben darauf hingewiesen. Indem wir dies angemahnt haben, haben wir die
Konsequenzen aus dem von-Wedel-Gutachten gezogen.
Sie haben eine Vielzahl neuer Behörden angekündigt.
Frau Künast, auch hier macht es nicht die Masse. Wir wollen, dass die Informationsstränge schnell und sicher laufen, dass Verantwortlichkeiten konzentriert werden und
dass es rote Telefone von ganz unten bis zu Ihnen gibt, damit innerhalb kürzester Zeit etwas geschehen kann und
Sie die Vorwürfe nicht noch einmal hören müssen, die in
der Presse erhoben werden und besagen, dass Sie geschlampt hätten. Jetzt haben Sie wieder etwas angekündigt. Wir werden verfolgen, was aus dieser Ankündigung
wird, Frau Ministerin. Vermutlich wird aber alles beim alten Schlendrian bleiben.
({21})
Sie haben versucht, diese Krise zu missbrauchen.
({22})
Frau Ministerin, Sie haben den Anschein erweckt, als
sei diese Krise mithilfe des Verbraucherinformationsgesetzes zu lösen. Ich sage ganz eindeutig: Alle notwendigen Handlungen hätten ohne das Verbraucherinformationsgesetz geregelt werden können. Die nötigen
Ergänzungen mussten nicht im Verbraucherinformationsgesetz, sondern konnten in anderen Gesetzen vorgenommen werden. Unsere Vorschläge dazu haben Sie im Ausschuss von Ihrer Mehrheit ablehnen lassen. Wir wollten,
wir wollen und wir werden konstruktiv mitarbeiten, aber
das setzt auch Aufgeschlossenheit bei denen voraus, die
arrogant auf der Regierungsbank und auf einer knappen
Koalitionsmehrheit sitzen.
({23})
Dr. Klaus W. Lippold ({24})
Wir haben das Verbraucherinformationsgesetz nicht
akzeptiert, weil es mit heißer Nadel genäht ist und nicht
sicherstellt, dass vernünftige, fachlich aufbereitete Informationen zügig zu den Verbrauchern gelangen. Sie ignorieren Kritik in der Sache und versuchen es dann so darzustellen, als seien wir gegen Verbraucherschutz.
({25})
Das ist falsch. Unsere fachlich guten Vorschläge haben
Sie abgebürstet.
({26})
Daher müssen Sie auch die Verantwortung dafür tragen,
wenn wir einem schlechten Gesetz nicht zustimmen.
({27})
Frau Ministerin Künast, Sie müssen sich schon die
Frage gefallen lassen: Worüber hätten Sie denn die Verbraucher mit dem neuen Verbraucherinformationsgesetz
informieren wollen, wenn Sie laut Ihren eigenen Angaben
trotz des Geredes auf unterschiedlichsten Ebenen nichts
gewusst haben? Oder wollen Sie wieder ablenken und
Allgemeinplätze servieren?
({28})
Nein, Sie haben nichts gewusst; Sie hätten nicht informieren können. Deshalb ist das Verbraucherinformationsgesetz der absolut falsche Weg.
({29})
So kann das nicht laufen, so werden wir das nicht akzeptieren.
({30})
Frau Höfken, Sie haben gerade im Fernsehen Sendezeit genutzt, um schnell falsche Informationen zu verbreiten, die sich in der Kürze der Zeit nicht widerlegen
lassen. Kehren Sie doch zur Sachlichkeit zurück; werden
Sie konkret!
({31})
Lassen Sie allgemeine Behauptungen! Dann kommen wir
ein Stück weiter.
({32})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden
uns nicht davon abbringen lassen, vorsorgeorientierte
Verbraucherschutzpolitik zu betreiben. Wir werden uns
um alle Betriebe kümmern, nicht nur um die Ökobetriebe,
die jetzt der Hilfe bedürfen, weil sie besonders unter den
schwarzen Schafen dieser Branche leiden - das muss
noch einmal ganz deutlich gesagt werden -; uns geht es
aber auch um die klassisch umweltschutzorientierte
Landwirtschaft.
Lassen Sie mich erneut mit einem Vorurteil aufräumen,
Frau Künast. Sie haben immer gesagt, die Preise müssten
hoch sein. Nein, Lebensmittel müssen gesund und sicher,
aber auch preiswert sein. Sie in Ihrer Arroganz vergessen,
dass es viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland gibt, die sich teure Lebensmittel nicht leisten können.
({33})
Arrogante Ministersprüche von hohen Preisen vertragen
sich nicht mit der Lebenswirklichkeit unserer Republik.
({34})
Ich komme auf einen Punkt zurück, den wir Ihnen nicht
nachsehen werden: Wegen der Fehler einiger - nicht des
ganzen ökologischen Landbaus - haben Sie jetzt hohe
Preise, aber keine Sicherheit. Das ist schlussendlich die
Konsequenz aus Ihrer Politik, die wir nicht akzeptieren,
sondern ablehnen.
({35})
Deshalb bleibe ich dabei: Wenn Herr Funke gehen musste,
dann müssten Sie mit noch größerem Recht noch schneller
gehen und mit Ihnen eine Reihe anderer Minister.
({36})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({37})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Jella Teuchner, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Das soeben Gehörte stellte das ganze Ausmaß der Polemik dar, das man von sich geben muss, wenn
man von der Sache nichts versteht und auch nicht bereit
ist, sich irgendwelchen Argumenten zu öffnen und über irgendetwas wirklich sachlich und inhaltsorientiert zu diskutieren.
({0})
Wenn es heute nicht um das Thema Gesundheitsschutz
für Verbraucherinnen und Verbraucher ginge, könnte man
vieles, was in den letzten Tagen zu den Nitrofenfunden
geschrieben und gesagt wurde, einfach als lächerliches
Wahlkampfgewäsch abtun.
({1})
Es geht aber um sichere Lebensmittel. Ich finde es daher
nur allzu verständlich, wenn die Selbstgefälligkeiten der
letzten Tage bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern
nur noch Wut und Zorn auslösen.
Was wir brauchen, ist eine sachliche Aufarbeitung der
systematischen Vertuschung. Was wir brauchen, ist eine
Kultur der Offenheit. Was wir allerdings nicht brauchen,
ist eine Debatte, die die Täter schützt und den schwarzen
Peter schnell jemand anderem zusteckt.
({2})
Der Nitrofen-Skandal ist Resultat verantwortungslosen Wirtschaftens. Die Hersteller und Händler haben die
Nitrofenverseuchung nicht gemeldet und ihre Produkte
munter weiterverkauft. Der Nitrofen-Skandal ist Resultat
der in Jahrzehnten gewachsenen Vertuschungsstrategie,
der wir mit der Neuorientierung der Agrar- und Verbraucherpolitik den Kampf angesagt haben.
Ob vertuscht wird oder nicht - auch das will ich in aller
Deutlichkeit sagen -, ist keine Frage von konventioneller
oder ökologischer Lebensmittelproduktion.
({3})
Die Mehrzahl der konventionellen Betriebe arbeitet verantwortungsvoll. Es gibt aber auch ökologische Betriebe,
die verantwortungslos die Gesundheit ihrer Kunden gefährden.
Nach § 17 Abs. 5 des Futtermittelgesetzes hat jeder,
der im Rahmen seines beruflichen oder gewerbsmäßigen
Umgangs mit Futtermitteln Kenntnis von einer Gefährdung für die menschliche oder tierische Gesundheit durch
unerwünschte Stoffe erlangt, unverzüglich die zuständigen Behörden anzurufen. Dies ist nicht geschehen. Sowohl Lebensmittelhersteller als auch Versicherungen und
Verbände haben versucht, den Nitrofenfund zu verheimlichen. Mehr noch: Sie haben anscheinend auch nach Wegen gesucht, Produkte trotz Kenntnis der Nitrofenbelastung zu verkaufen. Dies ist der Kern des Skandals und hier
werden wir aufräumen müssen.
({4})
Bundesministerin Renate Künast hat schnell und
richtig gehandelt. Sie hat unsere volle Unterstützung,
wenn sie mit aller Härte gegen die Verantwortlichen
vorgeht.
({5})
Wir begrüßen, dass die Bundesministerin als erste Konsequenz die Institute in ihrem Geschäftsbereich verpflichtet hat, Erkenntnisse aus gutachterlicher Tätigkeit in
Bezug auf Verstöße gegen geltendes Lebensmittelrecht
unmittelbar an die zuständigen Behörden weiterzuleiten.
Wir werden morgen im Bundestag beschließen, die
Informationspflichten der Lebensmittel- und Futtermittelhersteller gegenüber den Behörden und Verbrauchern auszuweiten. Eine entsprechende EU-Regelung, die
ab dem Jahre 2005 eine sofortige Information bei festgestellten Mängeln verlangt, werden wir sofort in Kraft setzen. Wir werden auch beschließen, diese Mitteilungspflicht auf Lebensmittel auszudehnen. Dies wird übrigens
auch von Bayerns Verbraucherminister Sinner gefordert.
Ich bin gespannt, mit welcher Begründung Bayern dieses Gesetz im Bundesrat blockieren wird. Wie wäre es damit: Das ist ein deutscher Alleingang, wir brauchen dazu
eine europäische Regelung. Dies ist ein deutscher Alleingang - wie oft mussten wir uns im letzten Jahr diesen Satz
anhören? Wie oft hat die Opposition europäische Regelungen gefordert, wenn sie wirksamen Verbraucherschutz verhindern wollte? Wir haben ja letzten Freitag im
Bundesrat gesehen, welche Rolle die Union spielt. Wir
haben gesehen, welche Rolle deren Wortführer Bayern
spielt: Auf dem Altar Wahlkampf wird der Verbraucherschutz geopfert.
({6})
Dies alles geschieht in der Hoffnung, die Götter seien
dann dem Kandidaten der CDU/CSU wohl gesonnen.
({7})
Die Wähler finden es aber zu Recht unerträglich, wie Sie
auf Kosten des Verbraucherschutzes Wahlkampf machen.
({8})
Der Nitrofen-Skandal zeigt: Wir brauchen eine Kultur
des Vertrauens. Diese wollen wir schaffen. Auch das Verbraucherinformationsgesetz wäre ein Schritt in diese
Richtung. Sie können jetzt noch so sehr versuchen, den
europäischen Sankt-Nimmerleins-Tag herbeizureden: Sie
verhindern so das Verbraucherinformationsgesetz und damit die Schaffung dieser Kultur des Vertrauens.
({9})
Die Landwirtschaft - ob konventionell oder ökologisch
wirtschaftend - braucht dieses Vertrauen. Sie hat es auch
verdient. Auch diesmal sind die Bauern nicht für einen
Lebensmittelskandal verantwortlich. Es waren auch nicht
die Ministerien, die versucht haben, den Skandal zu vertuschen. Darf ich Sie daran erinnern, dass das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft die Nitrofenfunde öffentlich gemacht hat?
({10})
Wir können gerne darüber diskutieren, ob und wie wir
die Arbeit im Verbraucherministerium und die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern verbessern können. Mit dem Neuorganisationsgesetz wollen wir
hier einen Schritt nach vorne machen. Wir lassen es Ihnen
aber nicht durchgehen, dass Sie Ihrer Lieblingsfeindin
Renate Künast den schwarzen Peter zuspielen wollen und
damit nur die Täter schützen.
({11})
Wir erwarten einen verantwortungsvollen Umgang mit
Lebensmitteln. Das heißt zuallererst, dass mit den Produkten sorgfältig umgegangen werden muss. Das heißt
aber auch, dass mit Fehlern offen und transparent umgegangen werden muss. Wir können nicht ausschließen,
dass in der Lebensmittelproduktion Fehler passieren. Wir
müssen aber dafür sorgen, dass diese nicht vertuscht werden, sondern dass die Fehlerquellen ausgeräumt werden.
({12})
Wir fordern klare Konsequenzen bei denjenigen, die
verantwortungslos am Vertuschen mitgewirkt haben. Dabei ist es ganz gleich, ob es sich um Ökoverbände, Lebensmittelhersteller, Versicherungen oder landwirtschaftliche Genossenschaften handelt. Die Konsequenz kann
nicht darin bestehen, den Gesetzgeber schnell aufzufordern, neue Gesetze zu erlassen. Nitrofen im Futter ist kein
Fall für eine stille Rückrufaktion und kein einfacher Schadensregulierungsfall.
({13})
Als die ersten Meldungen über belastete Biolebensmittel über die Nachrichtenticker liefen, wurde sofort das
Ende der Agrarwende gefordert. Mittlerweile ist klar,
dass Unternehmen mit gewachsenen und traditionellen
Strukturen der Lebensmittelwirtschaft genauso tief in
diesem Skandal stecken wie ökologisch wirtschaftende
Unternehmen. Dieser neue Lebensmittelskandal schadet
nicht nur dem ökologischen Landbau, sondern der
gesamten Land- und Ernährungswirtschaft.
({14})
Wer jetzt das Ende der Agrarwende fordert, zielt gegen
den Verbraucherschutz. Die Landwirtschaft kann aber nur
dann bestehen, wenn sie gesundheitlich unbedenkliche
Lebensmittel produziert. Für uns ist deshalb klar, dass wir
an der Neuorientierung der Landwirtschafts- und Verbraucherpolitik festhalten werden.
({15})
- Das tun wir, aber nicht in der Opposition.
Ich erteile dem Kollegen Ulrich Heinrich, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Leider Gottes ist der Herr
Bundeskanzler nach der Rede von Frau Ministerin Künast
weggegangen.
({0})
Ich hätte ihm gerne einige Sätze persönlich gesagt. Ich
hätte ihn gerne gefragt, wie seine Agrarpolitik in der Zukunft aussieht.
({1})
In der Zeit, in der er bisher regiert hat, hat er vier verschiedene Positionen eingenommen. Im Jahre 2000 hat er
sich in Cottbus noch für die wettbewerbsfähige Landwirtschaft ausgesprochen. 2001 - nach dem BSE-Skandal hat er gesagt, dass die Agrarfabriken abgeschafft werden
müssten; es werde eine Politik gegen die Agrarfabriken
betrieben. Vor der Wahl in Sachsen-Anhalt hat er - natürlich vor dem Hintergrund der Großstrukturen dort - die
Regierungspolitik wieder geändert und gesagt, dass Großstrukturen erhaltenswert sind und auch in Zukunft entsprechend produziert werden soll.
({2})
Aufgrund des Nitrofen-Skandals vollzieht er jetzt eine erneute Kehrtwende. Er sagt, dass die Agrarwende fortgesetzt werden soll, und unterstützt damit Frau Künast. Welche Agrarpolitik gilt denn nun in Zukunft?
({3})
Bei einem solchen Zickzackkurs kann sich niemand mehr
auf eine entsprechende Aussage verlassen.
({4})
Frau Künast, Sie haben sehr hohe Erwartungen geweckt.
({5})
In Ihrer heutigen Rede haben Sie erneut hohe Erwartungen geweckt, obwohl Sie die vorherigen, von Ihnen geweckten Erwartungen bis heute noch nicht erfüllen konnten; stattdessen haben Sie Enttäuschungen produziert.
({6})
Sie haben mit der Agrarwende Stichworte geliefert, unter denen sich einige etwas vorstellen können, andere aber
auch nicht. Ich habe eben bereits den Herrn Bundeskanzler zitiert, der sich offensichtlich auch nichts darunter vorstellen kann. Sie haben vom vorsorgenden Verbraucherschutz gesprochen und die Verbraucherinformation zum
zentralen Punkt Ihrer Politik gemacht. Sie sind als Jeanne
d’Arc der Verbraucher gestartet und heute als Aschenputtel hier angekommen.
({7})
Wir suchen noch den Prinz, Frau Künast.
({8})
Nach Ihrer heutigen Rede muss ich leider nicht nur
feststellen, dass die Zahl der Prinzen weniger geworden
ist, sondern auch, dass Sie das Gegenteil von dem tun, was
Sie sagen.
({9})
Auch die Öffentlichkeit ist dieser Meinung.
({10})
Das Emnid-Institut hat am 28. Mai ermittelt - die Angaben wurden am 3. Juni veröffentlicht -, dass Ihnen 60 Prozent der Verbraucher eine wesentliche Mitschuld am Nitrofen-Skandal geben.
({11})
Das sind die Umfragen, die uns interessieren. Uns interessiert: Was kommt draußen beim Verbraucher an? Wie
bewertet der Verbraucher die Politik dieser Bundesregierung?
Ich kann auch noch ein weiteres Zitat anführen. Es
stammt nicht von mir und ist auch keine böse gemeinte
Oppositionsaussage, sondern es handelt sich um ein Zitat
von Herrn Isenberg, dem Geschäftsführer des Bundesverbands für Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände. Was hat er gesagt? Der Bundesverband attestiert
Frau Künast eine wesentliche Mitschuld an der gesamten
Situation.
({12})
Mit Ihrer einseitigen Politik für das Eco-Siegel haben
Sie Erwartungen geweckt, die Sie nicht halten können.
Mütter rufen verzweifelt bei mir an. Sie sind völlig verunsichert und wollen Rat von mir.
Ich werfe Ihnen nicht vor, dass es zu diesem Skandal
gekommen ist. Ökolandbau und moderne nachhaltige
Landwirtschaft sind zwei unterschiedliche Produktionsmethoden, aber keine ist davor gefeit, dass ein solcher
Skandal passieren kann. Ich werfe Ihnen aber vor, dass
Sie die Weichen nicht richtig gestellt haben. Mit der Einführung des Bio-Siegels haben Sie eine Oldtimer-Methode zur Qualitätssicherung gewählt, die mit größten
Lücken behaftet ist und aus den frühen 90er-Jahren
stammt. Sie kaufen doch auch kein zehn Jahre altes
Auto, wenn es um die Sicherheit geht, Frau Ministerin
Künast.
Ich habe von Anfang an das QS-System als das bessere
System erkannt.
({13})
Dokumentation, die Weitergabe von Daten und die
lückenlose Abrufbarkeit der kompletten Datenbank vom
vorgelagerten Bereich über die Produktion und die Verarbeitung bis zum Handel zu jedem Zeitpunkt des Produktionsstrangs - es ist somit auch sehr viel besser geeignet,
Lücken und Fehler aufzudecken, als es nach dem System
des Bio-Siegels möglich ist - werden von dem Bio-Siegel
nicht gewährleistet.
({14})
Des Weiteren werfe ich Ihnen vor, dass Sie Ihr
eigenes Haus nicht im Griff haben. Obwohl Sie angeblich am 25. Januar alle Ihnen unterstellten Behörden angewiesen haben, Unregelmäßigkeiten im Bereich der
Lebensmittelrückstände sofort zu melden, ist dies nachweislich nicht geschehen. So sind zum Beispiel Laboruntersuchungen der Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach nicht weitergegeben worden. Spätestens seit der Ökomesse, die im Februar in
Nürnberg stattgefunden hat, ist Ihren Beamten bekannt, dass es Probleme mit Nitrofen belastetem Fleisch
gibt.
({15})
Dort war dies ein großes Thema, über das jeder gesprochen hat. Ihre Beamten haben das zwar wohl gehört, aber
nicht weitergegeben.
({16})
Ich werfe Ihnen eine völlig chaotische Informationspolitik vor. Auf der einen Seite sind die konventionell belasteten Lebensmittel auszuschließen, auf der anderen
Seite weiß man ja nie, was noch kommt. Tagtäglich verkünden Sie etwas anderes. Am Wochenende haben Sie den
Nitrofen-Skandal als aufgeklärt dargestellt. - Frau Ministerin, das stimmt. Schauen Sie sich doch die Fernsehsendung an, in der Sie aufgetreten sind! Zugegeben, das waren gute Fernsehbilder. Aber die Botschaft war falsch.
({17})
So kann man mit den Verbrauchern nicht umgehen. Als ob
das Problem nicht schon groß genug wäre, stiften Sie mit
Ihrer Verbraucherinformationspolitik zusätzlich Verwirrung. Ich meine, die beste Verbraucherinformationspolitik
wäre gewesen, wenn Sie heute Ihr Amt zur Verfügung gestellt hätten. Dann hätten die Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich aufatmen können.
({18})
Frau Ministerin, nach meinem Gefühl ist es auch ein
Skandal, dass Sie schon heute 900 000 Euro für eine Informationskampagne ausgeben, bei der es um eine neue
Eierrichtlinie geht, die erst 2004 in Kraft tritt. Es wäre
sinnvoll gewesen, wenn Sie mit diesen 900 000 Euro den
jetzt betroffenen Ökobauern geholfen hätten. Aber so
dient dieses Geld nur der Eigendarstellung. Um nichts anderes geht es.
({19})
Lassen Sie mich zum Schluss die Befürchtung aussprechen, dass es voraussichtlich in wenigen Wochen oder
Monaten einen neuen Skandal geben wird, weil mit
Nitrofuranen belastetes Geflügelfleisch beispielsweise aus
Thailand oder Brasilien importiert wird. Wir wissen schon
jetzt, dass solches Fleisch auf dem Weg nach Deutschland
ist. Ich sage Ihnen, Frau Höhn und Frau Künast: Wenn Sie
den Verbraucherschutz zusammen mit den Ländern nicht
besser organisieren und den Verbraucher nicht wirksamer
vor solchen Importen schützen, dann werden wir hier über
den nächsten Skandal diskutieren müssen. Dann werden
Sie, Frau Künast, wieder als nassforsche Ministerin auftreten und sagen, was alles gemacht werden muss. In Wirklichkeit haben Sie bisher von dem, was Sie angekündigt
haben, überhaupt nichts wirkungsvoll, verlässlich und vertrauenerweckend umsetzen können.
Ich bedanke mich.
({20})
Ich erteile das Wort
der Ministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, Bärbel
Höhn.
Bärbel Höhn, Ministerin ({0}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss mich
schon wundern, wie die Opposition im Bundestag das
heutige Thema angeht. Herr Lippold, dem ich aufmerksam zugehört habe, hat offensichtlich keine eigene Meinung. Er verschanzt sich hinter den Zitaten anderer Leute.
Ein klares Konzept habe ich bei seiner Rede nicht heraushören können.
({1})
Und für die FDP gilt: Das einzige Problem, das sie hat,
ist, den richtigen Prinzen zu finden. Ich habe bisher immer gedacht, dass die FDP ein ganz anderes Problem hat.
Sie sollte nämlich endlich einmal einen durchsetzungsstarken Vorsitzenden finden und sich nicht um den Prinzen anderer Leute kümmern. Lösen Sie erst einmal die
Probleme in Ihren eigenen Reihen!
({2})
Sie fordern, Frau Künast solle die Verbraucherinnen
und Verbraucher endlich durch neue Gesetze schützen.
Herr Lippold sagt dazu, es werde beim alten Schlendrian
bleiben. Ich frage Sie: Wer ist eigentlich für die jetzt geltenden Gesetze verantwortlich? Wer ist eigentlich für den
alten Schlendrian verantwortlich?
({3})
Sie haben jahrzehntelang die Landwirtschaftspolitik in
diesem Land gemacht und versuchen nun, Frau Künast
die Schuld für das, was sie noch nicht verändert hat, in die
Schuhe zu schieben. Ich sage Ihnen: Sie haben die heute
geltenden Gesetze zu verantworten. Diese müssen wir ändern. Aber auch Sie wissen, dass man die Folgen von
50 Jahren falscher Agrarpolitik nicht in anderthalb Jahren
korrigieren kann. Das ist der Punkt.
({4})
Wir müssen eines bedenken: Jeder Lebensmittelskandal
hat gravierende negative Folgen für Millionen von Verbraucherinnen und Verbraucher, die durch jeden Skandal
verunsichert werden, sowie für Tausende und manchmal
sogar Zehntausende Bauern, die teilweise in Existenznot
geraten, obwohl sie an den Skandalen nicht beteiligt waren. Das sind die Auswirkungen von Lebensmittelskandalen. Ich bin jetzt sieben Jahre Landwirtschaftsministerin
({5})
und es ist noch kein Jahr - ich betone: noch kein Jahr vergangen, in dem es nicht einen Lebensmittelskandal gegeben hat. Es geht also nicht um Einzelfälle, sondern um
ein Strukturproblem.
({6})
Das heißt, wir müssen die verschiedenen Gesetze angehen und müssen sie ändern.
Ich bin nicht nur Landwirtschaftsministerin, sondern
auch Umweltministerin. Wenn ich mir die Gesetzgebung
im Umweltbereich ansehe, stelle ich fest: Sie ist viel klarer, viel stringenter, viel mehr auf Rechte der Verbraucher
angelegt als die Gesetzgebung im gesamten Ernährungsbereich. Das kann man an vielen Punkten deutlich machen. Die Gesetzgebung im Ernährungsbereich ist wirr
und chaotisch. Und Sie sind dafür verantwortlich.
Ich möchte einmal deutlich machen, was ich seit 1995
erlebt habe. Das kann ich deshalb gut beurteilen, weil ich
seitdem im Amt bin. Ich nenne Ihnen dazu drei Beispiele.
Das erste Beispiel: Wir haben zwischen 1995 und 1998
in mehreren Lebensmitteln höhere Rückstände gefunden, als sie gesetzlich zulässig waren. Was haben Sie gemacht? Sie sind nicht den Ursachen nachgegangen, sondern haben einfach die entsprechenden Rückstandswerte
hoch gesetzt. Das war Ihre Politik.
({7})
Sie haben mehrfach im Bundesrat die Rückstandswerte
hoch gesetzt, damit darüber nicht mehr geredet werden
konnte.
({8})
Das zweite Beispiel betrifft die Futtermittelgesetzgebung in den 80er-Jahren. Wer hat denn die offene Deklaration im Futtermittelbereich abgeschafft? Das waren die
CDU/CSU und die FDP.
({9})
Frau Höhn, gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Straubinger, CDU/
CSU-Fraktion?
Bärbel Höhn, Ministerin ({0}):
Nein, ich möchte jetzt diesen Punkt weiterführen.
({1})
Wer hat denn die offene Deklaration abgeschafft und
die Positivliste verhindert? Das waren Sie. Im Futtermittelrecht ist im Augenblick die Situation so, dass die Leute
sagen: Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Das ist der
Grund, warum wir Klärschlamm und andere unappetitliche Stoffe im Futtermittel finden. Das haben Sie in den
80er- und 90er-Jahren verursacht und das muss geändert
werden.
({2})
Das dritte Beispiel: Das Produktsicherheitsgesetz
wurde 1997 in Ihrer Regierungszeit novelliert. Es ging um
Rückholaktionen von Waren, darum, wann Behörden
melden dürfen, was sie an Werten gefunden haben. Dabei
haben Sie die Rechte der Ernährungswirtschaft und des
Handels gestärkt und die Rechte der Behörden in diesem
Punkt negiert und zurückgeschraubt. Das war Ihre Politik.
Wir dürfen heute nicht mehr automatisch melden, wenn
wir eine Täuschung beim Verkauf von Lebensmitteln erkennen. Wir dürfen nur noch öffentlich darüber reden,
wenn etwas gesundheitsgefährdend ist.
Ich nenne ein Beispiel: Wenn ein Produzent Wasser in
den Schinken einführt - Wasser hat ein ordentliches Gewicht und was ist für die Gewinne in der Lebensmittelwirtschaft besser, als Wasser schnittfest zu machen -, ist
das eine arglistige Täuschung. Aber wir dürfen nach der
jetzigen Gesetzgebung nicht öffentlich darüber berichten.
Dazu sage ich Ihnen: Das ist falsch, das wollen wir ändern
und das müssen wir ändern.
({3})
Natürlich wäre eine Information über solche Fakten
auch ein vorbeugender Verbraucherschutz, und zwar
deshalb, weil die Betroffenen genau über ihr Vorgehen
nachdenken würden. Wenn ihnen nur leichte Strafen drohen, wenn keine Veröffentlichungen und wenig Nachteile
zu befürchten sind, machen es viele. Wenn es aber veröffentlicht wird und die Leute darauf schauen, werden es
weniger machen. Mehr Information ist also auch ein vorbeugender Verbraucherschutz. Deshalb ist das Verbraucherinformationsgesetz richtig und notwendig.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn wir diese wirklich
chaotische Gesetzgebung ändern wollen - und die ersten
beiden großen Schritte sind in den letzten Monaten im
Bundesrat diskutiert worden, das Verbraucherinformationsgesetz und das Neuordnungsgesetz -, machen Sie nicht
mit. Sie sagen hier: Frau Künast, bitte ändern Sie die Strukturen. Aber wenn Frau Künast Änderungsvorschläge
macht, machen Sie nicht mit. Das ist doch Blockadepolitik!
({5})
Sie stabilisieren damit das alte System.
Wir wollen dieses Verbraucherinformationsgesetz.
Nach dem Umweltinformationsgesetz hat jeder das
Recht, zu erfahren, was im Wasser einer Kläranlage, was
im Abwasser eines Chemieunternehmens ist. Aber es gibt
kein Recht, nach dem die Bürgerinnen und Bürger erfahren können, was in ihrer Wurst ist. Die Leute wollen genauso, wie sie erfahren wollen, was im Abwasser einer
Kläranlage ist, wissen, was in ihrer Wurst ist. Und ich
meine, sie haben ein Recht darauf, das zu erfahren.
({6})
Sie haben nur Blockadepolitik gemacht. In den Ausschüssen haben Sie keine entsprechenden Anträge gestellt.
({7})
Eineinhalb Jahre hatten Sie Zeit.
({8})
Sie haben in der ersten Bundesratssitzung 22 Anträge gestellt. Davon sind von der Bundesregierung zwei Drittel
übernommen worden. Gestern gab es eine Diskussion darüber. Statt Ihre anderen sechs Änderungsanträge auf den
Tisch zu legen, haben Sie nur blockiert, haben keinen
konkreten Änderungsvorschlag vorgelegt. Das heißt, es
geht Ihnen in diesem Land nur um Wahlkampf und nicht
um die Inhalte, und das finde ich beschämend.
({9})
Ich komme jetzt zur FDP.
({10})
Was wir mit dem Verbraucherinformationsgesetz erreichen wollen, ist ein kleiner Teil dessen, was in den USA
jedem Bürger erlaubt ist. Dort gibt es den Freedom of Information Act, eine sehr große Sache.
({11})
Wir wollen nur einen kleinen Teil der darin niedergelegten Rechte hier in Deutschland installieren. Doch das
blockiert die FDP. Meine Damen und Herren von der FDP,
es steht außer Frage, dass Sie Ihren Parteinamen demnächst mit einem kleinen „f“ schreiben müssen. Das wäre
angebracht; denn das, was Sie hier für die Freiheitsrechte
der Bürgerinnen und Bürger tun, indem Sie das Verbraucherinformationsgesetz blockieren, ist in der Sache
falsch. Deshalb werden wir Sie dafür auch kritisieren.
({12})
Herr Heinrich, Sie haben gesagt, mit dem QS-Siegel
werde ein Anfang gemacht. Seit wann wird eigentlich
über das QS-Siegel diskutiert? Zu Ihrer Zeit, als Sie,
CDU/CSU und FDP, noch in der Verantwortung standen,
wurde noch nicht darüber diskutiert.
({13})
- Nach BSE. - Das heißt, die Konsequenz, die man in der
konventionellen Landwirtschaft zieht, ist eigentlich genau das, was Frau Künast fordert, nämlich mehr Qualität.
({14})
Auch die konventionelle Landwirtschaft muss sich nach
der Decke strecken, muss neue Agrarpolitik betreiben und
mehr Qualität anbieten. Nicht mehr und nicht weniger
passiert.
({15})
Frau Höhn, gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Ministerin Bärbel Höhn ({0})
Bärbel Höhn, Ministerin ({1}): Die
Redezeit bleibt davon aber unberührt? - Gut. Bitte schön.
Ihre Redezeit bleibt bestehen,
Frau Ministerin.
Das QS-Siegel mit seinem System wurde von der Wirtschaft zusammen mit der Landwirtschaft entwickelt, um
die Verbrauchersicherheit nach dem BSE-Skandal vernünftig weiterzuentwickeln. Wir haben festgestellt,
({0})
dass das QS-Siegel mit seiner durchgängigen Dokumentation und der Weitergabe der Daten besser geeignet ist als
das,
({1})
was beim Kontrollsystem zu dem Biosiegel besteht.
({2})
- Meine Frage kommt noch; ich muss sie erklären. - Gestern haben wir bei einer Diskussion beim Deutschen
Raiffeisenverband aus dem Mund von Herrn Berninger
gehört, es sei nicht auszuschließen, dass die auch nach
seiner Meinung vernünftigen Dinge beim Bio-Siegel übernommen würden.
({3})
Sind auch Sie der Meinung, dass man eine entsprechende
QS auch für das Biosiegel einrichten muss, um eine Verbesserung der Qualitätssicherung bzw. der Dokumentation zu erreichen?
Bärbel Höhn, Ministerin ({4}):
Herr Heinrich, auch ich halte das QS-Siegel für eine gute
Idee. Ich finde es gut, wenn die konventionelle Landwirtschaft das, was Frau Künast vorgibt, jetzt mit dem QSSiegel umsetzt und mehr Qualität installiert. Ich finde es
gut, wenn es funktioniert. Aber dass Sie sagen: „Es wird
funktionieren“, ehe es überhaupt installiert ist, finde ich
schon spannend. Was wir im Ökolandbau an zusätzlichen
Verbesserungen und Kontrollen realisieren können, sollten wir tun, so schnell wie möglich, gar keine Frage. Aber
es geht hierbei nicht um eine Konkurrenz untereinander.
({5})
- Dazu kann ich Ihnen vieles sagen. Warum macht das
QS-Siegel nicht auch einen ganz kleinen Schritt in Richtung Tierschutz? Wenn es auch beim QS-Siegel heißen
würde: „Mehr Qualität bei der Tierhaltung“, wäre das eine
gute Sache. Ich hoffe, dass sich das QS-Siegel dahin entwickelt. In dieser Richtung gibt es noch viel nachzuholen.
({6})
Sie werfen der rot-grünen Regierung immer vor, sie
pusche nur den ökologischen Landbau. Ich sage Ihnen:
Nein. Da brauchen Sie gar keine Angst zu haben. Auf
diese Nische allein lassen wir uns nicht einschränken. Wir
wollen mehr. Wir wollen die gesamte Landwirtschaft reformieren.
({7})
Wir bleiben beim Ökolandbau nicht stehen. Dass das auch
zunehmend ankommt, zeige ich Ihnen an zwei Punkten.
Erstens. Ich habe hier gerade einen Artikel aus Rheinland-Pfalz. Danach haben die Bauern aus dem Kreis
Ahrweiler gesagt, sie wollten jetzt offen diskutieren und
beraten, ob sie nicht im Rahmen der Verwaltungsreform
den Anschluss des Kreises Ahrweiler an Nordrhein-Westfalen erreichen können; denn die grüne Landwirtschaftsministerin in Nordrhein-Westfalen mache offensichtlich
bessere Politik als der FDP-Landwirtschaftsminister in
Rheinland-Pfalz.
({8})
Wir müssen darüber also noch einmal diskutieren. Ich
habe Clement schon einmal gebeten, das checken zu lassen. Das ist der erste Punkt.
({9})
Zweitens. Mittlerweile steht in fast jeder öffentlichen
Bauernveranstaltung, die ich mache - ja, ja, da werden Sie
plötzlich ganz aufgeregt -,
({10})
ein Bauer auf und fragt: Was wäre eigentlich mit meiner
geplanten Windkraftanlage und mit meiner Biomasseanlage, wenn Rot-Grün nicht mehr regierte und das Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht mehr umgesetzt würde?
({11})
Das ist doch die Diskussion. Die Bauern trauen sich mittlerweile. Sie verlieren Ihre Klientel; denn die bessere
Landwirtschaftspolitik, die bessere Verbraucherschutzpolitik auch für die konventionell arbeitenden Landwirte
machen wir, macht Rot-Grün.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile Kollegin
Kersten Naumann von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schätzt man die momentane Situation
im Verbraucherschutz ein, so bleibt das Fazit: Das Kapital ist herzlos und die Politik ist machtlos. Wieder sind die
Bauern - diesmal vorwiegend die Ökobauern - und die
Verbraucher die Leidtragenden; denn sie haben sich auf
die Sorgfaltspflicht aller am Herstellungsprozess Beteiligten, auf die Kontrolltätigkeit und die Verbraucherschutzpolitik im Bund und in den Ländern verlassen.
Wenn jeder Skandal immer wieder als Chance für mehr
Verbraucherschutz, für mehr Lebensmittelsicherheit gesehen wird, fragt man sich: Wie viele Skandale muss es
denn noch geben, um endlich die Chancen begreifen zu
lernen?
({0})
Wurde Dioxin als Chance für mehr Futtermittelsicherheit
begriffen? - Nein. Wurde Chloramphenicol als Chance
für mehr Lebensmittelsicherheit begriffen? - Nein. Wird
Nitrofen als Chance für mehr staatliche Kontrollen begriffen? - Nein.
Es bleiben weitere Fragen: Lagern möglicherweise
noch weitere verbotene Mittel in diversen Lagerstätten, wie
zum Beispiel das erst kürzlich verbotene Brestan? Wie ausreichend und sicher werden chemisch-synthetische Stoffe
überhaupt geprüft? Wie wird heute mit wissenschaftlich begründeten kritischen Bedenken umgegangen und das Vorsorgeprinzip angewendet, wenn zum Beispiel das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz die
Gefahren des in frittierten Chips und Pommes vorkommenden Acrylamids ähnlich hoch einschätzt wie Nitrofen?
Wie so oft ist die Pharmalobby erfolgreicher in Politik
und Wirtschaft und kommt bei Belastungen und Katastrophen durch ihre Produkte nicht für die Folgeschäden auf.
Ich denke, es muss schnellstens weit reichende Haftungsregelungen, und zwar nicht nur eine Produkthaftung, sondern auch eine Umwelthaftung geben, nicht nur
auf EU-Ebene, sondern weltweit.
({1})
Warum benötigen wir Haftungsregelungen und stärkere
unhabhängige Kontrollen für eine höhere Lebensmittelsicherheit? - Weil Lebensmittelsicherheit gleichzeitig
Sicherheit für Mensch, Tier, Umwelt und Natur bedeutet.
Werden Lebensmittel sicher produziert, werden auch Futtermittel sicher produziert. Schließlich ist Lebensmittelsicherheit auch Sicherheit für den produzierenden Bauern. Auch in der Agrarwirtschaft ist klar: Produziert und
gekauft wird nur das, wozu Vertrauen und Unbedenklichkeit bestehen. Doch der Markt bei Nahrungsmitteln ist
mehr als störanfällig.
Jeder Skandal führt nicht nur dazu, dass die Landwirtschaft am Pranger steht und der anspruchsvolle Verbraucher sensibel reagiert, sondern kostet den Steuerzahler
immense Summen. Der Gesamtschaden für die betroffenen Landwirte aus dem Nitrofen-Skandal wird auf mehrere Millionen Euro geschätzt. Darin eingeschlossen sind
Kosten für das herdenweise Töten von Tieren, das Durchforsten und Kontrollieren gesamter Warenströme, das
Vernichten von Futter- und Lebensmitteln und nicht zuletzt für die Untersuchungen der Staatsanwaltschaften
und der Landeskriminalämter. Ja, meine Damen und Herren, auch Lebensmittelsicherheit hat ihren Preis. Das erfordert erhöhte Haushaltsansätze und nicht die Ideologie
von einem schlanken Staat.
In Brandenburg sollen zum Beispiel die Kreislandwirtschaftsämter in allen Tierbetrieben einmal jährlich Futtermittelkontrollen durchführen. Aufgrund personeller und
finanzieller Engpässe werden jedoch nur circa 80 Prozent
tatsächlich überprüft. Laboruntersuchungen werden ohnehin nur bei Verdachtsfällen veranlasst, ansonsten beschränkt sich die Kontrolle darauf, zu schauen, welche
Futtermittel entsprechend der Deklaration verwendet
wurden.
Der Nitrofen-Skandal macht auch deutlich, dass
Selbstkontrollen eben nicht zur Selbstanzeige führen,
sondern eher zur Vertuschung. Erfolgversprechend und
die einzige Alternative sind hier nur unabhängige Kontrollen und eine sofortige Weiterleitung der Ergebnisse an
die zuständigen Behörden.
({2})
Meine Damen und Herren, das auf Bundesebene
durchgeführte Lebensmittelmonitoring stellte schon
1998 bei 3,5 Prozent der rund 4 700 Proben Höchstmengen überschreitende Werte fest. Bei Obstarten lag der Anteil sogar zwischen 10 und 16 Prozent. In Thüringen hat
ein Monitoring im Jahre 2000 bei fast 9 Prozent der Proben die lebensmittelrechtlichen Anforderungen beanstandet; es handelte sich dabei um rund 1 500 Proben. Auch
die EU rügt Mängel in der deutschen Lebensmittelüberwachung und das Pestizid Aktions-Netzwerk Hamburg
hat ermittelt, dass in den Jahren von 1997 bis 2001 Rückstände von 119 verschiedenen Pestiziden bei amtlichen
Kontrollen entdeckt wurden. Darunter waren 61 akut giftige, Krebs erregende und verbotene Mittel. Warum haben
hier nicht schon die Alarmglocken geläutet?
Dann liest man wiederum im Weißbuch für Lebensmittelsicherheit, die europäische Lebensmittelherstellungskette zähle zu den weltweit sichersten und funktioniere im
Allgemeinen ganz gut. Die Schlussfolgerung lautet: im
Allgemeinen ganz gut, im Besonderen katastrophal.
({3})
Selbst das in der Europäischen Lebensmittelagentur aufzubauende Schnell- und Frühwarnsystem kann nicht
funktionieren, wenn in einer Nation, in einer Region oder
bloß in einem Unternehmen Informationen zurückgehalten werden. Letztendlich muss es darum gehen, dass Bund
und Länder gemeinsam notwendige Voraussetzungen für
mehr Vorsorge schaffen.
({4})
Darüber ist auch im Zusammenhang mit der Gemeinschaftsaufgabe und der PLANAK nachzudenken, zum
Beispiel durch eine anteilige Mitfinanzierung einer
Mehrgefahrenabsicherung durch Bund und Länder, damit
Landwirte nicht von heute auf morgen unverschuldet in
den Ruin getrieben werden. So ist bei den durch Nitrofen
betroffenen Landwirten überhaupt nicht klar, wer für den
materiellen und finanziellen Schaden aufkommt; denn die
Tierseuchenkasse zahlt in diesem Fall nicht.
Meine Damen und Herren, die vielgepriesene hochwertige Qualität deutscher Lebensmittel, die die weltweit
höchsten Standards hätten, muss mittlerweile doch angezweifelt werden. Sicherlich sind schnittfestes Wasser in
Kochschinken und Etikettenschwindel bei der Wurstzusammensetzung noch keine Gefahr für die Gesundheit,
aber Betrug. Bei Separatorenfleisch, bei gentechnisch
kontaminiertem Saat- und Erntegut in ganz Europa oder
bei Dioxin wird es dann für die Gesundheit schon brisant.
Eines wird doch immer wieder deutlich: Die Pharma- und
Verarbeitungskonzerne schummeln, wo sie nur können.
({5})
Welch Missbrauch beim Umgang mit Kapital betrieben
wird, zeigen die kartellhaften Preisabsprachen bei Vitaminzusätzen und die Preiskriege bei Lebensmitteln in Discountern, aber auch die Angebote unter Einstandspreisen
oder die bis zu 10 Prozent überhöhten Verbraucherpreise
wie zum Beispiel bei Milch und Milchprodukten im letzten Jahr. Das Skandalöse daran ist: Beim Erzeuger kommt
davon kein Pfennig mehr an. Im Gegenteil, gerade bei diesen Produkten gingen die Erzeugerpreise zur gleichen Zeit
um 10 bis 20 Prozent zurück. Das Allerschlimmste ist: Die
Liste nimmt kein Ende und sie wird auch kein Ende finden. Denn kapitalistische Marktwirtschaft ist ausschließlich profitorientiert und schafft unweigerlich Skandale.
({6})
Das Sprichwort „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“
gilt jetzt nur noch in dem Sinne: Wo keine Kontrollen
sind, kann kein Vertrauen mehr sein.
Werte Kolleginnen und Kollegen, es hilft weder dem
Verbraucher noch dem Landwirt, wenn die Aufklärung
von Skandalen von Wahlkampfgetöse, wie vom Kollegen Lippold gerade wieder praktiziert, überschattet wird.
({7})
Glauben Sie nicht, dass auch für Außenstehende leicht zu
durchschauen ist, wer sich für die Stärkung der Verbraucherrechte einsetzt und wer aus wahltaktischen Gründen
das Verbraucherinformationsgesetz, das Absatzfondsgesetz, das Tierarzneimittelgesetz und die Neuorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes blockiert?
Die Taktierer verstricken sich in ihrem Rundumschlag in
Beschuldigungen und Verleumdungen, selbst wenn die
Verantwortung vor der eigenen Landestür liegt. Hier sei
nur an die Tragödie bei den BSE-Testlaboren gedacht.
Ich will Ihnen hier nur ein Paradebeispiel für kleinhirnige Kurzschlüsse präsentieren: Der Vorsitzende der
CSU-Landesgruppe im Bundestag, Michael Glos, sagte
einerseits, Künasts Methode sei es, von eigenem Versagen
dadurch abzulenken,
({8})
dass sie die Bauern diffamiere und Opfer zu Tätern mache, und das sei ein unerträglich mieser Politikstil.
({9})
Andererseits beeilt er sich, die Landwirte im Osten zu
beschuldigen, denn die wahren Ursachen liegen - ich
zitiere - „in den schlimmen Hinterlassenschaften der
kommunistischen Kolchos-Landwirtschaft“.
({10})
Diese Taktik funktioniert vielleicht in einigen südlichen Berggebieten unserer Republik; aber vielerorts
haben solche Äußerungen Empörung ausgelöst. Damit
dürfte wieder einmal eine Wahlkampfseifenblase der
CSU im ostdeutschen ländlichen Raum geplatzt sein.
Wenn ich mich jetzt auf Ihrem Niveau bewegen würde,
dann würde ich fragen: Wer war denn für die ordentliche
Abwicklung des Betriebes in Malchin verantwortlich?
Gab es da nicht eine Treuhand mit reinen Westimporten,
die diese Halle verkauft hat?
({11})
Haben nicht Ihre westlichen Kollegen - aus reiner Vergesslichkeit natürlich - das Gutachten über die Halle beschönigt oder gar vorsätzlich das Altlastenkataster nicht
richtig bedient? Schließlich ging es auch hier um bloße
Kapitalverwertung und schnelles Geld.
Fakt ist doch eines, Herr Glos: Diese so schlimme
Landwirtschaft im Osten hat nicht nur unser Volk eigenversorgt, Arbeitsplätze im ländlichen Raum geschaffen
und eine bessere Infrastruktur besessen, sondern auch die
Mäuler im Westen mit hochwertigen Rinderfilets und
Schweinesteaks gestopft.
({12})
Die Landwirtschaft im Osten ist heute erfolgreich
und wettbewerbsfähig und handelt mit Lehrlingsausbildung und Engagement in den ländlichen Räumen sozial
verantwortlich.
({13})
Dafür darf sie dann noch die Altschulden tragen.
Die PDS-Fraktion fordert, nicht nur den NitrofenSkandal auch unter Einbeziehung weiterer verbotener
Mittel lückenlos aufzuklären. Vor allem muss endlich
mit allen beteiligten Verbänden, Unternehmen und Behörden ein wirksames System der Futter- und Lebensmittelkontrolle geschaffen werden. Das schließt eine
lückenlose Dokumentation zur schnellen Rückverfolgbarkeit ein.
Die heutige Regierungserklärung hatte das Thema:
„Vorrang des Verbraucherschutzes notwendiger denn je für ein neues Denken und Handeln“.
({14})
Zum Denken und Handeln hier noch eine Lebensweisheit
von Mahatma Gandhi: „Die Erde hat genug für die Bedürfnisse eines jeden Menschen, aber nicht für seine Gier.“
Danke schön.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heino Wiese, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Naumann, Sie
haben eben von Verbrauchersicherheit und Transparenz
gesprochen. Zum ehemaligen System der DDR haben Sie
in diesem Zusammenhang nichts gesagt. Ich glaube,
Transparenz war dort kein auszeichnendes Merkmal. Insofern ist das nichts, was im Kapitalismus oder Sozialismus anders gelten würde.
({0})
In der letzten Woche hat Herr Sonnleitner versucht - er
versucht es auch jetzt noch -, uns weiszumachen, dass es
bei den Verunreinigungen durch Nitrofen um einen Skandal des ökologischen Landbaus gehe. Es geht aber nicht
um den Ökolandbau und auch nicht um die konventionelle Landwirtschaft. Das Problem sind sicherlich
auch die noch mangelnden Kontrollverfahren, aber im
Wesentlichen sind es kriminelle Verstöße gegen geltendes Recht.
({1})
Der Nitrofen-Skandal ist das Resultat verantwortungslosen Wirtschaftens. Aber wer sind denn die, die da
so verantwortungslos wirtschaften? Es sind eben nicht
die Landwirte, die aus Überzeugung und in Verantwortung gegenüber Müttern und Kindern ökologisch oder
nachhaltig produzieren. Es sind diejenigen, die schon
immer Geschäfte mit Futtermitteln gemacht haben,
mal mit Tiermehl, mal mit gentechnisch verändertem
Soja, und die jetzt mit der Sparte Biofutter einen neuen Nebenverdienst und ein neues Nebengeschäft mitnehmen.
Es geht an dieser Stelle um die Firma GS agri. Die
GS agri ist nicht unbedingt eine Versammlung von Ökobauern. Ich wette, dass 80 Prozent der Besitzer dieses Unternehmens dem Bauernverband und gleichzeitig der
niedersächsischen CDU angehören.
({2})
Wahrscheinlich hört man deshalb auch nichts von Herrn
Niemeyer zu dieser Sache.
({3})
- Wo? Ich habe nichts gelesen.
({4})
Alle, die mich kennen, wissen, dass ich längst nicht
alles toll finde, was Frau Künast macht. Aber ich finde es
im hohen Maße bewundernswert und anerkennenswert,
wie sich Frau Künast einsetzt, um die Lebensmittel für die
Verbraucherinnen und Verbraucher sicherer zu machen.
({5})
Frau Künast hat es dabei mit mächtigen und - Herr
Heinrich, dazu könnten Sie sich vielleicht auch zählen gut organisierten Gegnern zu tun, die zwar behaupten, sie
wollten alles transparenter machen, deren Hauptinteresse
aber darin besteht, alles zu vertuschen und so weiterzumachen wie bisher.
({6})
Herr Sonnleitner beklagt sich im Moment über mangelnde Kontrollen. Andererseits ist er gegen das Verbraucherinformationsgesetz und beschwert sich diesbezüglich
über bürokratische und wettbewerbsverzerrende Schikanen. Das ist Heuchelei und keine seriöse Handlungsweise.
Das gilt übrigens auch für einige Behördenvertreter.
Ein paar Spitzenbeamte haben augenscheinlich das Gefühl,
es könne ihnen ja ohnehin nichts passieren, Frau Künast
solle sich doch weiter abstrampeln wie bisher. Ich finde,
diese Spitzenbeamten, die mehr als 5 000 Euro im Monat
verdienen, müssten sich stärker für ihr Tun verantworten.
Wenn sie nicht mitmachen wollen, müssen sie gehen.
({7})
Ich finde, Herr Honikel darf sich nicht so einfach aus der
Verantwortung stehlen und darauf verweisen, es gebe
noch keine eindeutige Informationspflicht der Kontrollstellen gegenüber den zuständigen Behörden.
Kollege Wiese, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Ja.
({0})
Es ist ein bemerkenswerter
Vorgang, dass Sie als Koalitionspartner fordern, bei Spitzenbeamten aus dem Ministerium
({0})
oder aus nachgelagerten Behörden wären Konsequenzen
zu ziehen. Ich frage Sie: Können Sie uns die Namen derjenigen nennen, die Ihrer Meinung nach versagt haben?
Es ist ja wohl ungeheuerlich, was Sie hier sagen.
({1})
Diese Art der Argumentation ist wieder typisch. Es geht darum, ungeheuerliche Vorgänge zu beschreiben. Wir versuchen, etwas aufzuklären und Verantwortung festzumachen.
({0})
- Ich rede gleich über Herrn Honikel.
({1})
Diese Beamten - auch das müssen wir sehen - sagen sich
zum Teil aufgrund der etwas schlechteren UmfrageergebHeino Wiese ({2})
nisse: Es ändert sich ja vielleicht demnächst wieder, also
brauchen wir gar nichts zu tun, wir sind dann wieder auf
der richtigen Seite. Dazu sage ich: Diese Beamten dürfen
in Zukunft nicht mehr ohne Sanktionen davon kommen.
Da bin ich mir ganz sicher.
({3})
Ich finde, Herr Honikel darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Ein derartig hoch bezahlter Beamter muss von
sich aus Verantwortung für die Gesundheit von Verbraucherinnen und Verbrauchern übernehmen. Deshalb hätte er
- wie übrigens schon beim BSE-Skandal, als er auch gesagt
hat, er habe nicht so genau gewusst, dass er das weitergeben müsse - bei der Entdeckung des Nitrofen selbst aktiv
werden müssen. Es geht schließlich darum, dass ein unzulässiger Stoff, ein Pflanzenschutzmittel, in einer Konzentration, die um das 600fache über dem Höchstwert liegt,
im Fleisch entdeckt wurde, und zwar zuerst in Babynahrung. Es ist wirklich unglaublich, dass der Leiter der Bundesanstalt für Fleischforschung in einem solchen Fall nicht
eigenverantwortlich handelt. Man fragt sich manchmal, ob
in Deutschland alles per Gesetz geregelt werden muss,
({4})
nur weil bei einigen Leuten offenbar der gesunde Menschenverstand nicht funktioniert.
({5})
Natürlich wird dieser Skandal auch dazu benutzt, die
Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, insbesondere bei dem Ziel, den ökologischen Landbau zu fördern, anzugreifen. Ein Skandal wie dieser zeigt doch ganz
deutlich das verstärkte Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher an Nahrungsmitteln, die nicht mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wurden. Die Einführung des
Biosiegels war ein Schritt in die richtige Richtung. Jetzt
müssen wir handeln.
({6})
- Herr Heinrich, ich bin nicht Regierung. Ich bin Abgeordneter des Parlaments.
({7})
Ich stütze die Regierung, und zwar ganz ausdrücklich.
({8})
- Das, was Sie „Unsinn“ nennen, ist der Sinn, den wir haben. Wir wollen etwas verändern. Sie wollen nur etwas
verhindern; das ist Ihr einziges Interesse.
({9})
Die Einführung des Biosiegels war ein Schritt in die
richtige Richtung. Jetzt müssen wir handeln, damit durch
die Verfehlungen einiger weniger nicht die ganze Branche
in Misskredit gebracht wird.
Um das Verbrauchervertrauen zurückzugewinnen,
muss nun erreicht werden, dass ein Monitoringprogramm
für Pflanzenschutzmittel und Altstoffe in Lebensmitteln
sowie Futtermitteln eingerichtet wird, dass die Informationspflicht der Kontrollstellen gegenüber den zuständigen
Behörden der Länder neu geordnet wird, die Kontrollstellen stärker vernetzt werden und die Nahrungsmittelkette offen gelegt wird. Viele dieser Forderungen, die ich
jetzt stelle, wären bereits seit einiger Zeit gesetzlich geregelt, wenn sich die Opposition nicht gegen unsere Gesetzesvorhaben gesperrt hätte. Mit dem Ökolandbaugesetz,
dem Neuorganisationsgesetz und dem Verbraucherinformationsgesetz können in Zukunft kriminelle Machenschaften nicht lange unbeachtet bleiben.
Ich wünsche mir im Interesse der Gesundheit unserer
Kinder, dass wir auch künftig die Landwirtschaftspolitik
in diesem Lande gestalten. Ich wünsche mir, dass Frau
Künast auch in der nächsten Bundesregierung das Landwirtschaftsressort übernimmt.
({10})
Das sage ich ausdrücklich, obwohl ich der SPD natürlich
zutraue, die Wahlen alleine zu gewinnen.
({11})
Aber wenn wir denn eine Koalition eingehen müssen, so
ist die Koalition mit den Grünen die Koalition, die uns mit
Abstand am besten gefällt.
({12})
Der Nitrofen-Skandal ist einer von vielen Skandalen,
die immer wieder - wenn auch selten - hochkommen. Wir
alle müssen sehr genau hinschauen, was passiert.
({13})
- Es wird gerufen: Was habt ihr bei BSE gemacht? Wir haben Dinge in Gang gebracht, die Sie bis zum letzten Moment zu verhindern versucht haben. Als wir angekündigt
hatten, etwas zu unternehmen, haben die CDU/CSU und
Herr Heinrich noch im Ausschuss gesagt,
({14})
wir würden die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft
in Deutschland behindern und die Landwirtschaft nachhaltig schädigen.
({15})
- Sie sind diejenigen gewesen, die verhindern wollten, dass
wir zum Beispiel die Verfütterung von Tiermehl verbieten.
({16})
- Sie können sämtliche Protokolle darüber nachlesen.
Heino Wiese ({17})
Mein Fazit ist: Wir müssen in Zukunft viel stärker darauf achten, dass die Politik die Abläufe der Landwirtschaftsindustrie kontrolliert. Auch sage ich: Die Futtermittelindustrie ist ein Teil der Landwirtschaft. Der
Landwirt kann sich nicht damit herausreden, dass er,
wenn er Futtermittel verfüttert, mit dem Inhalt des Futters
nichts zu tun hat. Auch der Landwirt muss darauf achten,
wie sich sein Futter zusammensetzt. Das gilt sowohl für
Tiermehl als auch für andere Zusätze.
Ich fordere alle auf, verantwortlich an diesem Thema
mitzuarbeiten und sich im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher gegen kriminelle Machenschaften zu
wehren.
Vielen Dank.
({18})
Ich erteile dem Staatsminister des Landes Bayern, Eberhard Sinner, das Wort.
({0})
Eberhard Sinner, Staatsminister ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wiese,
Sie haben am Schluss Ihrer Rede den Wunsch geäußert,
dass Ministerin Künast auch in der nächsten Legislaturperiode Landwirtschaftsministerin sein solle.
({2})
Gott sei Dank gehen nicht alle Wünsche in Erfüllung!
Frau Kollegin Künast, ich setze mich natürlich gerne
mit Ihnen auseinander. Sie haben ein Feindbild. Es heißt
Bayern.
({3})
Doch Bayern entspricht nicht Ihrem Vorurteil. Ich zitiere
aus der „Zeit“ Nr. 4 aus dem Jahre 2002:
Nirgendwo in Deutschland
- so schreibt die „Zeit“ werden Biobauern dauerhaft so großzügig honoriert
wie ausgerechnet in dem reichen CSU-regierten
Bundesland.
({4})
Nur bemühen die Bayern dafür nicht das Etikett
„Agrarwende“.
({5})
Das heißt, wir tun das Richtige, ohne ständig die anderen, die konventionell wirtschaften, zu prügeln und ohne
eine ideologische Agrarpolitik zu betreiben, die die einen
privilegiert und die anderen diskriminiert. Dies ist der
falsche Ansatz Ihrer Agrarpolitik.
({6})
Frau Kollegin Künast, Sie haben aus einem Bericht über Pflanzenschutzmittel zitiert, der sich auf das
Jahr 2000 bezieht und heuer im Frühjahr veröffentlicht
wurde. Dazu sage ich Ihnen: Wir haben schon vor Erscheinen des Berichts reagiert, indem wir ein neues
Ministerium und 500 neue Stellen geschaffen haben. Wir
haben die Mängel, die dort beschrieben werden, abgestellt.
Zu den behaupteten Mängeln möchte ich sehr deutlich
machen, dass die Lebensmittel bei Höchstmengenüberschreitungen natürlich aus dem Verkehr gezogen werden.
Sie haben das Thema Grenzwerte angesprochen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn ein Lebensmittel erst nach
einer 500- bis 1 000fachen Überschreitung des Grenzwertes gesundheitsgefährdend ist, bedeutet das, dass die
Grenzwerte im Sinne der Vorsorge des Verbrauchers richtig gesetzt sind.
Wir ziehen schon bei einem Tausendstel der gesundheitsgefährdenden Menge die Lebensmittel aus dem Verkehr, das heißt, bevor sie gesundheitsgefährdend werden.
Das ist doch der Punkt. Die Grenzwerte sind wirksam. Das
bedeutet aber auch, dass sie eingehalten werden müssen.
({7})
Meine Damen und Herren, Sie wollen heute ablenken,
indem Sie den Splitter in Bayern statt den Balken in den
eigenen rot-grünen Augen suchen.
({8})
Ich frage mich nur: Was wäre hier los, wenn sich der
Nitrofen-Skandal in Bayern und Baden-Württemberg abspielen würde? Da würde hier was geboten.
Ich wundere mich, dass Frau Künast jeden Tag neue
Meldungen produziert. Ich habe einen Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 6. Juni vorliegen. Da heißt es in der
Überschrift:
Künast befürchtet Ausweitung des Ökoskandals
Weit mehr vergiftete Lebensmittel im Umlauf
({9})
Im dritten Absatz heißt es:
Dennoch hält Künast die Gefahr für die Verbraucher
aber für weitgehend gebannt.
So schnell sind wir in einem Artikel nicht.
Der Nitrofen-Skandal ist keineswegs aufgearbeitet und
er ist keineswegs aufgeklärt. Das steht im Gegensatz zu
Ihrer Behauptung vom vergangenen Samstag um 17 Uhr.
Da gab es eine hektische Pressekonferenz, in der Sie erklärten, alles sei aufgeklärt. Nichts ist aufgeklärt. Sie verteilen hier Beruhigungspillen.
({10})
Ich sage in aller Deutlichkeit: Das Verbraucherinformationsgesetz hätte das nicht verhindert. Wir stimmen
Heino Wiese ({11})
keinem Gesetz zu, das nach sechs Wochen den nächsten
Skandal ermöglicht. Wenn wir ein Gesetz verabschieden,
dann soll es auch wirksam sein, damit Skandale verhindert werden.
({12})
Dazu haben wir im Bundesrat entsprechende Anträge gestellt.
({13})
Gestern wurde in einer Vorbesprechung zum Vermittlungsausschuss diskutiert. Ich frage Sie: Wer hat denn den
Vermittlungsausschuss angerufen? Das war doch die
Bundesregierung, nicht wir. Dann legen Sie auch die Vorschläge vor und warten nicht, bis wir sie machen.
({14})
Das ist nämlich Ihre Aufgabe, wenn Sie den Vermittlungsausschuss anrufen.
({15})
Frau Kollegin Höhn, Sie haben gesagt, der Verbraucher möchte wissen, was in der Wurst ist. Das ist richtig, Frau Höhn. Sie bieten ihm im Verbraucherinformationsgesetz folgenden Weg an: Der Bürger darf einen
schriftlichen Antrag bei der zuständigen Behörde stellen, dann bekommt er spätestens nach acht Wochen mitgeteilt,
({16})
was in der Wurst enthalten ist. Anschließend erhält er von
der zuständigen Behörde noch eine Rechnung, weil die
Untersuchungen möglicherweise etwas gekostet haben.
Soll das die Verbraucherinformation sein, die Sie für richtig halten? Das ist nicht unsere Art der Verbraucherinformation.
({17})
Es ist richtig, dass im Lebensmittelrecht einiges geändert werden muss. Dabei müssen wir auf der europäischen
Ebene anfangen. Im Weißbuch Lebensmittelsicherheit
sind 87 Vorschläge enthalten; die müssen umgesetzt werden. Ebenso muss das Kennzeichnungsrecht auf europäischer Ebene geändert werden; denn der Verbraucher will
auf dem Etikett sehen, was in der Wurst ist und nicht erst
an eine Behörde verwiesen werden. Das ist unser Alternativvorschlag. Diesen Alternativvorschlag müssen wir
auf der europäischen Ebene durchsetzen.
({18})
Wenn ich die Reaktion der Bundesregierung betrachte,
halte ich die Art, wie Sie mit dem ökologischen Landbau
umgehen, für besonders bedenklich. Sie machen hier Propaganda für ein Gütesiegel „Öko-light“.
({19})
Mit diesem Gütesiegel machen Sie es denjenigen leicht,
die manipulieren wollen, und denjenigen schwer, die kontrollieren wollen.
({20})
Sie sagen, Sie brauchen dazu ein Amt für Risikoanalyse. Ich lese Ihnen aus der „Zeit“ Nr. 24 von 2002 vor,
wo die Risiken liegen. Die Journalisten können das ohne
ein Amt für Risikoanalyse erkennen. Man muss nur seinen gesunden Menschenverstand einsetzen, dann kann
man das erkennen. Das Risiko ist das Etikett. Sie fördern
einen minderen Standard, der in Europa gültig ist, und diskriminieren damit Bioland, Naturland und Demeter, die
ursprünglich den ökologischen Landbau betrieben haben.
({21})
Sie fördern eine riskante Produktion. Die „Zeit“
schreibt:
Durch ihr schnelles Wachstum gerät die Biobranche
in eine gefährliche Abhängigkeit von Futtermittelherstellern und Verarbeitungsbetrieben.
Genau das, was Sie beklagen, fördern Sie, weil es Ihnen
um die Quote von 20 Prozent und nicht um die Qualität
geht. Das steht im Gegensatz zu dem Motto, mit dem Sie
angetreten sind. Anstatt „Klasse statt Masse“ heißt es
„Masse statt Klasse“. Das ist die Tatsache.
({22})
Es wird ferner die Futterfalle beschrieben. Dazu
braucht man kein Bundesamt für Risikoanalyse. Außerdem werden der brutale Preisdruck und das Märchen vom
Pflanzenschutz beschrieben. Die Behauptung, Ökolandwirte würden keine Pflanzenschutzmittel einsetzen, ist
totaler Quatsch. Das sagt Stefan Kühne, Leiter des Fachbereiches ökologischer Landbau der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft. Das ist eine
Behörde, die zu Ihrem Zuständigkeitsbereich gehört.
Wenn man ein solches Siegel einführt und die
Schwach- und Risikostellen kennt, dann muss man im
Interesse des Verbraucherschutzes diese Schwachstellen
abstellen, bevor man für das Siegel wirbt. Sonst betreibt
man keine Verbraucherinformation, sondern Verbrauchertäuschung - und das noch mit Steuergeldern. Das ist der
eigentliche Skandal.
({23})
Wir müssen im Bereich Landwirtschaft einiges verbessern. Es ist ein Unding - das zeigt der Nitrofen-Skandal -,
dass trotz des bei Behörden verschiedener Bundesländer
und bei Bundesbehörden vorhandenen Wissens nicht gehandelt wird. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach zum Deutschen Raiffeisenverband gehört.
Sie setzen auf das Verbraucherinformationsgesetz und
wollen schon bei vagen Verdachtsmomenten informieren
Staatsminister Eberhard Sinner
können. Frau Kollegin Höhn, wenn Sie hätten informieren
wollen, dann hätten Sie das tun können. Sie hätten Betriebe nennen können, aus denen kontaminierte Schweinehälften nach Bayern gelangt sind. Ich könnte zwar die Listen, die ich habe, veröffentlichen. Aber was nutzt es?
Warum soll ich einen Metzger in Landshut, der nichts für
diesen Skandal kann, durch eine Veröffentlichung schädigen, nur weil jemand in Malchin geschlampt hat? Mecklenburg-Vorpommern ist ein herrliches Land - ich war
dort vor kurzem im Urlaub -; es hätte allerdings eine bessere Regierung verdient.
({24})
Anstatt über vage Verdachtsmomente zu informieren,
wäre es angesichts des konkreten Wissens Ihre Verpflichtung gewesen, Frau Kollegin Künast, zu handeln, die Waren vom Markt zu nehmen, die Behörden zu informieren
sowie die Verbraucher zu schützen und nicht zu verwirren.
({25})
Frau Kollegin Künast, Sie inszenieren sich als Racheengel der Verbraucher. Nach einem Jahr stellen wir fest: Die
Flügel fehlen Ihnen und Ihr Schwert ist stumpf. Allein mit
„Halleluja, Bio!“-Singen wird die Welt nicht besser. Das
heißt, wir brauchen konkrete Maßnahmen und eine Vernetzung der Arbeit in Bund und Ländern. Wir brauchen
nicht ständig Belehrungen vonseiten der Bundesebene. Wir
wollen zusammenarbeiten, um die Probleme zu lösen.
({26})
Dazu brauchen wir Offenheit und Transparenz. Lesen Sie
dazu unsere Anträge, die wir im Bundesrat eingebracht
haben!
Es darf nicht eine Situation geben, in der es durch
Wahlkampfgetöse erschwert wird, Probleme zu lösen.
Wir müssen vielmehr versuchen - das biete ich als Gesundheitsminister von Bayern allen Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Ländern an -, gemeinsamen zu
handeln. Es geht darum, Probleme gemeinsam zu lösen.
Das kann nur durch gegenseitige Unterstützung und Information erreicht werden. Der Verbraucher kann von uns
erwarten, dass wir uns im Wahlkampf nicht gegenseitig
die Köpfe einschlagen. Dadurch werden die Probleme
nämlich nicht gelöst.
Packen wir es also gemeinsam an, damit der Verbraucher in Zukunft sichere Nahrungsmittel bekommt!
Danke schön.
({27})
Das Wort hat nun die
Kollegin Ulrike Höfken von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es verwundert niemanden, wenn ich jetzt auf meine
Vorredner, Herrn Lippold, Herrn Heinrich und unseren
König ohne Land, Herrn Sinner, eingehe.
Es ist ganz interessant, dass man in diesen Beiträgen alles Mögliche hört. Es fällt aber kein Wort zu den Ursachen. Genau das prägt Ihre Debatte; das finde ich überhaupt nicht akzeptabel. Die Tatsache, dass Sie Dreck am
Stecken haben, prägt diese Debatte.
({0})
Parteimitglieder von CDU, CSU und FDP sitzen in den
Aufsichtsräten dieser Organisationen und dieser Genossenschaften, die die Probleme hier verursachen. Diese Blockadepolitik in Sachen Verbraucherschutz, diese Strategie der
Verhinderung von Reformen in der Agrarpolitik und von
Ökolandbau hat dazu geführt, dieses Verschwiegenheitskartell aufzubauen und auch jetzt noch zu verteidigen.
({1})
- Darauf komme ich noch, Herr Heinrich.
16 Jahre Politik von CDU/CSU und FDP - bei der FDP
sogar noch viel länger - hat genau diese Steilvorlagen für
kriminelles Handeln zulasten der Verbraucher und der Betriebe gegeben. Seit Amtsantritt der rot-grünen Regierung
gibt es ein neues Kapitel im Verbraucherschutz. Seit Einrichtung des Verbraucherschutzministeriums vor eineinhalb Jahren haben wir ein Gesetz nach dem anderen verabschiedet, wenn auch zu 99 Prozent gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP. Das Tiermehlverfütterungsverbot ist erst nach äußerstem Druck zustande gekommen.
Risikomaterialentfernung, BSE-Tests, die Maßnahmen in
der Forschung,
({2})
das Biosiegel und QS - das alles ist doch nicht unter Ihrer
Regierung zustande gekommen.
({3})
Die Verschärfung der Strafen, das neue Tierarzneimittelgesetz sind gegen Ihre Stimmen beschlossen worden. Auch
haben wir endlich Maßnahmen gegen antibiotische Leistungsförderer ergriffen. Das Neuorganisationsgesetz war
dringend notwendig, um die Kontrollen und das Risikomanagement effizient werden zu lassen. Des Weiteren erinnere
ich an das Ökolandbaugesetz sowie an Verbesserungen bei
der Ernährungsaufklärung und -information. Die Meldepflicht im Bereich der Lebensmittelunternehmen, Frau Widmann-Mauz, hatten wir schon beschlossen, als Sie sie beantragt haben. Da sind Sie ein bisschen zu spät gekommen.
Daher brauchten wir Ihren Antrag auch nicht anzunehmen.
({4})
All diese Maßnahmen sind erst durch die rot-grüne Bundesregierung und unter Renate Künast zustande gekommen. Das spricht doch deutliche Worte.
({5})
Sie haben gesagt, die Lebensmittel müssten billig sein,
und auf die Tränendrüse gedrückt. Wer muss denn diese
Staatsminister Eberhard Sinner
Skandale bezahlen? Sie sind ein Resultat alter billiger Politik. Wir wollen keine billige Politik. Wir wollen preiswerte Lebensmittel. Vor allem aber arbeiten wir mit Nachdruck daran, dass sich künftig solche Skandale nicht mehr
wiederholen.
({6})
Wer den Teppich hochhebt, den Dreck sieht und sich daran macht, ihn aufzukehren, macht sich nun einmal die
Finger schmutzig. Das kann uns aber nicht davon abhalten, den alten Dreck aufzukehren.
({7})
Zum Verbraucherinformationsgesetz haben wir gestern
eine schwache Vorstellung von Ihnen erlebt. Man sagte,
man wolle natürlich irgendwie die Verbraucher schützen. Es
macht sich ja auch schlecht, wenn man in der Öffentlichkeit
etwas anderes gesagt hätte. Aber man legte keine eigenen
Vorschläge dazu vor. Erst hieß es, man müsse die Welt verändern, wozu auch Rot-Grün beitragen solle, und dann
wurde es ganz abenteuerlich: Frau Widmann-Mauz schlug
vor, dass die Hersteller auf die Wurst schreiben sollten, was
in ihr ist. Auch Herr Sinner hat das gerade gefordert.
({8})
Aber wer wird denn darauf schreiben, dass er gegen das
Lebensmittelrecht verstoßen habe? Uns geht es darum,
genau die Unternehmen identifizieren zu können, die gegen Recht und Gesetz verstoßen, und den Verbraucherorganisationen und der Presse die Möglichkeit zu geben,
solche Verstöße veröffentlichen zu können.
({9})
Das war neben dem, was Ministerin Höhn eben aufgeführt
hat, der Sinn des Verbraucherinformationsgesetzes.
({10})
Wir wollen Ross und Reiter benennen und gerade damit die vielen seriösen Betriebe schützen. Genau das verhindern Sie. Deshalb machen wir Ihnen den Vorwurf, dass
Sie sich auf die Seite derer stellen, die etwas zu verbergen
haben und deswegen Verschwiegenheit verlangen.
({11})
Unglaublich ist auch, Herr Sinner und Herr Lippold,
dass Sie das Wachstum des Biomarktes beklagen. Es ist
ohnehin pervers, das Wachstum einer Branche zu beklagen. Im Übrigen hätte das Biosiegel in der Form, wie Sie
es gewollt hatten, überhaupt nichts geändert. Das sind ja
zertifizierte Naturlandbetriebe. Daher ist diese Diskussion absurd. Das Biosiegel ist so, wie es ist, in Ordnung.
Aber Sie beklagen das Wachstum der Biobranche und beklagen darüber hinaus, dass jetzt konventionelle Betriebe
dem Ökolandbau beiträten, die jetzt die schwarzen Schafe
seien. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen
lassen. Sie sagen also, in dem Moment, in dem konventionell wirtschaftende Betriebe dazukommen, fänden die
Skandale im Ökolandbau statt. Was ist das für eine Strategie?
Erstens. Wir wollen, dass die Gesundheit von Menschen weder im konventionellen Bereich noch im Ökobereich beeinträchtigt wird. Das gilt gerade für den Nitrofen-Skandal.
Zweitens. Wir unterstützen es, wenn konventionelle
Betriebe dazukommen. Wir möchten mit diesen Missständen sowohl in der konventionellen als auch in der
Ökolandwirtschaft konsequent aufräumen.
({12})
Ich komme noch einmal zu den Verursachern. Das Dramatische hierbei ist doch - das erbittert mich auch in
höchstem Ausmaß -, dass hier Menschen durch den Einsatz von Nitrofen vorsätzlich gefährdet worden sind.
({13})
Die Missstände in dieser Lagerhalle stellen ein vorsätzliches und fahrlässiges Vorgehen dar. Die Nitrofenbelastung
gefährdet in hohem Maße beispielsweise das werdende
Leben. Nitrofen ist aufgrund von Arbeitsschutzbestimmungen nicht mehr zugelassen. Bereits mit dieser Praxis
der Nutzung einer solchen Lagerhalle liegt also eine eindeutig kriminelle Handlung vor. In dem Moment, als die
Erkenntnisse vorlagen, fing der eigentliche Skandal an.
Und man kann nur sagen, es ist ein Glück, dass es sich in
diesem Fall um ein Ökoprodukt handelte, denn nur deshalb
ist dieser Missstand entdeckt worden.
({14})
Das war spätestens am 10. April aufgrund der Nachforschungen der Versicherung R+V bekannt. Zu diesem Zeitpunkt hat der Betrieb GS agri weiterhin versucht, diese
Produkte als konventionell in den Verkehr zu bringen,
({15})
und hat sie nach Russland exportiert.
({16})
Diese in höchstem Maß kriminellen Handlungen können
wir nicht dulden; es ist unsere Aufgabe, sie hier an allererster Stelle zu benennen und anzuklagen.
({17})
Hinsichtlich der Missstände in der Aufklärung können
Sie noch so lange damit an die Öffentlichkeit gehen, dass
die Bundesforschungsanstalt in einem privatrechtlichen
Auftrag etwas ans BMVEL gemeldet habe - in diesem
Zusammenhang teile ich durchaus die Auffassung von
Herrn Wiese -, aber das ist eine Lüge. Sie machen das
nach dem Motto: Da bleibt immer etwas hängen. Es ist
eine Lüge, dass das im BMVEL diskutiert wurde.
Achten Sie bitte
auf die Zeit.
Ja. Fakt ist: Erst mit der Kenntnisnahme im BMVEL, beim
Staatssekretär Müller und auf der Leitungsebene wurde
konsequent gehandelt.
({0})
- Die Ursachen liegen genau in diesem kriminellen Handeln von GS agri und der NSP, sehr geehrter Herr Kollege.
({1})
Auf diese Ursachen könnten Sie im weiteren Verfahren
eingehen.
Für uns heißt die Konsequenz: mehr neue Agrarpolitik,
mehr Verbraucherschutz und „Weiter so“.
Danke schön.
({2})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Norbert Schindler das
Wort.
Vielen Dank, Frau
Präsidentin! - Ich muss darauf antworten, was Frau Ministerin Höhn so locker dahinsagte, treffe aber eine Feststellung vorweg: Herr Minister Sinner hat darauf hingewiesen, welche Starthilfe für die Bauern die Südländer
der Bundesrepublik mit ihren Bioprogrammen in den
letzten zehn Jahren geleistet haben. Wenn wir heute Morgen diese Auseinandersetzung sehr zum Schaden aller
Betroffenen führen, muss man noch einmal herausstellen, dass Länderminister unterwegs waren und welche
Leistungen in der Vergangenheit über Länderhaushalte
erbracht wurden, um vieles nicht nur in Richtung
Ernährung, sondern auch in Richtung Verbraucherschutz
zu tun.
Ich bin wirklich froh, dass der Nitrofen-Skandal nicht
in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz oder in Bayern oder aber in einem konventionell wirtschaftenden Betrieb aufgetreten ist. Was wäre los, wenn irgendwo anders
etwas Derartiges geschehen wäre! Seit gestern muss man
auch diese Gefahr intensiv hinterfragen: Wo waren weitere Lager mit kontaminierten Reststoffen aus DDR-Vergangenheit? Wo war Getreide zwischengelagert? Deswegen trifft es uns alle.
Frau Höhn, Sie sagten in einem Gespräch, in dem es
um Vogelschutz in Rheinland-Pfalz ging, 10 Prozent der
Landesfläche sollten dafür ausgewiesen werden. Sie in
Nordrhein-Westfalen stellen - jedenfalls nach unseren
Informationen - noch nicht 8 oder 10 Prozent der Landesfläche gemäß der entsprechenden EU-Auflage bereit.
Das ist der Hintergrund einer erbosten Diskussion im
Ahrtal im Norden von Rheinland-Pfalz, weil man dort
sehr weitgehend in Weinbergflächen eingreift. Das kann
man für Nordrhein-Westfalen noch nicht feststellen. Ich
habe hier den Zeitungsartikel, den Sie mir dankenswerterweise überlassen haben. Deswegen: Wenn Sie darauf
Bezug nehmen, sollten Sie nicht mit aller Gewalt das gesamte Lob auf sich ziehen. Es passte nämlich in der Sache nicht.
Eine letzte Anmerkung: Beim Verbraucherinformationsgesetz mache ich sofort mit, wenn jeden Tag auf der
Titelseite jeder Zeitung - egal wo -, an der die SPD beteiligt ist, diese Tatsache vermerkt wird. Denn dies gehört
auch zur Information des Volkes.
({0})
Wir dürfen nicht nur nach der Wurst schauen, die in 14 Tagen oder acht Wochen nicht mehr vorhanden ist.
Vielen Dank.
Möchten Sie
antworten? - Bitte. Bei Kurzinterventionen und der Antwort darauf darf man sitzen bleiben. Ihre Redezeit beträgt
maximal drei Minuten.
Bärbel Höhn, Ministerin ({0}):
Herr Schindler, ich freue mich, dass Sie sich darüber geärgert haben, dass die Rheinland-Pfälzer nach NordrheinWestfalen kommen wollen, weil ich so eine gute Landwirtschaftsministerin bin.
({1})
- Danke schön.
Ich bin aber nicht nur Landwirtschaftsministerin, sondern auch Umweltministerin. Deshalb finde ich es interessant, dass Sie meinen, diese den Vogelschutz betreffende Problematik habe mit der Landwirtschaft nichts zu
tun. Wir verbinden mit der neuen Agrarpolitik Landwirtschaft und Naturschutz. Nordrhein-Westfalen war das
erste Land, das gesagt hat: Bei den für FFH, für Vogelschutz gemeldeten Flächen bekommen die Bauern einen
Ausgleich dafür, dass sie deshalb mehr Auflagen erfüllen
müssen. Dies finden auch die Bauern in den anderen Bundesländern gut.
({2})
Deshalb wollen sie nach Nordrhein-Westfalen.
Ich finde es nicht schlecht, wenn geschrieben wird
- ich zitiere jetzt den letzten Satz eines Artikels -:
Ministerin Höhn hat in Nordrhein-Westfalen als
Grüne einen guten Konsens mit der Landwirtschaft
gefunden.
Für den Text verantwortlich: Bauern- und Winzerverband
Rheinland-Nassau e.V.
Was soll ich dazu sagen? Ich freue mich, wenn ich gelobt werde. Ich finde es aber auch berechtigt.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Herren und Damen! Heute ist es eigentlich angesagt, eine
Bilanz dessen zu ziehen, wozu das Verbraucherministerium dieses Zuschnitts in den vergangenen anderthalb
Jahren beigetragen hat,
({0})
ob der Verbraucherschutz wirklich vorangebracht wurde.
Den Erfolg, liebe Frau Kollegin Höfken, lediglich daran
zu messen, ob möglichst viele Gesetze gemacht wurden,
egal was sie bewirken und egal ob sie sinnvoll sind, ist
nicht die Position der FDP.
({1})
Wir möchten inhaltsvolle und sachorientierte Politik
machen. Insofern frage ich Sie: Was hat die Einrichtung
dieses neuen Verbraucherschutzministeriums eigentlich
gebracht? Hat es geholfen, Krisen zu vermeiden? - Das
hat es nicht. Die Skandale im Lebensmittel- und Futtermittelbereich brachten im Gegenteil Organisations- und
Kontrollmängel zuhauf zutage.
Ich nenne hier noch einmal eine sehr wichtige Zahl:
Wenn auf Bundesebene durchschnittlich ein Lebensmittelkontrolleur auf 1 800 Betriebe kommt, ist dies ein Zustand, der eigentlich nicht haltbar ist. Nun höre ich immer
wieder, dies sei Ländersache. Das ist richtig. Ich finde
aber, wenn Ihnen, Frau Künast, daran gelegen ist, dass
wenigstens Stichproben gemacht werden, müssten Sie
sich im Rahmen einer Bund-Länder-Initiative zusammensetzen und darüber beraten, wie man diese Ansprüche umsetzen kann, ohne dass die Länder finanziell stranguliert
werden.
Ich finde es unglaublich, dass Sie erst im Rahmen der
Krisenbewältigung zum Nitrofen-Skandal gemerkt haben, dass für private Testlabors keine Meldepflicht von
gesundheitsgefährdeten Ergebnissen gegenüber den staatlichen Stellen besteht. Dies finde ich wirklich unglaublich.
({2})
Zudem sind die Abläufe im Verbraucherministerium, das
nötige Krisenmanagement und die Kooperation zwischen
staatlichen Stellen und dem Ministerium nach wie vor
chaotisch.
Ihr Weg, Frau Ministerin Künast, ist bis heute von Krisen gepflastert. Sie begannen, als die BSE-Krise aufkam,
und Sie werden enden - davon war heute Morgen noch
gar nicht die Rede - mit der Acrylamidproblematik, die
Sie in einer gestrigen Meldung noch ausdrücklich in, wie
ich finde, unverantwortlicher Art und Weise verharmlost
haben. Von Fachleuten wird gesagt, dass diese Problematik inhaltlich mit dem Nitrofen-Skandal zu vergleichen
sei. Es geht um eine Überschreitung der Grenzwerte um
bis zu 100 Prozent. Sie spielen das herunter und sagen wie gestern auch -, dass man abwarten müsse, dass Sie
noch nichts wissen und dass Sie erst einmal klären müssen, wie die Daten überhaupt zu erheben sind. Ich finde es
schon unglaublich, dass Sie das bis heute noch nicht geschafft haben.
({3})
Bezüglich der Frage, ob es ein sinnvolles Gesetz ist
oder nicht, sage ich Ihnen ganz ehrlich: Das Verbraucherinformationsgesetz ist ein Placebo-Gesetz und de facto inhaltslos.
({4})
Es suggeriert dem Verbraucher, als erhielte er wertvolle
Informationen; dem ist nicht so. Zudem belasten Sie die
Kommunen mit Kosten und die Verbraucher mit Gebühren.
({5})
Ein Verbraucherministerium, das entsprechend den
Vorgaben der rot-grünen Regierung ausgestaltet ist, ist
nach Überzeugung der FDP gescheitert. Sie haben sich
überhaupt nicht um den umfassenden Verbraucherschutz,
also um die Fragen des Wettbewerbs, die Rechtsfragen,
den Datenschutz im Internet und die Euro-Bargeld-Einführung gekümmert. Wie peinlich war doch der AntiTeuro-Gipfel! Dazu haben Sie wirklich nichts beigetragen.
({6})
Das zeigt sehr deutlich, dass Sie in Wahrheit vollkommen
gescheitert sind. - Ich kann es gut verstehen, dass Sie
nicht zuhören. Es ist ja auch schwer zu ertragen, wenn
man so etwas gesagt bekommt.
({7})
Sie sind nicht nur, wie es eben mein Kollege Heinrich
gesagt hat, bei der Agrarpolitik und bei der Krisenbewältigung, sondern auch bei der umfassenden Verbraucherpolitik gescheitert. Umfassende Verbraucherthemen
werden von Ihnen nämlich überhaupt nicht beachtet. Ich
sage Ihnen: In den zuständigen Ministerien gibt es Fachleute, die zur Verbraucherpolitik beitragen können. Wir
sind der Ansicht, dass dort die jeweiligen Verbraucherfragen hingehören und nicht in ein groß aufgebauschtes Ministerium, das viel Geld kostet, viel zusätzliche Bürokratie verursacht und bezüglich der Effektivität wirklich gar
nichts bringt. Dieses finde ich völlig unnütz.
({8})
Ministerin Bärbel Höhn ({9})
Sie hätten sich - damit wende ich mich auch an meine
Kollegen und Kolleginnen hier im Deutschen Bundestag unseren Antrag einmal in Ruhe durchlesen sollen: Wir
als FDP-Fraktion haben einen Antrag zum so genannten
Gesetzes-TÜV eingebracht. Danach soll bereits in den
jeweiligen Ministerien geprüft werden, ob ein Gesetz notwendig und verbraucherorientiert ist und ob es zusätzliche Bürokratie sowie weitere Kosten verursacht. Diesen
haben Sie abgelehnt. Ich finde das höchst problematisch.
Sie würden nämlich erkennen, dass in den einzelnen Ministerien - bis hin zur Politik - Verbraucherbewusstsein
von der Pike auf geweckt und der gesamten Verbraucherproblematik mit einer Sachpolitik ein erheblich sinnvollerer Dienst erwiesen werden könnte.
Frau Künast, ich sage Ihnen: Es kommt nicht darauf an,
dass die Verbraucherpolitik gut verpackt und mit viel
Bürokratie und vielen Gesetzen versehen wird. Es kommt
ausdrücklich und ausschließlich auf den Inhalt und darauf
an, was dem Verbraucher nützt. Der Verbraucher durchschaut Ihre Verschleierungstaktik. Was bei Ihnen in der
Politik drin ist, schreiben Sie absolut nicht drauf. Ich
finde, Sie sollten damit beginnen, Ihre Politik zu kennzeichnen.
Deswegen sage ich als verbraucherpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion Ihnen: Das ist eine Mogelpackung. Deshalb werden wir diese Politik nach dem
22. September verändern und nachhaltig verbessern.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gustav Herzog.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit etwas beginnen, was in diesem Hohen Hause eher ungewöhnlich ist, nämlich mit einem Eingeständnis:
Erstens. Ich hätte nicht gedacht, dass es während und
nach einer ganzen Reihe von Skandalen im Lebensmittelbereich noch einmal einen Vorgang mit einem solchen
Umfang gibt. Zweitens. Offenbar reicht unsere Fantasie
nicht aus, die Schlampereien, Vertuschungen und kriminellen Energien, die jeden Tag neu aufgedeckt werden, zu
erahnen.
Es ist gut dreieinhalb Jahre her, seit wir anfangen konnten, eine andere Politik zu betreiben, und gerade einmal 16
Monate, um das Thema Verbraucherschutz ganz oben auf
die Tagesordnung zu setzen. Seitdem ist sehr viel geleistet
worden, aber dieser Zeitrahmen reicht noch lange nicht
aus, um allen in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelproduktion zu einem neuen Denken zu verhelfen.
({0})
Es braucht Zeit, das alte Denken aus den verhärteten
Strukturen und den Amtsstuben zu verdrängen. Das alte
Denken „Was interessiert mich die Gesundheit und das
Vertrauen der Verbraucher - wichtig ist mein Geschäft“
muss aus den Köpfen verdrängt werden.
Ich betone vor allem im Zusammenhang mit Nitrofen
ausdrücklich, dass ich nicht von den Landwirten spreche
- denn diese sind unabhängig von ihrer Wirtschaftsweise
Opfer der Strukturen und derjenigen, die hartnäckig daran
festhalten -, sondern ich denke eher an eine Branche, die
vor Jahren noch überlegt hat, in ihre Futtermittel auch
Klärschlamm einzumischen.
Lassen Sie mich einen Bogen schlagen. Anfang des Jahres hat ein Putenfleischverarbeiter festgestellt, dass in dem
Bio-Fleisch, das er bezieht, um es zu Babykost zu verarbeiten, Rückstände enthalten sind, die nicht hineingehören.
Spätestens am 28. Januar beginnt GS agri mit der Suche
nach dem Eintragungspfad. Mitte März beauftragt die Versicherung, die über all das Kenntnis hat, ein Gutachten, um
sich irgendwie aus der Bredouille herauszubringen. Auch
die Norddeutsche Saat- und Pflanzgut AG erhält im Laufe
dieser Zeit Kenntnis von all den Vorgängen.
({1})
Es handelt sich um einen Bogen, der jeden Tag erweitert
werden muss und mit neuen Informationen gepflastert
wird. Es erfüllt mich mit großer Sorge, dass es Hinweise
gibt, dass bereits 1999 in Malchin Einlagerungen erfolgt
sind.
({2})
- Es war nicht dieser Weizen. Er war zu dem Zeitpunkt
nämlich noch nicht ausgesät, lieber Herr Kollege
Carstensen.
({3})
Die ersten Hinweise über die gesamte Angelegenheit
trafen im BMVEL am 21. Mai ein. Dann ging es los. Innerhalb von zwei Wochen wurde Aufklärungsarbeit geleistet, ohne zu vertuschen und zu beschönigen.
({4})
In dieser Affäre werden alle, die etwas zu verantworten
haben, zur Rechenschaft gezogen. Die Öko-Verbände und
die Kontrollstellen werden dabei keine Ausnahme darstellen.
({5})
Alle, die sich auf die Position zurückziehen, dass sie
rechtlich nicht verpflichtet waren, Meldung zu erstatten,
sollten die moralische Verantwortung tragen und ihre
Konsequenzen daraus ziehen. Darin schließe ich mich den
Ausführungen meines Kollegen Wiese an.
({6})
Die rechtlichen Lücken haben wir mit dem Ökolandbaugesetz und den gestern im Ausschuss beschlossenen
Änderungen im Futtermittelgesetz und im Lebensmittelund Bedarfsgegenständegesetz geschlossen. Aber, liebe
Kolleginnen und Kollegen, was denken eigentlich die
Menschen, die das alles verursacht haben? Da liegen auf
ihren Schreibtischen Analyseergebnisse für Produkte wie
Weizen, Tierfutter, Eier und Fleisch, das für Babynahrung
bestimmt ist. Auf diesen Analysenergebnissen steht:
Grenzwerte sind überschritten worden; es sind verbotene
und gesundheitlich bedenkliche Mittel eingesetzt worden.
Was aber passiert bei diesen Menschen, die dies auf ihrem
Schreibtisch finden, und zwar in einer Zeit, in der allgemein über verbotene Antibiotika in Garnelen, verbotene
Spritzmittel bei Äpfeln und Birnen und illegale BSE-Labors diskutiert wird? Es ist doch davon auszugehen, dass
jeder anständige und einigermaßen redliche Mensch Meldung erstatten und alles daran setzen würde, um zu verhindern, dass diese belasteten Lebensmittel in den Babybrei oder auf den Teller eines Kindergartens kommen. Nein, diese Menschen missachten bei den Futtermitteln
Gesetze und weil es keine gesetzlichen Vorschriften,
keine Verordnung und keine umfassende Dienstanweisung gibt, werden die ihnen vorliegenden Informationen
nicht weitergeleitet und kein persönliches Engagement
entwickelt, um das zu verhindern und, was eine einfache
gesellschaftliche Selbstverständlichkeit wäre, diesen Vorfällen nachzugehen. Das halte ich für den eigentlichen
Skandal, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7}) - Ulrich Heinrich [FDP]: Ich
dachte, das BMVEL hat eine Dienstanweisung
gegeben!)
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege, da Sie
gerade bei den Schuldzuweisungen an die verschiedenen
Bereiche sind, darf ich Sie fragen, ob Sie auch in Ihre
Überlegungen einbezogen haben, dass - so liegt es mir
aus der Presse vor - dem Geschäftsführer des Naturlandverbands, Herrn Herrmann, bereits zum Jahreswechsel
die Beeinträchtigungen seiner Produkte bekannt gewesen
sind und er seinen Aussagen zufolge beim Naturlandverband Alarm geschlagen hat, aber in keiner Weise die zuständigen Behörden informiert hat.
({0})
Sind Sie der Meinung, dass sich der Naturlandverband angemessen verhalten hat, oder haben Sie ihn bei Ihrer Aufzählung nur vergessen?
Ich habe in meinen bisherigen
Ausführungen bereits erwähnt, dass auch die entsprechenden Kontrollstellen und die Ökoverbände Verantwortung übernehmen müssen. Ich kann aber auf keinen
einzelnen Verband eingehen, weil noch keine entsprechenden Informationen auf dem Tisch liegen.
Weil das selbstverständliche menschliche Verhalten
bei dem jetzigen Skandal nicht vorhanden war, machen
wir Gesetze und Verordnungen. Sie beschweren sich, dass
wir alles bis in das letzte Detail regelten und mit Vorschriften zupflasterten. Hinterher beklagen wir uns dann,
dass das Ganze nur noch ein Papierkrieg ist.
In weniger als zwei Wochen wurde der Täterkreis eingegrenzt, wurden Warenflüsse gestoppt und weitere Gesetzesänderungen angeschoben. Vieles wurde gegen die
Verhinderer von CDU/CSU auf den Weg gebracht, die im
Schulterschluss mit dem Deutschen Bauernverband und
dem Deutschen Raiffeisenverband schon am ersten Tag
nach Bekanntwerden des Skandals den Ökolandbau als
Verursacher ausgemacht haben - das hätten Sie gerne gehabt -, die ohne Sachkenntnisse Schuldzuweisungen vornehmen, die, anstatt im Ausschuss zuzuhören, offenbar
nach einer Dienstanweisung von Herrn Glos draußen
({0})
den Rücktritt von Frau Ministerin Künast fordern und unproduktive Verdächtigungen in Richtung Ökolandbau
aussprechen.
Gestatten Sie
noch eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Er soll warten. Ich komme auf
ihn noch zu sprechen. Vielleicht hat sich seine Frage dann
schon erledigt.
Es ist reichlich makaber, dass diejenigen, die gleich zu
Beginn des Skandals den Ökolandbau als Verdächtigen
ausgemacht haben, nun die Hilfe organisieren wollen. Ich
sage: Angesichts der jetzigen Situation brauchen die gesamte Landwirtschaft und insbesondere der Ökolandbau
die Hilfe aller.
Lassen Sie mich nun den angesprochenen Bogen
schließen, der sich immer mehr mit Informationen füllt.
Fest steht, dass ein wesentlicher Ausgangspunkt bei der
NSP zu finden ist. Im Zentrum des Skandals stehen des
Weiteren die GS agri, der Betrieb „Grüne Wiese“ sowie andere Unternehmen. Zuletzt reichten die Verdachtsmomente
Jahre zurück und bis an die russische Grenze. Ich kann Ihnen nur sagen: Auf dem konventionellen Markt wäre die
verseuchte Ware einfach durchgelaufen. Das Problem wäre
im wahrsten Sinne des Wortes gegessen worden.
({0})
In keinem anderen Bereich wird auf so breiter Ebene analysiert und kontrolliert wie bei der Erzeugung von Babynahrung und Ökoprodukten. Seien wir doch ehrlich: Wo
wird denn überhaupt noch nach einem Mittel gesucht, das
seit zehn Jahren verboten ist und eigentlich von keinem
Praktiker mehr angewendet wird? Niemand von uns kann
ernsthaft behaupten, dass dies noch durchgängig kontrolliert wird. Die Babynahrung - das habe ich bereits erwähnt, Herr Kollege Schindler - wird natürlich aus Ökoprodukten hergestellt.
Jetzt zu Ihnen, Herr Kollege Heinrich. Sie reden immer
sehr ausführlich über das QS-System. Ich glaube, auch
ein solches System hätte den jetzigen Skandal nicht verhindern können; denn auch bei dem QS-System gibt es
Schwachstellen. So haben zum Beispiel diejenigen, die
sich daran beteiligen, bis zu einem Jahr Zeit, bevor sie zertifiziert werden. Meine Bitte an die Verantwortlichen des
QS-Systems ist, lieber noch etwas zu warten und die eine
oder andere Schwachstelle auszumerzen; denn, Herr Kollege Heinrich, auch bei dem QS-System ist zum Beispiel
keine umfassende Analyse der eingesetzten Produkte vorgesehen. Das ist eigentlich auch nicht bezahlbar, kostet
doch eine einfache Dioxinanalyse 500 Euro und mehr.
Herr Kollege Sinner, ich verstehe nicht, warum Sie auf
dem Biosiegel so herumreiten und es als „öko light“ denunzieren. Nach meiner Erkenntnis gehört bzw. gehörte der
Naturlandverband, der von Ihrem Kollegen angesprochen
worden ist, zur AGÖL. Es kann also keinesfalls im Zusammenhang mit dem Ökosiegel von „öko light“ gesprochen
werden. Hören Sie auf, das Biosiegel zu diffamieren.
Stillschweigend wurde von den Beteiligten nach finanzieller Schadensbegrenzung gesucht. Helfershelfer in den
Kontrollstellen und in den Verbänden des ökologischen
Landbaus gehören dazu. Doch diese Zeiten müssen vorbei sein. Wir werden weiterhin klarstellen, wer die Verantwortlichen für den jetzigen Skandal sind, wer die
Ermittler sind und wer versucht, die Aufklärung zu blockieren, und sich damit auf die Seite der Täter stellt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Jetzt hat der Abgeordnete Carstensen das Wort.
Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Kollege Herzog! Auch ich gestatte mir, mit einem Bekenntnis zu beginnen. Ich bekenne, dass ich immer mehr
Respekt vor der Entscheidung der Bundesministerin a. D.
Fischer bekomme, die in ihrem Haus entdeckt hat, dass sie
Probleme hat, dass Informationsstränge nicht laufen, und
zurückgetreten ist.
({0})
Ich habe selten jemanden erlebt, Frau Künast, der sich
so häufig an dieses Pult und vor die Presse stellt und sagt:
Alle anderen sind schuld gewesen, alle anderen haben
Verfehlungen begangen, bei allen anderen klappt es nicht.
Aber Sie hätten, so sagen Sie, alles getan. - Nein, Sie haben nicht alles getan. Das ist das, was wir Ihnen ankreiden und weswegen wir uns hier gemeinsam ärgern.
({1})
Sie schieben der Opposition zu, sie habe sich gesträubt,
bei den letzten vier Gesetzen, die verabschiedet worden
sind, mitzumachen. Sie folgern daraus, die Opposition,
die CDU/CSU habe etwas gegen Information von Verbrauchern.
({2})
- Das tun Sie und das ist ein Fehler, lieber Kollege
Weisheit.
Ich staune, dass dieses Parlament, dass die Regierungsfraktionen Verfahren mitmachen, bei denen wir nicht einmal die Möglichkeit haben, uns bei wichtigen Gesetzen ordentlich einzuklinken. Sie haben uns zugemutet, in den
fünf letzten Sitzungswochen vier große Gesetze zu verabschieden: das Verbraucherinformationsgesetz, das Neuorganisationsgesetz, das Absatzfondsgesetz, das Tierarzneimittelgesetz. Und dann sagen Sie, wir seien nicht bereit
gewesen, etwas dazu beizutragen. Nein, meine Damen und
Herren, es gab sachliche Gründe, die Herr Sinner hier vorgebracht hat, dass wir dem Verbraucherinformationsgesetz
nicht zugestimmt haben. Es gibt auch parlamentarische
Gründe, dass man bei einem solchen Verfahren nicht sagen
kann, dies sei ordentlich beraten worden.
({3})
Wir möchten Verbraucherinformationen über die
Wurst haben, aber bevor das Verfallsdatum eingetreten
ist, und nicht in der Form dieses bürokratischen Monstrums, wie Sie es uns auf den Tisch gelegt haben.
({4})
Frau Künast, Sie haben auf einen Mangel beim konventionellen Landbau geschlossen, indem Sie ein Gutachten über einen Fund von DDT und Nitrofen angeführt
haben. Dies sei ein Zeichen der Vermischung mit im konventionellen Anbau produziertem Weizen.
({5})
- Aber entschuldigen Sie, wenn Sie sich hier hinstellen
und dies als eines Ihrer Argumente verwenden, können
Sie jetzt nicht sagen, das sei nur ein Zitat gewesen.
({6})
Wie kommen Sie eigentlich dazu, den konventionellen
Landbau mit DDT und Nitrofen in Verbindung zu bringen? Auch da sind diese Mittel verboten, sie haben nichts
mit konventionellem Landbau zu tun.
({7})
Die Frau Kollegin Teuchner hat sich beschwert, dass
wir zitieren würden. Ich habe festgestellt und ich nehme
das zur Kenntnis, dass Heino Wiese gern möchte, dass
Frau Künast weiterhin Landwirtschaftsministerin bleibt.
Heino, du bist fast schon ein Sektierer; davon gibt es wenige bei euch in der Partei. Damit es nicht heißt, wir würden aus den eigenen Papieren zitieren, zitiere ich aus Materialien der SPD. Da gibt es eine Pressemeldung über
Frau Teuchner, in der es heißt:
Im Übrigen nannte Jella Teuchner die Landwirtschaftspolitik in Berlin ein leidiges Thema.
In letzter Zeit gibt es mehrere Pressemitteilungen von
Minister Bartels in Niedersachsen, in denen er über die
verfehlte Politik der Frau Künast gesprochen hat. Es gibt
sogar eine Pressemitteilung von dir, Matthias Weisheit:
Eines sollte nach Aussage von Matthias Weisheit
nach dem 22. September die Regierung und die Bauern nicht mehr belasten: das Thema Künast.
({8})
Dies sollte danach erledigt sein, meinte er bei einem
Treffen mit BWV-Funktionären, bei dem er offen bekannte, dass auch für ihn die Schmerzgrenze überschritten sei und er die Ministerin keine vier weitere
Jahre ertragen könne.
({9})
Herr Kollege
Carstensen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weisheit?
Aber gern, selbstverständlich. Wenn er das noch einmal
bestätigen möchte, dann bitte.
Herr Kollege Carstensen,
ist Ihnen bewusst, dass es keine Pressemitteilung von mir,
sondern ein Pressebericht war,
({0})
in dem ich falsch wiedergegeben worden bin? Ich habe es
übrigens schon klargestellt.
Ich
bestätige gern: Das ist ein Pressebericht aus der „Fränkischen Landeszeitung“, in dem Matthias Weisheit so zitiert
wird,
({0})
kenntlich gemacht durch Anführungszeichen.
({1})
Welche Situation besteht denn im Moment? Die Ministerin hat mit einem Problem zu tun, wir alle haben mit einem Problem zu tun. Sie hat am letzten Sonnabend,
als diese Halle in Mecklenburg-Vorpommern gefunden
wurde, gesagt: Jetzt sind die Täter erkannt. Diese Geschichte ist aufgeklärt. - Es ist schon erstaunlich, Frau
Künast, dass ihr Staatssekretär Thalheim, weil er offensichtlich ein bisschen mehr davon versteht, weil er weiß,
wie Landwirtschaft funktioniert, und weil er den Unterschied zwischen Milligramm und Mikrogramm offensichtlich besser kennt als Sie, heute gesagt hat: Dies kann nicht
sein. Diese Geschichte ist noch lange nicht aufgeklärt.
Sie machen eine Schuldzuweisung in eine Richtung,
nur weil Sie meinten, am Sonnabend Ihren Lieblingsverdächtigen und Ihre Lieblingsfeinde ausgemacht zu haben. Ich wäre Ihnen schon sehr dankbar, wenn Sie da ganz
vorsichtig wären. Sie haben gemeint, mit einer Anklage
von Treuhand-Mitgliedern scheine diese Geschichte für
die Bundesregierung aus der Welt zu sein. Zitat Künast:
Der Nitrofen-Skandal war kein Ökoskandal und kein
Künast-Skandal. - Nein, meine Damen und Herren, dies
ist schon ein Künast-Skandal. Dies ist ein Skandal der
Aufklärung in diesem Ministerium.
({2})
Wir haben gesagt: Das Verbraucherinformationsgesetz
ist kein taugliches Mittel. Ich füge hinzu: Notwendig wäre
eher ein Behördeninformationsgesetz gewesen, in dem
die Strukturen der Informationen in den Behörden geregelt werden. Wenn es das gegeben hätte, hätten Sie nicht
erstaunt darüber sein können, dass die Nitrofenbelastung
offensichtlich schon vor gut zehn Monaten in den Produkten gewesen ist. Wann soll das denn geerntet worden
sein? Wir haben Ihnen im Ausschuss ganz deutlich gesagt:
Wenn die Firma Hipp schon im November Nitrofen in
ihrem Putenfleisch gefunden hat und wenn die Putenproduktion 140 Tage dauert, dann müssen Sie davon ausgehen, dass schon zwei Monate vorher Nitrofen im Futter
gewesen ist. So blind kann man doch nicht sein!
Bevor es sich durchsetzt, dass sich die Angeklagten
selbst freisprechen, möchte ich doch noch ein paar Punkte
der Anklage vertiefen:
Sie haben nicht die richtigen Schlüsse aus dem BSESkandal gezogen. Sie haben davon gesprochen, dass Sie
eine Wende in der Agrarwirtschaft, in der Agrarpolitik
wollen. Der Kollege Backhaus, SPD - das sage ich dazu,
falls es vergessen wird; Entschuldigung, dass ich immer
nur SPD-Leute zitiere; anderen würden Sie ja nicht glauben -, fragte: Was ist denn das für eine Wende? Ich habe
von der Wende noch gar nichts festgestellt.
({3})
- Ich sage Ihnen: Sie haben den Fehler gemacht, dass Sie
sich darauf konzentriert haben, zwischen der konventionellen Landwirtschaft und der ökologischen Landwirtschaft einen Graben auszuheben.
({4})
Sie haben dafür gesorgt, dass die Gräben, die zugeschüttet
waren, wieder aufgerissen wurden. Ökologische Landwirtschaft war bei uns akzeptiert. Das waren Bauern, die
ordentlich produziert haben und auf ihren Betrieben Geld
verdient haben. Die haben gesagt: Wir wollen das aus
Überzeugung und wir wollen das, weil wir mit unseren
Betrieben Geld verdienen müssen. - Sie haben nicht dafür
gesorgt, dass die Zusammenarbeit, die zwischen den Betrieben bestanden hat, gefördert wird, sondern Sie haben
dafür gesorgt, dass die einen als die Guten und die anderen als die Schlechten hingestellt wurden.
({5})
Liebe Frau Künast, einer ihrer entscheidenden Fehler
ist, dass Sie den Verbrauchern, die gern auch weiterhin
ökologische Produkte kaufen wollen und sollen - ({6})
- Sicherlich: auch werden. Wenn man eine Ausweitung
des ökologischen Landbaus will, Kollege Herzog, dann
hätte man der Ministerin auch mal vorschlagen können:
Erzählen Sie einmal auf den Parteitagen der Grünen, dass
die alle solche Produkte kaufen sollen. Es gibt 6 Prozent
grüne Wähler. Wenn die alle so kaufen würden, hätten wir
auch 6 Prozent Produktion im ökologischen Landbau. Dies
wäre ein Weg gewesen, wäre der richtige Weg gewesen,
von der einen Seite, von der Seite des Verbrauchers, zu
Peter H. Carstensen ({7})
kommen. Aber nein, Sie haben erstens dafür gesorgt, dass
mit Ihrem sechseckigen Biozeichen die Standards heruntergesetzt werden, und Sie haben zweitens gesagt, wir
müssen dahin, wo die Masse der Verbraucher einkauft,
nämlich in die Supermärkte. Dies ist jetzt natürlich auch
geschehen und deswegen kommen wir zu Strukturen, die
Sie nicht mehr übersehen können.
Sie sollten sich bitte einmal den Artikel in der „FAZ“
von Herrn Götz Schmidt, der ja nun nicht jemand ist, der
gegen Bio spricht und schreibt, sondern an sich einer sein
müsste, der auf Ihrer Seite steht, ansehen; ich glaube, dieser Artikel ist eben auch schon einmal angesprochen worden. Wenn Sie den Verbrauchern noch weiter erzählen,
dass Biolandwirtschaft nichts mit großer Landwirtschaft
zu tun hat, wenn Sie also verschweigen, dass es die Abkehr von den Agrarfabriken, von denen der Kanzler gesprochen hat, nicht gegeben hat, werden Sie scheitern.
Wir haben nämlich im Biobereich inzwischen auch Betriebe, die 240 000 Hennen halten, die 180 000 Eier am Tag
vermarkten.
({8})
Wir haben Betriebe, die nicht mehr in der kleinen Kreislaufwirtschaft arbeiten können, weil auch hier natürlich in
der größeren Struktur arbeitsteilig gewirtschaftet wird,
und wir bekommen Betriebe, die importiertes Getreide
mit verwenden sollen; denn wir haben ja bei uns in der
Produktion gar nicht genügend Ökogetreide, Ökoweizen.
Wir kriegen Ökoweizen aus Dänemark, liefern anschließend konventionell produzierten Weizen nach Dänemark,
der dann auf Ökobetrieben in Dänemark verfüttert wird,
damit anschließend die Ökoprodukte bei uns auf den
Markt kommen. Wenn Sie dies den Verbrauchern nicht
endlich einmal mitteilen, ihnen nicht sagen, wie sich die
Ökoproduktion inzwischen entwickelt hat und dass die
notwendigen Kontrollen nicht stattfinden, obwohl die Eigenkontrollen nicht ausreichen, weil sich die Eigenkontrollen zu einem großen Teil auf Buchkontrollen und
nicht auf Produktkontrollen konzentrieren, werden Sie
hier auch weiterhin scheitern. Insofern, meine Damen und
Herren, ist das nicht nur ein Skandal, der in Ökobetrieben
passiert ist, sondern auch ein Skandal, den Sie, liebe Frau
Künast, zu verantworten haben.
Zum Schluss sage ich noch einmal, ich habe einen Heidenrespekt vor der Frau Fischer, die seinerzeit die Konsequenzen gezogen hat.
({9})
Das Wort
hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Matthias
Berninger.
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Versetzen Sie sich bitte in die Lage von Müttern,
die ihre Kinder in einen Bremer Kindergarten schicken;
dieser Kindergarten wird über Wochen mit Putenfleisch
einer Firma „Grüne Wiese“ beliefert. Der Geschäftsführer
dieser Firma ist gleichzeitig verantwortlich für das Unternehmen GS agri, hat lange Kenntnis davon, dass er ein
Nitrofen-Problem nicht nur im Futter, sondern auch im
Fleisch dieser Puten hat, und liefert weiter.
Meine Damen und Herren, das ist das Zentrum dieses
Skandals.
({0})
Ich habe mir heute den ganzen Morgen über angehört, was
von Ihnen gesagt wurde. Von Ihnen kam dazu nichts. Das
ist Ihnen nicht eine Bemerkung wert gewesen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir müssen über die Versäumnisse an allen Stellen reden. Aber die Ministerin hat
in ihrer Regierungserklärung deutlich gemacht, dass es
zwei Verantwortungskreise gibt: den Bereich der Kontrolle und der Aufklärung und den Bereich der Verursacher. Wenn wir diesen Skandal bewältigen wollen, wenn
wir aus diesem Skandal lernen wollen und unsere Lebensmittel wieder sicherer machen müssen, dann müssen
Sie endlich Ihre Blindheit auf dem Auge aufgeben, bei dem
es für Sie unangenehm wird, meine Damen und Herren.
({2})
- Jetzt kommt der Kollege Heinrich und sagt: Hahaha,
wer ist denn auf einem Auge blind? - Genau Sie, Herr
Kollege Heinrich, haben hier eine Rede gehalten, die
mich so erzürnt, weil Sie nämlich zu den Verursachern, zu
denen, die das über Wochen wussten, nichts gesagt haben,
sich sogar schützend vor sie gestellt haben.
({3})
Meine Damen und Herren, es hat Versäumnisse gegeben, Staatsanwaltschaften ermitteln.
({4})
- Herr Kollege Heinrich, nein, wir alle sind dem Wohle
des deutschen Volkes verpflichtet,
({5})
dem Wohl dieser Mütter und der Kinder in diesem Bremer
Kindergarten. Es geht hier nicht um dieses Kindergartenspiel, dass Regierung immer Opposition beschimpft und
umgekehrt. Wir haben eine viel größere Verpflichtung als
ewig diese kleinkarierte Krittelei, die man von Ihnen hört.
({6})
Das Grundthema ist, dass es Versäumnisse gegeben hat.
Verwaltungen und Staatsanwaltschaften hatten Kenntnisse
Peter H. Carstensen ({7})
davon. Es gibt Ketten im Bio-Bereich, die davon nicht nur
Kenntnisse hatten, sondern still Rückrufaktionen durchgeführt haben. Es gibt Verbände, die davon Kenntnis hatten und diese Informationen nicht mit dem notwendigen
Nachdruck weiterleiteten. Es gibt die Bundesanstalt für
Fleischforschung mit Sitz in Kulmbach, in unserem
Verantwortungsbereich, die ebenfalls davon aus einer privaten Untersuchung Kenntnis hatte.
({8})
Warum stand das Zitat aus dem R+V-Gutachten an erster Stelle in der Regierungserklärung? Weil man von diesem Haus aus an die Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung, gleich wo sie sitzen, ob in den Kreisen, in den
Ländern oder im Bund, appellieren muss, dass sie, wenn
sie entsprechende Informationen bekommen, damit verantwortungsvoll umgehen und sie in Zukunft nicht mehr
einfach abheften. Damit versündigen sie sich nämlich an
der Gesundheit der Menschen. Das ist in diesem Zusammenhang das zentrale Signal.
({9})
Meine Damen und Herren, es gibt einen weiteren wichtigen Punkt: Alle diese Fragen muss man zu dem Zeitpunkt aufklären, zu dem die wesentlichen Ursachen der
Krise abschließend geklärt sind. Wir können heute mit
großer Sicherheit sagen, dass aufgrund der Tatsache, dass
dieses Getreide in einem ehemaligen Pestizid-Zentrallager gelagert hat, die Bäuerinnen und Bauern keine
Schuld trifft und dass es kein systematisches Vergiften
von Biogetreide durch sie gibt.
({10})
Das hat die Ministerin am vergangenen Samstag der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben, weil sich diese Krise
zulasten der Bauern auszuweiten drohte. Ich halte es nach
wie vor für richtig, dass es so gemacht wurde.
({11})
Ich danke Ihnen, Herr Kollege Schindler, für Ihren
Zwischenruf, dass das bei BSE ganz genauso war. Auch
sonst verstehen wir uns ja gut. Es ist nämlich richtig: Auch
bei der BSE-Krise war es so, dass den Bauern bis zum
letzten Tag tiermehlhaltiges Futter verkauft wurde, auch
von der Raiffeisen. Was, meine Damen und Herren, hat
die R+V-Versicherung danach gemacht? Sie verkauft den
Bauern BSE-Schutzversicherungen und verdient gutes
Geld damit. Diese Sachen muss man öffentlich benennen;
sie gehen nämlich auf die Knochen der Bauern.
({12})
Wo wir jetzt schon einmal bei diesem Thema sind: Ich
erinnere mich, dass im Januar dieses Jahres Herr Sinner
hier gestanden hat und solche Hass- und Schimpftiraden
auf die Firma Südfleisch losgelassen hat, dass die Abgeordneten der CDU/CSU sozusagen schrittweise hinter
den Bänken verschwunden sind. Auch Südfleisch ist in
diesem Genossenschaftsverband.
Wir wollen - das ist notwendig -, dass sich die Vertreter des Bauernverbandes, die für die Bauern bei der Raiffeisen Kontrollfunktionen wahrnehmen, ebenso reinhängen und ebenso aufklären, wie das in den Ländern und bei
uns im Ministerium zurzeit passiert, und dass sie damit einen Beitrag zur Sicherheit der Lebensmittel leisten. Das
wollen wir.
({13})
- Lieber Herr Vorsitzender Carstensen, gerne gehe ich auf
Ihren Zwischenruf ein, warum ich keine Öko-Verbände
benennen würde. Ich habe mich schon die ganze Woche
über zu diesem Thema geäußert. Natürlich sind auch die
Namen dieser Verbände gefallen. Ich bin auch gerne bereit, sie zu nennen: Eine Kette namens Dennree hat eine
Rückrufaktion gestartet, und Naturland, hier schon mehrfach genannt, ist ebenfalls in diesen Zusammenhang zu
stellen. Es gibt aber auch mit Bioland einen Verband, der
das einzig Richtige gemacht hat: Er hat bei uns angerufen.
Einen Tag danach ist die Aufklärung in Gang gekommen.
({14})
Zehn Tage später wussten wir, die Schuld trifft nicht die
Biobauern. Insofern sollten Sie nicht unser Krisenmanagement kritisieren, sondern gemeinsam mit uns dafür
eintreten,
({15})
dass die Not leidenden Bauern jetzt eine Übergangshilfe
von uns bekommen. An und für sich ist aber nicht der Staat
verantwortlich, sondern die Verursacher dieses Skandals
müssen den Bauern, die jetzt unschuldig von diesem
Skandal betroffen sind, Schadenersatz leisten.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Schindler?
Sehr gern.
Herr Staatssekretär,
wenn ein Kripo-Beamter einen Tathergang aufnimmt, teilt
er dies automatisch dem Innenminister seines Landes mit?
Wenn ein Versicherungsmitarbeiter bei R+V einen Schadensfall auf den Tisch bekommt, teilt er dies sofort dem Präsidenten des Deutschen Raiffeisenverbandes mit? Ich nehme keinerlei Aufsichtsfunktion in einem genossenschaftlich
organisierten Verband, einer Organisation oder einer GmbH
wahr. Ich bitte aber doch um eine realistischere Darstellung
dessen, was in Ihren Häusern nicht richtig gelaufen ist und
was Sie jetzt im Nachhinein so selbstverständlich anklagen, von Kulmbach bis hin zu interministeriellen Gesprächen, wo dieses Thema im zeitigen Frühjahr einmal
eine Rolle spielte.
({0})
- Auf Beamtenebene, Frau Ministerin.
Jetzt versucht man, wieder Gräben aufzureißen, Repräsentanten in direkte Verantwortung zu nehmen, was in
einer GmbH nach Wirtschaftsrecht,
({1})
was in einer Genossenschaft nach Selbstverwaltungsrecht
selbstverständlich ist. Lieber Kollege Berninger, wir
beide sind doch lange genug im Geschäft, um zu wissen,
dass wir der Sache nicht dienen, wenn wir uns öffentlich
gegenseitig abschlachten. Auch dieser Grad der Polemik
dient den Betroffenen weiß Gott nicht.
({2})
Herr Kollege
Schindler, jetzt müssen Sie stehen bleiben.
({0})
Frau Präsidentin, ich glaube, dass der
Kollege Schindler hier einen ganz wichtigen Punkt
angesprochen hat. Deswegen gestatten Sie mir, die Frage,
wenn ich sie auch nur indirekt mitbekommen habe, zu beantworten.
({0})
Die Union hat letzten Mittwoch den Rücktritt der Ministerin gefordert, weil ein Mitarbeiter der Bundesanstalt
für Fleischforschung der Ministerin die Information nicht
sofort weitergegeben hat.
({1})
- Donnerstag, Entschuldigung. Normalerweise tagen wir
mittwochs. Die Forderung war trotzdem falsch. - Jetzt sagen Sie, man könne doch nicht die Raiffeisen-Genossenschaft oder das Aufsichtsratsmitglied Gerd Sonnleitner
bei der R+V-Versicherung für Versäumnisse, die dort passiert sind, verantwortlich machen. Da haben Sie Recht.
({2})
Das ist aber auch nicht das, was wir tun. Wir wollen, dass
Herr Sonnleitner, der für die Bauern in diesen Aufsichtsgremien sitzt - viele andere Vertreter des Bauernverbandes
tun das ebenfalls -, offensiv aufklärt. Dort ist man
einen Schritt weiter als Sie; denn dort ist das längst angekommen. Wenn ich die Gespräche, die ich dazu gestern geführt habe, richtig deute, wird das jetzt auch gemacht. Das
ist auch bitter nötig; denn in den kurzen anderthalb Jahren,
in denen ich Verantwortung trage, ist das der dritte Lebensmittelskandal, bei dem ich auf den Namen Raiffeisen
stoße. Deswegen muss sich da grundsätzlich etwas ändern.
({3})
Minister Sinner hat in seiner Rede wieder einmal wortreich erklärt, warum die Union das Verbraucherinformationsgesetz blockiert. Dazu ist viel gesagt worden. Die
Verbraucher wollen die Informationen, Sie enthalten sie
ihnen vor.
({4})
Am langen Ende werden wir uns durchsetzen.
Er hat dann das Verbraucherschutzgesetz kritisiert.
Was wollen wir mit dem Verbraucherschutzgesetz erreichen? Wir wollen, dass der Bund generell eine koordinierende Aufgabe bekommt. Wissen Sie, wie es im Moment
läuft? In Friedenszeiten macht das die AMK. Da sitzen die
Damen und Herren Minister in der AMK zusammen, die
Länder koordinieren sich untereinander und das läuft alles ganz nett und kuschelig.
({5})
Sobald auch nur die geringste Krise auftaucht - das war
auch beim BSE-Test-Skandal in Bayern so; es ist also
egal, wer regiert -, hängen sie alle an den Lippen unserer
Beamten und dieser Ministerin, die dann nämlich das
Krisenmanagement übernehmen muss.
({6})
Das wollen wir generell ändern. Der vernünftige Weg ist,
dass wir für eine Neuordnung sorgen, die dem Bund die
zentrale Aufgabe zuteilt, in Krisenzeiten zu koordinieren.
Eine letzte Bemerkung zum Thema Ökolandbau. Die
Polemik gegen das Biozeichen und die EU-Ökoverordnung ist in dieser Krise völlig falsch.
({7})
Wir sind für eine volle Umstellung der Betriebe, nicht für
eine Teilbetriebsumstellung. Wir alle wollen, dass Ökofutterkreisläufe geschlossen sind. Das ist nicht überall in
Europa Konsens.
({8})
Aber die EU-Ökoverordnung war die erste Verordnung,
die klar und vernünftig die Kontrollstandards im Ökobereich gesetzlich festgelegt hat. Da bietet die EU-Ökoverordnung nicht die zentrale Angriffsfläche. Wir wollen
diese Verordnung weiterentwickeln. Wir haben ein sehr
gutes Gewissen, was das angeht. Das Ökolandbaugesetz
ist lange vor dieser Krise in den Bundestag eingebracht
worden. Die Veränderungen in der Ökoverordnung, die
wir wollen, sind lange vor dieser Krise in einem Memorandum eingebracht worden.
({9})
Auch die Veränderung, dass die Futtermittelmischwerke
ebenfalls in die Verordnung aufgenommen werden, ist
von uns lange vorher angeregt worden. Wir wollen, dass
der Biomarkt wächst.
Zum Abschluss will ich Folgendes klarstellen. Wer
jetzt sagt, solche Unternehmen wie GS agri haben mit
dem Biobereich nichts zu tun, sie sollen nur konventionell
vorgehen, der muss eine Frage beantworten: Wenn diese
Unternehmen so fahrlässig handeln, dass man sie mit dem
Biobereich besser nicht in Verbindung bringt, wollen Sie
das dann den Bauern, die konventionell Lebensmittel
produzieren, und den Verbrauchern zumuten?
({10})
Diese Diskussion ist völlig falsch. In dem Sinne liegen Sie
mit Ihren Angriffen daneben, lieber Herr Sinner.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnte Annette Widmann-Mauz.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Berninger, zunächst einmal zur Klarstellung:
Wir wollen - ich glaube, das muss das Interesse des gesamten Hauses sein - Lebensmittelsicherheit zu hundert
Prozent, egal, ob öko oder konventionell,
({0})
und nicht ständig dieses Auseinanderdifferenzieren zwischen öko und konventionell. Lebensmittelsicherheit
wollen alle, denn alle essen alle Produkte und tun dies
nicht unter ideologischen Gesichtspunkten.
Wenn Sie hier so fulminant die Kinder im Bremer Kindergarten heranziehen, lieber Herr Berninger, bitte ich
auch darum, dass Sie zuhören. Es kommt schon darauf an,
dass wir den Menschen, gerade auch diesen Kindern und
ihren Eltern, gegenüber klar und deutlich zum Ausdruck
bringen: Diese Kinder hätten drei Monate weniger diese
Produkte essen müssen, wenn Ihr Ministerium funktioniert hätte
({1})
und nicht so geschlampt worden wäre, indem Informationen nicht weitergeleitet wurden.
Sie wollten doch vor eineinhalb Jahren hundertprozentige Lebensmittelsicherheit in dieses Land bringen. Ich
will Ihnen jetzt einmal all die Skandale nennen, die wir
hatten, seitdem Sie im Amt sind: Mit BSE fing es an, es
ging weiter über Chloramphenikol in Shrimps, dann kam
Nitrofen. Und wer redet jetzt von Acrylamid? Wir haben
nicht mehr Sicherheit in diesem Land, sondern mehr Verunsicherung.
(Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Weil Sie alles
zugedeckt haben! Jetzt wird es endlich aufgedeckt!
Das muss im Interesse der Menschen in unserem Land
endlich ein Ende haben.
({2})
In all diesen Skandalen haben Sie doch immer nur reagiert. Jedes Mal tauchte die Ministerin hier auf, hielt eine
Rede mit starken Sprüchen und sagte, was sie alles tut,
aber drei oder vier Monate später - wer weiß, wie lang die
Halbwertzeit bis zum nächsten Skandal ist? - muss sie jedes Mal wieder sagen, was sie alles tut. Nichts ist erreicht
worden, nichts hat sich verbessert, seit Sie im Amt sind.
Im Gegenteil, es wird schlimmer.
({3})
Man muss Sie auch an Ihren Worten messen. Sie dürfen
nicht ständig weitere Verunsicherung in das Land bringen.
Sie tun nichts, um die Verunsicherung abzubauen. Nach
Ihrer Ankündigung am Samstag, der Skandal sei aufgeklärt, müssen Sie wenige Tage später schon wieder sagen:
Oh Gott, nein, es gibt doch noch andere Erkenntnisse, es
war vielleicht doch nicht nur diese Lagerhalle.
({4})
Das trägt nicht zur Sicherheit bei und stärkt auch nicht das
Bewusstsein der Menschen in unserem Land, sie hätten
gesunde Lebensmittel und eine Regierung, auf die man
sich verlassen kann, sondern es bestärkt die Verunsicherung, nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei denjenigen, die die Produkte herstellen.
Es ist schon erstaunlich, dass Sie zwar alle beschuldigen, aber hier am Rednerpult kein Wort zu dem verlieren,
was in Ihrem direkten Verantwortungsbereich passiert. Es
ist ja hier schon Tradition: Alle Schuldigen werden ausgemacht, am Schluss sind auch noch die Union und Helmut
Kohl dafür verantwortlich, aber die eigentlichen Punkte
sprechen Sie nicht an.
Wir müssen klar feststellen: Der Futterweizenhändler,
der das Getreide unsachgemäß gelagert hat, trägt ganz
gravierende Verantwortung. Der Hersteller, der trotz
Kenntnis Produkte weiterhin auslieferte, trägt ganz klar
Verantwortung. All diejenigen, die von der Versendung
wussten oder hätten wissen können und nicht gehandelt
haben, tragen ganz klar Verantwortung. Von den BioKontrollstellen über die Öko-Verbände bis hin zu den
Landesbehörden und den betroffenen Betrieben tragen
alle Verantwortung.
({5})
Aber wenn man Sie hört, tragen zwei keine Verantwortung, nämlich Sie und die Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach.
({6})
Dazu haben Sie hier keine Aussagen gemacht. Sie haben
mit keinem Wort gesagt, wie Sie dieser Verantwortung gerecht werden wollen.
({7})
Sie haben nicht ein Wort dazu gesagt, was an diesem Informationsstrang, der nicht funktioniert, genau passiert.
({8})
Deshalb sollten Sie sich nicht hier hinstellen und vom
Kartell des Schweigens bei anderen reden.
({9})
Sie selbst sind die Patin des Kartells des Schweigens in
Ihrem eigenen Haus.
({10})
Wie anders soll man sonst eine Anweisung verstehen, die
Sie selbst gegeben haben? Ich erinnere mich gut daran,
dass Sie im Januar dieses Jahres hier gestanden haben und
sagten: Die Aktendeckel werden ein Ende haben. Seit
heute gibt es Telefone, Faxe und E-Mails. Wir erinnern
uns, wie Sie hier am Rednerpult geturnt haben und damit
zum Ausdruck bringen wollten, dass Eingänge von besonderer fachlicher oder politischer Bedeutung unverzüglich der Leitung des Hauses zur Kenntnis zu geben sind.
Die Bundesanstalt für Fleischforschung wusste seit
März dieses Jahres von einem positiven Ergebnis bei einer Nitrofentestung. Man gehe sogar - so ein Zitat - von
einem Übergang des Nitrofens von Futtermitteln in Mastputen aus. Es ist ein klarer Gesetzesverstoß, wenn Nitrofen in einem Futtermittel gefunden wird. Niemand handelte und niemand kritisiert dieses Nichthandeln bzw.
leitet endlich Konsequenzen ein. Das ist eine Erkenntnis
von besonderer fachlicher Bedeutung. Denn Nitrofen ist
auch in der konventionellen Landwirtschaft - in den alten
Bundesländern seit 20 Jahren und in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung, also seit über zehn
Jahren - verboten. Sie sprechen jetzt auch von DDT.
Diese Mittel sind in der deutschen Landwirtschaft - egal
ob öko, bio oder konventionell - verboten. Deshalb dürfen sie nirgendwo vorkommen.
({11})
Ich sage Ihnen: Wenn Ihre Anweisungen noch nicht
einmal in Ihrem direkten Verantwortungsbereich befolgt
werden, dann ist hier nichts beinhart, sondern alles butterweich und zeigt, welche Autorität Sie in Ihrem Haus
und in Ihrem gesamten Verantwortungsbereich haben.
Das ist ein Versuch, vom eigenen Versagen abzulenken
und die eigene Verantwortung nicht tragen zu wollen. Das
darf nicht sein.
Worauf kommt es in der Lebensmittelsicherheit an?
Dass wir Strukturen und Informationsflüsse haben, die
funktionieren, und zwar vom Unternehmen an die Behörde, unter den Behörden und dann aber auch von den
Behörden an die Verbraucher, also Verbraucherinformation.
Ich nenne ein weiteres Stichwort: Lebensmittelmonitoring. Seit September letzten Jahres fordert die Unionsfraktion, dass auch Ökoprodukte in das Lebensmittelmonitoring aufgenommen werden.
({12})
- Liebe Kollegin Höfken, brauchen Ihre Vorhaben immer
Jahre, bis sie umgesetzt werden? Denn dies wäre sinnvoll
und wirklich gut. Sie haben sich Monate Zeit gelassen, zu
koordinieren und Gesprächspartner einzubestellen.
({13})
Sie schieben alles auf die lange Bank, weil Sie eine ideologische Brille aufhaben und Ihnen nicht das am Herzen
liegt, was die Menschen wollen: Lebensmittelsicherheit,
egal aus welcher Produktion das Erzeugnis stammt.
({14})
Sie sagen immer, die Union blockiere alles. Die wirklich wichtigen Gesetze, die einen vorsorgenden Verbraucherschutz gewährleisten, haben Sie hier im Haus mit
unserer Zustimmung verabschiedet. Es fing beim
Tiermehlverfütterungsverbot an. Es ging weiter mit dem
Futtermittelgesetz bis zum Ökolandbaugesetz,
({15})
mit dem die Kontrollen verschärft werden sollen. Wir tragen es mit.
({16})
Denn es ist sinnvoll, dass wir auch im Biobereich zu Verbesserungen bei den Kontrollen kommen.
Auch das Vorhaben, den Informationsfluss von den
Unternehmen an die Behörden zu verbessern, haben wir
mitgetragen. Wir haben in diesem Zusammenhang einen
eigenen Antrag eingebracht. Sie tun hier immer so, als ob
wir uns gegen die Verbraucherinformation sträuben. Da
muss ich schon einmal fragen: Wie ist es denn gestern im
Landwirtschafts- und Verbraucherausschuss gewesen?
Wir haben einen Antrag eingebracht, der gemäß Art. 10
der EU-Verordnung eine klare Verbesserung der Verbraucherinformation durch die Behörden bedeutet hätte.
({17})
Sie haben diesen Antrag gestern im Ausschuss sehenden
Auges abgelehnt. Sie haben den Verbraucherinnen und
Verbrauchern eine sachgerechte Information verweigert.
Deshalb sollten Sie hier nicht von der Verweigerungshaltung der Union sprechen. Sie selber haben mit Ihrer Regierungsmehrheit verhindert,
({18})
dass eine sachgerechte Information drei Jahre früher, als
es die EU vorgesehen hat, eingeführt wird.
({19})
Sie hätten gestern im Ausschuss zustimmen können. Sie
haben es abgelehnt.
({20})
- Soll ich Ihnen den Antrag vorlesen? Ich habe ihn dabei,
Herr Kollege Herzog.
({21})
- Seien Sie doch ruhig. Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, können Sie sich gerne an das Mikrofon stellen. Ich beantworte gerne Ihre Fragen. Dann kann man das
im Protokoll nachlesen.
Jetzt ist zu hören, dass die Grenzwerte gesenkt werden
sollen. Liebe Frau Künast, das ist wieder ein typischer
PR-Gag, den Sie dem deutschen Volk zumuten. Die Verwendung von Nitrofen und DDT ist verboten. Wir wollen
keine solchen Rückstände in unseren Lebensmitteln. Das
Futtermittelrecht muss dem Lebensmittelrecht angepasst
werden.
({22})
Das ist in Ordnung. Aber schütten Sie das Kind nicht mit
dem Bade aus
({23})
- hören Sie einfach einmal zu, Herr Berninger -: Wir
haben erfahren, dass als Erster ein Babynahrungsmittelhersteller den Nachweis von Nitrofen erbracht hat. Dies
ist ein Unternehmen, das sensibel handelt und sehr genau hinschaut. Wollen Sie eine Regelung schaffen,
durch die Unternehmen in Zukunft nicht mehr genau
hinschauen, weil sie Angst haben müssen, dass die Produkte, die sie von vornherein nicht auf den Markt bringen, an den Pranger gestellt werden? Wollen Sie damit
sanktionieren, dass diejenigen, die organisiert nicht
wissen, belohnt werden? Sachgerechte Entscheidungen,
die auch das Ende im Blick haben, sind verantwortungsvolle Entscheidungen und deshalb keine Schnellschüsse. Kümmern Sie sich endlich einmal um das, was
in Ihrem Haus wirklich notwendig ist. Daran müssen
Sie arbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Künast, ich zitiere Sie, Sie haben heute Morgen gesagt: „Wer versagt
hat, muss ... zur Verantwortung gezogen werden.“ Dazu
kann ich nur sagen: Sie sind nicht als erste Frau der größten Werbeagentur Deutschlands gewählt worden, sondern
Sie sind für Ihren Behördenbereich verantwortlich, da
liegt Ihre Verantwortung. Wenn Sie dieser nicht gerecht
werden - Sie haben das erneut bewiesen -, werden Ihnen
die Menschen am 22. September die Verantwortung entziehen, und das ist dann auch gut so.
({24})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Karsten Schönfeld.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir heute Morgen in
den Redebeiträgen der Abgeordneten der Opposition
gehört haben, war wirklich substanzlos, es war nur Polemik.
({0})
Ich bin froh, dass die heutige Debatte am Vormittag
stattfindet, sodass auch die Öffentlichkeit sehen und
hören kann, dass die Opposition keine Vorschläge gemacht hat. Sie macht schon seit anderthalb Jahren keine
Vorschläge mehr. Sie stellen sich hier hin und kritisieren
unsere Politik,
({1})
die Politik der Bundesregierung, und wir müssen uns anhören, dass wir zu wenig für den Verbraucherschutz tun.
Wenn ich mir jedoch die Entwicklung der letzten anderthalb Jahre ansehe ({2}) [CDU/CSU]:
Wir haben eure eigene Kritik zitiert!)
- ich komme auch noch zu Zitaten, nicht unruhig werden -, dann wird deutlich, dass wir die Einzigen gewesen
sind, die überhaupt etwas für den Verbraucherschutz - wir
haben sogar sehr viel vorangebracht - getan haben.
Sie hatten am letzten Freitag bei der Entscheidung über
das Verbraucherinformationsgesetz im Bundesrat die
Möglichkeit, diesem wichtigen Gesetzesvorhaben zuzustimmen. Sie haben das nicht getan, deshalb sage ich: Es
gibt nichts als Blockade, nichts als Verweigerung. Der
Vorwurf, das Gesetz gehe nicht weit genug, ist unverständlich; denn wenn man ein Ziel wirklich erreichen will,
dann muss man auch den ersten Schritt tun und darf sich
nicht wie Sie komplett verweigern. Sie haben das zulasten
der Verbraucher in unserem Land getan.
Die unionsregierten Länder, allen voran Bayern, kritisieren das Verbraucherschutzministerium und werfen ihm
Versäumnisse vor. Herr Minister Sinner, Bayern ist nicht
das Feindbild der Bundesregierung oder unserer Koalition; das ist mitnichten so. Bayern ist ein schönes Land, in
dem nette Menschen leben. Es gibt dort wunderschöne
Städte. Erst am Dienstag war ich anlässlich der Befragung
des CSU-Vorsitzenden Stoiber durch den Parteispendenuntersuchungausschuss in München.
({3})
- Ich war nicht mit dem Motorrad da. Das mache ich beim
nächsten Mal.
Herr Minister Sinner, meine Damen und Herren, wenn
in der letzten Zeit von Skandalen die Rede war, dann war
Bayern nicht nur immer mit dabei, sondern Bayern stand
in der ersten Reihe. Das war bei BSE so; denn von den
182 bis heute gemeldeten Fällen sind 79 aus dem Freistaat Bayern. Das war so beim Antibiotikamissbrauch.
Anfang dieses Jahres wurde mit den BSE-Tests nachlässig umgegangen. All das geschah im Freistaat Bayern.
Wenn wir uns mit diesen Themen beschäftigen, geht es
nicht darum, ein Feinbild aufzubauen, sondern es geht um
die Versäumnisse, die Ihre damalige Regierung zu verantworten hat.
({4})
Heute wurden schon einige Zitate angeführt. Ich
möchte auf einen Artikel, der in der vergangenen Woche
in der „Welt“ - sie steht nicht unbedingt im Verdacht, uns
besonders nahe zu stehen - hinweisen.
({5})
Dort steht, dass der Präsident des Deutschen Bauernverbandes die Verbraucherministerin Renate Künast für das
Debakel in der Landwirtschaft rund um den aktuellen
Nitrofen-Skandal verantwortlich macht. - Das ist nichts
Neues; das macht Herr Sonnleitner seit anderthalb Jahren. - In dem Artikel steht weiter, dass Herr Sonnleitner
sagt, wer „alte Strukturen“ in der Agrar- und Ernährungswirtschaft für die jüngsten Lebensmittelkrisen verantwortlich mache, lenke „in billiger Weise von seiner eigenen Verantwortung ab“.
({6})
Die Schlussfolgerung der „Welt“ - jetzt wird es interessant - ist:
Das ist starker Tobak. Immerhin haben die „alten
Strukturen“ dafür gesorgt, dass wochen-, wenn nicht
monatelang Gift in die Nahrung gemischt wurde.
Sonnleitner sollte sich kooperativ verhalten und sich
nicht einer Partei, sondern dem Gemeinwohl gegenüber verantwortlich fühlen.
({7})
Das schreibt „Die Welt“ und sie hat Recht.
({8})
Eines müsste uns allen klar sein: Über Verbraucherschutz sollten wir uns hier eigentlich nicht streiten. Jeder,
der mit der Produktion von Lebensmitteln befasst ist
- egal ob Landwirte, Lebensmittelindustrie, gleich ob
Ökolandbau oder konventionelle Produktion -, müsste
sich seiner Verantwortung gegenüber den Menschen bewusst sein. Am Nitrofen-Skandal ist aber deutlich geworden, dass es immer wieder schwarze Schafe gibt. Es
gibt immer wieder Leute, die versuchen, zu betrügen und
zu vertuschen. Darum brauchen wir einen vernünftigen
Kontrollrahmen. Die Grundlagen dafür haben wir geschaffen. Auf diesem Weg werden wir weitergehen.
Abschließend möchte ich einen weiteren Punkt ansprechen. Wir haben hier heute erfahren, dass ein Eintragspfad für das Gift gefunden wurde, nämlich die
Lagerhalle in Malchin. Wer aber daraus schlussfolgert
- teilweise konnten wir dies Berichten und Kommentaren
der letzen Tage entnehmen -, man könne die Schuld einseitig den Landwirten in den neuen Bundesländern zuschieben, der liegt völlig falsch. Die Bäuerinnen und Bauern, egal ob in West oder Ost, in Nord oder Süd, sind die
Opfer dieses Skandals. Die festgestellte Konzentration
des Giftes lässt die Schlussfolgerung zu, dass es weitere
Eintragswege gegeben hat. Diesbezüglich müssen weitere
Untersuchungen angestellt werden.
Der eigentliche Skandal ist, dass diejenigen, die seit
Monaten davon gewusst haben, versucht haben, die Angelegenheit zu vertuschen. Es ist aber deutlich geworden,
dass solche Vertuschungsversuche aufgedeckt werden;
({9})
dafür haben wir im Zusammenhang mit der Agrarwende
gesorgt. Wir klären derartige Vorgänge auf, wie es auch in
diesem Fall passiert ist.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Matthias Weisheit.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Man merkt deutlich, dass
Wahlkampf ist. Das war am vergangenen Donnerstag in
der Sondersitzung des Agrarausschusses zu spüren und
hat sich heute zumindest in den Beiträgen von der rechten
Seite des Hauses nahtlos fortgesetzt. Es geht Ihnen nicht
um Lebensmittelsicherheit und auch nicht um die Aufklärung eines Skandals. Ihnen geht es um den Kopf einer
Ministerin - dazu ist Ihnen kein noch so blödsinniges
Argument zu schade - sowie darum, den Ökolandbau
schlecht zu machen. Um nichts anderes geht es Ihnen hier!
({0})
- Aber nicht doch, Herr Kollege Heinrich. Das ist Ihre
Politik; Ihnen geht es nicht um Aufklärung.
In dieser langen Debatte ist eigentlich schon alles gesagt worden, nur noch nicht von allen, zum Beispiel von
mir noch nicht. Ich werde mich aber auf einen Kernpunkt
beschränken.
({1})
Hier ist ein Futtermittelunternehmen - es ist mir völlig
wurscht, wem es gehört - mit einem Putenfleischunternehmen verschwägert, das wiederum im Besitz eines
Hühnerunternehmens ist. All diese Unternehmen wissen,
dass ihre Produkte belastet sind. Insbesondere wissen sie,
dass ihr Futtergetreide massiv belastet ist. Aber was tun
sie? Sie sagen nichts und versuchen, den Schaden möglichst gering zu halten. Angesichts dessen kann man schon
von alten Strukturen reden; denn nach dieser Methode
wurde jahrzehntelang gearbeitet. In diese Menschen bekommt man nicht hinein, was gläserne Produktion bedeutet. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie nach
dem Auftreten von BSE die Chefs der großen Organisationen geschworen haben, sie würden für eine gläserne
Produktion sorgen. Mein Glaube darin wurde allmählich
immer geringer. Daher muss man offensichtlich sehr viel
mehr kontrollieren.
Mein Appell am Schluss - ich muss meine Redezeit
nicht ausnutzen; nach meiner Überzeugung wurde hier
schon viel zu lange leeres Stroh gedroschen - richtet sich
an die Länder: Beschäftigen Sie sich mit den Agrobusinessunternehmen - hier liegt der eigentliche Skandal -, die an den Bauern und den Verbrauchern viel Geld
verdienen. Es interessiert sie überhaupt nicht, ob Bauern
- Ökobauern oder konventionell wirtschaftende Bauern und Verbraucher geschädigt werden. Hauptsache, die
Kasse stimmt! Um diese Agrobusinessunternehmen muss
man sich verschärft kümmern. Wenn diese Unternehmen
ständig kontrolliert werden, kommt man solchen Skandalen auch rechtzeitig auf die Spur. Vielleicht wird dann sogar die Zahl der Skandale geringer.
Eine letzte Anmerkung, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren Geschäftsführer: Es wäre vielleicht sinnvoll, solche Debatten zeitlich einzuschränken,
({2}) [CDU/
CSU]: Die Ministerin hat doch 15 Minuten län-
ger geredet, als sie sollte!)
damit nicht drei Stunden lang immer wieder das Gleiche
erzählt wird. Auch bei einer Redezeit von eineinhalb
Stunden könnte alles gesagt werden.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die
Aussprache und rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b
sowie Zusatzpunkt 3 auf:
4. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Seehofer, Karl-Josef Laumann, Wolfgang
Lohmann ({0}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Krise in der Sozialversicherung beseitigen endlich die notwendigen Reformen auf den Weg
bringen
- Drucksache 14/8268 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sozialbericht 2001
- Drucksache 14/8700 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Irmgard
Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für grundlegende Reformen der sozialen Sicherungssysteme
- Drucksache 14/9245 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Debattenredner hat der Abgeordnete Gerald Weiß.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der
heutigen Diskussion über die gesetzlichen Sozialversicherungen macht es einen besonderen Sinn, die Taten der
rot-grünen Koalition auf diesem Gebiet an dem zu messen, was die Sozialdemokraten vor der letzten Bundestagswahl versprochen haben, aber auch an dem - aktuelle
Bezüge gibt es hinreichend -, was die Gewerkschaften
forderten und für richtig hielten.
In diesem Zusammenhang müssen wir feststellen: Auf
nahezu allen Feldern, in allen Sozialversicherungszweigen, gibt es eine breite Lücke zwischen Anspruch und
Wirklichkeit, zwischen Verheißungen und rot-grünen Taten. Das Versagen von Rot-Grün ist auf dem Gebiet der
sozialen Sicherung so eklatant wie auf wenigen anderen.
Deshalb müssen wir diese Debatte führen.
({0})
Wir erinnern uns: Vor vier Jahren hat der Deutsche
Gewerkschaftsbund mit 8 Millionen DM an Beitragsmitteln massiv in den Bundestagswahlkampf eingegriffen,
Geld, das auch von Unionsanhängern in den Gewerkschaften, von Mitgliedern der CDU und der CSU im DGB
stammte. Es ist noch eine höfliche Umschreibung, das als
eine ziemlich dreiste Zweckentfremdung der von den Arbeitnehmern aufgebrachten Beiträge zu bezeichnen.
({1})
Das Ziel war, einen erneuten Wahlerfolg der Union zu
verhindern. Jetzt muss man ohne jede Frustration gerade
aus dem Blickwinkel des DGB - oder besser noch: der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - betrachten, ob es
- gemessen an den Zielen der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer - eine gute Investition war, so viel Geld für
die Unterstützung des rot-grünen Projektes und dafür aufzuwenden, Rot-grün an die Macht zu bringen.
({2})
Betrachtet man, für welche Inhalte der DGB gekämpft
hat, muss man sagen: Diese 8 Millionen DM waren die
größte Fehlinvestition, die der DGB je zu verantworten
hatte,
({3})
abgesehen vielleicht von der „Neuen Heimat“.
({4})
- Das müssen Sie sich vor dem Hindergrund dessen, was
Sie in den vergangenen vier Jahren geleistet bzw. nicht geleistet oder, besser noch: sich geleistet haben, schon entgegenhalten lassen.
({5})
Das Motto der DGB-Kampagne 1998 lautete: „Deine
Stimme für mehr Gerechtigkeit“; ihre Ziele waren Arbeit
und soziale Gerechtigkeit.
({6})
- Sie wären doch nicht so nervös, wenn Sie dies nicht befürchteten.
({7})
Wie es um das Ziel Arbeit in Deutschland steht, können wir allenthalben an harten, zum Teil sogar geschönten
und dennoch desaströsen Zahlen ablesen, an einer Arbeitsmarktbilanz, die den Kern Ihres politischen Versagens während dieser vier Jahre rot-grüner Regierung in
Deutschland darstellt.
Wachsende Arbeitslosigkeit bedeutet für die Sozialversicherungszweige des Solidarsystems weniger Einnahmen und mehr Ausgaben, das bedeutet im Ergebnis
höhere Sozialversicherungsbeiträge. Daraus resultieren
wiederum höhere Lohnnebenkosten sowie weniger Nettokaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Am Ende dieser Kette steht das Ergebnis, dass die Arbeitslosigkeit weiter wächst und dass es Rot-Grün entgegen seinen Verheißungen nicht geschafft hat,
Deutschland aus diesem Teufelskreis herauszuführen.
Die rot-grüne Regierung hat das Land sogar tiefer hineingeführt. Das ist der Kern Ihres Versagens. Das müssen wir Ihnen auch in der heutigen Debatte entgegenhalten.
({8})
Ich will nur einige Schlaglichter auf die Sozialversicherung werfen. Unvergessen ist der Griff von Eichel
in die Sozialkassen. Man hat die vom Bund für die Arbeitslosenhilfebezieher in die Pflegeversicherung und in
die Krankenversicherung zu zahlenden Beiträge gesenkt,
übrigens mit entsprechenden Wirkungen für die soziale
Sicherung.
({9})
Sie wollten doch alles besser machen. Nichts von diesem
Anspruch ist eingelöst.
({10})
Man hat die Beiträge der Arbeitslosenhilfebezieher in
die Pflegeversicherung und in die Krankenversicherung
gekürzt. Da der Beitragssatz für die Pflegeversicherung
gesetzlich justiert ist, bedeutet das, dass wesentliche
strukturelle Verbesserungen wie die bessere Absicherung
der Demenzkranken nicht vorgenommen werden können
und unterbleiben müssen. Die Pflegeversicherung muss
zunehmend ihre Substanz angreifen und rutscht in ein Defizit hinein,
({11})
wohingegen die strukturellen Verschiebungen bei der Alterspyramide genau das Gegenteil erforderten, dass wir
nämlich die Pflegeversicherung auf die demographischen
Herausforderungen vorbereiten. Sie haben von Norbert
Blüm eine Pflegekasse mit Reserven in Höhe von 8 bis
10 Milliarden DM übernommen. Wenn Sie sich weiterhin
so verhalten wie bisher, wird davon bald nichts mehr
übrig sein.
({12})
Die Versicherten und die Arbeitgeber müssen die Zeche zahlen. Angesichts des Maßstabs, den Sie und die Gewerkschaftsbewegung etabliert haben, frage ich Sie mit
Recht: Ist dies ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit?
Ganz gewiss nicht. Sie senken das Rentenniveau unter
das Niveau der blümschen Rentenreform, aber auf eine
sehr viel willkürlichere Weise. Herr Blüm hat eine exogene, sozusagen außerhalb jeder Willkür der Politik liegende Größe, nämlich die Lebenserwartung, in die Rentenformel eingestellt. Sie handeln mit Willkür auf ein
bestimmtes Ziel, nämlich die Senkung des Rentenniveaus, hin und verstecken die Wahrheit hinter statistischen Tricks.
Damals haben Sie gesagt, das Rentenniveau in Höhe
von 65,5 Prozent im Jahre 2030, die wir durch die blümsche Reform erreicht hätten, sei unanständig. Was ist denn
aber das Rentenniveau in Höhe von 64 Prozent, die wir in
Wahrheit jetzt durch Ihre Rentenreform erreichen werden?
({13})
Dies soll alles hinter einem Nebel von Sprüchen verborgen bleiben.
Rot-Grün hat auch in der Arbeitslosenversicherung
nicht wirklich die Entwicklung hin zu einer aktivierenden,
Gerald Weiß ({14})
die Arbeitsmarktpolitik effektiver und effizienter gestaltenden Politik forciert.
({15})
Wie steht es mit dem Rentenversicherungsbeitrag?
Sie sagen selbst, er werde bis 2030 bei knapp 22 Prozent
liegen. Die Prognos AG sagt: Nein, es werden mehr, es
werden 23 Prozent sein. Die Ökosteuer, die jetzt schon mit
1,5 Prozent zu kalkulieren ist, dürfen wir getrost hinzuaddieren. Auch die 4 Prozent, die der Arbeitnehmer - sofern
er es kann - für seine zusätzliche, kapitalgedeckte Vorsorge aufbringen soll, müssen wir hinzurechnen. Daraus
ergeben sich 11 plus 4 plus 1,5 Prozent. Dies kann doch
kein Mehr an Gerechtigkeit sein!
Hinzu kommt, dass Sie ein Fördersystem etabliert haben, das die Schwachen schwach fördert, sodass sie die
Riester-Rente nur schwach in Anspruch nehmen können ({16})
und dies in Verbindung mit dem Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung.
Jetzt halte ich Ihnen entgegen, was der DGB-Infodienst am 21. Januar 2002 gesagt hat. Die Rentenreform
muss als „Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung einer Sozialversicherung“ verstanden werden. Wenn man
diesen Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung in
Koppelung mit einem Fördersystem sieht, das die Schwachen schwach fördert, sodass sie die Riester-Rente nur
schwach in Anspruch nehmen können, muss man sagen:
({17})
Das ist ein sozialer Kahlschlag und jedenfalls keine soziale Gerechtigkeit mehr!
({18})
Nun komme ich zur Riester-Rente: viel Bürokratie
und schwache Rendite neben der schieflastigen Förderung. Lassen Sie doch bitte schlichte Zahlen sprechen.
({19})
Ich bilde ein schönes, ehrliches Zahlenbeispiel: Eine
allein stehende Verkäuferin mit einem jährlichen Einkommen in Höhe von 15 000 Euro bekommt im Jahre 2008
- Endausbau der Förderung - eine Zulage in Höhe von
154 Euro von Riester, jedoch - so denke ich - dann nicht
mehr von Riester. Wer hingegen 50 000 Euro verdient
- zum Beispiel ihr Filialleiter -, wird zusätzlich in den Genuss eines Steuervorteils von 650 Euro kommen und eine
Gesamtförderung von 800 Euro erreichen. 154 Euro erhalten die Kleinen, 800 Euro die Besserverdienenden.
({20})
Ist das die soziale Gerechtigkeit, die Sie avisiert haben
und als Maßstab haben wollten?
({21})
Wenn man all das zusammen sieht, muss man sagen:
Für eine parteipolitische Einmischung des DGB in den
Wahlkampf gibt es in diesem Jahr eine noch geringere Legitimation als im Jahre 1998, weil alle Kernziele verfehlt
wurden. Wahrheit ist: Die Unzufriedenheit, die Sie auch
an der Basis verspüren, nährt sich doch dadurch, dass das,
was aus Arbeit erwächst, Produkte und Güter, für den Verbraucher immer unbezahlbarer geworden ist. Für den Arbeitnehmer wird diese Arbeit immer weniger auskömmlich. Die Schere zwischen Abgabenlast und Verdienst geht
weiter auseinander.
({22})
Deshalb haben Sie die wesentlichen Ziele bei der Sozialversicherung und bei der Steuerreform verfehlt. Das werden wir Ihnen, bis der Regierungswechsel im Herbst erreicht ist, vorhalten.
Ich bedanke mich.
({23})
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike
Mascher.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Im Wahlprogramm der
CDU/CSU
({0})
heißt es:
Die grundlegenden Kulturtechniken - Lesen, Schreiben, Rechnen, aber auch der Umgang mit neuen Medien und die Verarbeitung der heute verfügbaren Informationsmengen - müssen sicher beherrscht
werden.
({1})
Wenn ich Ihre Anträge lese und höre, was Sie im Wahlkampf den Bürgerinnen und Bürgern erzählen - ich habe
auch Herrn Weiß hier aufmerksam zugehört -, habe ich
manchmal den Eindruck, dass Sie insbesondere bei diesen
Kulturtechniken selbst einen großen Nachholbedarf haben.
({2})
Anders ist es für mich nämlich nicht zu erklären, dass
Sie in sich überschlagenden Anträgen immer wieder neue
Reformen einfordern, die wir zum Teil längst auf den Weg
gebracht haben. Ich empfehle Ihnen, die alten und die
neuen Medien zu nutzen. Dann könnten Sie sich besser informieren.
Auch mit dem Rechnen haben Sie offenbar Ihre Probleme,
({3})
Gerald Weiß ({4})
da Sie jetzt von einer Krise der Sozialversicherung sprechen. Wenn es eine Krise gegeben hat, dann liegt sie vier
oder sechs Jahre zurück. Das war die Zeit, als CDU, CSU
und FDP regiert haben und
({5})
die Beitragssätze für die Sozialversicherungen enorm in
die Höhe gestiegen sind, nämlich von 34 Prozent auf
42 Prozent. Herr Hirche, sie wären auf 43 Prozent gestiegen, wenn die SPD als verantwortungsvolle Opposition
nicht zugestimmt hätte, die Einnahmen aus einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt für die
Senkung bzw. Stabilisierung des Beitragssatzes zu nutzen.
({6})
So haben wir Oppositionspolitik verstanden. Sie haben
gegen diesen dramatischen Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge nichts getan.
({7})
Wie sieht es heute aus? Der gesamte Sozialversicherungsbeitrag ist nicht so gesunken, wie wir uns das gewünscht haben. Immerhin haben wir aber den Anstieg gestoppt sowie
({8})
eine Trendwende und eine Absenkung um 1 Prozentpunkt
erreicht.
({9})
Herr Weiß, ich weiß nicht, wie Sie auf eine Erhöhung der
Lohnnebenkosten kommen.
({10})
Ich empfehle Ihnen, sich das noch einmal genauer anzusehen.
Wir haben eine erfolgreiche Sozialpolitik betrieben,
die Weichen gestellt und die Reformen auf den Weg gebracht. Sozialpolitik heißt für uns, denen zu helfen, die
sich nicht selbst helfen können, ihnen Unterstützung zu
geben, Schwache nicht zu vernachlässigen und Menschen
mit Problemen nicht aufzugeben, sondern zu integrieren.
Dazu bedarf es eines starken Sozialstaates und einer
Politik, die die gesellschaftlichen Veränderungen wahrnimmt und durch Reformen begleitet; denn Modernisierung, notwendige strukturelle Reformen und ein starker
Sozialstaat sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich
wechselseitig.
({11})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage? - Bitte.
Frau Staatssekretärin Mascher, sind Sie mit mir der Meinung, dass gegenwärtig nicht die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge
- die sicherlich sehr wichtig ist - entscheidend ist, sondern dass doch der entscheidende Faktor ist, den Menschen Arbeit zu vermitteln? Bei meines Wissens nach wie
vor 4 Millionen Arbeitslosen handelt es sich bei allem anderen, zum Beispiel bei der Frage, ob die Sozialversicherungsbeiträge um 0,2 Prozent höher oder niedriger sind,
nur um Petitessen.
({0})
Der entscheidende Faktor zur Stabilisierung und Sicherung unseres Sozialsystems ist die Schaffung von Arbeitsplätzen. Darin haben Sie völlig versagt.
({1})
Herr Rossmanith,
ein Punkt Beitragssatz bedeuten 15 Milliarden DM bzw.
7,5 Milliarden Euro. Das sind eben keine Petitessen und
keine Peanuts, sondern dabei geht es um eine sehr beachtliche Summe.
Was die Arbeitslosigkeit angeht, kann ich Ihnen nur sagen: Wir stehen besser da, als Sie am Ende Ihrer Regierungszeit dagestanden haben.
({0})
Wir stehen zwar was die Arbeitslosenzahlen angeht, nicht
so gut da, wie wir es uns gewünscht haben; aber wir haben sehr viel mehr Menschen in Arbeit gebracht, als es Ihnen zum Schluss gelungen ist.
({1})
- Ich weiß nicht, was daran falsch sein sollte. Aus der offiziellen Statistik der Bundesanstalt für Arbeit können Sie
die Zahlen ersehen. Bisher ist mir - auch von Ihnen nicht keine Behauptung bekannt, dass die Zahlen falsch seien.
({2})
Die Basis eines handlungsfähigen Sozialstaats ist die
Konsolidierung des Bundeshaushalts. Wir haben den
Marsch in den Schuldenstaat gestoppt. Sie haben uns eine
Staatsverschuldung in Höhe von 1,5 Billionen DM hinterlassen. Das hat eine Zinslast in Höhe von 80 Milliarden DM jährlich bedeutet.
Mit dem Haushalt 2002 hat die Bundesregierung zum
dritten Mal in Folge einen Etat vorgelegt, dessen Neuverschuldung unter der des Vorjahres liegt. Gegenüber der
Kohl-Regierung haben wir die Kreditaufnahme des Bundes um 22,5 Prozent verringert. Damit haben wir dafür geParl. Staatssekretärin Ulrike Mascher
sorgt, dass dieser Staat wieder handlungsfähig wird. Aber
das Wort Schuldentilgung kommt in Ihrem Wahlprogramm gar nicht vor.
({3})
Wir haben soziale Gerechtigkeit wieder zu einer Kategorie der Steuerpolitik gemacht. Von unserer Steuerpolitik und unserer Steuerreform profitieren vor allen Dingen
Arbeitnehmer, Familien und der Mittelstand. Das monatliche Nettoeinkommen liegt heute fast 7 Prozent höher
als am Ende der CDU/CSU-FDP-Regierung. Es hat noch
nie eine so umfassende Steuerreform gegeben wie die, die
wir zwischen 1998 und 2005 durchführen und mit der die
Verbraucher und der Mittelstand um 56 Milliarden Euro
entlastet werden.
({4})
Vor allem kleine und mittlere Einkommen werden von unserer Steuerpolitik prozentual am stärksten profitieren.
Eine Familie mit zwei Kindern wird ab dem nächsten Jahr
im Durchschnitt um mehr als 330 Euro entlastet. Mit einem Bruttoeinkommen von 20 000 Euro werden dann
übrigens so gut wie keine Steuern mehr zu zahlen sein.
({5})
Dass Ihnen das nicht gefällt, dass es Sie schmerzt und
Sie Ausrufe des Wehklagens loswerden wollen, kann ich
zwar verstehen; aber meine Ausführungen entsprechen
den Tatsachen.
({6})
Wir haben durch die Gesetze zur Bekämpfung der
Scheinselbstständigkeit und zur geringfügigen Beschäftigung dafür gesorgt,
({7})
dass die Flucht aus den Sozialversicherungssystemen gestoppt wird. Denn in der Tat geraten die Sozialversicherungsträger in eine Krise, wenn immer weniger Beitragszahler eine immer größere Solidarlast tragen müssen.
Wir haben die Arbeitslosigkeit spürbar gesenkt, Herr
Rossmanith. Gegenüber 1998 sind im Jahresdurchschnitt
gegenwärtig 430 000 Personen weniger arbeitslos. Es gibt
1,2 Millionen Erwerbstätige mehr.
({8})
Das entspricht einer Verringerung der Arbeitslosigkeit um
10 Prozent. Das ist zwar weniger, als wir alle es uns erhofft haben; aber es ist dennoch ein deutlicher Erfolg.
({9})
Wir haben mit 38,8 Millionen Erwerbstätigen im
Jahr 2001 den höchsten Beschäftigungsstand in der deutschen Geschichte erreicht.
Wenn Sie jetzt behaupten, das hänge nur damit zusammen, dass wir die geringfügige Beschäftigung sozialversicherungspflichtig gemacht hätten, dann mache ich Sie
darauf aufmerksam - lesen Sie das bitte nach -, dass das
Statistische Bundesamt jetzt die Zahl der geringfügigen
Beschäftigungsverhältnisse rückwirkend bis zum Jahr
1995 in die Gesamtzahl der Beschäftigten einrechnet.
Wenn wir also Ihre Zahlen von 1998 mit unseren Zahlen
vergleichen, dann vergleichen wir nicht Äpfel mit Birnen,
sondern Äpfel mit Äpfeln, weil seit 1995 auch die Zahl
der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse berücksichtigt wird. Lesen Sie das bitte nach!
Mit dem Job-AQTIV-Gesetz haben wir einen Richtungswechsel hin zu einer präventiv ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik vollzogen. Wir wollen nicht abwarten,
bis sich Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt. Deswegen haben wir gesetzliche Voraussetzungen geschaffen, um gering qualifizierten sowie älteren Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern durch Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie durch eine passgenauere Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt bessere Beschäftigungschancen zu eröffnen. Wir wollen beim Kampf
gegen die Arbeitslosigkeit vor allen Dingen ihre Entstehung verhindern und den Sockel an Langzeitarbeitslosen,
den wir von Ihnen geerbt haben, schrittweise abbauen.
({10})
Ich finde, es ist ein besonderer Erfolg, dass die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen nachhaltig zurückgegangen ist. Das ist eine Gruppe, die wirklich
Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt hat und für die Erwerbsarbeit eine besonders wichtige Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe ist. Wir haben uns deshalb 1999 ein
ehrgeiziges Ziel gesetzt, als wir uns vorgenommen haben,
50 000 Jobs für Schwerbehinderte zu schaffen. Wir sind auf
einem guten Weg. Bis zum April 2002 ist die Zahl schwerbehinderter Arbeitsloser um rund 30 000 zurückgegangen.
Während Ihrer Regierungszeit ist sie Jahr für Jahr gestiegen.
({11})
Wir haben in der Behindertenpolitik bahnbrechende
Weichenstellungen vorgenommen. Ich weiß, Sie haben
zugestimmt. Ich respektiere das.
Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Seifert?
Ja.
({0})
Das ist eine meiner Aufgaben. - Frau Staatssekretärin, Sie sprachen gerade von den
Erfolgen beim Abbau der Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten. Auch ich finde das sehr wichtig und sehr
gut. Sie sagten, Sie hätten bis April dieses Jahres rund
30 000 Schwerbehinderte in Arbeit gebracht. Sie haben
die Zahl aufgerundet. Wenn ich mich recht erinnere, liegt
sie etwas darunter. Laut Gesetz müssen Sie aber bis zum
1. Oktober dieses Jahres fast 50 000 Schwerbehinderte in
Arbeit bringen. Die Wahrscheinlichkeit, das zu schaffen,
ist offensichtlich sehr gering. Wird dann, wenn die Zahl
wesentlich unter 50 000 liegt, die Pflichtquote automatisch auf 6 Prozent angehoben? Was passiert dann?
Herr Seifert, wir
werden uns im Oktober die Zahlen genau anschauen.
({0})
Ich denke, Sie wollen das, was wir bisher auf dem Weg
zu diesem ehrgeizigen Ziel erreicht haben, auch gar nicht
kleinreden. Wir werden erst im Oktober entscheiden, wie
wir mit der Schwerbehindertenabgabe umgehen. Ich
möchte heute nicht darüber spekulieren, weil ich davon
ausgehe, dass wir unser Ziel erreichen werden.
Wir haben mit dem Sozialgesetzbuch IX der Politik für
schwerbehinderte Menschen eine neue Perspektive ermöglicht. Wir stellen den behinderten Menschen in den
Mittelpunkt. Wir machen Teilhabe und Selbstbestimmung
zu den zentralen Aufgaben. Wir haben 60 Leistungsverbesserungen in das Sozialgesetzbuch IX aufgenommen.
Wir haben eine Menge erreicht, damit Menschen mit Behinderungen die notwendige Unterstützung und Solidarität erhalten, die sie brauchen, um die Nachteile, die sie
aufgrund ihrer Behinderung haben, auszugleichen und zu
überwinden.
({1})
Mit dem im Mai in Kraft getretenen Gleichstellungsgesetz tritt die Teilhabe behinderter Menschen in unserer Gesellschaft in das Zentrum der Politik. Barrierefreiheit ist
das Stichwort. Sie muss in zentralen Bereichen des öffentlichen Lebens gewährleistet werden, damit Behinderte
problemlos Zugang zu allen öffentlichen Gebäuden haben
und selbstbestimmt leben können. Anspruch auf Barrierefreiheit haben nicht nur Rollstuhlfahrer und gehbehinderte
Menschen, sondern zum Beispiel auch Sehbehinderte und
diejenigen, deren Hörfähigkeit eingeschränkt ist. Auch ihnen wird eine barrierefreie Kommunikation durch die Benutzung der Gebärdensprache ermöglicht.
Wenn wir uns ansehen, was wir im Bereich der Behindertenpolitik gemeinsam mit behinderten Menschen im
Gesetzgebungsverfahren geschaffen haben, wird ganz
deutlich, was unsere Sozialpolitik auszeichnet: Wir wollen wirksam Ausgrenzung verhindern, wir wollen Benachteiligungen abbauen.
Im Bereich der Behindertenpolitik hatten wir seit 1993
das Benachteiligungsverbot in der Verfassung. Leider ist
von 1993 bis 1998 nichts geschehen, um das im Alltag umzusetzen. Wir haben mit der Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen, mit dem Sozialgesetzbuch IX, mit
dem Gleichstellungsgesetz endlich das, was in unserer
Verfassung steht, auch praktisch umgesetzt. Ich hoffe,
dass das auf die Lebenssituation von Behinderten, aber
auch auf unsere gesamte Gesellschaft ausstrahlt.
({2})
Unsere Rentenreform ist ein weiterer Erfolg in dieser
Legislaturperiode.
({3})
- Auch wenn Sie das als Lachnummer bezeichnen, kann
ich Ihnen nur sagen: Die Renten steigen Anfang des nächsten Monats um 2,16 Prozent in den alten Bundesländern
und um 2,89 Prozent in den neuen Bundesländern.
Wir haben 1998 bedauerlicherweise ein absolut geschwundenes Vertrauen in die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung geerbt.
({4})
Wir haben leider erleben müssen, dass bei jungen Leuten
die Bereitschaft, sich in die gesetzliche Rentenversicherung zu begeben, immer weiter zurückgegangen ist.
Wir haben, statt heimlich Kürzungen im Rentenbereich
vorzunehmen, wie Sie es mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 getan haben, die Zahlen auf den Tisch gelegt. Wir haben gesagt: Die gesetzliche Rentenversicherung braucht eine Ergänzung durch
eine zusätzliche Altersvorsorge. Wir haben die Tür
geöffnet für eine ergänzende kapitalgedeckte Alterssicherung auch für die Gruppen in unserer Gesellschaft, die als
Geringverdienende oder als Familien mit mehreren Kindern sich das bisher nicht leisten können. Wir werden für
den Aufbau dieser zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge bis zum Jahr 2008 12,7 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Diese Förderung ist vor allem auf Bezieher geringer Einkommen und auf Familien ausgerichtet.
Sie werden davon besonders profitieren. Ich meine, es ist
wirklich ein Fortschritt in der Rentenpolitik, dass wir
nicht nur „Weiter so!“ gesagt haben, sondern dass wir einerseits die Probleme des demographischen Wandels mit
einer neuen Rentenformel aufgegriffen, andererseits aber
die Menschen nicht allein gelassen haben, sondern ihnen
den Aufbau einer zusätzlichen Altersvorsorge ermöglichen.
Wenn Sie das, was Sie in Ihrem Wahlprogramm schreiben, nämlich die Kürzung des Staatsanteils von 49 auf
40 Prozent, einmal umrechnen, um zu prüfen, was es bedeuten würde, wenn das in den Haushalten der Sozialversicherungen umgesetzt würde, stellen Sie fest, dass wir
dann zum Beispiel die Leistungen der Krankenversicherung, der Pflegeversicherung und der knappschaftlichen
Rentenversicherung abschaffen müssten. Das würde etwa
die 168 Milliarden Euro ausmachen, die Sie in vier Jahren
bei der Kürzung der Staatsquote von 49 auf 40 Prozent
einsparen wollen.
({5})
Wenn ich das auf die Rente umrechne, würde das
heißen, wir müssten im Haushalt der Rentenversicherung
17,5 Prozent streichen. Wir müssten also entweder die
Rentenausgaben, das heißt die Rentenzahlbeträge, kürzen
oder wir müssten den Rentnern und Rentnerinnen sowie
den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen sagen: In Zukunft muss bis 70 Jahre gearbeitet werden. - Ich sehe
Herrn Louven an; er hat darüber in der Vergangenheit
schon diskutiert. Ich glaube, dass das in unserer Gesellschaft angesichts unserer Beschäftigungssituation nicht
möglich ist.
({6})
- Wenn ich das nicht richtig verstanden habe, können Sie
ja hier und heute ganz klar und deutlich machen, dass Sie
diese Kürzung der Staatsquote von 49 auf 40 Prozent
nicht wollen, weil auch Sie jetzt sehen, dass die Folgen
nicht zu verantworten sind.
({7})
Wir wollen diese Kürzungspolitik nicht, wir wollen diese
Kahlschlagpolitik nicht, sondern wir wollen einen Sozialstaat, der den Menschen Sicherheit und Mut für die Zukunft gibt.
Danke.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Parlamentarische
Staatssekretärin hat eine bemerkenswert rückwärts gewandte Rede gehalten.
({0})
Sie haben die Details des Sozialberichts natürlich sehr
schön dargestellt, Frau Mascher. Aber eigentlich hätten
Sie doch schon zur Kenntnis nehmen können, dass die
Rentenversicherung nicht saniert ist, dass der Arbeitsmarkt starr ist wie nie und dass deswegen die Arbeitslosigkeit nicht sinkt, wie 1998, sondern im Vergleich zum
Vorjahr steigt.
({1})
Das ist die Negativbilanz dieser Bundesregierung und das
wird ein entscheidender Punkt der Auseinandersetzung
der nächsten Monate sein.
({2})
Ich sage Ihnen eines, Frau Mascher und Kolleginnen
und Kollegen von der Regierung: Sie werden mit Ihren
merkwürdigen Vergleichen zwischen dem Jahr 1998, dem
Ende der Regierung Kohl/Kinkel, und dem Jahr 2002 nicht
durchkommen. Sie verdrängen nach wie vor die Folgen
der DDR-Misswirtschaft und das zeigt, dass Sie die deutsche Einheit offensichtlich wirklich nicht gewollt haben.
({3})
- Das muss immer wieder gesagt werden, weil Sie immer
wieder mit den gleichen Argumenten kommen. Sie verdrängen die Folgen der DDR-Misswirtschaft.
({4})
Die Menschen werden Sie fragen: Was haben Sie in
den letzten vier Jahren bewirkt?
({5})
Dann werden Sie mit Ihrer Bilanz von 4 Millionen Arbeitslosen in die nächsten Monate ziehen müssen.
Es müssen endlich Reformen eingeleitet werden, und
zwar wirkliche Reformen. Was notwendig ist, berührt in
der Tat die grundsätzliche Frage, die die Liberalen immer
wieder stellen, nämlich: Was ist die Aufgabe des Staates
und was ist die Aufgabe der Bürger, das heißt, welche Verantwortung ist dem einzelnen Bürger zuzumuten? Was
kann er schultern und was müssen die kollektiven Sicherungssysteme an Absicherung gegen die großen Risiken
leisten, die der Einzelne nicht bewältigen kann? Darauf
muss Antwort gegeben werden.
Die sozialen Sicherungssysteme haben sich ziemlich
verselbstständigt. Sie sind in der derzeitigen Form nicht
zukunftsfähig.
({6})
Das ist übrigens auch schon daran ablesbar, dass es eine
Entfremdung zwischen Bürger und Staat gibt, die sich in
einem Parameter ausdrückt, nämlich der Zunahme der
Schwarzarbeit. Die Schwarzarbeit hat in Ihrer Regierungszeit erheblich zugenommen.
({7})
Woran denn sonst sollte sich diese Abkehr des Bürgers von
dem, was der Staat ihm an Wohltaten erweisen möchte,
deutlicher manifestieren? Nach jüngsten Schätzungen von
Professor Schneider und dem Institut für Angewandte
Wirtschaftsforschung in Tübingen wird das Volumen der
Schattenwirtschaft von 2001 auf 2002 um rund 6,2 Prozent
auf dann insgesamt 350 Milliarden Euro steigen.
({8})
- „Wahnsinn!“ - Das Wachstum der Schattenwirtschaft
übersteigt das prognostizierte Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um mehr als das Sechsfache.
({9})
Wenn Sie daraus immer noch keine Konsequenzen ziehen
wollen, meine Damen und Herren, dann zeigen Sie, dass
Sie wirklich nicht wissen, wie man die Zukunft für
Deutschland sinnvoll gestalten muss.
Noch zum Stichwort Schattenwirtschaft. In den anderen
Ländern der OECD, also bei unseren Wirtschaftspartnern,
bei den entwickelten Wirtschaften, stagniert die Schattenwirtschaft oder ist rückläufig.
({10})
Bei uns beträgt der Anteil der Schwarzarbeit am Bruttoinlandsprodukt, also den im Inland erbrachten wirtschaftlichen Leistungen, 17 Prozent und das ist ein Skandal.
({11})
Für die FDP gibt es auf diese Herausforderung eine wesentliche Antwort: Wir brauchen eine Sozialpolitik, die
Freiheit und Eigenverantwortung wieder an die erste
Stelle stellt.
({12})
Dazu muss der Staat die Voraussetzungen schaffen.
({13})
- Dass Sie das nicht nachvollziehen können, wissen wir.
({14})
Es gibt bei den Sozialdemokraten glücklicherweise auch
andere.
Frau Mascher hat eben davon gesprochen, dass wir einen starken Sozialstaat brauchen. Ist ein Sozialstaat stark,
wenn er so viel Schwarzarbeit zuläßt,
({15})
oder ist er nicht vielmehr schwach, wenn sich die Bürger
durch Schwarzarbeit von ihm abwenden?
Damit der Sozialstaat wieder stark werden kann, brauchen wir dieses neue Gewicht für Freiheit und Eigenverantwortung.
({16})
Dazu gehört als erstes eine durchgreifende Steuerreform, die die Steuertarife deutlich senkt. Zweitens gehört
dazu eine Reform der sozialen Sicherungssysteme, die die
Beitragslast reduziert und die durch den Aufbau geförderter privater Vorsorgemaßnahmen letztlich ein angemessenes Sicherungsniveau
({17})
für den Einzelnen bewirkt. Drittens gehört dazu eine Reform des Arbeitsmarktes und der Tarifordnung, die die
institutionellen Barrieren endlich abbaut.
({18})
Das sind die drei Aufgabenpakete für die nächste Legislaturperiode, damit der Reformstau aufgelöst wird. Sie
haben ja zu Beginn der Legislaturperiode das eine oder
andere angepackt.
({19})
Sie haben aber Angst vor der eigenen Courage bekommen. Die Mutlosigkeit hat regiert und zum Schluss ist
überhaupt nichts mehr passiert.
({20})
Vor dieser Starre stehen wir jetzt. Deswegen: Der Reformstau muss aufgelöst werden.
({21})
Wir wollen das tun.
Dazu noch ein paar Prinzipien: Die Weiterentwicklung
der sozialen Sicherungssysteme soll sich zum Beispiel an
dem Grundsatz orientieren „Versicherungspflicht statt
Pflichtversicherung“. Das heißt, wir wollen wieder mehr
Entscheidungsfreiheit an die Bürger zurückgeben. Das
bedeutet, dass die sozialen Sicherungssysteme schrittweise vom Beschäftigungsverhältnis zu lösen sind. Das
ist übrigens auch angemessener angesichts eines Lebensverlaufs, der ja den Arbeitnehmer nicht mehr wie früher
ausschließlich in einem Arbeitsverhältnis sieht, sondern
in dem sich Phasen der abhängigen Beschäftigung mit denen der Selbstständigkeit abwechseln. Deswegen ist diese
Weiterentwicklung richtig.
Wir fordern Generationengerechtigkeit. Das bedeutet,
dem Bundestag muss regelmäßig eine Generationenbilanz vorgelegt werden. Da sind auf der Habenseite Bildung, Infrastruktur, soziale Sicherheit und auf der Sollseite Belastungen wie Staatsverschuldung, Pensionslasten
und Generationenverträge,
({22})
sodass jede Regierung und jedes Parlament ablesen kann,
was jetzt notwendig ist.
Meine Damen und Herren, Sie wissen - Sie können es
in unserem Antrag nachlesen -, welche Reformen wir bei
der Arbeitslosenversicherung machen wollen; Sie kennen
unsere Vorstellungen zur Rentenversicherung; Sie kennen
unsere Vorstellungen zum Tarifvertragsrecht.
({23})
Das alles ist notwendig, damit in Deutschland endlich
wieder Bewegung in den Arbeitsmarkt kommt, damit sich
die Bürger wieder zu ihrem Staat bekennen und damit wir
einen starken Sozialstaat bekommen. Wir wollen das tun.
Danke.
({24})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und KolleDr. Irmgard Schwaetzer
gen! Frau Dr. Schwaetzer, ich nehme an, dass das nach Ihrer langen Zugehörigkeit zum Parlament eine Ihrer letzten
Reden gewesen ist. Aber vielleicht werden wir noch einmal in den Genuss kommen.
({0})
- Das ist prima; darauf freue ich mich. - Ich wollte nur sagen, ich kann es verstehen, wenn hier eine solch lange
Tätigkeit ausläuft, dass Sie sich hier hinstellen und eher
allgemeine Prinzipien der Sozialpolitik vortragen.
({1})
Ich möchte deswegen an dieser Stelle auch davon absehen, einmal zu gewichten, inwieweit es Ihnen gelungen
ist, die Prinzipien, die Sie in 28 Jahren FDP-Regierungsbeteiligung sicherlich verfolgt haben, in die Realität umzusetzen.
({2})
Insofern war das interessant. Wir werden diese Debatten
auch weiter führen. Aber das, was Sie hier vorgetragen haben, hilft natürlich in der konkreten Situation wenig weiter.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben hier - das finde
ich interessant - nun von der CDU/CSU einen Antrag mit
dem Titel „Krise in der Sozialversicherung beseitigen“
vorgelegt bekommen. Ich hätte mir gewünscht, dass sich
die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU diesem
Thema vor einigen Jahren einmal gewidmet hätten.
({4})
Denn das, was wir übernommen haben, war weit mehr als
eine Krise der Sozialversicherung. Wir haben eine Schuldenlast von 1,5 Billionen DM übernommen. Bei diesem
Betrag von 1,5 Billionen DM wird es den Menschen im
Land schwarz vor Augen. Wir bauen dieses ab.
Wir haben die höchste Staatsquote, die es in der deutschen Geschichte gab, übernommen. Wir sind heute, nach
wenigen Jahren, endlich wieder bei einer Staatsquote, wie
es sie in der Zeit vor 1990 gab. Wir haben eine Sozialabgabenlast von 42,3 Prozent übernommen, den höchsten Wert,
den es je gab. Wir liegen heute bei 40,9 Prozent. In der Antwort auf Ihre grandiose Zwischenfrage wurde Ihnen ja
schon klar gemacht, dass es sich hierbei in der Tat um eine
Senkung und nicht um einen Anstieg handelt, wie er bei Ihnen in den letzten Jahren üblich war. Wir haben dem Anstieg der Sozialabgaben einen Riegel vorgeschoben.
Wir haben auch die höchste Zahl von Arbeitslosen, die
es je gab, übernommen. Frau Mascher hat schon vorgetragen, dass diese nicht nur von 4,3 auf 3,8 Millionen gesenkt wurde - das ist immer noch zu hoch -, sondern dass
in der schwierigen Situation der letzten Jahre auch erreicht wurde, dass sich die Struktur der Beschäftigung in
diesem Land verbesserte hat. Wir können stolz darauf
sein, dass wir die Arbeitslosenquote - das haben wir ja
eben gehört und das ging auch durch die Presse - zum
Beispiel bei Behinderten von 4,4 Prozent auf 3,9 Prozent
zurückgeführt haben. Ich glaube, es ist wichtig, diese Anstrengungen fortzusetzen. Es ist aber auch wichtig, dass
wir in dieser Legislaturperiode ein Gesetz erlassen haben,
mit dem die Arbeitslosigkeit gerade von Behinderten
bekämpft wurde.
({5})
Wir haben auch die immer noch zu hohe Arbeitslosigkeit bei den Jugendlichen mithilfe des JUMP-Programms reduziert. Heute sind fast 28 000 Jugendliche
weniger arbeitslos als zu der Zeit, als wir die Regierungsverantwortung übernommen haben.
({6})
Herr Meckelburg, ich kann bis heute nicht begreifen, dass
Sie angesichts der Situation gerade der Jugendlichen in
Ostdeutschland immer noch den Mut haben, sich hier
hinzustellen und gegen das Jugendsofortprogramm Polemik vorzutragen. Wir werden auf der Basis des JUMPProgramms gerade in den neuen Bundesländern noch
weitere Brücken für Jugendliche in den Arbeitsmarkt
bauen, und zwar mit flexiblen Lösungen, die auf Teilzeit
setzen und direkte Hilfe bieten. Das müssen wir machen.
({7})
Sie wollen hier über die Krise der Sozialversicherung
reden. Damit es überhaupt zu einer Krise bei der Sozialversicherung kommen konnte, ist übrigens mehr als bloß
ein paar schlechte Zahlen notwendig. Damit muss zum
Beispiel auch ein Vertrauensverlust einhergehen und den
haben Sie herbeigeführt. Wir müssen das Vertrauen wieder mühsam aufbauen.
({8})
Ich nenne Ihnen dafür zwei Beispiele, die Sie nicht gerne
hören:
Blüm hat unverblümt behauptet, dass mit seiner Rentenreform die Renten sicher seien. Jeder in diesem Land
wusste, dass die demographische Entwicklung dazu führen wird, dass der Lebensstandard von Rentnerinnen und
Rentner über die gesetzliche Rentenversicherung nicht
abgesichert werden kann. Aber Sie haben sich hingestellt
und unverblümt die Unwahrheit gesagt, indem Sie behaupteten, die Renten seien sicher. Das hat niemand geglaubt und das hat das Vertrauen in die Sozialversicherung, gerade in die Rentenversicherung, untergraben.
({9})
Wir haben uns sehr schnell auf den Weg gemacht, der
Minister vorneweg, und haben zunächst einmal die Wahrheit gesagt, nämlich dass die gesetzliche Rentenversicherung nicht ausreicht.
({10})
Wir haben den Mut besessen und durch unsere Rentenreform einen Quantensprung, wie das Herr Seehofer zu
Recht bezeichnet hat, gemacht und die private Vorsorge
eingeführt.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Norbert Blüm?
Ja,
ganz klar, Herr Blüm, gerne.
Frau Abgeordnete,
können Sie mir ein Alterssicherungssystem nennen, das
sicherer ist als unsere Rentenversicherung? Wollen Sie
behaupten, die Privatversicherung wäre sicherer? Die Geschichte der Privatversicherung ist eine Geschichte nicht
gehaltener Versprechungen. Das unterscheidet sie von der
Rentenversicherung.
({0})
Der Herausforderung, dass Rentensicherheit nicht ein
Geschenk des Himmels ist, sondern beständiger Reformen bedarf, haben wir uns gestellt. Ich behaupte, dass unsere demographische Formel willkürfrei war, während
Ihre 4 Prozent aus der Luft gegriffen sind, eine Einladung
zur weiteren Manipulation. Das ist der Unterschied in Sachen Sicherheit.
({1})
Herr Blüm, ich habe behauptet - und das ist richtig -, dass
die Rentenreform, die Sie damals aufgelegt haben und
die den demographischen Faktor enthielt - mit dem wir
Grünen kein Problem hatten, weil dieser Faktor die demographische Entwicklung abgebildet hat -, zu einer Niveauabsenkung geführt und damit gleichzeitig eine Versorgungslücke für die Menschen aufgerissen habe,
({0})
die Sie nicht geschlossen haben.
({1})
Es gibt also keine Sicherheit im Alter, sondern eine Versorgungslücke, ein blümsches Loch, wenn Sie so wollen.
Um dieses blümsche Loch zu beseitigen, haben wir die
Privatvorsorge eingeführt. Das war tatsächlich ein Quantensprung.
({2})
Frau Kollegin, erlauben Sie eine weitere Frage des Kollegen
Norbert Blüm?
Ja.
Bitte
schön, Herr Blüm.
Frau Kollegin, können Sie mir sagen, wie das von Ihnen so bezeichnete
blümsche Loch für die Verkäuferin geschlossen wird, die
es sich trotz Förderung nicht leisten kann, 4 Prozent für
die Privatvorsorge abzuzweigen? Das sind diejenigen, die
es am schwersten haben.
({0})
Wenn Sie schon vom blümschen Loch sprechen, dann haben Sie dieses nun auf die Schwächeren reduziert. Wenn
Sie mir dann auch noch erklären könnten, was das mit Solidarität zu tun hat, wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Herr Blüm, ich danke Ihnen wirklich für diese Frage.
Dazu gibt es zweierlei zu sagen. Der erste Punkt. Ich
sprach ja von Vertrauensverlust. Zu der Zeit, da Sie an der
Regierung waren, haben 7 Prozent der Menschen die Idee
gehabt, privat vorzusorgen. Heute wissen 80 bis 90 Prozent der Menschen, dass sie privat vorsorgen müssen, um
ihren Lebensstandard im Alter abzusichern.
Zweiter Punkt. Was Sie jetzt behaupten, nämlich dass
die Bezieher kleiner Einkommen mit der Riester-Rente
schlecht gestellt sind, ist schlichtweg eine Unwahrheit.
Das wissen auch Sie.
({0})
Die so genannte kleine Verkäuferin zum Beispiel, die Sie
erwähnt haben, erhält in ihrer Einkommensgruppe über
50 Prozent Zulagen durch die Förderung der RiesterRente. Sie kann bis 80 Prozent bekommen, beispielsweise
wenn sie Alleinerziehende ist. Es ist keine 100-ProzentFörderung - das gebe ich gerne zu -, aber es ist eine
80-prozentige Bezuschussung der kleinen Einkommen.
Darauf haben wir Wert gelegt. Das gilt genauso für Familien mit drei Kindern. Sie können eine Förderung bis zu
90 Prozent bekommen. Das ist soziale Ausgewogenheit
und keine Schieflage.
({1})
Was aber in dieser Debatte, in der es um den Vertrauensverlust ging, den wir aufgefangen haben, viel trauriger
war, war die Tatsache, dass Sie bei dieser Rentenreform
nicht mitgemacht haben.
({2})
Sehr ärgerlich finde ich, dass Sie - auch jetzt wieder, wie
wir das eben von Herrn Blüm gehört haben - Unwahrheiten verbreiten, zum Beispiel dass wir eine soziale Schieflage hätten. Darauf habe ich Ihnen gerade geantwortet.
Sie behaupten aber beispielsweise auch, dass die Renten
durch die Absenkung der Schwankungsreserve nicht sicher seien. Das ist schlichtweg die Unwahrheit.
({3})
Das trägt wieder zur Verunsicherung der alten Menschen
bei. Ich finde, Sie sollten damit aufhören.
({4})
Ein weiterer Punkt. Sie stellen sich hier hin - Herr Weiß
zum Beispiel - und behaupten, dass Ihre Reform die sozial
Schwachen stütze, gerade im Hinblick auf die Renten. Sie
kündigen für dieses Jahr als ersten Schritt einer von Ihnen
geführten Regierung die Abschaffung der Grundsicherung bei der Rente an.
({5})
- Dazu können Sie gerne etwas sagen. - Das halte ich für
einen sozialen Skandal.
({6})
Eines der größten Probleme in dieser Gesellschaft ist die
verschämte Altersarmut. Alte Menschen, die das gar nicht
wollen, werden gezwungen, zum Sozialamt zu gehen.
({7})
Sie verzichten darauf, wenn sie ihre Kinder angeben müssen, die dann die Zahlungen leisten müssen. Wir wollen
die verschämte Altersarmut abbauen. Deswegen werden
wir das, was Sie vorhaben, nämlich die sozial Schwachen
weiter zu schwächen, nicht zulassen.
({8})
Ich sprach über Vertrauensverlust. Es hat ihn nicht nur
bei der Rentenversicherung gegeben, sondern wir haben
ihn auch bei der Arbeitslosenversicherung zu verzeichnen.
Wir hatten eine Situation, in der Menschen Beiträge gezahlt, aber keine Leistungen dafür bekommen haben, zum
Beispiel bei Einmalzahlungen, Weihnachtsgeld oder Urlaubsgeld. Es gab keine Gegenleistung für Beiträge. Wer
will denn Mitglied solch einer Versicherung sein? Wir haben das richtig gestellt. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist der Vertrauensverlust in der Arbeitslosenversicherung. Die Leute mussten erst langzeitarbeitslos werden, bevor sie konkrete Hilfe aus der Arbeitslosenversicherung bekommen. Was ist das für eine
Versicherung?
({9})
Wir haben das mit dem Job-AQTIV-Gesetz geändert. Diejenigen, die Gefahr laufen, langzeitarbeitslos zu werden,
haben heute sofort Anspruch auf Hilfe.
Mein Fazit an dieser Stelle ist: Sie von der Opposition
haben sich um eine echte Rentenreform gedrückt und
nicht die Wahrheit gesagt. Sie haben die Reformen am Arbeitsmarkt verschlafen, Sie haben vieles nicht einmal zur
Kenntnis genommen und Sie haben im Sozialsystem die
Gesundheitsreform blockiert.
Sie schlagen beispielsweise Bürokratieabbau vor. Sicher haben wir Bürokratien. Ich habe gerade auf einer
Veranstaltung von Herrn Blüm gehört, dass wir Kennzahlen für die Krümmung der Banane oder die Höhe der Kindertoiletten in den Kindergärten oder ähnliche Regelungen nicht brauchen. Das ist richtig so, das lehnen wir auch
ab, ebenso die damit zusammenhängende Ämtervielfalt.
Aber das ist doch eine deutsche Krankheit und nicht eine
rot-grüne Krankheit.
({10})
Das Problem haben wir auch in den Kommunen und in
den Ländern. Wir haben damit begonnen, das abzuarbeiten. Wir sind nicht mit Formularblättern an die Regierung
gekommen, sondern wir haben anachronistische Gesetze,
die Sie nicht angetastet haben, längst aufgehoben, wie
beispielsweise das Rabattgesetz. Wir können gern weiter
trefflich über zu viel Bürokratie streiten. Ich könnte noch
viele Beispiele nennen. Ihr Abbau ist natürlich wichtig,
aber das wird den Durchbruch am Arbeitsmarkt, den Sie
uns mit Ihren Vorschlägen versprechen, nicht bringen.
Was schlagen Sie denn vor? Bürokratieabbau ist das
eine. Sie wollen außerdem eine Kehrtwende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und in der Steuerpolitik. Da
müssen Sie sich schon entscheiden. Herr Späth sagt zum
Beispiel, unsere Wirtschafts- und Steuerreform gehe in
die richtige Richtung. Wollen Sie jetzt trotzdem eine
Kehrtwende machen? Herr Späth will die Reformen nur
schneller, aber das kann er nicht finanzieren. Er verrät
auch nicht, wo der Goldesel steht.
Sie schlagen eine veränderte Wirtschaftspolitik vor.
Was wollen Sie denn als Erstes machen? Sie wollen zum
Beispiel ein Gesetz wie das Energieeinspeisegesetz einkassieren. Ein Gesetz, das in einem innovativen Arbeitsmarktbereich neue Arbeitsplätze geschaffen hat und noch
viele Potenziale freisetzen kann, wollen Sie einkassieren.
Ich weiß nicht, wie man mit solch einer Wirtschaftspolitik zukünftig Arbeitsmarktpolitik betreiben kann.
({11})
Es gäbe an dieser Stelle noch viel zu sagen. Ich höre
jetzt einfach auf.
({12})
Ihr steuerpolitisches Konzept ist eher ein steuerpolitisches Topfschlagen,
({13})
bei dem die Reichen noch stärkere Steuersenkungen bekommen sollen. Sie wissen nicht, wie das zu finanzieren ist.
({14})
Den Eingangssteuersatz belassen Sie bei 15 Prozent. Das
haben wir schon ins Gesetzblatt geschrieben.
({15})
40:40:40 von Stoiber wird einkassiert durch Späth und
meinetwegen auch durch Merz, weil jeder weiß, dass man
das nicht finanzieren kann. Was bei Ihnen bleibt, ist
großes Rätselraten. Jedenfalls hat sich Ihr Wirtschaftskonzept langsam verstoibert.
({16})
Ich danke Ihnen.
({17})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Dr. Christa Luft.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein Teil der Überschrift des Antrags der CDU/CSU ist für uns zustimmungsfähig, nämlich dass Reformen der Sozialversicherung notwendig
sind. Damit aber endet schon unsere Übereinstimmung;
denn bei den Wegen zum genannten Ziel unterscheiden
wir uns grundsätzlich, weil wir das Solidarprinzip nicht
ohne Not opfern lassen möchten.
({0})
Dieses Solidarprinzip, Kollegin Schwaetzer, ist Voraussetzung dafür, dass alle Menschen in Freiheit und mit
Eigenverantwortung leben können. Alles in allem würde
bei Verwirklichung der Vorschläge der Union die Krise
der Sozialversicherung nicht beseitigt, sondern die sozialen Sicherungssysteme würden ausgehöhlt und weiter abgebaut werden.
({1})
Sie zielen auf die Privatisierung sozialer Risiken und auf
die Disziplinierung arbeitsloser Menschen. Das werden
wir nicht mitmachen.
Was hat die Union, die im Übrigen - das hat der Beitrag
des Kollegen Weiß gezeigt - die Rolle des Unschuldsengels spielt,
({2})
eigentlich anzubieten, um Probleme und Defizite, die es auf
dem Gebiet der Sozialversicherung zweifelsohne gibt, zu lösen bzw. zu überwinden? Erstens will sie Arbeitslosen- und
Sozialhilfe vereinheitlichen. Vor ein paar Wochen sprach
man noch von Zusammenlegen bzw. Zusammenführen. Ich
finde, Sie sind es der interessierten Öffentlichkeit schuldig,
endlich von dieser Wortakrobatik wegzukommen und Klartext dahin gehend zu reden, was die Zusammenführung
bzw. Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für die Betroffenen, aber auch für die Kommunen und
die Gesellschaft insgesamt bedeuten würde.
({3})
Sie würde natürlich - das haben Sie ja vor - eine
Abstrafung der Arbeitslosen bedeuten. Sie wollen offensichtlich die Arbeitslosenhilfe abschaffen, sie auf Sozialhilfeniveau kürzen und so Druck auf die Arbeitslosenhilfebezieher ausüben.
Was aber wären die Folgen? Das sollte man der Öffentlichkeit einmal genau mitteilen. Würde die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, wäre ein Arbeitsloser, der 44 Jahre
alt oder auch jünger ist, nach maximal 12 Monaten des
Bezugs von Arbeitslosengeld auf Sozialhilfe angewiesen,
die keine klare Ableitung mehr von seinem bisherigen Arbeitsleben und von seinem bisher erhaltenen Lohn wäre.
In der Regel würde die Sozialhilfe weit darunter liegen.
Allein das wäre schlimm genug.
Aber das Maß der Absenkung von Bezügen ist nur das
eine. Es gibt viele weitere fatale Folgen. Der zum Sozialhilfeempfänger gewordene Arbeitslosenhilfebezieher
müsste vorher nahezu sein gesamtes Vermögen aufbrauchen oder auf das Partnereinkommen zurückgreifen. Bei
einem durchschnittlichen Verdienst des Partners kann das
je nach Anzahl der Kinder im Haushalt eine Reduzierung
des Haushaltseinkommens von bis zu 400 Euro pro Monat ausmachen. Dabei hätten vor allem Familien mit Kindern deutlich weniger als vorher. Denn bei ihnen wird im
Rahmen der Sozialhilfe das Kindergeld als Familieneinkommen gerechnet.
Für Arbeitslosenhilfeberechtigte übernimmt bislang
der Staat die Zahlung der Rentenbeiträge, wenn auch nach
der drastischen Kürzung, die Rot-Grün hier vorgenommen hat, in geringerer Höhe. Sozialhilfeempfänger haben
keine Möglichkeit, in die gesetzliche Rente einzuzahlen.
Noch mehr Altersarmut wäre also vorprogrammiert.
Schließlich die Kommunen. Kommunen mit hoher Arbeitslosigkeit würden zusätzlich belastet, weil sie die Sozialhilfe zu zahlen hätten. Ein Ja zu einem solchen Projekt
wird es von uns nicht geben.
({4})
Das wäre ein folgenschwerer Einschnitt in das bundesdeutsche Sozialsystem.
Die jetzige Koalition will den Milliardenbetrag, der
laut Presseberichten im Haushalt des Bundesministeriums
für Arbeit und Soziales im Jahre 2003 gestrichen werden
soll, offenbar durch eine - so nennt sie es - Verzahnung
von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gewinnen. Das hätte
letztlich ähnliche Wirkungen wie die, die ich gerade beschrieben habe, wenngleich vielleicht etwas abgemildert.
Aber auch das lehnen wir ab.
({5})
Wir bleiben dabei: Das A und O für die Stabilisierung
der Sozialversicherungssysteme ist die Schaffung von
mehr Arbeitsplätzen - und dies nicht nur auf dem Papier
und nicht nur statistisch.
({6})
Dann gäbe es genug Arbeit und dann müsste niemand
mehr so lange arbeitslos sein, dass er die Bezugsdauer von
Arbeitslosengeld überschreitet. Das wäre besser als jede
Reform der Arbeitslosenhilfe.
({7})
Zudem fordert die PDS statt Niedriglohn und Kombilohn einen gesetzlich fixierten, existenzsichernden Mindestlohn, der Armut trotz Vollzeitarbeit verhindert. Unser
langfristiges Konzept, eine soziale Grundsicherung zu
schaffen, die ein Leben jenseits der Armutsgrenze für jede
und jeden ermöglicht, würde schließlich die Arbeitslosenhilfe überflüssig machen.
({8})
Eine zweite Forderung der Union ist die Aktivierung
des Niedriglohnsektors. Sie bringt aber weder Beschäftigungseffekte, noch bietet sie den Betroffenen entwicklungsfähige berufliche Perspektiven an. Wieder einmal
würden vorwiegend Frauen in der Dienstleistungsbranche
betroffen sein. Die Niedriglohnstrategie bricht ganz offensichtlich mit dem bisherigen gesellschaftlichen Konsens, dass Vollzeitarbeit zum individuellen Lebensunterhalt oberhalb der Armutsgrenze ausreichen muss. Schon
deshalb lehnen wir dieses Projekt entschieden ab.
In Ostdeutschland muss man sich ohnehin bei der Forderung nach der Aktivierung des Niedriglohnsektors gelinde gesagt verschaukelt vorkommen. Dort gibt es nämlich seit zwölf Jahren den großflächigen Versuch, die
Wirtschaft mit Niedriglöhnen anzukurbeln. Bis heute liegen die Bruttolöhne abhängig Beschäftigter in den neuen
Ländern bei 70 Prozent des westdeutschen Durchschnitts.
Damit - das ist das eigentliche Problem - wird ein heute
35-Jähriger noch in 30 Jahren, wenn er in Rente geht, an
der Höhe seiner Altersbezüge, die ihm dann zustehen,
spüren, in welchem Teil Deutschlands er gelebt hat. Das
ist unzumutbar und wäre die Fortschreibung der Spaltung.
({9})
Wie soll übrigens jemand, der einen Niedriglohn bezieht, der gerade zum täglichen Leben reicht, auch noch
privat für sein Alter vorsorgen? Ich fand die diesbezügliche Zwischenfrage des Kollegen Blüm sehr passend. Die
Angleichung der Löhne und Gehälter spielt also für die
Stabilisierung der Sozialversicherungssysteme eine eminent wichtige Rolle.
Das dritte Stichwort der Union lautet: nachhaltige
Rentenpolitik, die die demographische Entwicklung angemessen berücksichtigt. Dahinter versteckt sich offenbar
die Forderung, das Renteneintrittsalter anzuheben. Da damit aber kein einziger zusätzlicher Job geschaffen würde,
liefe das letztlich auf die Verlängerung der Zeit hinaus, die
über 50- oder 55-Jährige nach dem Arbeitsplatzverlust
mangels Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten vorzeitig im
Ruhestand verbringen müssen. Das aber bedeutet, für jedes Jahr vor dem offiziellen Renteneintrittsalter 3,6 Prozent Abschläge von den zustehenden Altersbezügen hinnehmen zu müssen. Das wären bei sechs Jahren nahezu
22 Prozent oder fast ein Viertel der zustehenden Altersrente.
({10})
Damit stünde für weitere Millionen Menschen Altersarmut am Horizont. Wer will das verantworten?
Ich fasse zusammen: Die PDS fordert eine substanzielle Erneuerung der solidarischen Grundlagen der
Sozialversicherungssysteme. Hauptvoraussetzung dafür
sind und bleiben der Abbau der Massenarbeitslosigkeit
und die Schaffung zusätzlicher versicherungspflichtiger,
existenzsichernder Erwerbsmöglichkeiten.
({11})
Wir fordern darüber hinaus, die Einnahmen der Rentenversicherung zu erhöhen, indem alle Erwerbseinkommen in die Versicherungspflicht einbezogen werden, also
auch die der Beamten, der Selbstständigen,
({12})
der Minister und natürlich auch der Abgeordneten, wie
das zum Beispiel in der Schweiz Praxis ist.
({13})
Ich finde es schon bezeichnend, wenn Herr Müntefering
in Talkshows sagt, er sei für das schweizerische Modell,
während Rot-Grün eine Rentenreform gemacht hat, die an
dem Schweizer Modell vorbeigegangen ist. Worte und
Taten müssen irgendwann einmal übereinstimmen.
Auch Einnahmen aus Vermögen wären heranzuziehen.
Erneuerte Solidarität heißt für uns auch, die Beitragsbemessungsgrenzen anzuheben. So würden Bezieher hoher Einkommen ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend einzahlen.
Schließlich sollten die Arbeitgeberanteile an den Sozialbeiträgen künftig nach der Wertschöpfung statt nach der
Lohnsumme berechnet werden.
({14})
Damit würden die arbeitsintensiven Unternehmen von
Beiträgen entlastet und die kapitalintensiven Betriebe
stärker belastet. Das hätte beschäftigungsfreundliche
Wirkungen und würde die Beitragssätze stabilisieren
helfen.
Danke schön.
({15})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Klaus Brandner von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die von der
CDU/CSU initiierte Debatte über ihren Antrag „Krise in
der Sozialversicherung beseitigen - endlich die notwendigen Reformen auf den Weg bringen“ ist in der Tat ein
schlechter Versuch, die Erfolge der rot-grünen Sozialpolitik klein- und schlechtzureden. Damit soll das Feld
bereitet werden, um Sozialabbau, wie er bis 1998 betrieben wurde, wieder salonfähig zu machen.
({0})
Die SPD will den Sozialstaat modernisieren und stärken. Genau das - Herr Weiß hat im Übrigen darauf hingewiesen - wollen auch die Gewerkschaften. Sie haben
1998 zu Recht eine Kampagne in diesem Land entfacht,
mit der sie für soziale Gerechtigkeit eingetreten sind,
({1})
weil Sie, meine Damen und Herren von der rechten Seite
dieses Hauses, dieses Land in eine soziale Schieflage gebracht hatten. Die Arbeitnehmerorganisationen mussten
also offensiv dafür Politik machen, um diese soziale
Schieflage zu beseitigen. Dafür haben wir, insgesamt
gesehen, Verständnis gehabt; denn uns geht es darum,
soziale Marktwirtschaft zu organisieren.
Uns geht es nicht um Marktwirtschaft pur. Marktwirtschaft pur wird von denen verlangt, von denen Sie in
einem ganz erheblichen Maße Spenden kassieren. Dafür
lassen Sie sich im politischen Tagesgeschäft dienstbar
machen.
({2})
Wenn man die Tagespolitik und die Anträge, die Sie in den
letzen Monaten eingebracht haben, verfolgt, dann kann
man nur zu diesem Schluss kommen.
({3})
Der Markt kann nicht alles regeln. Deshalb ist der Sozialstaat ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil
unserer gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kultur. Er fördert den sozialen Frieden und stärkt
damit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft
ganz erheblich.
({4})
- Herr Meckelburg, hören Sie ruhig zu!
Ich bin für den von Ihnen eingebrachten Antrag sehr
dankbar.
({5})
Die Kritik, die darin geäußert wird, ist so unzutreffend
und dermaßen aus der Luft gegriffen, dass dadurch deutlich wird, wie erfolgreich die rot-grüne Koalition gearbeitet hat.
({6})
Für diese Gelegenheit bin ich Ihnen außerordentlich
dankbar.
({7})
Wir wollen die erfolgreiche Arbeit fortsetzen. Wir
möchten eine solidarische Gesellschaft. Der Staat muss
auch für den Schwächeren eintreten. Bei dem vorliegenden Antrag der Union und bei vielen anderen Anträgen,
die wir in den letzten Monaten wöchentlich von Ihnen geboten bekommen haben, schimmert immer wieder die
totale Marktgesellschaft durch: Der Stärkere soll sich
durchsetzen. Zumeist sind Arbeitgeberforderungen die
Richtschnur des Handelns.
Auch in den nächsten Wochen erwarten wir Anträge in
der gleichen Richtung und mit der gleichen Zielsetzung.
Ich darf mich schon jetzt dafür bedanken, dass Sie uns auf
die Art und Weise Vorlagen geben, indem Sie deutlich machen, in welcher Richtung Sie zukünftig Sozialpolitik betreiben wollen.
Herr Kollege Brandner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Meckelburg?
Bitte.
Herr
Meckelburg.
Herr Kollege
Brandner, da Sie gerade über kleine und große Leute gesprochen haben und Sie sich als Verfechter der Interessen
der kleinen Leute darstellen, frage ich Sie: Können Sie
mir bestätigen, dass das, was durch Ihre Regierungspolitik erreicht wurde - dass die Körperschaftsteuer in Bezug
auf die großen Unternehmen keine Einnahmequelle mehr
ist, sondern dass die Finanzämter diesbezüglich zu einer
Auszahlungsstelle geworden sind -, nicht mit dem Thema
soziale Gerechtigkeit vereinbar ist, wenn sie gleichzeitig
bei den kleinen Leuten mit Ökosteuer und Beitragssteigerungen abzocken?
({0})
Herr Meckelburg, ich kann
Ihnen das überhaupt nicht bestätigen. Ich kann Ihnen aber
bestätigen, dass die Steuerreform dazu geführt hat,
({0})
dass die kleinen und mittleren Einkommen in diesem
Lande ganz deutlich entlastet worden sind,
({1})
dass die Mittelständler entlastet worden sind und dass die
großen Unternehmen belastet worden sind. Unsere Steuerpolitik ist in der Summe sozial ausgewogen und wird den
Interessen der breiten Bevölkerungsschichten gerecht.
({2})
Zurück zu Ihrem Antrag. Schon Ihre Analyse ist ein
einziges Zerrbild. Dass die Opposition die Lage kritischer
darstellt als die Regierung, ist aus meiner Sicht normal. Es
ist sogar ihr gutes Recht. Doch Ihre Kritik ist in der
Summe unzutreffend; sie hat mit der Wirklichkeit gar
nichts zu tun. Das Einzige, was Sie mit Ihren schlicht und
ergreifend falschen Ausführungen erreichen, ist eine Täuschung der Öffentlichkeit. Es ist doch völlig klar, dass wir
das nicht hinnehmen.
Die Fakten sind eindeutig:
Erstens. Es ist falsch, wenn behauptet wird - wir haben
es von Herrn Weiß eben wieder gehört -, die Arbeitslosigkeit sei gestiegen. Das Gegenteil ist der Fall.
({3})
- Hören Sie zu, dann können Sie etwas lernen! - Im Vergleich mit den Daten aus der Kohl-Ära ist die Arbeitslosigkeit um über 400 000 gesunken. Das ist eine Größenordnung, die wir uns nicht kleinrechnen lassen. Die
Menschen, die in Arbeit gekommen sind, sind froh
darüber. Das haben sie unter anderem unserer Politik zu
verdanken.
({4})
Zweitens wurden in den letzten vier Jahren mehr als
1 Million neue Arbeitsplätze geschaffen. Die geringfügig Beschäftigten sind darin eingerechnet, sodass wir
einen sauberen Vergleich haben. Das wissen Sie, meine
Damen und Herren von der Union, ganz genau. Deshalb
wollen Sie die Öffentlichkeit für dumm verkaufen, wenn
Sie ständig so tun, als kämen diese zusätzlichen Arbeitsplätze nur durch Statistiktricks zustande.
({5})
Im Übrigen sind das für uns keine Petitessen, wie Sie eben
sagten, und keine Peanuts. Vielmehr ist dies das Ergebnis
einer erfolgreichen Politik.
({6})
Drittens scheinen Sie sich nicht so gut mit der Angebotsseite des Arbeitsmarktes auszukennen. Das Ausscheiden älterer Arbeitnehmer wird nämlich durch eine
steigende Frauenerwerbstätigkeit und durch Arbeitsaufnahmen aus der stillen Reserve überkompensiert. Das Arbeitskräfteangebot ist bis zum letzten Jahr gestiegen und
nimmt auch in diesem Jahr nicht ab.
Lassen Sie mich hier eindeutig festhalten, dass wir zum
ersten Mal in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland am Ende eines Konjunkturzyklus nicht
mehr, sondern weniger Arbeitslose als zuvor haben. Umgekehrt haben wir nicht weniger, sondern mehr Erwerbstätige als zuvor. Das ist ein Erfolg unserer Politik, den wir
uns von Ihnen nicht kleinreden lassen.
({7})
- Sie haben eben nicht zugehört, Frau Schwaetzer. Wenn
Sie nicht lernfähig sind, tut es mir Leid.
({8})
Sie wissen genau, dass die von mir vorgetragenen Fakten
stimmen.
Die Arbeitsmarktlage ist insgesamt gesehen für uns
nicht befriedigend; darüber können wir offen sprechen.
Aber von der Misswirtschaft unter Helmut Kohl sind wir
doch ein gutes Stück entfernt. Obwohl diese Daten eine
eindeutige Sprache sprechen, wollen Sie tatsächlich die
abgewählte Politik von Helmut Kohl wieder aufnehmen.
Entweder kennt man bei der Union die Fakten nicht oder
man ignoriert sie einfach, wie Herr Weiß es eben gerade
in eindrucksvoller Weise bestätigt hat. Vor dem Hintergrund unserer guten Arbeitsmarktbilanz zeigen Ihre
Äußerungen lediglich, dass diese ganz schnell in der
Schublade „Wahlkampf“ verschwinden müssen.
Besonders merkwürdig verläuft aus meiner Sicht die
Sozialstaatsdebatte. Die Widersprüchlichkeit der Union
zeigt sich bei ihren Finanzierungsvorschlägen. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen und können
sich darauf verlassen, dass es mit der SPD bei der solidarischen Finanzierung
({9})
der Sozialversicherungssysteme bleibt.
({10})
Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilen sich den Beitrag.
Bei der CDU/CSU und erst recht bei der FDP läuft es
hingegen vor allem auf mehr Selbstbeteiligung, weniger
Krankenversicherungsleistungen und eine einseitige Entlastung der Arbeitgeber hinaus.
({11})
Herr Weiß hat in diesem Zusammenhang gerade von
Lücken in der Sozialversicherung gesprochen. Hätten wir
1998/99 nicht die Korrekturgesetze verabschiedet, könnten wir heute schon an den Zahnlücken der Menschen in
diesem Land die Folgen Ihrer unsozialen Politik erkennen.
({12})
Eine Staatsquote von 40 Prozent, die im Wahlprogramm
in der Union allen Ernstes vorgeschlagen wird, bedeutet
Mindereinnahmen von sage und schreibe 170 Milliarden Euro im Jahr. Das sind circa 18 Prozent der gesamten
Staatsausgaben und wäre nur mit einem dramatischen
Kahlschlag bei den Sozialleistungen zu schaffen. Die
Wirkungen wären nicht nur beim Bund, sondern auch bei
den Ländern und Kommunen deutlich zu spüren. Opfer
dieser Politik - das ist völlig klar - wäre die große
Mehrheit der Bevölkerung: die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und insbesondere die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger. Das Absacken in eine
solche soziale Ungerechtigkeit ist ebenso wenig in Ordnung wie eine Zweiklassenmedizin.
({13})
Deshalb können wir diesen Überlegungen nicht zustimmen.
Leicht zu widerlegen ist Ihre Behauptung von drastisch
steigenden Rentenbeiträgen. Sie verwechseln offenbar
das Jahr 2002 mit dem Jahr 1998. Damals betrug der Beitrag zur Rentenversicherung bekanntlich 20,3 Prozent.
Heute dagegen beträgt er 19,1 Prozent. Wie Sie aus diesen beiden Zahlen einen Anstieg interpretieren, ist Ihr Geheimnis. Vielleicht sollten Sie noch einmal die Schule
aufsuchen, um dies nachvollziehen zu können.
({14})
Möglicherweise wird der Beitrag in Zukunft geringfügig steigen, aber keinesfalls in alte Höhen. Von dem Beitragsniveau Ihrer Regierungszeit haben wir uns jedoch erfolgreich verabschiedet.
Zu einem Anstieg der Beiträge käme es allerdings,
wenn man Ihre Idee ernst nähme, die 325-Euro-Jobs wieder versicherungsfrei zu stellen. Dann nämlich drohten
der Sozialversicherung drastische Einnahmenverluste.
Das führte sofort dazu, dass die Sozialversicherungsbeiträge um 0,3 Prozent angehoben werden müssten. Das
scheinen Sie alles in Kauf nehmen zu wollen. Von einer
gerechten und sozialen Politik kann bei einer solchen
Maßnahme aus meiner Sicht aber keine Rede sein.
({15})
Mit Bezug auf den Sozialbericht will ich Ihnen die
Grundkonzepte unserer zukunftsorientierten Sozialpolitik
erläutern. Leitlinie sind und bleiben Gerechtigkeit,
Sicherheit und Innovation. Wir haben Fehlentwicklungen korrigiert und gravierende Defizite beseitigt. Dabei
hatte uns die alte Regierung - das wissen Sie - sowohl
eine Rekordarbeitslosigkeit als auch eine Rekordstaatsverschuldung sowie eine gefährliche Schieflage des sozialen Systems hinterlassen. Sie hatte 16 Jahre lang von
unten nach oben umverteilt und Arbeitnehmerrechte beschnitten.
({16})
Die Kohl-Regierung hatte den sozialen Frieden in unserer
Gesellschaft in bedrohlicher Weise aufs Spiel gesetzt und
wurde zu Recht abgewählt.
Die Sozialpolitik muss die strukturellen Veränderungen in der Arbeitswelt gestalten. Wir akzeptieren den
Trend zu flexibleren Arbeitseinheiten und höheren Qualifikationsanforderungen. Dazu kommt der gesellschaftliche Wandel mit dem geänderten Altersaufbau der Bevölkerung, der steigenden Frauenerwerbstätigkeit, kleineren
Familien und generell mehr individuellen Lebensstilen.
Auch die internationalen Verflechtungen wirken immer
stärker auf die Sozialpolitik ein.
({17})
Vor allen Dingen die Jugend braucht eine Perspektive.
Gleich nach unserer Regierungsübernahme haben wir
das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt und damit über 400 000 jungen
Menschen eine neue Zukunftschance verschafft. Dieses
Programm ist so erfolgreich, dass Sie es in Ihrem sozialpolitischen Rundumschlag überhaupt nicht erwähnen.
({18})
Die Bundesregierung stand im Übrigen auch bei der
aktiven Arbeitsmarktpolitik dafür ein, dass ausreichende
Mittel zur Verfügung stehen. 22,5 Milliarden Euro sind
ein solides Fundament, das mit bewirkt hat, dass in dieser
schwierigen Zeit beispielsweise die Langzeitarbeitslosigkeit überdurchschnittlich zurückgegangen ist.
Nun kommt es darauf an, auch für arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger ein Konzept zu entwickeln, um sie möglichst schnell in Arbeitsverhältnisse zu vermitteln. Durch
die von uns für eine bessere Zusammenarbeit von Arbeitsund Sozialämtern initiierten MoZArT-Projekte haben wir
bereits erhebliche Erfolge aufzuweisen.
({19})
Sie werden die Basis für eine grundlegende Reform sein,
wobei sehr deutlich wird: Das Zusammenlegen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist noch keine Reform.
Vielmehr muss es unser Ziel sein, den Menschen zu helfen, tatsächlich aus der Abhängigkeit von der Sozialhilfe
herauszukommen; dafür sind wir angetreten.
({20})
Kernstück unserer Sozialpolitik war die große Rentenstrukturreform. Sie stellt die Alterssicherung auf
eine langfristig stabile Grundlage.
({21})
Sie verteilt die Lasten ausgewogen zwischen Älteren und
Jüngeren. Die Renten steigen etwas langsamer als geplant; dafür steigt die Sicherheit enorm. Das zählt und
bringt Vertrauen. Das wissen die Menschen in diesem
Land.
({22})
Deshalb sage ich ganz deutlich: Keine Rente - auch
keine Witwenrente - wird gekürzt, auch wenn Sie noch so
viel Polemik in dieser Richtung betreiben. Die Verunsicherungskampagne der CDU/CSU wird auch an dieser
Stelle nicht greifen. Stattdessen fördern wir die Erwerbstätigkeit von Frauen. Teilzeitarbeit in der Phase der Kindererziehung wird auch hinsichtlich der Rente besser bewertet. Das sind Chancen, die wir den Menschen in
diesem Land eröffnen.
({23})
Das ist Fakt, genauso wie die Tatsache, dass ab Januar
nächsten Jahres kein Rentner und keine Rentnerin mehr
zum Sozialamt gehen muss, weil wir eine soziale Grundsicherung einführen.
({24})
Sie ist bedarfsorientiert; wir haben sie durchgesetzt. Ich
empfinde es als einen deutlichen Schritt der sozialen
Kälte, dass Sie in der nächsten Legislaturperiode, wenn
Sie die Mehrheit bekommen würden, genau dieses soziale
Reformprojekt wieder einkassieren wollen. Das ist nicht
in Ordnung. Für einen solchen Schritt sollten Sie sich aus
meiner Sicht wirklich schämen.
({25})
Ich komme zum Schluss: Wir führen die Wählerinnen
und Wähler nicht an der Nase herum, sondern bieten ihnen ein ehrliches und zukunftsfähiges Programm. Ihre
Leitlinien sind Ideenlosigkeit und soziale Ungerechtigkeit. Unsere Leitlinien sind Gerechtigkeit, Sicherheit und
Innovation.
({26})
Dafür treten wir an, meine Damen und Herren. In diesem
Sinne werden wir in diesem Land auch nach dem 22. September erfolgreiche Politik machen.
({27})
Als
nächster Redner hat der Kollege Johannes Singhammer
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
möchte mich ebenfalls an die Wahrheit halten.
({0})
Die Wahrheit ist: Nach vier Jahren Rot-Grün geht es den
kleinen Leuten und insbesondere den Familien in unserem Land schlechter.
({1})
Gleichzeitig können sich die Großunternehmen dank
Steuersenkungen über einen Geldsegen freuen.
Durch die Steuerreform dieses Bundeskanzlers konnte
die Familie Reemtsma ihre Firmenbeteiligungen für
6,7 Milliarden Euro verkaufen, ohne eine Mark Steuern zu
zahlen.
({2})
Dagegen wird bei den Rentnern knallhart gespart. Reden
wir doch einmal Klartext: Entgegen allen Versprechungen
sind die Renten im Jahre 2001 noch nicht einmal um den
Inflationsausgleich gestiegen. Das ist die Realität.
Die Finanzämter zahlen heute mehr an Körperschaftsteuer an die Großunternehmen zurück, als sie einnehmen. Während die Quelle Körperschaftsteuer vor
zwei Jahren noch gesprudelt hat und 20 Milliarden DM
eingenommen worden sind, müssen die Finanzämter
heute Geld auszahlen. Die Folge davon ist, dass die Kommunen Hallenbäder schließen müssen und die kleinen
Leute, die auf ein solches Bad angewiesen sind, weil sie
keinen privaten Swimmingpool besitzen, buchstäblich in
das leere Bassin schauen, während es sich bestimmte
Großverdiener dank Ihrer Steuerermäßigungen ohne mit
der Wimper zu zucken leisten können, noch einen zweiten Swimmingpool dazuzubauen.
({3})
Deutschland ist in eine soziale Schieflage geraten. Die
Menschen verlieren von Tag zu Tag mehr Vertrauen in
diese Regierung. Eine Kette gebrochener Wahlversprechen pflastert den Weg dieser Regierung. Ich belasse es
heute bei der Aufzählung von sieben Todsünden - ich
könnte noch mehr aufzählen -, mit denen Sie die Menschen hinters Licht geführt haben:
Als Erstes nenne ich die Arbeitslosenkatastrophe. Dieser Bundeskanzler hat im vergangenen Jahr versprochen:
Wir wollen im nächsten Jahr unter die Marke von 3,5 Millionen Arbeitslosen kommen. Tatsache ist: Wir werden in
diesem Jahr im Schnitt 4 Millionen Arbeitslose haben.
Ihre als Wunderwaffe gepriesenen neuen Konzepte wie
das Job-AQTIV-Gesetz entpuppen sich als Rohrkrepierer.
Heute erreichen uns Meldungen, dass der Bundesminister
für Arbeit den Herrn Gerster von der Bundesanstalt für
Arbeit rügt, weil der Mittelabfluss nicht vorankommt,
({4})
weil 3,4 Prozent weniger als im vergangenen Jahr ausgezahlt worden sind. All Ihren Ankündigungen zum Trotz
wird die Arbeitslosigkeit nicht besser bekämpft, sondern
es wird schlechter und schlimmer; sie steigt.
Das zweite Versprechen betraf eine deutliche Entlastung der Bürger und Familien.
Im Mittelpunkt steht die Entlastung der aktiv Beschäftigten und ihrer Familien.
Dies war Teil Ihrer Regierungserklärung. Tatsache ist:
Unter dieser Bundesregierung erwartet die Familien, die
Menschen in unserem Land bis zum Jahre 2005 eine Rekordsteuerbelastung: Ökosteuer, Versicherungsteuer und
Tabaksteuer belasten gerade Familien mehr und werden
durch die Erleichterungen, die Sie schon eingeführt haben
- das billige ich Ihnen zu - bei weitem nicht kompensiert.
Unterm Strich gibt es für die meisten in diesem Land netto
weniger.
({5})
Versprochen wurde außerdem eine bezahlbare Gesundheit für alle:
Die neue Bundesregierung wird dafür sorgen, dass
Gesundheit für alle bezahlbar bleibt und jeder den
gleichen Anspruch auf eine qualitativ hochstehende
medizinische Versorgung hat.
So haben Sie es in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt. Tatsache ist, dass das Gesundheitswesen vor dem
Kollaps steht und die gesetzliche Krankenversicherung
aus den Fugen gerät. Die Gesundheitsministerin muss ein
Defizit, das ständig wächst, einräumen.
Ähnlich verhält es sich mit der Pflegeversicherung.
Versprochen wurde, dass die Rücklage der Pflegeversicherung vorrangig für die dauerhafte Stabilisierung des
Beitragssatzes verwendet werden sollte. Tatsache ist, dass
die Pflegeversicherung am Krückstock geht; das haben
wir in unserem Antrag auch deutlich ausgeführt. Aus den
Überschüssen im Jahre 1998 sind Defizite geworden.
Diese Defizite kommen auch dadurch zustande, dass Sie
die Beitragsgelder dazu verwenden, die Lücken im Haushalt des Finanzministeriums zu stopfen. Beitragsgelder
werden also in die Kasse des Finanzministers umgeleitet.
Ähnlich verhält es sich auch mit dem vierten Zweig der
Sozialversicherung, nämlich der Arbeitslosenversicherung. Den Beitrag dazu wollten Sie um 0,5 Prozent auf
6 Prozent absenken. Auch das ist nicht verwirklicht worden. Im Gegenteil: Wie schon in den vergangenen Jahren
benötigt die Bundesanstalt für Arbeit wieder einmal mehr
Geld als eingeplant. Die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der rot-grünen Politik ist und war zu keinem Zeitpunkt gegeben.
Ich nenne noch ein Beispiel: Der Bundeskanzler
schwor in der letzten Woche heilige Eide darauf, dass der
Kündigungsschutz unangetastet bleiben soll.
({6})
Vorgestern erklärte der Ministerpräsident Niedersachsens, Herr Gabriel,
({7})
in einem Interview, dass man selbstverständlich darüber
nachdenken müsse, den Kündigungsschutz durch eine
Staffelung zu lockern. Dem Wirrwarr dieser Äußerungen
entspricht der Wirrwarr Ihrer Politik. Sie ist das Gegenteil
von Verlässlichkeit.
({8})
Ihr Verhalten wird im Übrigen nicht nur von uns, sondern auch in Ihren eigenen Reihen als geplante politische
Unberechenbarkeit bewertet.
({9})
Ich darf der Unverdächtigkeit halber den früheren SPDVorsitzenden, Oskar Lafontaine, zitieren,
({10})
der in einem Interview der „Bild“-Zeitung am 24. April
Folgendes über
Er hat den Kurswechsel der Partei zu verantworten.
Milliardengeschenke an Unternehmen, Kürzungen
der Renten und soziale Leistungen, die ständige Forderung nach Lohnzurückhaltung und die Beteiligung
deutscher Soldaten an Auslandseinsätzen werden
von der großen Mehrheit der Ostdeutschen abgelehnt.
Er fügt weiter hinzu:
Sogar Stoiber will die Beteiligungsverkäufe der Banken, Versicherungen und Großbetriebe wieder besteuern. Die SPD-Führung nicht. Da fasst man sich
an den Kopf.
({0})
Wir, die Union, haben klare Vorstellungen, welche
grundsätzlichen Weichenstellungen jetzt ohne Verzögerungen vorgenommen werden müssen. Zuallererst wollen
wir den Arbeitsmarkt entriegeln und bürokratische
Hemmnisse beseitigen.
({1})
- Das sage ich Ihnen gleich. - Wir wollen grundsätzlich
zunächst einmal auch im Niedriglohnsektor mehr Beschäftigung schaffen. Die 630-DM- bzw. 325-Euro-Bürokratiemonster, die Minijobs, werden wir durch eine 400-EuroRegelung ersetzen, die sich durch eine ganz große
Einfachheit auszeichnet und die Menschen wieder aus der
Schwarzarbeit zurückholt.
({2})
- Wir werden sie mit einer Pauschalsteuer ausgleichen.
Unsere Konzepte sind nachprüfbar und seriös.
({3})
Wir wollen eine aktive Arbeitsmarktpolitik umsetzen,
die diesen Namen wirklich verdient. Dazu planen wir den
Ausbau individueller Förderungen in den neuen JobCentern. Zusätzlich wollen wir zur Selbstständigkeit ermutigen und den Mittelstand stärken; denn der Mittelstand war in den letzten Jahren - das hat sich in dieser
Zeit herausgestellt - der erfolgreichste Arbeitsplatzmotor.
({4})
Er hat in den vergangenen 20 Jahren 2,9 Millionen
Arbeitsplätze geschaffen.
({5})
Sie betreiben eine mittelstandsfeindliche Politik. Die
Quittung haben Sie mit der Arbeitsmarktstatistik erhalten.
Bezogen auf die Rentenreform sage ich Ihnen: Wir
werden diese unzureichende Rentenreform, die auf tönernen Füßen steht und deren Halbwertszeit von Monat zu
Monat geringer wird und bald auf null steht, noch einmal
auf den Prüfstand stellen und die notwendigen Korrekturen durchführen.
({6})
Das wissen die Menschen auch. Aufgrund Ihrer Reform
ist das Vertrauen in die Altersvorsorge in der Vergangenheit nicht gewachsen.
Wir werden die drei Säulen der Alterssicherung - gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersversicherung, aber auch die private Vorsorge - in eine neue Balance bringen. Die kapitalgedeckten Elemente der
betrieblichen und der privaten Vorsorge werden künftig
einen höheren Stellenwert erhalten.
({7})
Die gesetzliche Rentenversicherung bleibt natürlich eine
tragende Säule der Alterssicherung.
({8})
- Ja, natürlich ist das so.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der künftigen Opposition, der Bundeskanzler hat auf Ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende versucht, sich und Ihnen
Mut zu machen und hat festgestellt, dass der Mut wächst.
({9})
Ich kann bei Ihrer Politik nirgends erkennen, dass in
Deutschland der Mut wächst.
({10})
Im Gegenteil: Das, was in Deutschland wächst, ist die Wut
auf Ihre Politik, die soziale Schieflage und die soziale Ungerechtigkeit. Ich versichere Ihnen: Das werden wir ändern.
({11})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Singhammer, wie seriös Ihre Vorschläge sind, sollten Sie einmal mit Herrn Späth besprechen. Er nimmt
schließlich einen Vorschlag nach dem anderen, den Sie
zur Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik gemacht haben, zurück.
({0})
Eigentlich müssten Sie Ihr Programm noch einmal von
neuem beschließen, jedenfalls dann, wenn Herr Späth irgendeine Rolle in der Republik spielen sollte.
({1})
Er lobt die rot-grüne Steuerreform und bezeichnet das,
was die CDU/CSU vorschlägt, als unseriös.
({2})
Nachdem Sie Lafontaine zitiert haben, würde ich Sie an
dieser Stelle gern auf Lothar Späth und das, was er hinsichtlich der Seriosität des Programms der Union gesagt
hat, verweisen, nämlich: unseriös, unseriös, unseriös!
({3})
Sie haben ausgeführt, dass es den Familien nach der
rot-grünen Regierungszeit in den letzten vier Jahren
schlechter ginge.
({4})
- Das ist nicht so. - Ich möchte Ihnen gerne nur in einigen Punkten nachweisen, dass dem nicht so ist, auch wenn
ich bekanntlich der Auffassung bin, dass wir, was Kinder
und Familien angeht, in diesem Land noch ganz am Anfang stehen. Aber wir haben jetzt den Vergleich zwischen
den 16 Jahren Kohl-Regierung und den vier Jahren RotGrün zu ziehen.
Erstens. Die Kindergelderhöhung. Es stimmt übrigens
nicht, Frau Luft, dass die Kindergelderhöhungen auf die
Sozialhilfe angerechnet worden sind. Gerade das ist unter
dieser Regierung nicht erfolgt.
Zweitens. Förderung bei der privaten Zusatzvorsorge
für die Renten. In diesem Bereich sind es gerade die Familien, die zu Recht hohe Förderungen erhalten, weil sie
es sich am wenigsten leisten können, zusätzlich private
Vorsorge zu leisten.
({5})
Drittens. Selbst bei so etwas wie dem Mainzer Modell,
bei dem es um die Förderung von Langzeitarbeitslosen
geht, gibt es Kinderzuschüsse bis zu 75 Euro.
Genau das ist die Politik, die diese Bundesregierung betrieben hat und von der Sie unter keinen Umständen behaupten können, dass es den Familien in diesem Land dadurch schlechter ginge als zu Ihrer Regierungszeit. Das
Gegenteil ist der Fall. Wir werden als rot-grüne Regierung
an dieser Stelle weitermachen und noch einen Zahn zulegen.
({6})
Das versprechen wir den Bürgerinnen und Bürgern. Darauf können sie sich verlassen.
({7})
Als zweiten Punkt haben Sie angesprochen, dass die
Rentenversicherung in einem desolaten Zustand sei,
Herr Singhammer. In diesem Zusammenhang ist bereits
- auch von Herrn Brandner und Frau Dückert - umfassend auf die einzelnen Fragen, die Sie angeführt haben,
eingegangen worden. Darüber will ich nicht weiter reden.
Ich möchte Sie vielmehr daran erinnern, wie die Geschichte dieser Rentenreform eigentlich verlaufen ist. Wir
waren uns nämlich in fast allen Punkten einig. Wir haben
hier darüber debattiert und es gab unter anderem von dem
Abgeordneten Schemken große Zustimmung. Aber die
CDU/CSU hat am Ende aus rein taktischen Gründen entschieden, sich nicht daran zu beteiligen.
({8})
Dass Sie nun aber mit Äußerungen wie „desolat“ oder
„Damit müssen wir noch einmal ganz von vorne anfangen“ operieren, ist nicht glaubwürdig und real. Es hat
nichts mit den Fakten zu tun, sondern nur mit unlauterer
Politik.
({9})
Das wissen die Leute draußen im Land und wir werden es
ihnen auch noch deutlich machen.
({10})
Des Weiteren haben Sie behauptet, dem Mittelstand in
Deutschland gehe es schlecht. Dazu möchte ich Ihnen
Folgendes sagen: Wir wissen genau, dass die meisten
Arbeitsplätze im Mittelstand existieren bzw. entstehen.
({11})
Auch Sie wissen übrigens, dass die Arbeitslosenzahl gesunken ist. Es hilft Ihnen nichts, wenn Sie behaupten, dass
sie gestiegen sei. Im Vergleich zu Ihrer Regierungszeit ist
sie gesunken. Die Zahl der Erwerbstätigen in diesem Land
ist so hoch wie nie zuvor. Das müssen Sie zur Kenntnis
nehmen. Es wäre in Ordnung gewesen, wenn Sie gesagt
hätten, dass das nicht ausreiche und dass weitere Reformen
notwendig seien. Auch wir sind dieser Meinung. Wahrscheinlich würden wir uns dann sehr schnell über die Ziele,
aber nicht über die Instrumente einigen können. Aber zu
behaupten, der Mittelstand werde in diesem Land nicht entlastet, nachdem der Mittelstand durch unsere Steuerreform
um 30 Milliarden Euro entlastet worden ist, ist ebenso unlauter wie die Bemerkung, die Sie vorhin gemacht haben.
Auch das werden die Menschen in diesem Land Ihnen nicht
glauben, weil sie wissen, dass Rot-Grün in allererster Linie
den Mittelstand entlastet hat. Alles andere ist falsch.
({12})
Ein Thema ist auch, ob man beim Abbau der Arbeitslosigkeit auf das Anziehen der Konjunktur setzt - das
scheint Ihr Ziel zu sein; das entnehme ich zumindest
Ihrem Wahlprogramm - oder ob man die Probleme direkt
angeht. Auch Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass die
Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit für die Zukunft dieses Landes ganz entscheidend ist. Ich bin stolz
darauf, dass wir es geschafft haben, mit einem Programm
gegen Jugendarbeitslosigkeit deutliche Zeichen gerade in
Ostdeutschland zu setzen. Mit diesem Programm legen
wir dort einen Zahn zu.
Wie sieht Ihre Antwort auf unsere Programme aus? Ihrem Wahlprogramm entnehme ich, dass Sie die Staatsquote senken wollen. Sie diskutieren noch darüber, in
welchem Zeitraum die Staatsquote auf unter 40 Prozent
- offenbar muss erst noch Lothar Späth nachrechnen - gesenkt werden soll. Das würde 170 Milliarden Euro weniger bedeuten. Ich frage Sie: Wo wollen Sie so viel einsparen, etwa bei der Arbeitsmarktpolitik, bei der Familienpolitik, beim Kindergeld, bei der Bildungspolitik oder
bei den Zuschüssen zur Rentenversicherung? Das müssen
Sie schon sagen. Sie können nicht wie Kai aus der Kiste
kommen und so tun, als legten Sie viele bunte Geschenke
unter den Weihnachtsbaum. Die Menschen werden, wenn
sie Ihre Geschenke aufmachen, merken, dass in ihnen
nichts drin ist. Sie können den Menschen nichts vorlügen.
Die Menschen merken, wenn Sie so tun, als ob Sie die
großen Geber wären, die aus irgendeiner Kiste Geld nehmen, das nicht vorhanden ist. Schließlich haben auch Sie
sich zur Fortsetzung der Konsolidierung des Haushaltes
bekannt. Wenn man sich anschaut, was Sie vorhaben,
dann muss man feststellen, dass das offenbar nur eine
Worthülse ist. Mit solchen Worthülsen gewinnt man in
diesem Land keine Wahl mehr. Dafür sind die Bürgerinnen und Bürger einfach zu schlau.
({13})
Ich möchte zum Schluss noch kurz etwas zur Gesundheitspolitik bzw. Krankenversicherung sagen, weil Sie
darauf in Ihrem Antrag auch eingehen. Ihr Antrag enthält
eine ganze Latte von Vorwürfen an die Regierung. Sie haben in ihm aber auch deutlich gemacht, was die Union
will. Das sind vor allen Dingen vier Punkte: Transparenz,
Selbstbestimmung, Prävention und Qualität. Das hört sich
ganz gut an. Möglicherweise unterschreiben wir das sogar. Mich wundert aber, dass das Wort „Wirtschaftlichkeit“ in Ihrem Antrag fehlt, und zwar auch deshalb, weil
bei Ihnen Selbstbestimmung immer bedeutet, dass die
Menschen - das betrifft zum Beispiel die Wahltarife - aus
der eigenen Tasche etwas drauflegen sollen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat bei
einer Umfrage, deren Ergebnisse letzte Woche veröffentlicht worden sind, die Menschen danach gefragt, ob sie
bereit seien, mehr zu bezahlen. Dabei ist festgestellt worden: Die Menschen in diesem Land wollen keine höhere
Selbstbeteiligung, also genau das nicht, was Sie ihnen
aufdrücken wollen. Deswegen ist die Politik, die wir gemacht haben, richtig; denn wir haben immer klar gesagt:
Wir werden dafür sorgen, dass erstens die Beitragserhöhungen so gering wie möglich ausfallen und dass es
zweitens keine Zuzahlungen gibt, die sozial ungerecht
sind. Darin werden wir von den Bürgerinnen und Bürgern
bestätigt. Diese haben nämlich - so hat es der Sachverständige der Bundesregierung formuliert - keine Lust, zusätzlich Geld in ein unwirtschaftliches System zu stecken.
Meine Damen und Herren, der Antrag, den Sie hier gestellt haben, ist zweierlei: Er ist unseriös und nicht sozial
gerecht. Sie werden am 22. September die Quittung für
Ihre Politik bekommen. Rot-Grün wird das Land weiter
gestalten
({14})
in Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, insbesondere für die
kommenden Generationen.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Detlef Parr von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der Bundeskanzler hat auf dem SPD-Parteitag
festgestellt: Der Mut wächst. Ich stelle im Hinblick auf die
ausbleibende Gesundheitsreform fest, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Der Unmut wächst.
({0})
Der Unmut wächst bei den Versicherten. Sie spüren am
eigenen Leib immer deutlicher die Spirale „höhere Krankenkassenbeiträge und weniger Leistungen“ in Arztpraxen, in Apotheken, in Krankenhäusern. Sie müssen auf
planbare Operationen teilweise monatelang warten.
Der Unmut wächst bei den Ärztinnen und Ärzten. Sie
spüren am eigenen Leib immer deutlicher die mittlerweile von Ihnen beschlossenen unerträglichen Budgets
und staatlichen Überreglementierungen zulasten ihrer
Patienten.
({1})
Der Unmut wächst bei den Krankenkassen, die mehr
Wettbewerb und Gestaltungsmöglichkeiten wollen, durch
den Risikostrukturausgleich aber behindert und bestraft
werden.
({2})
Der Unmut wächst bei den Apothekern. Ihnen wird eine
mit heißer Nadel gestrickte unausgegorene Aut-idemRegelung aufs Auge gedrückt, durch die vielen Patienten
ihre gewohnten Medikamente vorenthalten werden.
({3})
Die Apotheker müssen befürchten, dass ihnen durch die
Zulassung des Medikamentenversandhandels mit den
Niederlanden und der Schweiz erhebliche Nachteile entstehen können.
({4})
Der Unmut wächst in den Krankenhäusern, weil übermüdete Ärzte zum Alltag gehören und es keine neuen Arbeitszeitregelungen gibt.
Deshalb, meine Damen und Herren, ist die Forderung
mehr als berechtigt, diese Krise zu beseitigen und endlich
die notwendigen Reformen auf den Weg zu bringen.
({5})
Unstrittig ist: Nach der IT-Branche ist der Gesundheitsmarkt der Wachstumsmarkt Nummer eins der Zukunft
und eine Jobmaschine erster Güte. Ich erinnere mich an den
Kanzler, als er noch keiner war. „Arbeit, Arbeit, Arbeit“
stand auf den Plakaten. Das Gegenteil ist entstanden.
Wachstumsmärkte werden gebremst. Bereits heute gibt es
hier über 4 Millionen Beschäftigte. Es werden über
250 Milliarden Euro umgesetzt, davon aber nur etwa die
Hälfte im Rahmen des gesetzlichen Zwangssystems. Daraus erkennen wir: Die Bereitschaft zur Investition in die
Gesundheit ist bei den Bürgerinnen und Bürgern vorhanden. Diese Bereitschaft müssen wir zur Entfaltung bringen.
({6})
Deshalb sind für die FDP zwei Forderungen von besonderer Bedeutung. Wir müssen - die Gesundheitsberufe
wieder zu freien Berufen machen
({7})
und auf der anderen Seite mehr Patientensouveränität
schaffen. Die Möglichkeiten individueller Vereinbarungen zwischen Arzt und Patient und zwischen Versicherten
und Krankenkassen müssen erweitert werden.
({8})
- Sie müssen etwas qualifiziertere Zwischenrufe machen
und vor allen Dingen die aktuelle Entwicklung berücksichtigen, Herr Kollege.
Es gibt doch keinen Zweifel, meine Damen und Herren, dass die Chipkarte als vermeintlicher Garant für unbegrenzte Leistungen zu Missbrauch verführt. Das anonyme Sachleistungsprinzip hat auch und vor allem vor
dem Hintergrund Europa längst ausgedient. Wir müssen
bei den Versicherten Kostenbewusstsein schaffen. Sie halten krampfhaft an diesem alten System fest. Wir wollen
die Kostenerstattung anstelle des Sachleistungsprinzips.
({9})
Wenn Sie nicht zuhören, Frau Schmidt-Zadel, können
wir nie voneinander lernen. Das ist ein Trauerspiel. Deshalb kommen wir zu diesen Ergebnissen in der Gesundheitspolitik.
({10})
Die Transparenz durch Rechnungslegung macht aber
nur dann Sinn, wenn ärztliche Leistungen auf der Grundlage eines Preissystems, wie es in allen anderen Wirtschaftszweigen üblich ist, abgerechnet werden können.
Entscheidend für den Erfolg solcher Umstellungsmaßnahmen ist die Abschaffung jeder Art von Budgetierung.
Für sie ist dann kein Raum mehr.
Was die Finanzierungsgrundlagen der Zukunft angeht,
müssen wir das Verhältnis von Solidarität und Subsidiarität neu ordnen, gerade um das Prinzip der Solidarität
zu retten. Denn wir sollten uns nichts vormachen: Wir haben längst keine Solidargemeinschaft mehr. Sie ist deformiert, man muss sie neu ordnen.
Ich kann mir für die Zukunft ein dreigeteiltes Finanzierungsmodell vorstellen: eine solidarische Finanzierung, eine Mischfinanzierung und eine rein private Finanzierung. Das ist ein Modell der Zukunft. Ein solches
Modell hat in der gesetzlichen Krankenversicherung nur
dann eine Chance, wenn wir den Leistungskatalog kritisch
überprüfen und das solidarisch zu Finanzierende neu definieren.
Das heutige System widerspricht dem Wunsch einer
wachsenden Zahl von Menschen, ihre Belange möglichst
umfassend in eigener Verantwortung selbstbestimmt zu
regeln. Die Tarifgestaltung in der GKV muss deshalb flexibler werden. Neben die solidarisch zu finanzierende
Grundversorgung müssen Zusatzangebote treten, die einen individuellen ergänzenden Versicherungsschutz ermöglichen.
({11})
Diese Angebotsvielfalt muss - so stellen wir uns das
vor - in Kooperation mit privaten Krankenversicherungen erreicht werden. In dem Zusammenhang sind die
neuen ordnungspolitischen Kapriolen der Frau Ministerin
bezeichnend. - Es ist niemand vom Gesundheitsministerium mehr da. Das ist auch bezeichnend. ({12})
Da will die Gesundheitsministerin die Versicherungspflichtgrenze tatsächlich anheben und damit den Zugang
zur privaten Krankenversicherung erschweren. Schon
jetzt flüchten Tausende von Versicherten aus dem
Zwangssystem in das private Krankenversicherungssystem hinein. Sie wollen die Schotten dichtmachen und damit genau den falschen Weg gehen. Die Menschen in
Deutschland sind nicht so schutzbedürftig, dass 90 Prozent der GKV angehören müssen und nur 10 Prozent privat versichert sein dürfen.
Noch ein paar Bemerkungen zur Pflegeversicherung.
Im Antrag der Union finden wir zu Recht die Feststellung,
dass „die Überschüsse, soweit sie die gesetzlichen Mindestreserven von 2,05 Milliarden Euro übersteigen, bis
zum Jahr 2006 aufgezehrt sein“ werden. Danach, liebe
Kolleginnen und Kollegen aus den großen Fraktionen,
erübrigen sich Anträge, die wünschenswerte Leistungsausweitungen zum Inhalt haben, ohne die Finanzierung
langfristig zu sichern. Wir müssen erkennen, dass wir
dann sehenden Auges in einen selbst geschaffenen Engpass und Kostendruck hineinlaufen, der nur durch Erhöhung der Pflichtbeiträge zu beheben ist. Diesen Weg
gehen wir als FDP nicht mit.
({13})
Wir müssen uns jetzt vielmehr daranmachen, die Pflegeversicherung sowohl im Hinblick auf Zielgenauigkeit,
Effizienz und Organisation als auch im Hinblick auf die
Folgerungen aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil
zur Entlastung der Familien ohne Vorbehalte auf den Prüfstand zu stellen. Wir brauchen eine öffentliche Diskussion
darüber, was und wie viel zukünftig über die Pflegeversicherung finanziert werden soll und kann und welcher Beitrag aus eigener Kraft, zum Beispiel über den Aufbau einer ergänzenden kapitalgedeckten Säule der privaten
Eigenvorsorge, geleistet werden kann.
Letzte Bemerkung. Der Kanzler hat gesagt: Der Mut
wächst. Die FDP hat festgestellt: Der Unmut wächst.
({14})
Wenn Rot-Grün in der Gesundheitspolitik so weitermacht
wie bisher, dann wird Lafontaines Buchtitel in der Tat öffentliche Meinung: Die Wut wächst.
({15})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Regina Schmidt-Zadel von der SPDFraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Union suggeriert mit
ihrem Antrag, über den wir heute diskutieren, es gebe eine
Krise in der deutschen Sozialversicherung.
({0})
Schon die Überschrift ihres Antrags ist
({1})
nur heiße Luft. Es gibt weder eine Krise noch krisenhafte
Entwicklungen in der Sozialversicherung.
({2})
Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
({3})
Wir haben es weder mit einem Wende- noch mit einem
Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung zu tun, wie
Sie den Menschen zu suggerieren versuchen.
({4})
- Sie können nachher reden. Dann können Sie noch lauter schreien.
({5})
Es gibt auch keinen Fieberanfall als Wendepunkt einer Infektionskrankheit; das kann ich jedenfalls nicht erkennen.
Plötzlich auftretende heftige Schmerzanfälle sind in unserem Sozialsystem ebenfalls nicht zu verspüren. Nachdem ich die Reden heute Morgen gehört habe, muss ich
sagen:
({6})
Bei einigen Reden sind wirklich heftige Schmerzanfälle
zu spüren gewesen.
({7})
Die Union behauptet in ihrem Antrag, unter Rot-Grün
habe die Versorgung der Patienten und Pflegebedürftigen
an Qualität verloren. An dieser Aussage - Herr Lohmann,
hören Sie gut zu! ({8})
ist zweierlei bemerkenswert. Erstens ist sie falsch. Zweitens belegt sie, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, einmal gut aufgepasst haben. Sie haben
jetzt endlich begriffen, dass die Qualität der Versorgung
der entscheidende Parameter im Gesundheitswesen ist.
Das Wort „Qualität“ in der medizinischen Versorgung haben Sie erst in den letzten Jahren durch uns kennen gelernt.
({9})
Es blieb Rot-Grün vorbehalten, die Qualität zum Leitmotiv in der gesetzlichen Krankenversicherung zu erheben.
Wir führen heute also eine Phantomdiskussion über die
deutsche Sozialversicherung.
Nein, Sie betreiben Ihren Wahlkampf konsequent. Das
war heute auch wieder zu hören. Ich sage dazu: Meinungen über Tatsachen sind weniger als die Tatsachen selbst.
Sie reden unser Sozialsystem schlecht, um das Feld für
Ihren rabiaten Umbau zu bestellen, meine Damen und
Herren. Das ist der Hintergrund.
({10})
In der Gesundheitspolitik sind Sie darauf aus, das Solidarprinzip auszuhöhlen und langfristig durch ein Prinzip der individuellen Risikovorsorge abzulösen. Sie
wollen das Risiko Krankheit Schritt für Schritt privatisieren, meine Damen und Herren. Das ist der Hintergrund Ihres Programms.
({11})
Dieser Systemwechsel ist ein Spiel mit dem Feuer. Seit
mehr als 100 Jahren stehen die Gesunden für die Kranken,
die Jungen für die Alten, die finanziell Starken für die finanziell Schwachen und die Singles für Familien ein. Das
Solidarprinzip eröffnet den kranken Menschen ohne
Rücksicht auf ihren Geldbeutel den Zugang zu den medizinisch notwendigen Leistungen. Das ist es, was wir erhalten wollen.
({12})
Sie legen zwar Lippenbekenntnisse zum Solidarprinzip ab. Jedoch schon Ihr offizielles Wahlprogramm durchlöchert und entwertet das Solidarprinzip ganz erheblich.
Ihr Alternativmodell der Wahltarife soll es erlauben, den
umfassenden Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine maßgeschneiderte Risikovorsorge abzulösen. Die Zechen für die neuen Freiheiten hätten dann
die Kranken zu bezahlen und vor allen Dingen die chronisch Kranken.
({13})
Nur Junge und Gesunde können es sich nämlich leisten
und riskieren, Wahloptionen auszuüben. Sie würden dafür
mit Beitragsnachlässen belohnt - das sagen Sie ja -, aber
dadurch käme weniger Geld in das System. Die Gesundheitskosten würden jedoch nicht sinken.
Sie haben ja - wir haben das heute Morgen gehört ({14})
in Ihr Wahlprogramm geschrieben, dass auch rechnen lernen zu Ihrem Wahlprogramm gehört. Vielleicht rechnen
Sie ja auch einmal in dieser Hinsicht und lernen, dass das
nicht stimmt.
Die Kranken müssten zwangsläufig eine größere Last
schultern, und zwar besonders die chronisch kranken Menschen. Wahltarife sind zudem frauen- und familienfeindlich.
Mit Ihrem Wahlprogramm leisten Sie den Einstieg in
den Ausstieg aus dem Solidarprinzip. Das ist die Tatsache.
({15})
Sie schulden den Wählerinnen und Wählern im Übrigen noch wichtige Informationen zu Ihrem Wahltarifmodell. Wie wollen Sie denn mit den Versicherten umgehen, bei denen sich ein abgewähltes Risiko wider
Erwarten doch konkretisiert? Wollen Sie unterversicherte
Menschen mit dem Hinweis auf ihre eigenverantwortliche Entscheidung sich selbst überlassen oder sollen sie
auf die Solidarität ihrer Familien bauen oder eventuell auf
die Fürsorge karitativer Organisationen angewiesen sein?
Oder soll dann doch der Steuerzahler über die Sozialhilfe
einspringen und soll die Allgemeinheit dafür geradestehen, dass jemand mit Wahltarifen Rosinenpickerei betrieben hat, meine Damen und Herren? Das kann es ja wohl
nicht sein. Das wird auch nicht kommen.
Weiter: Wie lange soll denn ein Versicherter an einen
Wahltarif gebunden sein? - Sein Leben lang oder nur für
eine bestimmte Zeit? Welchen Beitrag muss er zusätzlich
zahlen, wenn er den Wahltarif abwählt oder ihm sein Gesundheitszustand das nahelegt? Soll er denselben Beitrag
zahlen - auch darauf gibt es keine Antwort - wie ein Versicherter, der nicht für einen Wahltarif optiert hat, oder
soll er einen höheren Obolus entrichten, weil er sich befristet aus einem solidarisch finanzierten Leistungssegment verabschiedet und das Krankheitsrisiko in dieser
Zeit nicht mitgetragen hat?
Soll auch der Arbeitgeber vom niedrigen Beitrag der
Wahlfreiheiten profitieren?
({16})
Werden dann Arbeitgeber - das sagen Sie ja und das ist
ein ganz wesentlicher Punkt - die Einstellung davon abhängig machen, dass Bewerber für einen Wahltarif optiert
haben, der Lohnnebenkosten spart?
({17})
Droht älteren, häufiger krank werdenden Arbeitnehmern
auf diese Art und Weise die Verdrängung aus dem Arbeitsmarkt? Das wäre das Fazit Ihres Wahltarifes.
({18})
Schließlich: Wie vertragen sich die frauen- und familienfeindlichen Wahltarife mit der von Ihnen immer vorgeschobenen angeblichen Fokussierung der Unionspolitik auf die
Familien? Auch das lässt sich ja damit nicht vereinbaren.
Viele Fragen, meine Damen und Herren, auf die Sie
bisher jede substanzielle Antwort schuldig geblieben sind.
Dass Sie gesundheitspolitisch noch einiges im Schilde
führen, steht für mich fest. Die von der Union viel beschworene Stärkung der Eigenverantwortung heißt in erster Linie Eigenzuzahlung.
({19})
- Eigenverantwortung heißt auch bei Ihnen, Herr Parr, zuzahlen.
({20})
Das ist so wenig vom Tisch wie die Abzockerei der Patienten.
({21})
- Sie können sich noch mehr aufregen, aber sie ist nicht
vom Tisch.
Sie lassen die Wähler über Ihre wahren Absichten
wohlweislich im Unklaren. Das ist die Situation. Dass der
Wolf vor dem Wahltag nur Kreide frisst - das gilt auch für
Sie, Herr Wolf -,
({22})
belegen die aktuellen Forderungen Ihres Wirtschaftsrates. Lesen Sie doch bitte einmal nach, was Ihr Wirtschaftsrat geschrieben hat.
({23})
Das ist ja nicht irgendein Rat bei Ihnen,
({24})
sondern Sie alle sind gut beraten, seine Thesen sehr ernst
zu nehmen.
({25})
Der Wirtschaftsrat will eine kapitalgedeckte individuelle
Vorsorge einführen. Ich frage lieber nicht danach, wer die
Kosten für die notwendigen Übergangslösungen bezahlen
soll. Das beträfe doch die Versicherten und diejenigen, die
Sie immer mit Ihren Programmen zu schützen vorgeben.
Das Gegenteil ist der Fall.
({26})
Wir haben allen Grund zur Annahme, dass die Finanzierung dieses Systemwechsels genauso sorgfältig durchdacht
und durchgerechnet ist wie die der steuer- und familienpolitischen Großtaten, die Sie den Wählerinnen und Wählern
verheißen und die ebenfalls nicht finanzierbar sind.
({27})
Außerdem hat der Wirtschaftsrat dankenswerterweise
auch in puncto Grund- und Wahlleistungen die Maske
fallen lassen:
({28})
Patienten sollen für nicht näher genannte Zusatzleistungen extra zahlen. Aus taktischen Überlegungen habe sich
die Union in ihrem Wahlprogramm aber nicht dafür ausgesprochen. Man sollte gut hinhören.
({29})
Ferner soll jeder Versicherte nach den Vorstellungen
Ihres Wirtschaftsrates für Unfälle bei Risikosportarten
selbst vorsorgen. Nicht nur in dieser Frage geht es in der
Union drunter und drüber. Der ehemalige Gesundheitsminister Horst Seehofer hat sich gegen diesen Vorschlag
ausgesprochen. Die bayerische Gesundheitsministerin hat
sich für ihn stark gemacht.
({30})
Sie ist zurückgepfiffen worden. Nun setzt sich Ihr Wirtschaftsrat für diese Thesen ein. Was gilt nun eigentlich?
Haben wir es vielleicht mit zwei Wahrheiten zu tun? Eine,
die vor dem Wahltag verkündet wird, und eine, die nach
ihm gilt? Der Eindruck entsteht.
({31})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
bitte versäumen Sie nicht, auch einem bekannten Fallschirmspringer in dieser Sache reinen Wein einzuschenken.
Fallschirmspringen gehört ja selbst dann zu den extrem gefährlichen Sportarten, wenn die Reißleine rechtzeitig gezogen wird.
({32})
Dazu ist dieser bewusste Sportler, wie wir alle wissen, leider nicht immer in der Lage.
({33})
Die gesundheitspolitische Vielstimmigkeit in der
Union unterstreicht einmal mehr die Wahrheit des Satzes,
dass den Menschen die Sprache gegeben ist, um ihre Gedanken zu verbergen. Das scheint auch bei Ihnen der Fall
zu sein. Die Wähler haben aber Anspruch darauf, von Ihnen die volle Wahrheit über Ihre Vorstellungen zu erfahren, und zwar noch vor der Wahl.
In der Pflegeversicherung hat die rot-grüne Koalition
({34})
ihre Hausaufgaben in dieser Legislaturperiode gemacht.
Wir haben die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen,
({35})
dass die Qualität der Pflege spürbar und nachhaltig verbessert werden kann. Wir haben erste Schritte getan, um
die Situation der Demenzkranken und die derjenigen, die
sie pflegen, zu verbessern.
({36})
Niemand bestreitet, dass diese Maßnahmen nicht ausreichend sind. Aber wir haben etwas in unserer Regierungszeit getan, während Sie nichts getan haben.
({37})
- Sie haben Vorschläge gemacht, aber Sie haben sie nicht
umgesetzt.
({38})
Wir haben, wie gesagt, etwas für Demenzkranke getan
und darauf sind wir stolz.
({39})
Unsere zukünftige zentrale gesundheitspolitische Aussage lautet: Die SPD hält uneingeschränkt und vorbehaltlos am Solidarprinzip fest. Wir wollen, dass auch in
Zukunft jeder Mann und jede Frau Zugang zu den medizinisch notwendigen Leistungen haben, ohne dass dabei
die persönliche finanzielle Situation eine Rolle spielt. Das
ist unser Credo für die Wahl, aber auch für unsere Politik.
Sie vermitteln den Eindruck, dass wir heute hier zusammengekommen sind, um Ihre Selbstbeweihräucherung zu erleben. In Ihrem Antrag betreiben Sie wieder einmal Schönfärberei Ihrer Gesundheitspolitik. Zurzeit Ihrer
Regierung müssen danach im Gesundheitswesen paradiesische Zustände geherrscht haben. Aber ich erinnere Sie
erneut daran, weswegen Sie abgewählt worden sind: wegen der Gesundheitspolitik.
({40})
Sie werden auch nicht wiedergewählt, weil Sie in diesem
Bereich keine vernünftigen Lösungen haben.
({41})
Wenn Ihr Verklärungssyndrom weiter um sich greift,
werden Sie sich und allen demnächst noch weismachen
wollen, Sie hätten uns geordnete Staatsfinanzen hinterlassen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kollegin Frau Dückert
hat heute Morgen noch einmal auf die Beträge hingewiesen. Sie haben uns ein desolates Finanzsystem hinterlassen. Wir haben in den letzten vier Jahren versucht, das zu
ändern, auch in der Krankenversicherung.
({42})
- Da gab es keine Überschüsse. Sie haben abgezockt und
keine Überschüsse für die Patienten gehabt, sondern Zuzahlungen. Wir werden die Gesundheitsreform nicht nur
in dem Sinne, in dem wir sie begonnen haben, fortführen,
({43})
wir werden auch die Solidarität erhalten und alles tun, um
die Menschen davor zu bewahren, dass Ihre Vorstellungen
nach dem 22. September Gestalt annehmen.
({44})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Wolfgang Zöller von der CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau SchmidtZadel, so sicher meine Stimme aufgrund einer Erkältung
in einer Krise ist, so sicher befindet sich das deutsche Gesundheitswesen in einer Krise, nur mit dem gravierenden
Unterschied: Meine Krise ist bald überwunden, die rotgrüne Krise im Gesundheitswesen jedoch nicht.
({0})
Alle Verantwortlichen sollten wirklich mit Ernst an die
Sache herangehen; daran kommt doch niemand vorbei, das
wissen Sie. Wir haben die höchsten Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung seit ihrem Bestehen. Wir
haben mit durchschnittlich 14 Prozent einen Beitragssatz,
den es noch nie gab, aber trotz dieser erhöhten Beiträge ein
neues Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Besonders besorgniserregend ist für mich: Parallel
dazu findet eine Verschlechterung der medizinischen
Versorgung der Patienten statt. Die Beitragsanhebungen
haben also nicht zur Finanzierung einer besseren medizinischen Versorgung beigetragen.
({1})
Dafür ist Rot-Grün verantwortlich. Frau SchmidtZadel, da können Sie reden, wie Sie wollen, das halten wir
Ihnen immer wieder vor: Sie haben 1998 ein System übergeben bekommen, in dem es Milliarden Überschüsse gegeben hat
({2})
und in dem über rund zehn Jahre die Beiträge stabil waren. Das können Sie nicht bestreiten.
({3})
Sie hätten, hätten Sie diesen Zustand und die Zeit genutzt, eine Reform auf den Weg bringen und etwas
Sinnvolles tun können. Diese Chance haben Sie leider
vertan.
({4})
Zudem hat sich die Gesundheitsministerin zu Beginn
ihrer Amtszeit in, wie ich meine, völliger Verkennung der
realen Lage dafür entschieden, eine Gesundheitsreform
erst nach der Bundestagswahl vorzulegen. Was sollen die
Bürger eigentlich von einer Regierung halten, die es in
fast vier Jahren nicht geschafft hat, eine nachhaltig wirksame Reform vorzulegen?
({5})
Vielleicht können wir uns, auch wenn es jetzt kurz vor
der Wahl ist, doch auf Folgendes einigen: Wenn man eine
nachhaltig angelegte Reform, die diesen Namen verdienen soll, will, müssen folgende Punkte berücksichtigt
werden: erstens Prävention als gesamtgesellschaftliche
Aufgabe;
({6})
zweitens demographische Entwicklung; drittens medizinisch-technischer Fortschritt; viertens Unter-, Über- und
Fehlversorgung besonders bei chronisch Kranken; fünftens Beitragssatzstabilität kontra Rationierung; sechstens
ausufernde Verwaltungskosten bei Kassen und Leistungserbringern; siebtens Gesundheitswesen endlich als Wirtschaftsfaktor begreifen; achtens Vollkasko-Mentalität;
neuntens mittel- und langfristige Finanzierung der Ausgabenseite und besonders der Einnahmenseite der gesetzlichen Krankenversicherung in Kombination mit einer
Steuerreform.
Was bietet Rot-Grün zu diesem Konzept? Rationieren,
kontrollieren und reglementieren. Das ist die ganze Philosophie im Gesundheitswesen von Rot-Grün.
({7})
Mit einem Übermaß an Bürokratie wird jeder Leistungswille erstickt und die im Gesundheitswesen Tätigen werden von ihrer eigentlichen Aufgabe, der Zuwendung zu
den Patienten, abgehalten.
Mit der Budgetierung riskieren Sie ganz bewusst, dass
Gesundheitsleistungen nach den Prinzipien einer Mangelverwaltung zugeteilt werden. Auch mit der Einschränkung der Therapiefreiheit der Ärzte durch Ihre nicht praktikable Aut-idem-Regelung gefährden Sie die Qualität der
Arzneimitteltherapie. Die Patienten sollen nicht mehr das
beste, sondern ausschließlich das billigste Medikament
erhalten.
({8})
- Selbstverständlich, leider stimmt es.
Mit dem geplanten Behandlungsprogramm für chronisch
Kranke vollziehen Sie jetzt eine Abkehr von einer an der individuellen Situation der Patienten ausgerichteten Therapie.
({9})
Die Ärzte sollen sich nur noch an Standards und Checklisten orientieren. Am Ende stehen dann nicht mehr der
Patient und dessen gesundheitliche Bedürfnisse im Mittelpunkt, sondern es gibt schematische Behandlungen unter ökonomischen Zwängen der Kassen.
Durch die Verknüpfung mit dem Risikostrukturausgleich schaffen Sie zusätzlich Probleme. Sie wollen im Juli
dieses Jahres vier von zehn wichtigen chronischen
Erkrankungen in dieses Programm aufnehmen. Das heißt,
für diese vier Erkrankungen versprechen Sie den chronisch
Kranken mehr Leistungen. Aber Sie verschweigen, dass
Sie gleichzeitig den an einer der sechs anderen chronischen
Krankheiten Leidenden Leistungen vorenthalten müssen.
({10})
Das gehört doch auch zur Wahrheit.
Zu Ihren Ankündigungen, mit Internet- und Versandhandel im Arzneimittelbereich Geld zu sparen, sage ich
Ihnen: Das wird ein Schlag ins Wasser. Das Ergebnis wird
sein: Sie werden, erstens, Arbeitsplätze ins Ausland verlagern und Sie gefährden, zweitens, eine flächendeckende
Versorgung in Apotheken. Sie gefährden außerdem die
Arzneimittelsicherheit. Nachdem wir heute früh über Risiken gesprochen haben, habe ich eine Frage: Wie wollen
Sie eine Rückrufaktion beim Internethandel durchführen?
({11})
Auch das hat etwas mit Arzneimittelsicherheit zu tun. Es
tut mir Leid: Wenn Sie schon einmal etwas anpacken,
dann denken Sie es leider nicht bis zum Ende durch. Hier
gilt: Das Gegenteil von „gut“ ist „gut gemeint“.
Weil Sie immer nach Alternativen rufen: Wir können sie
Ihnen sagen. Wir müssen endlich einmal gemeinsam einen
völligen Neuanfang in der Gesundheitspolitik wagen.
Auch dazu haben wir drei Kernelemente vorgeschlagen.
Erstens. Wir wollen Qualität und Prävention im deutschen Gesundheitswesen. Deshalb brauchen wir ein bundesweites Aktionsprogramm Prävention und ein Anreizsystem in der gesetzlichen Krankenversicherung, das
gesundheitsbewusstes Verhalten finanziell belohnt.
Zweitens. Die Beteiligten im Gesundheitswesen müssen endlich von den Fesseln der Reglementierung und der
Listenmedizin befreit werden.
({12})
Wir wollen den Ärzten, den Krankenkassen und den Versicherten die Freiheit geben, die bestmögliche Form der
Versorgung für die Patienten zu finden. Dazu bedarf es der
Möglichkeit, Verträge und Organisationsmodelle zu vereinbaren, die den Bedürfnissen vor Ort wesentlich mehr
gerecht werden. Nicht Bürokratie und Budgets, sondern
Freiheit und Wettbewerb sind die Antwort auf die Probleme unseres Gesundheitssystems.
({13})
Drittens. Wir wollen den Patienten mehr Selbstbestimmungsrechte geben.
({14})
Sie sollen in Zukunft selber über den Leistungsumfang
ihrer Versicherung entscheiden können. Nicht die Funktionäre im Gesundheitswesen müssen gestärkt werden,
sondern die Patienten und Versicherten.
({15})
Deshalb ist das zentrale gesundheitspolitische Anliegen
der Union die Stärkung der Rolle der Patienten.
Ein Vertragswettbewerb innerhalb klarer sozialpolitischer Spielregeln ist eher als gesetzliche Reglementierungen dazu geeignet, die Strukturdefzite des Gesundheitswesens zu beseitigen, die Qualität der medizinischen
Versorgung zu verbessern und - Frau Schmidt-Zadel, jetzt
kommt es ({16})
die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen. Nur dieser Richtungswechsel bringt unser Gesundheitssystem wieder an die
Spitze; denn dort gehört es eigentlich hin. Jeder sagt: Gesundheit ist mein höchstes Gut. - Wenn das so ist, dann
müssen wir entsprechende Rahmenbedingungen schaffen.
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, nicht
die im Gesundheitswesen Beschäftigten, sondern die politischen Rahmenbedingungen müssen reformiert werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Mehrheit der
Bevölkerung dies am 22. September 2002 so sehen wird.
({18})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Erika Lotz von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Den Rednerinnen und Rednern von
CDU/CSU und FDP habe ich sorgfältig zugehört. Ich
habe mich gefragt, von welchem Land sie sprechen. Von
unserem doch sicherlich nicht.
Herr Singhammer, Sie haben von den sieben Todsünden
gesprochen. Nun gestehe ich, nicht sehr bibelfest zu sein.
({0})
Aber eines der Zehn Gebote kenne ich schon - ich kenne
natürlich alle zehn; aber dieses eine kenne ich besonders
gut -: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen
Nächsten. - Herr Singhammer, in Ihrer Rede haben Sie
pausenlos dagegen verstoßen.
({1})
Lassen Sie mich als Sozialpolitikerin ein Wort zum
Steuersystem sagen. Ich komme wie Herr Weiß aus
Hessen.
({2})
Ich weiß, dass es während Ihrer Regierungszeit beispielsweise im Finanzamt Bad Homburg - es liegt im MainTaunus-Kreis; dort wohnen nicht gerade arme Menschen - Phasen gab, in denen die Einnahmen aus der Erhebung der Kfz-Steuer höher waren als die aus der Erhebung der Einkommensteuer. Dieses Finanzamt musste
überwiegend zu viel gezahlte Einkommensteuer zurückzahlen. Seit unserer Steuerreform hat dieses Finanzamt
wieder Einnahmen aus der Erhebung der Einkommensteuer. Erzählen Sie also nicht, unsere Steuerreform sei
falsch!
({3})
Herr Weiß, Sie haben sich sehr in der Schwarzmalerei
geübt. Seitdem wir regieren - das muss ich Ihnen sagen -,
steht die soziale Gerechtigkeit im Vordergrund.
({4})
Wir haben den Reformstau der 16-jährigen Kohl-Ära aufgelöst. Wir haben ein gutes Stück sozialer Gerechtigkeit
geschaffen. Das bedeutet Chancengleichheit zwischen
Frauen und Männern gerade in den sozialen Systemen.
Der neue DGB-Vorsitzende Michael Sommer hat dieser Tage gesagt: Vier Jahre Schröder haben den Arbeitnehmern mehr gebracht als 16 Jahre unter Kohl. - Recht
hat er.
({5})
Jetzt sprechen CDU und CSU schon wieder von einer
Krise in der Sozialversicherung. Den dazu vorliegenden
Antrag hätten Sie in Ihrer Regierungszeit verfassen und
einbringen sollen. Da hätten Sie den Nagel auf den Kopf
getroffen. Die Krise in der Sozialversicherung betraf zu
Ihrer Zeit vor allem Mütter. Zur Verbesserung von deren
Situation haben wir viel getan. Mit unserer Rentenstrukturreform haben wir die besondere Lage von Frauen im
Alter einbezogen. 1991 wussten auch Sie, Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU, dass die Alterssicherung der Frauen dringend verbessert werden müsste.
Das Bundesverfassungsgericht hatte damals die Regierung Kohl dazu aufgefordert. Geändert haben Sie aber
nichts.
({6})
Im Gegenteil: Die Blüm-Reform, die Sie jetzt gern wieder aus der Schublade holen würden, hat für Frauen nichts
vorgesehen. Erst Rot-Grün hat das Problem angepackt.
Durch die Rentenstrukturreform werden Mütter in Zukunft im Alter besser dastehen, ganz gleich, für welche
Lebensform sie sich entscheiden.
Natürlich leben die meisten jungen Frauen heute anders als ihre Mütter und Großmütter. Nach der Geburt des
Kindes versuchen sie, schnell wieder erwerbstätig zu werden oder es zu bleiben. Das wird immer selbstverständlicher, damit erwerben Frauen zunehmend eigene Anwartschaften für die Rente, und das ist gut so.
Trotzdem gibt es immer noch frauenspezifische Lücken
in den Erwerbsbiografien. Diese haben Sie vollständig
ignoriert.
({7})
Für Sie ist die einzige Form der Alterssicherung für
Frauen immer noch die Hinterbliebenenrente, und das
im 21. Jahrhundert. Solange die Kinder klein sind, können
Frauen oft nur Teilzeit arbeiten, gering bezahlte Jobs
annehmen. Deshalb sieht unsere Reform vor, dass die
Rentenanwartschaften für die ersten zehn Lebensjahre
der Kinder aufgestockt werden. Konkret heißt das: Die
Beiträge zur Rentenversicherung von Müttern, die unterdurchschnittlich verdienen, werden bis zum Durchschnittsbeitrag um die Hälfte erhöht.
Auch im Hinblick auf eigene Rentenanwartschaften ist
es für Frauen gut, während der Kindererziehung erwerbstätig zu bleiben. Im Übrigen ist die Höherbewertung auch
eine Möglichkeit, die Rentenanwartschaften allein erziehender Mütter zu verbessern. Abgesehen davon helfen wir
den erwerbstätigen Müttern auch auf andere Weise; denn
der Bund wird ab dem nächsten Jahr Ländern und Kommunen jedes Jahr 1 Milliarde Euro für die Kinderbetreuung zur Verfügung stellen, damit Frauen berufstätig sein
können und sich die Betreuungssituation verbessert.
({8})
Wir konzentrieren uns aber nicht nur auf die berufstätigen Mütter. Es gibt auch Ausgleichsmaßnahmen für
die Frauen, die überhaupt nicht erwerbstätig sein können,
weil sie zwei oder mehr Kinder oder ein pflegebedürftiges
Kind haben. Auch für sie wird es einen Aufstockungsbetrag geben.
Zum ersten Mal spielt in Zukunft Kindererziehung
auch bei der Hinterbliebenenrente eine Rolle. Ja, wir haben die Hinterbliebenenrente maßvoll von 60 Prozent auf
55 Prozent gesenkt. Gleichzeitig gilt aber, dass Frauen,
die Kinder erzogen haben, trotzdem eine höhere Hinterbliebenenrente erhalten. Unsere Reform bestimmt für
das erste Kind einen Zuschlag von 2 Entgeltpunkten und
für jedes weitere Kind Zuschläge von 1 Entgeltpunkt. Am
Ende bedeutet das: Die Hinterbliebenenrente ist höher.
Frau Kollegin Lotz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Laumann?
Ich denke, Herr Laumann, Sie hatten eigentlich Gelegenheit zu reden. Sie haben Ihre Redezeit abgetreten, dann wollen wir es auch dabei belassen.
Die Witwe eines Durchschnittsrentners, die ein Kind
erzogen hat, erhält nicht weniger Hinterbliebenenversorgung als die Witwe eines Durchschnittsrentners heute;
wenn sie zwei Kinder hat, erhält sie sogar mehr.
Wichtig ist auch: Alle Neuregelungen im Hinterbliebenenrecht gelten nicht für die heutigen Witwen, sie gelten
für Ehepaare, die entweder nach In-Kraft-Treten der Reform heiraten, jetzt also noch nicht verheiratet sind, oder
bei denen beide Partner nach dem 1. Januar 1962 geboren
sind. Das ist eine Tatsache, die die CDU verschweigt. Viel
schlimmer noch: Sie versucht, Witwen, Rentnerinnen und
Rentner damit zu verunsichern. Das ist unredlich und unseriös. Hören Sie endlich damit auf!
({0})
Außerdem gibt es die Möglichkeit, Rentenanwartschaften, die in einer Ehe erworben wurden, partnerschaftlich
zu teilen. Das müssen beide Ehepartner wollen. Auch das
gilt für Ehen, die ab 2002 geschlossen werden, oder für
bestehende Ehen, wenn beide Ehegatten jünger als 40
sind. Rentensplitting führt in aller Regel zu höheren eigenständigen Rentenleistungen für die Ehefrauen. Das
entspricht einem veränderten Partnerschaftsverständnis
von Mann und Frau. Das ist keine Zumutung, wie Sie
es in Ihrem Wahlprogramm behaupten. Es ist vielmehr ein
Einstieg und ein Angebot, in der Ehe gemeinsam Erworbenes auch bei der Rente zu teilen. Für viele junge
Ehepaare entspricht das Splitting, also das Teilen von gemeinsam Erworbenem, viel mehr ihrer Lebenswirklichkeit als die traditionelle Hinterbliebenenversorgung.
Unsere Reform sieht ab 2003 die Grundsicherung
vor. Davon profitieren vor allem Frauen. Gerade ältere
Frauen mit geringen Renten beantragen oft keine Sozialhilfe, obwohl sie Anspruch darauf hätten, weil sie vielfach
befürchten, dass ihre Kinder für sie zahlen müssen. Diese
Grundsicherung wollen Sie von der Union wieder abschaffen. Sie wollen also weiterhin sehenden Auges die
verschämte Altersarmut - insbesondere die Altersarmut
von Frauen, die in ihrem Leben viel gearbeitet haben - in
diesem Land hinnehmen. Wir wissen jetzt aber immerhin,
was CDU und CSU unter „Alterslohn für Lebensleistung“
verstehen. Die Kindererziehung gehört für Sie offenbar
nicht zur Lebensleistung.
({1})
Ich möchte hier die Verbesserungen für Mütter, die sich
durch die Rentenstrukturreform ergeben, darstellen. Die
Änderungen waren längst überfällig. Die CDU/CSU hat
es in den 16 Jahren Kohl-Regierung nicht geschafft, das
zu tun, was nötig ist. Ihrem Wahlprogramm ist nicht zu
entnehmen, dass Sie vorhaben, in Zukunft etwas für die
Frauen zu tun. Im Interesse der Frauen haben wir vieles
nachgeholt, was Sie versäumt haben oder sehenden Auges
zugelassen haben. Das gilt selbstverständlich nicht nur für
die Rentenversicherung.
Lassen Sie mich auf unser Altersvermögensgesetz zu
sprechen kommen. In einem Redebeitrag wurde das vorhin so dargestellt, als ob geringer Verdienende benachteiligt würden. Bei denjenigen - es handelt sich insbesondere
um Frauen -, die ein geringeres Einkommen haben, wird
- je nach Fall - die staatliche Förderung bis zu 90 Prozent
der Gesamtsumme ausmachen. Wie Sie vor diesem Hintergrund davon reden können, dass geringer Verdienende
benachteiligt würden, kann ich nicht verstehen.
({2})
Ich möchte ein Beispiel nennen: Für eine teilzeitbeschäftigte Verkäuferin mit einem Jahreseinkommen in
Höhe von 15 000 Euro bedeuten die 4 Prozent, die sie sparen kann, 600 Euro. Mit einem Kind erhält sie eine Förderung von insgesamt 339 Euro. Sie wird also einen Betrag in Höhe von 261 Euro im Jahr als Eigenanteil
bezahlen müssen. Die Förderung macht also über 50 Prozent des Beitrages aus. Vor diesem Hintergrund können
Sie nicht sagen, dass Frauen und Geringverdiener benachteiligt werden. Sie versuchen, eine gute Regelung
madig zu machen. Die Menschen werden das merken.
Ich möchte auf weitere Aspekte zu sprechen kommen,
die belegen, dass wir eine gute Politik gemacht haben; wir
werden sie auch weiterhin machen. Wir haben die geringfügig beschäftigten Frauen in den Schutz der Sozialversicherung zurückgeholt. Damit haben wir eine Erosion des
Normalarbeitsverhältnisses verhindert und für Solidarität
im Bereich der Renten- und Krankenversicherung hinsichtlich der Beiträge gesorgt. Wir haben das Teilzeit- und
Befristungsgesetz verabschiedet. Mütter und Väter haben
jetzt einen Anspruch auf eine Teilzeitstelle und müssen
sich nach Ablauf der Elternzeit nicht mehr entscheiden, ob
sie Vollzeit arbeiten wollen oder gar nicht mehr erwerbstätig sein wollen.
All das wollen Sie wieder rückgängig machen. Die
Frauen und Männer in diesem Land haben schon lange erkannt, bei wem sie gut aufgehoben sind. Ich möchte die
Aussage von Michael Sommer wiederholen: Vier Jahre
Schröder haben den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen mehr gebracht als 16 Jahre Kohl.
Danke schön.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der
Kollege Dr. Norbert Blüm von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich beginne mit einer grundsätzlichen
Bemerkung, die allerdings im aktuellen Zusammenhang
mit dem steht, was wir heute diskutieren. Die Quelle des
Sozialstaats ist die Arbeit, da kann in Deutschland regieren, wer will. Weil der Sozialstaat vom Sozialprodukt, vom
Erfolg der Arbeit abhängt, Herr Kollege Brandner,
({0})
Frau Kollegin Dückert und andere, ist es geradezu borniert, zu glauben, die Staatsquote könne nur durch Kürzungen im Sozialbereich reduziert werden. Das ist Ausdruck zumindest eines beschränkten, eigentlich aber eines
bornierten Denkens.
({1})
So viel können Sie gar nicht sparen, wie Arbeitslosigkeit
kostet.
({2})
- Wenn Sie es gestatten, rechne ich es Ihnen noch vor.
Dann können Sie vielleicht meine Rechnung infrage
stellen.
Herr Kollege Blüm, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Dückert?
Bitte.
Bitte
schön.
({0})
Herr Kollege Blüm, können Sie einmal darlegen, woher
die 170 Milliarden Euro kommen sollen? Sie brauchen
mir nicht vorzurechnen, wie sie zustande kommen. Mir
geht es darum, wie Sie sie finanzieren wollen. Wir sind
nämlich auf der Suche nach Ihrem Goldesel.
Nehmen Sie doch
bitte Platz!
Nein, sie
soll stehen bleiben.
({0})
Aber vielleicht haut
sie meine Antwort um. Das wollte ich vermeiden.
({0})
Liebe Frau Kollegin Dückert, ich mache es an einem
Beispiel deutlich: Wenn man 100 000 Arbeitslose in
Beschäftigung bringt, entlastet dies die Bundesanstalt um
3 Milliarden. Daraus können Sie unschwer errechnen,
dass eine Million zusätzlich Beschäftigter sie um 30 Milliarden entlastet. Darin ist noch nicht einbezogen, dass die
Sozialausgaben sinken und die Einnahmen steigen, wenn
mehr Menschen beschäftigt sind. So einfach ist das!
({1})
- Was richtig ist, ist richtig.
Wissen Sie, warum die Sozialdemokraten - Sie sind offenbar davon angesteckt - das nicht kapieren? - Sie sind
Techniker der Melkmaschine, während wir wissen, dass
eine gut gefütterte Kuh mehr Milch gibt. Das ist der Unterschied.
({2})
Wenn Sie mir nicht glauben, mache ich es Ihnen an einem anderen Beispiel deutlich: Zwischen 1982 und 1989,
also in der Regierungszeit von Helmut Kohl, sank der
Staatsanteil von 50,1 Prozent auf 45,8 Prozent, obwohl die
Sozialaufwendungen pro Kopf stiegen. Das heißt, dass die
Renten gestiegen sind, obwohl der Staatsanteil gesunken
ist. - Ist das zu kompliziert für Sie, Frau Dückert? Dann
würde ich es Ihnen noch einmal erklären.
Die Soziallastquote sagt über die Qualität des Sozialstaats überhaupt nichts aus.
({3})
Sagte die Soziallastquote etwas über die Qualität des Sozialstaates aus, wäre ein Anstieg der Arbeitslosigkeit ein
Beitrag zum Ausbau des Sozialstaates, da mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit auch die Ausgaben ansteigen.
Das wird hier doch aber niemand behaupten.
({4})
- Fällt es mir wirklich so schwer, mich verständlich zu
machen? - Sie haben heute morgen nur gefragt, wie man
den Staatsanteil durch Kürzungen entlasten könne. Ich
sage, dass dies nicht der einzige Weg ist. Mehr Erfolg verspricht die Teilhabe der Menschen an Arbeit.
({5})
Herr Kollege Blüm, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dreßen? Zwischenfragen werden grundsätzlich nicht auf
die Redezeit angerechnet. - Bitte schön, Herr Dreßen.
({0})
Kollege Blüm, das mag ja stimmen. Dann frage ich mich aber, warum Sie in Ihrer Amtszeit die Arbeitslosigkeit so hoch getrieben haben. Sie
haben mit 1 Million begonnen und mit 4,8 Millionen geendet. Warum haben Sie das von Ihnen angesprochene
Prinzip, das ja richtig ist, nicht selbst angewandt und die
Arbeitslosigkeit drastisch gesenkt?
({0})
Meine Damen und
Herren, ich weiche der Frage doch nicht aus. Seien Sie
nicht so aufgeregt!
Auch bei uns ist die Beschäftigung gestiegen, allerdings um 2 Millionen Arbeitsplätze. In der gleichen Zeit
stieg die Frauenerwerbsquote, was ich nicht kritisiere,
und der Zuwanderungssaldo war wesentlich ungünstiger
als heute. Wenn Sie heute sagen, demographische Effekte
würden durch Frauenerwerbstätigkeit ausgeglichen, dann
müssen Sie zugeben, dass dies auch zu unserer Zeit schon
so war. Heute scheiden aber 200 000 Ältere mehr aus dem
Arbeitsmarkt aus, als Jüngere in den Arbeitsmarkt kommen, was früher nicht der Fall war. Insoweit wird der Arbeitsmarkt heute entlastet.
Meine Damen und Herren, ich sage hier doch gar nicht,
die 16 Jahre unserer Regierung wären nur eine Zeit glanzvoller Erfolge gewesen. Aber immerhin haben wir in diesen 16 Jahren die deutsche Einheit bewerkstelligt.
({0})
Sie war - einschließlich Arbeitsmarkt - das größte sozialpolitische Projekt der letzten 100 Jahre.
Ich wollte aber zur Rente sprechen. Es ist keine neue Erfindung, dass die Alterssicherung drei Säulen hat, nämlich
die gesetzliche, die betriebliche und die private Altersvorsorge. Vielleicht beruhigt es Sie, wenn ich hinzufüge: Ich
finde es gut, dass Sie 13 Milliarden DM in die Hand genommen haben, um die private Vorsorge zu unterstützen.
Ich bekenne, diesen Betrag haben wir nicht in die Hand genommen. Die Art und Weise jedoch, wie Sie es gemacht
haben, muss einem Sozialpolitiker den Magen umdrehen.
Sie haben zwei Systeme, die jeweils unterschiedliche
Stärken und Schwächen haben, so miteinander kombiniert, dass Sie die Schwächen potenziert haben. Die
Stärke der gesetzlichen Rentenversicherung ist Sicherheit, die Stärke der privaten ist Rendite. Durch eine Überbürokratisierung haben Sie die Renditeaussichten der privaten Rentenversicherung gesenkt und die gesetzliche
Rentenversicherung unsicherer gemacht.
({1})
Das will ich anhand einiger Punkte erklären. Sie sprechen
von 4 Prozent für die private Vorsorge. Wie der Begriff
„freiwillig“ schon sagt, zahlt dies gar nicht jeder. Auf die
Idee eines solchen freiwilligen Beitrages - Uraufführung
im Sozialstaat Deutschland - ist noch niemand gekommen.
Dieser Beitrag, der nicht von jedem gezahlt wird, geht in
die Nettolohnquote ein, die damit sinkt, und zwar auch für
diejenigen, die diese 4 Prozent nicht zahlen können.
({2})
- Es ist eine andere Frage, ob ihn manche nicht zahlen
wollen.
Erstens. Trotz Ihres Zuschusses - so weit wird, Frau
Lotz, die IG Metall nicht von der Wirklichkeit entfernt
sein - wird es Verkäuferinnen und Arbeitnehmerinnen in
Teilzeit geben, die diese 4 Prozent nicht aufbringen können. Stimmt das oder stimmt das nicht? Ja oder nein? - Es
stimmt also. Aber der Rentenanspruch derjenigen Verkäuferin, die dies nicht aufbringen kann, sinkt. Das stellt
die Solidarität auf den Kopf. Diejenigen, die weniger verdienen, die Schwächeren, zahlen eine Rechnung für Leistungen, die sie gar nicht erhalten. Auf diese Idee konnten
offenbar nur Sozialdemokraten kommen. Das ist wirklich
eine Verkehrung des Solidaritätsgedankens.
({3})
Ich habe schon im Proseminar der IG Metall gelernt: Solidarität heißt, die Stärkeren treten für die Schwächeren
ein. Jetzt sinkt der Rentenanspruch der Verkäuferin, weil
ihr Verkaufschef eine Privatversicherung abschließt.
({4})
Auf einen solch bornierten Gedanken kann man wirklich
nicht im Zusammenhang mit dem Stichwort Solidarität
kommen.
({5})
- Jetzt lege ich das im Zusammenhang dar und reiße es
nicht auseinander.
Zweitens. Diese 4 Prozent sind ein rein virtueller Beitrag. Es kommt gar nicht darauf an, ob er bezahlt wird
oder nicht.
({6})
Er ist also frei manipulierbar. Wenn Sie morgen mit einem
Satz beschließen, dass der Beitrag auf 6 Prozent steigt,
kommt es nicht darauf an, ob die 6 Prozent gezahlt werden; der allgemeine Rentenanspruch sinkt. Damit haben
Sie der Manipulation Tür und Tor geöffnet.
({7})
Rentensicherheit hängt nicht nur von der Höhe der
Rente ab, sondern auch davon, ob es einen Mechanismus gibt, der in sich stimmig und sachlich begründet ist.
Im Unterschied zu Ihrer Zahl ist die demographische
Komponente nicht aus der Luft gegriffen. Sie hätten
die Beitragshöhe auch bei der Süddeutschen Klassenlotterie abrufen können. Woher haben Sie eigentlich
diese 4 Prozent? Sie könnten genauso gut 2 Prozent
festlegen.
({8})
- Ich bin doch noch nicht fertig; langsam!
({9})
- Das kann ich begründen. Diese aus dem demographischen Wandel resultierenden Lasten werden auf die
Schultern von Jung und Alt verteilt. Davon lasse ich mich
nicht abbringen.
Wie begründen Sie Ihre 4 Prozent? - Diese Zahl ist gegriffen; deshalb ist das Rentenversicherungssystem offen
für Manipulationen.
({10})
- Frau Lotz, ich wollte gar nicht so grob werden, aber
wenn Sie dauernd dazwischenrufen, muss ich Ihre Rede
zum Thema Frauen um einen wesentlichen Gesichtspunkt
ergänzen.
({11})
In der Privatversicherung, die Sie heute als die wesentliche Ergänzung der gesetzlichen Alterssicherung dargestellt haben, erhalten die Frauen für den gleichen Beitrag
weniger Leistung oder müssen für die gleiche Leistung
mehr Beitrag zahlen. Dies als einen Fortschritt zu bezeichnen, halte ich für verfehlt. Eigentlich müsste die
Frauenbewegung aufstehen, sie ist aber offenbar eingeschlafen.
({12})
- Frau Lotz, das können Sie nicht aus der Welt schaffen.
So ist dies bei der Privatversicherung.
Entgegen anders lautenden Meldungen erkenne ich
den Wert einer ergänzenden Privatversicherung, aber die
Privatversicherung kann die gesetzliche Krankenversicherung nicht ersetzen.
({13})
- Müsst ihr mir dauernd widersprechen? Ihr könnt mir
auch einmal zustimmen.
Die gesetzliche Krankenversicherung ist deshalb
nicht ersetzbar, weil die Privatversicherung beispielsweise keine Erwerbsunfähigkeitsrente und keine Witwenrente zahlt. Deshalb ist es ungerecht, wie die
Rentenversicherung in den letzten Jahren behandelt
wurde. Das hat sie nicht verdient. Ich fürchte - um
noch einmal grober zu werden -, dass ein Teil der Diskussion, mit der versucht wurde, die Rentenversicherung madig zu machen, auf dem Vertreten von Lobbyisteninteressen beruhte. Dies war eine Kundenwerbung
für die Privatversicherungen. Sie sind denen auf den
Leim gegangen.
Die Rentenversicherung muss auch einmal verteidigt
werden. Natürlich muss sie reformiert werden, natürlich
kann man sie nicht einfach so lassen. Ich verteidige aber
das Prinzip der Beitragsbezogenheit.
({14})
Es ist ein elementarer Unterschied, ob die Alterssicherung
eine steuerliche Grundsicherung ist oder auf Beitragsleistungen basiert. Hier sind wir bei einer grundsätzlichen
Diskussion.
Mein Sozialstaat, den ich verteidige, konzentriert sich
nicht nur auf die Armen und Schwachen, sondern auch auf
Leistungsgerechtigkeit. Wer ein Leben lang gearbeitet
und Beiträge gezahlt hat, bekommt eine höhere Rente als
derjenige, der dies nicht getan hat.
({15})
Es geht im Sozialstaat auch um die Fleißigen.
({16})
Im Rahmen des Leistungsprinzips kann man entweder bei
Verweigerung bestrafen oder sonst belohnen. Ich bin aufgrund frühkindlicher Erfahrungen für Belohnung und gegen Bestrafung.
({17})
Der nächste Punkt betrifft die Kostenentlastung. Dies
ist eine ganz einfache Rechnung: Bei unserer Reform war
für das Jahr 2030 ein Beitragssatz in Höhe von 24 Prozent
errechnet worden, also für Arbeitnehmer und Arbeitgeber
jeweils 12 Prozent. Die rot-grüne Reform führt nach den
Berechnungen zu einem Beitragssatz von 22 Prozent
- Hurra! -: Arbeitnehmer 11 Prozent, Arbeitgeber 11 Prozent - plus 4 Prozent bei den Arbeitnehmern.
Kollege Brandner, was ist 11 plus 4? 15! Welches ist
eine höhere Belastung, ein Beitragssatz von 12 Prozent
oder von 15 Prozent? Die höhere Belastung für die Arbeitnehmer verdanken wir Ihrer Reform.
({18})
- Bisher war ich nur sachlich.
Eines kann ich mir aber nicht verkneifen: Dreimal hat der
Kollege Brandner heute im Zusammenhang mit der Rente
von Ehrlichkeit gesprochen und von uns Ehrlichkeit eingefordert. Kollege Brandner, wenn ich das Wort Ehrlichkeit im
Zusammenhang mit der Rente höre, was, denken Sie, fällt
mir dazu ein? Dazu fällt mir der Wahlkampf 1998 ein.
({19})
Dazu fällt mir ein, dass Sie die Rückkehr zur Nettolohnrente versprochen haben. Stimmt das oder stimmt das
nicht? Das ist die absolute Wahrheit. Was aber haben Sie
nach der Wahl gemacht?
({20})
- Nicht einmal das. Sie sind nicht zur Nettolohnrente
zurückgekehrt.
({21})
- Löcher? Sie bringen mich von einem Punkt zum anderen.
Ich habe gehört, dass bei der Schwankungsreserve
9 Milliarden Euro fehlen. Bei Schwankungsreserven - das
sagt schon das Wort - ist es normal, dass dieser Betrag
einmal etwas höher und einmal etwas niedriger ist. Dies
ist lediglich ein Alarmauslöser. Dieses Problem haben Sie
jetzt einfach dadurch gelöst, dass Sie die Schwankungsreserve senken. Mit anderen Worten: Sie manipulieren das
Thermometer und sagen, das Fieber sei weg. Das sind die
Sozialdemokraten. Das ist die einfache Tour.
({22})
Das haben wir nicht gemacht.
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, ich bleibe
dabei: Der Sozialstaat muss verteidigt werden. Er ist ein
kultureller und wirtschaftlicher Stabilisator. Unser Sozialstaat basiert im Übrigen nicht nur auf materiellen Leistungen. Es geht nicht nur um Geld. Es geht auch um die
wechselseitige Rücksichtnahme und das Einstehen füreinander. Ich halte ihn für eine der größten Errungenschaften. Ich behaupte: Marktwirtschaft ist ohne Sozialstaat überhaupt nicht möglich.
({23})
Erst nachdem die Absicherung der großen sozialen Risiken wie Unfall, Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit aus
den Betrieben herausgenommen, also externalisiert wurde,
war eine am Markt orientierte unternehmerische Ratio möglich. Solange der Betrieb alles war, war das nicht möglich.
Ich glaube, ein Teil des Dilemmas der DDR-Wirtschaft - ich meine das gar nicht bösartig - war, dass der
Betrieb mehr war, zum Teil auch Arbeitslosenversicherung war. Die Arbeitslosen haben halt in den Betrieben
herumgestanden. Das ist zwar nicht meine, aber auch das
ist eine Form der Arbeitslosenversicherung.
Diese wirtschaftliche Ratio, der wir viel verdanken, ist
ohne den Sozialstaat nicht möglich. Bei allem Streit sollten wir in diesem Grundsatz übereinstimmen und den Sozialstaat nicht nur als Last betrachten, sondern auch als
eine große Möglichkeit dafür, eine eigenständige und mitverantwortliche Lebensführung zu gestalten.
({24})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/8268, 14/8700 und 14/9245 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 p und 30
sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf:
31. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan auf
der Grundlage der Resolutionen 1386 ({0}),
1383 ({1}) und 1378 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 14/9246 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium zum Schutz
von Beobachtern internationaler Organisationen
im Rahmen der weiteren Implementierung des
politischen Rahmenabkommens vom 13. August
2001 auf der Grundlage des Ersuchens der mazedonischen Regierung vom 28. April 2002 und der
Resolution 1371 ({4}) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen vom 26. September 2001
- Drucksache 14/9179 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksache 14/9220 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen zum Übereinkommen vom 7. November
1991 zum Schutz der Alpen ({7})
- Drucksache 14/8980 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({8})
Sportausschuss
Ausschuss für Tourismus
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Zusatzabkommen vom 20. Dezember 2001 zwi-
schen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung der Französi-
schen Republik zum Abkommen vom 21. Juli
1959 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und der Französischen Republik zur Ver-
meidung der Doppelbesteuerungen und über
gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Ge-
biete der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der
Grundsteuern
- Drucksache 14/8982 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Regionalisierungsgesetzes
- Drucksache 14/8997 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9})
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und
Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften
zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter
- Drucksache 14/9006 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 15. Juni 1999 des Übereinkommens
zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten
und zu dem Zusatzprotokoll vom 8. November
2001 zu diesem Übereinkommen
- Drucksache 14/9193 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Telekommunikationsgesetzes
- Drucksachen 14/9194, 14/9237 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11})
Ausschuss für Kultur und Medien
j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Postgesetzes
- Drucksachen 14/9195, 14/9236 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Preisbindung bei Verlagserzeugnissen
- Drucksachen 14/9196, 14/9239 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur
Änderung des Strafvollzugsgesetzes
- Drucksachen 14/9197, 14/9235 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen vom 15. Dezember
1997 zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge
- Drucksache 14/9198 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({14})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem EuropaMittelmeer-Abkommen vom 25. Juni 2001 zur
Gründung einerAssoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Arabischen Republik
Ägypten andererseits
- Drucksache 14/9199 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({15})
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
o) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Revisionsprotokoll vom 12. März 2002 zu dem Abkommen vom 11. August 1971 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der
Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 14/9201 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({16})
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
p) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Kaffee-Übereinkommen von 2001
- Drucksache 14/9202 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({17})
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
30. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
- Drucksache 14/9219 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({18})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({19})
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Margot von Renesse, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck
({20}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({21}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer
Magnus-Hirschfeld-Stiftung
- Drucksache 14/9218 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({22})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäߧ 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Bärbel Grygier, Uwe Hiksch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Konzept zur Entsorgung radioaktiver Abfälle
- Drucksache 14/9149 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({23})
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in
Deutschland stärken
- Drucksache 14/9226 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({24})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Dr. Max Stadler, Dr. Edzard SchmidtJortzig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in
Deutschland stärken
- Drucksache 14/ 9261Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({25})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/9201 - Tagesordnungspunkt 31 o - soll abweichend von der Tagesordnung an den Haushaltsausschuss ausschließlich gemäß
§ 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Zu den
Tagesordnungspunkten 31 i bis 31 l liegen inzwischen auf
den Drucksachen 14/9237, 14/9236, 14/9239 und 14/9235
die Gegenäußerungen der Bundesregierung zu den Stellungnahmen des Bundesrates vor, die wie die Gesetzentwürfe überwiesen werden sollen. Die Vorlage auf Drucksache 14/9218 - Zusatzpunkt 4 a - soll zusätzlich zur
Mitberatung an den Innenausschuss überwiesen werden.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/9270 mit dem Titel „Option für eine Fernbahnanbindung des Bahnhofs Berlin-Lichtenberg offen
halten“ zu ergänzen - Zusatzpunkt 18. Die Vorlage soll
zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 c sowie den
Zusatzpunkt 5 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung
zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 32 a:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung humanitärer Auslandseinsätze ({26})
- Drucksache 14/628 ({27})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({28})
- Drucksache 14/9015 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Dzewas
Thomas Dörflinger
Christian Simmert
Ina Lenke
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt auf Drucksache 14/9015, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU,
des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDPgegen die Stimmen der Fraktion der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 32 b:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN, der FDP und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
- Drucksache 14/9032 ({29})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({30})
- Drucksache 14/9262 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Reuter
Martin Hohmann
Volker Beck ({31})
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/9262,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 c:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung futtermittelrechtlicher Vorschriften
sowie zur Änderung sonstiger Gesetze
- Drucksache 14/9034 ({32})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({33})
- Drucksache 14/9249 Berichterstattung:
Abgeordnete Marita Sehn
Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 14/9249, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Lesung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 5:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 391 zu Petitionen
- Drucksache 14/9074 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 391 ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zu drastischen
Einnahmeverlusten der Länder aufgrund der
Steuerreform
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Hessische Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten Jochen Riebel das Wort. Bitte schön, Herr Riebel.
Jochen Riebel, Staatsminister ({35}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist
allgemein bekannt, dass die Steuereinnahmen beim Bund
und bei den Ländern in erheblichem Umfang wegbrechen.
Dieses Wegbrechen resultiert primär aus dem außergewöhnlich dramatischen Einbruch der Körperschaftsteuereinnahmen. Lassen Sie mich hierzu im Folgenden einige
wenige Zahlen, bezogen auf und ausgewählt für das Land
Hessen, anführen.
({36})
Der Saldo des Aufkommens aus der Körperschaftsteuer
für das Land Hessen betrug im Jahr 2001 797,6 Millionen
Euro. Im Jahr 2002 besteht ein Negativsaldo von - Sie
hören richtig - minus 1,322 Milliarden Euro. Diese Differenz bedeutet für Hessen einen Rückgang des Aufkommens in Höhe von rund 2,2 Milliarden Euro.
Es ist sicherlich keine überzogene Dramatisierung,
schon an dieser Stelle von einer dramatischen Entwicklung zu sprechen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand.
Dazu gehört zunächst einmal die zweifelsfrei rückläufige
Konjunktur in Deutschland. Von den durch die Bundesregierung geschätzten 2,75 Prozent Wachstum sind real
0,6 Prozent geblieben. Damit bilden wir das Schlusslicht
in ganz Europa.
({37})
Hierbei handelt es sich um eine falsche Einschätzung
durch die Bundesregierung, die damit auch die Verantwortung trägt.
Als weitere Punkte sind die Folgen der im Jahr 2001 in
Kraft getretenen Steuerreform anzuführen, durch die
insbesondere die Großunternehmen bei der Körperschaftsteuer in einem bisher nie da gewesenen und auch
von mir nicht für möglich gehaltenen Umfang entlastet
worden sind. Man könnte auch sagen, die Steuerreform,
die Bundesfinanzminister Eichel angegangen ist, stellt
eine Steuerentlastungsreform für Großunternehmen dar.
({38})
Dem ist hinzuzufügen, dass in Zukunft die Absenkung
des Körperschaftsteuersatzes von 40 Prozent auf 25 Prozent erfolgen soll. Die Steuerfreiheit für Beteiligungsverkäufe ab 2002 hat im Übrigen zur Folge, dass steuerverkürzende, wertgeminderte Beteiligungen noch im
vergangenen Jahr veräußert worden sind, wohingegen die
Veräußerungen von wertgesteigerten Beteiligungen selbstverständlich erst in diesem Jahr realisiert werden.
({39})
An dieser Stelle muss ausdrücklich hinzugefügt werden, Frau Kollegin, dass das kein Vorwurf meinerseits gegenüber den Unternehmen ist. Davon, dass sich die Unternehmen nach Recht und Gesetz verhalten, können wir
ausgehen. Dieses Recht und Gesetz haben Sie geschaffen,
Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Sie tragen damit
die Verantwortung dafür, dass es erhebliche Einbrüche in
den Kassen des Bundes und der Länder gibt.
({40})
Ich darf hinzufügen, dass Sie die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer des Bundes und der Länder ruinieren.
({41})
Bundesfinanzminister Eichel hat bei der Steuerreform
ein Desaster angerichtet, das bei den Ländern zu erheblichen Einnahmeausfällen führt. Es führt darüber hinaus zu
einer sehr merkwürdigen Situation: Die Länder haben die
Ausgaben zu verantworten, während der Bund die Einnahmen bestimmt. Er ist für ganz erhebliche Einnahmeausfälle verantwortlich. Das ist deswegen so, weil Sie die
Lage falsch eingeschätzt haben, weil Sie eine Fehlentscheidung getroffen haben. Deswegen sind die Finanzen
der Länder heute in einem ruinösen Zustand.
Eines möchte ich noch sagen: Vorgestern hatte ich das
Vergnügen - Sie können auch sagen: das Glück -, die
Sendung „Boulevard Bio“ mit Bundeskanzler Schröder
und Günter Grass zu sehen, die nichts anderes als eine
Wahlkampfveranstaltung war.
({42})
Günter Grass hat Bundesfinanzminister Eichel ausdrücklich gelobt, aber nicht wegen seiner besonderen literarischen Fähigkeiten, wie man denken könnte. Er hat ihn
vielmehr als besonderen Experten für finanzpolitische
Entscheidungen gelobt - damit hat sich Grass auch als Experte für Finanzen geoutet - und hat eine spezielle Fähigkeit des Herrn Bundesministers herausgehoben, nämlich
die Fähigkeit, hochkomplizierte und hochkomplexe Sachverhalte ganz einfach darzustellen. Ich füge hinzu: Er hätte
fortfahren müssen. Er hat nämlich Recht, wenn er dies behauptet. Aber Bundesminister Eichel hat die Sachverhalte
in seinem eigenen Kopf so sehr vereinfacht, dass die Steuerreform in das Gegenteil von dem verkehrt worden ist, was
er selber angekündigt hat und was die Bundesregierung
eigentlich wollte.
({43})
Hinzu kommt, dass es vor wenigen Wochen ein nicht
unschönes Feature von Bundesminister Eichel gegeben
hat, in dem dargestellt wurde, wo er was einkauft. Ich
kaufe in demselben Laden wie er ein.
({44})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
- Richtig, in Hessen. - Dort muss ich fast wöchentlich die
Frage der Frau an der Kasse beantworten, warum sie bis
zum Mai dieses Jahres bereits mehr Lohnsteuer gezahlt hat
als beispielsweise eine große Aktiengesellschaft in Düsseldorf oder in Köln an Körperschaftsteuer. Meine Antwort ist
wirklich einfach - ich gebe sie hier nicht vereinfacht wieder -: Ich weiß es auch nicht. Aber fragen Sie Bundesminister Eichel. Er hat es so gewollt oder er hat es aus Gründen der Vereinfachung aus Versehen so gemacht oder - das
wäre noch schlimmer - er hat nicht gewusst, was er macht.
({45})
Letzteres wäre durchaus im Einklang mit der Grundlinie
der Regierung Schröder. Es wäre nur ein weiteres Beispiel
dafür. Es ließen sich noch viele andere nennen.
Ich möchte nur noch ein Beispiel aus einem anderen
Politikfeld anführen. Bundeskanzler Schröder hat öffentlich sehr überzeugend erklärt: Wegschließen, und zwar für
immer! Aber dann hat die Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen wie selbstverständlich dem Gesetz
über die Anschlusssicherungsverwahrung nicht zugestimmt. Herr Präsident, meine Damen und Herren, das ist
eine Politik, wie wir sie ausdrücklich nicht wollen und
- das füge ich hinzu - wie wir sie aus Verantwortung für
diesen Staat auch nicht wollen können.
Herzlichen Dank.
({46})
Herr Minister, eine
kleine Korrektur: Hinter Ihnen saß kein Präsident, sondern eine Präsidentin.
Jochen Riebel, Staatsminister ({0}): Oh, ich bitte
um Entschuldigung, Frau Präsidentin!
({1})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Lydia Westrich für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatsminister Riebel, Sie
haben die Debatten in diesem Haus eben nicht mitgemacht.
({0})
- Er war scheinbar auch nicht bei den Debatten im Bundesrat dabei. - Sonst hätten Sie die Vorwürfe, die Sie erhoben haben, auch an die Adresse Ihrer Kollegen in der
Opposition richten müssen.
({1})
Wir alle wissen, dass das Ergebnis der neuen Steuerschätzung für die Finanzminister der Länder kaum überraschend kam, auch nicht für Sie, meine Damen und Herren von der Opposition. Wenn Sie - Sie haben schließlich
diese Aktuelle Stunde beantragt - doch überrascht waren,
dann zeigt das nur, dass Ihr bisschen wirtschaftspolitischer Sachverstand nun vollends versickert ist.
({2})
Ich schätze Sie zwar sehr, aber irgendwo muss man Grenzen ziehen.
Dass die Länderfinanzminister den jetzigen Zeitpunkt
für ihre diversen Haushaltssperren genutzt haben, spricht
für ihr psychologisches Feingefühl. Die nackten Zahlen
ersparen ihnen eine Menge politischen Streit in den Landtagen. Daher ist die Haltung der Länderfinanzminister
durchaus verständlich. Herr Rauen, Sie von der Opposition tun so, als wenn das das erste Mal wäre.
(Dietrich Austermann (CDU/CSU: Nein, das
geht schon dreieinhalb Jahre lang so!
Ich erinnere mich noch gut, Herr Austermann, an die verschiedensten Debatten im Finanzausschuss und im Plenum, die nach korrigierten Steuerschätzungen unter
Waigel geführt wurden, und daran, wie viele Haushaltssperren es während Ihrer Regierungszeit gegeben hat.
({3})
- Richtig. Trotzdem ist es heute anders. Die rot-grüne
Bundesregierung hat von solider Finanzpolitik einfach
mehr Ahnung.
({4})
Die rot-grüne Bundesregierung und die sie tragende Koalition haben Steuergesetze gemacht, die mittelständische
Unternehmen, Familien mit Kindern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von 1998 bis zum Jahr 2005 um
insgesamt 56,8 Milliarden Euro entlasten. Selbst mein
CDU-Verbandsbürgermeister hat in seiner kommunalen
Haushaltsrede zum geschrumpften Haushalt 2002 öffentlich betont, dass jede staatliche Ebene die gewollten Entlastungen für die Steuerbürger und die Familien mitfinanzieren muss. Der hat es wirklich verstanden.
Diese Steuerentlastungen haben wir eingebettet in eine
erfolgreiche und nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Finanzen. Die Koalitionsmehrheit hat bei ihrer Steuerpolitik nicht nur Rücksicht auf die Finanzen des Bundes
genommen, sondern auch die Haushaltssituation aller Gebietskörperschaften im Blick gehabt.
({5})
Verantwortungsvolle Politik verlangt nämlich steuerliche
Entlastungen nur auf Basis zurückgewonnener Handlungsspielräume, die Sie zugegebenermaßen nicht mehr hatten.
({6})
Staatsminister Jochen Riebel ({7})
Haushaltskonsolidierung und Senkung von Steuern und
Abgaben sind und bleiben die beiden Leitplanken einer
zukunftsweisenden Strategie für nachhaltiges Wachstum
und Arbeitsplätze.
({8})
Eine solche verantwortungsvolle Politik haben Sie als
Opposition nicht betrieben.
({9})
Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, wären weder die Finanzierungselemente des Steuerentlastungsgesetzes noch
die des Steuersenkungsgesetzes beschlossen worden.
({10})
Dann wären darüber hinaus noch viele andere teure Forderungen Gesetz geworden, die die Haushalte der Länder
und der Kommunen in weit größerem Maße belastet hätten, als das heute der Fall ist.
({11})
Sie wissen selbst, obwohl Sie, jetzt der Herr Riebel
wieder, nicht müde werden zu behaupten, die Koalition
bevorteile mit ihrer Steuerpolitik Kapitalgesellschaften
zulasten von Personengesellschaften,
({12})
dass die großen Konzerne - und das haben Sie immer kritisiert - ihre Steuerentlastungen durch das zu Beginn der
Legislaturperiode verabschiedete Steuerentlastungsgesetz selbst finanziert haben. Von Ihnen wird immer wieder anklagend hervorgehoben, wie die armen Konzerne
doch belastet worden sind.
({13})
Die Union, Sie, Herr Rauen, aber auch Herr
Michelbach und andere, hat damals diese Gegenfinanzierungsmaßnahmen nicht nur abgelehnt, sie hat sie lautstark
als Angriff auf den Standort Deutschland kritisiert.
({14})
Und jetzt kritisieren Sie wieder umgekehrt, genau wie es
Ihnen passt. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, wenn
wir damals auf Sie gehört hätten, hätte es die Mehrbelastung der Großunternehmen in Höhe von rund 10 Milliarden DM nicht gegeben mit der Folge, dass die Haushalte
von Bund, Ländern und Gemeinden weit höher belastet
gewesen wären, und Herr Riebel hätte heute mit ganz anderen Zahlen kommen müssen.
Auch die Finanzierungsmaßnahmen des Steuersenkungsgesetzes wollten Sie nicht mittragen. Hier zeigt sich
deutlich, dass Ihnen die Länderinteressen vollkommen
egal sind und die heutige Aktuelle Stunde nur der Effekthascherei dient. Dass dies so ist, wird noch deutlicher,
wenn man sich die Forderungen, die die Union, aber auch
die FDP mit dem Hundertmarkscheck im Laufe der Legislaturperiode eingebracht haben, noch einmal vor Augen
führt. Ihr Konzept mit dem Titel „Die bessere Alternative“
hätte nach angestellten Berechnungen Steuerausfälle von
fast 40 Milliarden Euro verursacht, Steuerausfälle, die in
erster Linie zugunsten von Spitzenverdienern, da Sie zuvörderst den Spitzensteuersatz weiter absenken wollten,
ausgegangen wären, Steuerausfälle, die die Haushalte von
Ländern und Kommunen überhaupt nicht verkraftet hätten. Das wäre Ausplünderung der öffentlichen Haushalte
durch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
zugunsten einiger weniger Bürger gewesen.
Frau Kollegin, denken
Sie bitte an die Redezeit. Dies ist eine Aktuelle Stunde.
Damals hieß es bei der Union,
Deutschland brauche eine mutige Steuerreform, und das,
was Eichel und die Koalitionsfraktionen gemacht hätten,
sei bei weitem noch nicht genug. Das ist verantwortungslose Politik. Die deutschen Bundesländer - Herr Riebel,
das können Sie mit nach Hause nehmen - können froh
sein, dass diese „bessere Alternative“ der Union nicht
Realität geworden ist und die Verantwortung für die Steuerpolitik bei der heutigen Bundesregierung, bei Hans
Eichel und der rot-grünen Koalition liegt.
Vielen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrte Frau Präsidentin Bläss! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Westrich, Ihre Aussage, Rot-Grün habe mehr
Ahnung von der Finanzpolitik, ist durch die gesellschaftliche Wirklichkeit in diesem Land längst widerlegt. Das
glaubt außer Ihnen niemand mehr.
({0})
Wer allein den Etat 1999 gegenüber dem Vorjahr um fast
7 Prozent aufgebläht hat - das ganze Geld musste aufgebracht werden -, der hat die Grundlagen einer vernünftigen
und seriösen Finanzpolitik überhaupt nicht verstanden.
({1})
- Wer baut die Verschuldung ab, Frau Scheel? Etwas mehr
Redlichkeit in der Debatte! Unter Rot-Grün, unter Ihnen
als der Vorsitzenden des Finanzausschusses, unter Finanzminister Eichel ist ohne Berücksichtigung der UMTS-Erlöse die Verschuldung in dieser Legislaturperiode, also in
vier Jahren Rot-Grün, um 190 Milliarden DM gestiegen.
({2})
Das ist die Wahrheit.
({3})
Der zentrale Fehler der rot-grünen Steuerreform bestand in der ideologischen Herangehensweise an diese
Steuerreform.
({4})
Noch bei der Verabschiedung des Bundesbankpräsidenten Professor Dr. Tietmeyer im Palmengarten in
Frankfurt hat Finanzminister Eichel sinngemäß erklärt:
Unternehmen sind gut, Unternehmer sind schlecht. Unternehmen müssen entlastet werden, Unternehmer nicht.
({5})
Diese Politik hat dazu geführt, dass die Körperschaftsteuersätze zum 1. Januar 2001 auf 25 Prozent gesenkt wurden. Hierdurch wurden insbesondere die Aktiengesellschaften, die großen Kapitalgesellschaften, aber
auch die GmbHs in unserem Land erheblich entlastet. Der
Mittelstand, die Handwerker, die Selbstständigen und
auch die weiteren Millionen Lohn- und Einkommensteuer zahlenden Bürgerinnen und Bürger in unserem
Land, also auch die Arbeitnehmer, werden erst ab dem
Jahr 2005 spürbar entlastet.
Vorher wurden sie durch Rot-Grün aber nochmals finanziell schlechter gestellt, indem zum Beispiel die Abschreibungsbedingungen für alle, auch für die kleinen Unternehmen, verschlechtert wurden - eine Sondersteuer für
Investitionen, die ich hier schon mehrfach gebrandmarkt
habe.
Wer meint, dass Arbeitsplätze und vor allem neue
Arbeitsplätze in unserem Land ausschließlich von der
Großindustrie geschaffen werden, der verkennt die Wirklichkeit in diesem Land und der verdient es auch, am
22. September abgewählt zu werden.
({6})
Wir brauchen mehr Selbstständige, wir brauchen mehr
Handwerker, wir brauchen mehr Mittelständler, die bereit
sind, ihr Schicksal, ihre Existenz in die eigene Hand zu
nehmen.
({7})
Jeder dieser Existenzgründer schafft im Schnitt fünf bis
zehn Arbeitsplätze. Auf diesem Weg können Hunderttausende von Arbeitsplätzen entstehen, insbesondere dann,
wenn diese Personen wieder an die Zukunft glauben und
eine Perspektive für sich und für unser Land erkennen.
Das brauchen wir!
Die aktuelle Steuerschätzung zeigt, dass insbesondere
die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer total eingebrochen sind. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das
Aufkommen der Körperschaftsteuer zu 50 Prozent den
Ländern zusteht. Insofern sind die Länder von dem Einbruch bei der Körperschaftsteuer besonders betroffen.
Allein das Land Nordrhein-Westfalen hat im letzten Jahr
nicht nur keine Körperschaftsteuer eingenommen, sondern hatte sogar eine Steuergutschrift zu zahlen, das
heißt, aus dem Steueraufkommen musste Geld genommen werden, um die nach dem neuen Steuerrecht berechtigten Ansprüche von Kapitalgesellschaften befriedigen zu können.
Die Steuerpolitik von Rot-Grün und von Finanzminister Eichel führte dazu, dass das Körperschaftsteueraufkommen von fast 24 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf
eine halbe Milliarde Euro Minus im Jahr 2001 eingebrochen ist. Hierbei handelt es sich nicht nur um einen kompletten Steuerausfall. Die Steuereinnahmen aus der Körperschaftsteuer sind um mehr als 100 Prozent gesunken.
Wie konnte dann Finanzminister Eichel Ende letzten Jahres den Ländern vorwerfen, dass sie sich höher neu verschulden, weil sie - angeblich - mehr ausgegeben haben?
War es nicht vielmehr so, dass die rot-grüne Koalition ein
Steuerrecht verabschiedet hat und eine Steuerrechtsänderung bewirkt hat, zu denen schon die Sachverständigen in
der Anhörung erklärt haben, welche Steuerausfälle das
zur Folge haben würde? Insofern war das keine Unkenntnis; es war Vorsatz. Es war bekannt, dass diese Folgen eintreten würden. Trotzdem wurde das Steuerrecht genau so
beschlossen, um eben Unternehmen und nicht die Unternehmer und nicht die Arbeitnehmer zu entlasten.
({8})
Wer ein solches Steuerrecht beschließt und außerdem
Strukturen zementiert, Selbstständigkeit über das Gesetz
zur Beschränkung der angeblichen Scheinselbstständigkeit verunglimpft, also Überregulierung betreibt, der darf
sich nicht wundern, wenn sämtliche Dynamik aus unserer
Volkswirtschaft heraus ist und wir beim Wachstum das
Schlusslicht in Europa sind. Das ist die Diskussion. Wir
müssen hier mehr Wachstum haben. Wir brauchen ein einfacheres und gerechteres Steuerrecht. Deshalb fordern wir
es auch als FDP: niedrig, einfach und gerecht.
({9})
Wir fordern, dass auch das Steuerrecht wieder zu einem
Recht gestaltet wird und die Verwüstung des Steuerrechts
durch Rot-Grün ein Ende hat.
({10})
Wir fordern die Freistellung des Existenzminimums für
jeden von 7 500 Euro und einen Stufentarif, wie ihn jedes
andere europäische Land hat, von 15 Prozent, 25 Prozent,
35 Prozent.
({11})
Wir brauchen eine spürbare Entlastung der Steuerbürger
in unserem Land.
Herr Kollege Thiele,
auch Sie muss ich an die Einhaltung der Redezeit erinnern.
Ich bin sofort fertig. Hierfür kämpfen wir als FDP. Hierfür setzen wir uns ein.
Ich hoffe, auch diese Debatte wird mit dazu beitragen,
dass die Tage von Rot-Grün in Verantwortung in diesem
Hause gezählt sind.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte oder auch nicht verehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Herr Thiele, es ist wirklich hart an der Grenze. Ich habe
irgendwie den Eindruck, wir müssen einmal einen Lehrgang machen.
({1})
Das geht jetzt leider nicht in fünf Minuten, aber anscheinend haben Sie immer noch nicht verstanden, obwohl wir
gestern in der Finanzausschusssitzung sehr intensiv darüber diskutiert haben, warum die Körperschaftsteuereinbrüche im Jahre 2001 so waren, wie sie ausgefallen sind
und wie sich das auch im Zusammenhang mit der Steuerschätzung manifestiert hat.
({2})
Aber anscheinend ging diese Information an Ihnen vorbei; Sie hatten sich ja die ganze Zeit auch anderweitig beschäftigt.
({3})
Aber gut, das ist jetzt nicht mein Problem. Das ist eher Ihr
Problem.
Fest steht - ich sage das auch einmal, weil hier immer
so eigenartige Dinge behauptet werden -, dass sowohl der
Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als beispielsweise auch das Unternehmensberatungsbüro Ernst & Young, die weltweit
aktiv sind, übereinstimmend bestätigt haben, dass in der
Bundesrepublik Deutschland Personenunternehmen geringer besteuert sind als Kapitalgesellschaften. Das ist ein
Faktum. Ich bitte Sie einfach, die Realität endlich einmal
zur Kenntnis zu nehmen und den Leuten nicht permanent
zu suggerieren, als wäre es hier durch politische Entscheidungen in der Steuerpolitik zu irgendeiner Schieflage zulasten der kleinen und mittleren Unternehmen gekommen. Das ist schlicht und ergreifend eine Lüge; das
ist eine Lüge, die auch über alle Fakten und alle Daten, die
zur Verfügung stehen, belegbar ist.
({4})
Punkt zwei: Herr Minister Riebel, Sie haben die
Gründe dafür angesprochen, dass wir eine konjunkturelle
Entwicklung hatten, die im Jahr 2001 problematisch war.
Völlig d’accord! Darin sind wir uns einig.
Sie haben auch gesagt, dass es bestimmte Effekte gegeben hat; diese Effekte hingen unter anderem damit zusammen, dass bereits versteuertes Körperschaftsguthaben gehoben wurde. Das heißt, das alte System der Union hat auf
das Verhalten der Unternehmen durchgeschlagen, sodass
die Unternehmen aufgrund Ihres alten Steuersystems mit
dem Schütt-aus-hol-zurück-Verfahren und aufgrund der
Veränderungen in der Struktur jetzt natürlich auch überplanmäßig ausgeschüttet haben. Wir sehen das an der Kapitalertragsteuer, die drastisch angestiegen ist, während die
Körperschaftsteuer gesunken ist. Man muss das immer in
dieser Relation sehen. Wenn Sie dazu schon etwas sagen,
dann bitte ich Sie, nicht nur die eine Hälfte der Wahrheit
zu sagen, sondern auch die andere Hälfte dazuzunehmen.
({5})
Punkt drei: Sagen Sie einmal, wo sind wir hier überhaupt?
({6})
Ich frage mich immer wieder, wie das funktionieren soll,
wenn sich die Union und die FDP - die FDP ja noch viel
mehr - im Prinzip bei jeder Debatte, in der es um Wirtschaftspolitik, um Steuer- und Finanzpolitik geht, hinstellen
und fordern, die Steuersätze müssen massiv gesenkt werden, die Staatsquote muss unter 40 Prozent, die Sozialversicherungsquote muss unter 40 Prozent. Dann haben Sie auch
noch solche Programme zur Bundestagswahl geschrieben,
die zum Beispiel beim Programm der Union aufgrund Ihrer
steuerpolitischen und familienpolitischen Forderungen sowie aufgrund Ihrer Forderungen, die Sie beispielsweise im
verteidigungspolitischen Sektor haben, in der Konsequenz
eine Mehrbelastung - das muss man den Leuten auch einmal sagen - von 245 Milliarden Euro bedeuten. 245 Milliarden Euro Mehrbelastungen für unsere Haushalte!
Bei der FDP ist es noch heftiger. Das überrascht ja
nicht.
({7})
Man kommt auf 550 Milliarden Euro, wenn man sich ihr
Programm vorknöpft.
({8})
Wenn die Politik, die Sie, wie Sie den Leuten versprechen,
machen wollen, in den nächsten vier Jahren umgesetzt
würde, wären, Herr Niebel, der Bund und die Länder völCarl-Ludwig Thiele
lig bankrott. Der Bundes- und alle Länderhaushalte wären
verfassungswidrig. Die Neuverschuldung würde hochgeschraubt.
Die Politik von Union und FDP bedeutete - das sage ich
auch an das Publikum auf den Tribünen gewandt - ganz
klar eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um mindestens
5 Prozent. Das ist die Wahrheit, die verschwiegen wird.
({9})
Vielmehr wird den Leuten auf der Verpackung außen suggeriert, dass die Steuersätze gesenkt würden, in der Verpackung ist aber eine Mehrbelastung gerade für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, auch für Familien
mit Kindern enthalten, was zu einem vollkommenen Auseinanderdriften des sozialen Netzes führen würde.
({10})
Sie zerstören damit unsere soziale ökologische Marktwirtschaft.
({11})
Das ist Fakt, wenn man sich die in Ihren Programmen enthaltenen Aussagen anschaut.
Ihre Vorstellungen sind völlig diffus.
({12})
Herr Späth sagt, rot-grüne Steuerpolitik sei in Ordnung
und der richtige Weg.
({13})
Die Union sagt, die Steuersätze müssten massiv reduziert
werden. Die FDP will das noch drastischer durchführen;
das hat sie ja hier gerade wieder bewiesen, ohne dass dabei ein Wort zur Finanzierung gesagt worden wäre.
({14})
- Sie sagen nie etwas dazu. Selbst wenn Sie fünf Stunden
Redezeit hätten, sagten Sie kein Wort zur Finanzierung.
Frau Kollegin Scheel,
Sie haben das Stichwort Redezeit gegeben.
Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. - Abschließend
sage ich, dass Sie drastische Wählertäuschung betreiben.
Das ist eindeutig festzustellen. Ich hoffe, dass Sie am
22. September die Quittung dafür bekommen.
Danke schön.
({0})
Jetzt spricht die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion der PDS.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wiederhole das Thema der Aktuellen Stunde. Es heißt: „Haltung der Bundesregierung zu
drastischen Einnahmeverlusten der Länder aufgrund der
Steuerreform“. Dazu haben wir bisher noch nichts gehört.
({0})
Es ist schon interessant, welche grotesken Blüten der
Wahlkampf treibt. Gerade die CDU/CSU beantragt eine
Aktuelle Stunde zu diesem Thema! Ich frage mich wirklich, worin sich eigentlich die schwarz-gelbe Steuerpolitik von der rot-grünen unterscheidet.
({1})
Bezüglich der finanziellen Situation der Städte, Gemeinden und Länder muss man sagen: im Prinzip überhaupt
nicht.
({2})
Sie haben während Ihrer Regierungszeit ohne jegliche
Not freiwillig auf die Vermögensteuer verzichtet, Sie haben die Erbschaftsteuer ausgehöhlt und die Gewerbesteuerumlage ständig erhöht. Von all diesen Dingen waren
die Länder betroffen. Als Sie dann in die Opposition kamen, hat sich Ihre Haltung auch nicht geändert. Parallel
zum Steuerreformgesetz der rot-grünen Koalition haben
ja auch Sie einen „Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung
einer Steuerreform für Wachstum und Beschäftigung“ unter der Drucksachennummer 14/2903 vorgelegt. Eine
Umsetzung dieses Gesetzes hätte im Jahre 2001 Steuerausfälle in Höhe von 26 Milliarden Euro und im Jahre
2003 noch einmal in der gleichen Höhe bedeutet. Wenn
man diese Zahlen durch zwei teilt, stellt man fest, dass
auch Kommunen und Länder riesige Steuerausfälle gehabt hätten. Von Ihrer Seite sollte man wirklich nicht mit
Steinen schmeißen, da man ja selber im Glashaus sitzt.
Das muss ich hier mal so sagen.
({3})
Im Regierungsprogramm sieht das ähnlich aus. Herr
Stoiber hat ja erst vor zwei Tagen wieder versprochen, dass
der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer auf unter
40 Prozent sinken soll. Auch das würde wieder zu Einnahmeverlusten bei den Ländern und den Kommunen führen.
({4})
Die CDU/CSU ist hier janusköpfig. Ich glaube, das Urteil
werden die Wählerinnen und Wähler fällen.
Die Wählerinnen und Wähler, die Bürgerinnen und
Bürger unseres Staates haben aber auch erlebt, dass sich
unter Rot-Grün an dieser Situation nichts geändert hat,
sondern die soziale Schere im Gegenteil weiter auseinander gegangen ist.
({5})
Das ist ein katastrophaler Zustand, den viele gerade von
Rot-Grün nicht erwartet hätten.
({6})
Wir erleben soeben einen historischen Steuerverfall:
Im Jahre 2001, im vergangenen Jahr, sank die Körperschaftsteuer von plus 23 Milliarden Euro noch im Jahre
2000 auf minus eine halbe Milliarde Euro. Es ist doch,
Frau Scheel, schon schlicht unverschämt, wenn Sie hier
sagen, die Ursache dafür liege nur beim alten Steuerrecht.
({7})
Sie haben die Systemumstellung und die Fristsetzung vorgenommen. Es ist völlig klar, dass die Unternehmen ihre
stillen Reserven heben und den größten Effekt mitnehmen, den sie haben können.
({8})
Zu sagen, das sei nur die Schuld der alten Regierung, ist
wirklich billig. Sie sind daran schuld, dass wir hier Ausfälle von 102 Prozent haben.
Nur ein Beispiel: Die Deutsche Bank hatte im
Jahre 2000 einen Gewinn von 6,8 Milliarden Euro. Sie hat
eine Steuerrückerstattung von 9,2 Milliarden Euro erhalten. Per saldo hat sie also vom Staat noch Geld herausbekommen. Ich glaube, das wünschen sich alle. Dass
jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin monatlich
treu und brav Steuern zahlt und dann bei der Jahressteuerrückerstattung ein Vielfaches herausbekommt, das wäre
das Paradies. Aber das ist in Deutschland nur ein Paradies
für die Großkonzerne. Für die Bürgerinnen und Bürger
bleibt Deutschland bezüglich ihrer Steuerbelastung ein
Jammertal.
Sie haben Ihre angekündigten Gegenfinanzierungsmaßnahmen nicht durchgesetzt. Ich nenne hier nur ganz
kurz die Änderung der Abschreibungstabellen. Sie haben
zahlreiche neue Gestaltungsmöglichkeiten bei der Gewerbe- und bei der Körperschaftsteuer eröffnet, aber bestehende Gestaltungen nicht abgeschafft; ich nenne nur
das Dividendenstripping. Diesen Zustand hätten Sie ändern können, aber das haben Sie nicht gemacht.
Wir haben nun die Situation, dass die Kommunen und
auch die Länder seit Jahren nicht mehr wissen, wie sie
ihre Haushalte gestalten sollen. Hessen, Thüringen, Sachsen und das Saarland haben bereits Haushaltssperren verhängt. Das heißt in Sachsen, in dem Bundesland, aus dem
ich komme, dass es für Lehreranwärterinnen und -anwärter eine Einstellungssperre gibt. Diejenigen, die das Praktikum schon gemacht haben und mit Stunden eingeplant
worden sind, fallen einfach weg, und das vor dem Hintergrund von PISA. So viel zu den großen Tönen, die Bildungssituation müsse sich ändern: In der Realität versetzen Sie die Städte, Kommunen und Länder in eine Lage,
in der sie das nicht durchführen können.
Man kann viel zu Sachsen und zur dortigen Politik sagen, aber wir haben nun wirklich eine relativ geringe
Verschuldung. Sparpolitik wird dort schon seit Jahren betrieben. Man kann angesichts der allgemeinen Finanzsituation in Sachsen schwerlich sagen, dort sei nicht ordentlich gewirtschaftet worden, wenn auch die Prioritäten
in den letzten Jahren meiner Meinung nach verkehrt gesetzt worden sind.
Sie haben also die Situation, dass die öffentlichen
Haushalte dank Ihrer Steuerreform in den nächsten drei
Jahren, wenn alles so bestehen bleibt, auf weitere 65 Milliarden Euro werden verzichten müssen. Für die Kommunen und Länder bedeutet das 42 Milliarden Euro zu wenig in den Kassen. Das heißt, es fehlt Geld für die
öffentliche Daseinsvorsorge.
Ich appelliere an alle Fraktionen in diesem Hause: Bekennen Sie sich endlich dazu, dass wir für das Gemeinwesen Geld brauchen! Das heißt, wir können nicht nur auf
die Ausgaben schauen, sondern müssen endlich auch wieder die Einnahmenseite im Blick haben.
({9})
Deshalb: Reformieren Sie die Erbschaftsbesteuerung,
führen Sie wieder die Vermögensbesteuerung ein, senken
Sie die Gewerbesteuerumlage und tun Sie etwas dafür,
dass tatsächlich Arbeitsplätze im Land geschaffen werden
und Geld für die öffentliche Hand vorhanden ist!
Ich danke Ihnen.
({10})
Jetzt spricht der Herr
Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Ich möchte die Gelegenheit nutzen, noch einmal
deutlich zu machen, was die größte Steuerreform, die es
je in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat und
die von uns gemacht worden ist,
({0})
für die einzelnen Betroffenen bedeutet. Ein verheirateter
Personenunternehmer, zum Beispiel ein Bäckermeister
oder ein Metzgermeister, mit einem Gewinn von beispielsweise 25 000 Euro zahlt in diesem Jahr 28 Prozent
weniger Steuern als unter CDU/CSU und FDP im
Jahre 1998.
({1})
Er zahlt im nächsten Jahr sogar 39 Prozent weniger Steuern und 2005 47 Prozent weniger Steuern als 1998.
({2})
Ist sein Gewinn doppelt so hoch, also 50 000 Euro, dann
zahlt er in diesem Jahr 17 Prozent, im nächsten Jahr
20 Prozent und ab 2005 25 Prozent weniger Steuern als
unter Ihnen.
({3})
Eine GmbH mit 50 000 Euro Gewinn vor Steuern, die
ihren Gewinn vollständig im Unternehmen belässt, zahlt
ab diesem Jahr 18 Prozent weniger Steuern als unter Ihnen. Der verheiratete Arbeitnehmer in der Steuerklasse III
mit einem Jahresbruttolohn von 25 000 Euro zahlt in
diesem Jahr 39 Prozent weniger Lohnsteuer als unter Ihnen, im nächsten Jahr nur noch halb so viel Steuern wie
unter Ihnen und in 2005 61 Prozent weniger.
({4})
Wenn er in dieser Zeit zusätzliche Einnahmen von
8 000 Euro pro Jahr haben sollte, wird er diese 8 000 Euro
steuerfrei hinzuverdienen können. Das ist die Wirkung
unserer Steuerreform.
({5})
Herr Riebel, ich habe in diesen Tagen mit dem Finanzverantwortlichen eines großen Unternehmens darüber gesprochen, wie er sich verhalten hat.
({6})
Er hat mir deutlich gemacht, dass sie EK 45 gehoben haben,
um den geringeren Gewinn für die Aktionäre zu schmücken.
({7})
Dieses EK 45 hätte er natürlich jederzeit ausschütten können, auch wenn es die Steuerreform nicht gegeben hätte.
Dann wäre der Betrag nach altem Recht mit 30 Prozent
besteuert worden, jetzt wird er mit 25 Prozent besteuert,
Herr Riebel.
Sie müssen auch ehrlich sagen: Diesen Mindereinnahmen bei der Körperschaftsteuer steht spiegelbildlich eine
Mehreinnahme in ähnlichem Umfang bei der nicht veranlagten Steuer vom Ertrag gegenüber, die die Aktionäre bezahlen müssen.
({8})
Man muss sich noch an Folgendes erinnern: Sie haben
das Unternehmensteuerrecht lange Zeit sehr kompliziert
gemacht und dabei Auslandsbeteiligungen begünstigt. Ich
denke an einen süddeutschen Automobilhersteller, der
sich im Ausland engagierte, dort eine Firma aufkaufte und
diese Firma mit hohen Verlusten wieder verkaufte. Was
machte er mit diesen Verlusten? - Dank Ihres Steuerrechts
konnte er die Verluste hier steuerlich geltend machen und
Steuern sparen. Nach unserem Recht kann er das ab diesem Jahr nicht mehr. Auch das gehört zur Wahrheit.
({9})
Nachdem CDU/CSU mit ihrer Kritik an der Steuerpolitik immer weiter zurückrudern müssen - ich denke an
Herrn Späth; hören Sie ihm gut zu! -,
({10})
versuchen sie es jetzt mit der Behauptung von der angeblichen Ausplünderung der Länderhaushalte durch die
Steuerreform. Es ist absurdes Theater, wenn man gerade
von der Landesregierung von Hessen so etwas zu hören
bekommt. Die meisten Länder wären ruiniert, wenn die finanzpolitischen Vorstellungen der CDU/CSU und der
CDU-regierten Bundesländer im Bundesrat eine Mehrheit
gefunden hätten.
({11})
Herr Riebel, gucken Sie einmal in Ihr eigenes Schuldbuch
hinein. Wenn Sie sehen, was da alles steht, gehen Sie mit
rotem Kopf nach Hause.
Wir haben mit unseren Reformmaßnahmen den Standort Deutschland nachhaltig gestärkt
({12})
und die Länder mit ihren Kommunen wirtschaftlich und
finanziell gefördert.
({13})
Deshalb haben unsere Reformgesetze auch jeweils die
Zustimmung der Länder im Bundesrat gefunden.
Die Herausforderung der Zukunft besteht in einer
nachhaltigen Finanzpolitik, die die finanzpolitischen
Handlungsspielräume nicht weiter einengt und nicht zulasten nachfolgender Generationen geht. Deshalb haben
wir gleich zu Beginn dieser Wahlperiode die entscheidenden Maßnahmen getroffen, um den Marsch von
CDU/CSU und FDP in den Schuldenstaat zu stoppen. Sie
haben uns einen Haushalt übergeben, der, gemessen an
dem Entscheid des Bundesverfassungsgerichts bezüglich
des Saarlandes und Bremen,
({14})
als eine Haushaltsnotlage des Bundes qualifiziert werden
kann. Das Saarland und Bremen mussten 26 Prozent ihrer
Steuereinnahmen nur für Zinszahlungen aufwenden und
das hat das Verfassungsgericht als Haushaltsnotlage bezeichnet. Im Haushalt, den wir von Ihnen übernommen
haben, wurden 25 Prozent aller Steuereinnahmen des
Bundes nur für das Zahlen von Zinsen für Schulden, die
Sie angehäuft haben, aufgewendet. Sie haben den
Bundeshaushalt in eine Haushaltsnotlage hineingewirtschaftet, wir schaffen uns jetzt aus dieser Situation heraus.
({15})
Unsere im November 2000 vorgelegten finanzpolitischen Leitlinien sind der langfristig verlässliche Orientierungsrahmen dafür. Wir machen eine konsequente Haushaltskonsolidierung. Das heißt, im nächsten Jahr wird der
Bundeshaushalt - das werden Sie sehen, wenn wir in drei
Wochen den Regierungsentwurf vorlegen - im Vergleich
zu diesem Jahr auf der Ausgabenseite um 0,5 Prozent
schrumpfen. 2004 wird er im Vergleich zu 2003 auf der
Ausgabenseite noch einmal um 0,5 Prozent schrumpfen.
Wir führen also nicht nur eine nominale, sondern auch
eine viel stärkere reale Ausgabenkürzung durch, um aus
der Verschuldungsfalle herauszukommen.
({16})
Denn Steuerreformen bzw. Steuersenkungen, Herr
Rauen, die kann man nicht auf die Weise finanzieren, wie
Sie das getan haben: durch Pump. Steuersenkungen müssen
vielmehr auf der Ausgabenseite mühsam verdient werden.
Diesem Geschäft haben Sie sich immer entzogen. Deswegen haben wir uns in einer Haushaltsnotlage befunden.
Ich möchte an all das erinnern, was wir für die Länder
getan haben: Wir haben das Solidarpaktfortführungsgesetz beschlossen, Herr Riebel.
({17})
Wir haben eine Neuregelung des Länderfinanzausgleichs
vereinbart. Den Schuldendienst des Fonds „Deutsche Einheit“ haben wir neu geregelt. Die Haushalte der Länder werden in diesem Jahr um 462 Millionen Euro, im nächsten Jahr
um 510 Millionen Euro und ab übernächstem Jahr um
1 400 Millionen Euro jährlich entlastet. Mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm investieren wir - auch in Hessen - in
die Verkehrsinfrastruktur und in Forschung, Bildung und
Energie jedes Jahr 2,1 Milliarden Euro.
({18})
Ich könnte noch viele Maßnahmen anführen. Wegen
meiner dahinrennenden Redezeit will ich lediglich festhalten: Als Bedrohung müssen Länder und Gemeinden
die täglich neuen Steuerforderungen von CDU/CSU und
FDP und - was war das noch von Herrn Brüderle? - die
Forderungen nach Blitzprogrammen - davon habe ich
schon lange nichts mehr gehört - empfinden. Die würden
nämlich den Ruin der Länder- und Gemeindehaushalte
zur Folge haben. Sie wollen offenbar wieder Steuersenkungen auf Pump durchführen. Sie wollen erneut in den
Schuldenstaat marschieren und gegen die auf EU-Ebene
vereinbarten Stabilitätsregeln verstoßen.
({19})
Zu diesem Vorhaben können wir nur mit aller Festigkeit Nein sagen. Unser Weg ist der richtige und wir werden ihn konsequent fortsetzen.
({20})
Es spricht jetzt der
Kollege Peter Rauen für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzminister der Länder und die Kämmerer der Städte und Gemeinden gehen am Stock und können ihre Haushalte nicht
mehr finanzieren. Bundesfinanzminister Eichel und Bundeskanzler Schröder, die dies zu verantworten haben, lassen hier den wichtigen Bereich der Finanzpolitik von Frau
Scheel und Herrn Staatssekretär Diller erklären. Es wird
Zeit, dass sich dies in Deutschland wieder ändert.
({0})
Die hausgemachte und von der Regierung zu verantwortende Wirtschaftsschwäche in Deutschland hat bei
Bund, Ländern und Gemeinden sowie bei den Sozialversicherungskassen zu verheerenden Steuer- und Abgabenausfällen geführt.
({1})
Entgegen der Annahmen der rot-grünen Regierung vom
November 2000 fehlt in Deutschland ein Wirtschaftswachstum von 4 Prozent. Das sind 80 Milliarden Euro.
Bei einer Steuer- und Abgabenquote von 43 Prozent fehlen dieses Jahr in öffentlichen Kassen 34 Milliarden Euro.
Die letzte Steuerschätzung ist Ergebnis dieser miserablen
Entwicklung, mit der wir im zweiten Jahr hintereinander
Schlusslicht aller europäischen Staaten im Hinblick auf
das Wirtschaftswachstum sind. Bis 2005 wird sich der
Steuerausfall auf 65 Milliarden Euro belaufen.
Besonders betroffen sind die Gemeinden und die Länder.
Die Haushaltssperren, die inzwischen neun Länder erlassen
mussten, werden zu einem weiteren dramatischen Rückgang der öffentlichen Investitionen führen. Nachdem der
Bund für 2002 mit 10,1 Prozent die historisch niedrigste Investitionsquote aller Zeiten vorgewiesen hat, müssen jetzt
auch die Länder und Gemeinden ihre Investitionen kürzen.
Das wird vor allem den Niedergang der Bauwirtschaft, die
erst gestern verheerende Zahlen für das erste Quartal 2002
bekannt gegeben hat, noch weiter beschleunigen.
Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer sind völlig
unkalkulierbar geworden. Im letzten Jahr ist sie um
24 Milliarden Euro gesunken, zum Schluss haben die Finanzämter 400 Millionen mehr an die Konzerne ausbezahlt, als sie eingenommen haben. Auch im ersten Quartal
dieses Jahres wurden nach Angaben des Finanzministeriums - das sind nicht unsere Angaben - schon 585 Millionen Euro mehr ausgezahlt, als eingenommen wurden.
Diese Entwicklung hat allein die Bundesregierung zu
verantworten. Sie hat nicht nur die Wirtschaft und den
Arbeitsmarkt in den Keller gefahren, sie hat die fiskalischen Konsequenzen des Systemwechsels bei der Körperschaftsteuer völlig unterschätzt und sträflich vernachlässigt.
({2})
Auf dem SPD-Parteitag am letzten Wochenende hat
sich Kanzler Schröder mehr mit den Wahlprogrammen
von Union und FDP beschäftigt, als zu sagen, wie es nach
seiner Vorstellung in Deutschland weitergehen soll. Wir
werden jedenfalls nach der Bundestagswahl in VerantParl. Staatssekretär Karl Diller
wortung alles tun, damit in Deutschland die Kräfte für
mehr Wirtschaftswachstum wieder freigesetzt werden.
({3})
Wir werden die Verkrustungen auf dem Arbeitsmarkt
aufbrechen und mittelfristig dafür sorgen, dass den Menschen wieder mehr von ihrem Lohn oder ihrem Gewinn in
der eigenen Tasche bleibt.
({4})
Die Staatsquote muss gesenkt werden. Nur das, was
der Staat von dem, was wir alle im Bruttoinlandsprodukt
erarbeiten, nicht selbst verbraucht, kann er den Menschen
als Lohn ihrer Arbeit in ihrer Tasche belassen. Die Staatsquote auf 40 Prozent zu senken , das ist unser langfristiges
Ziel. Das werden wir auch erreichen.
({5})
Das hat mit sozialpolitischem Kahlschlag, wie ihn die
SPD und die Grünen den Menschen zu vermitteln versuchen, überhaupt nichts zu tun. Das hat die Regierung Kohl
von 1982 bis 1989 bewiesen. Damals sank die Staatsquote
von 50,1 Prozent auf 45,8 Prozent und die Nettokreditaufnahme von 35 Milliarden DM auf 14 Milliarden DM.
Unter Stoltenberg wurde die größte Steuerreform der
Nachkriegsgeschichte finanziert.
({6})
Damals ging es um 50 Milliarden DM - das Bruttoinlandsprodukt war kleiner als die Hälfte des heutigen -,
deshalb war es real mehr als bei der jetzigen Steuerreform.
Zum Schluss gab es Wachstumsraten von 3 Prozent.
Von 1983 bis 1991 - bitte hören Sie genau zu! - wurden 3 Millionen zusätzliche versicherungspflichtige
Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen. Das Sozialbudget ist in dieser Zeit pro Kopf von 7 800 auf 10 000 DM
gestiegen. Deshalb muss der Unfug beendet werden, dass
die Senkung der Staatsquote etwas mit einem sozialpolitischen Kahlschlag zu tun hätte.
({7})
Ich sage das hier sehr ernst: Diese Zusammenhänge
waren dem Bundeskanzler und seinem Wirtschaftsminister zu Beginn dieser Legislaturperiode durchaus noch
geläufig. So forderte Wirtschaftsminister Müller in seinem Wirtschaftsbericht 1999 eine Rückführung der
Staatsquote auf 40 Prozent und erklärte, dass dies nichts
mit einer Abkehr vom Sozialstaat zu tun habe.
Herr Kollege Rauen,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme sofort zum
Ende. - Bundeskanzler Gerhard Schröder machte sich
diese Forderung in einem Interview mit der Wiener Tageszeitung „Der Standard“ vom 23. Juli 1999 ausdrücklich zu Eigen. Auf die Frage, ob dies einen Paradigmenwechsel für ein Sozialdemokraten bedeute, antwortete
Schröder wörtlich:
Ich würde das schlichter formulieren. Das ist das
Eingehen auf Realitäten.
Wer auf dem Parteitag am letzten Wochenende der
deutschen Öffentlichkeit einen solchen Mist erzählt, wer
seine Genossen zu motivieren versucht, indem er unsere
Absichten als politischen Kahlschlag diffamiert, wer
seine eigene Überzeugung so frisst, hat es nicht verdient,
ab dem 22. September weiterhin Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein.
Schönen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Antje Hermenau für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zumindest
hat die heutige Debatte gezeigt, dass ein getragener Vortrag und eine Krawatte noch nicht dafür stehen, dass von
solider Finanzpolitik im Bundestag geredet wird. Das ist
deutlich geworden.
({0})
- Schon gut, Herr Thiele, Sie sind mir als Erster ins Auge
gefallen.
Jetzt wollen wir anders debattieren: Die Konjunktur
brach in Deutschland 1993 - ein bisschen später als in anderen europäischen Ländern - ein. Zu diesem Zeitpunkt
beschloss der damalige Bundesfinanzminister Waigel,
dass vor allem der Bund die Lasten der deutschen Einheit
tragen würde und nicht die Länder. Das heißt, damals
wurden die Länder bei der nationalen Aufgabe „deutsche
Einheit“ außen vor gelassen. Das war Ihre politische Entscheidung, zu der Sie heute stehen müssen.
1996 - Schwarz-Gelb regierte noch immer - wurde der
Familienlastenausgleich auf die Länder abgeschoben.
1997 hat man andersherum reagiert, als man merkte, dass
man ansonsten die Maastricht-Kriterien nicht erfüllen
würde. Erst als Sie merkten, dass es mit der Verschuldung
nicht mehr so weitergehen konnte, haben Sie begriffen,
dass Sie die Länder mit ins Boot nehmen müssen, um die
Staatsfinanzen im Griff zu behalten.
Es gibt die Auffassung, dass eine rechte Regierung
dazu neigt, eine höhere und wachsende Staatsverschuldung als strategisches Instrument einzusetzen, um den
nachfolgenden Mitte-Links-Regierungen das Leben
schwer zu machen. Das ist Ihnen nicht mehr gelungen,
weil Ihnen 1997 Maastricht dazwischenkam. Ich kann nur
sagen: Gott sei Dank.
({1})
Es gibt Kriterien, wie ein Staat mit seiner Verschuldung
umzugehen hat. Sie werden nicht allein an der Steuerschraube drehen können, wie Sie suggerieren. Das Drehen
an der Steuerschraube allein bringt es nicht; Sie müssen
Ihre Ausgaben kritisch überdenken und zur Ausgabensenkung kommen. Das gehört zum Geschäft. Diesbezüglich werden die Länder ins Boot gebeten. Es wird sich
noch herausstellen, ob es ihnen passt oder nicht. Ich habe
läuten gehört, dass die Länder dieses Vorgehen sehr wohl
verstehen. Sie sind ja auch am nationalen Stabilitätspakt
beteiligt, indem sie im Finanzplanungsrat vertreten sind.
Ich denke, dass auch über die Ausgabenseite gesprochen werden muss. Das haben Sie aber überhaupt nicht
getan. Sie haben immer nur auf Ihre Steuervorschläge abgehoben. Jeder Redebeitrag von Ihnen endete mit dem
Hinweis auf den 22. September. Wie ein Mantra wurde
dieser Satz vorgebetet. Lassen Sie uns weiter denken als
bis zum 22. September 2002.
Wir haben über den nationalen Stabilitätspakt gesprochen. Außer der PDS will niemand Steuererhöhungen. Ich
gehe einmal davon aus, dass in diesem Hause über diesen
Punkt zum größten Teil Konsens besteht.
({2})
Schauen wir uns einmal an, wie die Situation ist! Die einzige Truppe, die noch von Deficit Spending träumt, ist die
PDS. Damit hinkt sie der Entwicklung zehn Jahre hinterher. Hicks hat schon 1990 gesagt, dass dieses Instrumentarium wissenschaftlich und politisch tot ist.
({3})
Ich komme jetzt zu den Steuerkonzepten. Die einen
wollen die Ökosteuer behalten und die anderen wollen sie
abschaffen.
({4})
Wenn Sie sie abschaffen, dann werden Sie eine noch miesere Bilanz aufweisen, als es bei dem Vorschlag der
CDU/CSU, der sich auf die nächsten vier Jahre bezieht, der
Fall sein wird. Sie von der FDP haben sich vorhin damit gebrüstet, in der letzen Legislaturperiode sei - Sie haben die
UMTS-Erlöse nicht eingerechnet, was ich nicht ganz fair
finde - soundso viel an neuer Verschuldung entstanden.
Selbst ohne die Einbeziehung der UMTS-Erlöse zur Schuldentilgung wäre die Neuverschuldung nur halb so hoch wie
die in der Legislaturperiode von 1994 bis 1998.
({5})
Diesen Punkt muss man auch einmal sehen.
Angesichts der Tatsache, dass sogar die CDU/CSU begriffen hat, dass die Ökosteuer beibehalten werden muss,
weil man sonst gar nichts mehr auf die Reihe bekommt
- das ist ja ein interessanter Vorgang -, kann man dieses
Mantra, immer nur an der Steuerschraube drehen zu wollen, nicht mehr aufsagen. Das muss Ihnen doch klar sein.
Wir haben uns einmal die Mühe gemacht, die Parteiprogramme zu vergleichen. Wir haben untersucht, wie in
den nächsten vier Jahren die Neuverschuldung aussehen
würde, wenn die entsprechenden Wahlprogramme umgesetzt werden würden. Die FDP ist mit ihrem „hervorragenden“ Vorschlag Spitzenreiter, die Steuererleichterung
durch eine höhere Verschuldung zu finanzieren. Denn es
gibt keine anderen Steuereinnahmen zur Gegenfinanzierung. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es im
Jahre 2003 75 Milliarden Euro Neuverschuldung und im
Jahre 2004 120 Milliarden Euro geben würde. Die Ökosteuer ist dabei immer herausgerechnet.
({6})
2005 sind es 160 Milliarden Euro Neuverschuldung.
({7})
Ich weiß nicht, wohin dieser Weg noch führen würde. Ich
kann aber sagen, dass wir zu diesem Zeitpunkt längst aus
der EU herausgeflogen wären. Allein von blauen Briefen
würde da längst keiner mehr reden.
Auch die CDU/CSU hat offensichtlich nicht vor, dass
unser Land weiter in der EU bleibt; denn bei der Neuverschuldungsstrategie, die Ihr Programm suggeriert - vielleicht meinen Sie Ihr Programm nicht so ernst; das kann ja
auch sein; aber nehmen wir es bis zum 22. September einmal ernst -, ist klar, dass wir ebenfalls aus der EU herausfliegen würden, weil wir das Maastricht-Kritierium und
den europäischen Stabilitätspakt nicht erfüllen könnten.
Versprechen kann man viel. Die Frage ist aber, wie in
den nächsten vier Jahren die Zukunft gestaltet wird. In
dieser Beziehung haben Sie ganz schlechte Karten.
({8})
Jetzt spricht der Kollege Hans Michelbach für die Fraktion der CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Geht unser Staat Pleite? Gibt es noch genug Geld für
Schulen, Straßen, ÖPNV und Sozialarbeit? Müssen unsere Kommunen ihre Schwimmbäder und Büchereien
schließen? Diese Fragen beschäftigen unsere Bürger. Sie
erwarten klare Antworten.
Die rot-grüne Bundesregierung ergeht sich aber - wie
auch heute - in Gesundbeterei. Es lässt sich aber nicht
mehr verschleiern: Es gibt katastrophale Steuerausfälle.
Tatsache ist: Die Steuer-, Finanz- und Haushaltspolitik
befindet sich zweifellos im Ausnahmezustand, sozusagen
im rot-grünen Krankenstand.
({0})
Die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kommunen sind massiv eingebrochen. Gegenüber den Steuerschätzungen des Jahres 2001 müssen die Schätzwerte sowohl für
das laufende Jahr als auch für den Finanzplanungszeitraum
bis 2006 drastisch nach unten korrigiert werden. Die Steuerausfälle machen für die Jahre 2002 bis 2005 65,3 Milliarden Euro aus. Das ist ein finanzpolitischer Offenbarungseid der rot-grünen Regierung.
({1})
Ich frage Sie, meine Damen und Herren, warum Herr
Eichel dafür heute nicht die Verantwortung übernommen
hat. Er müsste hier doch für Ordnung und Klarheit sorgen.
Schon kommen neue Hiobsbotschaften; denn die ersten fünf Monate dieses Jahres lassen weitere Einbrüche
bei der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer erkennen. Obwohl 8,5 Milliarden Euro Körperschaftsteuer für
2002 im Finanzplan eingeplant sind, haben die Finanzämter in den ersten vier Monaten noch nichts eingenommen. Damit haben Sie eine neue Luftblase, eine weitere
optimistische Steuerschätzung geschaffen. In Wirklichkeit geht es weiter bergab. Weitere Steuerausfälle sind
vorprogrammiert.
Was ist die Ursache? - Deutschland hat zu wenig Wirtschaftswachstum. Die Bundesregierung hat durch eine
drastische Senkung der Investitionsquote die Auftriebskräfte zerstört. Die Bundesregierung hat durch ihre Bürokratie- und Reglementierungswut die Kultur der Selbstständigkeit überfordert.
Das Schlimmste: Die Bundesregierung hat eine völlig
verfehlte Steuerpolitik betrieben. Sie haben das deutsche
Steuerrecht geradezu verwüstet, meine Damen und
Herren.
({2})
33 Steuergesetze in knapp vier Jahren stellen den absoluten Irrweg im Hinblick auf das Steuerrecht dar. Bundesfinanzminister Hans Eichel hinterlässt einen steuerpolitischen Scherbenhaufen. Die rot-grüne Steuerpolitik ist
ungerecht und die Steuerreform hat eine deutliche soziale
Schieflage: Die Entlastung bei der Einkommensteuer war
zu zögerlich und zu zaghaft. Der Mittelstand, insbesondere die Personenunternehmen, wird schlechter als Kapitalgesellschaften behandelt.
({3})
Die Reform der Körperschaftsteuer bei den Kapitalgesellschaften hat sich als katastrophaler Fehlschlag erwiesen.
Das alles konnte nur zu einer schnellen Abwärtsspirale
führen. Obwohl die Bedeutung des Mittelstands für mehr
Wachstum und Beschäftigung längst bekannt ist, hat
Rot-Grün eine Steuerreform auf den Weg gebracht, die
Personengesellschaften gegenüber Kapitalgesellschaften
schlechter stellt. Das ist die Handschrift des Genossen
der Bosse, von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dazu
haben Sie die Hand gereicht, meine Damen und Herren.
({4})
Die Großen werden bevorzugt, die Kleinen sollen bluten - das ist die Politik von SPD und Grünen.
({5})
Die großen Konzerne haben im Jahr 2000 noch 23 Milliarden Euro Körperschaftsteuer gezahlt. Im Jahr 2000 wurden ihnen 400 Millionen Euro vom Staat ausgezahlt.
Die Steuerschätzung ist optimistisch geschönt. Der
blaue Brief aus Brüssel, den die Bundesregierung in letzter Minute verhindert hat, wäre angebracht gewesen. Das
zeigen die jetzt in neun Bundesländern verhängten Haushaltssperren mehr als deutlich. Inzwischen hoffen schon
SPD-Landesfinanzminister, dass im Bund wieder eine gerechtere Wirtschafts- und Finanzpolitik gemacht wird.
Verdenken kann man es ihnen wirklich nicht.
Entlastet wurden vor allem diejenigen, die Arbeitsplätze abbauen, nicht diejenigen, die neue Arbeitsplätze
schaffen und geschaffen haben. Deswegen werden wir
zum Jahr 2004 eine neue Steuerreform für mehr Wachstum und Beschäftigung auf den Weg bringen, die Steuervereinfachungen und Steuerentlastungen vorsehen wird.
Niemand soll dann mit mehr als 40 Prozent Steuern belastet werden. Unsere leistungsbereiten Arbeitnehmer, der
Mittelstand und die Existenzgründer müssen wieder ins
Zentrum einer modernen Wirtschafts-, Steuer- und
Finanzpolitik gerückt werden. Mehr Arbeitsplätze in
Deutschland zu schaffen ist die zentrale Herausforderung
an jede künftige Politik.
({6})
Wohlstand und Sicherheit müssen erwirtschaftet werden.
Wer mehr Wachstum und Beschäftigung will, der muss
den Mittelstand und die Arbeitnehmer bei Steuern und
Sozialversicherungsabgaben entlasten, darf aber nicht das
tun, was Sie gemacht haben, meine Damen und Herren.
({7})
Jetzt spricht die Kollegin Nina Hauer für die Fraktion der SPD.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von der CDU/CSU,
Sie wollen uns sagen, dass unsere Steuerreform die Länder unzumutbar belaste.
({0})
Mir ist, ehrlich gesagt, nicht klar, was Sie mit dieser Aktuellen Stunde bezwecken. Sollen wir die hohen Entlastungen, die wir für die Beschäftigten, für die Familien und
für die Unternehmen in diesem Land erreicht haben,
zurücknehmen? Sollen wir dahin zurück, wo wir sie 1998
abgeholt haben,
({1})
zurück zu den hohen Steuersätzen Ihrer Regierungszeit?
({2})
Ich glaube, das kann nicht Ihr Ernst sein. Sie wissen,
dass die hohe Steuerbelastung in Deutschland der Wirtschaftskraft geschadet und die Beschäftigung gedrückt hat.
({3})
Wir haben dafür gesorgt, dass diese Belastungen reduziert
werden.
({4})
Sie wollen die Entlastungen bei der Einkommensteuer,
die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Personenunternehmen zahlen, oder die Entlastungen, die dadurch entstehen, dass ein Personenunternehmen die von
ihm gezahlte Gewerbesteuer auf seine Einkommensteuerschuld anrechnen kann, zurücknehmen. Das sind Maßnahmen, die den Mittelstand voll treffen würden.
Oder Sie sagen: Wir wollen die Entlastungen bei den
Kapitalgesellschaften zurücknehmen. Meine Damen und
Herren, ist Ihnen bekannt, dass nicht nur die großen Kapitalgesellschaften Körperschaftsteuer zahlen? Vielmehr
würden auch über eine Million kleine GmbHs in Deutschland zu der Belastung während Ihrer Regierungszeit
zurückkehren.
({5})
Das würde das Wirtschaftswachstum in Deutschland
bremsen.
({6})
Ich kann mich noch an die Debatte über die Steuerreform im Jahr 2000 erinnern. Übrigens hat die FDP dieser Steuerreform im Bundesrat zugestimmt, ebenso wie
Sie es in den Ländern getan haben, in denen Sie in einer
großen Koalition mitregieren. Deswegen kann ich die
Aussage nicht nachvollziehen, dass die Länder nicht eingebunden worden wären.
({7})
Herr Riebel ist jetzt leider nicht mehr da. Ich kann mich
erinnern: Als wir im Jahr 2000 die Steuerreform beraten
haben, konnte der Ministerpräsident von Bayern hinsichtlich der Senkung des Spitzensteuersatzes den Hals gar
nicht voll genug bekommen. Das war offensichtlich eine
Position, die nicht mit allen Ländern abgesprochen
wurde, in denen Sie regieren;
({8})
denn mittelstandsfreundlich kann das nicht gemeint gewesen sein. Sie müssen mir erst einmal den Handwerksmeister in meinem Wahlkreis zeigen, der den Spitzensteuersatz
auch nur von Weitem sieht. Das ist ein Programm zur Senkung der Besteuerung hoher Einkommen.
({9})
Sie können einmal diejenigen Länder fragen, in denen
Sie Regierungsverantwortung tragen, wie Ihre jetzt unterbreiteten Vorschläge, den Spitzensteuersatz auf unter
40 Prozent zu senken, bezahlt werden sollen.
({10})
Der einzige finanzpolitische Beitrag des Kandidaten der
Union bezieht sich auf den Spitzensteuersatz, nicht aber
auf die mittelständischen Unternehmen. Wie wollen Sie
das bezahlen?
Der designierte Wirtschaftsminister Ihres Kompetenzteams lobt unsere Steuerpolitik. Aber gegenwärtig gilt:
zwei Christdemokraten, drei Gremien, zehn verschiedene
Meinungen. Ihr Wirtschaftsrat fällt dem eigenen Kandidaten mal wieder in den Rücken
({11})
und spricht von einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent.
Haben Sie sich einmal überlegt, wie die Bundesländer das
bezahlen sollen? Oder soll das über einen Selbstfinanzierungseffekt funktionieren, wie ihn Herr Merz und Herr
Faltlhauser im Mai 2000 bei der Debatte über die Steuerreform anführten, als sie sagten, die Reform trage sich
über einen Selbstfinanzierungseffekt zwischen 30 und
70 Prozent irgendwie selber?
({12})
Es ist doch keine solide Finanzpolitik, auf einen Selbstfinanzierungseffekt zwischen 30 und 70 Prozent zu hoffen.
({13})
Ferner sprechen Sie hohe Ausfälle bei der Körperschaftsteuer an. Sie wissen ganz genau, dass diese Ausfälle dadurch entstanden sind, dass die Unternehmen jetzt
ausschütten, was sie im EK 40 haben, weil der Tarif gesenkt wurde. Das ist eine endliche Größe. Wenn das ausgeschüttet ist, dann ist der Fall erledigt.
({14})
Weil im Jahr 2001 so viel passiert ist, ist das Ende absehbar. Die Steuerschätzer haben diese Woche im Finanzausschuss deutlich gemacht, dass die Ausschüttung der Körperschaftsteuer jetzt langsam zum Ende kommt und dass
wir 2003 wieder mit höheren Einnahmen zu rechnen haben. Deswegen kann ich die Aufregung nicht verstehen.
Der neue Präsident des BDI, Herr Rogowski, sagt, die
schnellen Ausschüttungen könnten auch darauf zurückzuführen sein, dass die Unternehmen Angst davor hätten,
dass Sie die Möglichkeiten der steuerfreien Veräußerung
von Beteiligungen wieder zurückdrehten. Dazu kann ich
nur sagen: Ich wünsche Ihnen dabei viel Vergnügen.
({15})
Herr Rogowski hat Recht: Dies wird dazu beitragen, dass
diese ihre Verluste abschreiben. Ich möchte dann sehen,
wie die Länderfinanzen danach aussehen.
({16})
Im nächsten Jahr normalisieren sich die Einnahmen bei
der Körperschaftsteuer wieder.
In einem Punkt haben Sie Recht - das wissen wir auch;
das haben wir im Rahmen unserer Regierungspraxis auch
gezeigt -, nämlich darin, dass wir natürlich auch Verantwortung für die Finanzen der anderen Ebenen in unserem
Staat haben. Wir haben diese auch beim bundesstaatlichen
Finanzausgleich übernommen. Wir haben diesen im letzten Jahr gemeinsam mit den Ländern neu geregelt. Dies
scheinen Sie schon vergessen zu haben; dabei ist es noch
nicht einmal ein halbes Jahr her, dass diese Regelungen in
Kraft getreten sind.
Wir haben auch dafür gesorgt, dass wir in Deutschland
wieder darüber reden können, wie die Finanzierung unserer Kommunen in Zukunft aussehen soll. Bei allen Beiträgen über den Spitzensteuersatz, die jetzt von verschiedenen Kreisen, Kandidaten und Gremien gekommen sind,
habe ich von Ihnen noch keinen vernünftigen Beitrag zur
zukünftigen Finanzierung der Gemeinden gehört.
({17})
In der letzten Woche hat eine Regierungskommission
angefangen zu arbeiten.
({18})
Wir sind daran interessiert, dass uns die Experten einen
Vorschlag unterbreiten. Ich meine, dass wir damit einen
Beitrag leisten, dass die unterschiedlichen Ebenen unseres Staates finanziert werden können. So schaffen wir
Entlastungen für die Beschäftigten, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Lande, die Lohnsteuer zahlen, für die Personenunternehmen, die ihre Gewerbesteuer
anrechnen können und deren Steuersatz noch gesenkt
wird, und für mehr als 1 Million kleine GmbHs bei der
Körperschaftsteuer. Dies ist der richtige Weg, um aus dem
Steuerstaat herauszukommen, den Sie uns hinterlassen
haben.
Vielen Dank.
({19})
Für die
CDU/CSU-Fraktion erteile ich dem Kollegen Dietrich
Austermann das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Kollegin Hauer hat gesagt, dass man seiner Verantwortung gegenüber den übrigen Ebenen des Staates gerecht geworden sei. Ich möchte
Ihnen die Situation anhand meiner aktuellen Erfahrungen
beschreiben.
Ich mache wie viele von Ihnen derzeit Wahlkampf und
komme von Gemeinde zu Gemeinde. Dabei schaue ich
mir die Haushalte der Städte und Gemeinden in SchleswigHolstein an. Ich stelle fest: Überall das gleiche Lied. Es gibt
einen Einbruch bei den Gewerbesteuereinnahmen, die
Gewerbesteuerumlage ist erhöht worden - so viel zum
Thema Solidarität mit den anderen Ebenen -, die Einkommensteuer ist nach dieser größten Reform aller Zeiten, dieser Jahrhundertreform, gegenüber dem Jahr 1998
interessanterweise gestiegen, aber nicht gesenkt worden.
({0})
Die Arbeitnehmer und die Betriebsinhaber können also
gar nichts von einer Steuerentlastung merken.
({1})
Wir können diese Entwicklung also unter der Überschrift - dies gilt in Schleswig-Holstein für Lübeck,
Flensburg, für Kiel und für meinen Wahlkreis Itzehoe „50 Prozent weniger Gewerbesteuereinnahmen“ zusammenfassen. Was bedeutet dies im Ergebnis? Was bedeutet
es, wenn man eine Politik macht, die zur Rezession führt,
die das Wachstum kaputtmacht, die dazu beiträgt, dass die
Beschäftigtenzahl sinkt und die Arbeitslosenzahl steigt?
Das bedeutet, dass eine Situation geschaffen wird, die die
Lage in den Gemeinden noch verschärft.
Die Vereine sind empört darüber, dass es keine Zuschüsse mehr gibt und dass sie künftig für die Nutzung der
Sporthallen Gebühren zahlen müssen. Die Kindergärten
sagen, dass die Gruppen größer werden müssen. Die Eltern müssen höhere Gebühren zahlen. Der Bürger merkt
auf dieser Ebene an allen Ecken und Enden, dass auf Bundesebene eine saumäßige Finanz-, Steuer-, Haushaltsund Wirtschaftspolitik gemacht wird.
({2})
Dies ist eine kurze, knappe und klare Beschreibung: Eine
Politik gegen Wachstum und Beschäftigung rächt sich
beim kleinen Mann. Das ist ganz einfach.
({3})
Dies lässt sich auch auf die anderen Städte und Gemeinden übertragen. Ich nehme einmal Frankfurt am
Main. Frau Kollegin, Sie sind in Frankfurt am Main geboren. Ich hoffe, ich verrate damit kein Geheimnis. Mir
hat jemand gesagt, Sie seien Juso-Vorsitzende von Hessen-Süd gewesen. Deshalb frage ich mich: Wie können
Sie es als ehemalige Juso-Vorsitzende von Hessen-Süd
eigentlich mittragen, dass im Jahre 2001 in Frankfurt
keine einzige Bank einen Pfennig Steuern gezahlt hat?
({4})
Wie können Sie dies verantworten?
({5})
Ich übertrage dies einmal auf andere Regionen. Der
DGB schreibt in seinem neuen Programm zur Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung: Weil sich seit Anfang
2002 der Anspruch auf Rückerstattung der vor 1999 gezahlten Körperschaftsteuer um 5 Prozent verringert hat,
schütteten die Unternehmen 2001 massenhaft Gewinne
aus, die sie vor Jahren in die Rücklage gestellt hatten. Der DGB sagt, dass der Gesetzgeber hier einen Ausschüttungsturbo eingebaut hat.
Schauen Sie sich - der Kollege Michelbach hat darauf
hingewiesen - die Steuererwartungen für dieses Jahr an.
Die Steuerschätzung vom Mai 2002 ist heute, noch nicht
einmal einen Monat später, bereits wieder Makulatur. Bei
der Körperschaftsteuer verhält es sich in diesem Jahr ganz
genauso. Wieso kann ein Mittelständler Beteiligungen
nicht steuerfrei veräußern, während eine große Körperschaft dies tun kann? Das soll gerecht sein? Ich glaube,
Sie müssen die Themen Solidarität und Gerechtigkeit bei
sich neu definieren.
({6})
Ich nenne ein Beispiel: Schauen Sie sich das Steuerkonzept an. Ist es eigentlich sozial gerecht, dass die Gemeinden immer weniger Steuern einnehmen und der
Bund immer mehr Steuern erhält? Ist es sozial gerecht,
dass die Mittelständler mehr Steuern zahlen und die
großen Körperschaften gar keine?
({7})
Ist es eigentlich gerecht, dass man Abfindungen für Arbeitnehmer höher besteuert, den Sparerfreibetrag halbiert
und den Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende senkt,
während man es bei denen, die Dividenden kassieren, genau umgekehrt macht? - Nein. Sie haben eine Politik betrieben, die die Grundlagen für das Wachstum beseitigt
hat. Auch die Grundlage für eine steigende Beschäftigung
ist nicht mehr vorhanden. Die Beschäftigung sinkt und die
Arbeitslosigkeit steigt. Dazu kommt es, wenn man eine
falsche Steuerpolitik betreibt.
Sie haben den Kollegen Rauen gefragt, wie das finanziert werden soll. Sie stellen Fantasierechnungen auf,
nach denen es um 170 Milliarden Euro geht. Es ist ganz
einfach: Weniger Steuern erheben.
({8})
- Ich habe kritisiert, dass Sie die Steuerverpflichtung für
eine ganz bestimmte Gruppe in der Gesellschaft gesenkt
haben und dass damit die Last für die übrige Gruppe,
nämlich für die Masse der Arbeitnehmer und für die kleinen und mittelständischen Betriebe, immer größer wird.
Sie betreiben eine totale Lastenverschiebung.
({9})
Wenn Sie es gerecht machen würden, wäre durch eine
erhebliche Steuerentlastung so viel Spielraum vorhanden,
dass die Wirtschaft wieder Kraft zum Wachstum hätte.
Wachstum würde zu zusätzlichen Arbeitsplätzen und damit zu zusätzlichen Steuern für den Staat führen. Das war
das Rezept von Gerhard Stoltenberg. Genau das Gegenteil
haben Sie gemacht. Deswegen ist das, was Sie tun, schädlich und es muss beendet werden.
({10})
Ich kann der Kollegin Hermenau nur in einem Punkt
folgen. Sie hat gesagt, dass die meisten am Ende immer
das gleiche Zitat gebracht haben. Also gut, ich werde es
jetzt auch bringen: Noch 108 Tage bis zur Bundestagswahl und wenige Tage mehr bis zu einer besseren Regierung, zu einer besseren Steuerpolitik, zu mehr Beschäftigung und zu mehr Wachstum. So einfach ist das.
({11})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Horst Schild.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Kollege Austermann, das waren doch
wieder Nebelkerzen. Es war ein unerträgliches Gebräu
von Halbwahrheiten und Falschheiten, die innerhalb von
fünf Minuten kaum richtig zu stellen sind.
({0})
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Sie sagen, dass Ihnen die Länderfinanzen am Herzen liegen. Sie
können den Ländern allerdings nicht damit helfen, dass
Sie die Gewerbesteuerumlage senken.
({1})
Wer hat denn im Bundesrat einen entsprechenden Antrag
gestellt? Es war das Land Bayern. Für diesen gab es im
Bundesrat keine Mehrheit. Wer hat im Bayerischen Landtag einen Antrag auf Senkung der Gewerbesteuerumlage
zumindest für das Land Bayern - es liegt der bayerischen
Staatsregierung ja so sehr am Herzen - eingebracht? Es
war die SPD-Fraktion dort. Allerdings gab es eine deutliche Abstimmungsniederlage. So reiht sich Halbwahrheit
an Halbwahrheit.
Die CDU-regierten Länder haben der Steuerreform
nicht deshalb nicht zugestimmt, weil sie sich Sorgen über
die Länder- und Gemeindefinanzen gemacht haben, sondern weil sie ihnen nicht weit genug ging.
({2})
Sie wollten eine höhere Entlastung. Was will denn die
CDU/CSU? Wollen Sie die Steuerentlastungen in der jetzigen konjunkturellen Situation zurückdrehen? Sie spielen sich hier zum Wahrer der Finanzinteressen der Länder
und Gemeinden auf.
Die Wahrheit sieht doch ganz anders aus. Im Sommer 2000 wollten Sie eine weiter gehende Steuersenkung.
Der Kollege Thiele hat das Thema vorhin bereits angesprochen. Man kann das auch durchaus begrüßen. Das hat
auch der Kollege Brüderle vor einigen Wochen im Bundestag getan. Er hat zudem auf die Verdienste der FDP bei
dieser Steuerreform verwiesen. Er hat § 34 des Einkommensteuergesetzes, der den halben Steuersatz bei Betriebsveräußerungen im Falle des Übergangs in den Altersruhestand vorsieht, gefeiert. Er hat darauf abgehoben, dass der
Spitzensteuersatz auf Drängen der FDP und des Landes
Rheinland-Pfalz noch weiter nach unten gedrückt wird.
Das kann man zwar alles wollen; aber es trägt nicht dazu
bei, die Finanzen der öffentlichen Hand zu verbessern.
Die CDU/CSU stellt bei jeder Gelegenheit weiter gehende Forderungen nach steuerlichen Entlastungen. Das
war auch im Vermittlungsverfahren zum Unternehmensteuerfortentwicklungsgesetz Ende des vergangenen Jahres der Fall. Zu diesem Zeitpunkt war die konjunkturelle
Eintrübung bereits absehbar. Trotzdem wollten Sie draufsatteln, und zwar ohne Rücksicht auf die Haushalte der
Länder und Gemeinden.
Sie fordern immer wieder weitere Senkungen des Spitzensteuersatzes. Wir haben mit unserer Steuerpolitik die
Steuergerechtigkeit wieder hergestellt. Lassen Sie mich
ein Beispiel nennen. Das Finanzamt Bad Homburg musste
bekanntlich im Jahr 1997 mehr Einkommensteuer auszahlen, als es eingenommen hat - minus 6 Millionen DM.
Nach unserer Steuerreform hat sich im Jahr 2001 für dieses Finanzamt in der Einkommensteuer ein kräftiges Plus
in Höhe von 250 Millionen DM ergeben.
({3})
Lassen Sie mich abschließend ausführen: Im Einklang
mit FDP-Forderungen möchte der CDU-Wirtschaftsrat
den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent und ab 2005 auf
35 Prozent senken, Herr Rauen und Herr Michelbach. Die
Gewerbesteuer soll 2004 völlig abgeschafft werden. Sage
und schreibe 41 Milliarden Euro soll das Entlastungsvolumen betragen. Die Finanzminister der Länder und die
Kämmerer der Kommunen sollten sich diese unseriösen
Forderungen einmal genau anschauen. Dann wissen sie,
welche Regierung in der nächsten Wahlperiode die bessere Politik für Länder und Gemeinden betreibt.
Der CDU-Wirtschaftsrat gibt offen zu, dass der EUStabilitätspakt nicht eingehalten werden soll. Diese Aussage ist bemerkenswert. Im Wahlprogramm der CDU/
CSU heißt es wörtlich:
Deutschland soll in Europa wieder Vorreiter einer
stabilitätsorientierten Haushaltspolitik sein. Die Regierungspolitik in Deutschland darf keinen Anlass
mehr für „blaue Briefe“ bieten.
Der CDU-Wirtschaftsrat bekennt nun, dass dieses Ziel mit
einer CDU/CSU-geführten Bundesregierung nicht zu erreichen ist.
Meine Damen und Herren, die Steuersenkungsforderungen der CDU/CSU sind nicht mit den Bedürfnissen der
öffentlichen Haushalte in Einklang zu bringen.
Danke.
({4})
Ich erteile
nun der Kollegin Susanne Jaffke das Wort. Sie spricht für
die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Im sechsmonatigen Rhythmus spielt sich seit geraumer Zeit ein Drama ab, welches
alle Haushaltspolitiker, egal ob von Bund, Ländern oder
Kommunen, nur noch mit Schaudern erfüllen kann. Ich
meine die jeweiligen Steuerschätzungen im November
und Mai, besonders seit dem Jahr 2000. So verhält es sich
auch mit dem Ergebnis der Steuerschätzung vom Mai des
Jahres 2002.
Am 16. Mai wurde nämlich durch den Arbeitskreis
Steuerschätzung Folgendes verkündet: Im Vergleich zur
Schätzung vom November 2001 werden die erwarteten
Einnahmen der Länder um 4,2 Milliarden Euro für 2002,
um 2,9 Milliarden Euro für 2003, um 2,3 Milliarden Euro
für 2004 und um 2,7 Milliarden Euro für 2005 unter den
erwarteten Einnahmen liegen.
Für alle staatlichen Ebenen prognostiziert der Arbeitskreis Steuerschätzung einen Gesamtausfall für den Zeitraum bis 2005 von 65 Milliarden Euro. Wenn man sich
dann vor Augen führt, dass die so genannte große Steuerreform des Jahres 2000 als das Aufschwung- und Konjunkturförderereignis in der Öffentlichkeit zelebriert wurde, kann ich heute an dieser Stelle nur feststellen: Alles
heiße Luft!
({0})
Die rot-grüne Bundesregierung hat in den letzten
vier Jahren gezeigt, dass sie nicht in der Lage ist, die Probleme unseres Landes zu lösen. Die Steuerreform mit
Belastung der Länder und vor allen Dingen der Kommunen - die Gewerbesteuerumlageerhöhung sei hier nur als
Stichwort genannt; mein Kollege Austermann hat schon
alles plastisch verdeutlicht - hat die kommunalen Haushalte in den Ruin getrieben. Die neuen Bundesländer trifft
das besonders hart.
({1})
Überregulierungen durch Gesetze und Vorschriften im
Bereich des Arbeitsmarktes haben unser Land beim Wirtschaftswachstum auf den letzten Platz in Europa rutschen
lassen. Der Aufschwung für die neuen Bundesländer ist
hier Stagnation bzw. Abschwung. Bürokratiedekrete als
Korsettstangen für jeden Selbstständigen führen zusätzlich zu Unternehmenspleiten nie gekannten Ausmaßes.
({2})
Eine verkorkste Rentenreform belastet darüber hinaus die
Haushalte und die Beitragszahler. Eine nicht in Angriff
genommene Gesundheitsreform hat de facto schon zur
Zweiklassenmedizin geführt.
Diese Steuerreform belastet vor allen Dingen Rentner,
Alleinerziehende, Sozialhilfeempfänger, Auszubildende
und Studenten sowie Kleinverdiener und kinderreiche Familien besonders in den neuen Bundesländern und in allen Flächenstaaten. Sie belastet - ich bin Mitglied eines
Kreistages und weiß, wovon ich rede - Länder und kommunale Haushalte im Bereich der ergänzenden Sozialhilfe. Dadurch werden dringend benötigte Investitionen
bei Ländern und Kommunen verhindert. Mit einer solchen Steuerreform ist die infrastrukturelle Lücke in den
neuen Bundesländern nicht zu schließen und der Nachholbedarf nicht zu befriedigen. Diese Steuerreform
begünstigt Großverdiener und Großkonzerne. Sie ist eigentlich einer Partei unwürdig, die das Soziale auf ihrem
Schild haben will.
({3})
Es gibt zwei Aussagen, die den gleichen Wahrheitsgehalt haben: Erstens. Die Erde ist eine Scheibe. Zweitens. Diese Bundesregierung betreibt eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({4})
Lassen Sie uns am 22. September diesem Spuk ein Ende
bereiten.
({5})
Nun erteile
ich als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde das
Wort dem „Neun-Sterne-Abgeordneten“ Hans Urbaniak
für die SPD-Fraktion.
({0})
Das heißt aber nicht, dass Sie für jeden Stern eine Minute
Redezeit bekommen.
Herr Präsident!
Kolleginnen und Kollegen! Herr Austermann, es wird
eine ordentliche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik
gemacht. Es wird eine gute Politik für die Arbeitnehmer
und die Familien gemacht. Das können Sie an den Leistungen, die wir im Laufe dieser Legislaturperiode verabschiedet haben, genau nachvollziehen.
Wie sah es bei Ihnen mit Kindergelderhöhungen aus? Das Bundesverfassungsgericht hat Sie ermahnt und Sie
haben sich nicht bewegt.
({0})
- Selbstverständlich war das so.
Wie war es bei den Sozialversicherungsbeiträgen? - So
hoch, wie sie bei Ihnen waren, waren sie bei uns nie.
Während unserer Regierungszeit ist beispielsweise der
Beitragssatz in der Rentenversicherung auf 19,1 Prozent
gesunken. Sie hätten die Sozialversicherungen in den
Kollaps geführt. Kollege Austermann, ich verweise auf
das alles, weil Sie behauptet haben, wir hätten keine ordentliche Politik gemacht.
Wir haben des Weiteren genau 1,2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen.
({1})
Ich betone das, damit Sie sich das merken können. Das ist
ganz wichtig.
({2})
Die Arbeitslosenzahl sinkt. Darüber sollten wir uns alle
freuen.
({3})
Wenn der Kollege Austermann von der Unsolidität unserer Finanzpolitik spricht,
({4})
dann erinnere ich, Kollege Roth, nur an den Haushalt, den
Sie 1998 vorgelegt haben.
({5})
Damals waren 30 Milliarden DM nicht gedeckt. Ihr Verhältnis zu den Ländern war sehr getrübt. Die Bundesergänzungszuweisungen für das Saarland und für Bremen
waren überhaupt nicht vorgesehen, sodass Sie einen
Haushalt der Unaufrichtigkeit vorgelegt haben.
({6})
An der Konsolidierung kommt niemand vorbei. Wir
wollen diese Konsolidierung voranbringen; denn wir haben einen Schuldenstand von 1,5 Billionen DM übernehmen müssen. Kollege Austermann, schreiben Sie das
doch in Ihre Brieftasche. 1,5 Billionen DM Schulden, das
war das Ergebnis Ihrer Politik. Sie haben einen Schuldenberg hinterlassen.
({7})
- Selbstverständlich ist die Verschuldung leicht angestiegen; denn der Anstieg wird erst dann aufhören, wenn der
Haushalt ausgeglichen sein wird. Das ist das Ziel der Bundesregierung und das wird sie auch schaffen.
({8})
- Sie werden das selbstverständlich erleben, das ist überhaupt keine Frage.
Mir geht es darum, Ihnen zu sagen, dass wir im Rahmen der Haushaltspolitik all die Maßnahmen getroffen
haben, die notwendig sind, um das Gemeinwesen funktionsfähig zu halten. Ich denke an den Solidarpakt II. Er
stellt ja wohl eine Jahrhundertleistung dar.
({9})
Selbst Herr Biedenkopf sagt, das sei ein Ergebnis wie 17:0
in einem Fußballspiel. Alle Länder, sowohl die alten als
auch die neuen Bundesländer, haben zugestimmt. Wann
haben Sie das jemals erreicht? Das ist doch eine große
demokratische Solidarität in Finanzfragen, die zum Ziel
hat, dass es kontinuierlich und seriös weitergeht.
Mir geht es nur darum, Ihnen Folgendes noch ganz kurz
vorzuhalten: Das, was Sie an zusätzlichen Ausgaben in
dieser Legislaturperiode vorgeschlagen haben, hätte rund
271 Milliarden DM neue Schulden verursacht; eine
Summe, die überhaupt nicht gedeckt ist. Darum haben Sie,
lieber Kollege Austermann - das Wort „lieber“ kommt mir
schwer über die Lippen; aber ich sage es einmal; denn wir
haben uns im Haushaltsausschuss sachlich und freundlich
auseinander zu setzen -, eine unseriöse Politik betrieben.
Sie haben heute das Füllhorn der Verschuldung ausgeschüttet. Sie bleiben in der Tradition: Bei den Arbeitnehmern wollen Sie die Mehrarbeitszuschläge besteuern, die
Sonn- und Feiertagszuschläge ebenfalls. Die Arbeitnehmer sollen die Zeche zahlen. So hat es Ihr Wirtschaftskreis
beschlossen. Das machen wir nicht mit und das werden
die Kumpel sehr schnell merken.
({10})
Die aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis d sowie die
Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
5 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Chancen auf Arbeit für alle - Offensive in der
Arbeitsmarktpolitik
- Drucksache 14/9225 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland 2002
- Drucksache 14/8715 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine grundlegend neue Organisation der
Arbeitsmarktpolitik
- Drucksache 14/8287 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Matthias Wissmann,
Brigitte Baumeister, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Politik für mehr Beschäftigung statt organisationspolitischem Aktionismus
- Drucksachen 14/8363, 14/9256 Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi
Knake-Werner, Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth
Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Arbeitszeitgesetz ({4}) beschäftigungssichernd reformieren - Überstunden abbauen
- Drucksache 14/6113 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Brigitte Baumeister,
Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Arbeitsrecht flexibilisieren - Beschäftigung
schaffen
- Drucksachen 14/8267, 14/9221 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
Nach einer intrafraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Danach gibt es einige strittige Abstimmungen.
Zu der Vereinbarung höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Adolf Ostertag für die Fraktion der SPD
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die rot-grüne Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode große Erfolge
erzielt und eine Vielzahl wichtiger Projekte auf den Weg
gebracht. Wir haben heute darüber schon einige Stunden
lang debattiert.
Wir haben auch festgestellt, dass wir von der schwarzgelben Bundesregierung 1998 einen Trümmerhaufen
übernommen haben: Rekordschulden im Bundeshaushalt,
eine Sozialversicherung am Rande des Zusammenbruchs
und eine Massenarbeitslosigkeit von beinahe 5 Millionen
Menschen. In relativ kurzer Zeit haben wir erreicht, dass
es diesem Land und seinen Menschen wieder besser geht.
({0})
Wir haben damals versprochen, die Arbeitslosigkeit
zu bekämpfen und mehr Arbeitsplätze zu schaffen.
Heute können wir schon mit ein wenig Stolz sagen: Versprochen und Wort gehalten.
({1})
Seit 1998 haben wir dafür gesorgt, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland dauerhaft um 500 000 gesunken ist.
In der gleichen Zeit stieg die Zahl der Erwerbstätigen um
1,2 Millionen.
Mit dem Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit haben 400 000 junge Menschen in
diesem Land wieder eine echte Chance auf einen Berufseinstieg. Damit haben diese jungen Menschen eine neue
Lebensperspektive bekommen. Das haben wir 1998 versprochen und wir haben auch hier Wort gehalten.
Wir haben außerdem das von Kanzler Kohl beerdigte
Bündnis für Arbeit neu belebt. In der nächsten Wahlperiode werden wir es fortsetzen; darüber sind sich alle Beteiligten - die Gewerkschaften, die Arbeitgeber und natürlich die Bundesregierung - einig. Die Ziele bleiben klar:
Wir wollen die Sicherung der bestehenden Arbeitsplätze
und die Schaffung von mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätzen erreichen. Die Ergebnisse bei den Themen „Altersteilzeit“ und „Fachkräftemangel in der IT-Branche“
sowie die Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von
Ausbildungsplätzen zeigen, dass das Bündnis erfolgreich
war, auch wenn manchmal etwas anderes zu hören war.
Die Zwischenbilanz lautet ganz einfach: Auch hier haben
wir Wort gehalten.
Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist in Deutschland das
Job-AQTIV-Gesetz in Kraft. Mit dieser gesetzlichen
Grundlage haben Bundesregierung und Koalitionsfraktionen die Arbeitsförderung grundlegend reformiert. Die vier
tragenden Säulen sind: Intensivierung der Arbeitsvermittlung, berufliche Qualifizierungsoffensive, Verbesserung
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Verankerung
des Prinzips „fördern und fordern“. Ziel ist es, durch passgenaue Angebote Arbeitslosigkeit, speziell natürlich Langzeitarbeitslosigkeit, frühzeitig zu verhindern. Die Zeiten, in
denen das Arbeitsamt weitgehend Verwaltung und Zahlstelle war, sind damit endgültig vorbei. Im Gegensatz zu
Union und FDP betrachten wir diejenigen, die nach Arbeit
suchen, nicht als statistische Einzelgrößen, als Verwaltungsvorgänge oder als Menschen, die an ihrem Schicksal
ohnehin selbst schuld sind. Wir sehen den Arbeitslosen in
seiner ganzen Individualität mit seinen Fähigkeiten und seinen Bedürfnissen. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz haben wir
dem Arbeitsvermittler vor Ort ein Instrument in die Hand
gegeben, das dieser Individualität Rechnung trägt.
Wir haben 1998 den Menschen auch versprochen, endlich wieder mehr soziale Gerechtigkeit und faire Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt - auch das gehört zur Arbeitsmarktpolitik - herzustellen. Union und FDP haben
den vollen Kündigungsschutz abgeschafft. Wir haben ihn
wieder eingeführt.
({2})
- Da besteht ein Unterschied zu Ihnen. Wir haben in unserem Wahlprogramm beschlossen, dass es beim Kündigungsschutz bleibt, den wir wieder eingeführt haben.
({3})
Wenn bei Ihnen ein Ministerpräsident was sagt, dann ändern
Sie sogar Ihr Wahlprogramm. Wir werden das nicht tun.
({4})
Union und FDP haben die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall abgeschafft. Wir haben sie wieder in vollem Umfang eingeführt. Union und FDP haben das Schlechtwettergeld abgeschafft. Wir haben es wieder eingeführt.
({5})
Gegen den heftigsten Widerstand von Ihnen und von den
Arbeitgebern haben wir das Betriebsverfassungsgesetz
reformiert. Damit hat die schleichende Verdrängung der
Arbeitnehmerinteressen aus den Betrieben ein Ende gefunden.
Mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und der gesetzlichen Regelung befristeter Beschäftigungsverhältnisse haben Arbeitnehmer wie Arbeitgeber jetzt erweiterte
Spielräume für individuelle Arbeitszeitgestaltung.
({6})
Schließlich haben wir am 26. April in diesem Haus das
Tariftreuegesetz für die Vergabe öffentlicher Aufträge
verabschiedet. Damit soll erreicht werden, dass erstens
die mittelständischen Unternehmer nicht weiter durch
Lohndumping und ruinösen Wettbewerb in den Konkurs
getrieben werden, zweitens den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern in den betroffenen Branchen nicht die Lebensgrundlage entzogen wird und drittens das Prinzip
„gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wieder gestärkt wird.
({7})
Dieses Gesetz haben Stoiber und seine Länderkumpanen
am vergangenen Freitag im Bundesrat vorerst verhindert,
obwohl ein solches Gesetz in Bayern seit Jahren besteht.
Wir werden ja sehen, welche wahltaktischen Spielchen
die Union im Vermittlungsausschuss noch verabredet.
Vermutlich hat die Laienschauspielertruppe um Koch und
Müller schon geübt, wie sie das machen wird.
Wir haben den Menschen 1998 mehr soziale Gerechtigkeit versprochen und wir haben Wort gehalten. Diese
lange Liste könnte noch ergänzt werden. Bezogen auf eine
sozial- und arbeitsmarktpolitische Bilanz kann ich sagen:
Wir haben sogar mehr erreicht, als wir den Menschen
1998 versprochen haben.
({8})
- Doch, das glaube ich; davon bin ich überzeugt.
({9})
Ich könnte die Liste wirklich noch verlängern. Ich glaube,
wenn Sie heute Morgen bei der Debatte zum Sozialversicherungssystem ein paar Stunden hier gewesen wären,
könnten Sie das nachvollziehen.
({10})
Aber welche Konzepte haben nun CDU und CSU zu
bieten? Wenn man Ihr Wahlprogramm liest, dann sieht
man, dass darin alles nach dem Motto geht: Jeder kümmert
sich am besten um sich selbst, dann ist für jeden gesorgt.
Sie nehmen in Kauf, dass alte, kranke, behinderte Menschen, die aus eigener Kraft mit den schnellen Veränderungen in unserer Gesellschaft nicht Schritt halten können,
auf der Strecke bleiben. Mit anderen Worten: CDU und
CSU wollen letztlich nichts anderes als den schleichenden
Rückzug des Sozialen aus der Gesellschaft.
Neu ist das nicht.
({11})
Die Menschen in diesem Land wissen ganz genau, wer
vor 1998 für die Abkehr vom Sozialstaat verantwortlich
war. Ruinöse Staatsverschuldung, Plünderung der sozialen Kassen und ständig steigende Massenarbeitslosigkeit
unter der Regierung Kohl sind nicht vergessen. Stoiber
will genau hier weitermachen, wo Kohl aufgehört hat: Deregulierung und Entsolidarisierung.
({12})
Zum Beispiel fragt die „Frankfurter Rundschau“ heute
in ihrem Kommentar - ich zitiere -:
Zu welchem Preis sollen der Einkommensteuerspitzensatz, die Staatsquote und die Sozialabgaben unter
die Schwelle von 40 Prozent gesenkt werden?
({13})
Zum Preis der finalen Verwüstung öffentlicher Haushalte? Zum Preis der Zerschlagung des Sozialstaats?
Zum Preis von Leistungskürzungen in den Sozialversicherungen? Will die Union nun Millionen Bezieher
von Niedrigeinkommen staatlich alimentieren?
({14})
Die Antworten auf diese Fragen bleiben Sie in Ihrem Programm schuldig. Das wissen Sie. Ich sage Ihnen: Die
Menschen werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Sie
werden Ihnen nicht erneut auf den Leim kriechen.
({15})
Eine Rückkehr zum armen Staat, den sich nur Reiche
und Superreiche leisten können - wie es Kohl und Waigel
eingeleitet haben und Stoiber & Co. vollenden wollen -,
wird es mit uns nicht geben.
({16})
Was haben Sie außer neuer Schuldenmacherei noch zu
bieten? Ganz oben auf Ihrer Liste steht erneut der massive
Abbau der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Der Kündigungsschutz soll „rasiert“ werden, das Betriebsverfassungsgesetz soll zurückgefahren
werden, Teilzeitregelungen sollen zurückgenommen werden, die Tarifautonomie steht wieder auf der Tagesordnung - sie soll ausgehebelt werden - und letztlich folgt die
rigorose Verlagerung der Tarifvereinbarungen auf die betriebliche Ebene, die Sie vorhaben und die nichts anderes
heißt, als die Beschäftigten und die Betriebsräte erpressbar zu machen.
Dann haben Sie ein wunderbares Drei-Säulen-Modell
vorgelegt. Sie wollen den Bereich der geringfügig Beschäftigten ausweiten. Auch darüber ist heute schon diskutiert worden. Die Folgen nehmen Sie in Kauf, nämlich
den systematischen, schleichenden Kollaps der gesetzlichen Rentenversicherung und natürlich auch die Verschleuderung von Milliarden Euro an Steuergeldern durch
einseitige Subventionen.
Nennenswerte Beschäftigungseffekte können Sie so
nicht erzielen. Das haben Ihnen bereits namhafte Ökonomen bescheinigt. Sie spekulieren auf 800 000 Arbeitsplätze. Die Institute sprechen gerade einmal von 30 000 Arbeitsplätzen. Das ist doch schon bezeichnend.
In Ihrer Wundertüte steckt auch Herr Späth, der eben
einmal ganz locker die Abschaffung der AB-Maßnahmen
für Ältere fordert und sagt, man sollte diese Menschen
doch lieber anderweitig einsetzen. Aber was heißt das
denn? Das sagt er natürlich nicht. Das heißt nichts anderes, als dass Herr Späth diese Frauen und Männer, die zum
Teil 30 Jahre und länger gearbeitet haben, in die Wüste
schicken will.
Meine Damen und Herren von der Union, ich kann Ihnen versichern: Die Menschen in diesem Land werden Ihnen keine Gelegenheit geben, diese rückwärts gewandte
Konzeption nach dem 22. September in die Tat umzusetzen. Die Koalitionsfraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen setzen stattdessen weiterhin - wie es in unserem Antrag steht - auf Chancen auf Arbeit für alle und
eine neue Offensive in der Arbeitsmarktpolitik.
({17})
Im Gegensatz zu Ihnen grenzen wir niemanden aus,
sondern wir wollen allen ein Angebot auf Teilhabe in dieser Gesellschaft und am Erwerbsleben machen. Dazu haben wir in dieser Legislaturperiode viel erreicht, aber die
Arbeit wird weitergehen. Ich glaube, auf diesen Erfolgen
müssen wir aufbauen.
Gerade bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit müssen und werden wir in den nächsten vier Jahren neue Anstrengungen unternehmen. Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, die Schaffung von Beschäftigung ist und
bleibt erklärtermaßen das Ziel Nummer eins. Wir werden
auch in den nächsten vier Jahren mit aller Kraft dafür arbeiten. Frühzeitige Qualifizierung, passgenaue Vermittlung und individuelle Hilfestellungen sollen jedem einzelnen Arbeitsuchenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt
eröffnen. Ich glaube, die Neuorganisation der Bundesanstalt, die für mehr Effizienz in der Arbeitsvermittlung
sorgt, wird dazu auch einen Beitrag leisten.
Die Opposition hatte 16 Jahre lang ihre Chance.
({18})
Sie hat kläglich versagt und wurde zu Recht abgewählt.
Trotzdem legen Sie von der CDU/CSU ein Wahlprogramm mit den alten verstaubten Rezepten und Versprechen vor, die in keiner Weise zu finanzieren sind und unser Land wieder in die Schuldenfalle treiben. Das hat die
Aktuelle Stunde eben noch einmal nachhaltig unterstrichen. Oder Sie schlagen Maßnahmen vor, die wir längst
schon auf den Weg gebracht haben.
Der „Münchner Merkur“, sozialdemokratischer Nähe
unverdächtig, bezeichnet das so genannte Wahlprogramm
der Union als Aufbruch der Schnecken. Das „Handelsblatt“, auch kein sozialdemokratisches Blatt, bescheinigt
diesem Programm die Dynamik eines Faultiers und empfahl dringend, bei dessen Lektüre für frische Luft im
Raum zu sorgen.
({19})
Den Kommentaren dieser Blätter ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Deshalb brauchen wir weiterhin eine aktive
Arbeitsmarktpolitik, die auf Erneuerung setzt und gleichzeitig den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert.
Dafür steht diese Bundesregierung, dafür stehen die Koalitionsfraktionen. Ich bin davon überzeugt: Nach der
Wahl werden wir unsere Arbeit fortsetzen und diesen Weg
weitergehen.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Wolfgang
Meckelburg.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was Sie, Herr Ostertag, in Ihrer vermutlich letzten Rede vor diesem Bundestag vorgetragen
haben, erinnerte doch eher an den Versuch, Dinge so darzustellen, dass eine Welt entsteht, wie Sie sie gerne sehen
würden, die aber in Wirklichkeit nicht besteht.
({0})
Dem von Ihnen angeführten Zitat, unser Programm
entspreche dem Aufbruch von Schnecken, könnte ich jede
Menge Zitate entgegenstellen, die etwas anderes sagen.
({1})
- Ja, er hat zitiert. Dem könnte man eine Menge entgegensetzen.
Im Gegensatz zu einem Bundeskanzler, der sich selber
zur ruhigen Hand bekennt - ich habe einmal in anderem
Zusammenhang hier gesagt, dass die ruhige Hand, die die
Räder anhält, ein früherer Spruch der Gewerkschaften ist;
man hat häufig das Gefühl, dass sie heute im Kanzleramt
sitzt und nichts mehr bringt -, ist ein Aufbruch der
Schnecken schon ein Riesenschritt. Sie sind gerade noch
in der Lage, mit der ruhigen Hand die rote Laterne in Bezug auf alle wesentlichen Daten im europäischen Vergleich hochzuhalten und den blauen Brief in Empfang zu
nehmen. Mehr ist Ihre Politik nicht mehr wert.
({2})
Dann haben Sie, Herr Ostertag, von sozialer Gerechtigkeit gesprochen. Darauf entgegne ich Ihnen in aller
Deutlichkeit: Es gibt eine lange Liste von Maßnahmen,
die Sie umgesetzt haben. Wenn wir diese umgesetzt hätten, wäre uns das von den Gewerkschaften massiv vorgeworfen worden. Aber Sie haben das alles umgesetzt. Dabei ist nicht mehr soziale Gerechtigkeit, sondern mehr
soziale Ungerechtigkeit herausgekommen.
({3})
- Ja, vertreten Sie das ruhig offensiv vor der Wahl bei der
Bevölkerung.
Ich nenne nur ein paar Beispiele. Erklären Sie den Leuten, wieso die großen Betriebe keine Körperschaftsteuer
mehr zahlen; das brachte im Jahr 2000 noch Einnahmen
in Höhe von 20 Milliarden.
({4})
Heute ist die Körperschaftsteuer, also das, was die Großbetriebe eigentlich an den Staat zahlen müssten, auf staatlicher Seite zu einem Ausgabeposten mutiert. Sie müssen
einmal klar machen, was es mit sozialer Gerechtigkeit zu
tun hat, wenn die kleinen Leute mehr Beiträge in die Sozialversicherung zahlen müssen und durch die Ökosteuer
abgezockt werden und bei der Arbeitslosigkeit keine Bewegung zu erkennen ist.
({5})
Das ist im höchsten Maße sozial ungerecht. Das sagen wir
auch ganz deutlich.
({6})
Ich nehme einmal ein anderes Beispiel - man könnte
wirklich eine ganze Liste von Maßnahmen aufstellen, die
Sie in der jetzigen Legislaturperiode umgesetzt haben -:
Die Beiträge, die der Staat für die Arbeitslosen in die Renten- und Pflegekasse zahlt, haben Sie massiv gekürzt. Sie
haben damit Altersarmut vorprogrammiert. Das ist Bestandteil Ihrer sozial ungerechten Politik gewesen. Reden
Sie hier nicht von sozialer Gerechtigkeit. Der Zug ist für
die SPD in dieser Wahlperiode wirklich abgefahren.
({7})
Ich wollte eigentlich etwas ganz anderes sagen, aber
Folgendes muss klargestellt werden, Herr Ostertag, wenn
Sie hier sagen, die Staatsquote solle auf unter 40 Prozent
zurückgeführt werden. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis,
dass die Rückführung der Staatsquote auf unter 40 Prozent ein langfristiges Ziel ist. Aber die Richtung stimmt.
Warum soll das, wenn wir das fordern, falsch sein, wenn
es noch richtig war, als es Bundeswirtschaftsminister
Müller zu Beginn dieser Legislaturperiode gesagt hat? Im
Wirtschaftsbericht 1999 hat er wörtlich eine Rückführung
der Staatsquote auf unter 40 Prozent gefordert.
({8})
Sie haben diese Richtung aber nicht eingeschlagen.
Wir haben es in den 80er-Jahren geschafft, von einer
Staatsquote von über 51 Prozent auf ungefähr 45 Prozent
herunterzukommen. Das war ein langer Weg. Trotzdem
haben wir positiv Sozialpolitik machen können,
({9})
weil wir Wachstum hatten. Genau diesen Weg wollen wir
wieder gehen.
({10})
Lassen Sie mich ein paar Dinge zu Ihrem Antrag sagen.
({11})
Ich habe ihn gelesen; es gibt ihn ja seit gestern Abend. Die
Überschrift haben Sie noch zweimal geändert; das lasse
ich jetzt einmal weg. Ich muss wirklich sagen: Dieser Antrag ist schon ziemlich dreist. Wo immer Sie hinschauen,
gibt es massive Kritik an Ihrer Politik.
({12})
Es gibt Alternativen ohne Ende. Es ist auch in der Bevölkerung weit verbreitet, dass Sie es in den vier Jahren nicht
gepackt haben, denn sonst hätten Sie andere Umfragezahlen. Dennoch schaffen Sie es, hier einen Antrag vorzulegen - ich habe dem Kollegen Brandner gestern schon
gesagt, dass das eine Art Argumentationspapier für Kollegen aus anderen Ausschüssen ist, die hören wollen, was in
dem Bereich überhaupt gemacht worden ist -,
({13})
in dem Sie dreist schreiben:
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest
Positive Bilanz
({14})
So geht es los. Wenn Sie hier mit Mehrheit beschließen
wollen, dass Ihre Bilanz positiv ist, dann tun Sie bitte auch
das noch. Draußen glaubt Ihnen das aber längst kein
Mensch mehr.
({15})
Jetzt komme ich zum zweiten Teil. Da haben Sie zwölf
Aufforderungen an die Bundesregierung aufgelistet. Wenn
man die liest, muss man sich fragen: Was haben Sie eigentlich die letzten vier Jahre gemacht? Die zwölf Punkte,
die in Ihrem Antrag stehen, sind zwölf Aufforderungen zu
prüfen und zu suchen: Die Bundesregierung möge prüfen,
an einer Stelle möge sie sogar suchen usw. Für eine Partei,
die den Anspruch hat, soziale Gerechtigkeit verwirklicht
und auf dem Arbeitsmarkt etwas erreicht zu haben, sind
Prüf- und Suchaufträge der letzte Anker. Deswegen hätten
Sie diesen Antrag heute besser nicht eingebracht.
({16})
Ich hätte gerne zu ein paar Dingen noch etwas gesagt;
aber wir haben ja noch zwei weitere Redner. Zwei, drei
Punkte möchte ich jedoch noch nachfragen, weil ja im
Verlauf der Debatte der Bundesarbeitsminister redet. Ich
fände es schon interessant, Herr Bundesarbeitsminister,
wenn Sie uns gleich einmal mitteilen, warum Sie in Bezug auf das Job-AQTIV-Gesetz einen Vermerk an den
neuen Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit, Herrn Gerster, geschrieben haben,
({17})
warum Sie mit der Umsetzung unzufrieden sind und was
Sie an weiteren Dingen erwarten, die Ihnen das Leben im
Wahlkampf einfacher machen könnten.
Wenn man sich einmal die Abgänge aufgrund des JobAQTIV-Gesetzes in die Nichterwerbstätigkeit anschaut,
sieht man, dass es ein Riesending ist, wie Sie die Zahl der
Arbeitslosen statistisch herunterbringen.
({18})
Dennoch können wir feststellen - wir werden das morgen
sehen -, dass Sie das Ziel von 3,5 Millionen Arbeitslosen
nicht erreichen werden. Man hätte locker auf diese Zahl
kommen können; denn jährlich sind 200 000 ältere Menschen mehr aus dem Arbeitsmarkt ausgestiegen, als junge
eingestiegen sind. Sie werden im Schnitt des Jahres bei
knapp unter 4 Millionen bleiben. Sie werden bei den Zahlen, die wir morgen hören werden, auch merken: Die
Arbeitslosenzahl ist zwar wieder einmal saisonal bedingt
zurückgegangen - um gut 150 000 -, aber sie wird dennoch
wieder gut über 150 000 über der des Vorjahres liegen.
Das ist der eigentliche Punkt. Sie gehen mit dem Anspruch, auf dem Arbeitsmarkt etwas verwirklicht zu haben, ins Wahljahr und müssen sich Monat für Monat nachweisen lassen, dass die Zahl der Arbeitslosen über der des
Vorjahres liegt
({19})
und dass die saisonal bereinigte Zahl der Arbeitslosen seit
Dezember 2000 fast jeden Monat steigt.
Das ist keine positive Bilanz. Deswegen dürfen Sie einen solchen Antrag eigentlich nicht beschließen. Sie können es tun, aber draußen wird Ihnen das kein Mensch
glauben.
({20})
Ich habe mich leider auf ein paar Dinge beschränken
müssen.
({21})
Ich hätte gern noch mehr zu dem Antrag gesagt, aber es
mussten wenigstens ein paar Dinge, die heute schon
mehrfach falsch von Ihnen zitiert worden sind, zurechtgerückt werden.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören. Ihnen, Herr Ostertag,
wenn es denn Ihre letzte Rede war
({22})
- wenn nicht, dann sage ich es noch einmal; trotzdem sage
ich es jetzt schon -, für die Zusammenarbeit herzlichen
Dank und alles Gute.
({23})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Thea Dückert.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
hatten vorhin schon einmal Gelegenheit, zu den Sozialversicherungssystemen zu reden. Da habe ich etwas Erstaunliches festgestellt. Wir haben in dem abschließenden
Beitrag von Herrn Blüm noch einmal ein gutes Beispiel dafür bekommen, wie auch hier mit Taschenspielertricks versucht wird, sich hinsichtlich dessen, was die
CDU/CSU uns als Programm vorlegt, gesundzurechnen.
Herr Blüm hat auf meine Frage, wie denn 170 Milliarden Euro Steuerausfälle bei der von Ihnen vorgeschlagenen 40 : 40 : 40-Politik zu finanzieren seien, vorgerechnet, dass 100 000 Arbeitslose weniger 1,5 Milliarden
Euro Einsparungen in der Arbeitslosenversicherung bringen. Das ist natürlich richtig. Nur, wenn man sich vor Augen führt, wie diese Summe von 170 Milliarden Euro im
Verhältnis zu 1,5 Milliarden steht, fragt man sich, was da
gerechnet wird. Wenn man sich vorstellt, was uns Herr
Blüm als damals verantwortlicher Minister zurückgelassen hat, nämlich 4,3 Millionen Arbeitslose, fragt man sich
doch, warum er diese so genannte Sparkasse über die Senkung der Arbeitslosigkeit damals nicht genutzt hat.
({0})
Wenn ich mir das alles vor Augen führe, komme ich zu
dem Ergebnis: Das war keine seriöse Rechnung von
Norbert Blüm, sondern eher eine Rechnung, die man zum
Beispiel eher Benjamin Blümchen zutrauen könnte.
({1})
Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass es falsch ist,
wenn Herr Blüm oder Herr Stoiber oder auch Herr Späth
hier versuchen, zu suggerieren, es gebe bei der Arbeitsmarktpolitik so etwas wie eine Wunderwaffe. Der
Arbeitsmarkt ist kein Hut, aus dem man ein Kaninchen
zaubern kann. Wir brauchen auf dem Arbeitsmarkt ein Bündel von Maßnahmen in der Finanzpolitik, in der Haushaltspolitik, in der Arbeitsmarktpolitik und natürlich - da sind
sich hier alle immer einig - auch in der Mittelstandspolitik,
weil der Mittelstand der Motor für mehr Beschäftigung ist.
({2})
Wir brauchen ein Bündel von Maßnahmen, aber es ist
ein großer Irrtum, wenn Sie meinen, das würde bedeuten,
dass jedes Mittel recht ist. Der große Irrtum besteht zum
Beispiel darin, Menschen aus dem Arbeitsmarkt auszugrenzen, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Beispielsweise ist Ihr Vorschlag mit dem stoiberschen Familiengeld - der bedeutet: Frauen zurück an den Herd ({3})
nichts anderes als der Versuch, Frauen aus dem Arbeitsmarkt auszugrenzen. Wir brauchen an dieser Stelle die Integration, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Daraus wird eine vernünftige Arbeitsmarktpolitik. Die
Nachbarländer haben es uns vorgemacht. In den Ländern, in
denen die Frauenerwerbstätigkeit hoch ist, ist die Arbeitslosigkeit niedrig und insgesamt die Erwerbsquote höher.
({4})
Der gleiche Irrtum, dem Sie mit Ihre Vorschlägen zur Arbeitsmarktpolitik aufsitzen, bezieht sich auf die Gruppe der
älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Herr
Späth sagt allen Ernstes, für ältere Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer sei eine Qualifizierung nicht mehr notwendig, ja geradezu herabsetzend. Er schlägt vor, dass ältere Arbeitslose - dazu zählen diejenigen über 50; man muss sich
auch einmal überlegen, was man damit eigentlich sagt - in
sozialen Diensten der Kommunen, beispielsweise in der
Altenpflege, tätig werden sollen. Das stellen Sie sich bitte
einmal vor. Es kann doch nicht ernst gemeint sein, dass beispielsweise ein 52-jähriger Ingenieur aus den neuen Ländern plötzlich überhaupt keine Chance mehr bekommt,
seine Qualifikation an die wirtschaftliche Entwicklung anzupassen, sondern in der Altenpflege tätig werden soll! Das
kann doch keine Arbeitsmarktpolitik sein.
An dieser Stelle will ich Ihnen eines sagen: Der ganze
Ansatz, der von Ihnen vorgeschlagen wird, geht, wie in
den 90er-Jahren, in die falsche Richtung. In den 90er-Jahren haben Sie unter Anwendung unterschiedliche Instrumente mit der Politik der Frühverrentung angefangen.
Das war ein Irrweg. Dänemark hat diesen Weg längst beendet und ist aus der Frühverrentung ausgestiegen. Auch
hier gilt: Integriert man mehr ältere Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt, führt dies dazu,
dass die Erwerbsbeteiligung insgesamt zunimmt und die
Arbeitslosigkeit sinkt. Frühverrentung ist also Gift.
({5})
- Herr Meckelburg, die Altersteilzeit ist ein gutes Angebot an ältere Arbeitnehmer, länger in ihrem Beruf bleiben
zu können, sich aber den Anstrengungen, die sich ihnen
im Alter häufig stellen, nicht mehr so sehr aussetzen zu
müssen. Wenn sie richtig angewandt wird, ist sie eine Entlastung. Deswegen war dies ein gutes Stichwort. Ich bin
fest davon überzeugt, dass Altersteilzeit in Zukunft nicht
mehr verblockt werden sollte. Zumindest sollten wir die
Förderung der Altersteilzeit über öffentliche Mittel, wenn
sie verblockt wird, nicht fortsetzen.
({6})
- Ja, das ist ein Vorschlag. Ich denke, wir müssen ganz anders mit den verschiedenen Elementen von Teilzeitarbeit
umgehen.
({7})
Beispielsweise könnten wir dann in einem zweiten
Schritt, wenn wir die Blockbildung aufgelöst und die
Frühverrentungspraxis gestoppt haben, an Teilzeitangeboten auch für Jüngere denken.
Der nächste Irrtum, dem Sie mit Ihrer Arbeitsmarktpolitik aufsitzen, ist, Sie meinen, dass mit einer Politik des
Heuerns und Feuerns - schneller einstellen und schneller
entlassen können - irgendetwas gewinnen zu können. Sie
diskutieren zum Beispiel über entsprechende Änderungen
des Kündigungsschutzes.
({8})
Meine Damen und Herren, weil wir am Arbeitsmarkt
mehr Flexibilität brauchen, benötigen wir die Kombination von mehr Flexibilität und Sicherheit. Wenn wir über
den Kündigungsschutz sprechen, dann können wir über
unterschiedliche Modelle diskutieren. Ich zum Beispiel
finde den Ansatz Dänemarks interessant. Dort geht man
mit 90 Prozent des Arbeitslosengeldes auch anders mit
dem Kündigungsschutz um. Dabei sind zwei Punkte
wichtig:
Erstens. Wenn man über Arbeitnehmerrechte spricht
und sie verändert, geht es immer um soziale Sicherheit.
Zweitens. Beim Kündigungsschutz sollten wir uns kein
X für ein U vormachen. Der Kündigungsschutz an sich - so
oder so verändert - bringt keinen zusätzlichen Arbeitsplatz.
Das hat die Vergangenheit gezeigt. Was er beeinflusst, ist
das Einstellungsverhalten im Aufschwung und im Abschwung. Das ist richtig. Aber er bringt keinen zusätzlichen
Arbeitsplatz. Deswegen ist es eine Milchmädchenrechnung, wenn Sie diesen Aspekt als eine Lösung zur Steigerung der Beschäftigung anbieten. Die Arbeitsmarktpolitik,
die Sie vorschlagen, ist nicht seriös.
({9})
Der nächste Punkt, den ich anspreche, behandelt die
Fragen der Flexibilität und Sicherheit. Sie wollen für diejenigen, die arbeitsfähig sind, die Sozialhilfe senken. Ich
frage Sie: Welchen zusätzlichen Arbeitsplatz soll das bringen? Es ist klar, dass dadurch kein zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen würde. Aber eine solche Maßnahme
würde zu mehr Unsicherheit und mehr Armut führen.
Richtig ist, dass wir über eine Verzahnung bzw. auch
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe diskutieren und sie auf den Weg bringen müssen.
Richtig ist auch, dass wir für die Menschen, die arbeitslos
geworden sind, Hilfe aus einer Hand - sofort und mit Eingliederungsplänen für alle - sowie eine viel bessere Betreuung vom ersten Tag der Arbeitslosigkeit an brauchen.
Das können wir über eine Zusammenlegung erreichen.
Dafür - das muss ich übrigens auch an die Adresse von
CDU und CSU sagen -, brauchen wir die Sanktionen
nicht zu verschärfen. Diese sind hart genug. Vielmehr
müssen wir die Hilfsangebote für jeden Arbeitslosen verbessern. Dafür brauchen wir auch keine kochschen Vorschläge. Durch die vielen MoZArT-Modelle haben wir
ein ganzes Köchelverzeichnis zur Verfügung. Herrn Koch
brauchen wir dafür nicht.
An diesem Punkt möchte ich noch eines anmerken
- gerade hier wird klar, wie unterschiedlich wir sozialund arbeitsmarktpolitisch denken -: Die Zusammenlegung der Sozialhilfe mit der Arbeitslosenhilfe ist für keinen Haushalt ein Sparschwein. Es kann nicht angehen,
solche Vorschläge zu unterbreiten wie es Herr Stoiber gemacht hat: Die Finanzierung des Familiengeldes über die
Sozial- und Arbeitslosenhilfe sicherzustellen ist ein vollständig unsozialer Ansatz.
({10})
- Ich höre zu und lese Ihre Programme. Ich weiß, dass sich
bei Ihnen viele über die eigenen Programme nicht im Klaren sind bzw. sich nicht darum scheren. Herr Späth zum
Beispiel gibt zu, dass er die Programme nicht liest. Deswegen kann er auch frei aufspielen und braucht den Blödsinn, den Sie in Ihrem Programm verzapfen - beispielsweise mit dem 40:40:40-Modell -, nicht zu unterstützen.
Er sagt sehr deutlich, dass unser Ansatz der Steuerreform
in die richtige Richtung geht. Das wollte ich nur sozusagen in Klammern angemerkt an Sie gerichtet sagen.
Wir können zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit an
verschiedenen Punkten ansetzen: erstens durch eine innovative Wirtschaftspolitik. Wir müssen mit der Förderung von innovativen Techniken, zum Beispiel im Bereich der Energieeinspartechniken, weitermachen. Hier
haben wir gerade im Mittelstand, den Sie so gut zu vertreten meinen, neue Arbeitsplätze geschaffen. Es ist fatal,
dass Sie nichts anderes machen wollen, als genau diese
zukunftsweisende Wirtschaftsförderung für den Arbeitsmarkt einzustampfen.
Wir können zweitens am Arbeitsmarkt vorankommen,
wenn wir die Dauer der Arbeitslosigkeit wirklich reduzieren. Dafür haben wir das Job-AQTIV-Gesetz. Die Entwicklung zeigt im Moment, dass die Bundesanstalt für Arbeit, die sich in einem Reformprozess befindet, noch sehr
viel tun muss, um das, was wir an Instrumenten und Geld
zur Verfügung stellen, richtig umzusetzen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident, da Sie mich
durch das Blinken auf meine abgelaufene Redezeit aufmerksam machen.
Schön, dass
Sie es merken.
Mein letzter Punkt: Wir müssen natürlich etwas für die
Menschen tun, die Schwierigkeiten haben, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen. Das ist gerade im Bereich
der gering Qualifizierten ein Problem, das sich aber
nicht durch flächendeckende Subventionierung des Niedriglohnsektors, die Sie vorschlagen, lösen lässt. Ich nenne
als Stichwort das Negativsteuermodell, das die FDP vorschlägt. Das ist überhaupt nicht zu finanzieren und führt
zu Lohndumping. Wir schlagen stattdessen eine systematische Reduzierung der Lohnnebenkosten in diesem Bereich, ein Konzept zur Überwindung der Teilzeitmauer
und ein Einstiegsgeld für Langzeitarbeitslose vor.
Es gibt hier noch viele innovative Konzepte, zum Beispiel zur Unterstützung von haushaltsbezogenen Dienstleistungen über Dienstleistungsagenturen. Da wollen wir
weitermachen, wir werden die Reformen fortsetzen. Ihre
Vorschläge werden außer in Ihren Köpfen keinen zusätzlichen arbeitsmarktpolitischen Effekt auslösen können.
({0})
Für die
FDP-Fraktion spricht der Kollege Dirk Niebel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist das wichtigste innenpolitische Thema in
Deutschland. Dies ist auch deshalb so wichtig, weil viele
Menschen unmittelbar davon betroffen sind, und das auch
unter Ihrer Regierung. Bei knapp 4 Millionen Arbeitslosen dürfen Sie nicht vergessen, dass diese Zahl keine feste
Größe, keine statische Masse ist, sondern dass sie ständig
andere Menschen umfasst: Einige kommen hinzu, andere
fallen raus. Um diese 4 Millionen Menschen herum gibt
es ein soziales Umfeld, das unter der existenziellen Bedrohung mit zu leiden hat. Deswegen finde ich es schon
bemerkenswert, dass Sie hier nach fast vier Jahren Ihrer
Regierungszeit mit Ihrer Mehrheit beschließen lassen
wollen, dass Sie im Bereich der Arbeitsmarktpolitik erfolgreich gewesen sind.
({0})
Wenn ich das lese, fällt mir ein schönes altes deutsches
Sprichwort ein, das leicht abgewandelt heißen müsste:
Lügen haben kurze Beine, kürzer sind nur Riester seine.
({1})
Das kann ich auch belegen: Wenn Sie durch die Gegend
rennen und den Menschen erzählen, es gäbe 1 Million
mehr Arbeitsplätze als früher, verschweigen Sie, dass ein
Großteil derer durch Ihre Neuregelung der 630-Mark-Gesetzgebung entstanden ist. Sie verschweigen dabei, dass
das Statistische Bundesamt feststellt, dass im ersten Quartal 2002 die Anzahl der Erwerbstätigen auf 38,2 Millionen
gesunken ist. Sie verschweigen, dass die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden sinkt und dass das Arbeitsvolumen in der Gesellschaft insgesamt sinkt.
({2})
Sie stellen es als großen Erfolg im Bereich der Arbeitsmarktpolitik dar, dass es fast 500 000 Arbeitslose weniger
als unter der alten Regierung gibt. Dabei verschweigen Sie
aber, dass Jahr für Jahr rund 200 000 Menschen mehr aus
Altersgründen aus dem Arbeitsleben ausscheiden als neue
hinzukommen. Faktisch ist die Arbeitslosigkeit heute
höher, als sie es unter der alten Bundesregierung war.
({3})
Sie tun so, als hätten Sie Ihre Hausaufgaben gemacht.
Um Arbeitsplätze zu schaffen, brauchen wir etwas, was
Sie während Ihrer gesamten Regierungszeit noch nicht
einmal im Ansatz geschaffen haben: Wir brauchen einen
Arbeitsmarkt, auf dem der Begriff Markt stärker zur Geltung kommt.
({4})
Wir brauchen eine Deregulierung und weit weniger bürokratische Hemmnisse, um Arbeitsplätze überhaupt erst
schaffen zu können.
({5})
Ihre Gesetzgebung hat exakt das Gegenteil bewirkt. Allein die Senkung des Schwellenwertes beim Kündigungsschutz von zehn auf fünf Arbeitnehmer hat dazu geführt,
dass 250 000 Arbeitsplätze in den Betrieben, die eigentlich
einen sechsten, siebten, achten oder neunten Arbeitnehmer
einstellen wollten, nicht besetzt worden sind.
({6})
Das wäre ein Beschäftigungsprogramm gewesen, für das
Sie keinen einzigen Cent an Steuergeldern hätten aufbringen müssen.
Hinsichtlich des Teilzeitpflichtgesetzes hätten Sie das
Gleiche tun können. Aus der deutschen Wirtschaft erhalten wir die Rückmeldung, dass insbesondere diejenigen,
denen Sie eigentlich helfen wollten, unter der neuen
Regelung zu leiden haben: Insbesondere junge Frauen
werden nicht eingestellt, weil die „Gefahr“ zu groß ist,
dass sie zu einem späteren Zeitpunkt den Wunsch äußern,
Teilzeit arbeiten zu wollen. Sie können doch nicht versuchen, einen gesamtgesellschaftlichen Sinneswandel bei
der Erhöhung der Teilzeitquote durch gesetzliche Reglementierungen durchzusetzen.
Erlauben Sie mir, auf unseren Antrag zur neuen Struktur der Arbeitsmarktpolitik zu sprechen zu kommen, der
gerade dadurch aktuell ist, weil Sie durch Ihre Schnellschüsse bei der Neustrukturierung der Bundesanstalt wieder einmal am Ziel vorbeigeschossen haben. Der Kanzler
schickt seinen Arbeitsminister vor, der sagt: Wir schaffen
Wettbewerb und führen dazu Vermittlungsgutscheine
ein. Innerhalb einer Woche rudert die SPD-Bundestagsfraktion zurück. Die Vermittlungsgutscheine waren sehr
„erfolgreich“: Von 25 000 ausgegebenen Gutscheinen
wurden sage und schreibe - Stand 7. Mai - 41 tatsächlich
eingelöst. Das zeigt den Fehler des Grundansatzes Ihres
Konzeptes. Bei diesen Vermittlungsgutscheinen, die Sie
aus ideologischen Gründen falsch konzipiert eingeführt
haben, gibt es nämlich drei Kardinalfehler:
Erster Kardinalfehler. Die Höhe der Bezuschussung
- Sie sehen Zahlungen in Höhe von 1 500, 2 000 oder
2 500 Euro vor - orientiert sich allein an der Dauer der Arbeitslosigkeit. Ihr Entwurf hat ursprünglich eine marktgerechte Entlohnung in Höhe von zwei- bis zweieinhalb
Bruttomonatslöhnen bei einer Vermittlung im qualifizierten Bereich vorgesehen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat
diesen Vorschlag jedoch wieder einkassiert, weil Sie in
diese Richtung überhaupt nicht denken wollten.
Zweiter Kardinalfehler. Fragen des Alters, der Qualifikation und der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit werden
in keiner Weise berücksichtigt bei der Höhe dessen, was ein
privater Arbeitsvermittler verdienen könnte, vorausgesetzt
es hätte sich eine private Vermittlungsstruktur in Deutschland gebildet. In der Konsequenz bedeutet das, dass bei den
zu niedrig angesetzten Vemittlungsgeldern und der
falschen Beurteilung der Kritierien, die für die Entlohnung
ausschlaggebend sind, die privaten Vermittler keinen wirtschaftlichen Anreiz haben, in diesem Segment flächendeckend bundesweit zu arbeiten. Neue Vermittler überlegen es sich sehr gut, ob sie in diesen Markt eintreten wollen.
Der dritte Kardinalfehler bei der Ausgestaltung der
Vermittlungsgutscheine besteht darin, dass Sie keinen
echten Wettbewerb geschaffen haben.
({7})
Einen Wettbewerb hätten Sie geschaffen, wenn Sie den
Arbeitssuchenden eine Nachfragemacht gegeben hätten,
damit sie zu dem Arbeitsvermittler ihres Vertrauens hätten gehen können. Das kann der private Arbeitsvermittler
sein; das kann aber auch der staatliche Arbeitsvermittler
sein. Sie schaffen nur dann Wettbewerb, wenn Sie zumindest die erfolgsabhängigen Einkommenskomponenten durch die Einlösung der Vermittlungsgutscheine refinanzieren.
Mit der Hartz-Kommission haben Sie ein Projekt gestartet, das zeitnah vor der Bundestagswahl holzschnittartig einige Zielmarken definieren wird. Weil die Zusammensetzung der Kommission der des Bündnisses für
Arbeit fatal ähnelt, muss man sich allerdings Sorgen machen. Die Ergebnisse dieses Bündnisses waren wirklich
nicht sonderlich hilfreich.
Sie müssen sich darauf einstellen, dass Sie, um hinsichtlich der staatlichen Arbeitsvermittlung echte Effizienzsteigerungen zu erreichen, weitere Schritte gehen
müssen: Die Arbeitsämter vor Ort müssen die Kompetenz
haben. Das bedeutet, dass die Landesarbeitsämter abgeschafft werden müssen. Die Arbeitsmarktpolitik muss
von der Versicherungsleistung abgetrennt werden. Die
drittelparitätische Selbstverwaltung von Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerfunktionären sowie von denjenigen, die ihre
öffentlichen Hände in Unschuld waschen, muss hinsichtlich ihrer Zukunftsfähigkeit überdacht werden. Sie müssen
die Arbeitsverwaltung marktgerecht und konkurrenzfähig
machen. Das bedeutet, dass ein staatlicher Arbeitsvermittler nicht mehr mindestens 50 Prozent seiner Arbeitszeit mit irgendwelchen Verwaltungstätigkeiten verbringt,
sondern stattdessen in die Betriebe geht und sich anschaut, wie ein Arbeitsplatz aussieht, den er besetzen soll,
und in welchem sozialen Umfeld er angesiedelt ist. Ein
Fliesenleger im Betrieb A und ein Fliesenleger im Betrieb
B brauchen nicht zwingend dieselben Voraussetzungen
mitzubringen.
({8})
Die formale Qualifikation ist von Betrieb zu Betrieb so
unterschiedlich einzuschätzen, dass man gar nicht sagen
kann, ob ein Arbeitnehmer wirklich geeignet ist, in einer
bestimmten Firma anzufangen, wenn man sich den Arbeitsplatz nicht angeguckt hat. Dafür müssen Sie die Voraussetzungen schaffen.
Deswegen sage ich Ihnen zum Abschluss: Die FDP ist
die Partei der sozialen Verantwortung, weil wir mit unseren arbeitsmarktpolitischen Anträgen dafür sorgen wollen, dass die Menschen in die Lage versetzt werden, überhaupt in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, und Ihre
Kartellpolitik der Arbeitsplatzbesitzenden gegenüber den
Arbeitsplatzsuchenden endlich ein Ende hat.
Vielen Dank.
({9})
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Klaus Grehn.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge von FDP und CDU/
CSU sind meines Erachtens weitgehend überholt. Sie enthalten erstens bereits Geregeltes, zweitens Dinge, die bereits eingeleitet sind, und drittens manches, was durch
nachträglich eingereichte Anträge, die wir hier irgendwann noch behandeln werden, erneuert, präzisiert und erweitert, wahrlich aber nicht verbessert werden soll. Masse
ist nicht Klasse. Würde das verwirklicht, was in diesen
Anträgen vorgeschlagen wird, würde sich die Lage der
Ausgegrenzten, Armen, Arbeitslosen, Arbeitslosenhilfeund Sozialhilfeempfänger weiter verschlechtern.
Der Antrag der SPD ist - das sage ich in aller Deutlichkeit - ein merkwürdiger Antrag. In ihm wird der Bundestag auf den Seiten 1 bis 8 aufgefordert, eine positive
Bilanz zu bestätigen. Auf den Seiten 9 bis 11 wird die
Bundesregierung aufgefordert, alles so wie bisher weiterzumachen. Es tut mir Leid, liebe Kolleginnen und Kollegen, mir fehlt hier nur noch das rosa Papier.
({0})
- Doch, teilweise liest es sich wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Es ist nur nicht so amüsant, weil es
um die realen Probleme der Betroffenen geht.
({1})
Wir hoffen aber mit Ihnen, dass das, was Sie in die Wege
geleitet haben, irgendwann einmal Wirksamkeit entfalten
wird.
Fragt man die Arbeitslosen, dann stellen sie fest, dass
nichts besser geworden sei: Es gibt nicht mehr Jobs, die
Pleitewelle rollt unbegrenzt durch das Land, weitere
Arbeitsplätze gehen verloren. Das sind die wahren Probleme, mit denen wir uns hier zu beschäftigen haben. Leider haben die vielen Debatten daran ebenso wenig wie die
vorgelegten Anträge geändert. Ich will mich dazu nicht zu
sehr im Detail auslassen. Aber ich bitte Sie, darüber nachzudenken, ob man den Wahlkampf auf dem Rücken der
Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten austragen soll. Tun Sie dies bitte nicht; die Menschen sind ohnehin schon genügend bestraft. Jemanden, der am Boden
liegt, tritt man nicht noch.
({2})
Ich komme nun zu unserem Antrag und bitte Bundesminister Riester herzlich, mit einem Wort auf ihn einzugehen. Unser Antrag nimmt wenigstens ein Problem gezielt und realistisch ins Visier, indem wir deutlich
machen, dass es für eine Veränderung des Arbeitszeitgesetzes höchste Zeit ist.
Wir wissen, dass das Arbeitszeitgesetz mit der Arbeitszeitrichtlinie der Euopäischen Union schon lange nicht
mehr übereinstimmt und wir von den Standards in Ländern mit vergleichbarer Produktivität weit entfernt sind.
Mit einer beschäftigungswirksamen Reform des Arbeitszeitgesetzes kann man Überstunden abbauen und damit
eine Chance für zusätzliche Arbeitsplätze eröffnen.
Immer noch ist die gesetzliche Höchstarbeitszeit in
Deutschland mit 48 Wochenstunden weit von der tariflichen Realität von durchschnittlich 37,8 Stunden entfernt.
Durch die großzügige Bemessung der wöchentlichen
Höchstarbeitszeit steigt die Anzahl der Überstunden. Im
Bündnis für Arbeit ist es nicht gelungen, dieses Problem
auf die Tagesordnung zu setzen. Sie wissen auch, dass es
nicht mehr so leicht sein wird, die Differenz von acht
Stunden auszunutzen, wenn unser Antrag angenommen
wird, die Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden zu begrenzen.
Mit dem Gesetzentwurf wird zugleich die begrenzte
Ausweitung der Höchstarbeitszeit auf 50 statt bisher
60 Stunden vorgeschlagen. Damit sind den Betrieben ausreichende Flexibilisierungsmöglichkeiten gegeben. Strukturelle Mehrarbeitszeit wäre damit allerdings ausgeschlossen.
Mit der von der PDS vorgeschlagenen Novellierung
des Arbeitszeitgesetzes wird der Tendenz in deutschen
Unternehmen entgegengewirkt, mit gesetzlich erlaubten
langen Arbeitszeiten und Überstunden die Gesundheit der
Beschäftigten zu untergraben sowie familiäres Leben und
Kindererziehung negativ zu beeinflussen. Die Novellierung wird uns gleichzeitig Einsparungen auf weiteren Gebieten ermöglichen.
Lassen Sie uns wenigstens dies auf den Weg bringen,
damit wir vor Ende der Legislaturperiode noch ein weiteres positives Ergebnis vorweisen können.
({3})
Für die
CDU/CSU-Fraktion gebe ich dem Kollegen Matthäus
Strebl das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute
über das Thema Arbeitsmarktpolitik. Die CDU/CSUBundestagsfraktion hat dazu den Antrag „Politik für mehr
Beschäftigung statt organisationspolitischem Aktionismus“ eingebracht. Das ist ein programmatischer Titel,
aber nach Schröders ruhiger Hand tut Programmatik Not.
Im Wahlkampf 1998 lautete ein Slogan der SPD: Wir
machen nicht alles anders, aber vieles besser.
({0})
Gleichzeitig wollte sich Schröder an der Zahl der Arbeitslosen während seiner Amtszeit messen lassen. Er
sagte: Sonst sind wir es nicht wert, gewählt zu werden.
({1})
Ich muss sagen, wo er Recht hat, hat er Recht.
({2})
Die Bilanz ist erschütternd: Die Politik der Bundesregierung hat Deutschland zwar überall Spitzenplätze eingebracht, allerdings nur im Kampf um den letzten Platz in
der EU. Wir belegen den letzten Platz beim Wirtschaftsund Beschäftigungswachstum sowie bei Investitionen
und beim Schuldenabbau, sind dafür aber Meister bei der
Neuverschuldung.
({3})
Ich erinnere nur an den blauen Brief, den der Finanzminister Deutschlands noch in letzter Sekunde verhindern
konnte.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erwerbslosenzahl lag zum Zeitpunkt des Regierungswechsels
1998 bei 3,89 Millionen - mit sinkender Tendenz. Aufgrund der demographischen Entwicklung scheiden jährlich, wie Kollege Niebel schon ausführte, 200 000 Menschen aus dem Arbeitsleben aus. Gleichzeitig ist eine
stärkere Inanspruchnahme von vorruhestandsähnlichen
Regelungen zu verzeichnen. 71 000 Menschen mehr als
sonst sind im Jahr 2001 diesen Weg gegangen. Trotzdem
haben wir im Frühjahr 2002 mehr als 4 Millionen Arbeitslose. Wir sind Lichtjahre von einer durchschlagenden
Besserung entfernt.
({5})
Wenn die Zahl der Arbeitslosen derzeit unter 4 Millionen
sinkt, so ist das nicht auf die angeblich gute Politik von
Rot-Grün zurückzuführen, sondern auf die Vorruhestandsregelungen. Wir wissen alle - auch Sie von der rotgrünen Koalition -, dass jetzt vor allen Dingen geburtenschwache Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt drängen.
Die Rezepte von Rot-Grün zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit kommen äußerst spät und fallen eher
dürftig aus.
({6})
Das von Ihnen hochgelobte Job-AQTIV-Gesetz ist bislang erfolglos. Die durch die fehlerhaften Vermittlungsstatistiken ins Rollen geratene Reform der Bundesanstalt
für Arbeit bleibt ebenfalls in ihren Ansätzen stecken. Eine
Kommission einzusetzen, die Maßnahmen erarbeiten soll,
deren Umsetzung auf die Zeit nach der Bundestagswahl
verschoben wird, genügt nicht.
Die Aufgaben des Kolosses Bundesanstalt für Arbeit
müssen wieder auf das Wesentliche zusammengefasst
werden. Vor allen Dingen müssen die verkrusteten Strukturen der Arbeitsverwaltung aufgebrochen werden,
({7})
und zwar erstens durch die Einführung von Entscheidungs- und Kontrollebenen, die problemorientiert arbeiten, zweitens durch eine Arbeitsmarktpolitik, die in der
Lage ist, regionale Besonderheiten zu berücksichtigen,
({8})
was eine Stärkung politischer Befugnisse auch der Länder
voraussetzt, drittens durch eine genauere Abstimmung
zwischen Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Wirtschafts-,
Struktur-, Finanz- und Bildungspolitik auf Bundes- und
Landesebene und viertens durch eine moderne Selbstverwaltung, die ihren Aufgaben und Zuständigkeiten verantwortlich und effektiv nachkommt.
({9})
Demgegenüber ist das Konzept der Union ein Konjunkturprogramm, das deutlich, effektiv und sozial gerecht gegen die Versäumnisse von Rot-Grün angeht. Für
uns ist der „mitfühlende Sozialstaat“, in dem die vorhandenen Mittel auf diejenigen konzentriert werden, die
sich nicht selbst helfen können, maßgebend. Dagegen
müssen aber diejenigen, die das selbst können, bestärkt
werden, Eigenverantwortung und Eigeninitiative zu entwickeln. Ein Mittel dafür ist die Steigerung der Attraktivität von Niedriglohnjobs, aber auch die Verzahnung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Dies hat auch eine Verzahnung von Arbeits- und Sozialämtern zur Folge.
Einer der wichtigsten Punkte aber ist, den Arbeitsuchenden als eigenständiges Individuum anzusehen und
entsprechend seiner Eignung zu vermitteln und zu fördern. Es bringt nichts, ihn heute in AB-Maßnahmen zu
stecken, nur weil dort noch Plätze frei sind und der Arbeitslose damit die Statistik nicht mehr belastet. In der
Vergangenheit wurde oftmals viel Geld dafür ausgegeben,
der Arbeitslose aber war immer noch nicht zu vermitteln.
Bildung ist eines der wichtigsten Standbeine für einen
Suchenden auf dem Arbeitsmarkt. Die Aus- und Weiterbildung sollte aber zielgerichtet an den Fähigkeiten der
Arbeitslosen sowie vor allen Dingen an den Bedürfnissen
des Arbeitsmarktes orientiert sein.
({10})
Vermittlungsagenturen müssen in Job-Centern vor Ort
den Suchenden einen guten Service anbieten. Dies macht
eine Umschichtung des Personals erforderlich und gegebenenfalls muss eine Personalaufstockung folgen.
Das in der Öffentlichkeit gepriesene Mainzer Modell,
das in der heutigen Debatte schon angesprochen wurde,
hat sich als totaler Flop herausgestellt. Bisher wurden von
den rund 45 000 ausgegebenen Vermittlungsgutscheinen
etwa 290 in Anspruch genommen.
({11})
Wir wollen, dass der Arbeitsuchende von Anfang an das
Wahlrecht zwischen öffentlichen und privaten Vermittlern
hat. Die Höhe des Gutscheins soll sich nach den zu erwartenden Vermittlungsschwierigkeiten und nicht nach
der Dauer der Arbeitslosigkeit richten.
Darüber hinaus ist das Arbeitsrecht wieder zu flexibilisieren: Sämtliche Restriktionen in der Zeitarbeitsbranche
sind aufzuheben, die Möglichkeit zur Befristung von Arbeitsverhältnissen muss erweitert werden und - das ist sehr
wichtig - betriebliche Bündnisse für Arbeit müssen gestärkt
werden, weil vor Ort besser entschieden werden kann.
({12})
Dafür soll das Günstigkeitsprinzip des Tarifvertragsrechts
dahin gehend geändert werden, dass neben Lohn und Arbeitszeit auch die Beschäftigungsaussichten berücksichtigt werden.
Ich weiß, dass der Bundeskanzler nicht gern hört, was
ich jetzt sage, aber auch in punkto Arbeitsplatzbeschaffung hat Bayern die Nase vorn. Mit dem „Beschäftigungspakt Bayern“, der 1996 ins Leben gerufen worden
ist, hat Bayern 100 000 neue Arbeitsplätze geschaffen
({13})
und 300 000 gefährdete gesichert. Hier muss man auch
sagen, dass es der DGB, die Arbeitgeber und die Wirtschaftsverbände gemeinsam geschafft haben, den gesamten Arbeitsmarkt in Bayern zu modernisieren. Überstunden
werden abgebaut, Mobilitätshilfen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ein Fortbildungsprogramm für
Behinderte und eine Existenzgründungsoffensive wurden
geschaffen.
({14})
Der Erfolg spricht für sich: Bayern hat mit 5,3 Prozent die
zweitniedrigste Arbeitslosenrate hinter Baden-Württemberg. Hätten wir die Zahlen von Bayern und Baden-Württemberg bundesweit, gäbe es in Deutschland ungefähr
1,8 Millionen Arbeitslose weniger.
Das ist unser gemeinsamer Erfolg. Leider ist dieses
Bündnis in Bayern auf Druck des Bundeskanzlers momentan außer Kraft gesetzt.
({15})
Herr Kollege Strebl, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ist recht, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schröders
Bündnis für Arbeit auf Bundesebene ist hingegen gescheitert. Es reicht nicht aus, sich nur als Moderator bei
den Gesprächen im Bündnis für Arbeit aufzuspielen.
Nein, hier muss man auch Kreativität zeigen. Man muss
sich durch konstruktive Gespräche um praktikable Lösungen mit einbringen.
Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, der derzeitigen Misere bei der Beschäftigung und in der Wirtschaft
abzuhelfen. Die einzig gute und dementsprechend zugleich beste Möglichkeit ist, die Gelegenheit bei der Bundestagswahl zu nutzen.
({0})
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben fundierte Konzepte entwickelt und in unseren Anträgen vorgeschlagen. Verehrter Herr Kollege Schmidt, sollten sie in der
Debatte, die heute stattfindet, nicht berücksichtigt werden,
vergehen zwar wertvolle Tage und Wochen zum Nachteil
der Arbeitsuchenden, aber ich stelle heute fest, -
Herr Kollege Strebl, ich habe das Gefühl, Sie nehmen einen neuen
Anlauf.
({0})
Ein Schlusssatz, Herr
Präsident: Nach dem 22. September ergibt sich bestimmt die
Gelegenheit, die vorgeschlagenen Punkte durchzusetzen.
Vielen Dank.
({0})
Ich darf die
Fraktionen beruhigen. Mit Blick auf die vorangegangenen
Redner ist der Ausgleich bei der Redezeit jetzt hergestellt.
Nunmehr gebe ich dem Bundesarbeitsminister Walter
Riester das Wort.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ({0}): Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Eine Debatte zur aktiven Beschäftigungspolitik und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit könnte eine große Debatte sein. Das würde
ich mir eigentlich wünschen.
({1})
Beschäftigungspolitik ist wesentlich mehr als nur Arbeitsmarktpolitik. Beschäftigungspolitik ist Wirtschafts-,
Qualifizierungs-, Technologie-, Steuer- und Haushaltspolitik. In all dem spiegelt sich das, was sich an Beschäftigung entwickelt, wider. In den letzten drei Jahren - insbesondere im Jahre 2000, in dem es mit 3 Prozent
Wachstum das stärkste Wachstum seit der Wiedervereinigung gab - ist die Beschäftigungspolitik noch sehr viel
wichtiger geworden.
({2})
Insgesamt gab es einen Zuwachs von 1,2 Millionen Jobs.
({3})
Ich komme sehr gern auf die Opposition zu sprechen und
weise auf die Ausgangsvoraussetzungen hin. Wie sahen
1998 die Rahmenbedingungen für das Wachstum aus?
({4})
Die Steuerbelastung, die Lohnnebenkosten und die Arbeitslosenzahlen waren in Deutschland so hoch wie nie
zuvor.
({5})
Wir haben Schulden in Höhe von 1,5 Billionen DM übernommen.
({6})
Deswegen, meine Damen und Herren von der Opposition
- ich meine beide Fraktionen -, sind Sie abgewählt worden.
({7})
Es gehört schon sehr viel Chuzpe dazu, sich hierher zu
stellen und zu propagieren, dass Sie jetzt alles anders machen würden als in den letzten 16 Jahren. Sie bauen darauf, dass die Wähler vergessen, wenn Sie meinen, sie damit überzeugen zu können.
({8})
Allerdings sollten wir auch nicht von der Omnipotenz
der Politik reden und so tun, als könne Politik allein dafür
sorgen, dass Arbeitsplätze entstehen.
({9})
Nein, dazu sind mehrere Akteure notwendig. Wir sollten
zwar die Chancen und Möglichkeiten sowie die Bilanz,
aber auch die Grenzen der Arbeitsmarktpolitik aufzeigen.
Damit komme ich zur Arbeitsmarktpolitik, dem eigentlichen Gestaltungselement, über das wir sprechen sollten
und zum Teil hier auch gesprochen haben.
Das erfreuliche Wachstum im Jahr 2000 hat weit mehr
als 1 Million neue Arbeitsverhältnisse geschaffen. Das
nützt aber bestimmten Beschäftigungsgruppen zunächst
einmal gar nichts,
({10})
nämlich den jungen Menschen, die nicht einmal einen
Hauptschulabschluss haben, sich aber auch mit Hauptschulabschluss sehr schwer tun würden, einen Job zu bekommen, und die schon zwei, drei Anläufe gemacht haben. Deswegen haben wir das JUMP-Programm mit
einem hohen Mitteleinsatz aufgelegt, ohne zu wissen, ob
wir das Ziel, 100 000 jungen Menschen einen Zugang zu
Ausbildung, Weiterbildung oder Arbeit zu verschaffen,
tatsächlich erreichen.
Darauf, dass wir 440 000 jungen Menschen - das ist die
aktuelle Zahl - gerade in den schwierigen Situationen in
den neuen Bundesländern, in denen wir 50 Prozent dieser
Mittel eingesetzt haben, zusätzliche Chancen eröffnet haben und sich inzwischen 75 Prozent dieser Menschen in
Ausbildung, Arbeit oder Weiterbildung befinden, könnten
wir eigentlich alle stolz sein.
({11})
Ich komme auf die nächste Gruppe zu sprechen, die mir
sehr am Herzen liegt. Ich hätte mir gewünscht, dass damals
das gesamte Parlament der Initiative zugestimmt hätte,
schwerbehinderten Menschen Zugang zu Arbeit zu verschaffen. Das ist mit Wachstum allein nicht zu schaffen.
({12})
Sie haben Anspruch darauf, dass ihnen die Politik besondere Chancen vermittelt. Wir, die Wirtschaft, die Gewerkschaften, die Behindertenverbände und die Politik, haben
gemeinsam versprochen, dafür zu kämpfen, dass die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter in zwei Jahren bis zum
Oktober dieses Jahres um 25 Prozent bzw. um 50 000 gesenkt wird.
({13})
- Herr Fuchtel, es kann durchaus sein, dass das Ziel nicht
ganz erreicht wird. Aber dass wir die Arbeitslosigkeit von
Schwerbehinderten schon um 17 Prozent gesenkt haben,
ist durch unsere Aktivitäten möglich geworden, gegen die
Sie damals gestimmt haben. Mit Nichtstun haben wir das
nicht geschafft. Nichtstun leistet gar nichts.
({14})
Ich komme auf die dritte Gruppe, die der Langzeitarbeitslosen, zu sprechen. Ich freue mich darüber, dass es
insgesamt 278 000 Langzeitarbeitslose weniger gibt als
1998.
({15})
Das sind diejenigen, die wenig Chancen haben, die eben
keine flexiblen Angebote am Arbeitsmarkt bekommen,
sondern die Unterstützung durch die Arbeitsmarktpolitik
benötigen.
({16})
Nun komme ich zu einem vierten Bereich, über den wir
seinerzeit im Parlament kontrovers diskutiert haben. Vielleicht wird sich der eine oder andere etwas korrigieren. Als
ich das Gesetz zur Förderung der Teilzeitarbeit eingebracht habe, habe ich darauf hingewiesen, dass der jetzige
Kandidat der CDU/CSU eine Woche vorher im „Spiegel“
erklärt hatte, er wolle den Teilzeitanspruch für alle Industriearbeiter und Industriearbeiterinnen einführen. Als wir
diesen Anspruch dann eingeführt haben, hat die Opposition dagegen gestimmt. Es wurde geschrien, dadurch würden Teilzeitarbeitsplätze abgebaut und dabei handele es
sich um ein Beschäftigungsprogramm für Juristen.
({17})
Vor zwei Wochen haben wir Bilanz gezogen. In einem
Jahr ist die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze um 320 000 gestiegen.
({18})
Für viele Menschen ist das die einzige Möglichkeit, ein Arbeitsverhältnis aufrechtzuerhalten, weil sie Familienarbeit
mit Erwerbsarbeit verbinden oder andere Gründe haben,
nur Teilzeitarbeit verrichten zu können oder zu wollen.
({19})
Dass das möglich ist, dafür haben wir gesorgt und darüber
bin ich sehr froh.
({20})
- Das wollen Sie abschaffen. Die 630-Mark-Arbeitsverhältnisse sind auch ein schönes Thema. In vielen Arbeitsämtern bin ich darauf hingewiesen worden, was die
alte Regelung bewirkt hat: Es war nicht nur so, dass die
4 Millionen bis 5 Millionen Menschen damals keinerlei
Anspruch auf soziale Leistungen hatten. Vielmehr haben
- man kann es offen aussprechen - viele Menschen, die
Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe bezogen haben, zwei oder drei solcher Jobs angenommen.
Bundesminister Walter Riester
Das war nicht kontrollierbar. Diese Menschen waren nicht
mehr vermittelbar. Das alles wollten Sie nicht korrigieren.
Die Erosion unserer Sozialversicherungssysteme haben
Sie wissentlich in Kauf genommen. Wir haben uns mancher Kritik ausgesetzt. Aber manchmal muss man für richtige und notwendige Dinge kämpfen, auch wenn es Kritik
auf breiter Front gibt.
({21})
Doch dabei bleiben wir nicht stehen. Richtig ist: Wir
wollen und müssen die Arbeitsweise der Bundesanstalt
für Arbeit verbessern. Wir wollen flexible und effiziente
Dienstleistungszentren am Arbeitsmarkt.
({22})
Die Probleme, die wir jetzt bewältigen müssen, sind ja
nicht in zwei, drei Jahren entstanden. Sie sind vielmehr
das Produkt von 20 Jahren, in denen Sie sich um die Lösung der Probleme nicht gekümmert haben.
({23})
Wir stehen zu unserer Politik. Wir gehen die Probleme an.
Wir werden die Hilfe in einem Gesamtsystem zusammenführen. Das wird die 2,4 Millionen Menschen, die Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe beziehen, schneller in Arbeit bringen.
({24})
- Was haben Sie, der mir vorhin zugerufen hat, wir hätten
vier Jahre Zeit gehabt, etwas zu tun, in den 16 Jahren getan, als Sie regiert haben? - Nichts haben Sie getan!
({25})
Sie haben nichts weiter anzubieten als den entlarvenden
Vorschlag, den der Vorsitzende der Unionsfraktion vor
kurzem - dankenswerterweise - eingebracht hat. Er hat
gesagt, 20 Milliarden Euro für die Familienförderung
werde er durch das Zusammenführen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe finanzieren. Ich kann dazu nur sagen:
Der Mann kann nicht rechnen;
({26})
denn die Kosten für die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe belaufen sich zusammen auf 18,7 Milliarden Euro.
Es würde also selbst dann nicht reichen, wenn er den
Menschen jeden Pfennig wegnähme. Dieser Vorschlag
zeigt aber, wohin die Reise gehen soll. Ich sage: Mit uns
nicht!
({27})
Herr Grehn, Sie haben mich aufgefordert, auf einen
Vorschlag der PDS einzugehen. Das möchte ich gerne machen. Sie haben eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes
vorgeschlagen, um den Abbau von Überstunden
voranzubringen. Ich glaube nicht - das meine ich ganz
ernst -, dass wir es damit schaffen werden. Wir haben
nach einem langen Anlauf in der Tarifpolitik durchgesetzt
- ich habe damals verhandelt -, dass es beispielsweise jedem Betrieb in der Metall- und Elektroindustrie freisteht,
Überstunden durch Zeitausgleich abzugelten. Diese Regelung gilt seit sechs Jahren. Wenn ich sehe, wie wenig
das an der Praxis in den Betrieben verändert hat, dann
habe ich nicht die Illusion, dass sich durch eine gesetzliche Änderung in diesem Bereich wirklich Nennenswertes
erreichen lässt.
Wenn ich mir die Entwicklung der Arbeitszeit bei
den 1,2 Millionen Arbeitsplätzen, die wir zusätzlich geschaffen haben, genau ansehe, dann stelle ich auch fest,
dass die durchschnittliche Arbeitszeit pro Beschäftigten
sinkt. Das ist eine Veränderung im Vergleich zu früher.
Hier haben sich Einstellungen verändert. Auch der Anteil
an Teilzeitarbeit hat sich verändert. Ich bin nicht mehr der
Auffassung, dass wir durch eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes das Problem, das bei einem Teil der Beschäftigten massiv auftritt, wirklich lösen können. Das glaube
ich nicht mehr.
({28})
Herr Strebl hat gesagt, man solle doch bitte schön nicht
so viel ABM machen. Das löse doch das Problem nicht.
Können Sie sich noch erinnern, was vor vier Jahren war?
- Da Sie sich offensichtlich nicht erinnern können, werde
ich es Ihnen sagen: Im Jahr 1998 ist die Zahl der Menschen, die in ABM und SAM waren, wahlkampfbedingt
auf 525 000 gestiegen. Diese Menschen sind damit aus der
Statistik herausgenommen worden. Im Moment liegt
diese Zahl bei 180 000. Sie haben also damals über
300 000 Menschen aus der Statistik herausgenommen.
Wenn wir dies auch machen würden, dann wären wir sehr
nahe an dem, was sich der Kanzler gewünscht hat, nämlich die Arbeitslosenzahl auf 3,5 Millionen zu senken.
Doch eine solche Täuschungspolitik machen wir nicht.
({29})
Wir wollen nicht die Statistiken fälschen, sondern den
Menschen helfen. Wie sich gezeigt hat, haben sich die
Wähler von Ihnen nicht täuschen lassen. Sie haben Sie
auch wegen Ihrer statistischen Tricks abgewählt.
({30})
Ich denke, dass wir im Rahmen dessen, was Politik leisten kann, alles getan haben, um Impulse für zusätzliche
Beschäftigung zu schaffen. Ein guter Beleg dafür ist, dass
wir 1,2 Millionen zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse
geschaffen haben. Ich meine, dass wir alles getan haben,
um denen zu helfen, denen Wachstum allein keine Chancen bringt: jungen Menschen mit schlechter Qualifikation
und schlechten Berufsaussichten, schwerbehinderten
Menschen, Langzeitarbeitslosen, Menschen, die Teilzeitarbeit brauchen. Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen. Denn Beschäftigung zu schaffen, Rahmenbedingungen zu verbessern, die Arbeitsmarktpolitik für die
einzusetzen, die Unterstützung brauchen, wird das HauptBundesminister Walter Riester
anliegen einer sozialdemokratisch geführten Regierung
bleiben. So werden wir weiter argumentieren.
Ganz am Schluss eine Bemerkung zu Ihrem Spruch,
Herr Niebel. Es mag ja sein, dass meine Beine kürzer als
Ihre sind. Nur, für die Argumentation hat das keine Bedeutung; denn im Gegensatz zu Ihnen argumentiere ich
mit dem Kopf und nicht mit dem, was sich unmittelbar an
die Beine anschließt.
Danke schön.
({31})
Zum Abschluss der Debatte spricht für die CDU/CSU-Fraktion
der Kollege Ernst Hinsken.
({0})
Werter Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Riester, ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie
hier das Bild von einer heilen Welt zeichnen.
({0})
Es ist doch unbestritten, dass seit Dezember 2000 die Zahl
der Arbeitslosen permanent steigt und diese Zahl sich in
der Zwischenzeit auf über 200 000 beläuft.
Ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit daran erinnern,
was alles vor vier Jahren versprochen wurde. Da sagte
Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung,
die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sei sein primäres
wirtschaftspolitisches Ziel und das werde die rot-grüne
Bundesregierung mittragen.
({1})
Dieses Versprechen wurde nicht erfüllt, Herr Kollege
Strebl, Sie sagen es. Im Gegenteil, die Zahl der offiziell
Arbeitslosen liegt bei über 4 Millionen und damit auf dem
Niveau zur Zeit der Regierungsübernahme im Herbst
1998. Die tatsächliche offene und verdeckte Arbeitslosigkeit übersteigt aber die 4-Millionen-Grenze weit, sie liegt
bei circa 5,6 Millionen Menschen. Dahinter verbergen
sich über fünf Millionen Einzelschicksale. Aufgabe einer
Regierung sollte, ja müsste sein, das, was man verspricht,
auch zu halten. Dass Herr Schröder gesagt hat, dass er,
wenn er die anvisierte Zahl von 3,5 Millionen nicht erreicht, es nicht verdiene, wiedergewählt zu werden, ist
den Bürgern nochmals ins Gedächtnis zu rufen. Sie sollen
danach handeln.
({2})
Nationale und internationale Experten wie der IWF,
die OECD, der Sachverständigenrat, die Wirtschaftsforschungsinstitute weisen als Hauptursache für diese
Zielverfehlung die kontraproduktiven Eingriffe seitens
des Staates in den Arbeitsmarkt aus. Die Bürger spüren
das. Sie spüren, dass es Zeit wird für einen Wechsel. Sie
sind nicht mehr bereit, diese Politik hinzunehmen, für die
Sie verantwortlich zeichnen.
({3})
Ich bin ehrlich genug, festzustellen, dass die Arbeitsmarktregulierungen der größte Hemmschuh für eine Vollbeschäftigung in der Wirtschaft sind. Es müssen aber dagegen Maßnahmen ergriffen werden, damit die Wirtschaft
wieder in Schwung kommt.
Zu denken geben müssen uns besonders die Arbeitsmarktzahlen für den Mai. Kollege Meckelburg hat hierüber
bereits einiges gesagt. Wir können es nicht wegdiskutieren, sondern müssen leider zur Kenntnis nehmen, dass
sich Deutschland durch Versagen der eigenen Regierung
in dieser Beziehung auf dem letzten Platz in Europa befindet. Nach wie vor sind wir Träger der roten Laterne und
werden diese wegen verfehlter Politik der Bundesregierung nicht los.
({4})
Es muss doch jeden aufschrecken und jedem zu denken
geben, dass wir allein in diesem Jahr mehr als 40 000 Insolvenzen zu erwarten haben.
({5})
Das heißt, verehrte Kollegin, dass jeden Tag in der Bundesrepublik Deutschland mehr als 100 Firmen über die
Klinge springen, in die Insolvenz gehen. Das kann doch
nicht so weitergehen. Die Bürger sind gut beraten, eine
andere Weichenstellung vorzunehmen, damit das aufhört
und es in der Bundesrepublik Deutschland wieder eine
Zukunft gibt - für Arbeitslose, für Arbeitnehmer, aber
auch für Inhaber mittelständischer Betriebe, die dringend
einen Wechsel erwarten.
Ich muss bei der Gelegenheit auch sagen, dass die Konjunkturumfrage des Zentralverbands des Deutschen Handwerks leider ausweist, dass alle entscheidenden Indikatoren
- Aufträge, Investitionen, Umsätze, Beschäftigungszahlen nach unten zeigen. Die Geschäftslage wird so schlecht eingeschätzt wie seit 1992 nicht mehr. Die Folge: Im Handwerk zum Beispiel werden in diesem Jahr noch einmal
60 000 bis 100 000 Arbeitsplätze wegfallen, nachdem bereits im Jahre 2001 rund 200 000 Jobs verloren gingen. Herr
Minister, das muss Ihnen zu denken geben.
Weiter ist festzustellen, dass wir leider nicht mehr die
vielen Existenzgründer haben, die wir dringend brauchen. In den letzten zehn Monaten waren es gerade sieben
von 1 000 Menschen, die ein Unternehmen gegründet haben. Dabei muss uns klar sein, dass jedes neu gegründete
Unternehmen drei bis vier Arbeitsplätze schafft. Unternehmen werden aber nur gegründet, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. In Dänemark zum Beispiel waren
von 1 000 Menschen acht Gründer, in Italien zehn, in Indien elf, in den USA zwölf und in Mexiko sage und
schreibe 19. Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland
gibt es immer weniger Selbstständige. Von einem Gründerland Deutschland kann man unter Rot-Grün längst
nicht mehr reden.
Bundesminister Walter Riester
Ein Land, das seine Gründer vernachlässigt, verliert an
Wirtschaftswachstum. Die Länder mit der höchsten
Gründerquote haben auch das höchste Wirtschaftswachstum. So liegt in der EU Irland zum Beispiel seit
drei Jahren ganz weit vorn.
({6})
- Passen Sie mal auf! Sie haben es dringend nötig, Nachhilfeunterricht zu bekommen, weil Sie nicht auf der Höhe
der Zeit sind. Sie sollten einmal aufpassen, um einiges
mitzunehmen, damit Sie in Zukunft nicht mehr so dumme
Zwischenrufe machen, wie das jetzt ständig der Fall ist.
({7})
- Herr Schmidt, ich habe nicht von Ihnen, sondern von
Ihrer Kollegin gesprochen.
({8})
9,4 Prozent Wirtschaftswachstum hat Irland. Das ist
fünfmal mehr als bei uns in der Bundesrepublik Deutschland. Wir liegen nur bei einem Wert von 1,8 Prozent.
Wir müssen alles tun, um vor allem den Weg in die
Selbstständigkeit zu ebnen, und wieder viele Leute animieren, dazu bereit zu sein, das auf sich zu nehmen und
Betriebe, gleich, in welcher Branche, zu schaffen. Dazu
ist es erforderlich, dass wir die Bürokratie abbauen. Dazu
ist es erforderlich, dass das 630-DM-Gesetz wieder geändert wird,
({9})
dass das Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit geändert
wird, dass der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit geändert
wird, dass das Betriebsverfassungsgesetz wieder geändert
wird usw. Ich darf Ihnen sagen: In den ersten 100 Tagen
nach dem 22. September werden wir das alles auf den
Weg bringen, damit die Wirtschaft in Deutschland wieder
laufen kann.
({10})
Deutschland, das frühere Musterkind der EU, ist zum
Sorgenkind geworden. In keinem anderen EU-Land - das
sollte Ihnen auch zu denken geben - ist die Arbeitslosigkeit höher als in den neuen Bundesländern. Sie liegt
dort bei 18,1 Prozent. Spanien liegt mit mehr als
6 Prozentpunkten weniger an zweiter Stelle. In Ostdeutschland gab es 1998 5,95 Millionen Erwerbstätige.
Heute sind es nur noch 5,7 Milllionen. Herr Schwanitz,
die Chefsache Ost war ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm und hat uns nicht weitergebracht.
Ich sage dazu abschließend: Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland eine vernünftige Arbeitsmarktordnung. Die Arbeitsmarktordnung muss zum Generalüberholen in die Werkstatt gebracht werden.
Was wir brauchen, ist: erstens mehr Deregulierung statt
Bürokratisierung; zweitens, flexiblere Arbeitszeiten statt
eines umfassenden Rechtsanspruchs auf Teilzeitarbeit;
drittens, mehr akzeptable befristete Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer;
({11})
viertens, Abbau von Einstellungshemmnissen statt des
neuen Betriebsverfassungsgesetzes; fünftens, Anreize zur
Arbeitsaufnahme im Niedriglohnsektor; sechstens, endlich Entlastung statt immer neuer Belastung; siebtens,
eine positive Einstellung zu Leistung und Eigenverantwortung
({12})
und achtens, eine Regierung, die Deutschland wieder
nach vorn bringt,
({13})
und nicht das, was Sie in den letzten Jahren an den Tag gelegt haben. Deutschland hat es verdient, wieder eine
Regierung zu bekommen, die uns in Europa an die Spitze
bringt und die die SPD und die Grünen, die in den letzten
vier Jahren versagt haben, ins Abseits stellt.
({14})
Ich schließe
die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlagen auf den Drucksachen 14/8715 und 14/8287 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Der Antrag der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/9225 - Ta-
gesordnungspunkt 5 a -, dessen Titel nunmehr lautet:
„Chancen auf Arbeit für alle - Offensive in der Arbeits-
marktpolitik“, soll ebenfalls an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. - Das Haus
ist damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 5 d: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksa-
che 14/9256 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Politik für mehr Beschäftigung statt orga-
nisationspolitischem Aktionismus“. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8363 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 7: Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 14/6113 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch
damit ist das Haus einverstanden. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Zusatzpunkt 8: Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 14/9221 zu
dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel
„Arbeitsrecht flexibilisieren - Beschäftigung schaffen“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 14/8267 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 d
sowie die Zusatzpunkte 9 und 10 auf:
6. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zum Stand
der Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({0})
- Drucksache 14/8941 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2})
zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, des
BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der FDP
Atomteststoppvertrag ratifizieren
- Drucksachen 14/2041, 14/4376 Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Christian Schmidt ({3})
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Petra Ernstberger, Uta Zapf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Angelika Beer, Rita Grießhaber,
Dr. Helmut Lippelt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Maßnahmen gegen eine Bedrohung durch biologische Waffen
- Drucksache 14/9240 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf,
Rainer Arnold, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Angelika Beer, Rita Grießhaber,
Dr. Helmut Lippelt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine kooperative Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik
- Drucksache 14/9241 Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das Haus ist
damit einverstanden. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Uta Zapf für die Fraktion der SPD das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lassen Sie mich am Anfang ein Zitat aus
dem Jahresabrüstungsbericht 2001 anführen. Ich zitiere:
Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung
spielen eine zentrale Rolle im Rahmen einer erfolgreichen kooperativen Sicherheitspolitik. Sie sind ein
unverzichtbares Gestaltungselement einer auf Zusammenarbeit und auf gemeinsamen verbindlichen
Regeln sich gründenden Sicherheitsordnung und
ein unverzichtbares Mittel zur vorausschauenden
Verhütung von Krisen und Konflikten wie zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Im Rahmen der Terrorismusbekämpfung kommt der Rüstungskontrolle zudem
eine wichtige Aufgabe vor allem im Hinblick auf die
Verhinderung des Zugriffs nicht staatlicher Akteure
auf Massenvernichtungswaffen zu.
Diese Aussage, mit der der Jahresabrüstungsbericht beginnt, ist eine ganz wichtige Aussage, weil sie präzise den
Stellenwert markiert, den Rüstungskontrolle, Abrüstung
und Nichtverbreitung angesichts neuer Konflikte und
neuer Bedrohungen in unserer Welt haben und haben
müssen. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung
nachdrücklich in ihrem Bemühen, das vorhandene Instrumentarium der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung zu stärken, fortzuentwickeln und den sich
verändernden sicherheitspolitischen Herausforderungen
anzupassen.
Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag vorgelegt. Ich empfehle ihn Ihnen zur Lektüre, obwohl er ziemlich lang ist, weil er sehr genau im Einzelnen beschreibt,
welche Positionen wir unter dem Gesichtspunkt dieses
Zitates beleuchtet haben.
({0})
- Darüber wird direkt abgestimmt, Herr Kollege. - Mit
diesem Antrag unterstützen wir ausdrücklich die Politik
der Bundesregierung. Im Übrigen muss ich sagen, dass
wir in unserem Ausschuss insgesamt kooperative Rüstungskontrolleure sind. Sowohl die Kooperation mit der
Bundesregierung als auch die interfraktionelle Kooperation kann man immer als gut oder ausgezeichnet bezeichnen. Wir bedanken uns auch ausdrücklich bei der Bundesregierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist einiges Positive in dem Bericht zu finden; ich nenne es nur in Stichworten. Das Erste ist, dass endlich, nach zehn Jahren, der
Vertrag über den Offenen Himmel in Kraft getreten ist.
Das Zweite ist, dass die Fortschreibung des KSE-Vertrags
jetzt offensichtlich vor der Ratifizierung steht. Auch dies
ist ein positiver Aspekt im rüstungskontrollpolitischen
Bereich.
Die wichtigste Aussage in diesem Bericht - ich finde,
das ist viel zu wenig bekannt; deshalb werde ich hier etwas
ausführlicher darauf eingehen - ist aber, dass die europäischen Außenminister eine rüstungskontrollpolitische
Initiative beschlossen haben. Diese rüstungskontrollpolitische Initiative ist meines Erachtens wegweisend, um der
internationalen terroristischen Bedrohung im Bereich der
Massenvernichtungswaffen effektiv zu begegnen. Diese
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Initiative definiert vier wichtige Handlungsfelder: multilaterale Instrumente - dazu habe ich schon etwas gesagt -,
Exportkontrollen - auch dies ist ein zunehmend wichtiges
Instrument -, internationale Kooperation und politischer
Dialog. Ich denke, dies ist ein wichtiger Ansatz. Diese
multilateralen Instrumente waren in der Vergangenheit in
der Tat sehr erfolgreich. Ich denke dabei zum Beispiel an
den Nichtverbreitungsvertrag und an das Chemiewaffenübereinkommen, aber auch an das Übereinkommen
von Ottawa zu den Landminen.
Das Chemiewaffenübereinkommen hat ein Verifikationsprotokoll, das die Kontrolle der Einhaltung des Verbots dieser Konvention ermöglicht und Transparenz
durch die Deklarationspflicht und Vertrauen durch Inspektionen schafft. Leider ist dies bisher für das Übereinkommen bezüglich biologischer Waffen nicht gelungen.
Wir hoffen sehr, dass bei der Verlängerung der 5. Überprüfungskonferenz im November 2002 Fortschritte in
dieser Richtung zu erzielen sind. Das Ziel wäre jedenfalls,
ein verpflichtendes Protokoll zu erreichen.
({1})
Die Entwicklung und Verbreitung von Trägertechnologien, die auch Massenvernichtungswaffen über längere
Strecken transportieren können, ist in der Diskussion über
die Proliferation in den letzten Jahren eines der Hauptthemen gewesen. Die Bedrohung durch so genannte Schurkenstaaten, die über Massenvernichtungswaffen verfügen, hat zu einer langjährigen, auch kontroversen Debatte
über Raketenabwehrsysteme geführt. Iraks offenbar gewordene Raketenprogramme, die Tests in Nordkorea und
die Raketenentwicklung im Iran haben uns aufgeschreckt.
Deshalb begrüßen wir es ausdrücklich, dass sich jetzt
auch im Bereich der Raketentechnologie und ihrer Kontrolle Fortschritte andeuten. Die Fortentwicklung des
Missile Technology Control Regime, das bisher nur ein
Exportkontrollregime ist, zu einem verbindlichen völkerrechtlichen Vertrag wäre äußerst wünschenswert. Ein
erster Schritt in diese Richtung wird ein internationaler
Verhaltenskodex sein. Das wird von uns ausdrücklich unterstützt.
Der sicherheitspolitische Dialog ist ein weiterer wichtiger Schritt. Ich erinnere daran, dass dieser Dialog im Bereich des Iran seit Jahren von der EU, aber auch von der
Bundesrepublik geführt wird. Ich denke, es ist ein Erfolg
versprechender, kooperativer Weg. Dasselbe gilt zum
Beispiel für Nordkorea und das Programm, mit dem
Nordkorea dessen Produktion von waffengrädigem Material abgekauft werden soll, und die Verhandlungen über
Raketentests, die dazu geführt haben, dass dort ein Moratorium zustande kam. Dies ist ein wirklich positiver Weg.
Wir sollten ihn weiter beschreiten.
Herausragendes abrüstungspolitisches Ereignis, das in
diesem Jahresbericht noch nicht enthalten ist, ist der amerikanisch-russische Vertrag von Ende Mai zur Abrüstung der jeweiligen Kernwaffenbestände um zwei Drittel
auf jeweils 1 700 bis 2 200 Gefechtsköpfe. Wir begrüßen
diesen Vertrag ausdrücklich, denn jeder Abrüstungsschritt
und besonders ein so massiver Abrüstungsschritt ist uns
willkommen. Aber es gibt in dieser Diskussion auch einen
Wermutstropfen. Wir sind zufrieden, dass es ein völkerrechtlicher Vertrag ist, aber es ist ein Vertrag, der nur bis
2012 gilt und der mit einer Frist von drei Monaten aufgekündigt werden kann. Die Vorkehrungen sehen auch nicht
vor, dass die Gefechtsköpfe vernichtet werden. Das heißt,
die Irreversibilität dieses Vertrages ist nicht gegeben.
({2})
Dies erfüllt mich - das sage ich in aller Offenheit - mit tiefer Sorge; denn dadurch wird die Flexibilität ermöglicht,
die in der amerikanischen „Nuclear Posture Review“ eingefordert wird und die zu einem erneuten schnellen Aufwuchs führen kann. Darüber hinaus bedeutet es die Option, neue Kernwaffen herzustellen.
In diesem Zusammenhang ist ein wichtiger Punkt, dass
wir auch weiterhin dafür eintreten, dass der Atomteststoppvertrag ratifiziert wird und in Kraft tritt.
({3})
Dies ist leider im Moment nicht absehbar, weil deutliche
Aussagen der Bush-Administration da wenig Hoffnung
machen.
Angesichts der aktuellen Lage in Indien und Pakistan,
angesichts der Tatsache, dass diese beiden Staaten keinem
Nichtverbreitungsregime angehören, dürfte es starke Auswirkungen haben, dass zurzeit keine Chance auf ein InKraft-Treten des Atomteststoppvertrages besteht. Denn
es bestand eine gewisse Hoffnung, dass sich diese beiden
Staaten dem Vertrag anschließen würden. Ich denke, diese
Chance wird nun geringer.
Wir werden weiterhin dafür eintreten, dass die nukleare Abrüstung, wie es auch auf der Überprüfungskonferenz einstimmig erklärt worden ist, zur endgültigen Abschaffung von nuklearen Waffen führt, weil nur dies allein
uns von dem schwierigen Thema der Proliferation befreien kann. Die frei flottierenden Bestände an abgerüstetem Waffenplutonium machen uns schon genügend Kopfzerbrechen, ebenso wie die Beseitigung chemischer
Waffen, die bisher allerdings sehr erfolgreich war. In den
Bereichen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nonproliferation haben wir noch viel zu tun. Angesichts der
Situation der Bedrohung durch Terrorismus, in der wir
uns zurzeit befinden, müssen wir diese Aufgabe sehr ernst
nehmen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Eckart von
Klaeden.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren Kollegen! Ich habe gerade mit
dem Kollegen Karl Lamers darüber gesprochen, wie bemerkenswert es doch ist
({0})
- das nicht, Frau Kollegin, aber für dieses Kompliment
bedanke ich mich -, dass wir hier in Fragen der Abrüstungspolitik im Wesentlichen übereinstimmen. Das ist
nun wirklich nicht immer so gewesen.
({1})
- Das bemerke ich ja gerade, Frau Vorsitzende. - Deswegen, Frau Kollegin Zapf, ist es mir in Wahlkampfzeiten
dann doch eine besondere Freude, Ihnen in einem wesentlichen Punkt widersprechen zu können: Über den
Jahresabrüstungsbericht wird heute nicht abgestimmt,
sondern er wird in die Ausschüsse überwiesen.
({2})
Meine Damen und Herren, am 11. Mai 1998 erklärte
der damalige Bundesaußenminister Kinkel:
Ich fordere die neue indische Regierung dazu auf,
zur Politik der nuklearen Zurückhaltung ihrer Vorgänger zurückzukehren und die Unterzeichnung des
Atomteststoppvertrages so bald als möglich nachzuholen.
Seit dieser Erklärung sind mehr als vier Jahre vergangen. Die Tageszeitungen der vergangenen Tage befassen
sich auf ihren Titelseiten mit einem Thema: einem drohenden atomaren Krieg zwischen Indien und Pakistan.
Die Vereinigten Staaten und Großbritannien haben ihre
Staatsangehörigen aufgefordert, die Region zu verlassen,
und auch die Vereinten Nationen haben ihre Mitarbeiter
abberufen. Die Lage ist so ernst wie lange nicht mehr.
Den Atomteststoppvertrag haben Indien und Pakistan
übrigens immer noch nicht ratifiziert. Sie sind leider nicht
die Einzigen. Im Januar 2002 fehlten die Ratifizierungsurkunden von 13 der 44 im Vertrag genannten Staaten mit der
Folge, dass der Vertrag bislang nicht in Kraft getreten ist.
Die Sorge, dass auch Staaten wie der Irak, Nordkorea
oder der Iran in absehbarer Zeit über Atomwaffen verfügen könnten, wächst. Gerade der Nahe und Mittlere Osten
ist eine problematische Region. Der Iran treibt sein ziviles Nuklearprogramm voran und wird verdächtigt, auch
Atomwaffen bauen zu wollen, obwohl er den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben hat. Der Irak schließlich
hatte nach Erkenntnissen westlicher Geheimdienste eine
Kernwaffe zu Beginn des zweiten Golfkrieges schon fast
fertig. Über Kapazitäten Israels bezüglich Nuklearwaffen
gibt es keine klaren Erkenntnisse.
Die Proliferation, also die Weiterverbreitung von
Massenvernichtungswaffen, wird als eine der Hauptursachen für weltweite Instabilität und Gefahr betrachtet. So
sind Rüstungsexperten davon überzeugt, dass zum Beispiel Nordkorea, obwohl es sich 1999 auf Druck der USA
zu einem Testmoratorium verpflichtet hat, andere Staaten
weiter mit Raketen und Raketentechnologie beliefert.
Gleiches gilt für biologische Waffen. Die Biowaffenkonvention aus dem Jahre 1972, die von den Vereinigten
Staaten und 142 weiteren Staaten ratifiziert worden ist,
verbietet die Entwicklung, Herstellung und Verbreitung
biologischer Waffen. Die Gefahr aber, dass frustrierte
Wissenschaftler, vor allem aus den früheren Ostblockstaaten, dazu verleitet werden könnten, ihr Wissen an den
Meistbietenden zu verkaufen, ist nach wie vor vorhanden,
ja wächst sogar.
({3})
Dabei ist der Einsatz biologischer Waffen besonders
perfide. Im Unterschied zu Sprengstoffanschlägen, die
selber schon grausam genug sind, würden Angriffe mit
todbringenden Bakterien oder Viren anfangs gar nicht bemerkt. Die Menschen könnten die Wolke mit den Erregern weder sehen noch riechen oder schmecken. Erst nach
Tagen oder Wochen, je nach eingesetzter Mikrobe,
brächen die ersten Infektionen aus. Die Befallenen würden in Praxen und Kliniken mit Symptomen einer merkwürdigen Seuche erscheinen, die nur die wenigsten Ärzte
jemals gesehen haben.
Die britische Regierung hat vor einiger Zeit geheime
Tests aus den 60er-Jahren veröffentlicht. Bei einem Angriff mit biologischen Waffen, so stellte man damals bereits fest, könnte das U-Bahn-Netz Londons binnen weniger Stunden weiträumig verseucht werden. Diese Gefahr,
so die Schlussfolgerung, bestehe auch heute. Die Folgen
wären enorm, da die Zahl der Opfer die Zahl aller bisherigen großen Unfälle weit übertreffen würde.
Auch wenn britische Politiker die Angriffe in den 60erJahren, also während des Kalten Krieges, vonseiten der
Sowjetunion befürchtet hatten: Die Gefahr des Angriffs
mit biologischen und chemischen Waffen besteht weiter,
ja, sie ist seit dem Golfkrieg und spätestens seit den Anschlägen vom 11. September so real wie selten zuvor.
Dennoch wird leider weiter an der Entwicklung biologischer Waffen gearbeitet. Hierbei geht es nicht nur um
Staaten. Besonders teuflisch ist vielmehr, dass vor allem
Terroristen, die sich schwer kontrollieren lassen, an Massenvernichtungswaffen interessiert sind. Was sich aber
kontrollieren lässt, ist das Vorfeld, nämlich die Entwicklung und Weitergabe von Technologie und Trägersystemen solcher Waffen. So ist es gut und wichtig, dass wir
uns heute mit abrüstungspolitischen Themen befassen
und gemeinsam versuchen wollen, einige wichtige Abkommen der Ratifizierung bzw. der Stärkung entgegenzubringen.
({4})
Zunächst möchte ich auf einige abrüstungspolitische Erfolge hinweisen, die der Jahresabrüstungsbericht aufzeigt.
Zu diesen Erfolgen zählt sicherlich die von den EU-Außenministern verabschiedete rüstungspolitische Initiative, die
das Ziel hat, vor allem nicht staatlichen Akteuren den Zugang zu Massenvernichtungswaffen zu verwehren. Wünschenswert wäre aber eine verstärkte Zusammenarbeit in
der EU über die tägliche Arbeit der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik hinaus. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind es wert, in der Europäischen Union zu einem
wichtigeren Thema zu werden.
Auch das Anpassungsübereinkommen zum KSE-Vertrag, das im Jahr 2000 nicht in Kraft treten konnte, nun
aber aufgrund der von Russland erklärten Truppenbegrenzungsverpflichtung aller Wahrscheinlichkeit nach in
Kraft treten kann, ist ein guter Fortschritt. Diese beiden
Beispiele zeigen, dass Fortschritte bei der Abrüstung und
Rüstungskontrolle zwar mühsam sind, aber durchaus erreicht werden können.
Ein Erfolg, der absehbar, im Bericht aber noch nicht erwähnt worden ist, ist das Abkommen über die Reduzierung der strategischen Angriffspotenziale, das Präsident
Bush und Präsident Putin vor kurzem in Moskau unterzeichnet haben; Kollegin Zapf hat es schon angesprochen.
Nun soll man sich aber mit den bisherigen Erfolgen
nicht zufrieden geben. Zwar haben wir mit den existierenden Abrüstungs- und Rüstungskontrollregimen bereits
gute Fortschritte erzielt. Doch angesichts der derzeitigen
schwierigen weltpolitischen Lage - die gegenwärtigen
regionalen Krisenherde zeigen es - sind weitere Maßnahmen dringend erforderlich.
Deshalb bedauern wir die Aufkündigung des ABMVertrages durch die Vereinigten Staaten. Deren Bestreben, auch unilateral für die Gewährleistung ihrer militärischen Sicherheit zu sorgen, ist seit dem 11. September
letzten Jahres aber besonders nachvollziehbar. Zudem bedeutet dies nicht - das hat Präsident Bush bei seinem Besuch in Deutschland ausdrücklich erklärt -, dass diese
Maßnahmen zulasten kollektiver Sicherheitssysteme gehen sollen.
So wird meine Fraktion, auch angesichts der einleitend
geschilderten Bedrohungssituation, dem Antrag zur
Schaffung geeigneter Kontrollinstrumente, mit denen die
Einhaltung der Verbotsbestimmungen des Biowaffenübereinkommens gefordert wird, zustimmen und auch
nicht gegen die Initiative zur Ratifizierung des Atomteststoppvertrages stimmen.
({5})
Besondere Bedeutung messe ich - das möchte im zum
Schluss noch einmal sagen - dem Verbot biologischer
Waffen und - ich erwähnte es bereits - der Einschränkung
der Proliferation bei. Auch sollte auf die Kontrolle
gentechnischer Entwicklungen in diesem Zusammenhang
ein stärkeres Gewicht gelegt werden. Ich will aber auch
nicht versäumen zu sagen, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle in ein sinnvolles und zielgerichtetes außen- und
sicherheitspolitisches Konzept eingebunden werden müssen und dass selbstverständlich auch entwicklungspolitische Maßnahmen und Konzepte im weitesten Sinne mit
einbezogen werden müssen.
In diesem Punkt muss die Bundesregierung leider kritisiert werden.
({6})
Denn insbesondere im Bereich der Entwicklungshilfe
müssen wir, trotz der Intervention der zuständigen Ministerin, eine weitere Streichung der Mittel feststellen. Nach
meinem derzeitigen Kenntnisstand werden diese Mittel
auch im Jahr 2003, jedenfalls nach den Plänen der derzeitigen Regierung, nicht aufgestockt. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Politik am 22. September dieses Jahres
beendet wird und in ein umfassendes außen- und sicherheitspolitisches Konzept eingebunden werden kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Halten Sie
Frau Kollegin Beer nicht von ihrer Rede ab! Sie hat für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich
grundsätzlich auf die Problematik der Abrüstung und
Rüstungskontrolle und der Nichtproliferation eingehe,
möchte ich Ihnen, Herr von Klaeden, etwas sagen. Als ich
mich anfangs der Debatte wunderte, dass Sie reden, war
das in der Tat nicht negativ gemeint.
({0})
Es ist nämlich so, dass dieser Unterausschuss eine Qualität besitzt, die vielen anderen fehlt. Es findet keine parteiorientierte, sondern eine problemorientierte Auseinandersetzung statt. Es ist eigentlich bedauerlich, dass dieser
so wichtige Bereich, der auch ein Instrument zur Konfliktregulierung und -verhütung ist, im Plenum so wenig
Aufmerksamkeit erfährt, während wir - wie morgen -,
wenn wir gezwungen sind, andere schwere Entscheidungen zu treffen, alle unser Votum namentlich abgeben.
Ich denke, dass der negative Verlauf zahlreicher für die
Rüstungskontrollpolitik relevanter Ereignisse der letzten
Jahre gezeigt hat, dass ein gemeinsames Verständnis von
Sicherheit und Frieden wichtiger ist denn je. Es ist wichtiger denn je - die aktuellen Probleme haben Sie, Herr von
Klaeden, aber auch Frau Zapf genannt -; denn es gibt nirgendwo Zeichen für Entwarnung, sondern nur für Anspannungen. Die Drohung der gegenseitigen Vernichtung
mit Massenvernichtungswaffen scheint wieder auf die Tagesordnung zu rutschen.
Gerade im Bereich der Kooperation sehe ich einen
ganz zentralen Punkt; denn die diffusen Risiken und Bedrohungen von heute haben sich weiter globalisiert. Die
Akteure folgen zu oft oder schon wieder ihrem eigenen
national orientierten Sicherheitsbegriff. Dies erschwert
unsere gemeinsame Definition von friedens- und sicherheitspolitischen Interessen, auf die wir dringend angewiesen sind.
Dieser Prozess ist nicht neu. Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass die Debatte über die Relativierung
nationaler Sicherheit spätestens mit der Diskussion über
die Folgen von Nuklearwaffen begonnen hat und nicht zuletzt für die Entwicklung des Konzepts von Rüstungskontrollpolitik, dessen Funktion zunächst die Kontrolle von
Rüstungsprozessen, weniger der Abrüstung an sich war,
ausschlaggebend war.
Es waren damals die Vereinigten Staaten, die das Konzept der Sicherheitspolitik mit entwickelt haben, weil sie
erkannt hatten, dass Sicherheit unter diesen Bedingungen
nur kooperativ zu erreichen ist. Diesen Weg haben die
Vereinigten Staaten derzeit verlassen. Das ist kein Grund
für uns, davon abzulassen. Wir müssen dafür werben, dass
sie in die gemeinsame Definition von Sicherheit zurückkehren.
Zur Zeit der Blockkonfrontation waren die sicherheitspolitischen Konstellationen überschaubar. Heute haben
wir damit verglichen verschiedene rüstungskontrollpolitische Bereiche von globaler Bedeutung, auch wenn sie jeweils unterschiedlicher Logik folgen.
Ich gehe die Palette einmal durch und beginne mit den
Massenvernichtungswaffen. Die Rüstungskontrollregime befinden sich zurzeit in kritischer Lage. Wir wissen
noch nicht, welche Folgen die Kündigung des ABM-Vertrags langfristig haben wird, wenngleich die Vereinbarung
über die Reduzierung der Nuklearpotenziale zwischen
Russland und Amerika erfolgreich ist.
({1})
Wir sehen auch und sind skeptisch, was erwünschte Erfolge der Aufstellung eines Raketenabwehrsystems sein
sollen. Eines können wir heute schon bilanzieren: All
diese Maßnahmen - sie waren nicht international, sondern
bilateral oder unilateral - waren keine, die die Anschläge
vom 11. September verhindert hätten. Ich glaube, es ist
wichtig, dies noch einmal hervorzuheben.
Genf ist bereits erwähnt worden. Der Abrüstungsprozess stockt seit Jahren und kommt keinen Schritt weiter.
Das B-Waffen-Übereinkommen ist sehr wichtig. Wir
standen im Dezember vor der nächsten qualitativen Stufe,
wir wollten einen Verifikationsmechanismus vereinbaren.
Was hilft die internationale Einigung über die Ächtung
und das Verbot, wenn die Instrumente der Überprüfung
nicht dazugegeben werden? Dass ausgerechnet diese
wichtige Verifikation durch die Vereinigten Staaten
blockiert worden ist, konterkariert die politischen Erfordernisse in der Zeit nach dem 11. September.
({2})
Wir sind uns darüber einig, dass sich die Gefahr der
Proliferation vergrößert hat, dass immer mehr Staaten versuchen, Massenvernichtungswaffen in die eigenen Hände
zu bekommen. Wir wissen, dass einige Staaten nicht bereit sind, davon auf dem Verhandlungswege abzulassen.
Hier brauchen wir die Unterstützung der Amerikaner. Dabei muss man sich von dem Glauben verabschieden - das
ist im Hinblick auf den Irak wesentlich -, man könnte die
Gefahr von Massenvernichtungswaffen durch militärische Luftschläge beseitigen. Nein, das ist mitnichten der
richtige Weg. Ich spreche mich strikt dagegen aus. Was
wir vielmehr brauchen, ist eine Stärkung der Mechanismen der Vereinten Nationen. Wir brauchen ferner den politischen Druck auf dieses Regime, das Massenvernichtungswaffen bereits gegen die eigene Bevölkerung
eingesetzt hat. Wir müssen Druck ausüben, dass die Inspekteure der Vereinten Nationen ohne jede Auflage in
das Land zurückkehren dürfen. Das ist der Weg zur Deeskalation. Alles andere würde eine Zunahme der Spannung
bedeuten und würde zur weiteren Eskalation im gesamten
Nahen und Mittleren Osten führen. Das kann nicht unser
Ziel sein.
({3})
Es gibt aber auch Erfolge. Lassen Sie mich in diesem
Zusammenhang den Bereich der konventionellen Rüstungskontrolle ansprechen. Der Vertrag über Open Skies
ist in Kraft getreten. Das ist ein außerordentlich großer Erfolg. Es ist wirklich ein Wermutstropfen, dass die Bundesrepublik Deutschland mangels eigenem Flugzeug nicht in
der Lage ist, sich aktiv daran zu beteiligen. Ich sehe es als
Aufgabe für die Zukunft an - im Parlament besteht darüber
Konsens -, die entsprechenden Kapazitäten zu erhöhen, um
dort eine aktive Rolle in der Zukunft spielen zu können.
({4})
Die Weiterentwicklung der Rüstungskontrolle beispielsweise im Bereich der Kleinwaffen und der Landminen ist notwendig, um Menschenleben zu retten. Auch in
diesem Bereich wollen wir treibende Kraft sein. Diese
Weiterentwicklung ist ein Bestandteil von humanitär orientierter Rüstungskontrolle, die im Alltag meines Erachtens zu wenig Berücksichtigung findet.
Ich möchte noch die Rüstungsexportkontrolle ansprechen; denn auch dieser kommt im Zusammenhang
mit dem illegalen Handel mit Massenvernichtungswaffen
und biologischen Kampfstoffen eine ganz wichtige Rolle
zu. Wir müssen hier multilaterale Instrumente entwickeln
und treibende Kraft sein. Ich teile die entsprechenden
Ideen und Vorschläge vollkommen. Wo es eine internationale Einigung noch nicht gibt, müssen wir eine gemeinsame europäische Position und eine europäische
präventive Außen- und Sicherheitspolitik formulieren,
um auf dieser Ebene weitere Unterstützung zu suchen.
({5})
Wenn ein solcher Prozess erst einmal in Gang gekommen
ist, dann wird er irgendwann auch unseren amerikanischen Partner erreichen; denn dies ist der vernünftige und
der verantwortbare Weg.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen und
an dieser Stelle der Bundesregierung danken. Ich glaube,
es war ein guter Start, die Experten vor Ort, also die Nichtregierungsorganisationen, und deren Expertisen in diesen
wichtigen Bereich der Abrüstung und Rüstungskontrolle
einzubeziehen.
Frau Kollegin Beer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Braun?
Ja,
Herr Kollege Braun.
Frau Beer, Sie
würden es mir leichter machen - ich könnte mich nämlich
in meinem Redebeitrag nachher kürzer fassen -, wenn Sie
mir eine Antwort auf die folgende Frage geben könnten.
Sie haben einen Antrag zum Thema Antifahrzeugminen
vorgelegt. Die CDU/CSU-Fraktion und meine Fraktion
haben ebenfalls einen entsprechenden Antrag eingebracht.
Die beiden Anträge unterscheiden sich ausschließlich dadurch, dass wir beantragt haben - das geht über das hinaus,
was Sie vorschlagen -, dass die Bundesrepublik Deutschland beispielgebend sein soll und derartige Minen vernichten soll, die sich noch im Bestand der Bundeswehr befinden, und dass die Bundesrepublik Deutschland einseitig
auf Erprobung, Herstellung und Lizenzvergabe sowie Lagerung und Export von Landminen verzichten soll. Unsere
Anträge unterscheiden sich nur in diesen beiden Punkten.
Was ist Begründung der Grünen dafür, dass Sie dies offensichtlich nicht akzeptieren wollen, sodass ein gemeinsamer Antrag nicht zustande kommen kann?
({0})
Herr
Kollege Braun, wir sind dabei - die letzte Fassung hat
mich eine halbe Stunde vor meiner Rede erreicht -, einen
Kompromiss zu finden. Ich bin in dieser Frage vollkommen offen. Die beiden Punkte, die Sie angesprochen haben und die im Wesentlichen von Herrn Kinkel formuliert
worden sind, finden aus politischer und humanitärer
Überzeugung meine volle Unterstützung.
({0})
- Darf ich bitte ausreden? - Meine volle politische Unterstützung finden auch die jetzt beginnenden Aktionstage
im Rahmen der internationalen Kampagne gegen die
Landminen, die genau diese Forderungen an die Bundesregierung stellt. Ich meine, zu Recht.
Nun ist es bekannt - das kennen Sie noch aus Ihrer Regierungszeit -, dass es in der Bundesregierung ein Ressort
gibt, das die Minenproblematik gänzlich anders bewertet, nämlich das Bundesministerium der Verteidigung.
Weil wir gelernt haben, in der Koalition zu kommunizieren, sind wir gerade dabei, einen Antrag zu formulieren,
der die Unterstützung aller finden kann. Ich hoffe, das gelingt im Interesse derjenigen - das sind vor allem Zivilisten -, die nach wie vor von diesen Landminen und Antipanzerminen bedroht werden.
Deswegen hat meine Fraktion so unendlich lange Geduld mit dem Minister der Verteidigung. Wir hoffen, ihm
doch noch deutlich machen zu können, dass er sich endlich ein Herz fassen sollte, auf diesem Gebiet humanitärer
Rüstungskontrolle Ihrem Antrag entsprechend einen
Schritt nach vorne zu wagen, und zwar nicht erst dann,
wenn die anderen ihn gemacht haben, sondern als Erster.
Ich hoffe, dass wir gemeinsam erfolgreich sein werden.
({1})
Frau Kollegin Beer, gestatten Sie noch eine Zusatzfrage?
Ich
möchte meine Rede jetzt zu Ende bringen, damit es nachher nicht heißt, wir dürften die Landminenproblematik
hier nicht mehr erörtern, weil wir diese Debatte schon geführt hätten. Das wäre der Sache nicht zuträglich. Ich
hoffe vielmehr, dass wir noch während dieser Legislaturperiode eine Debatte über einen interfraktionellen Antrag
führen können.
({0})
- Entschuldigung, ich möchte jetzt zum Schluss meiner
Rede kommen.
Gerade die Nichtregierungsorganisationen haben das
gesellschaftlich-politische Umfeld mobilisiert, was überhaupt erst dazu geführt hat, dass das Abkommen von
Ottawa zur Ächtung aller Antipersonenminen ratifiziert
werden konnte. Dass wir in diesem Dialog unsere Politik
weiterentwickeln, kritische Stimmen hören und dementsprechend versuchen, unsere Gedanken im Rahmen des
gemeinsamen Dialogs umzusetzen, ist ein Erfolg. Ich
wünsche mir, dass dies in der nächsten Legislaturperiode
unter einer rot-grünen Regierung mit noch mehr Engagement fortgeführt wird.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in all diesen Bereichen gibt es den von mir dargestellten Stau. Wir sollten
den Stellenwert dieses Politikbereiches erhöhen. Dabei
müssen wir vor allen Dingen Phantasie walten lassen und
dort, wo alte, ausgediente Instrumente heute nicht mehr
greifen, Weiterentwicklungen vorantreiben. Wer glaubt,
dass dieser Politikbereich aufgrund der schwierigen internationalen Zuspitzung keine Zukunft mehr hat, der vergibt
ein ganz wichtiges Instrument zu neuen friedensfördernden Initiativen, die Rüstung beseitigen sollen und damit
unserem gemeinsamen politischen Ansatz entsprechen.
Vielen Dank.
({1})
Für die
FDP-Fraktion spricht der Kollege Hildebrecht Braun.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Abrüstungspolitik ist ein wichtiger Teil der weltweiten Friedenspolitik. Abrüstung löst nicht bestehende militärische
Konflikte, trägt aber dazu bei, dass sich solche Konflikte
gar nicht erst ergeben können. Diese Charakterisierung
mag erklären, warum Abrüstungspolitik wenig spektakulär ist und deshalb das Interesse der Öffentlichkeit auch
nicht sehr groß ist. Wir Politiker, die sich dem Frieden in
der Welt verpflichtet wissen, nehmen Abrüstungspolitik
ernst und werben für die oft kleinen Schritte, die die Welt
dem Frieden näher bringen sollen.
({0})
Wenn die Menschen wüssten, welches Vernichtungspotenzial in den Arsenalen der Staaten liegt, die über
Atomwaffen sowie über biologische und chemische MasHildebrecht Braun ({1})
senvernichtungswaffen verfügen, wie viele Minen in der
Welt verlegt wurden und wie viele noch produziert werden, wie viele Kleinwaffen in der Welt eine tägliche tödliche Gefahr für Tausende von Menschen darstellen, dann
wäre das Interesse an Fragen der Abrüstung sicherlich
größer. Wir verfügen über entsprechende Informationen;
daher rührt auch unser Engagement.
Der vorliegende Abrüstungsbericht für das Jahr 2001
bemüht sich geradezu rührend, von Erfolgen zu sprechen.
Er schreibt der NATO sogar eine herausragende Rolle bei
der Bewältigung des Terrorismus zu, was aus meiner
Sicht reine Schönfärberei ist. Aber es gibt in der Tat ein
paar Erfolge der Abrüstungspolitik. So wird auf die Ratifizierung des Vertrags über den offenen Himmel, auf eine
angeblich positive Bilanz des Antipersonenminenabkommens und auf ein Kleinwaffenaktionsprogramm der Vereinten Nationen verwiesen.
Leider sind die nötigen Hinweise auf negative Entwicklungen viel gewichtiger: das Scheitern des Verifikationsprotokolls des Chemieabkommens, den Stillstand
der Abrüstungskonferenz in Genf, den wir schon seit Jahren beklagen, die Kündigung des Grundlagenvertrags der
Abrüstung, nämlich des ABM-Vertrags von 1972, durch
die USA anstelle einer einvernehmlichen Anpassung.
Man kommt also nicht umhin, die Bilanz des Abrüstungsjahres 2001 negativ zu beurteilen. Das darf uns nicht
entmutigen, auch wenn der wichtigste Partner, die USA,
gerade unter der Bush-Regierung immer wieder sein Desinteresse an der Abrüstung ausdrückt. Die USA haben
nach wie vor den Atomwaffenteststoppvertrag nicht ratifiziert.
({2})
Ihre Haltung in dieser Frage ermutigt möglicherweise sogar die Schwellenländer und solche wie Pakistan und Indien, die seit kurzer Zeit über Atomwaffen verfügen, in
ihren Aufrüstungsbemühungen fortzufahren.
Auf der einen Seiten haben die USA - übrigens neben
Russland und China - das Antipersonenminenprotokoll
von Ottawa nicht mit unterzeichnet und damit dazu beigetragen, dass das Elend der Antipersonenminen nicht beendet werden kann. Die USA haben den ABM-Vertrag
- den ersten wirklich großen Abrüstungsvertrag - gekündigt.
Sie haben vor 14 Tagen einen neuen Vertrag mit Russland geschlossen, der die Bezeichnung „Vertrag über die
Abrüstung von Kernwaffen“ nicht verdient. Dieser Vertrag ist zwar Balsam auf die Seele der Russen, aber kein
wirklicher Fortschritt. Er kann jederzeit wie ein Mietvertrag über eine Mansardenwohnung mit vierteljährlicher
Frist gekündigt werden.
({3})
Die zu reduzierenden Sprengköpfe müssen nicht dauerhaft unschädlich gemacht werden. Sie können irgendwo
zur jederzeitigen Wiederverwendung eingelagert werden.
Trägerraketen werden gleich gar nicht von diesem Vertrag
erfasst. Nach Abschluss der Laufzeit Ende 2012 sind alle
Partner wieder frei, fröhlich neu aufzurüsten.
Wir sehen zum ersten Mal seit 1961, dass sich zwei
Atommächte, nämlich Pakistan und Indien, an der Demarkationslinie von Kaschmir bis zu den Zähnen gerüstet,
nicht nur mit Millionen Soldaten, mit der Drohung gegenüberstehen, die neuen Kernwaffen nötigenfalls auch
einzusetzen. Beide Staaten haben bereits erfolgreich Mittelstreckenraketen erprobt.
Auf der anderen Seite müssen wir aber auch hervorheben, dass sich die USA im Wesentlichen allein nach dem
Nunn-Lugar Act, also dem Gesetz der beiden Herren
Nunn und Lugar, um die Finanzierung von Projekten
kümmern, die den Wissenschaftlern und Militärs, die wissen, wie man Atombomben baut und sie in Trägersystemen unterbringt, eine zivile berufliche Perspektive bieten
sollen. Welche Zeitbombe in diesem menschlichen Potenzial von Tausenden Wissenschaftlern steckt, kann sich jeder ausmalen. Es handelt sich im Wesentlichen um Herren, die nicht nur im Irak und im Iran, sondern in etlichen
anderen Staaten herzlich willkommen wären.
Deutschland hat sich seit Beginn der Amtszeit des grünen Außenministers als Bremser der endgültigen Beseitigung von russischen Atomwaffen erwiesen - eine
schlimme Folge verfehlter Umweltpolitik. Anstatt im
Rahmen der G 8 die Bemühungen der anderen Staaten zu
unterstützen, den Russen bei der seit Jahren gewollten
Umwandlung von Waffenplutonium aus den überzähligen
Atomsprengköpfen in Material für die friedliche Atomkraft zu helfen, wurde blockiert. Wir hätten schon längst
eine vernünftige Vereinbarung über die tatsächliche und
endgültige Entsorgung dieser Atomsprengköpfe,
({4})
die eine nicht zu überschätzende Gefahr für den Weltfrieden darstellen, weil sie natürlich in die Hand von Staaten
wie dem Irak oder dem Iran oder - ebenso schlimm - in
die Hand von nicht staatlichen Terrororganisationen fallen könnten. Deutschland hätte mit der Siemens-Brennelementefabrik in Hanau helfen können; Deutschland hat
aber nicht helfen wollen oder helfen dürfen, weil die Grünen Probleme mit ihren Wählern befürchteten. Ausgerechnet die Grünen haben damit Abrüstung in einem ganz
zentralen Bereich verhindert.
({5})
Die Haltung der Grünen wird auch dann nicht glaubwürdig, wenn sie sich zu den Anträgen im Hinblick auf die
Landminen so wie heute verhalten; das Thema werden wir
offensichtlich noch in einer separaten Sitzung behandeln
müssen.
Ich bitte darum, zu prüfen, ob wir das Thema Abrüstung in der nächsten Legislaturperiode, in der es genauso
wichtig sein wird wie jetzt, nicht etwas aus der Parteipolitik herauslösen
({6})
Hildebrecht Braun ({7})
und als selbstständigen Bereich werten können, dem sich
alle in gleichem Maße verpflichtet fühlen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile der Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen aus
dem Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung! Ich möchte die große Harmonie, die bei
uns im Ausschuss herrscht, zumindest in dieser Debatte
ein wenig durchbrechen. Denn ich bin der Meinung: Wir
können Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht losgelöst
von der Aufrüstung thematisieren, die in Ihrer aller Reihen massiv betrieben wird.
({0})
Der Jahresabrüstungsbericht des vergangenen Jahres
zeigt, dass es wenig Fortschritte, aber eine Menge Rückschläge gegeben hat. Ich denke, diese Tendenz wird sich
fortsetzen.
In der UN-Abrüstungskommission herrscht Stagnation
und auch in der OSZE wird nicht über weitere Abrüstungsschritte diskutiert.
({1})
NATO und EU haben in den vergangenen drei Jahren
keine konkreten Abrüstungsprojekte vorgelegt.
({2})
Es gibt zwar bei den führenden Industrienationen noch
quantitative Rüstungsreduzierungen, diese werden aber
durch eine qualitative Aufrüstung kompensiert.
Über diese Rüstungsmodernisierungen lesen wir in diesem Bericht nichts. Wir lesen auch nichts darüber, dass die
Rüstungsausgaben im Weltmaßstab seit 1999, also nach
Jahren ökonomisch bedingter Rüstungsminderung, wieder
angestiegen sind. Wir sind mittlerweile - mit steigender
Tendenz und ohne die Schwarzgelder der NATO - wieder
bei mehr als 800 Milliarden Dollar angelangt, an der Spitze
die USA mit gigantischen Steigerungen. Darüber ist in
dem vorliegenden Bericht leider nichts nachzulesen.
({3})
Angesichts dessen sollte man ernsthaft überlegen, ob
man nicht künftig eine Umbenennung vornimmt. Realistischer wäre es, künftig einen Jahresaufrüstungsbericht
oder wenigstens einen Jahresrüstungskontrollbericht vorzulegen, da Abrüstung kaum noch eine Rolle spielt, sondern es nur noch um Rüstungskontrolle und maximal um
Nichtverbreitung geht.
Rüstungskontrolle bedeutet, dass man unkalkulierbare Risiken der Rüstung ausschalten oder managen will.
Im Bereich der Kleinwaffen wird zum Beispiel der Export
kontrolliert. Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass
Produktion und Export limitiert werden. Dies hat mit Abrüstung nichts zu tun.
({4})
Auch die Geschichte des nuklearen Wettrüstens hat gezeigt, dass Rüstungskontrolle sehr wohl mit Aufrüstung
einhergehen kann.
Der neue Vertrag, den Herr Bush und Herr Putin zur
Nuklearstrategie unterzeichnet haben - dies wurde schon
angesprochen -, wird zwar offiziell als Abrüstungsschritt
bezeichnet, doch weil damit auch der START-II-Vertrag
beerdigt wurde, ermöglicht er de facto, dass künftig ganz
legitim Mehrfachsprengköpfe gebaut werden können.
Die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen
ist ein zwingend notwendiger Schritt. Gerade nach dem
11. September 2001 geht es darum, zu vermeiden, dass
diese in die falschen Hände geraten. Doch gibt es richtige
Hände für Atombomben, chemische Kampfstoffe und
Biowaffen? Wir sagen ganz klar: Nein!
({5})
Deswegen gibt es keinerlei Grund, den exklusiven Besitz der großen Industriemächte an diesen Waffen zu verteidigen. Diese Waffen müssen konsequent geächtet werden, egal, ob sie sich in russischer, amerikanischer,
britischer, französischer, indischer, israelischer, pakistanischer oder irakischer Hand befinden.
Die Forschung an nuklearen Mehrfachsprengköpfen,
der Bau von Mini-Nukes, Besorgnis erregende Entwicklungen vor allem bei den biologischen Waffen, die Sabotage der USA beim Biowaffen-Übereinkommen sowie
neue, intensivierte Forschungsprogramme geben Anlass
zu größter Sorge.
Die Ansätze in den heute von den Regierungsfraktionen auch zum Biowaffen-Übereinkommen vorgelegten
Anträgen gehen unseres Erachtens in die richtige Richtung. Sie gehen jedoch längst noch nicht weit genug. Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung über die entsprechenden Anträge enthalten. Wir sind der Meinung,
dass die Kritik gerade gegenüber den Bündnispartnern
noch viel deutlicher formuliert werden muss. Es gilt insbesondere auch Koalitionen mit abrüstungswilligen Staaten voranzutreiben. Deswegen haben wir einen Antrag
bezüglich der Biowaffen vorgelegt.
Wir fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf:
Lassen Sie uns gemeinsam die Abrüstung voranbringen,
indem wir gemeinsam der Aufrüstung, die in allen anderen
Fraktionen unterstützt wird, eine klare Absage erteilen!
({6})
Das Wort hat jetzt der
Herr Staatsminister Dr. Christoph Zöpel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die Bundesregierung konnte ihre Auffassung zur Abrüstung, zur Rüstungskontrolle und zu den
Hildebrecht Braun ({0})
Gefahren der Rüstung schriftlich darlegen. Ich wollte Gelegenheit haben, Ihnen zuzuhören, bevor ich spreche.
({1})
Zuhören ist die zeitloseste und beste Form der Informationsaufnahme, die es gibt. Da hilft kein technischer Fortschritt.
({2})
Lassen Sie mich Folgendes sagen: Ich finde, das, was ich
hören konnte, war ein Beleg für eine große Gemeinsamkeit auf der Basis zivilisatorischer Erkenntnisse darüber,
wie Frieden in dieser Welt gesichert werden kann.
({3})
Ich will kurz auf einige wenige kritische Bemerkungen - das ist normal - eingehen:
Erste Bemerkung. Es geht um einen Hinweis in Ihrem
Beitrag, Herr von Klaeden, und in einem Zuruf von Ihnen,
Herr Rossmanith. Sie sagten, man müsse sowohl für die
Entwicklungshilfe als auch für die Verteidigung mehr
Geld ausgeben. Wer möchte dem von vornherein widersprechen? Lassen Sie mich aber bitte eine Anmerkung
machen: Als ich ungefähr 1997 nachschaute, wieso die
Länder - von Schleswig-Holstein bis Bayern - im Gegensatz zum Bund ihre Investitionshaushalte kürzen
mussten, fiel mir auf, dass dies der Fall war, weil die notwendige Anpassung im Bund allein durch den Verteidigungshaushalt geleistet wurde. Ich fand das toll.
Sie sollten mit diesem Faktum leben. Die Reduzierung
von 1 Million Soldaten verschiedenster Truppen auf deutschem Boden und die wirklich deutliche Reduzierung des
Verteidigungshaushaltes - für beides trug überwiegend
Verteidigungsminister Rühe die Verantwortung - fand
und finde ich toll. Stehen Sie in den Debatten über Rüstungserhöhungen dazu!
({4})
Ich will Sie noch einmal loben.
({5})
Unsere Generation konnte und kann mit dem Phänomen
der staatlichen Kreditaufnahme nicht umgehen. Die Stabilitätskriterien der EU sind zwingend notwendig. Finanzminister Waigel hat einen großen Beitrag dazu geleistet. Es
fällt jetzt aber auf, dass dies schlecht koordiniert mit den
Ländern geschah. Jegliche Forderung nach einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben angesichts des Tangierens der Obergrenze der staatlichen Verschuldung und
ohne Deckungsvorschlag nehmen jedem von uns immer
weniger Bürger ab. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der
Debatte, den Sozialetat zu kürzen und gleichzeitig den
Verteidigungs- oder Entwicklungsetat zu erhöhen.
({6})
In meiner zweiten Bemerkung geht es um Soldaten
und Minen. Lassen Sie mich eines feststellen: Es gibt
überhaupt keinen Zweifel daran, dass wir uns hier verständigen müssen. Ich darf für das Verteidigungsministerium sagen: In den Formulierungen sollte das notwendige
Interesse der persönlichen Sicherheit deutscher Soldaten
gewahrt bleiben.
({7})
Das erkennt man aufgrund der Formulierungen nicht sofort. Es ist aber notwendig und entspricht dem, was wir
bei jedem Bundeswehreinsatz hier sagen. Damit ist der
Fall gelöst.
({8})
Bei meinem dritten Punkt habe ich eine herzliche Bitte.
Dass es einen Zusammenhang zwischen dem Missbrauch
und dem wirtschaftlichen Gebrauch von Nukleartechnologien gibt, kann man überhaupt nicht von der Hand weisen. Zwei Strategien gehören dabei zusammen, nämlich
zum einen den militärischen Missbrauch von Nukleartechnologien zu verringern und auszuschalten sowie zum
anderen gleichzeitig aus der wirtschaftlichen Nutzung
auszusteigen. Um beides hat sich diese Bundesregierung
bemüht.
({9})
Das eine gegen das andere auszuspielen hieße, die Logik
des Problems zu verkennen. - Das waren die kritischen
Punkte.
Bemerkenswert fand ich, wie Sie, Herr Kollege Braun,
und Sie, Frau Kollegin Lippmann, Ihre Sorgen über die
Politik der Vereinigten Staaten geäußert haben. Ihnen ist
vielleicht gar nicht aufgefallen, wie dicht Sie beieinander
lagen.
({10})
- Das finde ich schön. Wunderbar!
({11})
Lassen Sie mich zu dem kommen, worüber wir im
Grunde sprechen müssen, nämlich dazu, dass wir bei der
Abrüstungspolitik Gemeinsamkeit brauchen. Die Abrüstungspolitik ist ein weiterer Beitrag der europäischen
Zivilisation zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Daran sollten wir festhalten. Es gibt in Wahrheit keine Alternative zur Verrechtlichung internationaler
Beziehungen und zu Verträgen über Abrüstung.
({12})
Ich werde jetzt vorsichtshalber über politikwissenschaftliche Analysen sprechen. Nach allen politikwissenschaftlichen Analysen wäre nur eine große Macht in der
Lage, ohne Verträge zu agieren. Diese Analyse wird derzeit im indisch-pakistanischen Konflikt durch eine andere Realität falsifiziert. Die Vereinigten Staaten haben
kein Machtpotenzial, Indien daran zu hindern, zu tun, was
es vielleicht tragischerweise tun wird. Dabei hilft nur die
Logik der Überzeugung bzw. die Kraft der Argumente aus
der Tradition europäischer Kriegserfahrung und des Friedenswillens. Es gibt kein Machtmittel, mit dem Indien an
seinem Vorhaben gehindert werden könnte.
({13})
Ich hoffe, dass eingesehen wird, dass es bei der Abrüstung, der Rüstungskontrolle und der Kriegsvermeidung
im Hinblick auf welche Waffen auch immer - seien es
atomare, chemische oder biologische - keine Alternative
zu Verträgen gibt.
({14})
Lassen Sie mich eine zweite Bemerkung machen, über
die wir intensiver werden sprechen müssen. Sicherheitsprobleme unterliegen einem Paradigmenwechsel.
Die Logik der Abschreckung
sei am Ende; nun gebe es die Logik des Terrors. Was aber
bedeutet das? Die Abschreckung war die Sicherheitspolitik
zwischen Mächtigen. Mächtige können sich gegenseitig
abschrecken, weil sie etwas zu verlieren haben. Das hat
funktioniert. Terror hingegen ist die Auseinandersetzung
zwischen Macht und Ohnmacht. Abschreckung funktioniert
aber nicht gegenüber Ohnmacht, weil der Ohnmächtige
nichts zu verlieren hat. Das ist der vielleicht tragische Paradigmenwechsel.
Wir erleben die Privatisierung von Gewalt. Dagegen und
gegen den für die Betroffenen schwer erträglichen Einsatz
von Terror hilft eben nicht Macht, auch nicht die Macht der
Abschreckung. Damit erfolgt teilweise ein Rückfall in
längst überwunden geglaubte Zeiten. Wir haben schon mit
dem Westfälischen Frieden geglaubt, die Staatenwelt hätte
die Gewaltanwendung endgültig verstaatlicht. Sie hat sie
dann zwar in schrecklicher Weise missbraucht, aber sie hat
die private Gewaltanwendung eingeschränkt. In dieser
Hinsicht ist ein Rückfall erfolgt. Die Abschreckung bekommt die von mir geschilderte Dimension.
Wie können wir in einer weltweiten Vereinbarung die
Gewaltanwendung wieder zu einem staatlichen Monopol
machen? Wie können wir eine Weltsozialpolitik betreiben, um zu erreichen, dass es niemand nötig hat, aus der
Situation der Ohnmacht heraus Gewalt anzuwenden?
Wenn wir das geschafft haben, brauchen wir eigentlich
keine militärische Sicherheitspolitik mehr. Dann hilft
wieder die staatliche Politik gegen private Gewalt, nämlich durch Polizeiaktion unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit. Dafür stehen wir an dieser Stelle.
Herzlichen Dank.
({0})
Nun erteile ich dem
Kollegen Kurt Rossmanith für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Ihnen
sehr dankbar für Ihre Äußerungen, Herr Staatsminister
Zöpel, weil Sie damit in dieser Debatte, die uns - mit Ausnahme der PDS - erfreulicherweise zu einem relativ breiten Konsens gebracht hat, wieder einiges zurechtgerückt
haben. Ich bin Ihnen aber auch dafür dankbar, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass uns allein der Glaube an das
Gute - ich vereinfache das etwas - nicht die friedvolle
Welt bringen wird, die wir uns alle wünschen, wobei es zu
unseren Aufgaben als Politiker gehört, darauf hinzuarbeiten.
Sie haben auf den Verteidigungshaushalt hingewiesen. Auch dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Was aber, wie
ich meine, in diese Debatte nicht hineinpasst - diese Kritik an Ihren Ausführungen muss ich anbringen -, ist, dass
Sie die soziale Leistungsfähigkeit und die Ausgaben für
die Entwicklungshilfe und die Sicherheitspolitik gegenüberstellen. Ich meine, das eine ist so wichtig wie das andere. Man kann das eine nicht durch das andere ersetzen.
Sie haben auch auf die Friedensdividende hingewiesen,
die wir in der Tat in den 90er-Jahren erreichen konnten.
Der Rückgang der Verteidigungslasten - das hat sich nicht
nur im Verteidigungshaushalt widergespiegelt - geht
schließlich zu einem wesentlichen Teil auf die Wiedervereinigung und die Wiedergewinnung von Freiheit,
Rechtstaatlichkeit und Demokratie bei unseren östlichen
und südöstlichen Nachbarn zurück.
Wir haben damals - das unterschlage ich nicht - ein
bisschen zu viel des Guten getan, als es um Kürzungen im
Verteidigungshaushalt ging. Dessen waren wir uns auch
bewusst. Sie waren notwendig; denn die Überwindung
der Folgen des Sozialismus hat sehr viel Geld verschlungen. Sie haben aber darauf hingewiesen, dass noch stärker
als bisher im Verteidigungshaushalt gekürzt werden soll.
Diese Logik kann ich nicht nachvollziehen. Frau Kollegin
Beer hat doch im Zusammenhang mit dem Vertrag über
den offenen Himmel - Open Skies - beklagt, dass wir
über keine Gerätschaften verfügen, um uns aktiv zu beteiligen.
({0})
- Das wissen wir alle. Dann muss man eben Ersatz schaffen. Dann darf man nicht weiter kürzen und sich jeder Investition in diesem Bereich massiv widersetzen. Sie sollten hier nicht so reden, als ob Sie für das Heil der Welt
zuständig wären. Sie haben in Ihren Ausführungen das
Heil der Welt geradezu heruntergebetet. Nein, Sie müssen
auch die Realitäten sehen, die Staatsminister Zöpel in seiner Rede, der ich in weiten Teilen zustimme, dankenswerterweise angesprochen hat.
Natürlich ist es richtig, dass sich der Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung schwerpunktmäßig mit den
sicherheits- und rüstungspolitischen Rahmenbedingungen in Europa befasst. Manchmal hat man aber den Eindruck, dass eine Partei in diesem Hohen Hause das eine
oder andere schlicht und einfach nicht wahrhaben will.
Der 11. September war ja nur Ausfluss dessen, was sich
an Terrorismus - auch das haben Sie, Herr Staatsminister
Zöpel, richtig dargestellt - in den vergangenen Jahren gebildet hat, eines Terrorismus, der sich mit Brutalität und
Menschenverachtung über jede rechtsstaatliche Ordnung
und jeden Vertrag hinwegsetzt. Dies will die PDS offenStaatsminister Dr. Christoph Zöpel
sichtlich nicht wahrhaben. In ihrem Antiamerikanismus
lässt sie sich von niemandem überbieten. Die PDS weist
ständig darauf hin, dass die Vereinigten Staaten finanzielle Rahmenbedingungen für die Bekämpfung des Terrorismus schaffen. Das ist doch nur logisch. Ich hätte mir
gewünscht, auch wir hätten das getan.
({1})
Es ist erforderlich, dass wir dabei helfen, eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
zu installieren, und dass wir das Verhältnis zwischen der
NATO und Russland entsprechend fortentwickeln. Ich
kann nicht nachvollziehen, weshalb man den Vertrag kritisiert, den die Präsidenten Bush und Putin bei ihrem Treffen am 24./ 25. Mai 2002 geschlossen haben. Der Inhalt
dieses Vertrages wurde hier durch die Bank falsch dargestellt.
({2})
Der Vertrag sieht tatsächlich einen Abbau von zwei
Dritteln des nuklearen Potenzials vor. Davon soll ein Drittel, also die Hälfte
({3})
- Herr Kollege Braun, Sie sollten den Vertrag genau lesen, bevor Sie etwas von sich geben, was nicht den Tatsachen entspricht -, vernichtet und ein Drittel eingelagert
werden. Das ist die Realität.
({4})
- Selbstverständlich stimmt das. Daran können auch Sie
mit Ihrem Zuruf nichts ändern. Frau Kollegin Zapf, Sie
haben doch schon vorhin etwas Falsches gesagt. Ich sage
Ihnen: So und nicht anders ist es.
Wir bedauern es genauso, dass das Übereinkommen
über das Verbot biologischer Waffen noch nicht verifiziert
worden ist. Meine Fraktion hofft jetzt auf den November.
({5})
- Mein Kenntnisstand ist, dass im November dieses Jahres die entsprechende Konferenz stattfindet. Wenn Sie,
Frau Kollegin Beer sagen, es sei im Dezember, soll mir
das genauso recht sein. Entscheidend ist für mich, dass
wir dabei Ergebnisse erzielen und diesen Prozess nicht
weiter hinausziehen, wie man es bisher all die Jahre hinweg getan hat. Immerhin ist das ein Übereinkommen, das
schon 30 Jahre alt ist. Es sollte endlich eine Verifizierung
herbeigeführt werden.
Lassen Sie mich abschließend sagen, dass die Konfliktprävention, die Krisenbewältigung und die Terrorismusbekämpfung es nötig machen, dass die Staaten - das
haben Sie, Herr Staatsminister, angesprochen - nicht nur
Verträge schließen, sondern auch mit einer Zunge sprechen, dass zumindest Europa einmal zu sich selbst findet.
Dazu gehört, dass wir bei der Rüstungsexportpolitik
auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Dazu gehört für
mich auch, dass endlich die Bestrebungen, eine europäische Eingreiftruppe aufzustellen, zu einem Ergebnis
führen. Wir werden uns den Terroristen und den Feinden
der Abrüstung nur dann glaubwürdig entgegenstellen
können, wenn wir selbst eine glaubwürdige Politik der
Abrüstung, aber gleichzeitig auch der Stärke und des Wollens entgegensetzen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8941 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 6 d: Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/4376 zu
dem Antrag der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/
Die Grünen und der FDP mit dem Titel „Atomteststoppvertrag ratifizieren“. Der Ausschuss empfiehlt, dem Antrag auf Drucksache 14/2041 zuzustimmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der CDU/CSU ist die
Beschlussempfehlung angenommen.
Zusatzpunkt 9: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 14/9240 mit dem Titel „Maßnahmen gegen
eine Bedrohung durch biologische Waffen“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? Bei Enthaltung der PDS ist dieser Antrag angenommen.
Zusatzpunkt 10: Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 14/9241 mit dem Titel „Für eine kooperative Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP und bei Enthaltung der PDS
ist der Antrag angenommen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Günther Friedrich Nolting, Ina Albowitz,
Hildebrecht Braun ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Neuordnung des Liegenschaftsmanagements
der Bundeswehr
- Drucksachen 14/6613, 14/8988 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesellschaft für Entwicklung,
Beschaffung und Betrieb, kurz GEBB genannt, hat ihre
Tätigkeit vor nunmehr zwei Jahren aufgenommen - mit
großen Vorschusslorbeeren seitens der Bundesregierung
und natürlich der sie tragenden Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen. Privatisierung sollte in die Bundeswehr Einzug halten, übrigens eine alte und auch neue
Forderung der FDP, die früher von Rot-Grün bekämpft
wurde. Die FDP setzt unverändert auf Privatisierung, allerdings nur dort, wo sie sinnvoll ist, wo sie Vorteile für die
Bundeswehr bringt und wo sie zur Effizienzsteigerung der
Streitkräfte beiträgt; denn alles andere wäre Unsinn.
Die GEBB ist lediglich die sozialdemokratische Vorstellung von Privatisierung und die entspricht jedenfalls
nicht unserer Vorstellung von Privatisierung. Am 4. Juli
2001 stellte meine Fraktion deshalb eine Große Anfrage
an die Bundesregierung, deren Beantwortung der Bundesregierung ganz offensichtlich mehr Kopfschmerzen
bereitete, als ihr lieb war. Weswegen Sie Kopfschmerzen
bei der Beantwortung hatten, Herr Staatssekretär, ist eindeutig daran zu erkennen, dass der Bundesverteidigungsminister mit Schreiben vom 27. Juli 2001 die Antwort für
Dezember 2001 ankündigte. Statt die versprochene Antwort zu erhalten, wurden wir mit der Kündigung der Chefin der GEBB konfrontiert. Wir mussten den Rückzug von
Frau Fugmann-Heesing zur Kenntnis nehmen.
({0})
- Lieber Herr Kollege Zumkley, Ihre SPD-Genossin,
nämlich Frau Fugmann-Heesing, hatte Vorstellungen, die
wohl nicht ganz im Einklang mit bestehenden Gesetzen
waren. Vor allem ist an die Konfrontation zu erinnern, die
sie mit dem Bundesrechnungshof hatte, weil sie sich nicht
kontrollieren lassen wollte. Insofern hat sie irgendwann
alles hingeworfen, was sicherlich verständlich ist. Was
man allerdings nicht verstehen kann, Kollege Zumkley,
ist die fürstliche Entlohnung. Vielleicht könnten Ihre Redner oder der Staatssekretär darauf noch eingehen. Dafür,
dass sie alles hingeworfen hat, ist sie fürstlich entlohnt
worden. Allerdings verschweigt uns Rot-Grün noch immer, wie hoch denn die Abfindung gewesen ist. Den Steuerzahler würde das schon sehr interessieren.
Was die Große Anfrage anging, die meine Fraktion gestellt hatte, so wuchs die Spannung in meiner Fraktion. Immer wieder haben wir in den zuständigen Ausschüssen, im
Verteidigungsausschuss und im Haushaltsausschuss, nach
der GEBB gefragt. Wiederum erhielten wir keine Antwort
auf die Frage, wann denn die Antwort endlich vorgelegt
werden würde. Daran merkt man wieder, wie schwer der
Bundesregierung die Beantwortung gefallen ist. Der Bundestagspräsident musste dann den Bundesverteidigungsminister sogar auffordern, die Antwort auf die Große Anfrage nun endlich unverzüglich an das Parlament zu
liefern. Wenn Sie so wollen, ist das eine Rüge des Bundestagspräsidenten gewesen. Darauf hat der Verteidigungsminister gesagt, das werde unverzüglich geschehen.
Aber wen überrascht es? „Unverzüglich“ hat noch einmal
zehn Wochen gedauert. Mehr als zehn Monate also hat das
Verteidigungsministerium gebraucht, um die doch verhältnismäßig einfachen Fragen zur GEBB zu beantworten.
({1})
- Kollege Zumkley, Sie sind ja ein sehr sympathischer
Mensch, aber Sie können all das, was Sie dazwischenrufen, dann, wenn Sie reden, hier zu Gehör bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich die Antwort auf die Große Anfrage lese, stelle ich fest, dass alles
nach dem Motto „Tarnen und Täuschen“ geht. Nichts anderes kann ich dieser Antwort auf die große Anfrage entnehmen.
({2})
Interessant ist übrigens, dass die GEBB anscheinend
seit November 2001 völlig vom Erdboden verschwunden
ist. Man hört nichts mehr von ihr. Man spricht kaum noch
über die GEBB. Vom Erfolgskurs ist überhaupt nichts
mehr zu merken. Das liegt sicherlich zum Teil daran, dass
durch den Minister nicht belegt werden kann, dass die
Vorstellungen und die konkrete Planung auch Ergebnisse
hatten, aber auch daran, dass es sehr hohe Erwartungen an
die GEBB gegeben hat, die in keiner Weise erfüllt werden
konnten. Man gewinnt den Eindruck: Bei der GEBB handelt es sich um eine Art Gesellschaft, in der man sich
höchstens hin und wieder einmal zum Arbeitsfrühstück
trifft, aber sonst nichts geschieht.
Im Kern ist es ja richtig, bei der Bundeswehr zu privatisieren und Einnahmen für die Bundeswehr zu erzielen.
Dagegen ist nichts zu sagen. Der Bundesverteidigungsminister hat bei den ersten Reden Einnahmen in Höhe von
mehr als 500 Millionen Euro versprochen. Herr Staatssekretär, Sie können das alles in den Protokollen nachlesen.
Ich erinnere an Haushaltsdebatten, die wir geführt haben.
Nichts davon ist eingetroffen. Sie können gleich höchstens kleinlaut einräumen, dass weniger als 100 Millionen
Euro erwartet werden. Dann sollten Sie uns allerdings
auch sagen, was die GEBB bisher gekostet hat; denn sie
hat aus dem Bundeshaushalt in erheblichem Umfang Geld
bekommen. Am Ende sind also keine Einnahmen da, ist
nichts übrig geblieben. Dieses Geld, das versprochen
wurde, ist dringend erwarten worden - nicht nur für die
Bundeswehrreform, nicht nur bei Beschaffungsmaßnahmen, sondern auch für ein Attraktivitätsprogramm für die
Soldaten.
Man hätte ja durchaus ein kluges Immobilienverkaufsmanagement mit der GEBB machen können. Nur,
die Rahmenbedingungen - das sage ich jetzt auch einmal - stimmen einfach nicht. Da muss man sich mit Baurecht beschäftigen, da muss man sich mit den Gegebenheiten der jeweiligen Kommunen beschäftigen, und fast
jeder kann doch aus seiner Region Beispiele dafür bringen, woran es liegt, dass es nicht funktioniert. Das hat sicherlich verschiedene Gründe. In diesem Bereich ist
nichts gemacht worden, damit die GEBB überhaupt erfolgreich arbeiten könnte.
Stattdessen, Herr Staatssekretär, müssen Sie sich fragen lassen, warum alles, was um die GEBB rankt - welche Geldbeträge eingegangen sind, was die GEBB selber
kostet, was das Personal bei der GEBB kostet, in welcher
Höhe Abfindungen gezahlt worden sind -, Geheimniskrämerei ist.
({3})
Aber, Herr Staatssekretär, ich habe gesehen, Sie werden ja
gleich sprechen; Sie werden das alles dem Deutschen
Bundestag und auch der Öffentlichkeit sicherlich offenbaren.
Interessant war ja, zu erfahren - schon im Oktober hat
mein Kollege Günther Nolting den Verteidigungsminister
danach gefragt - aus welchen Geschäftsaktivitäten etwa
die GEBB Geld erwartet, was sie erwirtschaften wird.
({4})
In der Beantwortung der Anfrage erging sich die Parlamentarische Staatssekretärin nur in allgemeinen Floskeln ich zitiere wörtlich:
In allen Bereichen gehen die Arbeiten voran und haben unter anderem dazu geführt, dass sich wirtschaftliches Handeln durchsetzen kann.
Was ist das für eine Antwort! Jeder Kommentar erübrigt
sich.
Wie bereits erwähnt, pflegt die politische Leitung des
Verteidigungsministeriums zunehmend parlamentarische
Anfragen in dieser lapidaren Art und Weise zu beantworten, wenn ich das noch einfließen lassen darf.
({5})
Deswegen fordern wir als FDP weiterhin: Entwickeln
Sie die GEBB wirklich mit klarer Privatisierungsstrategie. Dem Gebäude GEBB fehlt es jetzt nicht nur an der
entsprechenden Gründung, es fehlt ihm auch - wenn man
sie als Haus nehmen würde - an einer tragfähigen Statik
- so sage ich es einmal - und an einer annehmbaren Innenarchitektur. So ist es nicht verwunderlich, dass sich
der angebliche Nutznießer Bundeswehr mit diesem Gebilde GEBB mehr als schwer tut. Ich sage Ihnen deshalb:
Eine neue Bundesregierung wird mit Blick auf das Wohl
unserer Streitkräfte möglicherweise lediglich noch eine
Aufgabe haben, nämlich für dieses Haus die Abrissbirne
zur Verfügung zu stellen.
({6})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das neue Liegenschaftsmanagement der Bundeswehr ist ein wesentlicher Bestandteil der
Streitkräftereform, die in der Tat die Aufmerksamkeit
auch des Hohen Hauses verdient, aber die es auch verdient, in einen sachlichen Zusammenhang, lieber Herr
Kollege Koppelin, gestellt zu werden. Ich darf im Zusammenhang mit einer von Ihnen kritisch angesprochenen länger dauernden Zeit für die Beantwortung der Frage
- da widerspreche ich Ihnen überhaupt nicht - darauf
hinweisen, dass auch bei diesem schwierigen Prozess der
Bundeswehrreform Sorgfalt vor Eile geht und dass dafür
- ohne schuldhaftes Verzögern - auch einmal die Frist des
Parlaments in Anspruch genommen werden musste.
Die zukunftsweisende Neuausrichtung der Bundeswehr hat den Anspruch, in einen Gesamtzusammenhang
gestellt zu werden; denn diese Neuausrichtung ist eine
lang versäumte, unverzichtbare Voraussetzung für die
außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit
Deutschlands, das in der Welt der Globalisierung und des
internationalen Wettbewerbs nur mit einem leistungsfähigen Staatswesen bestehen kann. Dazu gehören eben auch
moderne und leistungsfähige Streitkräfte wie eine moderne Verwaltung überhaupt.
Diesem Ziel tragen wir auf drei wichtigen Reformfeldern in der Bundeswehr Rechnung. Wir investieren
erstens in die Menschen, ihre Fähigkeiten und Zukunftsaussichten. Beispielhaft hierfür stehen das Attraktivitätsprogramm und die Qualifizierungs- und Ausbildungsoffensive für die Soldaten.
Wir verbessern zweitens kontinuierlich das Material,
die Ausrüstung und die Fähigkeiten der Streitkräfte, und
zwar durch die Modernisierung von Material und Ausrüstung, die Einführung zeitgemäßer Beschaffungsverfahren
und die Erhöhung der Investitionsquote, die immerhin seit
1999 um fast 30 Prozent gesteigert werden konnte.
Drittens stärken wir die Wirtschaftlichkeit und Effizienz
von Beschaffung und Betrieb entscheidend und schaffen ein
modernes Management durch Kooperation mit der Wirtschaft, durch die Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung
und Betrieb, durch moderne Informationstechnologie,
durch ein modernes Controlling und ein zukunftsorientiertes Rechnungswesen, also nicht nur durch ein einziges Instrument, die Gesellschaft, der Sie sich vorhin hauptsächlich
zugewandt haben, sondern durch einen Fächer von Maßnahmen, die diese Effizienz leisten werden.
Meine Damen und Herren, innerhalb der Bundeswehr
sind für eine nachhaltige Verbesserung von Betrieb und Beschaffung neue Finanzierungsformen und eine höhere
Wirtschaftlichkeit unverzichtbar. Nur durch entsprechende
Maßnahmenpakete - da unterscheiden wir uns in den Diskussionen ja nicht -, die diesem Ziel Rechnung tragen, werden die notwendigen zusätzlich benötigten Mittel für die
Modernisierung der Ausrüstung frei.
Die Bundesregierung hat den Weg zu mehr Wirtschaftlichkeit, höherer Effizienz und modernem Management
für die Bundeswehr mit Erfolg geebnet. Bereits im Dezember 1999 haben der Bundeskanzler und der Verteidigungsminister den Rahmenvertrag „Innovation, Investition und Wirtschaftlichkeit in der Bundeswehr“ mit der
Wirtschaft und der Industrie geschlossen. Damit wurde
eine wichtige und bisher einzigartige strategische Partnerschaft gegründet, der inzwischen nahezu 700 Unternehmen beigetreten sind. Um die Finanzmittel für die
überfällige Modernisierung der Ausrüstung zu verstärken,
sind zwischen dem Bundesministerium der Finanzen und
dem Bundesministerium der Verteidigung mehrere Ressortvereinbarungen geschlossen worden, die dauerhaft
zusätzliche Investitionsspielräume auch für den Einzelplan 14 eröffnen.
({0})
Gemäß diesen Vereinbarungen verbleiben Effizienzgewinne aufgrund hoher Wirtschaftlichkeit, aus der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, aus abgesenkten Betriebskosten und aus den Verkaufserlösen im Haushalt des
Bundesministeriums der Verteidigung.
Wir haben uns zunächst auf vier Geschäftsfelder konzentriert, in denen wir auf Erfahrungen der Industrie und
auch anderer europäischer Streitkräfte zurückgreifen
konnten. Mittlerweile haben wir die Rahmenbedingungen
für die Reformvorhaben für das neue Flottenmanagement,
für das neue Bekleidungsmanagement, für die Informationstechnik und eben auch für das neue Liegenschaftsmanagement geschaffen. Dass es vorangeht, zeigt auch, dass
die Gesellschaft für das neue Flottenmanagement heute
gegründet worden ist; am nächsten Montag werden die
ersten Neufahrzeuge am Standort Gatow übergeben. Auch
das neue Bekleidungsmanagement kommt in Gang; die
Ausschreibung ist beendet, das Ergebnis wird Ende Juni
im Haushaltsausschuss behandelt. Die Gesellschaft wird
voraussichtlich noch vor der Sommerpause gegründet.
Substanzielle Einsparungen sind weiter zu erwarten.
Auch in der Informationstechnik und im neuen Liegenschaftsmanagement werden wir, wenn wir den eingeschlagenen Weg wie geplant fortsetzen können, ein
Höchstmaß an Wirtschaftlichkeit und Effizienz erreichen.
Das neue Liegenschaftsmanagement soll gegenüber
den bisherigen Finanzierungsformen innovative Wege beschreiten. Dazu wollen wir Eigentümer-, Betreiber- und
Nutzerfunktionen trennen und damit klare Verantwortungsstrukturen schaffen. Wir führen Kosten- und Leistungsverantwortung zusammen und geben den Nutzern
Anreize zu höheren Wirtschaftlichkeitsmaßnahmen.
Durch Einführung dieser neuen Organisation wird des
Weiteren ein unvertretbar hoher Stand der Bindung von
Investitionsmitteln vermieden. Darüber hinaus beinhaltet
das Liegenschaftswesen auch nach Auffassung externer
Berater und nach Erfahrungen der Wirtschaft ein erhebliches Einsparpotenzial. Dieses Potenzial können wir über
das neue Liegenschaftsmanagement entwickeln und für
die Bundeswehr aktivieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem neuen
Liegenschaftsmanagement eröffnet sich so die Chance,
über verschiedene Hebel wesentliche Beiträge zur Schaffung der erforderlichen finanziellen Freiräume zu leisten,
zusätzliche Einnahmen aus den Veräußerungen von Liegenschaften zu erzielen, eine höhere Flächen- und Personaleffizienz bei der Bewirtschaftung der Liegenschaften
zu gewährleisten, Liegenschaften schließlich durch Anmietung insgesamt kostengünstiger und damit wirtschaftlicher zu nutzen, zusätzliche Beschäftigungsperspektiven
für die in der Liegenschaftsverwaltung tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu eröffnen, externes Know-how
und Kapital sowie Alternativen zum Marktzugang über
die Partner aus der Wirtschaft zu erschließen, die Aktivitäten der Streitkräfte auf ihre Kernaktivitäten zu fokussieren und damit letztlich einen bedeutsamen Beitrag zu
der von der Bundesregierung beschlossenen Modernisierung der öffentlichen Verwaltung im Geschäftsbereich
des Bundesministers der Verteidigung zu leisten.
Wir meinen, dass das neue Liegenschaftsmanagement
sicherstellt, dass der Bundeswehr die Liegenschaften zur
Verfügung gestellt werden, die sie zur Erfüllung ihrer
Aufgaben braucht. Die Entscheidungen über die Verwendung und den Betrieb der Liegenschaften werden nach
wie vor beim Bundesminister der Verteidigung liegen.
Durch die Vertragskonstruktion wird gewährleistet, dass
die Steuerungs- und Kontrollfunktion im neuen Liegenschaftsmanagement bei der Bundeswehrverwaltung verbleibt, Art. 87 b des Grundgesetzes also gewahrt ist.
Bei der Gestaltung des neuen Liegenschaftsmanagements haben die Ansprüche der circa 20 000 Beschäftigten von Beginn an eine zentrale Rolle gespielt. Der Tarifvertrag vom 18. Juli 2001 stellt die Beschäftigung sicher,
bietet vielfältige Chancen für Weiterqualifikation und definiert sozialverträgliche Regelungen für die Ausgestaltung des Liegenschaftsmanagements. Gerade weil es sich
beim neuen Liegenschaftsmanagement um ein sehr komplexes Thema handelt, haben die Bundeswehr und deren
Verantwortliche eine umfangreiche Informationskampagne auf allen Ebenen in Gang gesetzt, die für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Klarheit und Sicherheit
schafft und Beteiligungsmöglichkeiten aufzeigt.
Wir erwarten durch das neue Liegenschaftsmanagement schließlich eine signifikante Entlastung des Haushaltes. Im Vergleich mit der Ist-Fortschreibung gehen die
Berechnungen zum neuen Liegenschaftsmanagement von
einer deutlichen Reduzierung des Mittelbedarfs um mehr
als 2 Milliarden Euro, kumuliert für die nächsten zehn
Jahre, aus. Selbst gegenüber einer internen Optimierung
der Bundeswehrverwaltung, bei der sämtliche der Verwaltung zur Verfügung stehenden Effizienzhebel berücksichtigt sind, wird durch das Konzept des neuen Liegenschaftsmanagements eine günstige Ausgabensituation
prognostiziert.
({1})
- Da ich gerade in Gänze Ihre Große Anfrage beantworte,
sehen Sie mir nach, Herr Kollege Braun, dass ich eine
weitere FDP-Frage zu diesem ganzen Komplex ausnahmsweise nicht beantworten, sondern im Zusammenhang vortragen möchte.
Darüber hinaus soll das neue Liegenschaftsmanagement die Möglichkeit eröffnen, private Investoren in erheblichem Umfang zur Finanzierung der Investitionen zu
gewinnen, wie es die Beschlüsse der Bundesregierung zur
Modernisierung des Staates vorsehen.
Obwohl bereits wesentliche konzeptionelle Schritte
unternommen worden sind, wird die Realisierung des
neuen Liegenschaftsmanagements noch einiger weiterer
Abstimmung bedürfen. Das Konzept liegt derzeit, wie es
sich gehört, dem Bundesminister der Finanzen und dem
Bundesrechnungshof zur Prüfung vor. Erst nach deren
Billigung - auch das ist üblich - ist die Befassung des
Haushaltsausschusses möglich. Gerade im Hinblick auf
den noch laufenden Abstimmungsprozess bitte ich Sie,
Kolleginnen und Kollegen dieses Hohen Hauses, um Ihre
parlamentarische Unterstützung für dieses bedeutsame,
wichtige und unverzichtbare Reformprojekt.
Schließlich ist dieses Vorhaben ein integraler Bestandteil der Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf. Diese
Reform ist mehr als nur eine wichtige Voraussetzung für
die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit
Deutschlands. Sie ist auch ein Kernelement unseres Regierungsprogramms zum Aufbau eines modernen Staates
und einer modernen Verwaltung sowie der Streitkräfte in
herausfordernden Zeiten.
Deshalb ist die Reform nicht allein eine Investition in
die Zukunft der militärischen und zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr, sondern auch in die
Zukunft unseres ganzen Landes. Die Richtung der Reform mit den integrierten Managementbestandteilen ist
auf einem guten Weg; die Richtung stimmt. Ich bitte auch
von dieser Stelle aus alle Soldatinnen und Soldaten, sich
mit Engagement, aber auch mit konstruktiver Kritik in
diesen Prozess einzuschalten und ihn mit voranzubringen.
Ich danke.
({2})
Das Wort hat nun der
Kollege Paul Breuer für die CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zugegeben, die Materie ist sehr komplex
und für manche auch sehr öde. Ich weiß auch nicht, wer hier
wen bedauern soll: diejenigen, die zuhören, diejenigen, die
reden, oder diejenigen, die reden, die, die zuhören müssen.
Ich freue mich jedenfalls, dass Sie hier sind,
({0})
und will einen Beitrag dazu leisten, die trockene Materie
so lebhaft wie möglich zu gestalten.
Das neue Liegenschaftsmanagement der Bundeswehr
ist im Übrigen keine Nebensächlichkeit. Es ist insofern sehr
wichtig, als es ein wesentlicher Bestandteil des neuen Wirtschaftlichkeitskonzepts für die Bundeswehr sein soll. Das
Wirtschaftlichkeitskonzept soll ja letztlich dafür sorgen,
dass der dramatisch unterfinanzierte Verteidigungshaushalt
besser in Modernisierung investieren kann.
Ich behaupte: Dieses neue Liegenschaftsmanagement
ist tote Hose, es ist ein absoluter Flop. Dadurch werden
nicht etwa die Investitionen verstärkt, sondern es besteht
sogar die Gefahr, dass sie ausgehöhlt werden.
({1})
Meine Damen und Herren, Minister Scharping behauptet in seiner Bilanz „Bundeswehr 2002 - Sachstand
und Perspektiven“, dass die von ihm so genannte größte
Reform der Bundeswehr aller Zeiten erfolgreich sei und
sich die Ergebnisse und Perspektiven auf dem Weg in die
Zukunft der Bundeswehr sehen lassen könnten. Es ist unsere Aufgabe, zu untersuchen und zu überprüfen, ob
Scharpings Ausführungen und die Realität in der Bundeswehr übereinstimmen. Das Liegenschaftsmanagement ist
ein Beispiel, an dem man das exerzieren kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch von der Regierungskoalition, lassen Sie uns einmal gemeinsam
schauen, welche Ergebnisse uns Herr Scharping nach über
zwei Jahren Arbeit an seinem Konzept für das neue Liegenschaftsmanagement der Bundeswehr vorgelegt hat. In
der Antwort auf die Große Anfrage der FDP versucht
Scharping in der Vorbemerkung den Eindruck zu erwecken - der Parlamentarische Staatssekretär Kolbow hat
den Eindruck eben noch einmal untermauert -, als stünde
dieses Konzept für das neue Liegenschaftsmanagement
der Bundeswehr innerhalb der Bundesregierung kurz vor
der endgültigen Abstimmung, es sei nur noch der Wirtschaftlichkeitsnachweis zu erbringen.
Ich zitiere aus der Antwort auf die Große Anfrage. Auf
Seite 3 heißt es:
Die operative Geschäftstätigkeit im Neuen Liegenschaftsmanagement soll - in Abhängigkeit von der
parlamentarischen Billigung des Konzepts - beginnend in der Jahresmitte 2002 aufgenommen werden.
Demnach stünde sie unmittelbar bevor.
Mir liegt ein Schreiben des Bundesministeriums der
Finanzen vor. Das habe ich in der Straßenbahn hier in
Berlin gefunden.
({2})
Das Schreiben liegt Ihnen hoffentlich auch vor, Herr Kollege Kolbow.
({3})
- Der fährt nicht mit der Straßenbahn.
({4})
Es ist ein Schreiben vom 16. Mai 2002. Der Finanzminister gehört im Übrigen derselben Partei an wie Sie, Herr
Kollege Kolbow.
({5})
Wenn ich dieses Schreiben vom 16. Mai 2002 lese, stelle
ich fest, dass der Bundesminister der Finanzen erkennen
lässt, dass er nach wie vor erhebliche Fragen zu Ihrem Konzept hat. Das steht nun nicht in Übereinstimmung damit,
({6})
dass es praktisch übermorgen in Kraft treten kann. Das
Schreiben kann morgen jeder von mir bekommen.
({7})
- Das ist eine Zusage. Sie können das Schreiben in meinem Büro bekommen. Ich bin bereit, es jedem zu geben.
In seinem Schreiben lässt das Bundesministerium der
Finanzen erkennen, dass zum Beispiel die Frage der
Grunderwerbsteuer bzw. der Grunderwerbsteuerbefreiung - es soll ja eine Gesellschaft die Liegenschaften übernehmen, im Übrigen sollen auch Mieten fließen - nach wie
vor nicht geklärt ist. Es stellt dem Bundesverteidigungsminister die Aufgabe, diese Frage umgehend zu klären.
Ich kann nur eines sagen, Herr Kolbow: Wenn das
Konzept zur Mitte dieses Jahres in Kraft gesetzt werden
soll, wie es in der Antwort auf die Große Anfrage steht,
müssen Sie sich sehr beeilen. Avanti dilettanti! Denn hier
geht es um ein milliardenschweres Risiko. Sie gehen
leichtfertig in eine Sache hinein, die ich nur als ganz heiße
Luftnummer bezeichnen kann.
({8})
Im Übrigen muss Herr Scharping in der Antwort auf
Frage 31 der FDP-Fraktion einräumen, dass die Höhe der
Mieten - das ist keine unwesentliche Fragestellung; denn
hier geht es um erhebliche Summen - bis heute nicht feststeht. Meine Damen und Herren, wie kann man denn im
Verhältnis zwischen Mieter und Vermieter von Wirtschaftlichkeit sprechen, wenn man gar nicht weiß, wie
dieses Verhältnis im Hinblick auf die Miethöhen überhaupt ist?
In den Beratungen zum Haushalt 2001 hat Verteidigungsminister Scharping uns von der Opposition vorgeworfen - viele werden sich erinnern -, wir würden im
Hinblick auf unsere Einschätzung der Privatisierungspläne einen milliardenschweren Fehler machen. Nachdem ich gesehen habe, wie der Finanzminister Ihre Wirtschaftlichkeitsüberlegungen, die er gar nicht erkennen
kann, bewertet, sage ich jetzt eines: Sie sind ein milliardenschweres Risiko eingegangen und stehen in der Gefahr, selbst einen milliardenschweren Fehler zu begehen.
In seinen Antworten auf die Fragen zur Zukunft des
Personals versucht das Bundesverteidigungsministerium
- lesen Sie Nr. 26 folgende - zu erklären, dass die Einsatzmodalitäten und die Kosten für die Übernahme der
Bundeswehr so gut wie geklärt seien. Der Bundesfinanzminister hat aber erhebliche Nachfragen dahingehend,
wie das Konzept auf der Orts- und Mittelinstanz und im
Ministerium selbst aussieht.
Das heißt, Sie behaupten etwas, was Sie bis jetzt noch
nicht einmal Ihrer eigenen Bundesregierung, dem mitentscheidenden Finanzressort, erklären konnten. Wenn das
Konzept aber noch nicht einmal dem Finanzminister zu
100 Prozent erklärt werden kann, dann ist es eine dreiste
Frechheit, dem Parlament solch unzulängliche Antworten, wie das hier geschieht, zu geben. Das ist eine Missachtung des Parlaments.
({9})
- Ja, Wahrheit ist Wahrheit. Also, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, bei aller persönlichen Sympathie
und Wertschätzung sage ich Ihnen: Lesen Sie die Fragen
des Bundesfinanzministers an den Verteidigungsminister.
Sie werden sehen: Breuer hat Recht - zumindest heute.
({10})
Im Übrigen ist das Konzept Scharpings einer besonderen Gruppe auch nicht klar. Diese Gruppe sind die betroffenen Mitarbeiter der Bundeswehr. Dabei handelt es
sich um 18 000 Arbeiter und Angestellte. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD - das müsste Ihr sozialdemokratisches Herz richtig anrühren; denn sie sind keine
Großverdiener, sondern kleine Leute -, diese 18 000 Arbeiter und Angestellten sind zu 100 Prozent verunsichert.
Ihr Finanzminister ist verunsichert und glaubt nicht daran,
dass das Konzept überhaupt zum Tragen kommt, und
diese Leute bangen um ihre Existenz.
({11})
- Herr Kollege Arnold, ich will Ihnen Folgendes sagen: Ich
weiß, dass Sie die Bundeswehr besuchen und dort auch
ernsthafte Gespräche führen. Aber wenn Sie sagen, das sei
schäbig, dann sind Sie nicht bereit, die Realität anzuerkennen. Sie können in der Bundeswehr fragen, wen Sie wollen. Sie werden feststellen müssen: Diese Leute sind wirklich zu 100 Prozent verunsichert. Das wissen Sie auch.
({12})
Nun komme ich auf die Zivilbeschäftigten bei der
Bundeswehr zu sprechen. Die Zivilbeschäftigten müssen
im Übrigen folgende Erfahrung machen: Egal, was sie
tun - es ist immer falsch. Hierfür gibt es das Beispiel der
Standortverwaltung Düren, deren Mitarbeiter ein eigenes
Optimierungskonzept vorgelegt haben. Es stellte sich heraus, dass die Realisierung dieses Konzepts günstiger und
wirtschaftlicher als eine Privatisierung wäre. Trotzdem
haben sie den Eindruck, dass dieses positive Ergebnis von
der Bundesregierung regelrecht ignoriert wird. Es spielt
keine Rolle. An die Mitarbeiter wird das Signal gegeben,
dass sie sich zwar anstrengen können, wie sie wollen, dass
dem aber eine Ideologie gegenübersteht: die Konfrontation und Ideologie im Verteidigungsministerium. Dies
führt zu absoluter Demotivation.
({13})
Meine Damen und Herren, der BMF hat in seinem
Schreiben vom 16. Mai auch erhebliche Fragen zur zukünftigen Gesellschaftskonstruktion und zu erwarteten
Veräußerungserlösen gestellt. Ich zitiere:
Die geschätzten Veräußerungserlöse von rund 2 Mrd.
Euro
- ich wiederhole: 2 Milliarden Euro, keine Kleckersumme beruhen auf einem Grundstücksflächenverkauf von
rund 151 Millionen Quadratmetern.
Jetzt fragt der Bundesfinanzminister den Verteidigungsminister, der uns hier weismachen will, es sei alles geregelt:
({14})
Welche Umstände berechtigen nach den bisherigen
Verwertungsergebnissen zur Annahme, den ehrgeizigen Zeitplan für die Veräußerungen einhalten zu
können? Was rechtfertigt die Annahme ({15}), dass bereits 2003 und 2004 Erlöse von über
650 Millionen Euro aus den Entwicklungsliegenschaften zu erwarten sind? Welche Vorkehrungen
sind getroffen, um finanzielle Lücken durch Verzögerungen bei den Veräußerungen oder geringere Veräußerungserlöse zu schließen?
Das waren die Fragen des Finanzministers an den Verteidigungsminister, und dieser tritt hier in Person des Parlamentarischen Staatssekretärs Kolbow auf und will den Eindruck
erwecken, es sei alles geregelt. Nichts ist geregelt, Herr Kollege Kolbow, und das Parlament wird hier verhöhnt.
({16})
Nach dem katastrophalen Ergebnis der bisherigen
Tätigkeit der GEBB - sie ist vom Kollegen Koppelin eben
schon gewürdigt worden ({17})
hat diese für das Jahr 2001 auch bei großzügiger Auslegung 111 Millionen Euro - gegenüber einer um 80 Prozent höheren Erwartung - bei der Verwertung von Liegenschaften erzielt. Das anvisierte Ziel ist völlig verfehlt
worden. Die Frage des Finanzministers, was eigentlich
den Optimismus rechtfertigt, ist auf der Basis dessen, was
in der Vergangenheit geschehen ist, völlig berechtigt.
Entscheidender Mangel des Konzepts des Bundesverteidigungsministers ist, dass bis heute der Wirtschaftlichkeitsnachweis für das neue Liegenschaftsmanagement
nicht erbracht werden kann. Daran, dass dies vor der Sommerpause, Herr Kollege Kolbow, damit vor dem Ende der
Legislaturperiode und vor dem Ende der Amtszeit des
Bundesverteidigungsministers überhaupt noch gelingt, haben nicht nur der Finanzminister und der Bundesrechnungshof, sondern auch wir ganz erhebliche Zweifel.
Auch in der militärischen Führung ist man im Hinblick
auf diese Privatisierungspläne und ihre Ergebnisse verunsichert. Der Generalinspekteur brachte es auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr auf den Punkt, als er
sagte - ich zitiere -:
Das ist ja gerade unser Problem, dass wir eben nicht
genau wissen, was wirklich wo abfließt und was
wirklich wohin kommt.
Sie versuchen hier, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Ich kann Ihnen nur sagen: Einen solchen Trümmerhaufen hat es, solange wie das Bundesverteidigungsministerium existiert, noch nie gegeben, Herr Kollege
Kolbow.
({18})
- Frau Kollegin Wohlleben, Sie sagten, wir hätten ihn hinterlassen, aber dieses Konzept hat es vorher nicht gegeben. Das ist ein Konzept, das mit großem Brimborium angekündigt worden ist und die Wirtschaftlichkeitsreform
schlechthin bringen sollte.
({19})
Ich stelle Ihnen das Schreiben des Finanzministers an
den Verteidigungsminister gern zur Verfügung. Das Konzept ist eine absolute Katastrophe und Bauchlandung.
({20})
Aber nicht nur bei der Privatisierung des Liegenschaftsmanagements stellt sich heraus, wie unseriös Ihre
Planungen sind. Bei der gestrigen Sitzung des Verteidigungsausschusses hatten die Kollegen nicht nur bei dieser
Frage, die gestern nicht angesprochen wurde, sondern auch
bei weiteren Fragen den Eindruck, dass vieles nicht durchdacht ist. Wir haben uns gestern mit der so genannten Heeresinstandsetzungslogistik beschäftigt. Da wollen Sie
funktionierende Strukturen zerschlagen, ohne bisher den
Nachweis der Wirtschaftlichkeit erbracht zu haben.
({21})
Das Ganze ginge zulasten der Einsatzfähigkeit der Truppe;
denn circa 12 000 Soldaten des Heeres - das ist das Ergebnis der gestrigen Sitzung, Herr Kollege Nachtwei -,
die in der Reformplanung als Kämpfer vorgesehen sind,
müssten in der Logistik arbeiten, wenn der Wirtschaftlichkeitsnachweis für das neue Konzept nicht erbracht
werden kann. Dass gerade das Heer zusätzliche Kampftruppen benötigt, ist angesichts der Einsatzerfordernisse,
die derzeit bestehen, völlig unbestritten. Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt sagen, dass der Nachweis der Wirtschaftlichkeit nicht erbracht worden ist. Herr Scharping hat gestern gesagt, dass es eine Alternativplanung gebe, gemäß
der diese 12 000 Soldaten eben nicht als Kämpfer vorgesehen sind.
Bei der Heeresinstandsetzungslogistik geraten Sie in
Abhängigkeit von einem Monopolanbieter in Form eines
Konsortiums. Es gibt keinen Wettbewerb mehr. Was da
passiert, ist für mich eine ordnungspolitische Gruselvorstellung. Wettbewerb ist die Grundlage für Wirtschaftlichkeit, gerade was die Abwicklung der Logistik der
Bundeswehr angeht.
({22})
Frau Kollegin Wohlleben, der Mittelstand und die kleinen
Unternehmen haben in Ihren Konzepten überhaupt keine
Bedeutung. Es geht bei allen Projekten immer nur um zentralistische Lösungen.
Herr Kollege, ich
muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Danke für den Hinweis,
Frau Präsidentin.
Sie sollen ihn auch
beachten.
({0})
Ich komme zum Schluss.
({0})
- Für Sie, Frau Kollegin Wohlleben, ist die Wahrheit eine
Zumutung. Aber Sie müssen sie schon ertragen.
Weil ich den Eindruck habe, dass Sie eine Verdrängungskünstlerin ersten Ranges sind,
({1})
stelle ich Ihnen gerne alle Unterlagen zur Verfügung.
Wenn Sie lesen, was der Finanzminister geschrieben hat,
dann werden Sie - davon bin ich überzeugt - einen ausgeprägteren Realitätssinn entwickeln. Sie werden feststellen, dass das, was die Bundesregierung Ihnen vorgaukelt, von der Realität weit entfernt ist.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Winfried Nachtwei für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
beginne mit drei Tatsachen:
Erste Tatsache. Die Politik, also dieses Parlament, hat
der Bundeswehr sehr umfassende, sehr verantwortungsvolle und sehr riskante Aufgaben übertragen. Damit die
Bundeswehr diese Aufgaben in verantwortlicher Weise
erfüllen kann, ist eine entsprechende Modernisierung,
eine Konzentration auf Kernfähigkeiten und eine
höhere Investitionsquote unabdingbar.
Zweites Faktum. Der Haushaltsrahmen liegt in den
nächsten Jahren im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung fest bei 24,4 Milliarden Euro, die Zusatzmittel
aus dem Antiterrorprogramm eingerechnet. Die Maastricht-Kriterien sind unumstößlich. Die jüngste Steuerschätzung erbrachte die ernüchternde Prognose, dass bis
2005 Mindereinnahmen in Höhe von ungefähr 65 Milliarden Euro zu erwarten sind. Die Konsequenz für alle
Fraktionen in diesem Hause ist, dass es substanzielle Erhöhungen im Bereich des Wehretats - wie auch bei anderen Etats - nicht geben kann. Das ist ganz eindeutig.
({0})
Der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU,
Austermann, forderte ja in populistischer Weise sogar
über 1 Milliarde mehr. Sie wissen doch selbst, dass diese
Summe angesichts der gesamtstaatlichen Verantwortung
der Politik nicht drin ist.
Dritte Tatsache. Externe Studien, Stellungnahmen von
Beratern, aber auch Erfahrungen aus der Wirtschaft belegen sehr deutlich, dass die Bundeswehr in ihrem gesamten Betrieb noch erhebliche Einsparpotenziale hat und
dass interne Optimierungen diese Einsparpotenziale bisher nur zum Teil mobilisieren konnten. Allerdings muss
man sehen, dass die internen Optimierungen auch Grenzen haben.
Deshalb ist es völlig richtig - dies muss man vor allem
angesichts der Rede des Kollegen Breuer betonen -,
({1})
dass die Bundesregierung mit diesem umfassenden Modernisierungsprozess begonnen hat, um Effektivität und
Effizienz der Betriebsabläufe zu verbessern und darüber
Erlöspotenziale zu mobilisieren. Hierbei ist die Neuausrichtung der Liegenschaftsverwaltung eine zentrale
Säule. Immerhin geht es um 2 500 Liegenschaften mit
42 Millionen Quadratmetern Gebäudenutzfläche.
Diese grundlegende Neuordnung hat zum Ziel, die betriebsnotwendigen Liegenschaften effizienter zu nutzen
und nicht betriebsnotwendige Liegenschaften besser zu
verwerten. Die Bundeswehr konzentriert sich in der Liegenschaftsverwaltung auf ihre Kernkompetenzen und
Kernaufgaben. Ansonsten werden Dienstleistungen auf
privat organisierte Dritte ausgelagert. Mit der Trennung
von Eigentümer-, Betreiber- und Nutzerfunktion werden
klare Verantwortungsstrukturen und damit Anreize zu
höherer Wirtschaftlichkeit geschaffen.
Dieser Umstrukturierungsprozess erfolgt nicht Hals
über Kopf, sondern in sorgfältig durchdachten Schritten.
Zunächst wird im Wehrbereich Nord als Startregion eine
Bundeswehrliegenschaftsgesellschaft gegründet. Sobald
die Ergebnisse aus der Arbeit dieser Dienstleistungsgesellschaft vorliegen werden, werden sie sorgfältig ausgewertet. Daraufhin wird das Konzept modifiziert und
flächendeckend eingeführt werden. Das ist eine überaus
seriöse Vorgehensweise.
Der Prozess der Modernisierung und Effektivierung der
inneren Abläufe der Bundeswehr hat auch erhebliche psychologische Aspekte. Für überkommene Strukturen des
Gesamtsystems Bundeswehr stellt das, was jetzt begonnen
wird, einen geradezu revolutionären Vorgang dar, der
selbstverständlich nicht nur Beharrungs- und Abwehrkräfte weckt, sondern auch Verunsicherung hervorruft.
Deshalb ist eine sorgfältige Darstellung und Vermittlung
dieses Prozesses von ganz besonderer Bedeutung. Einer
solchen sorgfältigen Vermittlung dient es sicherlich nicht,
wenn überhöhte Erwartungen geweckt werden; denn ihnen folgen immer auch umso tiefere Enttäuschungen.
Ein weiterer psychologischer Aspekt ist, dass bei der
notwendigen kritischen Begleitung dieses komplizierten
Prozesses Vorsicht geboten ist. Deutlich wurden mir die
unterschiedlichen Vorgehensweisen, als ich erlebte, wie
ein anderer Vertreter der CDU/CSU-Fraktion im Verteidigungsausschuss mit diesem Prozess umging. Er machte
überzeugend klar, dass man den Gesamtprozess unterstützt, und übte erst dann an Einzelpunkten Kritik. Beim
Kollegen Breuer ist dies selbstverständlich umgekehrt.
Diese Art der Kritik schlägt ins Gegenteil um, denn sie
schürt nicht nur Verunsicherung, sondern sie instrumentalisiert die vorhandene Verunsicherung regelrecht.
({2})
Was wird das neue Liegenschaftsmanagement bringen?
({3})
Gegenwärtig kann man darauf in der Tat keine konkrete
Antwort geben, da das entscheidend vom Fortgang der
Bundeswehrreform in den nächsten Monaten abhängt; ich
denke hier auch an die Zeit nach dem 22. September.
Heute habe ich zwei Hinweise erhalten, dass dieser Modernisierungsprozess noch an Tiefe und Konsequenz zunehmen könnte.
Die Molinari-Stiftung des Bundeswehrverbandes veranstaltete heute eine interessante Tagung,
({4})
auf der der Schweizer Professor Haltiner auf den europaweiten Trend einer regelrechten Strukturrevolution bei
den Streitkräften hinwies, die Professionalisierung, Verschlankung usw. einschließt. Dort wurde festgestellt, dass
die Bundeswehr im europäischen Vergleich offensichtlich
erst im Mittelfeld liegt.
Heute war in der „Süddeutschen Zeitung“ das Interview mit dem ehemaligen Heeresinspekteur Willmann zu
lesen. Er hat deutlich gemacht, dass seiner Auffassung
nach eine weitere Reduzierung, Effektivierung und Modernisierung der Bundeswehr unbedingt notwendig sei.
Ich glaube, man würde es sich zu leicht machen, die
Äußerung des pensionierten Generals als die Erleuchtung
eines Pensionärs abzutun. Dahinter steht erheblich mehr.
Herr Kollege, achten
Sie bitte auf die Redezeit.
Ja, ich komme zum Ende. - Das sind für mich Indikatoren, dass sich die Aufgaben auch des neuen Liegenschaftsmanagements noch erheblich verschieben können.
Unabhängig davon ist der von der Bundesregierung begonnene Modernisierungsprozess notwendig und - das
muss man ausdrücklich anmerken - auch mutig; er verdient deshalb breite Unterstützung.
Danke schön.
({0})
Für die PDS-Fraktion
erteile ich dem Kollegen Dr. Uwe-Jens Rössel das Wort.
({0})
Darüber sprechen wir
später. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minister Scharping braucht Geld, viel Geld. Er hat
schon aus dem Hause Eichel großzügige Unterstützung erhalten, um sich über das im Verteidigungsetat veranschlagte Geld zusätzliches für Investitionen zu beschaffen.
Damit wiederum soll unter anderem die Interventionsstrategie der Bundeswehr finanziert werden. Die PDS-Fraktion lehnt diese Interventionsstrategie entschieden ab.
({0})
Im Einvernehmen der Minister Scharping und Eichel
wurde im August 2000 die privatrechtlich organisierte
Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb
- kurz GEBB - gegründet. Dazu ist bereits wiederholt gesprochen worden. Einnahmen dieser Gesellschaft durch
Erlöse aus Vermietung, aus Verpachtung, aus dem Verkauf von Liegenschaften oder aus der Veräußerung von
beweglichem Vermögen bis zu 600 Millionen Euro können jährlich in den Verteidigungsetat eingestellt werden.
Solche immensen Vorteile räumt Hans Eichel keinem anderen Kabinettskollegen ein. Die Ergebnisse aber, die die
GEBB heute aufweisen kann, sind absolut verheerend.
({1})
Sie jedoch, Herr Staatssekretär Kolbow, malen ein rosarotes Bild und geben eine realitätsferne Darstellung. Anstatt
der geplanten 500 Millionen Euro wurden im Vorjahr nämlich nicht einmal 10 Millionen Euro eingefahren. Wo bleibt
hier die Wirtschaftlichkeit? Sogar die Anschubfinanzierung
des Bundes für die GEBB aus Steuermitteln fällt noch weitaus höher als die besagten 10 Millionen Euro aus. Es ist an
der Zeit, die Arbeit dieser Steuermittelvernichtungsmaschinerie GEBB schnellstens zu beenden.
({2})
Minister Scharping aber will die GEBB - dem Sachverstand im eigenen Haus zum Trotz - ausdrücklich weiter ausbauen. Er beabsichtigt jetzt, die angesprochene
Neuordnung des Liegenschaftsmanagements durch Gründung eigenständiger, privatwirtschaftlich organisierter
Teilgesellschaften fortzuführen. Diese Neuordnung des
Liegenschaftsmanagements ist aber sehr fragwürdig, offensichtlich auch für den Bundesfinanzminister. Die PDS
- das kann ich an dieser Stelle bereits versprechen - wird
dieses Projekt bei der Beratung des Konzeptes in den
nächsten Wochen im Haushaltsausschuss ablehnen.
({3})
Ganz im Sinne der GEBB-Konstruktion besteht die alleinige Orientierung nämlich darin, Finanzmittel zu erwirtschaften. Woher sie kommen sollen, bleibt allerdings
offen. Entsprechend dem Konzept will die Bundesregierung zugleich die Möglichkeiten der Konversion von
Flächen der Bundeswehr insbesondere für eine Ansiedlung von Arbeitsplätzen ausdrücklich einschränken. Die
öffentliche Verwaltung läuft überdies aufgrund der Privatisierungseuphorie à la Scharping Gefahr, irreparablen
Schaden zu nehmen. Darauf weist auch der Verband der
Beamten der Bundeswehr in seinem Schreiben an die Mitglieder des Haushaltsausschusses nachdrücklich hin.
Der Verband - dazu ist vom Staatssekretär überhaupt
nichts gesagt worden - stellt dem Privatisierungswahn
von Rudolf Scharping ein alternatives Konzept für die
Verbesserung des Liegenschaftswesens der Bundeswehr
entgegen. Dies entspricht der Wahrheit, Herr Staatssekretär, und nicht Ihre Darstellungen aus dem Lande Rosarot.
Der Verband fordert Minister Scharping auf, den bislang
von ihm verhinderten Weg der Optimierung und Rationalisierung des Liegenschaftswesens anstelle der Neugründung aufwendiger privatwirtschaftlicher Gesellschaften
mit immensen Belastungen für den Bundeshaushalt zu beschreiten.
Die PDS-Fraktion sieht dies ebenso. Sie verlangt darüber hinaus, die durch eine Erhöhung der Effektivität des
Liegenschaftsmanagements erzielbaren Erlöse statt für
die qualitative Ausrüstung zielgerichtet für die Rüstungskonversion einzusetzen. Dies wäre ein gangbarer Weg.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Für die SPD-Fraktion
erteile ich dem Kollegen Rainer Arnold das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen, werte Kollegen! Wir haben dieses Land in den
letzten vier Jahren auf einen neuen Kurs
({0})
- ja, ja - in Richtung Erneuerung und Modernisierung
gebracht. Für diesen Kurs steht auch die Reform der Bundeswehr. Schon heute können wir sagen: Die Bundeswehrreform ist ein Modernisierungsprojekt auf richtigem Kurs.
({1})
Sie zitieren doch so gerne den Generalinspekteur, dann
hören Sie ihm auch dann zu, wenn er sagt, dieser Prozess
sei unumkehrbar.
({2})
Ein solches Vorhaben wie die Bundeswehrreform erfordert gelegentlich Mut, manchmal auch steinige Wege
zu gehen.
({3})
Es gibt natürlich viele Leute in der Politik, manchmal aber
auch in einem Ministerium, die gern wollen, dass diese
Steine rollen.
({4})
Das wissen wir. Sie, Herr Breuer, sollten sich sehr gut
überlegen,
({5})
wessen Partner Sie sind.
({6})
Sind Sie wirklich der Meinung, dass diejenigen, die die
Steine in den Weg rollen, es gut mit der Bundeswehr und
ihrem gesamten Auftrag meinen? Ich denke, diese haben
andere Interessen.
Es ist schon interessant, wie solide Ihre Sprecher im
Ausschuss über die Kooperation mit der Wirtschaft diskutieren, während Sie dieses Projekt hier im Bundestag
mit Schaum vor dem Mund abhandeln
({7})
und alle Vorurteile, die man überhaupt nur aus der Schublade ziehen kann, hier auf den Tisch legen. Dies geht bis
hin zu der Frage der Heereslogistik. Dabei wissen Sie
ganz genau, dass dieses kleine mittelständische Unternehmen natürlich kein solch komplexes System wie den
Leo 2 und vieles andere mehr warten kann. Sie wissen
dies alles.
Bei diesem Projekt Liegenschaftsmanagement geht es
eben nicht um ein modernistisches Outsourcing, sondern
um das Zusammenführen der Fähigkeiten der Wirtschaft
und der öffentlichen Verwaltung. Herr Koppelin, hierbei
unterscheiden wir uns vielleicht ein kleines bisschen von
den Privatisierungsmodellen der FDP, die eigentlich immer auf dem Prinzip beruhen: Lasst uns die Verluste sozialisieren, die Gewinne aber in der privaten Tasche belassen. Dies wollen wir nicht,
({8})
weil wir zusammenführen und zum Schluss etwas von
den Vorteilen in unserer Tasche haben wollen.
Das Liegenschaftsmanagement, um das es heute geht,
ist hierfür ein gutes Beispiel. Wir brauchen diese Reform,
um bei der Bundeswehr die investiven Spielräume in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft zu erreichen. Ich finde
es spannend, dass gerade die Partei, die im Augenblick
landauf und landab zieht und den Menschen erzählt, man
müsse die Staatsquote deutlich senken,
({9})
dann, wenn es hier konkret wird, sagt: Nein, so wollen wir
dies nicht haben. Dies ist nicht korrekt, sondern vordergründig und durchschaubar.
({10})
Um es noch klarer zu sagen: Wenn hier der Sprecher
der CDU einen Brief, der ihm anonym aus einem Ministerium zugespielt wird, aus der Tasche zieht und mit ihm
politisch operiert, wird wirklich deutlich, was ich damit
gemeint habe. Daran wird auch deutlich, dass dieser Prozess, dieser Weg, den Minister Scharping eingeschlagen
hat, unsäglich mühsam ist.
({11})
Er ist mühsam, weil er schwer ist. Er ist so schwer, dass
Sie in Ihrer Regierungszeit darauf verzichtet haben, solche Wege einzuschlagen.
({12})
Sie sind den bequemen Weg gegangen und haben die Bundeswehr damit im Grunde genommen heruntergewirtschaftet.
({13})
Dieser Weg ist deshalb so schwer, weil es natürlich darum
geht, den rechtlichen Rahmen zu finden, in dem wir uns
bewegen können.
Für meine Person sage ich dazu: Ich wünsche mir gelegentlich schon, dass der eine oder andere MinisterialDr. Uwe-Jens Rössel
bürokrat eine gewisse Dehnung des rechtlichen Rahmens
bezüglich der Modernisierung des Staates möglich
machte. Diese brauchen wir, wenn wir eine moderne Gesellschaft bauen wollen - nicht nur bei der Bundeswehr.
Das ist ein Musterbeispiel dafür, wie dieser Prozess in unserer Gesellschaft im Augenblick verläuft.
({14})
Ich habe mich natürlich gefragt, warum diese Große Anfrage das Liegenschaftsmanagement betrifft. Herr
Koppelin, mir ist schnell klar geworden, warum. Sie fragen
immer nach den Dingen, die sich noch im Prozess befinden.
({15})
- Natürlich. - An diesen arbeitet die GEBB logischerweise noch; das muss sie auch. Sie haben gar nicht verstanden, was die Aufgabe der GEBB ist.
({16})
Sie sprechen von dem großen Haus. Das ist überhaupt
nicht wahr. Die GEBB soll etwas ganz anderes bilden. Sie
ist das Dach, unter dem sich die Gesellschaften, die das
operative Geschäft durchführen, ansiedeln.
({17})
Wenn Sie aufmerksam sind, werden Sie merken, dass
Ihre Reden von vorgestern heute Lügen gestraft worden
sind. Sie haben es beim Flottenmanagement und beim Bekleidungswesen gemerkt. In den nächsten Monaten werden Sie es beim Liegenschaftsmanagement und bei der
ganz wichtigen und schwierigen Herkulesaufgabe, dem
IT-Technik-Projekt, merken. Weil Sie nicht warten wollen, bis Erfolge da sind, kritisieren Sie herum, solange
Menschen noch engagiert daran arbeiten. Gelegentlich
wird aufgrund einer unterschiedlichen Interessenlage bei
den Ministerien auch einmal gestritten. So ist es nun einmal in der Politik.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ja, klar.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Da Sie mir den Vorwurf machen, dass ich Sie, obwohl viele Dinge noch nicht abgeschlossen sind, kritisiert hätte, spreche ich nun eine Sache
an, die abgeschlossen ist. Können Sie mir sagen, warum
Frau Fugmann-Heesing hingeworfen hat und welche Abfindung sie erhalten hat? Dies ist ja bereits abgeschlossen.
({0})
Sie haben die Antwort auf diese
Frage schon wiederholt aus dem Haus erhalten.
({0})
Was ist eigentlich so sensationell und schlimm daran, dass
man bei einer Firma, die sich im Aufbau befindet, nach einem Jahr merkt, dass Menschen und Konzepte möglicherweise nicht so zusammenpassen, wie man das
brauchte und wollte?
({1})
- Lassen Sie einmal, Herr Koppelin. - Sie haben wirklich
nicht begriffen, was Kooperation mit der Wirtschaft heißt.
({2})
Im Gegensatz zum Staat, bei dem ein Ministerialdirektor mit einem großen Beharrungsvermögen auf seinem
Sessel bleiben kann, ist es der Vorteil in der Wirtschaft,
dass man reagieren und austauschen kann, wenn die
Dinge nicht so funktionieren, wie man es sich vorstellt.
Das geschieht im Alltag doch jeden Tag. Was soll das Geschrei an diesem Punkt?
({3})
Lassen Sie mich noch ganz kurz zur Ausgangslage des
Liegenschaftsmanagements kommen. 12 Prozent des Etats
werden derzeit für die Verwaltung der Liegenschaften ausgegeben. Aufgrund der Reduzierung der Standorte der Bundeswehr kann sich doch jeder vorstellen, dass dieses Liegenschaftsmanagement angepasst werden muss. Ansonsten
würde uns noch mehr Geld für den investiven Bereich fehlen. Jeder von uns, der Standorte besucht, hat schon gesehen, wie unwirtschaftlich dort gelegentlich gedacht wird.
({4})
Es sind dort zum Teil nämlich Flächen vorhanden und es
werden Gebäude unterhalten, die man nicht mehr
benötigt. Die Soldaten, die sich darüber Gedanken machen, sind für die Kosten im Grunde genommen gar nicht
zuständig. Sie leben nach dem Motto: Die Kosten sind ohnehin da, also braucht sich niemand so richtig darum zu
kümmern. Genauso ist es. Wer dies nicht ändert, schadet
der Bundeswehr.
({5})
Herr Breuer, der Bundesrechnungshof, den Sie so
gerne zitieren, sagte exakt das Gleiche in seinem Bericht
vom Jahr 2001: Es fehlt im Liegenschaftsbereich an
Transparenz und Konzeption. Ich sage dies nur nebenbei.
Ich nenne zwei Beispiele, die zeigen, wie notwendig der
Wandel ist:
In der Wirtschaft kostet das Managen jedes Quadratmeters einer Liegenschaft 5 Euro. Bei der Bundeswehr
kostet das Bewirtschaften eines Quadratmeters
11 Euro. Wollen wir das Geld wirklich für so etwas statt
für einsatzfähige Soldaten ausgeben?
({6})
Die Bundeswehr hat 600 Stromlieferverträge abgeschlossen. Ich will gar nicht wissen, wie viele Menschen
sich damit befassen, diese zu administrieren. Das kostet
viel Geld. Das Schlimmste ist aber, dass wir im Durchschnitt 8 Cent für jede Kilowattstunde zahlen. In der Wirtschaft bezahlt man 5,5 Cent.
An den Beispielen erkennt man, was alles machbar
wäre, wenn es hier eine koordinierte Liegenschaftsplanung gäbe.
({7})
Dieses Liegenschaftsmanagement bietet die Chance, in
den nächsten zehn Jahren zwischen 2,5 Milliarden und
4 Milliarden einzusparen. Das ist notwendig, um die Liegenschaften zu modernisieren und zu sanieren.
Wir besuchen beide in der Tat Standorte, Herr Breuer,
und Sie haben Recht: Das Personal - das finde ich besonders schlimm - ist verunsichert ({8})
wie in jedem Unternehmen, das einem schwierigen
Modernisierungsprozess unterworfen ist. Das war bei
Daimler nicht anders. Aber statt den Menschen mit den
Fakten und der Wahrheit Halt und Sicherheit zu geben,
reisen Sie mit Ihren Kollegen herum und schüren unnötig
Ängste. Das ist schäbig.
({9})
Es bleibt dabei: Das neue Liegenschaftsmanagement
stellt die exakte sozialverträgliche Antwort auf die Verkleinerung der Bundeswehr dar. Es wird keine betriebsbedingten Kündigungen geben und es muss auch niemand
gehen, sondern Dienstherr bleibt die Bundeswehr. Das
heißt, die Sicherung der Arbeitsplätze bedeutet vor allem
für bewegliche Mitarbeiter - von denen haben wir zum
Glück sehr viele, die gute Arbeit leisten und darunter leiden, dass der bürokratische Rahmen so eng ist - eine
Chance, sich zu entwickeln und neue berufliche Perspektiven zu erschließen.
Das Liegenschaftsmanagement bietet aber nicht nur
dem Personal eine Chance, sondern vor allen Dingen auch
den Soldaten als Nutzer durch eine deutliche Verbesserung der Qualität an den Standorten. Sie werden in Zukunft diese Leistungen bestellen und sich aussuchen können, welche Leistungen sie wirklich brauchen. Sie sind
dann auch für die Kosten ein Stück weit stärker verantwortlich. Gut ausgebildete Offiziere wünschen sich
doch eine solche Mitwirkung. Wir schicken sie auf die
Hochschule und sie kommen teilweise als Betriebswirte
zurück. Wir müssen sie gewähren lassen; dann kommt
auch etwas Vernünftiges dabei heraus.
({10})
Das Liegenschaftsmanagement bedeutet auch für den
Bundeswehretat eine gute Chance. Wir haben die bevorstehende Entlastung bereits im 35. Finanzplan mit berücksichtigt.
Lassen Sie mich zum Schluss festhalten: Wer diese
Vorteile blockiert oder immer wieder Sand ins Getriebe
streut, kocht entweder vordergründig politische Wahlkampfsüppchen
({11})
oder hat sich möglicherweise persönlich als Beschäftigter
allzu bequem in der alten Struktur eingerichtet. Das gibt es
gelegentlich; das muss auch offen angesprochen werden.
({12})
Wer es aber - andersherum betrachtet - mit der Bundeswehr und ihrem Auftrag gut meint und die Soldaten bei ihrer Auftragserfüllung unterstützen will, muss den eingeschlagenen Weg der Modernisierung gerade bei dem
Liegenschaftsmanagement nachhaltig und mit aller Kraft
unterstützen.
Herzlichen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Solidarpaktfortführungsgesetzes
- Drucksache 14/8979 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Sonderaus-
schusses Maßstäbegesetz/Finanzausgleichsgesetz
- Drucksache 14/9154 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Heinz Seiffert
Gisela Frick
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich eröffne die
Aussprache. Da alle Reden zu Protokoll gegeben worden
sind, schließe ich die Aussprache.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf. Der Sonderausschuss Maßstäbegesetz/Finanzaus-
gleichsgesetz empfiehlt auf Drucksache 14/9154, den Ge-
setzentwurf anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag
der Fraktion der PDS vor, über den ich zunächst abstim-
men lasse. Wer dem Änderungsantrag der PDS auf Druck-
sache 14/9276 zustimmt, den bitte ich um das Handzei-
chen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die
Stimmen der PDS ist der Änderungsantrag abgelehnt.
1) Anlage 4
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der FDP und der PDS
ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und der CDU/CSU ist der Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 11 bis 15 auf:
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ({1}),
Dr. Sabine Bergmann-Pohl, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Historische Mitte Berlin
- Drucksache 14/9023 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckhardt
Barthel ({3}), Hans-Werner Bertl, Monika
Griefahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Franziska
Eichstädt-Bohling, Kerstin Müller ({4}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Empfehlungen der Internationalen Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“
- Drucksache 14/9222 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({5})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter
Rexrodt, Hans-Joachim Otto ({6}), Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Wiederherstellung der historischen Mitte Berlins
- Drucksache 14/9243 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({7})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau,
Dr. Christa Luft, Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Die Mitte der Spreeinsel als offenes Bürgerforum gestalten - Empfehlungen der Expertenkommission öffentlich diskutieren
- Drucksache 14/9244 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({8})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss
ZP 15 Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Heinrich Fink, Dr. Gregor Gysi, Dr. Christa
Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Gewölbe unter dem ehemaligen Nationaldenkmal auf dem Berliner Schlossplatz für die Öffentlichkeit zugänglich machen
- Drucksachen 14/3120, 14/6914 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel ({10})
Dr. Antje Vollmer
Hans-Joachim Otto ({11})
Dr. Heinrich Fink
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind
Sie einverstanden.
Die Redezeit wird auch in Anspruch genommen. Deshalb eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kollegen
Eckhardt Barthel für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die Debatte, die wir heute
führen, läuft in der Öffentlichkeit unter der Überschrift
Schlossdebatte. Seit über zehn Jahren wird zumindest in
Berlin leidenschaftlich über die Gretchenfrage diskutiert:
Wie hältst du es mit dem Schloss?
({0})
Es geht aber nicht nur um das ehemalige Berliner
Schloss, sondern um mehr, nämlich um das gesamte dazugehörende Areal, um die historische Mitte der Hauptstadt schlechthin.
({1})
Ich bin mir sicher, dass wir uns der Bedeutung dieses Ortes bewusst sind. Denn man kann sagen: Die Mitte der
Hauptstadt ist auch die Mitte der Republik. Von diesem
Ort soll und muss auch eine identitätsstiftende Wirkung
ausgehen. Auch er soll eine Beziehung der Bundesbürger
zu ihrer Hauptstadt schaffen. Deshalb muss er auch ein
Ort für Bürgerinnen und Bürger bzw. - das ist vielleicht
noch deutlicher - ein Ort mit Bürgerinnen und Bürgern
sein.
({2})
Berlin beklagt einen Mangel an Visionen. Auch dies
muss ein Kriterium bei der Nutzung und Gestaltung dieses Ortes sein. Inwieweit symbolisiert dieser Ort Zukunft?
Die Diskussion über die Frage „Schloss ja oder nein?“
ist verständlicherweise noch nicht beendet. Aber dank
der Empfehlungen der internationalen Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“ kann sie jetzt auf der
Grundlage eines in sich weitgehend geschlossenen Konzeptes stattfinden. Ich möchte an dieser Stelle auch im
Namen meiner Fraktion der Kommission und ihrem
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Vorsitzenden, Herrn Swoboda, für die geleistete Arbeit
danken.
({3})
Zumindest meine Fraktion hatte sich vorgenommen,
zuerst die Nutzung und dann die Gestaltung festzulegen.
Die Kommission hat sich gerade bei der Erarbeitung eines Nutzungskonzeptes sehr positiv in die Diskussion
eingeschaltet.
({4})
Folgende Nutzung ist vorgesehen: Erstens. Das Museum außereuropäischer Kulturen soll in der Mitte der Republik untergebracht werden. Der Symbolwert ist dabei
nicht zu unterschätzen. Der Vorschlag beinhaltet nichts
Nationales, nichts, was als eurozentristisch interpretiert
werden könnte. Er macht vielmehr die Öffnung zu anderen Kulturregionen deutlich. Das ist gerade in Zeiten, in
denen wir über den Dialog der Kulturen sprechen, eine
ganz positive Entscheidung.
In der historischen Mitte sollen zweitens die beiden
Berliner Bibliotheken zusammengeführt sowie drittens
die wissenschaftshistorischen Sammlungen der Humboldt-Universität angesiedelt werden. Last, but not least
soll dort viertens die Agora - übersetzt: das Zentrum des
öffentlichen Lebens, also ein Versammlungsort im weitesten Sinne des Wortes - entstehen.
Um die Vorschläge der Kommission zur Nutzung dieses Ortes kurz zusammenzufassen: Es handelt sich um
Nutzungsempfehlungen für die Bürger mit demonstrativer Außenwirkung. In diesem Punkt, glaube ich, gibt es
eine große Übereinstimmung in diesem Hause. Ich kenne
bisher niemanden, der dieses Nutzungskonzept infrage
gestellt hat. Übereinstimmung gibt es meines Erachtens
auch bei dem Vorschlag, dass sich das zu errichtende Gebäude auf die Stereometrie des Schlosses beziehen soll.
Geprüft werden müssen aber meines Erachtens - in diesem Punkt unterscheiden sich unsere Anträge - die Finanzierungsvorstellungen. Die Kommission empfiehlt eine
privat-öffentliche Finanzierung. Das ist sicherlich richtig.
Das vorgeschlagene Modell scheint uns aber im Hinblick
auf die private Seite zu optimistisch zu sein. Deshalb ist es
notwendig, alles noch einmal gründlich zu prüfen, damit
nicht am Ende der Steuerzahler - das kommt nicht selten
vor - einen Großteil des Finanzbedarfs decken muss. Alles
muss vorher genau durchgerechnet werden. Die Ehrlichkeit
verlangt auch, auf Folgendes hinzuweisen: Wer glaubt, das
von der Kommission vorgeschlagene Nutzungskonzept
ohne öffentliche Mittel realisieren zu können, der sollte damit eigentlich erst gar nicht beginnen. Dann sollte man
sich gleich für einen Central Park oder Ähnliches entscheiden.
Meine Damen und Herren, strittig ist allerdings die
Architektur. Die Kommission empfiehlt drei Barockfassaden und den Schlüterhof, ich nenne es etwas zugespitzt
„ein bisschen Schloss“. Dieses Modell enthalten auch die
Anträge sowohl der CDU/CSU als auch der FDP. Wir
schließen dies mit unserem Antrag nicht aus, nur möchten
wir gern, dass bei dem notwendigen Wettbewerb auch
moderne Architektur nicht ausgeschlossen wird. Ich stelle
mir die Frage: Warum sollen unsere heutigen Architekten
nicht auch mit Schlüter konkurrieren dürfen?
Es sollte aber klar sein, dass sich diese Architekturoder Gestaltungsfrage nicht am Parteibuch orientieren
kann. Ich glaube nicht, dass es für diese oder jene ästhetische Position entscheidend sein sollte oder vom Inhalt her
überhaupt sein kann, ob jemand dieser oder jener Partei
angehört. Deshalb sollte hier eine offene Entscheidung
stattfinden. Wie ich die Entwicklung sehe, arbeiten wir
auch darauf hin.
Lassen Sie mich zum Schluss zur Frage Schlossfassade
oder Moderne ein Zitat von Michael Cullen bringen, der
in der „FAZ“ geschrieben hat:
Hier wird der Bundestag eine Eingebung benötigen
oder die Weisheit Salomos, will er die richtige Entscheidung treffen.
Mir würde es schon genügen, wenn wir diese emotionale Frage entschieden, aber nüchtern, ohne Hast, jedoch
zeitnah beantworten würden.
Ich bedanke mich.
({5})
Für die CDU/CSU erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Norbert Lammert.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alles, was sich zum
Schloss, seiner Bedeutung und der von ihm geprägten historischen Mitte Berlins sagen lässt, ist inzwischen aus den
verschiedensten Interessen- und Blickwinkeln mehrfach
vorgetragen worden. Es hat im Laufe der letzten zehn
Jahre, die der Kollege Barthel angesprochen hat, vielfach
Wettbewerbe gegeben mit einmal mehr und einmal weniger konkreten Vorgaben. Es ist zu diesem Thema fast alles gesagt - und bei genauem Hinsehen inzwischen auch
fast von allen.
Wem die Diskussion als solche nicht bereits genügt
- und ganz offenkundig gibt es Feinschmecker, die die
Endlosdebatte noch spannender finden als die mögliche
Realisierung des Projekts -,
({0})
der muss noch mehr als an der mühelos ins Endlose verlängerbaren Fortsetzung an einer Entscheidung interessiert sein, mit der aus den vorgetragenen und vorliegenden Überlegungen endlich Konsequenzen gezogen
werden.
({1})
Dafür liefert der vorliegende Kommissionsbericht nun
wirklich alle notwendigen Unterlagen, jedenfalls was die
Grundsatzentscheidungen angeht, die jetzt getroffen werden können und auch getroffen werden müssen.
Dass die neben vielen einvernehmlichen Empfehlungen wenigen mit Mehrheit zustande gekommenen EmpEckhardt Barthel ({2})
fehlungen nicht jedem in gleicher Weise gefallen können,
liegt in der Natur der Sache. Es würde sich im Übrigen
auch bei längerer Diskussion bestenfalls wiederholen.
Diejenigen, die jetzt ausdrücklich oder heimlich mit einer
Verlängerung dieser Debatte spielen, erwarten nicht
ernsthaft neue Gesichtspunkte, sondern sie erwarten vielleicht eine Umkehrung knapper Mehrheitsentscheidungen bei Empfehlungen in der gleichen Sache.
Gerade deshalb muss in dieser Debatte festgehalten
werden: Von der Bundesregierung und vom Berliner Senat, die diese Kommission mit dem Ziel eingesetzt haben,
eine Entscheidungsgrundlage zu erarbeiten, muss jetzt erwartet werden, dass sie die erarbeiteten Empfehlungen
auch ernst nehmen und umsetzen.
({3})
Es kann doch nicht bezweifelt werden, dass diejenigen,
die an bestimmten Empfehlungen wegen der knappen
Mehrheitsverhältnisse Zweifel anmelden, keine Probleme
damit hätten, wenn mit gleich knappen Mehrheiten die
umgekehrten Empfehlungen zustande gekommen wären.
Ich bestreite keinen Augenblick, dass der CDU/CSUFraktion die Empfehlungen der Kommission ausgesprochen gut gefallen, weil sie - in einer uns selbst überraschend starken Weise - den Vorschlägen entsprechen, die
wir vor fast genau zwei Jahren, nämlich mit Datum vom
27. Juni 2000, in den Deutschen Bundestag eingebracht
haben - vor Einsetzung dieser Kommission. Damals haben wir auf die überragende Bedeutung dieses Areals und
seiner städtebaulichen Gestaltung hingewiesen
({4})
- das ist zugegebenermaßen ein ohne große intellektuelle
Akrobatik nachvollziehbarer Gesichtspunkt -, haben
auch auf die Notwendigkeit einer diesen Platz und seiner
Bedeutung angemessenen,
({5})
im Wesentlichen öffentlichen Nutzung als notwendiger
Voraussetzung für die kostenlose Überlassung der dem
Bund gehörenden Grundstücke für eine Bebauung hingewiesen.
Was den bis heute nicht ausgeräumten, in der Sache
auch gut begründbaren Streitpunkt der Architektur betrifft, so haben wir damals beantragt - ich zitiere -:
Der Deutsche Bundestag tritt für den Wiederaufbau
des Berliner Stadtschlosses in der Kubatur des ursprünglichen Gebäudes unter weitgehender Wiederherstellung historischer Fassaden ein.
Dies empfiehlt nun auch die Kommission, an deren Zusammensetzung die Opposition, die diesen Antrag gestellt
hat, nachweislich nicht beteiligt war. Es schadet vielleicht
nicht, noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass bei der
kunstvollen Zusammensetzung dieser Kommission, die
ganz gewiss sicherstellen sollte, dass dabei nicht eine gesicherte Mehrheit für eine Schlossrekonstruktion herauskommt, nahezu alle relevanten Gruppen berücksichtigt
wurden - nur nicht Vertreter der Opposition. Das, verehrter Herr Staatsminister und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ist ein, wie ich finde, zusätzlicher
Gesichtspunkt dafür, das besonders ernst zu nehmen, was
als Empfehlung der eigens zu diesem Zweck eingesetzten
Kommission nun als Ergebnis der Beratungen auf dem
Tisch liegt.
({6})
Herr Staatsminister Nida-Rümelin wurde vor einigen
Tagen in einer Zeitung mit der Aussage zitiert, fast alle,
die sonst moderne Architektur bevorzugten, würden an
diesem spezifischen Ort nachdenklich. Dies, Herr Kollege Nida-Rümelin, ist mein Eindruck auch. Für mich persönlich jedenfalls kann ich präzise diesen Willensbildungsprozess beobachten und gebe das hier auch gerne zu
Protokoll. Meine erste Vermutung über die angemessene
städtebauliche Lösung an diesem Platz war eine Architektur, die das Signum des 21. Jahrhunderts trägt. Mich
überrascht nicht, dass andere ähnliche Eindrücke gewonnen haben, nämlich dass eine intensive Beschäftigung
nicht nur mit der Historie dieses Platzes, sondern auch mit
dem städtebaulichen Umfeld, das von diesem Schloss
nicht nur in zeitlicher Hinsicht, sondern auch in konzeptioneller Hinsicht geprägt ist,
({7})
zu dem Schluss führt, dass prinzipiell andere Alternativen
unangemessene Lösungen sind. Man darf nicht verdrängen, dass die große Vision Schinkels von einer klassizistischen Mitte Berlins von diesem Schlossgebäude in jeder
Beziehung seinen Ausgangspunkt genommen hat und
dass als das, was sich darum als Ensemble entwickelt hat,
ohne dieses Schloss und seine Architektur nur schwer vorstellbar ist.
Da es in der Debatte in den letzten Wochen und Monaten auch manche maßlosen Übertreibungen gegeben hat,
will ich jedenfalls für meine Fraktion festhalten: Bei der
Wiederherstellung des Berliner Stadtschlosses geht es
natürlich nicht um die Wiederherstellung von Preußens
Glanz und Gloria. Es ist dummes Zeug, zu glauben, es
solle ausgerechnet ein Schloss als geistiges Zentrum der
neuen deutschen Berliner Republik rekonstruiert werden.
Es geht vielmehr darum, dieser Stadt wieder ein Gesicht
zu geben, das ihrer historischen Entwicklung und der Prägung dieses Stadtbildes in angemessener Weise entspricht, wie das jede vergleichbare Metropole mit einem
vergleichbaren Selbstbewusstsein selbstverständlich
längst realisiert hätte.
({8})
Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass wir die heute
vorliegenden Anträge aus den verschiedenen Fraktionen
zu einer Beschlussempfehlung bündeln, die uns dann,
wenn uns die gute Absicht gelingt - die dafür ja besteht,
Kollege Barthel -, hoffentlich in die Lage versetzt, die
Einschätzungen festzuhalten, die wir gemeinsam haben.
Ich teile ausdrücklich die vorgetragene Einschätzung des
Kollegen Barthel, dass etwa zur Frage der Einbindung der
Lösung in die gesamtstädtebauliche Umfeldsituation und
auch zur Nutzung des Gebäudes beziehungsweise der in
diesem Zusammenhang in Rede stehenden Gebäude ein
hohes Maß an Übereinstimmung mit den Empfehlungen
der Kommission besteht und dass es sich fast von selbst
versteht, dass gewissermaßen die technische Umsetzung
der Nutzungsvorstellungen auf Raumvolumina nun mit
der gebotenen Sorgfalt geprüft werden muss. Ganz selbstverständlich gilt das auch für die Finanzierungskonsequenzen, die sich daraus ergeben.
Ich habe den Eindruck, dass es eine weitgehende Übereinstimmung auch darin gibt, dass dieses große Projekt
weder allein aus öffentlichen Mitteln realisiert werden
kann noch allerdings umgekehrt allein privatwirtschaftlich verwirklicht werden könnte. Ob und in welcher Weise
dies miteinander kombinierbar ist, darum sollten wir uns
gemeinsam mit den Vertretern der Bundesregierung und
des Berliner Senats in den nächsten Wochen und Monaten
bemühen.
Entschieden werden muss die von mir erläuterte Frage
der architektonischen Gestalt. Hierzu muss ich nicht das
wiederholen, was ich zur Begründung unseres Vorschlages einer weitgehenden Wiederherstellung der historischen Fassaden auf der Basis der Empfehlungen der
Kommission gerade vorgetragen haben.
Meine Damen und Herren, es gibt ganz gewiss noch
wichtigere Themen für die Zukunft der Stadt und für die
Zukunft des Landes, dessen Hauptstadt Berlin ist. Aber
das Thema ist wichtig genug und es ist entscheidungsreif.
Der hohe intellektuelle Reiz der jahrelangen Debatte zur
zukünftigen Gestaltung der historischen Mitte Berlins ist
nur noch durch deren überzeugende Realisierung zu überbieten. Dazu wollen wir Gelegenheit geben.
({9})
Herr Kollege, es ist
phantastisch, dass Sie die Redezeit mit Sekundenpräzision eingehalten haben. Das ist natürlich dankenswert.
Ich erteile das Wort der Kollegin Franziska EichstädtBohlig für die Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hatte ja die Ehre, in dieser Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“ mitzuarbeiten und ich
finde es schon richtig, dass es ganz gut gewesen wäre, es
hätte darin eine Vertreterin oder ein Vertreter der Opposition mitgewirkt.
({0})
Richtig ist, dass es eine große Einigkeit bei der Bewertung der Ergebnisse der Kommission zum Nutzungskonzept gibt und, wie ich glaube, auch zu den städtebaulichen
Empfehlungen. Ich möchte schon sagen, dass ich gerade
auch die Empfehlungen zur Finanzierung durchaus bedenkenswert finde, wenn sich in einem Prüfverfahren herausstellt, dass es tatsächlich möglich ist, unter Führung
der öffentlichen Hände, also von Berlin und vom Bund,
eine öffentlich-private Gemeinschaftsfinanzierung in einem Fonds zustande zu bringen. Das wäre schon einmal
ein sehr interessantes Experiment. Bisher haben wir immer die umgekehrte Finanzierungsform, die darin besteht,
dass sich die öffentliche Hand selbst als Trägerin in die
Hände der privaten Investoren begeben muss. Das war ja
auch das alte Investorenauswahlverfahren. Von daher
möchte ich schon Mut machen - unabhängig davon, ob
das so finanzierbar ist, wie es jetzt in der Konzeption dargestellt worden ist -, sich diesem Thema durchaus ernsthaft zu stellen.
Lassen Sie mich ein paar Aspekte dazu sagen, wo ich
den Zielkonflikt in dem Ergebnis der Expertenkommission sehe. Es sind zwei Probleme, die man sehen muss.
Ich fände es schon gut, sie sehr ernst zu nehmen und sie
jetzt nicht in einer Polemik pro Schlossfassade oder dagegen zu sehen, weil es in jedem Fall um ein Gebäude gehen wird, das aus einem Spannungsfeld von historischer
Erinnerung - wie auch immer sie gestaltet wird - und
neuer Gestaltung entwickelt werden muss.
Das eine Problem ist, dass es der Kommission aus meiner Sicht nicht gelungen ist, zwischen dem Nutzungskonzept und dem Gestaltungskonzept eine konstruktive Beziehung zu entwickeln. Das andere Problem ist, dass die
Verbindung von äußerer Fassadenrekonstruktion und moderner Innengestaltung eben kein interessantes Spannungsfeld ergibt. Eigentlich müsste es ein Spannungsfeld
zwischen zeitgenössischer Architektur und - wenn es
denn um Rekonstruktion geht - historischer Erinnerung
sein.
Das Problem ist einerseits, dass mit dem vorliegenden
Nutzungskonzept gleichzeitig ein sehr hohes Nutzungsmaß in dem Areal verwirklicht werden soll. Dieses hohe
Nutzungsmaß, so wie es die Mehrheit beschlossen hat,
führt beispielsweise dazu, dass hinter den Fassaden Geschosshöhen realisiert werden müssen, die nicht mit der
äußeren Gestalt übereinstimmen, dass also praktisch Höfe
überbaut und überdacht werden müssen. Ich meine, gerade die, die sich für die Rekonstruktion des Schlosses engagieren, müssten sagen, dass sie das Maß an Nutzung,
das realisiert werden soll, so nicht mittragen können. Das
ist ein zentraler Punkt. Es ist eine maximale Grundstücksausnutzung gewählt worden, die im Inneren eigentlich nur durch eine moderne Gestaltung realisiert werden
kann, die dann nicht zur Fassadenkonstruktion passt.
Was ich für richtig halte - das hat eben auch Eckhardt
Barthel unterstützt -, ist, dass man sich aus städtebaulichen Gründen eindeutig an der Kubatur und auch an der
Höhenentwicklung des historischen Hohenzollernschlosses orientiert und dass - so, wie es auch die Kommission beschlossen hat - den Architekten in einem Wettbewerb Freiheit gegeben wird, wenn es darum geht, wie
sie Teile des Palasts der Republik erhalten wollen und wie
sie den Bereich im Osten des Palasts, also in Richtung des
Roten Rathauses und des Marx-Engels-Platzes, gestalten
wollen. Gegebenenfalls ist auch eine Integration des
Volkskammersaals machbar; das muss dann noch genauer
geprüft werden.
Was ich aber für problematisch und falsch halte, ist, auf
der einen Seite für eine historische Rekonstruktion der
Schlüterfassaden und des Schlüterhofs zu votieren und
gleichzeitig für die innere Gestaltung Nutzungsvorgaben
zu machen, die in der Geschossgliederung und in den
Hofüberbauungen eigentlich gar keinen Raum mehr für
das Spannungsfeld zwischen Neu und Alt geben. Deswegen sage ich: Wenn man dieses Nutzungskonzept und dieses Nutzungsmaß realisieren will, dann müsste man konsequenterweise in einem Architektenwettbewerb offen
lassen, in welcher Weise die historische Erinnerung an das
Hohenzollernschloss gestaltet werden soll: ob mit modernem Gestus, mit anderen Formen der Erinnerung oder
letztlich mit einer Fassadenrekonstruktion.
({1})
Dafür setzen wir uns mit dem Antrag der Koalition ein;
denn ich glaube, das gibt den Architekten ein Stück mehr
Freiheit und mehr Möglichkeiten bei der Gestaltung des
Spannungsfeldes zwischen Nutzungskonzept und historischer Erinnerung.
Insofern habe ich mich nie gegen den Nachbau von
Teilen des Schlosses ausgesprochen, bin aber der Meinung, dass gerade solch ein Nachbau ein ganz besonderes
baukulturelles Feingefühl und ein dazu passendes Nutzungskonzept erfordert. Deswegen sage ich noch einmal,
was ich eingangs gesagt habe: Die Beziehung zwischen
dem Nutzungskonzept und dem Gestaltungsanspruch,
wie die Mehrheit ihn durchgesetzt hat, ist einfach nicht
stimmig realisiert. Von daher bin ich schon der Meinung,
dass ein Stück weiterer Arbeit nötig ist und dass man jetzt
nicht einfach „Ente oder Trente“ sagen kann.
Lassen Sie mich ein ganz kurzes Fazit ziehen. So gut,
wie das Ergebnis der Kommission in der Gesamtbewertung ist, man muss schon sagen, dass im Endeffekt die altbekannten Differenzen zwischen Schlossbefürwortern
und Modernisierern eben nicht gelöst worden sind, obwohl meiner Meinung nach gerade darin die Aufgabe bestanden hätte. Insofern bleiben im Ergebnis die Kontrahenten weiterhin in ihren Gräben. Das finde ich sehr
schade; denn ich glaube, die Hauptaufgabe bei der Gestaltung besteht darin, dieses Spannungsfeld positiv und
konstruktiv zu definieren, weil es, wie gesagt, eine Kombination aus Neu und Alt werden muss. Ich zumindest
werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass das in der weiteren Planungsphase und in der Realisierungsphase auch
gelingt. Ich hoffe auf einige Mitstreiter.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Dr. Günter Rexrodt für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Seit elf Jahren wird nun über die Gestaltung des Schlossplatzes und der historischen Mitte
Berlins diskutiert. Ich habe viel Verständnis für eine ausführliche, eingehende Diskussion; denn das ist ein besonderer Platz, der in besonderer Weise die Geschichte unseres Landes, ganz bestimmt aber dieser Stadt repräsentiert.
Solche Dinge kann man nicht von heute auf morgen entscheiden.
Aber elf Jahre sind eine lange Zeit. Man hat eine
Expertenkommission eingesetzt. Das macht man bei solchen Vorhaben immer; das ist auch akzeptabel. Ich finde,
Frau Eichstädt-Bohlig - obwohl ich nicht Mitglied der
Expertenkommission war, aber dort gern in irgendeiner
Weise mitgewirkt hätte; die Opposition war jedoch nicht
gefragt -, dass diese Kommission gut gearbeitet hat. Man
konnte sogar beobachten, dass Mitglieder der Kommission, die vorher eher in einer bestimmten Richtung festgelegt waren, ihre Meinung unter dem Druck der Argumente gewandelt haben und zu einem anderen Ergebnis
gekommen sind.
Nun ist die Expertenkommission fertig mit ihrer Arbeit
und hat einen Vorschlag vorgelegt, alles in allem einen
sehr passablen, akzeptablen Vorschlag. Jetzt kommt es darauf an, dass die Entscheidungsgremien - das ist der Bundestag im Benehmen mit dem Senat von Berlin, gegebenenfalls mit dem Abgeordnetenhaus - dafür sorgen, dass
das vorgelegte Konzept nach elf Jahren Diskussion realisiert werden kann. Jetzt eine neue Kommission einzusetzen
({0})
- es läuft darauf hinaus, dass es eine neue Ausschreibung
gibt und dass für ein weiteres Jahr eine neue Diskussion
stattfindet - wäre unserer Meinung nach nicht richtig. Wir
möchten, dass der Bundestag eine abschließende Entscheidung trifft und dass diese auch umgesetzt wird. Wir
als FDP plädieren dafür, dass die historische Fassade wie
vorgeschlagen realisiert wird.
({1})
Die Frage ist, ob eine historische Fassade mit dem
Baukörper - Frau Eichstädt-Bohlig hat das angesprochen - in Einklang zu bringen ist und ob eine historische
Fassade nicht nur dem Geschmack einer Generation entspricht, sondern auch die Erwartungen erfüllt, die nachfolgende Generationen an ein solches Bauwerk haben.
Ich persönlich habe durchaus ein Faible für moderne
Architektur. Ich finde, in Berlin ist vieles an überzeugender moderner Architektur realisiert worden. Ich traue aber
keinem zeitgenössischen Architekten zu, dass er dort ein
Gebäude äußerlich so gestalten kann, dass es dem Geschmack und dem ästhetischen Empfinden der nächsten
100, 200, vielleicht sogar 250 Jahre standhalten kann.
({2})
- Der kommt nicht. Deshalb müssen wir die historische
Fassade realisieren. Das ist genau der Punkt.
Ich glaube, dass so auch die Mehrzahl und eine wachsende Zahl von Berlinerinnen und Berlinern sowie anderen Menschen in unserem Lande denkt. Ich glaube im
Übrigen, dass die historische Fassade eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass wir in diesem Lande einen Gutteil
der Kosten, die im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau entstehen, über Spenden finanzieren können. Es werden eine private Finanzierung und eine öffentliche Finanzierung angesagt sein und es werden Spenden notwendig
werden. Ich wünsche mir ganz persönlich, dass dieses Gebäude Räume enthalten wird, in denen die Stadt und unser Land große, internationale Konferenzen stattfinden
lassen können, wie es beispielsweise in der Hofburg der
Fall ist. Das kann nur mit der historischen Fassade geschehen.
Ich wünsche mir, dass die endgültige Abstimmung
hier im Bundestag in Kürze stattfinden kann. Ebenso
wünsche ich mir, dass die Fraktionen diese Abstimmung
freigeben,
({3})
damit die Abgeordneten so entscheiden können, wie es ihrer persönlichen Überzeugung entspricht. Ich bin sicher,
es wird eine Abstimmung sein, die zugunsten der historischen Fassade am Schlossplatz ausgeht.
Schönen Dank.
({4})
Herr Lammert, mit
Ihrer punktgenauen Einhaltung der Redezeit sind Sie bisher einsame Spitze. Anlass, das zu wiederholen, ist, dass
noch mehrere Redner kommen.
Jetzt erteile ich der Kollegin Petra Pau für die PDSFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Barthel war so freundlich,
den Inhalt des Berichtes der Expertenkommission hier im
Großen und Ganzen vorzustellen, und die Kollegin
Eichstädt-Bohlig ist nicht nur auf den Bericht eingegangen, sondern auch auf die noch vorhandenen Widersprüche, die weitere Debatte und Nacharbeit erfordern.
Das alles erspare ich mir schon also, auch deshalb, weil
ich insgesamt nur drei Minuten Redezeit habe. Danke,
liebe Kollegin und lieber Kollege.
Erstens. Wir begrüßen ausdrücklich die Empfehlung
der Expertenkommission zu einer öffentlichen Nutzung
dieses wichtigen Platzes der Bundesrepublik. Erinnern
wir uns: In den letzten Jahren, in denen auch der Streit geführt wurde, waren drei Plätze in dieser Stadt neu zu bestimmen: einerseits das inzwischen entstandene Parlaments- und Regierungsviertel, wo wir unseren Platz
gefunden haben und natürlich auch die Bundesregierung
und viele andere, andererseits der Potsdamer Platz, wo
auch öffentliche Nutzung stattfindet, sich aber gleichzeitig Wirtschaft und Geld repräsentieren. Nun haben wir
noch einen Platz und ich finde, das soll der Platz der Bürgerinnen und Bürger sein, nicht nur der Berlinerinnen und
Berliner, sondern der Bürger der Bundesrepublik. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich, hier eine Agora, also einen Marktplatz der Republik, zu schaffen.
({0})
Wenn ich mir das Nutzungskonzept ansehe, kann ich
mir vorstellen, dass auch dieses gemeinsam mit den vorgesehenen und eventuell noch dazu kommenden Nutzern
fortentwickelt werden kann und dabei auch die Überprüfung der Widersprüche, die die Kollegin Eichstädt-Bohlig
vorgestellt hat, stattfindet. Dann nämlich wird sehr
schnell herauskommen, ob die vorgesehenen Nutzer mit
manchen dieser innenarchitektonischen Probleme, die hier
dargestellt wurden, etwas anfangen können oder ob diese
Nutzung dort überhaupt möglich ist.
Ein zweiter Punkt. Wir stimmen heute über einen Antrag ab und nicht über die Frage „Bist du für oder gegen
ein Schloss?“, die hier immer über dem Raum schwebte
und wie es in mancher Zeitung angekündigt wurde. Wir
stimmen über einen Antrag ab, den die PDS-Fraktion am
6. April 2000, also vor zwei Jahren, gestellt hat. In diesem
Antrag geht es um die Zwischennutzung der Gewölbe
unter dem Nationaldenkmal. Ich füge einen weiteren Vorschlag hinzu, der in unserem Antrag steht. Ich denke, wir
müssen zügig auch über eine Zwischennutzung des Platzes und Rohbaus des Palastes der Republik sprechen,
({1})
nicht aus nostalgischen Gründen, sondern um diesen
wichtigen Platz wieder in das öffentliche Bewusstsein zu
rücken und dafür zu sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger
ihn wieder wahrnehmen. Der Zustand der subventionierten Verwahrlosung dieses Platzes einschließlich des darauf stehenden Gebäudes muss beendet werden. Wie sollen die Bürger sich sonst mit diesem Platz und dem darauf
entstehenden Neuen identifizieren?
Damit komme ich zum dritten und letzten Punkt. Herr
Kollege Rexrodt, Sie haben mich ein wenig enttäuscht.
Als solchen Pessimisten kenne ich Sie gar nicht, dass Sie
zukünftigen Generationen nun gar nichts mehr zutrauen
und deshalb auf Vergangenes zurückgreifen. Lassen Sie
uns nicht wieder in den alten Streit um die Frage „Schloss
oder Palast?“ zurückfallen, sondern lassen Sie uns die
vorhandenen Zeugen der Baugeschichte aufnehmen und
sehen, welche unterschiedlichen architektonischen Lösungen hier auch die Widersprüchlichkeit der Geschichte
dieses Platzes darstellen können.
({2})
- Nein, genau das will ich nicht.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Staatsminister Professor Dr. Julian Nida-Rümelin.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die meisten Architektinnen und Architekten - unter Denkmalschützern ist das wahrscheinlich
noch deutlicher - lehnen den Nachbau einmal ausgelöschter Gebäudeexistenzen ab. Renzo Piano hatte einmal vor dem Wiederaufbau des Stadtschlosses in Berlin
mit den Worten gewarnt: Die Vergangenheit zu kopieren
wäre für mich Selbstmord.
({0})
Auch die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in
Deutschland lehnte Anfang der 90er-Jahre den WiederDr. Günter Rexrodt
aufbau des Stadtschlosses ab, da die überlieferte materielle Gestalt als Geschichtszeugnis genauso unwiederholbar sei wie die Geschichte selbst.
Einzelne Experten aus Architektur, Stadtplanung und
Denkmalschutz haben in der nun über ein Jahrzehnt
währenden intensiven Debatte mit beachtenswerten
Gründen Gegenpositionen bezogen. Dies blieb aber immer eine deutliche Minderheit.
Außerhalb der Fachwelt allerdings scheint es zumindest innerhalb Berlins eine vielleicht nur relative, aber
doch stabile Mehrheit für den Wiederaufbau des Stadtschlosses zu geben. Die von Fachleuten vorgebrachten
Argumente, der Wiederaufbau eines vollständig zerstörten Schlosses sei historisch retrospektiv, politisch restaurativ, eine Geschichtsattrappe oder gar Las Vegas, ließen
die Befürworter in der Bürgerschaft Berlins weitgehend
unbeeindruckt.
({1})
Wenn es nun lediglich darum gegangen wäre, die Stellungnahmen von Expertinnen und Experten einzuholen,
({2})
dann hätte man die internationale Kommission nicht einsetzen müssen.
({3})
Eine Vielzahl von schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen lag schließlich schon Anfang Januar des vergangenen Jahres vor. Die Tendenz im Bereich der Architektur, der Stadtplanung und des Denkmalschutzes war
ziemlich eindeutig.
Sinn dieser Expertenkommission war ein anderer. Weder sollten vorgefasste Meinungen aufseiten der Politik
nachträglich durch eine Kommission bestätigt noch lediglich die vorhandenen Urteile aus der Fachwelt dupliziert werden.
({4})
Der Sinn der Expertenkommission war vielmehr, aus der
Sackgasse herauszuführen, in die die Diskussion geraten
war. Das ist ihr gelungen. Sie hat die Frage der kulturellen Nutzung an den Anfang und nicht - wie dies zuvor geschehen war - an das Ende gestellt. Sie hat einstimmig ein
Nutzungskonzept beschlossen, das in Abstimmung zwischen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, darunter insbesondere den außereuropäischen Sammlungen, der
Humboldt-Universität, den Wissenschaftssammlungen,
und der Bibliothek, zuletzt unter meiner Federführung
und in enger Abstimmung mit der Kultursenatorin Berlins
entwickelt worden war.
Diesen Konsens halte ich für eine der großen Leistungen dieser Kommission. Sie hat nämlich eine kulturelle
und öffentliche Nutzungsvorstellung entwickelt, die an
diesem Ort eine faszinierende Begegnung europäischer
und außereuropäischer Kulturen, die Verbindung von
Wissenschafts- und Kulturgeschichte und die tägliche
Faszination des Lebens - Entschuldigung: des Lesens miteinander kombiniert.
({5})
- Natürlich, als Begegnungsstätte hoffentlich auch die des
Lebens. Das ist akkurat.
Mit der Entscheidung für diese kulturelle Nutzung war
allerdings auch die Entscheidung gegen eine 1:1-Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses gefallen. Ein vollständiger Wiederaufbau des Stadtschlosses, der für die älteren historischen Schichten ohnehin schon technisch
kaum machbar gewesen wäre, ist mit dieser Nutzungsidee
unvereinbar.
Die Kommission hat sich mit überwältigender Mehrheit
und nach intensiver Diskussion für die Orientierung des
Neubaus an der Stereometrie des Hohenzollernschlosses
entschieden. Dies war nach meinem Eindruck nicht nur eine
Abfrage von vorab gebildeten Meinungen, sondern das Ergebnis von Abwägungen. Ich glaube, dass auch diejenigen,
die sich einen modernen Bau vorgestellt haben, angesichts
der städtebaulichen Gesamtsituation in der Mitte Berlins
- Herr Lammert hatte darauf hingewiesen - doch dafür plädierten, die topographische Rolle des alten Schlosses - sei
es auch in Gestalt eines modernen Baus - wiederherzustellen. Damit hat sie Alternativmodellen wie dem von Axel
Schultes, so durchdacht diese auch sind, eine Absage erteilt.
Durch die intensiven Beratungen wurden unterschiedliche Sichtweisen gegeneinander gestellt und abgewogen.
Gute Argumente hatten eine Chance zu überzeugen. Dies
gilt auch für den Umgang mit dem Palast der Republik.
Auch die Befürworter einer kulturellen Kontinuität der
DDR-Geschichte an diesem Ort - damit übertreibe ich
jetzt etwas - haben sich den städtebaulichen Argumenten
nicht verschlossen. So bitter dies für viele sein mag, die
an dieses Gebäude persönliche Erinnerungen knüpfen,
muss man doch feststellen: Es kann keinen Bestand haben, obwohl es ein gemeinsames Anliegen der Kommission war, die „Volkshaus“-Tradition auf der Agora des
Nutzungskonzeptes in veränderter Form fortzuführen.
Gewollt oder nicht hat diese Kommission zur Entideologisierung beigetragen. Die Überhöhung des Konfliktes
zu einem Kampf um die kulturelle Identität dieser Republik
gehört nach meinem Eindruck der Vergangenheit an. Die
dritte deutsche Republik - nicht die vierte - wird sich weder in der Kontinuität der Hohenzollerndynastie restaurativ
noch in der Tradition von „Honeckers Lampenladen“
nostalgisch, aber auch nicht angestrengt modernistisch definieren. Die dritte deutsche Republik sucht nicht erst nach
ihrer Definition an diesem Ort. Ihre kulturelle Substanz
wird an diesem Ort weder geschaffen noch zerstört werden.
Der Streit hatte sich zuletzt - gewissermaßen verdünnt auf die Frage konzentriert: Sollen in drei Himmelsrichtungen die Barockfassaden des Schlosses rekonstruiert werden
oder nicht? Hierzu gibt es nicht zwei, sondern drei Positionen. Es gibt die Befürworter, die Gegner und diejenigen,
die sagen: Wenn dies die beste Lösung ist, dann wird sie
sich gegenüber anderen, in der Stereometrie des Schlosses
gestalteten Lösungen behaupten. Sie wollen also diesen
Teilkonflikt, der übrig geblieben ist, in eine Diskussion
über die beste architektonische Lösung in dem von der
Kommission vorgegebenen Rahmen verlagern.
Es ist lange beraten worden. Die nächsten Schritte sollten zügig erfolgen. Sie können nur in enger Abstimmung
zwischen Bund und Land, und zwar nicht nur wegen der
vorgesehenen drei Hauptnutzer, gegangen werden. Es
geht nicht um die Antwort auf eine Identitätsfrage, sondern um eine überzeugende Lösung eines städtebaulichen
Problems in der Mitte Berlins. Dabei muss es uns um eine
sinnvolle kulturelle Akzentuierung an diesem Ort und
eine überzeugende ästhetische Gestaltung gehen.
Es darf keine Illusionen bezüglich der Finanzierung
geben. Zu oft wurden in den vergangenen Jahrzehnten
Kulturbauten auf dem sicheren Fundament von Selbstsuggestion und Kalkulationsschwäche errichtet. Ich sage
ganz offen: Mein Vertrauen in Fachleute ist in dieser Hinsicht auch aufgrund meiner Münchener Erfahrungen
gründlich erschüttert. Ich will mir ein realistisches Bild
machen. Das betrifft auch die Folgekosten für die vorgesehenen kulturellen Nutzungen und die Träger dieser
Nutzungen. Zügig soll es vorangehen, aber nicht kopflos.
Was ich dazu beitragen kann, will ich tun.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/9023, 14/9222, 14/9243 und
14/9244 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Die Überweisung ist so beschlosssen. Wir hoffen, dass Sie
zügig zu einem Ergebnis kommen.
Zusatzpunkt 15: Wir kommen zur Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses für Kultur und Medien auf der
Drucksache 14/6914 zu dem Antrag der Fraktion der PDS
mit dem Titel „Gewölbe unter dem ehemaligen National-
denkmal auf dem Berliner Schlossplatz für die Öffent-
lichkeit zugänglich machen“. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/3120 abzulehnen. Wer ist
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Gegen die Stimmen von der PDS und einem
Herrn von der FDP ist die Beschlussempfehlung ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Dr. Ditmar Staffelt,
Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner
Schulz ({1}), Hans-Josef Fell, Andrea Fischer
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nationales Luftfahrtforschungsprogramm fort-
setzen
- Drucksachen 14/8027, 14/8909 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Margrit Wetzel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Max Straubinger, Wolfgang Börnsen
({4}), Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Luftfahrtforschung voranbringen
- Drucksachen 14/7439, 14/8910
Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Schulz ({5})
Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind alle zu Pro-
tokoll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache
14/8909 zu dem Antrag der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Nationales Luftfahrtforschungsprogramm fortsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8027 anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/
CSU bei Enthaltung der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache
14/8910 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit
dem Titel „Luftfahrtforschung voranbringen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7439 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von
CDU/CSU bei Enthaltung der FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hartmut Schauerte, Wolfgang Börnsen
({7}), Hansjürgen Doss, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU
Für ein modernes Wettbewerbs- und Kartell-
recht in Europa
- Drucksachen 14/6634, 14/9213 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Uwe Jens
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind
Sie einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und teile mit, dass einige
Reden zu Protokoll gegeben worden sind.2) Einige Redner
möchten aber auch sprechen. Als Erster redet der Parla-
mentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt.
1) Anlage 5
2) Anlage 6
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten
Sie mir zu dem Antrag der CDU/CSU „Für ein modernes
Wettbewerbs- und Kartellrecht in Europa“ eine
grundsätzliche Bemerkung.
Das Wettbewerbsprinzip ist nach Auffassung der Bundesregierung ein tragender Pfeiler, wenn nicht sogar der
tragende Pfeiler unserer Wirtschaftsordnung. Denn ein
funktionsfähiger Wettbewerb ist der beste Garant für die
Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen
und preisgünstigen Produkten und Dienstleistungen.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich hinzufügen: Wir haben die Bevölkerung mithilfe des Wettbewerbs vor Preisdiktaten zu schützen. Darüber hinaus gilt:
Letztlich ist Wettbewerb auch ein Bestandteil der Verwirklichung von Gerechtigkeit in unserem Lande.
({1})
Denn für einige soziale Schichten sind bestimmte Produkte und Dienstleistungen nur dann erhältlich, wenn sie
zu vernünftigen, durch Wettbewerb geprägten Preisen angeboten werden.
Die Bundesregierung ist deshalb dem Wettbewerbsprinzip verpflichtet. Öffnung und Offenhaltung von
Märkten gehören zu den zentralen Aufgaben ihrer Wettbewerbspolitik. Dabei hat in einem zusammenwachsenden Europa die Bundesregierung natürlich immer schon
die europäische Dimension im Blick gehabt. Konkrete
Beispiele hierfür sind die Aufhebung von Rabattgesetzen
und Zugabeverordnung. Damit kann der Verbraucher nun
auch in Deutschland uneingeschränkt in den Genuss eines
europäischen Preiswettbewerbes gelangen.
Es ist einfach eine Tatsache, dass die alte Regierung
nicht die Kraft gehabt hat, die Abschaffung des Rabattgesetzes durchzusetzen, obwohl sie Gelegenheit dazu gehabt hätte.
({2})
Auch bei der anstehenden Revision des Rechts des
unlauteren Wettbewerbs wird es darum gehen, endlich
alte Zöpfe abzuschneiden in Übereinstimmung mit der
europäischen Rechtsentwicklung. Ganz konkret denke
ich dabei vor allem an die geltende Überreglementierung
des Sonderverkaufsrechts. Der mündige Verbraucher, der
vergleichen und bewerten kann, muss und will nicht vor
Preissenkungsaktionen geschützt werden. Angesichts
dessen, was sich zu Beginn des Jahres auf diesem Gebiet
in unserem Land ereignet hat, sind wir sicher alle der Auffassung, dass hier dringender Änderungsbedarf besteht.
({3})
Wir haben daher vieles angepackt, was jahrelang einfach
liegen geblieben ist.
Lassen Sie mich zum Antrag selbst ein paar Punkte herausgreifen, die nach unserer Auffassung schwierig sind.
In dem vorliegenden Antrag finden sich durchaus Gemeinsamkeiten. Dazu gehört zum Beispiel der Punkt, dass
in Zukunft die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
an der Fortentwicklung des europäischen Wettbewerbsrechts angemessen beteiligt werden müssen. Auch die
Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Wettbewerbsbehörden und der Kommission muss ohne jeden
Zweifel präzisiert werden. Die rechtsstaatlichen Standards bei Verfahren der Kommission gegen einzelne Unternehmen müssen gewährleistet sein. Seien Sie sicher
- das sage ich vor allem an die Adresse des Kollegen
Schauerte -, dass die Bundesregierung genau diese Position in allen laufenden Verhandlungen auf Ebene der Europäischen Union ständig mit Nachdruck vertritt.
({4})
Wir alle wissen auch: Die Reform des Kartellrechts ist
ein politisch sehr schwieriges Thema - gerade auch für
unser Land. An erster Stelle denke ich dabei an die geplante Abschaffung des geltenden Anmelde- und Genehmigungssystems für Kartelle und die Einführung des
Systems der so genannten Legalausnahme. Dieser Systemwandel wird von der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten unterstützt. Es war kein Geringerer als Ludwig Erhard, der das Anmelde- und Genehmigungssystem für
Kartelle in Europa und in Deutschland durchgesetzt hat.
Da wundere ich mich schon, dass sich nun die CDU/CSU
zum Advokaten der Abschaffung dieses Systems in
Europa gemacht hat.
Für die Bundesregierung steht jedenfalls eines fest:
Deutschland trägt die Einführung des Systems der Legalausnahme nur und erst dann mit, wenn am Ende der Verhandlungen klar ist, dass damit kein Verlust an Wettbewerbsschutz für unser Land verbunden ist.
({5})
Dies sollten auch Sie sich zum Ziel setzen; denn wir haben ein gut funktionierendes System, das den Systemen in
manch anderen europäischen Staaten überlegen ist und
bei uns für sehr viel mehr Wettbewerbskontrolle gesorgt
hat.
Für die Bundesregierung gehört dazu auch, Kartelle so
weit wie möglich für Wettbewerbsbehörden und Wettbewerber transparent zu machen - Stichwort Kartellregister.
Auch über die Haltung der Union zu einem weiteren politischen Hauptthema kann ich mich nur wundern. Das ist
die Frage des Verhältnisses von europäischem Wettbewerbsrecht zu nationalem Wettbewerbsrecht. Die Union
unterstützt hier die ursprünglichen Pläne der Europäischen
Kommission, das nationale Kartellrecht neben dem europäischen Kartellrecht nahezu vollständig auszuschalten. Lediglich für den Bereich der Missbrauchsaufsicht soll es vorläufig bei einer parallelen Anwendbarkeit des europäischen
und nationalen Wettbewerbsrechts bleiben.
Hier stellt sich im Ergebnis die Frage, ob das deutsche
Kartellrecht, das ich als das Grundgesetz der Marktwirtschaft bezeichnen möchte, in Zukunft faktisch einfach abgeschafft werden soll. Der deutsche Gesetzgeber dürfte
dann gar nicht mehr entscheiden, ob er das deutsche Recht
dem europäischen Recht anpasst oder nicht; er wäre einfach nicht mehr zuständig. Auch der Bundesrat hat diese
Diskussion geführt und ist zu dem Ergebnis gekommen,
diesen Ansatz abzulehnen. Mir ist unverständlich, Herr
Schauerte, wie eine Partei, die sich das Subsidiaritätsprinzip auf die Fahnen geschrieben hat, eine solche Forderung ohne weiteres gutheißen kann.
({6})
Aus sehr grundsätzlichen Erwägungen wird sich die
Bundesregierung weiterhin und im europäischen Kontext
für das deutsche Wettbewerbsrecht und den Schutz des
Wettbewerbs in Deutschland einsetzen. Es wäre gut, wenn
die Bundesregierung hierin vom gesamten Parlament in
ausreichender Weise unterstützt werden würde und wir in
dieser für den Ordnungsrahmen unserer Wirtschaft hoch
wichtigen Frage mit einer Stimme sprechen könnten. Deshalb befürwortet die Bundesregierung die Ablehnung dieses Antrags durch den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun der
Kollege Hartmut Schauerte für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren
vor der kleinsten denkbaren Besetzung in diesem Hause
über ein entscheidend wichtiges Thema.
({0})
Marktwirtschaft ist ohne einen vernünftigen Wettbewerb
mit klaren Regeln und klaren Sanktionen gar nicht denkbar. Eigentlich sollte das Wirtschaftsministerium in der
Bundesrepublik Deutschland richtigerweise Ministerium
für Wirtschaft und Wettbewerb heißen; denn Wettbewerb
ist die zweite tragende Säule einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft.
Ich bin immer dankbar, Herr Kollege Staffelt, wenn
man an Ludwig Erhard erinnert wird; er war einer der
ganz Großen, auf den wir nach wie vor stolz sind. Jedes
Mal, wenn Sie sich auf ihn berufen, erhöht es unseren
Stolz. Aber ich bin ganz sicher, dass Ludwig Erhard angesichts der europäischen Dimension unserem Antrag
nicht nur zugestimmt, sondern ihn noch etwas besser
selbst geschrieben hätte.
({1})
Insoweit müssen wir uns nicht streiten.
Wir diskutieren das deutsche und das europäische
Wettbewerbsrecht vor dem Hintergrund der Erweiterung
der Europäischen Union und des Globalisierungsprozesses. Daher bin ich davon überzeugt, dass wir mit einer
kleinkarierten und ängstlichen Politik des Festhaltens an
dem, was wir haben, die Herausforderungen nicht bestehen können. Wir haben gerade den Schlussbericht der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“
bekommen, in dem wir weitgehend in der Frage übereinstimmen, wie das internationale und globale Wettbewerbsrecht aussehen muss. Wir werden nicht weiterkommen, wenn Europa zunächst mit 16 und bald mit 25 unterschiedlichen Wettbewerbssystemen in diesem Konzert
mitspielen will.
Wir sind aufgefordert, kraftvoll und mutig, nicht aber
ängstlich ein eindeutiges europäisches Wettbewerbsrecht mit einem Level Playing Field für alle Partner in
Europa aufzubauen, um mit einem solchen modernen, zukunftsfähigen Wettbewerbsrecht in den Globalisierungsprozess einsteigen zu können, denn wir brauchen weltweit
immer dringender feste, verlässliche Wettbewerbsregeln.
({2})
Deswegen ist das, was Sie hier machen, rückwärts gewandt, zu ängstlich und nicht modern genug. Gerade
Ludwig Erhard wäre ein ganz moderner Wettbewerbswächter gewesen.
({3})
Wir sagen eindeutig Ja zum Systemwechsel. Wir halten ihn für geboten und für richtig. Wir wollen allerdings
- darin unterscheiden wir uns von der EU-Kommission ein Wahlrecht für die Unternehmen einführen. Warum
um alles in der Welt kann bei einem gewachsenen Wissen
um Wettbewerb nicht wie in allen anderen Bereichen vorgegangen werden, in denen Wirtschaftsteilnehmer agieren? Wenn sie dann gegen das Kartellrecht bzw. gegen das
Wettbewerbsrecht verstoßen, wird dieser Verstoß geahndet. Wenn sie Probleme haben, weil sie nicht wissen, ob
das, was sie vorhaben, unter Wettbewerbsgesichtspunkten
noch erlaubt ist oder nicht, dann wollen wir ihnen ein
Wahlrecht einräumen, sich ihr geplantes Vorgehen von
der Wettbewerbsbehörde bestätigen zu lassen. Warum um
alles in der Welt muss man alles, was man tut, erst anmelden? Wir wissen, dass über 80 Prozent der Fälle nie bearbeitet und entschieden worden sind, die Aktenberge aber
bis ins Unendliche wachsen. Warum haben wir nicht den
Mut - Sie wissen, dass die Legalausnahme kommt -, einen Systemwechsel vorzunehmen?
({4})
- Da stimmen wir wieder völlig mit Ihnen überein. Wir
haben das aber kommen sehen und gefordert, sich darauf
einzurichten.
Wir wollen bei der Legalausnahme natürlich keinen
Verlust im Hinblick auf die Strenge der Wettbewerbsregeln und die Ahndung von Wettbewerbsverstößen. Wir
wollen ein sehr strenges, kohärentes Wettbewerbsrecht.
Wir glauben, den richtigen Ansatz zu haben, der uns zu
mehr europäischer Einheitlichkeit führt. Wir wollen die
strengen Wettbewerbsmaßstäbe beibehalten und dulden
keine Abstriche an ihnen, aber wir wollen sie den Anforderungen entsprechend weiterentwickeln und europa- und
weltfähig machen.
Wir wollen klare gerichtliche Zuständigkeiten haben. Im Moment weiß niemand mehr sicher, vor welches
Gericht seine Causa gehört. In den verschiedenen europäischen Staaten gibt es unterschiedliche Rechtswege. In
dem einen Fall entscheiden die Kartellämter wie Gerichte; in dem anderen Fall sind es Gerichte, wobei nicht
sicher ist, ob die Zivilgerichte oder die Handelsgerichte
zuständig sind. Es ist ein Sammelsurium; wie Kraut und
Rüben geht es durcheinander. Wir haben bei der notwendigen Vereinheitlichung viel zu viel Zeit verloren. Insoweit waren die letzten vier Jahre keine Zeit für eine Renaissance des Wettbewerbsrechts, sondern eher eine Zeit
für den Abbau von Wettbewerb. Ich komme nachher noch
auf ein paar Punkte zurück, die die Bundesregierung betreffen. Wir wollen im Herbst mit einem neuen Wählerauftrag die Renaissance eines modernen Wettbewerbsrechts gestalten. Herr Staffelt, Sie werden sich wundern,
was uns alles gelingen wird.
({5})
Das wird dem deutschen und dem europäischen Standort
gut tun.
Wir wollen zum Beispiel Regelungen in das moderne
Wettbewerbsrecht einführen, nach denen auch privater
Schadenersatz durchgesetzt werden kann, wenn gegen
Wettbewerbsregeln verstoßen wurde. Das ist ein unglaublich heilsames Verfahren. Im Moment ahndet das Kartellamt einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht nur mit
Bußgeld. Aber was passiert eigentlich mit den Wettbewerbs- und Marktteilnehmern, deren Existenz durch
rechtswidriges Verhalten gefährdet oder zerstört worden
ist? Sie sollen einmal sehen, welche disziplinierende Wirkung bei allen Marktteilnehmern eintritt, sich korrekt zu
verhalten, wenn sich herumspricht, dass die Betroffenen
ihren aus Wettbewerbsverstößen resultierenden Schaden
zivilrechtlich geltend machen können, wenn sie ihn nachweisen können. Die Strafe, die das Kartellamt verhängt,
kann man sauber berechnen und im Prinzip einkalkulieren. Aber das, was passiert, wenn der Zivilrechtsanspruch
einer nicht bekannten Zahl von Betroffenen geltend gemacht wird, ist unkalkulierbar. Sie werden sich wundern,
wie sorgfältig die Rechtsabteilungen der betreffenden Unternehmen plötzlich das Kartellrecht beachten und dafür
sorgen werden, die Wettbewerbsregeln nicht zu verletzen,
um Schadenersatzpflichten zu entgehen. Das ist ein ganz
wichtiger Punkt, den wir schleunigst aufgreifen müssen.
Zur Subsidiarität. An der Schaffung des gemeinsamen
Kartellrechts sind wir natürlich voll beteiligt. Wir werden
ein gemeinsames Kartellrecht schaffen. Warum aber sollen wir dies nicht auch gemeinsam anwenden können?
Natürlich werden deutsche Gerichte darüber zu entscheiden haben, wenn in Deutschland gegen dieses gemeinsam
verankerte Wettbewerbsrecht verstoßen worden ist. Das
ist überhaupt kein Problem. Natürlich werden auch deutsche Kartellämter Verfahren betreiben können, wenn denn
der deutsche Markt betroffen ist.
Aber überall dort, wo nicht mehr nur der deutsche
Markt betroffen ist - dies nimmt doch täglich zu -, muss
dies europäisch und vor allem europaeinheitlich behandelt
und geahndet werden. Ich sehe hier kein Problem und kann
nicht verstehen, warum Sie einem intelligenten Antrag,
wie wir ihn formuliert haben, nicht zustimmen wollen.
Zum unabhängigen europäischen Kartellamt. Herr
Staffelt, darüber müssen wir in Zukunft reden. Wir brauchen ein unabhängiges europäisches Kartellamt, wie
wir es auch in Deutschland haben. Dies ist ganz wichtig.
Ich wäre froh, wenn die Bundesregierung dazu einmal
ihre Meinung äußern würde. Kann sie sich vorstellen,
dass es ein unabhängiges europäisches Kartellamt gibt,
das dann auch unabhängige Entscheidungen trifft?
({6})
Ich bin umso bereiter, kartellrechtliche Entscheidungen auf ein europäisches Kartellamt zu übertragen, je
sicherer ich sein kann, dass dort unabhängig entschieden
wird, und zwar in Anlehnung an die positiven Erfahrungen, die wir mit dem unabhängigen deutschen Kartellamt gewonnen haben. Lasst uns also daran gehen! In den
letzten vier Jahren gab es keinen einzigen Hinweis, dass
man daran arbeiten möchte.
Nun zur Ministererlaubnis, einem hochaktuellen
Thema.
({7})
Wir wissen, wie weit die Festlegungen bei diesem Punkt
überall gediehen sind. Unter wettbewerblichen und ordnungspolitischen Gesichtspunkten kann einem schlecht
werden, wenn man dies sieht, und kann man dies eigentlich nicht akzeptieren. Der Gemeinwohlnutzen ist keineswegs so ausreichend dokumentiert, dass man sagen kann:
Dafür dürfen wir die Wettbewerbsbenachteiligungen und
-verschlechterungen in Kauf nehmen.
Wir können uns aber vorstellen, dass man bei der Ministererlaubnis zu Veränderungen kommt. Wir werden
auch in Zukunft die Ministererlaubnis für vernünftig halten. Aber wäre es nicht vernünftig, Herr Staffelt, ein Verfahren zu finden, bei dem das Parlament, also im Zweifel
der Wirtschaftsausschuss, die Gemeinwohlvorteile am
Ende selber feststellen kann und muss, dass es also kein
rein exekutives Verfahren bleibt?
Das, was wir bei dieser Ministererlaubnis erlebt haben,
ist schon abenteuerlich. Der Bundeskanzler und der Wirtschaftsminister haben den Antragstellern bereits, ehe der
Antrag gestellt wurde, zugesagt: Das machen wir.
({8})
Deswegen hatten sie überhaupt keine Veranlassung mehr,
noch kompromissbereit zu sein. Reden Sie einmal mit den
Kartellamtsvertretern, die diese Verhandlungen geführt
haben. So hochnäsig wie diese ist noch kein Antragsteller
dahergekommen. Man hatte die Zusage der Regierung ja
bereits in der Tasche. Warum sollte man sich dann noch
die Mühe machen, Kompromisse zu finden, die geeignet
wären, die Wettbewerbsverletzungen vernünftig zu reduzieren? Dies sind also sehr schwierige Verhältnisse.
Ich erspare es mir jetzt, eine Liste aus den Bereichen
Post, Energie, Bahn und Telekommunikation vorzulegen,
wo der Wettbewerb in den letzten Jahren schlechte Zeiten
hatte. Ich kann den Betroffenen nur versprechen: Mit uns
werden die Zeiten wieder besser.
({9})
Wir werden ein aktives Wettbewerbsregiment einführen.
Herr Tauss, auch Sie werden dann Ihre helle Freude haben, allerdings aus der Sicht der Opposition.
({10})
Ich bedanke mich fürs Zuhören und wünsche der Versammlung noch einen ordentlichen Verlauf.
({11})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Ditmar Staffelt das
Wort.
Herr Abgeordneter
Schauerte, sind Sie bereit - ich hoffe, Sie sind dazu bereit -, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Prozedere zur
Ministererlaubnis nach Recht und Gesetz vor sich geht
und dass es keinerlei Zusagen seitens eines Mitgliedes der
Bundesregierung gegenüber den Antragstellern gegeben
hat und gibt?
({0})
Ich möchte dies hier für die Bundesregierung klarstellen, damit keine Gerüchte in die Welt gesetzt werden,
die durch nichts, aber auch gar nichts, gerechtfertigt sind.
Ich möchte Sie auch bitten, derlei Unterstellungen, wo
immer Sie auftreten, zu unterlassen.
({1})
Herr Kollege Schauerte,
zur Erwiderung.
Herr Kollege
Staffelt, genau dazu bin ich nicht bereit; denn das, was wir
bisher aus diesem Bereich gehört haben, rechtfertigt die
von mir abgegebene Behauptung. Es hat Zusagen gegeben, aufgrund deren sich die Antragsteller sicher sein
konnten, am Ende die Erlaubnis zu erhalten. Sie brauchten von Anfang an die Mühen der Kompromisse und der
Kompromisssuche nicht auf sich zu nehmen. Das ist von
den Behörden, die mit ihnen zu tun gehabt haben, im
Übrigen auch bestätigt worden.
({0})
Herr Kollege Staffelt, das Verfahren war von Anfang
an nicht sauber.
({1})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Uwe Jens für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich hätte meine Rede am liebsten mit Herrn
Schauerte zusammen zu Protokoll gegeben. Das ging aber
nicht, da ich mir nur Stichworte notiert habe. Diese kann
man nicht zu Protokoll geben, da sie niemand lesen kann.
({0})
Es wäre mit der Geschäftsordnung nicht unbedingt vereinbar, dass man seine Notizen ausformuliert.
({1})
- Das finde ich auch.
Zu dieser Ministerangelegenheit kann ich nur wenig
sagen. Das Verfahren ist im Ministerium anhängig. Ich
bin aber schon der Ansicht, dass die dort anstehende Entscheidung natürlich nach Recht und Gesetz getroffen
werden sollte. Es ist im Übrigen nicht das Thema unseres
heutigen Abends.
({2})
Unser Thema ist der Antrag der CDU/CSU, in dem es um
die Neuordnung des Wettbewerbsrechts geht.
Herr Schauerte, zu Ihrem Antrag kann ich nur sagen,
dass aus meiner Sicht die Gefahr besteht, dass das stringente Wettbewerbsrecht, das wir wirklich haben und das
auch immer Vorbild für das europäische Wettbewerbsrecht war - die Europäer haben unsere Fusionskontrolle,
unsere Missbrauchskontrolle und unsere Bestimmungen
über das Kartellverfahren übernommen -, aufgeweicht
wird, weil man sich dem lascheren europäischen Recht
angleichen will. Der Antrag, den Sie, Herr Schauerte, vorgelegt haben, zielt in diese Richtung.
Im Übrigen entspricht er in etwa den Wünschen des
Bundesverbandes der Deutschen Industrie.
({3})
Dass die natürlich gerne ein etwas lascheres Wettbewerbsrecht hätten, liegt auf der Hand. Ich bin schon lange
davon abgegangen, zu behaupten, dass alles, was von der
Opposition kommt, schlecht ist. Das kann man so nicht
sagen.
({4})
Umgekehrt muss auch nicht alles, was von der Regierung
kommt, unbedingt immer gut sein. Das lässt sich gar nicht
leugnen.
({5})
Ich finde, wir als Politiker sollten einige Grundsätze im
Kopf behalten, wenn wir unsere Demokratie nicht kaputtmachen wollen. Die Grundsätze im Bereich des Wettbewerbsrechts sind aus meiner Sicht von Walter Eucken aufHartmut Schauerte
gestellt worden. Er hat definiert, dass man Wettbewerb
dringend benötigt, um die Machtballung in der Wirtschaft zu verringern und um die Macht ein wenig zu kontrollieren. Damit hat der alte Eucken immer noch Recht;
Erhard hat das übernommen. Hayek hat gesagt, dass wir
unbedingt Wettbewerb brauchten, um das so genannte
Entdeckungsverfahren in der Wirtschaft in Gang zu setzen, um - anders ausgedrückt - Innovationen voranzubringen. Damit hat auch Hayek Recht.
Je mehr Wettbewerb und je mehr Rivalität es in der
Wirtschaft gibt, desto eher findet etwas Neues statt und
desto mehr bahnbrechende Neuerungen in der Wirtschaft
gibt es. Insofern würde ich allen ins Stammbuch schreiben, Wettbewerb als Voraussetzung für Innovationen anzusehen. Ich füge gerne hinzu - mein Kollege Staffelt ist
ja noch anwesend -, dass es auch auf dem Gas- und dem
Elektrizitätsmarkt Wettbewerb geben muss. Das ist unter
anderem für Neuerungen in der deutschen Wirtschaft
wichtig.
({6})
- Um Himmels Willen, ich werde kein Staatssekretär
mehr. Das habe ich sowieso schon aufgegeben.
({7})
Wir müssen Grundsätze einhalten. Zurzeit werden
viele Grundsätze über Bord geworfen. Jetzt ist nur noch
Herr Brüderle da. Aber wenn Herr Möllemann nach
Mehrheiten schielt, um gegen Minderheiten Front zu machen, dann ist das sehr gefährlich.
({8})
Wir verlassen unsere anerkannten Prinzipien. Einige
nennen das Tabubruch. Ich meine, man muss hinterfragen, ob die Tabus immer noch richtig sind. Viele brauchen
wir dringend und müssen sie erhalten. Das gilt auch für
das Wettbewerbsprinzip. Das müssen wir aus den von
mir genannten Gründen dringend erhalten und mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Was den Antrag angeht, den ihr vorgelegt habt, stimme
ich euch in dem Punkt zu, Hartmut, in dem es darum geht,
dass die EU-Kommission bzw. Herr Monti dafür eintreten, dass in Kartellverfahren in Zukunft bei vorhandenem
Verdacht gleich Hausdurchsuchungen durchgeführt werden können. Ein guter Manager bewahrt aber seine Kartellunterlagen nicht zu Hause auf. Das ist geradezu lächerlich. Deshalb sollte dieses Vorhaben schnell wieder
gestrichen werden; denn die Freiheit ist ebenso wie die
Unantastbarkeit des Hauses ein sehr wichtiges Gut.
({9})
Ich muss aber auch darauf hinweisen - der Kollege
Staffelt hat es bereits angesprochen -, dass horizontale
Kartelle bei uns generell verboten sind. Das war Erhards
Prinzip. Es gab ein paar Ausnahmen, die im Kartellrecht
ausdrücklich aufgeführt worden sind. Wer eine Ausnahme
wollte, musste sich an das Kartellamt wenden. Ihr aber
wollt nun generell davon ausgehen, dass zunächst einmal
immer Ausnahmen möglich sind und jemand erst dann,
wenn er dagegen verstößt, unter Umständen belangt werden kann. Das wird auf Hochdeutsch Legalausnahme
genannt. Im Grunde führt das dazu, dass das alte erhardsche
Prinzip angetastet wird und dass es zu einer verstärkten
Kartellbildung in der Wirtschaft kommen wird, wie es sie
in der Weimarer Republik gegeben hat. Das ist nicht akzeptabel. Herr Tauss - er redet gerade - hat vorhin bereits
festgestellt, dass sich Ludwig Erhard im Grabe umdrehen
würde, wenn er das erfahren würde. Wir haben im Übrigen im Wirtschaftsausschuss drei Monate, bevor ihr den
Antrag eingebracht habt, einstimmig beschlossen, dass
diese Regelung für uns nicht infrage kommen kann.
({10})
Ich füge gerne noch hinzu - die Präsidentin ermahnt
mich aber schon -, dass ich auch von Herrn Monti in der
letzten Zeit einiges gehört habe, was nicht vernünftig und
akzeptabel ist.
({11})
Mit der Begründung, er habe so viel zu tun, will er die so
genannte Legalausnahme einführen. Andererseits aber will
er mehr Fusionen bzw. Unternehmenszusammenschlüsse
kontrollieren. Das widerspricht sich per se. Er will Unternehmenszusammenschlüsse insbesondere im Hinblick auf
Effizienzgesichtspunkte kontrollieren, wie es das in Amerika gibt. Diese liegen bei jedem Fusionsvorhaben vor. Die
Kapitalrentabilität steigt immer, aber gleichzeitig werden
auch viele Arbeitnehmer auf die Straße gesetzt.
Herr Kollege Jens, Sie
haben so charmant auf das Blinken hingewiesen. Ich muss
Sie jetzt noch einmal ganz charmant darauf hinweisen,
dass die Redezeit weit überschritten ist.
Dann komme ich zum Schluss. Herr Monti hat einige Ideen, die wir nicht akzeptieren können. Aber wir dürfen auch nicht immer alle Stichworte akzeptieren, die uns die Lobby - in diesem Fall der BDI vorgibt.
({0})
Wir müssen unsere Grundsätze, die wir alle einmal entwickelt haben, im Blick behalten. Wenn wir das nicht tun,
dann ist unsere Demokratie insgesamt in Gefahr.
({1})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksa-
che 14/9213 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU
mit dem Titel „Für ein modernes Wettbewerbs- und
Kartellrecht in Europa“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/6634 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim-
men der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und b auf:
a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({0}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Monitoring „Kernfusion“
- Drucksache 14/8959 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zukunftsorientierte Energieforschung Fusionsforschung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martin
Mayer ({3}), Dr. Gerhard Friedrich
({4}), Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Kernfusionsforschung für eine zukünftige
Energieversorgung
- Drucksachen 14/3813, 14/4498, 14/8660 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Ulrich Kasparick
Dr. Martin Mayer ({5})
Hans-Josef Fell
Angela Marquardt
Die Kolleginnen und Kollegen Ulrich Kasparick,
Dr. Martin Mayer, Hans-Josef Fell und Angela Marquardt
sowie der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael
Catenhusen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/8959 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/8660. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf
Drucksache 14/3813 mit dem Titel „Zukunftsorientierte
Energieforschung - Fusionsforschung“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/4498 mit dem Titel „Kernfusionsforschung für eine zukünftige Energieversorgung“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen
({7}), Dr. Hansjürgen Doss, Matthias
Wissmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({8}), Gunnar
Uldall, Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Unternehmer im Netzwerk - für eine Kultur
der Selbstständigkeit
- Drucksachen 14/5838, 14/6866, 14/8171,
14/9214 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Auch hier haben sich alle Redner entschlossen - Ihr
Einverständnis setze ich voraus -, ihre Reden zu Protokoll
zu gegeben. Es sind die Kolleginnen Jelena Hoffmann,
Michaele Hustedt und Gudrun Kopp sowie die Kollegen
Rolf Kutzmutz, Wolfgang Börnsen und der Parlamentari-
sche Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt.2)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/9214 zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zu der Großen Anfrage
der CDU/CSU mit dem Titel „Unternehmer im Netzwerk für eine Kultur der Selbstständigkeit“. Der Ausschuss
empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache
14/8171 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU
und FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft ({9})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Gesamtwaldbericht
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeord-
neten Heidemarie Wright, Brigitte Adler,
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 7 2) Anlage 8
Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Steffi Lemke, Ulrike Höfken, Kerstin Müller
({10}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN zu der Un-
terrichtung durch die Bundesregierung
Gesamtwaldbericht
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Gesamtwaldbericht
- Drucksachen 14/6750, 14/8036, 14/8037,
14/8831 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Bleser
Die Kolleginnen Heidi Wright, Steffi Lemke und Eva
Bulling-Schröter sowie die Kollegen Reinhard Freiherr
von Schorlemer und Ulrich Heinrich wollen ihre Reden
zu Protokoll geben.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung
und Landwirtschaft auf Drucksache 14/8831. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung,
in Kenntnis des Gesamtwaldberichts den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 14/8036 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
von CDU/CSU und FDP angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss, in Kenntnis des Gesamtwaldberichts den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/8037 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Brunhilde Irber, Annette Faße, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Sylvia Voß,
Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Tourismus im ländlichen Raum nachhaltig
stärken
- Drucksachen 14/7300, 14/9192 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Brunhilde Irber
Auch hier haben alle Rednerinnen und Redner ihre Re-
den zu Protokoll gegeben. Es sind die Kolleginnen Birgit
Roth, Annette Faße, Sylvia Voß und Rosel Neuhäuser so-
wie die Kollegen Ernst Hinsken, Thomas Dörflinger und
Ernst Burgbacher.2)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Druck-
sache 14/9192 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Den Tou-
rismus im ländlichen Raum nachhaltig stärken“. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7300 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 393 zu Petitionen
({13})
- Drucksache 14/9156 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 394 zu Petitionen
({15})
- Drucksache 14/9157 -
Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der PDS
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
fünf Minuten erhalten soll.
Die Kolleginnen Erika Lotz und Dr. Irmgard
Schwaetzer sowie die Kollegen Matthäus Strebl und
Helmut Wilhelm haben ihre Reden bereits zu Protokoll
gegeben.3)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Heidi Lüth für die Fraktion der PDS.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Eisenbahnerinnen und Eisenbahner waren stets auch Nachtarbeiterinnen und Nachtarbeiter und sie sind es heute noch. So wird ihnen hoffentlich nur Lob für die Abgeordneten in den Sinn kommen,
wenn wir die Debatte über die Änderungsanträge zu den
vorliegenden Petitionen in den heutigen Nachtstunden
führen, zu denen ich auch einige Petenten persönlich begrüßen darf.
({0})
Änderungsanträge zu Petitionen sind selten. Die ge-
ringe Anzahl weist auch darauf hin, dass die Opposition
sehr verantwortungsvoll mit diesem Instrument umgeht.
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 9
2) Anlage 10
3) Anlage 11
Die Petitionen, zu denen meine Fraktion Änderungsanträge eingebracht hat, sind 1998 an den Petitionsausschuss des Bundestages übersandt worden. Es handelt
sich hierbei um 4 700 Eingaben, denen sich 48 600 Menschen durch Unterschrift angeschlossen haben, sowie um
33 000 Massenpetitionen.
Welch eine Kraft, welch ein Wille steckt eigentlich hinter einem solchen demokratischen Anliegen, aber auch
welche Hoffnung und welches Vertrauen auf sorgfältige
Prüfung und Hilfe! Es ist vor allem die Hoffnung, dass die
Forderungen durch den Gesetzgeber und nicht erst durch
den Druck und den Zwang einer Bundesgerichtsentscheidung erfüllt werden.
Mit den Petitionen wird nicht nur die Überführung der
Rentenansprüche der ehemaligen Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post der DDR in die
gesetzliche Rente kritisiert, sondern darüber hinaus auch
die Wiedergewährung des Versorgungsanteils aus den
Systemen der Altersversorgungen der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post gefordert. Der Forderung
der Betroffenen, eine gesetzliche Klarstellung für die
Jahre 1971 bis 1973 für diejenigen zu erwirken, die nicht
in die FZR eingetreten sind, wurde per Gesetz entsprochen. Darauf zielt auch die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses, wogegen jetzt diese Änderungsanträge formuliert wurden.
Das ist für mich umso verwunderlicher, da doch auch
die Kollegin Nolte und der Kollege Grund von der
CDU/CSU-Fraktion in den Jahren ihrer Oppositionszeit
mit großer Energie parlamentarisch und außerparlamentarisch für die Interessen der Betroffenen stritten. Verschweigen möchte ich auch nicht, dass die Petenten ihre
Petitionen just nach dem Wahlsieg von Rot-Grün eingebracht haben, sicher in der Hoffnung, jetzt werde das
Wahlversprechen umgesetzt. Und dann das!
Doch nun zu den offenen Forderungen und damit auch
zu den Änderungsanträgen der PDS-Fraktion. Die Rentenüberleitung hat sich in den vergangenen Jahren als eine
Geschichte der Gerichtsurteile und deren knappester Auslegung und Umsetzung in gesetzlichen Regelungen gezeigt. In ihr spiegelt sich der Wechsel zwischen den Regierungskoalitionen besonders krass wider.
Im Kern geht es immer um die Frage: Welche Bedeutung haben die Regelungen des Einigungsvertrages und
welchen Stellenwert haben die gesetzlichen Ansprüche
und Anwartschaften in der Rentenversicherung nach dem
Beitritt? Fallen diese Ansprüche wie die Ansprüche der
Bürgerinnen und Bürger der alten Bundesländer unter den
Eigentumsschutz nach Art. 14 des Grundgesetzes?
Um es für alle Nichtexperten etwas zu verdeutlichen,
darf ich die berühmte Frage des Verfassungsrichters
Grimm bei der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht 1999 einmal sinngemäß zitieren: Wenn ein Bürger
am 2. Oktober 1990 Eigentümer eines Trabbis gewesen
ist, war dieser Trabbi nach dem 3. Oktober 1990 dann weiterhin sein Eigentum?
({1})
So wurde ein Regierungsvertreter gefragt. Zum Zweiten
wurde gefragt: Und wie würden Sie die Frage in Bezug
auf rechtmäßig erworbene Renten- und Versorgungsansprüche beantworten? Die Antwort lautete, selbstverständlich sei auch nach dem 3. Oktober 1990 der Trabbi
Eigentum des Bürgers geblieben, aber die Renten- und
Versorgungsansprüche seien untergegangen. Was nicht
übernommen wurde, ist eben untergegangen.
Das Bundesverfassungsgericht hat meines Erachtens
in dieser Frage anders entschieden; denn es sagt ganz
deutlich in der Entscheidung:
Auch in der DDR erworbene und im Einigungsvertrag nach dessen Maßgaben als Rechtsposition der
gesamten Rechtsordnung anerkannte Ansprüche und
Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen genießen den Schutz des Art. 14. Zwar entfaltet Art. 14 Grundgesetz seine Schutzwirkung nur
im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Die in der
DDR erworbenen Rentenansprüche und -anwartschaften gelangten jedoch mit dem Beitritt und der
Anerkennung durch den Einigungsvertrag wie andere vermögenswerte Positionen in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes.
Eine weitere Grundlage, mit der die Forderung der Eisenbahner und der Postler unterstützt werden kann, bietet
der Einigungsvertrag in Anlage II, Sachgebiet H.
Mehr als 90 000 Eisenbahner und Postler haben sich mit
großer Hoffnung an den Petitionsausschuss gewandt. Ich
weiß natürlich auch, dass die Umsetzung der rentenrechtlichen Ansprüche, die auf Verwaltungsakten der DDR beruhen, nicht zum Nulltarif zu haben sind. Ich weiß, was es
kostet. Aus der Bearbeitung vieler Petitionen weiß ich aber
auch, dass die Betroffenen ins Grundgesetz schauen und
darauf vertrauen wollen, dass ihre Ansprüche in diesen
Fragen unter den Schutz des Grundgesetzes fallen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es macht für
die Betroffenen, für ihr Verständnis von Demokratie, für ihr
Rechtsverständnis schon einen riesigen Unterschied, ob
ihre Ansprüche durch uns, durch das Parlament, anerkannt
und in Gesetze gegossen werden oder ob es, wie in vielen
Fällen, erst der Entscheidung oberster Gerichte bedarf.
Frau Kollegin Lüth,
ich muss Sie dringend an Ihre Redezeit erinnern.
Ich komme zum Schluss. Der Finanzminister stöhnt ohnehin.
Da die Bundesregierung vor kurzem einen sehr guten
Schritt gewagt hat, nämlich die Anwartschaften für Blinden- und Sonderpflegegeld in der DDR in einer gesetzlichen Regelung zu überführen, denke ich, dass man das
auch mit den weiteren Anwartschaften tun könnte. Deshalb bitte ich darum, diese Petition als Material zu überweisen.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Ich rufe zunächst die Sammelübersicht 393 auf Drucksache 14/9156 auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion der PDS vor, über den wir zuerst abstimmen werden. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/9158? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDSFraktion abgelehnt.
Wer stimmt nun für die Sammelübersicht 393? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 393 ist damit gegen die Stimmen der PDS-Fraktion
angenommen.
Ich rufe jetzt die Sammelübersicht 394 auf Drucksache
14/9157 auf. Hierzu liegt ebenfalls ein Änderungsantrag
der Fraktion der PDS vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/9159? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Keine. Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt jetzt für die Sammelübersicht 394? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 394 ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe als Letztes den Zusatzpunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Margrit Wetzel, Dr. Rainer Wend, Dr. Axel
Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz
({0}), Andrea Fischer ({1}), Michaele
Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Weltweite Märkte für Meerestechnik erschließen
- Drucksache 14/9223 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Was Wunder, die Kolleginnen und Kollegen Dr. Margrit
Wetzel, Wolfgang Börnsen, Hans-Josef Fell, Ulrike Flach
und Wolfgang Bierstedt haben ihre Reden ebenfalls zu
Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/9223 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 7. Juni 2002, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.