Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/6/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Klaus Lippold von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Unionsfraktion hat vorsorgender Verbraucherschutz absolute Priorität. ({0}) - Bleiben Sie ganz ruhig! - Vorsorgender Verbraucherschutz ist Gesundheitsschutz, der gewährleistet werden muss. ({1}) Frau Ministerin Künast hat bei ihrem Amtsantritt unendlich hohe Erwartungen geweckt. ({2}) Ich sage hier: Sie hat diese Erwartungen enttäuscht. ({3}) Sie hat angekündigt, aber nicht gehandelt. Bei jedem Skandal gab es neue Ankündigungen. Heute erleben wir es wieder. Warum, Frau Ministerin, haben Sie nicht früher gehandelt? Sie hätten ausreichend Zeit gehabt. ({4}) Da Sie aufseiten der SPD meiner Argumentation nicht folgen können, will ich aus dem „Spiegel“ zitieren: Schwer getroffen: die forsche Verbraucherschutzministerin Renate Künast ..., die vorerst die Aura der grünen Wunderfrau eingebüßt hat. Nicht nur in Brandenburg, überall in deutschen Amtsstuben versickerten monatelang Warnhinweise auf NitrofenFunde, als wäre immer noch Künasts lascher Vorgänger ... im Dienst. Das ist die Gleichsetzung von Frau Künast mit Herrn Funke, den der Kanzler damals gefeuert hat, weil er die Verantwortung nicht übernehmen wollte. Herr Schröder feuert diese Ministerin nicht - er müsste vor der Wahl eigentlich eine ganze Reihe von anderen Ministern feuern; ich verweise nur auf Scharping -, ({5}) sondern lässt diese unfähige Ministerin im Amt. ({6}) Ich kann neben dem „Spiegel“ - damit Sie von der SPD-Fraktion beruhigt sind - noch andere Quellen zitieren: Natürlich ist auch die grüne Ministerin beschädigt. ({7}) Renate Künast hat den Mund zu voll genommen. Sie trägt zudem Mitverantwortung für das Versagen eines immer noch nicht hinlänglichen Kontroll- und Meldesystems. Damit wird das, was ich eben gesagt habe, von neutraler Seite bestätigt. Wir machen keine Polemik, ({8}) wir begründen, warum wir kritisieren. Sie müssen diese Kritik schon ertragen. ({9}) - Wer laut ist, hat nicht immer Recht. ({10}) Deshalb zitiere ich leise Stimmen aus dem sozialdemokratischen Bereich, die aber nicht überhört werden sollten. Niedersachsens Landwirtschaftsminister Bartels sagte, die einseitige Grünen-Politik nach dem Motto „Öko ist gut und sicher und konventionell ist weniger gut und sicher“ sei schon immer ein Trugschluss gewesen. Die Ministerin solle deshalb in sich gehen und die von ihr seit eineinhalb Jahren verantwortete Politik der Bundesministerin Renate Künast Polarisierung überdenken. - Diese Aussage von Herrn Bartels ist richtig. ({11}) Ich sage ganz offen, Frau Künast: Ihre Politik des übereilten, hastigen und nassforschen Herangehens an die Verwirklichung der 20-Prozent-Zielsetzung hat den ökologisch wirtschaftenden Betrieben geschadet. ({12}) Gerade dieser Skandal zeigt, dass Sie das Ziel Klasse statt Masse nicht erreicht haben. Durch die Herabsenkung der Anforderungen bei Ihrem Ökosiegel haben Sie Masse statt Klasse im Ökobereich erreicht. Das ist falsch, das sollten Sie überdenken. ({13}) Ich zitiere nun - wiederum für die Freunde aus der SPD - Friedhelm Farthmann: ({14}) Offensichtlich funktioniert jedoch ihr Apparat nicht richtig. Der ist den von ihr lauthals propagierten Ansprüchen nicht gerecht geworden. Nach den Grundsätzen der politischen Verantwortung hat die Landwirtschaftsministerin dafür einzustehen. ({15}) - Das sagt ein fachkundiger Kollege der SPD, den Sie jetzt niederbrüllen wollen, weil Ihnen das nicht passt. Wir kritisieren mit Fachleuten aus Ihrem eigenen Bereich die grüne Verbraucherschutzministerin. Das ist keine einseitige Kritik, das ist schon flächendeckende Kritik. ({16}) Frau Ministerin Künast, Sie haben am Wochenende vorschnell das Ende des Skandals verkündet, obwohl es noch gar nicht feststeht, und damit wissenschaftliche Sachverhalte ignoriert oder schlicht nicht gewusst. Ihr Kollege Backhaus aus Mecklenburg-Vorpommern spricht davon, dass eine so hohe Kontamination des Futterweizens nicht allein durch die Verseuchung der Halle in Malchin verursacht worden sein kann. Dem muss man nachgehen. Man kann nicht als Ankündigungsministerin und Macherin einen Skandal vorzeitig für beendet erklären, der noch nicht beendet ist. ({17}) - Herr von Larcher, Ihre Zurufe sind so unerträglich wie sachlich falsch. Wenn das von mir so unrichtig gewesen wäre, wie Sie es mit Ihren Zurufen behaupten, dann hätte doch der Parlamentarische Staatssekretär Thalheim anders reagiert. Ich zitiere „ddp“: Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium, Gerald Thalheim ({18}), widerspricht der Einschätzung, der Nitrofen-Skandal sei bereits aufgeklärt. Es wäre leichtfertig, zu behaupten, die Quelle für die Verseuchung des Futterweizens sei gefunden, ... Damit wandte er sich gegen die Ansicht seiner Ministerin Renate Künast ..., die am Wochenende feststellte, dass die Ursachen für die Verunreinigung des Futterweizens ermittelt worden seien. ({19}) Frau Ministerin, das kommt aus Ihrem eigenen Haus und nicht von der Union. Herr von Larcher, gehen Sie zu Herrn Thalheim und lassen Sie sich von ihm informieren! ({20}) Lernen Sie daraus, statt hier mit Geschrei von den eigentlichen Verantwortlichkeiten abzulenken! Frau Ministerin, Sie haben heute davon gesprochen, dass neue Strukturen geschaffen werden sollen. Das hätte schon viel früher geschehen müssen; wir haben darauf hingewiesen. Indem wir dies angemahnt haben, haben wir die Konsequenzen aus dem von-Wedel-Gutachten gezogen. Sie haben eine Vielzahl neuer Behörden angekündigt. Frau Künast, auch hier macht es nicht die Masse. Wir wollen, dass die Informationsstränge schnell und sicher laufen, dass Verantwortlichkeiten konzentriert werden und dass es rote Telefone von ganz unten bis zu Ihnen gibt, damit innerhalb kürzester Zeit etwas geschehen kann und Sie die Vorwürfe nicht noch einmal hören müssen, die in der Presse erhoben werden und besagen, dass Sie geschlampt hätten. Jetzt haben Sie wieder etwas angekündigt. Wir werden verfolgen, was aus dieser Ankündigung wird, Frau Ministerin. Vermutlich wird aber alles beim alten Schlendrian bleiben. ({21}) Sie haben versucht, diese Krise zu missbrauchen. ({22}) Frau Ministerin, Sie haben den Anschein erweckt, als sei diese Krise mithilfe des Verbraucherinformationsgesetzes zu lösen. Ich sage ganz eindeutig: Alle notwendigen Handlungen hätten ohne das Verbraucherinformationsgesetz geregelt werden können. Die nötigen Ergänzungen mussten nicht im Verbraucherinformationsgesetz, sondern konnten in anderen Gesetzen vorgenommen werden. Unsere Vorschläge dazu haben Sie im Ausschuss von Ihrer Mehrheit ablehnen lassen. Wir wollten, wir wollen und wir werden konstruktiv mitarbeiten, aber das setzt auch Aufgeschlossenheit bei denen voraus, die arrogant auf der Regierungsbank und auf einer knappen Koalitionsmehrheit sitzen. ({23}) Dr. Klaus W. Lippold ({24}) Wir haben das Verbraucherinformationsgesetz nicht akzeptiert, weil es mit heißer Nadel genäht ist und nicht sicherstellt, dass vernünftige, fachlich aufbereitete Informationen zügig zu den Verbrauchern gelangen. Sie ignorieren Kritik in der Sache und versuchen es dann so darzustellen, als seien wir gegen Verbraucherschutz. ({25}) Das ist falsch. Unsere fachlich guten Vorschläge haben Sie abgebürstet. ({26}) Daher müssen Sie auch die Verantwortung dafür tragen, wenn wir einem schlechten Gesetz nicht zustimmen. ({27}) Frau Ministerin Künast, Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen: Worüber hätten Sie denn die Verbraucher mit dem neuen Verbraucherinformationsgesetz informieren wollen, wenn Sie laut Ihren eigenen Angaben trotz des Geredes auf unterschiedlichsten Ebenen nichts gewusst haben? Oder wollen Sie wieder ablenken und Allgemeinplätze servieren? ({28}) Nein, Sie haben nichts gewusst; Sie hätten nicht informieren können. Deshalb ist das Verbraucherinformationsgesetz der absolut falsche Weg. ({29}) So kann das nicht laufen, so werden wir das nicht akzeptieren. ({30}) Frau Höfken, Sie haben gerade im Fernsehen Sendezeit genutzt, um schnell falsche Informationen zu verbreiten, die sich in der Kürze der Zeit nicht widerlegen lassen. Kehren Sie doch zur Sachlichkeit zurück; werden Sie konkret! ({31}) Lassen Sie allgemeine Behauptungen! Dann kommen wir ein Stück weiter. ({32}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden uns nicht davon abbringen lassen, vorsorgeorientierte Verbraucherschutzpolitik zu betreiben. Wir werden uns um alle Betriebe kümmern, nicht nur um die Ökobetriebe, die jetzt der Hilfe bedürfen, weil sie besonders unter den schwarzen Schafen dieser Branche leiden - das muss noch einmal ganz deutlich gesagt werden -; uns geht es aber auch um die klassisch umweltschutzorientierte Landwirtschaft. Lassen Sie mich erneut mit einem Vorurteil aufräumen, Frau Künast. Sie haben immer gesagt, die Preise müssten hoch sein. Nein, Lebensmittel müssen gesund und sicher, aber auch preiswert sein. Sie in Ihrer Arroganz vergessen, dass es viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland gibt, die sich teure Lebensmittel nicht leisten können. ({33}) Arrogante Ministersprüche von hohen Preisen vertragen sich nicht mit der Lebenswirklichkeit unserer Republik. ({34}) Ich komme auf einen Punkt zurück, den wir Ihnen nicht nachsehen werden: Wegen der Fehler einiger - nicht des ganzen ökologischen Landbaus - haben Sie jetzt hohe Preise, aber keine Sicherheit. Das ist schlussendlich die Konsequenz aus Ihrer Politik, die wir nicht akzeptieren, sondern ablehnen. ({35}) Deshalb bleibe ich dabei: Wenn Herr Funke gehen musste, dann müssten Sie mit noch größerem Recht noch schneller gehen und mit Ihnen eine Reihe anderer Minister. ({36}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({37})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Jella Teuchner, SPD-Fraktion.

Jella Teuchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das soeben Gehörte stellte das ganze Ausmaß der Polemik dar, das man von sich geben muss, wenn man von der Sache nichts versteht und auch nicht bereit ist, sich irgendwelchen Argumenten zu öffnen und über irgendetwas wirklich sachlich und inhaltsorientiert zu diskutieren. ({0}) Wenn es heute nicht um das Thema Gesundheitsschutz für Verbraucherinnen und Verbraucher ginge, könnte man vieles, was in den letzten Tagen zu den Nitrofenfunden geschrieben und gesagt wurde, einfach als lächerliches Wahlkampfgewäsch abtun. ({1}) Es geht aber um sichere Lebensmittel. Ich finde es daher nur allzu verständlich, wenn die Selbstgefälligkeiten der letzten Tage bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern nur noch Wut und Zorn auslösen. Was wir brauchen, ist eine sachliche Aufarbeitung der systematischen Vertuschung. Was wir brauchen, ist eine Kultur der Offenheit. Was wir allerdings nicht brauchen, ist eine Debatte, die die Täter schützt und den schwarzen Peter schnell jemand anderem zusteckt. ({2}) Der Nitrofen-Skandal ist Resultat verantwortungslosen Wirtschaftens. Die Hersteller und Händler haben die Nitrofenverseuchung nicht gemeldet und ihre Produkte munter weiterverkauft. Der Nitrofen-Skandal ist Resultat der in Jahrzehnten gewachsenen Vertuschungsstrategie, der wir mit der Neuorientierung der Agrar- und Verbraucherpolitik den Kampf angesagt haben. Ob vertuscht wird oder nicht - auch das will ich in aller Deutlichkeit sagen -, ist keine Frage von konventioneller oder ökologischer Lebensmittelproduktion. ({3}) Die Mehrzahl der konventionellen Betriebe arbeitet verantwortungsvoll. Es gibt aber auch ökologische Betriebe, die verantwortungslos die Gesundheit ihrer Kunden gefährden. Nach § 17 Abs. 5 des Futtermittelgesetzes hat jeder, der im Rahmen seines beruflichen oder gewerbsmäßigen Umgangs mit Futtermitteln Kenntnis von einer Gefährdung für die menschliche oder tierische Gesundheit durch unerwünschte Stoffe erlangt, unverzüglich die zuständigen Behörden anzurufen. Dies ist nicht geschehen. Sowohl Lebensmittelhersteller als auch Versicherungen und Verbände haben versucht, den Nitrofenfund zu verheimlichen. Mehr noch: Sie haben anscheinend auch nach Wegen gesucht, Produkte trotz Kenntnis der Nitrofenbelastung zu verkaufen. Dies ist der Kern des Skandals und hier werden wir aufräumen müssen. ({4}) Bundesministerin Renate Künast hat schnell und richtig gehandelt. Sie hat unsere volle Unterstützung, wenn sie mit aller Härte gegen die Verantwortlichen vorgeht. ({5}) Wir begrüßen, dass die Bundesministerin als erste Konsequenz die Institute in ihrem Geschäftsbereich verpflichtet hat, Erkenntnisse aus gutachterlicher Tätigkeit in Bezug auf Verstöße gegen geltendes Lebensmittelrecht unmittelbar an die zuständigen Behörden weiterzuleiten. Wir werden morgen im Bundestag beschließen, die Informationspflichten der Lebensmittel- und Futtermittelhersteller gegenüber den Behörden und Verbrauchern auszuweiten. Eine entsprechende EU-Regelung, die ab dem Jahre 2005 eine sofortige Information bei festgestellten Mängeln verlangt, werden wir sofort in Kraft setzen. Wir werden auch beschließen, diese Mitteilungspflicht auf Lebensmittel auszudehnen. Dies wird übrigens auch von Bayerns Verbraucherminister Sinner gefordert. Ich bin gespannt, mit welcher Begründung Bayern dieses Gesetz im Bundesrat blockieren wird. Wie wäre es damit: Das ist ein deutscher Alleingang, wir brauchen dazu eine europäische Regelung. Dies ist ein deutscher Alleingang - wie oft mussten wir uns im letzten Jahr diesen Satz anhören? Wie oft hat die Opposition europäische Regelungen gefordert, wenn sie wirksamen Verbraucherschutz verhindern wollte? Wir haben ja letzten Freitag im Bundesrat gesehen, welche Rolle die Union spielt. Wir haben gesehen, welche Rolle deren Wortführer Bayern spielt: Auf dem Altar Wahlkampf wird der Verbraucherschutz geopfert. ({6}) Dies alles geschieht in der Hoffnung, die Götter seien dann dem Kandidaten der CDU/CSU wohl gesonnen. ({7}) Die Wähler finden es aber zu Recht unerträglich, wie Sie auf Kosten des Verbraucherschutzes Wahlkampf machen. ({8}) Der Nitrofen-Skandal zeigt: Wir brauchen eine Kultur des Vertrauens. Diese wollen wir schaffen. Auch das Verbraucherinformationsgesetz wäre ein Schritt in diese Richtung. Sie können jetzt noch so sehr versuchen, den europäischen Sankt-Nimmerleins-Tag herbeizureden: Sie verhindern so das Verbraucherinformationsgesetz und damit die Schaffung dieser Kultur des Vertrauens. ({9}) Die Landwirtschaft - ob konventionell oder ökologisch wirtschaftend - braucht dieses Vertrauen. Sie hat es auch verdient. Auch diesmal sind die Bauern nicht für einen Lebensmittelskandal verantwortlich. Es waren auch nicht die Ministerien, die versucht haben, den Skandal zu vertuschen. Darf ich Sie daran erinnern, dass das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft die Nitrofenfunde öffentlich gemacht hat? ({10}) Wir können gerne darüber diskutieren, ob und wie wir die Arbeit im Verbraucherministerium und die Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern verbessern können. Mit dem Neuorganisationsgesetz wollen wir hier einen Schritt nach vorne machen. Wir lassen es Ihnen aber nicht durchgehen, dass Sie Ihrer Lieblingsfeindin Renate Künast den schwarzen Peter zuspielen wollen und damit nur die Täter schützen. ({11}) Wir erwarten einen verantwortungsvollen Umgang mit Lebensmitteln. Das heißt zuallererst, dass mit den Produkten sorgfältig umgegangen werden muss. Das heißt aber auch, dass mit Fehlern offen und transparent umgegangen werden muss. Wir können nicht ausschließen, dass in der Lebensmittelproduktion Fehler passieren. Wir müssen aber dafür sorgen, dass diese nicht vertuscht werden, sondern dass die Fehlerquellen ausgeräumt werden. ({12}) Wir fordern klare Konsequenzen bei denjenigen, die verantwortungslos am Vertuschen mitgewirkt haben. Dabei ist es ganz gleich, ob es sich um Ökoverbände, Lebensmittelhersteller, Versicherungen oder landwirtschaftliche Genossenschaften handelt. Die Konsequenz kann nicht darin bestehen, den Gesetzgeber schnell aufzufordern, neue Gesetze zu erlassen. Nitrofen im Futter ist kein Fall für eine stille Rückrufaktion und kein einfacher Schadensregulierungsfall. ({13}) Als die ersten Meldungen über belastete Biolebensmittel über die Nachrichtenticker liefen, wurde sofort das Ende der Agrarwende gefordert. Mittlerweile ist klar, dass Unternehmen mit gewachsenen und traditionellen Strukturen der Lebensmittelwirtschaft genauso tief in diesem Skandal stecken wie ökologisch wirtschaftende Unternehmen. Dieser neue Lebensmittelskandal schadet nicht nur dem ökologischen Landbau, sondern der gesamten Land- und Ernährungswirtschaft. ({14}) Wer jetzt das Ende der Agrarwende fordert, zielt gegen den Verbraucherschutz. Die Landwirtschaft kann aber nur dann bestehen, wenn sie gesundheitlich unbedenkliche Lebensmittel produziert. Für uns ist deshalb klar, dass wir an der Neuorientierung der Landwirtschafts- und Verbraucherpolitik festhalten werden. ({15}) - Das tun wir, aber nicht in der Opposition.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Ulrich Heinrich, FDP-Fraktion, das Wort.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Leider Gottes ist der Herr Bundeskanzler nach der Rede von Frau Ministerin Künast weggegangen. ({0}) Ich hätte ihm gerne einige Sätze persönlich gesagt. Ich hätte ihn gerne gefragt, wie seine Agrarpolitik in der Zukunft aussieht. ({1}) In der Zeit, in der er bisher regiert hat, hat er vier verschiedene Positionen eingenommen. Im Jahre 2000 hat er sich in Cottbus noch für die wettbewerbsfähige Landwirtschaft ausgesprochen. 2001 - nach dem BSE-Skandal hat er gesagt, dass die Agrarfabriken abgeschafft werden müssten; es werde eine Politik gegen die Agrarfabriken betrieben. Vor der Wahl in Sachsen-Anhalt hat er - natürlich vor dem Hintergrund der Großstrukturen dort - die Regierungspolitik wieder geändert und gesagt, dass Großstrukturen erhaltenswert sind und auch in Zukunft entsprechend produziert werden soll. ({2}) Aufgrund des Nitrofen-Skandals vollzieht er jetzt eine erneute Kehrtwende. Er sagt, dass die Agrarwende fortgesetzt werden soll, und unterstützt damit Frau Künast. Welche Agrarpolitik gilt denn nun in Zukunft? ({3}) Bei einem solchen Zickzackkurs kann sich niemand mehr auf eine entsprechende Aussage verlassen. ({4}) Frau Künast, Sie haben sehr hohe Erwartungen geweckt. ({5}) In Ihrer heutigen Rede haben Sie erneut hohe Erwartungen geweckt, obwohl Sie die vorherigen, von Ihnen geweckten Erwartungen bis heute noch nicht erfüllen konnten; stattdessen haben Sie Enttäuschungen produziert. ({6}) Sie haben mit der Agrarwende Stichworte geliefert, unter denen sich einige etwas vorstellen können, andere aber auch nicht. Ich habe eben bereits den Herrn Bundeskanzler zitiert, der sich offensichtlich auch nichts darunter vorstellen kann. Sie haben vom vorsorgenden Verbraucherschutz gesprochen und die Verbraucherinformation zum zentralen Punkt Ihrer Politik gemacht. Sie sind als Jeanne d’Arc der Verbraucher gestartet und heute als Aschenputtel hier angekommen. ({7}) Wir suchen noch den Prinz, Frau Künast. ({8}) Nach Ihrer heutigen Rede muss ich leider nicht nur feststellen, dass die Zahl der Prinzen weniger geworden ist, sondern auch, dass Sie das Gegenteil von dem tun, was Sie sagen. ({9}) Auch die Öffentlichkeit ist dieser Meinung. ({10}) Das Emnid-Institut hat am 28. Mai ermittelt - die Angaben wurden am 3. Juni veröffentlicht -, dass Ihnen 60 Prozent der Verbraucher eine wesentliche Mitschuld am Nitrofen-Skandal geben. ({11}) Das sind die Umfragen, die uns interessieren. Uns interessiert: Was kommt draußen beim Verbraucher an? Wie bewertet der Verbraucher die Politik dieser Bundesregierung? Ich kann auch noch ein weiteres Zitat anführen. Es stammt nicht von mir und ist auch keine böse gemeinte Oppositionsaussage, sondern es handelt sich um ein Zitat von Herrn Isenberg, dem Geschäftsführer des Bundesverbands für Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände. Was hat er gesagt? Der Bundesverband attestiert Frau Künast eine wesentliche Mitschuld an der gesamten Situation. ({12}) Mit Ihrer einseitigen Politik für das Eco-Siegel haben Sie Erwartungen geweckt, die Sie nicht halten können. Mütter rufen verzweifelt bei mir an. Sie sind völlig verunsichert und wollen Rat von mir. Ich werfe Ihnen nicht vor, dass es zu diesem Skandal gekommen ist. Ökolandbau und moderne nachhaltige Landwirtschaft sind zwei unterschiedliche Produktionsmethoden, aber keine ist davor gefeit, dass ein solcher Skandal passieren kann. Ich werfe Ihnen aber vor, dass Sie die Weichen nicht richtig gestellt haben. Mit der Einführung des Bio-Siegels haben Sie eine Oldtimer-Methode zur Qualitätssicherung gewählt, die mit größten Lücken behaftet ist und aus den frühen 90er-Jahren stammt. Sie kaufen doch auch kein zehn Jahre altes Auto, wenn es um die Sicherheit geht, Frau Ministerin Künast. Ich habe von Anfang an das QS-System als das bessere System erkannt. ({13}) Dokumentation, die Weitergabe von Daten und die lückenlose Abrufbarkeit der kompletten Datenbank vom vorgelagerten Bereich über die Produktion und die Verarbeitung bis zum Handel zu jedem Zeitpunkt des Produktionsstrangs - es ist somit auch sehr viel besser geeignet, Lücken und Fehler aufzudecken, als es nach dem System des Bio-Siegels möglich ist - werden von dem Bio-Siegel nicht gewährleistet. ({14}) Des Weiteren werfe ich Ihnen vor, dass Sie Ihr eigenes Haus nicht im Griff haben. Obwohl Sie angeblich am 25. Januar alle Ihnen unterstellten Behörden angewiesen haben, Unregelmäßigkeiten im Bereich der Lebensmittelrückstände sofort zu melden, ist dies nachweislich nicht geschehen. So sind zum Beispiel Laboruntersuchungen der Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach nicht weitergegeben worden. Spätestens seit der Ökomesse, die im Februar in Nürnberg stattgefunden hat, ist Ihren Beamten bekannt, dass es Probleme mit Nitrofen belastetem Fleisch gibt. ({15}) Dort war dies ein großes Thema, über das jeder gesprochen hat. Ihre Beamten haben das zwar wohl gehört, aber nicht weitergegeben. ({16}) Ich werfe Ihnen eine völlig chaotische Informationspolitik vor. Auf der einen Seite sind die konventionell belasteten Lebensmittel auszuschließen, auf der anderen Seite weiß man ja nie, was noch kommt. Tagtäglich verkünden Sie etwas anderes. Am Wochenende haben Sie den Nitrofen-Skandal als aufgeklärt dargestellt. - Frau Ministerin, das stimmt. Schauen Sie sich doch die Fernsehsendung an, in der Sie aufgetreten sind! Zugegeben, das waren gute Fernsehbilder. Aber die Botschaft war falsch. ({17}) So kann man mit den Verbrauchern nicht umgehen. Als ob das Problem nicht schon groß genug wäre, stiften Sie mit Ihrer Verbraucherinformationspolitik zusätzlich Verwirrung. Ich meine, die beste Verbraucherinformationspolitik wäre gewesen, wenn Sie heute Ihr Amt zur Verfügung gestellt hätten. Dann hätten die Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich aufatmen können. ({18}) Frau Ministerin, nach meinem Gefühl ist es auch ein Skandal, dass Sie schon heute 900 000 Euro für eine Informationskampagne ausgeben, bei der es um eine neue Eierrichtlinie geht, die erst 2004 in Kraft tritt. Es wäre sinnvoll gewesen, wenn Sie mit diesen 900 000 Euro den jetzt betroffenen Ökobauern geholfen hätten. Aber so dient dieses Geld nur der Eigendarstellung. Um nichts anderes geht es. ({19}) Lassen Sie mich zum Schluss die Befürchtung aussprechen, dass es voraussichtlich in wenigen Wochen oder Monaten einen neuen Skandal geben wird, weil mit Nitrofuranen belastetes Geflügelfleisch beispielsweise aus Thailand oder Brasilien importiert wird. Wir wissen schon jetzt, dass solches Fleisch auf dem Weg nach Deutschland ist. Ich sage Ihnen, Frau Höhn und Frau Künast: Wenn Sie den Verbraucherschutz zusammen mit den Ländern nicht besser organisieren und den Verbraucher nicht wirksamer vor solchen Importen schützen, dann werden wir hier über den nächsten Skandal diskutieren müssen. Dann werden Sie, Frau Künast, wieder als nassforsche Ministerin auftreten und sagen, was alles gemacht werden muss. In Wirklichkeit haben Sie bisher von dem, was Sie angekündigt haben, überhaupt nichts wirkungsvoll, verlässlich und vertrauenerweckend umsetzen können. Ich bedanke mich. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Ministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, Bärbel Höhn. Bärbel Höhn, Ministerin ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss mich schon wundern, wie die Opposition im Bundestag das heutige Thema angeht. Herr Lippold, dem ich aufmerksam zugehört habe, hat offensichtlich keine eigene Meinung. Er verschanzt sich hinter den Zitaten anderer Leute. Ein klares Konzept habe ich bei seiner Rede nicht heraushören können. ({1}) Und für die FDP gilt: Das einzige Problem, das sie hat, ist, den richtigen Prinzen zu finden. Ich habe bisher immer gedacht, dass die FDP ein ganz anderes Problem hat. Sie sollte nämlich endlich einmal einen durchsetzungsstarken Vorsitzenden finden und sich nicht um den Prinzen anderer Leute kümmern. Lösen Sie erst einmal die Probleme in Ihren eigenen Reihen! ({2}) Sie fordern, Frau Künast solle die Verbraucherinnen und Verbraucher endlich durch neue Gesetze schützen. Herr Lippold sagt dazu, es werde beim alten Schlendrian bleiben. Ich frage Sie: Wer ist eigentlich für die jetzt geltenden Gesetze verantwortlich? Wer ist eigentlich für den alten Schlendrian verantwortlich? ({3}) Sie haben jahrzehntelang die Landwirtschaftspolitik in diesem Land gemacht und versuchen nun, Frau Künast die Schuld für das, was sie noch nicht verändert hat, in die Schuhe zu schieben. Ich sage Ihnen: Sie haben die heute geltenden Gesetze zu verantworten. Diese müssen wir ändern. Aber auch Sie wissen, dass man die Folgen von 50 Jahren falscher Agrarpolitik nicht in anderthalb Jahren korrigieren kann. Das ist der Punkt. ({4}) Wir müssen eines bedenken: Jeder Lebensmittelskandal hat gravierende negative Folgen für Millionen von Verbraucherinnen und Verbraucher, die durch jeden Skandal verunsichert werden, sowie für Tausende und manchmal sogar Zehntausende Bauern, die teilweise in Existenznot geraten, obwohl sie an den Skandalen nicht beteiligt waren. Das sind die Auswirkungen von Lebensmittelskandalen. Ich bin jetzt sieben Jahre Landwirtschaftsministerin ({5}) und es ist noch kein Jahr - ich betone: noch kein Jahr vergangen, in dem es nicht einen Lebensmittelskandal gegeben hat. Es geht also nicht um Einzelfälle, sondern um ein Strukturproblem. ({6}) Das heißt, wir müssen die verschiedenen Gesetze angehen und müssen sie ändern. Ich bin nicht nur Landwirtschaftsministerin, sondern auch Umweltministerin. Wenn ich mir die Gesetzgebung im Umweltbereich ansehe, stelle ich fest: Sie ist viel klarer, viel stringenter, viel mehr auf Rechte der Verbraucher angelegt als die Gesetzgebung im gesamten Ernährungsbereich. Das kann man an vielen Punkten deutlich machen. Die Gesetzgebung im Ernährungsbereich ist wirr und chaotisch. Und Sie sind dafür verantwortlich. Ich möchte einmal deutlich machen, was ich seit 1995 erlebt habe. Das kann ich deshalb gut beurteilen, weil ich seitdem im Amt bin. Ich nenne Ihnen dazu drei Beispiele. Das erste Beispiel: Wir haben zwischen 1995 und 1998 in mehreren Lebensmitteln höhere Rückstände gefunden, als sie gesetzlich zulässig waren. Was haben Sie gemacht? Sie sind nicht den Ursachen nachgegangen, sondern haben einfach die entsprechenden Rückstandswerte hoch gesetzt. Das war Ihre Politik. ({7}) Sie haben mehrfach im Bundesrat die Rückstandswerte hoch gesetzt, damit darüber nicht mehr geredet werden konnte. ({8}) Das zweite Beispiel betrifft die Futtermittelgesetzgebung in den 80er-Jahren. Wer hat denn die offene Deklaration im Futtermittelbereich abgeschafft? Das waren die CDU/CSU und die FDP. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Höhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Straubinger, CDU/ CSU-Fraktion? Bärbel Höhn, Ministerin ({0}): Nein, ich möchte jetzt diesen Punkt weiterführen. ({1}) Wer hat denn die offene Deklaration abgeschafft und die Positivliste verhindert? Das waren Sie. Im Futtermittelrecht ist im Augenblick die Situation so, dass die Leute sagen: Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Das ist der Grund, warum wir Klärschlamm und andere unappetitliche Stoffe im Futtermittel finden. Das haben Sie in den 80er- und 90er-Jahren verursacht und das muss geändert werden. ({2}) Das dritte Beispiel: Das Produktsicherheitsgesetz wurde 1997 in Ihrer Regierungszeit novelliert. Es ging um Rückholaktionen von Waren, darum, wann Behörden melden dürfen, was sie an Werten gefunden haben. Dabei haben Sie die Rechte der Ernährungswirtschaft und des Handels gestärkt und die Rechte der Behörden in diesem Punkt negiert und zurückgeschraubt. Das war Ihre Politik. Wir dürfen heute nicht mehr automatisch melden, wenn wir eine Täuschung beim Verkauf von Lebensmitteln erkennen. Wir dürfen nur noch öffentlich darüber reden, wenn etwas gesundheitsgefährdend ist. Ich nenne ein Beispiel: Wenn ein Produzent Wasser in den Schinken einführt - Wasser hat ein ordentliches Gewicht und was ist für die Gewinne in der Lebensmittelwirtschaft besser, als Wasser schnittfest zu machen -, ist das eine arglistige Täuschung. Aber wir dürfen nach der jetzigen Gesetzgebung nicht öffentlich darüber berichten. Dazu sage ich Ihnen: Das ist falsch, das wollen wir ändern und das müssen wir ändern. ({3}) Natürlich wäre eine Information über solche Fakten auch ein vorbeugender Verbraucherschutz, und zwar deshalb, weil die Betroffenen genau über ihr Vorgehen nachdenken würden. Wenn ihnen nur leichte Strafen drohen, wenn keine Veröffentlichungen und wenig Nachteile zu befürchten sind, machen es viele. Wenn es aber veröffentlicht wird und die Leute darauf schauen, werden es weniger machen. Mehr Information ist also auch ein vorbeugender Verbraucherschutz. Deshalb ist das Verbraucherinformationsgesetz richtig und notwendig. ({4}) Meine Damen und Herren, wenn wir diese wirklich chaotische Gesetzgebung ändern wollen - und die ersten beiden großen Schritte sind in den letzten Monaten im Bundesrat diskutiert worden, das Verbraucherinformationsgesetz und das Neuordnungsgesetz -, machen Sie nicht mit. Sie sagen hier: Frau Künast, bitte ändern Sie die Strukturen. Aber wenn Frau Künast Änderungsvorschläge macht, machen Sie nicht mit. Das ist doch Blockadepolitik! ({5}) Sie stabilisieren damit das alte System. Wir wollen dieses Verbraucherinformationsgesetz. Nach dem Umweltinformationsgesetz hat jeder das Recht, zu erfahren, was im Wasser einer Kläranlage, was im Abwasser eines Chemieunternehmens ist. Aber es gibt kein Recht, nach dem die Bürgerinnen und Bürger erfahren können, was in ihrer Wurst ist. Die Leute wollen genauso, wie sie erfahren wollen, was im Abwasser einer Kläranlage ist, wissen, was in ihrer Wurst ist. Und ich meine, sie haben ein Recht darauf, das zu erfahren. ({6}) Sie haben nur Blockadepolitik gemacht. In den Ausschüssen haben Sie keine entsprechenden Anträge gestellt. ({7}) Eineinhalb Jahre hatten Sie Zeit. ({8}) Sie haben in der ersten Bundesratssitzung 22 Anträge gestellt. Davon sind von der Bundesregierung zwei Drittel übernommen worden. Gestern gab es eine Diskussion darüber. Statt Ihre anderen sechs Änderungsanträge auf den Tisch zu legen, haben Sie nur blockiert, haben keinen konkreten Änderungsvorschlag vorgelegt. Das heißt, es geht Ihnen in diesem Land nur um Wahlkampf und nicht um die Inhalte, und das finde ich beschämend. ({9}) Ich komme jetzt zur FDP. ({10}) Was wir mit dem Verbraucherinformationsgesetz erreichen wollen, ist ein kleiner Teil dessen, was in den USA jedem Bürger erlaubt ist. Dort gibt es den Freedom of Information Act, eine sehr große Sache. ({11}) Wir wollen nur einen kleinen Teil der darin niedergelegten Rechte hier in Deutschland installieren. Doch das blockiert die FDP. Meine Damen und Herren von der FDP, es steht außer Frage, dass Sie Ihren Parteinamen demnächst mit einem kleinen „f“ schreiben müssen. Das wäre angebracht; denn das, was Sie hier für die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger tun, indem Sie das Verbraucherinformationsgesetz blockieren, ist in der Sache falsch. Deshalb werden wir Sie dafür auch kritisieren. ({12}) Herr Heinrich, Sie haben gesagt, mit dem QS-Siegel werde ein Anfang gemacht. Seit wann wird eigentlich über das QS-Siegel diskutiert? Zu Ihrer Zeit, als Sie, CDU/CSU und FDP, noch in der Verantwortung standen, wurde noch nicht darüber diskutiert. ({13}) - Nach BSE. - Das heißt, die Konsequenz, die man in der konventionellen Landwirtschaft zieht, ist eigentlich genau das, was Frau Künast fordert, nämlich mehr Qualität. ({14}) Auch die konventionelle Landwirtschaft muss sich nach der Decke strecken, muss neue Agrarpolitik betreiben und mehr Qualität anbieten. Nicht mehr und nicht weniger passiert. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Höhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich? Ministerin Bärbel Höhn ({0}) Bärbel Höhn, Ministerin ({1}): Die Redezeit bleibt davon aber unberührt? - Gut. Bitte schön.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ihre Redezeit bleibt bestehen, Frau Ministerin. Das QS-Siegel mit seinem System wurde von der Wirtschaft zusammen mit der Landwirtschaft entwickelt, um die Verbrauchersicherheit nach dem BSE-Skandal vernünftig weiterzuentwickeln. Wir haben festgestellt, ({0}) dass das QS-Siegel mit seiner durchgängigen Dokumentation und der Weitergabe der Daten besser geeignet ist als das, ({1}) was beim Kontrollsystem zu dem Biosiegel besteht. ({2}) - Meine Frage kommt noch; ich muss sie erklären. - Gestern haben wir bei einer Diskussion beim Deutschen Raiffeisenverband aus dem Mund von Herrn Berninger gehört, es sei nicht auszuschließen, dass die auch nach seiner Meinung vernünftigen Dinge beim Bio-Siegel übernommen würden. ({3}) Sind auch Sie der Meinung, dass man eine entsprechende QS auch für das Biosiegel einrichten muss, um eine Verbesserung der Qualitätssicherung bzw. der Dokumentation zu erreichen? Bärbel Höhn, Ministerin ({4}): Herr Heinrich, auch ich halte das QS-Siegel für eine gute Idee. Ich finde es gut, wenn die konventionelle Landwirtschaft das, was Frau Künast vorgibt, jetzt mit dem QSSiegel umsetzt und mehr Qualität installiert. Ich finde es gut, wenn es funktioniert. Aber dass Sie sagen: „Es wird funktionieren“, ehe es überhaupt installiert ist, finde ich schon spannend. Was wir im Ökolandbau an zusätzlichen Verbesserungen und Kontrollen realisieren können, sollten wir tun, so schnell wie möglich, gar keine Frage. Aber es geht hierbei nicht um eine Konkurrenz untereinander. ({5}) - Dazu kann ich Ihnen vieles sagen. Warum macht das QS-Siegel nicht auch einen ganz kleinen Schritt in Richtung Tierschutz? Wenn es auch beim QS-Siegel heißen würde: „Mehr Qualität bei der Tierhaltung“, wäre das eine gute Sache. Ich hoffe, dass sich das QS-Siegel dahin entwickelt. In dieser Richtung gibt es noch viel nachzuholen. ({6}) Sie werfen der rot-grünen Regierung immer vor, sie pusche nur den ökologischen Landbau. Ich sage Ihnen: Nein. Da brauchen Sie gar keine Angst zu haben. Auf diese Nische allein lassen wir uns nicht einschränken. Wir wollen mehr. Wir wollen die gesamte Landwirtschaft reformieren. ({7}) Wir bleiben beim Ökolandbau nicht stehen. Dass das auch zunehmend ankommt, zeige ich Ihnen an zwei Punkten. Erstens. Ich habe hier gerade einen Artikel aus Rheinland-Pfalz. Danach haben die Bauern aus dem Kreis Ahrweiler gesagt, sie wollten jetzt offen diskutieren und beraten, ob sie nicht im Rahmen der Verwaltungsreform den Anschluss des Kreises Ahrweiler an Nordrhein-Westfalen erreichen können; denn die grüne Landwirtschaftsministerin in Nordrhein-Westfalen mache offensichtlich bessere Politik als der FDP-Landwirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz. ({8}) Wir müssen darüber also noch einmal diskutieren. Ich habe Clement schon einmal gebeten, das checken zu lassen. Das ist der erste Punkt. ({9}) Zweitens. Mittlerweile steht in fast jeder öffentlichen Bauernveranstaltung, die ich mache - ja, ja, da werden Sie plötzlich ganz aufgeregt -, ({10}) ein Bauer auf und fragt: Was wäre eigentlich mit meiner geplanten Windkraftanlage und mit meiner Biomasseanlage, wenn Rot-Grün nicht mehr regierte und das Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht mehr umgesetzt würde? ({11}) Das ist doch die Diskussion. Die Bauern trauen sich mittlerweile. Sie verlieren Ihre Klientel; denn die bessere Landwirtschaftspolitik, die bessere Verbraucherschutzpolitik auch für die konventionell arbeitenden Landwirte machen wir, macht Rot-Grün. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Kersten Naumann von der PDS-Fraktion das Wort.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schätzt man die momentane Situation im Verbraucherschutz ein, so bleibt das Fazit: Das Kapital ist herzlos und die Politik ist machtlos. Wieder sind die Bauern - diesmal vorwiegend die Ökobauern - und die Verbraucher die Leidtragenden; denn sie haben sich auf die Sorgfaltspflicht aller am Herstellungsprozess Beteiligten, auf die Kontrolltätigkeit und die Verbraucherschutzpolitik im Bund und in den Ländern verlassen. Wenn jeder Skandal immer wieder als Chance für mehr Verbraucherschutz, für mehr Lebensmittelsicherheit gesehen wird, fragt man sich: Wie viele Skandale muss es denn noch geben, um endlich die Chancen begreifen zu lernen? ({0}) Wurde Dioxin als Chance für mehr Futtermittelsicherheit begriffen? - Nein. Wurde Chloramphenicol als Chance für mehr Lebensmittelsicherheit begriffen? - Nein. Wird Nitrofen als Chance für mehr staatliche Kontrollen begriffen? - Nein. Es bleiben weitere Fragen: Lagern möglicherweise noch weitere verbotene Mittel in diversen Lagerstätten, wie zum Beispiel das erst kürzlich verbotene Brestan? Wie ausreichend und sicher werden chemisch-synthetische Stoffe überhaupt geprüft? Wie wird heute mit wissenschaftlich begründeten kritischen Bedenken umgegangen und das Vorsorgeprinzip angewendet, wenn zum Beispiel das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz die Gefahren des in frittierten Chips und Pommes vorkommenden Acrylamids ähnlich hoch einschätzt wie Nitrofen? Wie so oft ist die Pharmalobby erfolgreicher in Politik und Wirtschaft und kommt bei Belastungen und Katastrophen durch ihre Produkte nicht für die Folgeschäden auf. Ich denke, es muss schnellstens weit reichende Haftungsregelungen, und zwar nicht nur eine Produkthaftung, sondern auch eine Umwelthaftung geben, nicht nur auf EU-Ebene, sondern weltweit. ({1}) Warum benötigen wir Haftungsregelungen und stärkere unhabhängige Kontrollen für eine höhere Lebensmittelsicherheit? - Weil Lebensmittelsicherheit gleichzeitig Sicherheit für Mensch, Tier, Umwelt und Natur bedeutet. Werden Lebensmittel sicher produziert, werden auch Futtermittel sicher produziert. Schließlich ist Lebensmittelsicherheit auch Sicherheit für den produzierenden Bauern. Auch in der Agrarwirtschaft ist klar: Produziert und gekauft wird nur das, wozu Vertrauen und Unbedenklichkeit bestehen. Doch der Markt bei Nahrungsmitteln ist mehr als störanfällig. Jeder Skandal führt nicht nur dazu, dass die Landwirtschaft am Pranger steht und der anspruchsvolle Verbraucher sensibel reagiert, sondern kostet den Steuerzahler immense Summen. Der Gesamtschaden für die betroffenen Landwirte aus dem Nitrofen-Skandal wird auf mehrere Millionen Euro geschätzt. Darin eingeschlossen sind Kosten für das herdenweise Töten von Tieren, das Durchforsten und Kontrollieren gesamter Warenströme, das Vernichten von Futter- und Lebensmitteln und nicht zuletzt für die Untersuchungen der Staatsanwaltschaften und der Landeskriminalämter. Ja, meine Damen und Herren, auch Lebensmittelsicherheit hat ihren Preis. Das erfordert erhöhte Haushaltsansätze und nicht die Ideologie von einem schlanken Staat. In Brandenburg sollen zum Beispiel die Kreislandwirtschaftsämter in allen Tierbetrieben einmal jährlich Futtermittelkontrollen durchführen. Aufgrund personeller und finanzieller Engpässe werden jedoch nur circa 80 Prozent tatsächlich überprüft. Laboruntersuchungen werden ohnehin nur bei Verdachtsfällen veranlasst, ansonsten beschränkt sich die Kontrolle darauf, zu schauen, welche Futtermittel entsprechend der Deklaration verwendet wurden. Der Nitrofen-Skandal macht auch deutlich, dass Selbstkontrollen eben nicht zur Selbstanzeige führen, sondern eher zur Vertuschung. Erfolgversprechend und die einzige Alternative sind hier nur unabhängige Kontrollen und eine sofortige Weiterleitung der Ergebnisse an die zuständigen Behörden. ({2}) Meine Damen und Herren, das auf Bundesebene durchgeführte Lebensmittelmonitoring stellte schon 1998 bei 3,5 Prozent der rund 4 700 Proben Höchstmengen überschreitende Werte fest. Bei Obstarten lag der Anteil sogar zwischen 10 und 16 Prozent. In Thüringen hat ein Monitoring im Jahre 2000 bei fast 9 Prozent der Proben die lebensmittelrechtlichen Anforderungen beanstandet; es handelte sich dabei um rund 1 500 Proben. Auch die EU rügt Mängel in der deutschen Lebensmittelüberwachung und das Pestizid Aktions-Netzwerk Hamburg hat ermittelt, dass in den Jahren von 1997 bis 2001 Rückstände von 119 verschiedenen Pestiziden bei amtlichen Kontrollen entdeckt wurden. Darunter waren 61 akut giftige, Krebs erregende und verbotene Mittel. Warum haben hier nicht schon die Alarmglocken geläutet? Dann liest man wiederum im Weißbuch für Lebensmittelsicherheit, die europäische Lebensmittelherstellungskette zähle zu den weltweit sichersten und funktioniere im Allgemeinen ganz gut. Die Schlussfolgerung lautet: im Allgemeinen ganz gut, im Besonderen katastrophal. ({3}) Selbst das in der Europäischen Lebensmittelagentur aufzubauende Schnell- und Frühwarnsystem kann nicht funktionieren, wenn in einer Nation, in einer Region oder bloß in einem Unternehmen Informationen zurückgehalten werden. Letztendlich muss es darum gehen, dass Bund und Länder gemeinsam notwendige Voraussetzungen für mehr Vorsorge schaffen. ({4}) Darüber ist auch im Zusammenhang mit der Gemeinschaftsaufgabe und der PLANAK nachzudenken, zum Beispiel durch eine anteilige Mitfinanzierung einer Mehrgefahrenabsicherung durch Bund und Länder, damit Landwirte nicht von heute auf morgen unverschuldet in den Ruin getrieben werden. So ist bei den durch Nitrofen betroffenen Landwirten überhaupt nicht klar, wer für den materiellen und finanziellen Schaden aufkommt; denn die Tierseuchenkasse zahlt in diesem Fall nicht. Meine Damen und Herren, die vielgepriesene hochwertige Qualität deutscher Lebensmittel, die die weltweit höchsten Standards hätten, muss mittlerweile doch angezweifelt werden. Sicherlich sind schnittfestes Wasser in Kochschinken und Etikettenschwindel bei der Wurstzusammensetzung noch keine Gefahr für die Gesundheit, aber Betrug. Bei Separatorenfleisch, bei gentechnisch kontaminiertem Saat- und Erntegut in ganz Europa oder bei Dioxin wird es dann für die Gesundheit schon brisant. Eines wird doch immer wieder deutlich: Die Pharma- und Verarbeitungskonzerne schummeln, wo sie nur können. ({5}) Welch Missbrauch beim Umgang mit Kapital betrieben wird, zeigen die kartellhaften Preisabsprachen bei Vitaminzusätzen und die Preiskriege bei Lebensmitteln in Discountern, aber auch die Angebote unter Einstandspreisen oder die bis zu 10 Prozent überhöhten Verbraucherpreise wie zum Beispiel bei Milch und Milchprodukten im letzten Jahr. Das Skandalöse daran ist: Beim Erzeuger kommt davon kein Pfennig mehr an. Im Gegenteil, gerade bei diesen Produkten gingen die Erzeugerpreise zur gleichen Zeit um 10 bis 20 Prozent zurück. Das Allerschlimmste ist: Die Liste nimmt kein Ende und sie wird auch kein Ende finden. Denn kapitalistische Marktwirtschaft ist ausschließlich profitorientiert und schafft unweigerlich Skandale. ({6}) Das Sprichwort „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ gilt jetzt nur noch in dem Sinne: Wo keine Kontrollen sind, kann kein Vertrauen mehr sein. Werte Kolleginnen und Kollegen, es hilft weder dem Verbraucher noch dem Landwirt, wenn die Aufklärung von Skandalen von Wahlkampfgetöse, wie vom Kollegen Lippold gerade wieder praktiziert, überschattet wird. ({7}) Glauben Sie nicht, dass auch für Außenstehende leicht zu durchschauen ist, wer sich für die Stärkung der Verbraucherrechte einsetzt und wer aus wahltaktischen Gründen das Verbraucherinformationsgesetz, das Absatzfondsgesetz, das Tierarzneimittelgesetz und die Neuorganisation des gesundheitlichen Verbraucherschutzes blockiert? Die Taktierer verstricken sich in ihrem Rundumschlag in Beschuldigungen und Verleumdungen, selbst wenn die Verantwortung vor der eigenen Landestür liegt. Hier sei nur an die Tragödie bei den BSE-Testlaboren gedacht. Ich will Ihnen hier nur ein Paradebeispiel für kleinhirnige Kurzschlüsse präsentieren: Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Michael Glos, sagte einerseits, Künasts Methode sei es, von eigenem Versagen dadurch abzulenken, ({8}) dass sie die Bauern diffamiere und Opfer zu Tätern mache, und das sei ein unerträglich mieser Politikstil. ({9}) Andererseits beeilt er sich, die Landwirte im Osten zu beschuldigen, denn die wahren Ursachen liegen - ich zitiere - „in den schlimmen Hinterlassenschaften der kommunistischen Kolchos-Landwirtschaft“. ({10}) Diese Taktik funktioniert vielleicht in einigen südlichen Berggebieten unserer Republik; aber vielerorts haben solche Äußerungen Empörung ausgelöst. Damit dürfte wieder einmal eine Wahlkampfseifenblase der CSU im ostdeutschen ländlichen Raum geplatzt sein. Wenn ich mich jetzt auf Ihrem Niveau bewegen würde, dann würde ich fragen: Wer war denn für die ordentliche Abwicklung des Betriebes in Malchin verantwortlich? Gab es da nicht eine Treuhand mit reinen Westimporten, die diese Halle verkauft hat? ({11}) Haben nicht Ihre westlichen Kollegen - aus reiner Vergesslichkeit natürlich - das Gutachten über die Halle beschönigt oder gar vorsätzlich das Altlastenkataster nicht richtig bedient? Schließlich ging es auch hier um bloße Kapitalverwertung und schnelles Geld. Fakt ist doch eines, Herr Glos: Diese so schlimme Landwirtschaft im Osten hat nicht nur unser Volk eigenversorgt, Arbeitsplätze im ländlichen Raum geschaffen und eine bessere Infrastruktur besessen, sondern auch die Mäuler im Westen mit hochwertigen Rinderfilets und Schweinesteaks gestopft. ({12}) Die Landwirtschaft im Osten ist heute erfolgreich und wettbewerbsfähig und handelt mit Lehrlingsausbildung und Engagement in den ländlichen Räumen sozial verantwortlich. ({13}) Dafür darf sie dann noch die Altschulden tragen. Die PDS-Fraktion fordert, nicht nur den NitrofenSkandal auch unter Einbeziehung weiterer verbotener Mittel lückenlos aufzuklären. Vor allem muss endlich mit allen beteiligten Verbänden, Unternehmen und Behörden ein wirksames System der Futter- und Lebensmittelkontrolle geschaffen werden. Das schließt eine lückenlose Dokumentation zur schnellen Rückverfolgbarkeit ein. Die heutige Regierungserklärung hatte das Thema: „Vorrang des Verbraucherschutzes notwendiger denn je für ein neues Denken und Handeln“. ({14}) Zum Denken und Handeln hier noch eine Lebensweisheit von Mahatma Gandhi: „Die Erde hat genug für die Bedürfnisse eines jeden Menschen, aber nicht für seine Gier.“ Danke schön. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Heino Wiese, SPD-Fraktion.

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Naumann, Sie haben eben von Verbrauchersicherheit und Transparenz gesprochen. Zum ehemaligen System der DDR haben Sie in diesem Zusammenhang nichts gesagt. Ich glaube, Transparenz war dort kein auszeichnendes Merkmal. Insofern ist das nichts, was im Kapitalismus oder Sozialismus anders gelten würde. ({0}) In der letzten Woche hat Herr Sonnleitner versucht - er versucht es auch jetzt noch -, uns weiszumachen, dass es bei den Verunreinigungen durch Nitrofen um einen Skandal des ökologischen Landbaus gehe. Es geht aber nicht um den Ökolandbau und auch nicht um die konventionelle Landwirtschaft. Das Problem sind sicherlich auch die noch mangelnden Kontrollverfahren, aber im Wesentlichen sind es kriminelle Verstöße gegen geltendes Recht. ({1}) Der Nitrofen-Skandal ist das Resultat verantwortungslosen Wirtschaftens. Aber wer sind denn die, die da so verantwortungslos wirtschaften? Es sind eben nicht die Landwirte, die aus Überzeugung und in Verantwortung gegenüber Müttern und Kindern ökologisch oder nachhaltig produzieren. Es sind diejenigen, die schon immer Geschäfte mit Futtermitteln gemacht haben, mal mit Tiermehl, mal mit gentechnisch verändertem Soja, und die jetzt mit der Sparte Biofutter einen neuen Nebenverdienst und ein neues Nebengeschäft mitnehmen. Es geht an dieser Stelle um die Firma GS agri. Die GS agri ist nicht unbedingt eine Versammlung von Ökobauern. Ich wette, dass 80 Prozent der Besitzer dieses Unternehmens dem Bauernverband und gleichzeitig der niedersächsischen CDU angehören. ({2}) Wahrscheinlich hört man deshalb auch nichts von Herrn Niemeyer zu dieser Sache. ({3}) - Wo? Ich habe nichts gelesen. ({4}) Alle, die mich kennen, wissen, dass ich längst nicht alles toll finde, was Frau Künast macht. Aber ich finde es im hohen Maße bewundernswert und anerkennenswert, wie sich Frau Künast einsetzt, um die Lebensmittel für die Verbraucherinnen und Verbraucher sicherer zu machen. ({5}) Frau Künast hat es dabei mit mächtigen und - Herr Heinrich, dazu könnten Sie sich vielleicht auch zählen gut organisierten Gegnern zu tun, die zwar behaupten, sie wollten alles transparenter machen, deren Hauptinteresse aber darin besteht, alles zu vertuschen und so weiterzumachen wie bisher. ({6}) Herr Sonnleitner beklagt sich im Moment über mangelnde Kontrollen. Andererseits ist er gegen das Verbraucherinformationsgesetz und beschwert sich diesbezüglich über bürokratische und wettbewerbsverzerrende Schikanen. Das ist Heuchelei und keine seriöse Handlungsweise. Das gilt übrigens auch für einige Behördenvertreter. Ein paar Spitzenbeamte haben augenscheinlich das Gefühl, es könne ihnen ja ohnehin nichts passieren, Frau Künast solle sich doch weiter abstrampeln wie bisher. Ich finde, diese Spitzenbeamten, die mehr als 5 000 Euro im Monat verdienen, müssten sich stärker für ihr Tun verantworten. Wenn sie nicht mitmachen wollen, müssen sie gehen. ({7}) Ich finde, Herr Honikel darf sich nicht so einfach aus der Verantwortung stehlen und darauf verweisen, es gebe noch keine eindeutige Informationspflicht der Kontrollstellen gegenüber den zuständigen Behörden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Wiese, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist ein bemerkenswerter Vorgang, dass Sie als Koalitionspartner fordern, bei Spitzenbeamten aus dem Ministerium ({0}) oder aus nachgelagerten Behörden wären Konsequenzen zu ziehen. Ich frage Sie: Können Sie uns die Namen derjenigen nennen, die Ihrer Meinung nach versagt haben? Es ist ja wohl ungeheuerlich, was Sie hier sagen. ({1})

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese Art der Argumentation ist wieder typisch. Es geht darum, ungeheuerliche Vorgänge zu beschreiben. Wir versuchen, etwas aufzuklären und Verantwortung festzumachen. ({0}) - Ich rede gleich über Herrn Honikel. ({1}) Diese Beamten - auch das müssen wir sehen - sagen sich zum Teil aufgrund der etwas schlechteren UmfrageergebHeino Wiese ({2}) nisse: Es ändert sich ja vielleicht demnächst wieder, also brauchen wir gar nichts zu tun, wir sind dann wieder auf der richtigen Seite. Dazu sage ich: Diese Beamten dürfen in Zukunft nicht mehr ohne Sanktionen davon kommen. Da bin ich mir ganz sicher. ({3}) Ich finde, Herr Honikel darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Ein derartig hoch bezahlter Beamter muss von sich aus Verantwortung für die Gesundheit von Verbraucherinnen und Verbrauchern übernehmen. Deshalb hätte er - wie übrigens schon beim BSE-Skandal, als er auch gesagt hat, er habe nicht so genau gewusst, dass er das weitergeben müsse - bei der Entdeckung des Nitrofen selbst aktiv werden müssen. Es geht schließlich darum, dass ein unzulässiger Stoff, ein Pflanzenschutzmittel, in einer Konzentration, die um das 600fache über dem Höchstwert liegt, im Fleisch entdeckt wurde, und zwar zuerst in Babynahrung. Es ist wirklich unglaublich, dass der Leiter der Bundesanstalt für Fleischforschung in einem solchen Fall nicht eigenverantwortlich handelt. Man fragt sich manchmal, ob in Deutschland alles per Gesetz geregelt werden muss, ({4}) nur weil bei einigen Leuten offenbar der gesunde Menschenverstand nicht funktioniert. ({5}) Natürlich wird dieser Skandal auch dazu benutzt, die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, insbesondere bei dem Ziel, den ökologischen Landbau zu fördern, anzugreifen. Ein Skandal wie dieser zeigt doch ganz deutlich das verstärkte Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher an Nahrungsmitteln, die nicht mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wurden. Die Einführung des Biosiegels war ein Schritt in die richtige Richtung. Jetzt müssen wir handeln. ({6}) - Herr Heinrich, ich bin nicht Regierung. Ich bin Abgeordneter des Parlaments. ({7}) Ich stütze die Regierung, und zwar ganz ausdrücklich. ({8}) - Das, was Sie „Unsinn“ nennen, ist der Sinn, den wir haben. Wir wollen etwas verändern. Sie wollen nur etwas verhindern; das ist Ihr einziges Interesse. ({9}) Die Einführung des Biosiegels war ein Schritt in die richtige Richtung. Jetzt müssen wir handeln, damit durch die Verfehlungen einiger weniger nicht die ganze Branche in Misskredit gebracht wird. Um das Verbrauchervertrauen zurückzugewinnen, muss nun erreicht werden, dass ein Monitoringprogramm für Pflanzenschutzmittel und Altstoffe in Lebensmitteln sowie Futtermitteln eingerichtet wird, dass die Informationspflicht der Kontrollstellen gegenüber den zuständigen Behörden der Länder neu geordnet wird, die Kontrollstellen stärker vernetzt werden und die Nahrungsmittelkette offen gelegt wird. Viele dieser Forderungen, die ich jetzt stelle, wären bereits seit einiger Zeit gesetzlich geregelt, wenn sich die Opposition nicht gegen unsere Gesetzesvorhaben gesperrt hätte. Mit dem Ökolandbaugesetz, dem Neuorganisationsgesetz und dem Verbraucherinformationsgesetz können in Zukunft kriminelle Machenschaften nicht lange unbeachtet bleiben. Ich wünsche mir im Interesse der Gesundheit unserer Kinder, dass wir auch künftig die Landwirtschaftspolitik in diesem Lande gestalten. Ich wünsche mir, dass Frau Künast auch in der nächsten Bundesregierung das Landwirtschaftsressort übernimmt. ({10}) Das sage ich ausdrücklich, obwohl ich der SPD natürlich zutraue, die Wahlen alleine zu gewinnen. ({11}) Aber wenn wir denn eine Koalition eingehen müssen, so ist die Koalition mit den Grünen die Koalition, die uns mit Abstand am besten gefällt. ({12}) Der Nitrofen-Skandal ist einer von vielen Skandalen, die immer wieder - wenn auch selten - hochkommen. Wir alle müssen sehr genau hinschauen, was passiert. ({13}) - Es wird gerufen: Was habt ihr bei BSE gemacht? Wir haben Dinge in Gang gebracht, die Sie bis zum letzten Moment zu verhindern versucht haben. Als wir angekündigt hatten, etwas zu unternehmen, haben die CDU/CSU und Herr Heinrich noch im Ausschuss gesagt, ({14}) wir würden die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft in Deutschland behindern und die Landwirtschaft nachhaltig schädigen. ({15}) - Sie sind diejenigen gewesen, die verhindern wollten, dass wir zum Beispiel die Verfütterung von Tiermehl verbieten. ({16}) - Sie können sämtliche Protokolle darüber nachlesen. Heino Wiese ({17}) Mein Fazit ist: Wir müssen in Zukunft viel stärker darauf achten, dass die Politik die Abläufe der Landwirtschaftsindustrie kontrolliert. Auch sage ich: Die Futtermittelindustrie ist ein Teil der Landwirtschaft. Der Landwirt kann sich nicht damit herausreden, dass er, wenn er Futtermittel verfüttert, mit dem Inhalt des Futters nichts zu tun hat. Auch der Landwirt muss darauf achten, wie sich sein Futter zusammensetzt. Das gilt sowohl für Tiermehl als auch für andere Zusätze. Ich fordere alle auf, verantwortlich an diesem Thema mitzuarbeiten und sich im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher gegen kriminelle Machenschaften zu wehren. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Staatsminister des Landes Bayern, Eberhard Sinner, das Wort. ({0}) Eberhard Sinner, Staatsminister ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wiese, Sie haben am Schluss Ihrer Rede den Wunsch geäußert, dass Ministerin Künast auch in der nächsten Legislaturperiode Landwirtschaftsministerin sein solle. ({2}) Gott sei Dank gehen nicht alle Wünsche in Erfüllung! Frau Kollegin Künast, ich setze mich natürlich gerne mit Ihnen auseinander. Sie haben ein Feindbild. Es heißt Bayern. ({3}) Doch Bayern entspricht nicht Ihrem Vorurteil. Ich zitiere aus der „Zeit“ Nr. 4 aus dem Jahre 2002: Nirgendwo in Deutschland - so schreibt die „Zeit“ werden Biobauern dauerhaft so großzügig honoriert wie ausgerechnet in dem reichen CSU-regierten Bundesland. ({4}) Nur bemühen die Bayern dafür nicht das Etikett „Agrarwende“. ({5}) Das heißt, wir tun das Richtige, ohne ständig die anderen, die konventionell wirtschaften, zu prügeln und ohne eine ideologische Agrarpolitik zu betreiben, die die einen privilegiert und die anderen diskriminiert. Dies ist der falsche Ansatz Ihrer Agrarpolitik. ({6}) Frau Kollegin Künast, Sie haben aus einem Bericht über Pflanzenschutzmittel zitiert, der sich auf das Jahr 2000 bezieht und heuer im Frühjahr veröffentlicht wurde. Dazu sage ich Ihnen: Wir haben schon vor Erscheinen des Berichts reagiert, indem wir ein neues Ministerium und 500 neue Stellen geschaffen haben. Wir haben die Mängel, die dort beschrieben werden, abgestellt. Zu den behaupteten Mängeln möchte ich sehr deutlich machen, dass die Lebensmittel bei Höchstmengenüberschreitungen natürlich aus dem Verkehr gezogen werden. Sie haben das Thema Grenzwerte angesprochen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn ein Lebensmittel erst nach einer 500- bis 1 000fachen Überschreitung des Grenzwertes gesundheitsgefährdend ist, bedeutet das, dass die Grenzwerte im Sinne der Vorsorge des Verbrauchers richtig gesetzt sind. Wir ziehen schon bei einem Tausendstel der gesundheitsgefährdenden Menge die Lebensmittel aus dem Verkehr, das heißt, bevor sie gesundheitsgefährdend werden. Das ist doch der Punkt. Die Grenzwerte sind wirksam. Das bedeutet aber auch, dass sie eingehalten werden müssen. ({7}) Meine Damen und Herren, Sie wollen heute ablenken, indem Sie den Splitter in Bayern statt den Balken in den eigenen rot-grünen Augen suchen. ({8}) Ich frage mich nur: Was wäre hier los, wenn sich der Nitrofen-Skandal in Bayern und Baden-Württemberg abspielen würde? Da würde hier was geboten. Ich wundere mich, dass Frau Künast jeden Tag neue Meldungen produziert. Ich habe einen Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 6. Juni vorliegen. Da heißt es in der Überschrift: Künast befürchtet Ausweitung des Ökoskandals Weit mehr vergiftete Lebensmittel im Umlauf ({9}) Im dritten Absatz heißt es: Dennoch hält Künast die Gefahr für die Verbraucher aber für weitgehend gebannt. So schnell sind wir in einem Artikel nicht. Der Nitrofen-Skandal ist keineswegs aufgearbeitet und er ist keineswegs aufgeklärt. Das steht im Gegensatz zu Ihrer Behauptung vom vergangenen Samstag um 17 Uhr. Da gab es eine hektische Pressekonferenz, in der Sie erklärten, alles sei aufgeklärt. Nichts ist aufgeklärt. Sie verteilen hier Beruhigungspillen. ({10}) Ich sage in aller Deutlichkeit: Das Verbraucherinformationsgesetz hätte das nicht verhindert. Wir stimmen Heino Wiese ({11}) keinem Gesetz zu, das nach sechs Wochen den nächsten Skandal ermöglicht. Wenn wir ein Gesetz verabschieden, dann soll es auch wirksam sein, damit Skandale verhindert werden. ({12}) Dazu haben wir im Bundesrat entsprechende Anträge gestellt. ({13}) Gestern wurde in einer Vorbesprechung zum Vermittlungsausschuss diskutiert. Ich frage Sie: Wer hat denn den Vermittlungsausschuss angerufen? Das war doch die Bundesregierung, nicht wir. Dann legen Sie auch die Vorschläge vor und warten nicht, bis wir sie machen. ({14}) Das ist nämlich Ihre Aufgabe, wenn Sie den Vermittlungsausschuss anrufen. ({15}) Frau Kollegin Höhn, Sie haben gesagt, der Verbraucher möchte wissen, was in der Wurst ist. Das ist richtig, Frau Höhn. Sie bieten ihm im Verbraucherinformationsgesetz folgenden Weg an: Der Bürger darf einen schriftlichen Antrag bei der zuständigen Behörde stellen, dann bekommt er spätestens nach acht Wochen mitgeteilt, ({16}) was in der Wurst enthalten ist. Anschließend erhält er von der zuständigen Behörde noch eine Rechnung, weil die Untersuchungen möglicherweise etwas gekostet haben. Soll das die Verbraucherinformation sein, die Sie für richtig halten? Das ist nicht unsere Art der Verbraucherinformation. ({17}) Es ist richtig, dass im Lebensmittelrecht einiges geändert werden muss. Dabei müssen wir auf der europäischen Ebene anfangen. Im Weißbuch Lebensmittelsicherheit sind 87 Vorschläge enthalten; die müssen umgesetzt werden. Ebenso muss das Kennzeichnungsrecht auf europäischer Ebene geändert werden; denn der Verbraucher will auf dem Etikett sehen, was in der Wurst ist und nicht erst an eine Behörde verwiesen werden. Das ist unser Alternativvorschlag. Diesen Alternativvorschlag müssen wir auf der europäischen Ebene durchsetzen. ({18}) Wenn ich die Reaktion der Bundesregierung betrachte, halte ich die Art, wie Sie mit dem ökologischen Landbau umgehen, für besonders bedenklich. Sie machen hier Propaganda für ein Gütesiegel „Öko-light“. ({19}) Mit diesem Gütesiegel machen Sie es denjenigen leicht, die manipulieren wollen, und denjenigen schwer, die kontrollieren wollen. ({20}) Sie sagen, Sie brauchen dazu ein Amt für Risikoanalyse. Ich lese Ihnen aus der „Zeit“ Nr. 24 von 2002 vor, wo die Risiken liegen. Die Journalisten können das ohne ein Amt für Risikoanalyse erkennen. Man muss nur seinen gesunden Menschenverstand einsetzen, dann kann man das erkennen. Das Risiko ist das Etikett. Sie fördern einen minderen Standard, der in Europa gültig ist, und diskriminieren damit Bioland, Naturland und Demeter, die ursprünglich den ökologischen Landbau betrieben haben. ({21}) Sie fördern eine riskante Produktion. Die „Zeit“ schreibt: Durch ihr schnelles Wachstum gerät die Biobranche in eine gefährliche Abhängigkeit von Futtermittelherstellern und Verarbeitungsbetrieben. Genau das, was Sie beklagen, fördern Sie, weil es Ihnen um die Quote von 20 Prozent und nicht um die Qualität geht. Das steht im Gegensatz zu dem Motto, mit dem Sie angetreten sind. Anstatt „Klasse statt Masse“ heißt es „Masse statt Klasse“. Das ist die Tatsache. ({22}) Es wird ferner die Futterfalle beschrieben. Dazu braucht man kein Bundesamt für Risikoanalyse. Außerdem werden der brutale Preisdruck und das Märchen vom Pflanzenschutz beschrieben. Die Behauptung, Ökolandwirte würden keine Pflanzenschutzmittel einsetzen, ist totaler Quatsch. Das sagt Stefan Kühne, Leiter des Fachbereiches ökologischer Landbau der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft. Das ist eine Behörde, die zu Ihrem Zuständigkeitsbereich gehört. Wenn man ein solches Siegel einführt und die Schwach- und Risikostellen kennt, dann muss man im Interesse des Verbraucherschutzes diese Schwachstellen abstellen, bevor man für das Siegel wirbt. Sonst betreibt man keine Verbraucherinformation, sondern Verbrauchertäuschung - und das noch mit Steuergeldern. Das ist der eigentliche Skandal. ({23}) Wir müssen im Bereich Landwirtschaft einiges verbessern. Es ist ein Unding - das zeigt der Nitrofen-Skandal -, dass trotz des bei Behörden verschiedener Bundesländer und bei Bundesbehörden vorhandenen Wissens nicht gehandelt wird. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach zum Deutschen Raiffeisenverband gehört. Sie setzen auf das Verbraucherinformationsgesetz und wollen schon bei vagen Verdachtsmomenten informieren Staatsminister Eberhard Sinner können. Frau Kollegin Höhn, wenn Sie hätten informieren wollen, dann hätten Sie das tun können. Sie hätten Betriebe nennen können, aus denen kontaminierte Schweinehälften nach Bayern gelangt sind. Ich könnte zwar die Listen, die ich habe, veröffentlichen. Aber was nutzt es? Warum soll ich einen Metzger in Landshut, der nichts für diesen Skandal kann, durch eine Veröffentlichung schädigen, nur weil jemand in Malchin geschlampt hat? Mecklenburg-Vorpommern ist ein herrliches Land - ich war dort vor kurzem im Urlaub -; es hätte allerdings eine bessere Regierung verdient. ({24}) Anstatt über vage Verdachtsmomente zu informieren, wäre es angesichts des konkreten Wissens Ihre Verpflichtung gewesen, Frau Kollegin Künast, zu handeln, die Waren vom Markt zu nehmen, die Behörden zu informieren sowie die Verbraucher zu schützen und nicht zu verwirren. ({25}) Frau Kollegin Künast, Sie inszenieren sich als Racheengel der Verbraucher. Nach einem Jahr stellen wir fest: Die Flügel fehlen Ihnen und Ihr Schwert ist stumpf. Allein mit „Halleluja, Bio!“-Singen wird die Welt nicht besser. Das heißt, wir brauchen konkrete Maßnahmen und eine Vernetzung der Arbeit in Bund und Ländern. Wir brauchen nicht ständig Belehrungen vonseiten der Bundesebene. Wir wollen zusammenarbeiten, um die Probleme zu lösen. ({26}) Dazu brauchen wir Offenheit und Transparenz. Lesen Sie dazu unsere Anträge, die wir im Bundesrat eingebracht haben! Es darf nicht eine Situation geben, in der es durch Wahlkampfgetöse erschwert wird, Probleme zu lösen. Wir müssen vielmehr versuchen - das biete ich als Gesundheitsminister von Bayern allen Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Ländern an -, gemeinsamen zu handeln. Es geht darum, Probleme gemeinsam zu lösen. Das kann nur durch gegenseitige Unterstützung und Information erreicht werden. Der Verbraucher kann von uns erwarten, dass wir uns im Wahlkampf nicht gegenseitig die Köpfe einschlagen. Dadurch werden die Probleme nämlich nicht gelöst. Packen wir es also gemeinsam an, damit der Verbraucher in Zukunft sichere Nahrungsmittel bekommt! Danke schön. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Höfken von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es verwundert niemanden, wenn ich jetzt auf meine Vorredner, Herrn Lippold, Herrn Heinrich und unseren König ohne Land, Herrn Sinner, eingehe. Es ist ganz interessant, dass man in diesen Beiträgen alles Mögliche hört. Es fällt aber kein Wort zu den Ursachen. Genau das prägt Ihre Debatte; das finde ich überhaupt nicht akzeptabel. Die Tatsache, dass Sie Dreck am Stecken haben, prägt diese Debatte. ({0}) Parteimitglieder von CDU, CSU und FDP sitzen in den Aufsichtsräten dieser Organisationen und dieser Genossenschaften, die die Probleme hier verursachen. Diese Blockadepolitik in Sachen Verbraucherschutz, diese Strategie der Verhinderung von Reformen in der Agrarpolitik und von Ökolandbau hat dazu geführt, dieses Verschwiegenheitskartell aufzubauen und auch jetzt noch zu verteidigen. ({1}) - Darauf komme ich noch, Herr Heinrich. 16 Jahre Politik von CDU/CSU und FDP - bei der FDP sogar noch viel länger - hat genau diese Steilvorlagen für kriminelles Handeln zulasten der Verbraucher und der Betriebe gegeben. Seit Amtsantritt der rot-grünen Regierung gibt es ein neues Kapitel im Verbraucherschutz. Seit Einrichtung des Verbraucherschutzministeriums vor eineinhalb Jahren haben wir ein Gesetz nach dem anderen verabschiedet, wenn auch zu 99 Prozent gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP. Das Tiermehlverfütterungsverbot ist erst nach äußerstem Druck zustande gekommen. Risikomaterialentfernung, BSE-Tests, die Maßnahmen in der Forschung, ({2}) das Biosiegel und QS - das alles ist doch nicht unter Ihrer Regierung zustande gekommen. ({3}) Die Verschärfung der Strafen, das neue Tierarzneimittelgesetz sind gegen Ihre Stimmen beschlossen worden. Auch haben wir endlich Maßnahmen gegen antibiotische Leistungsförderer ergriffen. Das Neuorganisationsgesetz war dringend notwendig, um die Kontrollen und das Risikomanagement effizient werden zu lassen. Des Weiteren erinnere ich an das Ökolandbaugesetz sowie an Verbesserungen bei der Ernährungsaufklärung und -information. Die Meldepflicht im Bereich der Lebensmittelunternehmen, Frau Widmann-Mauz, hatten wir schon beschlossen, als Sie sie beantragt haben. Da sind Sie ein bisschen zu spät gekommen. Daher brauchten wir Ihren Antrag auch nicht anzunehmen. ({4}) All diese Maßnahmen sind erst durch die rot-grüne Bundesregierung und unter Renate Künast zustande gekommen. Das spricht doch deutliche Worte. ({5}) Sie haben gesagt, die Lebensmittel müssten billig sein, und auf die Tränendrüse gedrückt. Wer muss denn diese Staatsminister Eberhard Sinner Skandale bezahlen? Sie sind ein Resultat alter billiger Politik. Wir wollen keine billige Politik. Wir wollen preiswerte Lebensmittel. Vor allem aber arbeiten wir mit Nachdruck daran, dass sich künftig solche Skandale nicht mehr wiederholen. ({6}) Wer den Teppich hochhebt, den Dreck sieht und sich daran macht, ihn aufzukehren, macht sich nun einmal die Finger schmutzig. Das kann uns aber nicht davon abhalten, den alten Dreck aufzukehren. ({7}) Zum Verbraucherinformationsgesetz haben wir gestern eine schwache Vorstellung von Ihnen erlebt. Man sagte, man wolle natürlich irgendwie die Verbraucher schützen. Es macht sich ja auch schlecht, wenn man in der Öffentlichkeit etwas anderes gesagt hätte. Aber man legte keine eigenen Vorschläge dazu vor. Erst hieß es, man müsse die Welt verändern, wozu auch Rot-Grün beitragen solle, und dann wurde es ganz abenteuerlich: Frau Widmann-Mauz schlug vor, dass die Hersteller auf die Wurst schreiben sollten, was in ihr ist. Auch Herr Sinner hat das gerade gefordert. ({8}) Aber wer wird denn darauf schreiben, dass er gegen das Lebensmittelrecht verstoßen habe? Uns geht es darum, genau die Unternehmen identifizieren zu können, die gegen Recht und Gesetz verstoßen, und den Verbraucherorganisationen und der Presse die Möglichkeit zu geben, solche Verstöße veröffentlichen zu können. ({9}) Das war neben dem, was Ministerin Höhn eben aufgeführt hat, der Sinn des Verbraucherinformationsgesetzes. ({10}) Wir wollen Ross und Reiter benennen und gerade damit die vielen seriösen Betriebe schützen. Genau das verhindern Sie. Deshalb machen wir Ihnen den Vorwurf, dass Sie sich auf die Seite derer stellen, die etwas zu verbergen haben und deswegen Verschwiegenheit verlangen. ({11}) Unglaublich ist auch, Herr Sinner und Herr Lippold, dass Sie das Wachstum des Biomarktes beklagen. Es ist ohnehin pervers, das Wachstum einer Branche zu beklagen. Im Übrigen hätte das Biosiegel in der Form, wie Sie es gewollt hatten, überhaupt nichts geändert. Das sind ja zertifizierte Naturlandbetriebe. Daher ist diese Diskussion absurd. Das Biosiegel ist so, wie es ist, in Ordnung. Aber Sie beklagen das Wachstum der Biobranche und beklagen darüber hinaus, dass jetzt konventionelle Betriebe dem Ökolandbau beiträten, die jetzt die schwarzen Schafe seien. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Sie sagen also, in dem Moment, in dem konventionell wirtschaftende Betriebe dazukommen, fänden die Skandale im Ökolandbau statt. Was ist das für eine Strategie? Erstens. Wir wollen, dass die Gesundheit von Menschen weder im konventionellen Bereich noch im Ökobereich beeinträchtigt wird. Das gilt gerade für den Nitrofen-Skandal. Zweitens. Wir unterstützen es, wenn konventionelle Betriebe dazukommen. Wir möchten mit diesen Missständen sowohl in der konventionellen als auch in der Ökolandwirtschaft konsequent aufräumen. ({12}) Ich komme noch einmal zu den Verursachern. Das Dramatische hierbei ist doch - das erbittert mich auch in höchstem Ausmaß -, dass hier Menschen durch den Einsatz von Nitrofen vorsätzlich gefährdet worden sind. ({13}) Die Missstände in dieser Lagerhalle stellen ein vorsätzliches und fahrlässiges Vorgehen dar. Die Nitrofenbelastung gefährdet in hohem Maße beispielsweise das werdende Leben. Nitrofen ist aufgrund von Arbeitsschutzbestimmungen nicht mehr zugelassen. Bereits mit dieser Praxis der Nutzung einer solchen Lagerhalle liegt also eine eindeutig kriminelle Handlung vor. In dem Moment, als die Erkenntnisse vorlagen, fing der eigentliche Skandal an. Und man kann nur sagen, es ist ein Glück, dass es sich in diesem Fall um ein Ökoprodukt handelte, denn nur deshalb ist dieser Missstand entdeckt worden. ({14}) Das war spätestens am 10. April aufgrund der Nachforschungen der Versicherung R+V bekannt. Zu diesem Zeitpunkt hat der Betrieb GS agri weiterhin versucht, diese Produkte als konventionell in den Verkehr zu bringen, ({15}) und hat sie nach Russland exportiert. ({16}) Diese in höchstem Maß kriminellen Handlungen können wir nicht dulden; es ist unsere Aufgabe, sie hier an allererster Stelle zu benennen und anzuklagen. ({17}) Hinsichtlich der Missstände in der Aufklärung können Sie noch so lange damit an die Öffentlichkeit gehen, dass die Bundesforschungsanstalt in einem privatrechtlichen Auftrag etwas ans BMVEL gemeldet habe - in diesem Zusammenhang teile ich durchaus die Auffassung von Herrn Wiese -, aber das ist eine Lüge. Sie machen das nach dem Motto: Da bleibt immer etwas hängen. Es ist eine Lüge, dass das im BMVEL diskutiert wurde.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Achten Sie bitte auf die Zeit.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Fakt ist: Erst mit der Kenntnisnahme im BMVEL, beim Staatssekretär Müller und auf der Leitungsebene wurde konsequent gehandelt. ({0}) - Die Ursachen liegen genau in diesem kriminellen Handeln von GS agri und der NSP, sehr geehrter Herr Kollege. ({1}) Auf diese Ursachen könnten Sie im weiteren Verfahren eingehen. Für uns heißt die Konsequenz: mehr neue Agrarpolitik, mehr Verbraucherschutz und „Weiter so“. Danke schön. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Norbert Schindler das Wort.

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Ich muss darauf antworten, was Frau Ministerin Höhn so locker dahinsagte, treffe aber eine Feststellung vorweg: Herr Minister Sinner hat darauf hingewiesen, welche Starthilfe für die Bauern die Südländer der Bundesrepublik mit ihren Bioprogrammen in den letzten zehn Jahren geleistet haben. Wenn wir heute Morgen diese Auseinandersetzung sehr zum Schaden aller Betroffenen führen, muss man noch einmal herausstellen, dass Länderminister unterwegs waren und welche Leistungen in der Vergangenheit über Länderhaushalte erbracht wurden, um vieles nicht nur in Richtung Ernährung, sondern auch in Richtung Verbraucherschutz zu tun. Ich bin wirklich froh, dass der Nitrofen-Skandal nicht in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz oder in Bayern oder aber in einem konventionell wirtschaftenden Betrieb aufgetreten ist. Was wäre los, wenn irgendwo anders etwas Derartiges geschehen wäre! Seit gestern muss man auch diese Gefahr intensiv hinterfragen: Wo waren weitere Lager mit kontaminierten Reststoffen aus DDR-Vergangenheit? Wo war Getreide zwischengelagert? Deswegen trifft es uns alle. Frau Höhn, Sie sagten in einem Gespräch, in dem es um Vogelschutz in Rheinland-Pfalz ging, 10 Prozent der Landesfläche sollten dafür ausgewiesen werden. Sie in Nordrhein-Westfalen stellen - jedenfalls nach unseren Informationen - noch nicht 8 oder 10 Prozent der Landesfläche gemäß der entsprechenden EU-Auflage bereit. Das ist der Hintergrund einer erbosten Diskussion im Ahrtal im Norden von Rheinland-Pfalz, weil man dort sehr weitgehend in Weinbergflächen eingreift. Das kann man für Nordrhein-Westfalen noch nicht feststellen. Ich habe hier den Zeitungsartikel, den Sie mir dankenswerterweise überlassen haben. Deswegen: Wenn Sie darauf Bezug nehmen, sollten Sie nicht mit aller Gewalt das gesamte Lob auf sich ziehen. Es passte nämlich in der Sache nicht. Eine letzte Anmerkung: Beim Verbraucherinformationsgesetz mache ich sofort mit, wenn jeden Tag auf der Titelseite jeder Zeitung - egal wo -, an der die SPD beteiligt ist, diese Tatsache vermerkt wird. Denn dies gehört auch zur Information des Volkes. ({0}) Wir dürfen nicht nur nach der Wurst schauen, die in 14 Tagen oder acht Wochen nicht mehr vorhanden ist. Vielen Dank.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Möchten Sie antworten? - Bitte. Bei Kurzinterventionen und der Antwort darauf darf man sitzen bleiben. Ihre Redezeit beträgt maximal drei Minuten. Bärbel Höhn, Ministerin ({0}): Herr Schindler, ich freue mich, dass Sie sich darüber geärgert haben, dass die Rheinland-Pfälzer nach NordrheinWestfalen kommen wollen, weil ich so eine gute Landwirtschaftsministerin bin. ({1}) - Danke schön. Ich bin aber nicht nur Landwirtschaftsministerin, sondern auch Umweltministerin. Deshalb finde ich es interessant, dass Sie meinen, diese den Vogelschutz betreffende Problematik habe mit der Landwirtschaft nichts zu tun. Wir verbinden mit der neuen Agrarpolitik Landwirtschaft und Naturschutz. Nordrhein-Westfalen war das erste Land, das gesagt hat: Bei den für FFH, für Vogelschutz gemeldeten Flächen bekommen die Bauern einen Ausgleich dafür, dass sie deshalb mehr Auflagen erfüllen müssen. Dies finden auch die Bauern in den anderen Bundesländern gut. ({2}) Deshalb wollen sie nach Nordrhein-Westfalen. Ich finde es nicht schlecht, wenn geschrieben wird - ich zitiere jetzt den letzten Satz eines Artikels -: Ministerin Höhn hat in Nordrhein-Westfalen als Grüne einen guten Konsens mit der Landwirtschaft gefunden. Für den Text verantwortlich: Bauern- und Winzerverband Rheinland-Nassau e.V. Was soll ich dazu sagen? Ich freue mich, wenn ich gelobt werde. Ich finde es aber auch berechtigt. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Heute ist es eigentlich angesagt, eine Bilanz dessen zu ziehen, wozu das Verbraucherministerium dieses Zuschnitts in den vergangenen anderthalb Jahren beigetragen hat, ({0}) ob der Verbraucherschutz wirklich vorangebracht wurde. Den Erfolg, liebe Frau Kollegin Höfken, lediglich daran zu messen, ob möglichst viele Gesetze gemacht wurden, egal was sie bewirken und egal ob sie sinnvoll sind, ist nicht die Position der FDP. ({1}) Wir möchten inhaltsvolle und sachorientierte Politik machen. Insofern frage ich Sie: Was hat die Einrichtung dieses neuen Verbraucherschutzministeriums eigentlich gebracht? Hat es geholfen, Krisen zu vermeiden? - Das hat es nicht. Die Skandale im Lebensmittel- und Futtermittelbereich brachten im Gegenteil Organisations- und Kontrollmängel zuhauf zutage. Ich nenne hier noch einmal eine sehr wichtige Zahl: Wenn auf Bundesebene durchschnittlich ein Lebensmittelkontrolleur auf 1 800 Betriebe kommt, ist dies ein Zustand, der eigentlich nicht haltbar ist. Nun höre ich immer wieder, dies sei Ländersache. Das ist richtig. Ich finde aber, wenn Ihnen, Frau Künast, daran gelegen ist, dass wenigstens Stichproben gemacht werden, müssten Sie sich im Rahmen einer Bund-Länder-Initiative zusammensetzen und darüber beraten, wie man diese Ansprüche umsetzen kann, ohne dass die Länder finanziell stranguliert werden. Ich finde es unglaublich, dass Sie erst im Rahmen der Krisenbewältigung zum Nitrofen-Skandal gemerkt haben, dass für private Testlabors keine Meldepflicht von gesundheitsgefährdeten Ergebnissen gegenüber den staatlichen Stellen besteht. Dies finde ich wirklich unglaublich. ({2}) Zudem sind die Abläufe im Verbraucherministerium, das nötige Krisenmanagement und die Kooperation zwischen staatlichen Stellen und dem Ministerium nach wie vor chaotisch. Ihr Weg, Frau Ministerin Künast, ist bis heute von Krisen gepflastert. Sie begannen, als die BSE-Krise aufkam, und Sie werden enden - davon war heute Morgen noch gar nicht die Rede - mit der Acrylamidproblematik, die Sie in einer gestrigen Meldung noch ausdrücklich in, wie ich finde, unverantwortlicher Art und Weise verharmlost haben. Von Fachleuten wird gesagt, dass diese Problematik inhaltlich mit dem Nitrofen-Skandal zu vergleichen sei. Es geht um eine Überschreitung der Grenzwerte um bis zu 100 Prozent. Sie spielen das herunter und sagen wie gestern auch -, dass man abwarten müsse, dass Sie noch nichts wissen und dass Sie erst einmal klären müssen, wie die Daten überhaupt zu erheben sind. Ich finde es schon unglaublich, dass Sie das bis heute noch nicht geschafft haben. ({3}) Bezüglich der Frage, ob es ein sinnvolles Gesetz ist oder nicht, sage ich Ihnen ganz ehrlich: Das Verbraucherinformationsgesetz ist ein Placebo-Gesetz und de facto inhaltslos. ({4}) Es suggeriert dem Verbraucher, als erhielte er wertvolle Informationen; dem ist nicht so. Zudem belasten Sie die Kommunen mit Kosten und die Verbraucher mit Gebühren. ({5}) Ein Verbraucherministerium, das entsprechend den Vorgaben der rot-grünen Regierung ausgestaltet ist, ist nach Überzeugung der FDP gescheitert. Sie haben sich überhaupt nicht um den umfassenden Verbraucherschutz, also um die Fragen des Wettbewerbs, die Rechtsfragen, den Datenschutz im Internet und die Euro-Bargeld-Einführung gekümmert. Wie peinlich war doch der AntiTeuro-Gipfel! Dazu haben Sie wirklich nichts beigetragen. ({6}) Das zeigt sehr deutlich, dass Sie in Wahrheit vollkommen gescheitert sind. - Ich kann es gut verstehen, dass Sie nicht zuhören. Es ist ja auch schwer zu ertragen, wenn man so etwas gesagt bekommt. ({7}) Sie sind nicht nur, wie es eben mein Kollege Heinrich gesagt hat, bei der Agrarpolitik und bei der Krisenbewältigung, sondern auch bei der umfassenden Verbraucherpolitik gescheitert. Umfassende Verbraucherthemen werden von Ihnen nämlich überhaupt nicht beachtet. Ich sage Ihnen: In den zuständigen Ministerien gibt es Fachleute, die zur Verbraucherpolitik beitragen können. Wir sind der Ansicht, dass dort die jeweiligen Verbraucherfragen hingehören und nicht in ein groß aufgebauschtes Ministerium, das viel Geld kostet, viel zusätzliche Bürokratie verursacht und bezüglich der Effektivität wirklich gar nichts bringt. Dieses finde ich völlig unnütz. ({8}) Ministerin Bärbel Höhn ({9}) Sie hätten sich - damit wende ich mich auch an meine Kollegen und Kolleginnen hier im Deutschen Bundestag unseren Antrag einmal in Ruhe durchlesen sollen: Wir als FDP-Fraktion haben einen Antrag zum so genannten Gesetzes-TÜV eingebracht. Danach soll bereits in den jeweiligen Ministerien geprüft werden, ob ein Gesetz notwendig und verbraucherorientiert ist und ob es zusätzliche Bürokratie sowie weitere Kosten verursacht. Diesen haben Sie abgelehnt. Ich finde das höchst problematisch. Sie würden nämlich erkennen, dass in den einzelnen Ministerien - bis hin zur Politik - Verbraucherbewusstsein von der Pike auf geweckt und der gesamten Verbraucherproblematik mit einer Sachpolitik ein erheblich sinnvollerer Dienst erwiesen werden könnte. Frau Künast, ich sage Ihnen: Es kommt nicht darauf an, dass die Verbraucherpolitik gut verpackt und mit viel Bürokratie und vielen Gesetzen versehen wird. Es kommt ausdrücklich und ausschließlich auf den Inhalt und darauf an, was dem Verbraucher nützt. Der Verbraucher durchschaut Ihre Verschleierungstaktik. Was bei Ihnen in der Politik drin ist, schreiben Sie absolut nicht drauf. Ich finde, Sie sollten damit beginnen, Ihre Politik zu kennzeichnen. Deswegen sage ich als verbraucherpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion Ihnen: Das ist eine Mogelpackung. Deshalb werden wir diese Politik nach dem 22. September verändern und nachhaltig verbessern. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gustav Herzog.

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit etwas beginnen, was in diesem Hohen Hause eher ungewöhnlich ist, nämlich mit einem Eingeständnis: Erstens. Ich hätte nicht gedacht, dass es während und nach einer ganzen Reihe von Skandalen im Lebensmittelbereich noch einmal einen Vorgang mit einem solchen Umfang gibt. Zweitens. Offenbar reicht unsere Fantasie nicht aus, die Schlampereien, Vertuschungen und kriminellen Energien, die jeden Tag neu aufgedeckt werden, zu erahnen. Es ist gut dreieinhalb Jahre her, seit wir anfangen konnten, eine andere Politik zu betreiben, und gerade einmal 16 Monate, um das Thema Verbraucherschutz ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Seitdem ist sehr viel geleistet worden, aber dieser Zeitrahmen reicht noch lange nicht aus, um allen in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelproduktion zu einem neuen Denken zu verhelfen. ({0}) Es braucht Zeit, das alte Denken aus den verhärteten Strukturen und den Amtsstuben zu verdrängen. Das alte Denken „Was interessiert mich die Gesundheit und das Vertrauen der Verbraucher - wichtig ist mein Geschäft“ muss aus den Köpfen verdrängt werden. Ich betone vor allem im Zusammenhang mit Nitrofen ausdrücklich, dass ich nicht von den Landwirten spreche - denn diese sind unabhängig von ihrer Wirtschaftsweise Opfer der Strukturen und derjenigen, die hartnäckig daran festhalten -, sondern ich denke eher an eine Branche, die vor Jahren noch überlegt hat, in ihre Futtermittel auch Klärschlamm einzumischen. Lassen Sie mich einen Bogen schlagen. Anfang des Jahres hat ein Putenfleischverarbeiter festgestellt, dass in dem Bio-Fleisch, das er bezieht, um es zu Babykost zu verarbeiten, Rückstände enthalten sind, die nicht hineingehören. Spätestens am 28. Januar beginnt GS agri mit der Suche nach dem Eintragungspfad. Mitte März beauftragt die Versicherung, die über all das Kenntnis hat, ein Gutachten, um sich irgendwie aus der Bredouille herauszubringen. Auch die Norddeutsche Saat- und Pflanzgut AG erhält im Laufe dieser Zeit Kenntnis von all den Vorgängen. ({1}) Es handelt sich um einen Bogen, der jeden Tag erweitert werden muss und mit neuen Informationen gepflastert wird. Es erfüllt mich mit großer Sorge, dass es Hinweise gibt, dass bereits 1999 in Malchin Einlagerungen erfolgt sind. ({2}) - Es war nicht dieser Weizen. Er war zu dem Zeitpunkt nämlich noch nicht ausgesät, lieber Herr Kollege Carstensen. ({3}) Die ersten Hinweise über die gesamte Angelegenheit trafen im BMVEL am 21. Mai ein. Dann ging es los. Innerhalb von zwei Wochen wurde Aufklärungsarbeit geleistet, ohne zu vertuschen und zu beschönigen. ({4}) In dieser Affäre werden alle, die etwas zu verantworten haben, zur Rechenschaft gezogen. Die Öko-Verbände und die Kontrollstellen werden dabei keine Ausnahme darstellen. ({5}) Alle, die sich auf die Position zurückziehen, dass sie rechtlich nicht verpflichtet waren, Meldung zu erstatten, sollten die moralische Verantwortung tragen und ihre Konsequenzen daraus ziehen. Darin schließe ich mich den Ausführungen meines Kollegen Wiese an. ({6}) Die rechtlichen Lücken haben wir mit dem Ökolandbaugesetz und den gestern im Ausschuss beschlossenen Änderungen im Futtermittelgesetz und im Lebensmittelund Bedarfsgegenständegesetz geschlossen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, was denken eigentlich die Menschen, die das alles verursacht haben? Da liegen auf ihren Schreibtischen Analyseergebnisse für Produkte wie Weizen, Tierfutter, Eier und Fleisch, das für Babynahrung bestimmt ist. Auf diesen Analysenergebnissen steht: Grenzwerte sind überschritten worden; es sind verbotene und gesundheitlich bedenkliche Mittel eingesetzt worden. Was aber passiert bei diesen Menschen, die dies auf ihrem Schreibtisch finden, und zwar in einer Zeit, in der allgemein über verbotene Antibiotika in Garnelen, verbotene Spritzmittel bei Äpfeln und Birnen und illegale BSE-Labors diskutiert wird? Es ist doch davon auszugehen, dass jeder anständige und einigermaßen redliche Mensch Meldung erstatten und alles daran setzen würde, um zu verhindern, dass diese belasteten Lebensmittel in den Babybrei oder auf den Teller eines Kindergartens kommen. Nein, diese Menschen missachten bei den Futtermitteln Gesetze und weil es keine gesetzlichen Vorschriften, keine Verordnung und keine umfassende Dienstanweisung gibt, werden die ihnen vorliegenden Informationen nicht weitergeleitet und kein persönliches Engagement entwickelt, um das zu verhindern und, was eine einfache gesellschaftliche Selbstverständlichkeit wäre, diesen Vorfällen nachzugehen. Das halte ich für den eigentlichen Skandal, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) - Ulrich Heinrich [FDP]: Ich dachte, das BMVEL hat eine Dienstanweisung gegeben!)

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, da Sie gerade bei den Schuldzuweisungen an die verschiedenen Bereiche sind, darf ich Sie fragen, ob Sie auch in Ihre Überlegungen einbezogen haben, dass - so liegt es mir aus der Presse vor - dem Geschäftsführer des Naturlandverbands, Herrn Herrmann, bereits zum Jahreswechsel die Beeinträchtigungen seiner Produkte bekannt gewesen sind und er seinen Aussagen zufolge beim Naturlandverband Alarm geschlagen hat, aber in keiner Weise die zuständigen Behörden informiert hat. ({0}) Sind Sie der Meinung, dass sich der Naturlandverband angemessen verhalten hat, oder haben Sie ihn bei Ihrer Aufzählung nur vergessen?

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe in meinen bisherigen Ausführungen bereits erwähnt, dass auch die entsprechenden Kontrollstellen und die Ökoverbände Verantwortung übernehmen müssen. Ich kann aber auf keinen einzelnen Verband eingehen, weil noch keine entsprechenden Informationen auf dem Tisch liegen. Weil das selbstverständliche menschliche Verhalten bei dem jetzigen Skandal nicht vorhanden war, machen wir Gesetze und Verordnungen. Sie beschweren sich, dass wir alles bis in das letzte Detail regelten und mit Vorschriften zupflasterten. Hinterher beklagen wir uns dann, dass das Ganze nur noch ein Papierkrieg ist. In weniger als zwei Wochen wurde der Täterkreis eingegrenzt, wurden Warenflüsse gestoppt und weitere Gesetzesänderungen angeschoben. Vieles wurde gegen die Verhinderer von CDU/CSU auf den Weg gebracht, die im Schulterschluss mit dem Deutschen Bauernverband und dem Deutschen Raiffeisenverband schon am ersten Tag nach Bekanntwerden des Skandals den Ökolandbau als Verursacher ausgemacht haben - das hätten Sie gerne gehabt -, die ohne Sachkenntnisse Schuldzuweisungen vornehmen, die, anstatt im Ausschuss zuzuhören, offenbar nach einer Dienstanweisung von Herrn Glos draußen ({0}) den Rücktritt von Frau Ministerin Künast fordern und unproduktive Verdächtigungen in Richtung Ökolandbau aussprechen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Er soll warten. Ich komme auf ihn noch zu sprechen. Vielleicht hat sich seine Frage dann schon erledigt. Es ist reichlich makaber, dass diejenigen, die gleich zu Beginn des Skandals den Ökolandbau als Verdächtigen ausgemacht haben, nun die Hilfe organisieren wollen. Ich sage: Angesichts der jetzigen Situation brauchen die gesamte Landwirtschaft und insbesondere der Ökolandbau die Hilfe aller. Lassen Sie mich nun den angesprochenen Bogen schließen, der sich immer mehr mit Informationen füllt. Fest steht, dass ein wesentlicher Ausgangspunkt bei der NSP zu finden ist. Im Zentrum des Skandals stehen des Weiteren die GS agri, der Betrieb „Grüne Wiese“ sowie andere Unternehmen. Zuletzt reichten die Verdachtsmomente Jahre zurück und bis an die russische Grenze. Ich kann Ihnen nur sagen: Auf dem konventionellen Markt wäre die verseuchte Ware einfach durchgelaufen. Das Problem wäre im wahrsten Sinne des Wortes gegessen worden. ({0}) In keinem anderen Bereich wird auf so breiter Ebene analysiert und kontrolliert wie bei der Erzeugung von Babynahrung und Ökoprodukten. Seien wir doch ehrlich: Wo wird denn überhaupt noch nach einem Mittel gesucht, das seit zehn Jahren verboten ist und eigentlich von keinem Praktiker mehr angewendet wird? Niemand von uns kann ernsthaft behaupten, dass dies noch durchgängig kontrolliert wird. Die Babynahrung - das habe ich bereits erwähnt, Herr Kollege Schindler - wird natürlich aus Ökoprodukten hergestellt. Jetzt zu Ihnen, Herr Kollege Heinrich. Sie reden immer sehr ausführlich über das QS-System. Ich glaube, auch ein solches System hätte den jetzigen Skandal nicht verhindern können; denn auch bei dem QS-System gibt es Schwachstellen. So haben zum Beispiel diejenigen, die sich daran beteiligen, bis zu einem Jahr Zeit, bevor sie zertifiziert werden. Meine Bitte an die Verantwortlichen des QS-Systems ist, lieber noch etwas zu warten und die eine oder andere Schwachstelle auszumerzen; denn, Herr Kollege Heinrich, auch bei dem QS-System ist zum Beispiel keine umfassende Analyse der eingesetzten Produkte vorgesehen. Das ist eigentlich auch nicht bezahlbar, kostet doch eine einfache Dioxinanalyse 500 Euro und mehr. Herr Kollege Sinner, ich verstehe nicht, warum Sie auf dem Biosiegel so herumreiten und es als „öko light“ denunzieren. Nach meiner Erkenntnis gehört bzw. gehörte der Naturlandverband, der von Ihrem Kollegen angesprochen worden ist, zur AGÖL. Es kann also keinesfalls im Zusammenhang mit dem Ökosiegel von „öko light“ gesprochen werden. Hören Sie auf, das Biosiegel zu diffamieren. Stillschweigend wurde von den Beteiligten nach finanzieller Schadensbegrenzung gesucht. Helfershelfer in den Kontrollstellen und in den Verbänden des ökologischen Landbaus gehören dazu. Doch diese Zeiten müssen vorbei sein. Wir werden weiterhin klarstellen, wer die Verantwortlichen für den jetzigen Skandal sind, wer die Ermittler sind und wer versucht, die Aufklärung zu blockieren, und sich damit auf die Seite der Täter stellt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Carstensen das Wort.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Herzog! Auch ich gestatte mir, mit einem Bekenntnis zu beginnen. Ich bekenne, dass ich immer mehr Respekt vor der Entscheidung der Bundesministerin a. D. Fischer bekomme, die in ihrem Haus entdeckt hat, dass sie Probleme hat, dass Informationsstränge nicht laufen, und zurückgetreten ist. ({0}) Ich habe selten jemanden erlebt, Frau Künast, der sich so häufig an dieses Pult und vor die Presse stellt und sagt: Alle anderen sind schuld gewesen, alle anderen haben Verfehlungen begangen, bei allen anderen klappt es nicht. Aber Sie hätten, so sagen Sie, alles getan. - Nein, Sie haben nicht alles getan. Das ist das, was wir Ihnen ankreiden und weswegen wir uns hier gemeinsam ärgern. ({1}) Sie schieben der Opposition zu, sie habe sich gesträubt, bei den letzten vier Gesetzen, die verabschiedet worden sind, mitzumachen. Sie folgern daraus, die Opposition, die CDU/CSU habe etwas gegen Information von Verbrauchern. ({2}) - Das tun Sie und das ist ein Fehler, lieber Kollege Weisheit. Ich staune, dass dieses Parlament, dass die Regierungsfraktionen Verfahren mitmachen, bei denen wir nicht einmal die Möglichkeit haben, uns bei wichtigen Gesetzen ordentlich einzuklinken. Sie haben uns zugemutet, in den fünf letzten Sitzungswochen vier große Gesetze zu verabschieden: das Verbraucherinformationsgesetz, das Neuorganisationsgesetz, das Absatzfondsgesetz, das Tierarzneimittelgesetz. Und dann sagen Sie, wir seien nicht bereit gewesen, etwas dazu beizutragen. Nein, meine Damen und Herren, es gab sachliche Gründe, die Herr Sinner hier vorgebracht hat, dass wir dem Verbraucherinformationsgesetz nicht zugestimmt haben. Es gibt auch parlamentarische Gründe, dass man bei einem solchen Verfahren nicht sagen kann, dies sei ordentlich beraten worden. ({3}) Wir möchten Verbraucherinformationen über die Wurst haben, aber bevor das Verfallsdatum eingetreten ist, und nicht in der Form dieses bürokratischen Monstrums, wie Sie es uns auf den Tisch gelegt haben. ({4}) Frau Künast, Sie haben auf einen Mangel beim konventionellen Landbau geschlossen, indem Sie ein Gutachten über einen Fund von DDT und Nitrofen angeführt haben. Dies sei ein Zeichen der Vermischung mit im konventionellen Anbau produziertem Weizen. ({5}) - Aber entschuldigen Sie, wenn Sie sich hier hinstellen und dies als eines Ihrer Argumente verwenden, können Sie jetzt nicht sagen, das sei nur ein Zitat gewesen. ({6}) Wie kommen Sie eigentlich dazu, den konventionellen Landbau mit DDT und Nitrofen in Verbindung zu bringen? Auch da sind diese Mittel verboten, sie haben nichts mit konventionellem Landbau zu tun. ({7}) Die Frau Kollegin Teuchner hat sich beschwert, dass wir zitieren würden. Ich habe festgestellt und ich nehme das zur Kenntnis, dass Heino Wiese gern möchte, dass Frau Künast weiterhin Landwirtschaftsministerin bleibt. Heino, du bist fast schon ein Sektierer; davon gibt es wenige bei euch in der Partei. Damit es nicht heißt, wir würden aus den eigenen Papieren zitieren, zitiere ich aus Materialien der SPD. Da gibt es eine Pressemeldung über Frau Teuchner, in der es heißt: Im Übrigen nannte Jella Teuchner die Landwirtschaftspolitik in Berlin ein leidiges Thema. In letzter Zeit gibt es mehrere Pressemitteilungen von Minister Bartels in Niedersachsen, in denen er über die verfehlte Politik der Frau Künast gesprochen hat. Es gibt sogar eine Pressemitteilung von dir, Matthias Weisheit: Eines sollte nach Aussage von Matthias Weisheit nach dem 22. September die Regierung und die Bauern nicht mehr belasten: das Thema Künast. ({8}) Dies sollte danach erledigt sein, meinte er bei einem Treffen mit BWV-Funktionären, bei dem er offen bekannte, dass auch für ihn die Schmerzgrenze überschritten sei und er die Ministerin keine vier weitere Jahre ertragen könne. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Carstensen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weisheit?

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gern, selbstverständlich. Wenn er das noch einmal bestätigen möchte, dann bitte.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Carstensen, ist Ihnen bewusst, dass es keine Pressemitteilung von mir, sondern ein Pressebericht war, ({0}) in dem ich falsch wiedergegeben worden bin? Ich habe es übrigens schon klargestellt.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bestätige gern: Das ist ein Pressebericht aus der „Fränkischen Landeszeitung“, in dem Matthias Weisheit so zitiert wird, ({0}) kenntlich gemacht durch Anführungszeichen. ({1}) Welche Situation besteht denn im Moment? Die Ministerin hat mit einem Problem zu tun, wir alle haben mit einem Problem zu tun. Sie hat am letzten Sonnabend, als diese Halle in Mecklenburg-Vorpommern gefunden wurde, gesagt: Jetzt sind die Täter erkannt. Diese Geschichte ist aufgeklärt. - Es ist schon erstaunlich, Frau Künast, dass ihr Staatssekretär Thalheim, weil er offensichtlich ein bisschen mehr davon versteht, weil er weiß, wie Landwirtschaft funktioniert, und weil er den Unterschied zwischen Milligramm und Mikrogramm offensichtlich besser kennt als Sie, heute gesagt hat: Dies kann nicht sein. Diese Geschichte ist noch lange nicht aufgeklärt. Sie machen eine Schuldzuweisung in eine Richtung, nur weil Sie meinten, am Sonnabend Ihren Lieblingsverdächtigen und Ihre Lieblingsfeinde ausgemacht zu haben. Ich wäre Ihnen schon sehr dankbar, wenn Sie da ganz vorsichtig wären. Sie haben gemeint, mit einer Anklage von Treuhand-Mitgliedern scheine diese Geschichte für die Bundesregierung aus der Welt zu sein. Zitat Künast: Der Nitrofen-Skandal war kein Ökoskandal und kein Künast-Skandal. - Nein, meine Damen und Herren, dies ist schon ein Künast-Skandal. Dies ist ein Skandal der Aufklärung in diesem Ministerium. ({2}) Wir haben gesagt: Das Verbraucherinformationsgesetz ist kein taugliches Mittel. Ich füge hinzu: Notwendig wäre eher ein Behördeninformationsgesetz gewesen, in dem die Strukturen der Informationen in den Behörden geregelt werden. Wenn es das gegeben hätte, hätten Sie nicht erstaunt darüber sein können, dass die Nitrofenbelastung offensichtlich schon vor gut zehn Monaten in den Produkten gewesen ist. Wann soll das denn geerntet worden sein? Wir haben Ihnen im Ausschuss ganz deutlich gesagt: Wenn die Firma Hipp schon im November Nitrofen in ihrem Putenfleisch gefunden hat und wenn die Putenproduktion 140 Tage dauert, dann müssen Sie davon ausgehen, dass schon zwei Monate vorher Nitrofen im Futter gewesen ist. So blind kann man doch nicht sein! Bevor es sich durchsetzt, dass sich die Angeklagten selbst freisprechen, möchte ich doch noch ein paar Punkte der Anklage vertiefen: Sie haben nicht die richtigen Schlüsse aus dem BSESkandal gezogen. Sie haben davon gesprochen, dass Sie eine Wende in der Agrarwirtschaft, in der Agrarpolitik wollen. Der Kollege Backhaus, SPD - das sage ich dazu, falls es vergessen wird; Entschuldigung, dass ich immer nur SPD-Leute zitiere; anderen würden Sie ja nicht glauben -, fragte: Was ist denn das für eine Wende? Ich habe von der Wende noch gar nichts festgestellt. ({3}) - Ich sage Ihnen: Sie haben den Fehler gemacht, dass Sie sich darauf konzentriert haben, zwischen der konventionellen Landwirtschaft und der ökologischen Landwirtschaft einen Graben auszuheben. ({4}) Sie haben dafür gesorgt, dass die Gräben, die zugeschüttet waren, wieder aufgerissen wurden. Ökologische Landwirtschaft war bei uns akzeptiert. Das waren Bauern, die ordentlich produziert haben und auf ihren Betrieben Geld verdient haben. Die haben gesagt: Wir wollen das aus Überzeugung und wir wollen das, weil wir mit unseren Betrieben Geld verdienen müssen. - Sie haben nicht dafür gesorgt, dass die Zusammenarbeit, die zwischen den Betrieben bestanden hat, gefördert wird, sondern Sie haben dafür gesorgt, dass die einen als die Guten und die anderen als die Schlechten hingestellt wurden. ({5}) Liebe Frau Künast, einer ihrer entscheidenden Fehler ist, dass Sie den Verbrauchern, die gern auch weiterhin ökologische Produkte kaufen wollen und sollen - ({6}) - Sicherlich: auch werden. Wenn man eine Ausweitung des ökologischen Landbaus will, Kollege Herzog, dann hätte man der Ministerin auch mal vorschlagen können: Erzählen Sie einmal auf den Parteitagen der Grünen, dass die alle solche Produkte kaufen sollen. Es gibt 6 Prozent grüne Wähler. Wenn die alle so kaufen würden, hätten wir auch 6 Prozent Produktion im ökologischen Landbau. Dies wäre ein Weg gewesen, wäre der richtige Weg gewesen, von der einen Seite, von der Seite des Verbrauchers, zu Peter H. Carstensen ({7}) kommen. Aber nein, Sie haben erstens dafür gesorgt, dass mit Ihrem sechseckigen Biozeichen die Standards heruntergesetzt werden, und Sie haben zweitens gesagt, wir müssen dahin, wo die Masse der Verbraucher einkauft, nämlich in die Supermärkte. Dies ist jetzt natürlich auch geschehen und deswegen kommen wir zu Strukturen, die Sie nicht mehr übersehen können. Sie sollten sich bitte einmal den Artikel in der „FAZ“ von Herrn Götz Schmidt, der ja nun nicht jemand ist, der gegen Bio spricht und schreibt, sondern an sich einer sein müsste, der auf Ihrer Seite steht, ansehen; ich glaube, dieser Artikel ist eben auch schon einmal angesprochen worden. Wenn Sie den Verbrauchern noch weiter erzählen, dass Biolandwirtschaft nichts mit großer Landwirtschaft zu tun hat, wenn Sie also verschweigen, dass es die Abkehr von den Agrarfabriken, von denen der Kanzler gesprochen hat, nicht gegeben hat, werden Sie scheitern. Wir haben nämlich im Biobereich inzwischen auch Betriebe, die 240 000 Hennen halten, die 180 000 Eier am Tag vermarkten. ({8}) Wir haben Betriebe, die nicht mehr in der kleinen Kreislaufwirtschaft arbeiten können, weil auch hier natürlich in der größeren Struktur arbeitsteilig gewirtschaftet wird, und wir bekommen Betriebe, die importiertes Getreide mit verwenden sollen; denn wir haben ja bei uns in der Produktion gar nicht genügend Ökogetreide, Ökoweizen. Wir kriegen Ökoweizen aus Dänemark, liefern anschließend konventionell produzierten Weizen nach Dänemark, der dann auf Ökobetrieben in Dänemark verfüttert wird, damit anschließend die Ökoprodukte bei uns auf den Markt kommen. Wenn Sie dies den Verbrauchern nicht endlich einmal mitteilen, ihnen nicht sagen, wie sich die Ökoproduktion inzwischen entwickelt hat und dass die notwendigen Kontrollen nicht stattfinden, obwohl die Eigenkontrollen nicht ausreichen, weil sich die Eigenkontrollen zu einem großen Teil auf Buchkontrollen und nicht auf Produktkontrollen konzentrieren, werden Sie hier auch weiterhin scheitern. Insofern, meine Damen und Herren, ist das nicht nur ein Skandal, der in Ökobetrieben passiert ist, sondern auch ein Skandal, den Sie, liebe Frau Künast, zu verantworten haben. Zum Schluss sage ich noch einmal, ich habe einen Heidenrespekt vor der Frau Fischer, die seinerzeit die Konsequenzen gezogen hat. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Matthias Berninger. Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Versetzen Sie sich bitte in die Lage von Müttern, die ihre Kinder in einen Bremer Kindergarten schicken; dieser Kindergarten wird über Wochen mit Putenfleisch einer Firma „Grüne Wiese“ beliefert. Der Geschäftsführer dieser Firma ist gleichzeitig verantwortlich für das Unternehmen GS agri, hat lange Kenntnis davon, dass er ein Nitrofen-Problem nicht nur im Futter, sondern auch im Fleisch dieser Puten hat, und liefert weiter. Meine Damen und Herren, das ist das Zentrum dieses Skandals. ({0}) Ich habe mir heute den ganzen Morgen über angehört, was von Ihnen gesagt wurde. Von Ihnen kam dazu nichts. Das ist Ihnen nicht eine Bemerkung wert gewesen. ({1}) Meine Damen und Herren, wir müssen über die Versäumnisse an allen Stellen reden. Aber die Ministerin hat in ihrer Regierungserklärung deutlich gemacht, dass es zwei Verantwortungskreise gibt: den Bereich der Kontrolle und der Aufklärung und den Bereich der Verursacher. Wenn wir diesen Skandal bewältigen wollen, wenn wir aus diesem Skandal lernen wollen und unsere Lebensmittel wieder sicherer machen müssen, dann müssen Sie endlich Ihre Blindheit auf dem Auge aufgeben, bei dem es für Sie unangenehm wird, meine Damen und Herren. ({2}) - Jetzt kommt der Kollege Heinrich und sagt: Hahaha, wer ist denn auf einem Auge blind? - Genau Sie, Herr Kollege Heinrich, haben hier eine Rede gehalten, die mich so erzürnt, weil Sie nämlich zu den Verursachern, zu denen, die das über Wochen wussten, nichts gesagt haben, sich sogar schützend vor sie gestellt haben. ({3}) Meine Damen und Herren, es hat Versäumnisse gegeben, Staatsanwaltschaften ermitteln. ({4}) - Herr Kollege Heinrich, nein, wir alle sind dem Wohle des deutschen Volkes verpflichtet, ({5}) dem Wohl dieser Mütter und der Kinder in diesem Bremer Kindergarten. Es geht hier nicht um dieses Kindergartenspiel, dass Regierung immer Opposition beschimpft und umgekehrt. Wir haben eine viel größere Verpflichtung als ewig diese kleinkarierte Krittelei, die man von Ihnen hört. ({6}) Das Grundthema ist, dass es Versäumnisse gegeben hat. Verwaltungen und Staatsanwaltschaften hatten Kenntnisse Peter H. Carstensen ({7}) davon. Es gibt Ketten im Bio-Bereich, die davon nicht nur Kenntnisse hatten, sondern still Rückrufaktionen durchgeführt haben. Es gibt Verbände, die davon Kenntnis hatten und diese Informationen nicht mit dem notwendigen Nachdruck weiterleiteten. Es gibt die Bundesanstalt für Fleischforschung mit Sitz in Kulmbach, in unserem Verantwortungsbereich, die ebenfalls davon aus einer privaten Untersuchung Kenntnis hatte. ({8}) Warum stand das Zitat aus dem R+V-Gutachten an erster Stelle in der Regierungserklärung? Weil man von diesem Haus aus an die Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung, gleich wo sie sitzen, ob in den Kreisen, in den Ländern oder im Bund, appellieren muss, dass sie, wenn sie entsprechende Informationen bekommen, damit verantwortungsvoll umgehen und sie in Zukunft nicht mehr einfach abheften. Damit versündigen sie sich nämlich an der Gesundheit der Menschen. Das ist in diesem Zusammenhang das zentrale Signal. ({9}) Meine Damen und Herren, es gibt einen weiteren wichtigen Punkt: Alle diese Fragen muss man zu dem Zeitpunkt aufklären, zu dem die wesentlichen Ursachen der Krise abschließend geklärt sind. Wir können heute mit großer Sicherheit sagen, dass aufgrund der Tatsache, dass dieses Getreide in einem ehemaligen Pestizid-Zentrallager gelagert hat, die Bäuerinnen und Bauern keine Schuld trifft und dass es kein systematisches Vergiften von Biogetreide durch sie gibt. ({10}) Das hat die Ministerin am vergangenen Samstag der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben, weil sich diese Krise zulasten der Bauern auszuweiten drohte. Ich halte es nach wie vor für richtig, dass es so gemacht wurde. ({11}) Ich danke Ihnen, Herr Kollege Schindler, für Ihren Zwischenruf, dass das bei BSE ganz genauso war. Auch sonst verstehen wir uns ja gut. Es ist nämlich richtig: Auch bei der BSE-Krise war es so, dass den Bauern bis zum letzten Tag tiermehlhaltiges Futter verkauft wurde, auch von der Raiffeisen. Was, meine Damen und Herren, hat die R+V-Versicherung danach gemacht? Sie verkauft den Bauern BSE-Schutzversicherungen und verdient gutes Geld damit. Diese Sachen muss man öffentlich benennen; sie gehen nämlich auf die Knochen der Bauern. ({12}) Wo wir jetzt schon einmal bei diesem Thema sind: Ich erinnere mich, dass im Januar dieses Jahres Herr Sinner hier gestanden hat und solche Hass- und Schimpftiraden auf die Firma Südfleisch losgelassen hat, dass die Abgeordneten der CDU/CSU sozusagen schrittweise hinter den Bänken verschwunden sind. Auch Südfleisch ist in diesem Genossenschaftsverband. Wir wollen - das ist notwendig -, dass sich die Vertreter des Bauernverbandes, die für die Bauern bei der Raiffeisen Kontrollfunktionen wahrnehmen, ebenso reinhängen und ebenso aufklären, wie das in den Ländern und bei uns im Ministerium zurzeit passiert, und dass sie damit einen Beitrag zur Sicherheit der Lebensmittel leisten. Das wollen wir. ({13}) - Lieber Herr Vorsitzender Carstensen, gerne gehe ich auf Ihren Zwischenruf ein, warum ich keine Öko-Verbände benennen würde. Ich habe mich schon die ganze Woche über zu diesem Thema geäußert. Natürlich sind auch die Namen dieser Verbände gefallen. Ich bin auch gerne bereit, sie zu nennen: Eine Kette namens Dennree hat eine Rückrufaktion gestartet, und Naturland, hier schon mehrfach genannt, ist ebenfalls in diesen Zusammenhang zu stellen. Es gibt aber auch mit Bioland einen Verband, der das einzig Richtige gemacht hat: Er hat bei uns angerufen. Einen Tag danach ist die Aufklärung in Gang gekommen. ({14}) Zehn Tage später wussten wir, die Schuld trifft nicht die Biobauern. Insofern sollten Sie nicht unser Krisenmanagement kritisieren, sondern gemeinsam mit uns dafür eintreten, ({15}) dass die Not leidenden Bauern jetzt eine Übergangshilfe von uns bekommen. An und für sich ist aber nicht der Staat verantwortlich, sondern die Verursacher dieses Skandals müssen den Bauern, die jetzt unschuldig von diesem Skandal betroffen sind, Schadenersatz leisten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schindler?

Matthias Berninger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002627

Sehr gern.

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, wenn ein Kripo-Beamter einen Tathergang aufnimmt, teilt er dies automatisch dem Innenminister seines Landes mit? Wenn ein Versicherungsmitarbeiter bei R+V einen Schadensfall auf den Tisch bekommt, teilt er dies sofort dem Präsidenten des Deutschen Raiffeisenverbandes mit? Ich nehme keinerlei Aufsichtsfunktion in einem genossenschaftlich organisierten Verband, einer Organisation oder einer GmbH wahr. Ich bitte aber doch um eine realistischere Darstellung dessen, was in Ihren Häusern nicht richtig gelaufen ist und was Sie jetzt im Nachhinein so selbstverständlich anklagen, von Kulmbach bis hin zu interministeriellen Gesprächen, wo dieses Thema im zeitigen Frühjahr einmal eine Rolle spielte. ({0}) - Auf Beamtenebene, Frau Ministerin. Jetzt versucht man, wieder Gräben aufzureißen, Repräsentanten in direkte Verantwortung zu nehmen, was in einer GmbH nach Wirtschaftsrecht, ({1}) was in einer Genossenschaft nach Selbstverwaltungsrecht selbstverständlich ist. Lieber Kollege Berninger, wir beide sind doch lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass wir der Sache nicht dienen, wenn wir uns öffentlich gegenseitig abschlachten. Auch dieser Grad der Polemik dient den Betroffenen weiß Gott nicht. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Schindler, jetzt müssen Sie stehen bleiben. ({0})

Matthias Berninger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002627

Frau Präsidentin, ich glaube, dass der Kollege Schindler hier einen ganz wichtigen Punkt angesprochen hat. Deswegen gestatten Sie mir, die Frage, wenn ich sie auch nur indirekt mitbekommen habe, zu beantworten. ({0}) Die Union hat letzten Mittwoch den Rücktritt der Ministerin gefordert, weil ein Mitarbeiter der Bundesanstalt für Fleischforschung der Ministerin die Information nicht sofort weitergegeben hat. ({1}) - Donnerstag, Entschuldigung. Normalerweise tagen wir mittwochs. Die Forderung war trotzdem falsch. - Jetzt sagen Sie, man könne doch nicht die Raiffeisen-Genossenschaft oder das Aufsichtsratsmitglied Gerd Sonnleitner bei der R+V-Versicherung für Versäumnisse, die dort passiert sind, verantwortlich machen. Da haben Sie Recht. ({2}) Das ist aber auch nicht das, was wir tun. Wir wollen, dass Herr Sonnleitner, der für die Bauern in diesen Aufsichtsgremien sitzt - viele andere Vertreter des Bauernverbandes tun das ebenfalls -, offensiv aufklärt. Dort ist man einen Schritt weiter als Sie; denn dort ist das längst angekommen. Wenn ich die Gespräche, die ich dazu gestern geführt habe, richtig deute, wird das jetzt auch gemacht. Das ist auch bitter nötig; denn in den kurzen anderthalb Jahren, in denen ich Verantwortung trage, ist das der dritte Lebensmittelskandal, bei dem ich auf den Namen Raiffeisen stoße. Deswegen muss sich da grundsätzlich etwas ändern. ({3}) Minister Sinner hat in seiner Rede wieder einmal wortreich erklärt, warum die Union das Verbraucherinformationsgesetz blockiert. Dazu ist viel gesagt worden. Die Verbraucher wollen die Informationen, Sie enthalten sie ihnen vor. ({4}) Am langen Ende werden wir uns durchsetzen. Er hat dann das Verbraucherschutzgesetz kritisiert. Was wollen wir mit dem Verbraucherschutzgesetz erreichen? Wir wollen, dass der Bund generell eine koordinierende Aufgabe bekommt. Wissen Sie, wie es im Moment läuft? In Friedenszeiten macht das die AMK. Da sitzen die Damen und Herren Minister in der AMK zusammen, die Länder koordinieren sich untereinander und das läuft alles ganz nett und kuschelig. ({5}) Sobald auch nur die geringste Krise auftaucht - das war auch beim BSE-Test-Skandal in Bayern so; es ist also egal, wer regiert -, hängen sie alle an den Lippen unserer Beamten und dieser Ministerin, die dann nämlich das Krisenmanagement übernehmen muss. ({6}) Das wollen wir generell ändern. Der vernünftige Weg ist, dass wir für eine Neuordnung sorgen, die dem Bund die zentrale Aufgabe zuteilt, in Krisenzeiten zu koordinieren. Eine letzte Bemerkung zum Thema Ökolandbau. Die Polemik gegen das Biozeichen und die EU-Ökoverordnung ist in dieser Krise völlig falsch. ({7}) Wir sind für eine volle Umstellung der Betriebe, nicht für eine Teilbetriebsumstellung. Wir alle wollen, dass Ökofutterkreisläufe geschlossen sind. Das ist nicht überall in Europa Konsens. ({8}) Aber die EU-Ökoverordnung war die erste Verordnung, die klar und vernünftig die Kontrollstandards im Ökobereich gesetzlich festgelegt hat. Da bietet die EU-Ökoverordnung nicht die zentrale Angriffsfläche. Wir wollen diese Verordnung weiterentwickeln. Wir haben ein sehr gutes Gewissen, was das angeht. Das Ökolandbaugesetz ist lange vor dieser Krise in den Bundestag eingebracht worden. Die Veränderungen in der Ökoverordnung, die wir wollen, sind lange vor dieser Krise in einem Memorandum eingebracht worden. ({9}) Auch die Veränderung, dass die Futtermittelmischwerke ebenfalls in die Verordnung aufgenommen werden, ist von uns lange vorher angeregt worden. Wir wollen, dass der Biomarkt wächst. Zum Abschluss will ich Folgendes klarstellen. Wer jetzt sagt, solche Unternehmen wie GS agri haben mit dem Biobereich nichts zu tun, sie sollen nur konventionell vorgehen, der muss eine Frage beantworten: Wenn diese Unternehmen so fahrlässig handeln, dass man sie mit dem Biobereich besser nicht in Verbindung bringt, wollen Sie das dann den Bauern, die konventionell Lebensmittel produzieren, und den Verbrauchern zumuten? ({10}) Diese Diskussion ist völlig falsch. In dem Sinne liegen Sie mit Ihren Angriffen daneben, lieber Herr Sinner. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnte Annette Widmann-Mauz.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Berninger, zunächst einmal zur Klarstellung: Wir wollen - ich glaube, das muss das Interesse des gesamten Hauses sein - Lebensmittelsicherheit zu hundert Prozent, egal, ob öko oder konventionell, ({0}) und nicht ständig dieses Auseinanderdifferenzieren zwischen öko und konventionell. Lebensmittelsicherheit wollen alle, denn alle essen alle Produkte und tun dies nicht unter ideologischen Gesichtspunkten. Wenn Sie hier so fulminant die Kinder im Bremer Kindergarten heranziehen, lieber Herr Berninger, bitte ich auch darum, dass Sie zuhören. Es kommt schon darauf an, dass wir den Menschen, gerade auch diesen Kindern und ihren Eltern, gegenüber klar und deutlich zum Ausdruck bringen: Diese Kinder hätten drei Monate weniger diese Produkte essen müssen, wenn Ihr Ministerium funktioniert hätte ({1}) und nicht so geschlampt worden wäre, indem Informationen nicht weitergeleitet wurden. Sie wollten doch vor eineinhalb Jahren hundertprozentige Lebensmittelsicherheit in dieses Land bringen. Ich will Ihnen jetzt einmal all die Skandale nennen, die wir hatten, seitdem Sie im Amt sind: Mit BSE fing es an, es ging weiter über Chloramphenikol in Shrimps, dann kam Nitrofen. Und wer redet jetzt von Acrylamid? Wir haben nicht mehr Sicherheit in diesem Land, sondern mehr Verunsicherung. (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Weil Sie alles zugedeckt haben! Jetzt wird es endlich aufgedeckt! Das muss im Interesse der Menschen in unserem Land endlich ein Ende haben. ({2}) In all diesen Skandalen haben Sie doch immer nur reagiert. Jedes Mal tauchte die Ministerin hier auf, hielt eine Rede mit starken Sprüchen und sagte, was sie alles tut, aber drei oder vier Monate später - wer weiß, wie lang die Halbwertzeit bis zum nächsten Skandal ist? - muss sie jedes Mal wieder sagen, was sie alles tut. Nichts ist erreicht worden, nichts hat sich verbessert, seit Sie im Amt sind. Im Gegenteil, es wird schlimmer. ({3}) Man muss Sie auch an Ihren Worten messen. Sie dürfen nicht ständig weitere Verunsicherung in das Land bringen. Sie tun nichts, um die Verunsicherung abzubauen. Nach Ihrer Ankündigung am Samstag, der Skandal sei aufgeklärt, müssen Sie wenige Tage später schon wieder sagen: Oh Gott, nein, es gibt doch noch andere Erkenntnisse, es war vielleicht doch nicht nur diese Lagerhalle. ({4}) Das trägt nicht zur Sicherheit bei und stärkt auch nicht das Bewusstsein der Menschen in unserem Land, sie hätten gesunde Lebensmittel und eine Regierung, auf die man sich verlassen kann, sondern es bestärkt die Verunsicherung, nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei denjenigen, die die Produkte herstellen. Es ist schon erstaunlich, dass Sie zwar alle beschuldigen, aber hier am Rednerpult kein Wort zu dem verlieren, was in Ihrem direkten Verantwortungsbereich passiert. Es ist ja hier schon Tradition: Alle Schuldigen werden ausgemacht, am Schluss sind auch noch die Union und Helmut Kohl dafür verantwortlich, aber die eigentlichen Punkte sprechen Sie nicht an. Wir müssen klar feststellen: Der Futterweizenhändler, der das Getreide unsachgemäß gelagert hat, trägt ganz gravierende Verantwortung. Der Hersteller, der trotz Kenntnis Produkte weiterhin auslieferte, trägt ganz klar Verantwortung. All diejenigen, die von der Versendung wussten oder hätten wissen können und nicht gehandelt haben, tragen ganz klar Verantwortung. Von den BioKontrollstellen über die Öko-Verbände bis hin zu den Landesbehörden und den betroffenen Betrieben tragen alle Verantwortung. ({5}) Aber wenn man Sie hört, tragen zwei keine Verantwortung, nämlich Sie und die Bundesanstalt für Fleischforschung in Kulmbach. ({6}) Dazu haben Sie hier keine Aussagen gemacht. Sie haben mit keinem Wort gesagt, wie Sie dieser Verantwortung gerecht werden wollen. ({7}) Sie haben nicht ein Wort dazu gesagt, was an diesem Informationsstrang, der nicht funktioniert, genau passiert. ({8}) Deshalb sollten Sie sich nicht hier hinstellen und vom Kartell des Schweigens bei anderen reden. ({9}) Sie selbst sind die Patin des Kartells des Schweigens in Ihrem eigenen Haus. ({10}) Wie anders soll man sonst eine Anweisung verstehen, die Sie selbst gegeben haben? Ich erinnere mich gut daran, dass Sie im Januar dieses Jahres hier gestanden haben und sagten: Die Aktendeckel werden ein Ende haben. Seit heute gibt es Telefone, Faxe und E-Mails. Wir erinnern uns, wie Sie hier am Rednerpult geturnt haben und damit zum Ausdruck bringen wollten, dass Eingänge von besonderer fachlicher oder politischer Bedeutung unverzüglich der Leitung des Hauses zur Kenntnis zu geben sind. Die Bundesanstalt für Fleischforschung wusste seit März dieses Jahres von einem positiven Ergebnis bei einer Nitrofentestung. Man gehe sogar - so ein Zitat - von einem Übergang des Nitrofens von Futtermitteln in Mastputen aus. Es ist ein klarer Gesetzesverstoß, wenn Nitrofen in einem Futtermittel gefunden wird. Niemand handelte und niemand kritisiert dieses Nichthandeln bzw. leitet endlich Konsequenzen ein. Das ist eine Erkenntnis von besonderer fachlicher Bedeutung. Denn Nitrofen ist auch in der konventionellen Landwirtschaft - in den alten Bundesländern seit 20 Jahren und in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung, also seit über zehn Jahren - verboten. Sie sprechen jetzt auch von DDT. Diese Mittel sind in der deutschen Landwirtschaft - egal ob öko, bio oder konventionell - verboten. Deshalb dürfen sie nirgendwo vorkommen. ({11}) Ich sage Ihnen: Wenn Ihre Anweisungen noch nicht einmal in Ihrem direkten Verantwortungsbereich befolgt werden, dann ist hier nichts beinhart, sondern alles butterweich und zeigt, welche Autorität Sie in Ihrem Haus und in Ihrem gesamten Verantwortungsbereich haben. Das ist ein Versuch, vom eigenen Versagen abzulenken und die eigene Verantwortung nicht tragen zu wollen. Das darf nicht sein. Worauf kommt es in der Lebensmittelsicherheit an? Dass wir Strukturen und Informationsflüsse haben, die funktionieren, und zwar vom Unternehmen an die Behörde, unter den Behörden und dann aber auch von den Behörden an die Verbraucher, also Verbraucherinformation. Ich nenne ein weiteres Stichwort: Lebensmittelmonitoring. Seit September letzten Jahres fordert die Unionsfraktion, dass auch Ökoprodukte in das Lebensmittelmonitoring aufgenommen werden. ({12}) - Liebe Kollegin Höfken, brauchen Ihre Vorhaben immer Jahre, bis sie umgesetzt werden? Denn dies wäre sinnvoll und wirklich gut. Sie haben sich Monate Zeit gelassen, zu koordinieren und Gesprächspartner einzubestellen. ({13}) Sie schieben alles auf die lange Bank, weil Sie eine ideologische Brille aufhaben und Ihnen nicht das am Herzen liegt, was die Menschen wollen: Lebensmittelsicherheit, egal aus welcher Produktion das Erzeugnis stammt. ({14}) Sie sagen immer, die Union blockiere alles. Die wirklich wichtigen Gesetze, die einen vorsorgenden Verbraucherschutz gewährleisten, haben Sie hier im Haus mit unserer Zustimmung verabschiedet. Es fing beim Tiermehlverfütterungsverbot an. Es ging weiter mit dem Futtermittelgesetz bis zum Ökolandbaugesetz, ({15}) mit dem die Kontrollen verschärft werden sollen. Wir tragen es mit. ({16}) Denn es ist sinnvoll, dass wir auch im Biobereich zu Verbesserungen bei den Kontrollen kommen. Auch das Vorhaben, den Informationsfluss von den Unternehmen an die Behörden zu verbessern, haben wir mitgetragen. Wir haben in diesem Zusammenhang einen eigenen Antrag eingebracht. Sie tun hier immer so, als ob wir uns gegen die Verbraucherinformation sträuben. Da muss ich schon einmal fragen: Wie ist es denn gestern im Landwirtschafts- und Verbraucherausschuss gewesen? Wir haben einen Antrag eingebracht, der gemäß Art. 10 der EU-Verordnung eine klare Verbesserung der Verbraucherinformation durch die Behörden bedeutet hätte. ({17}) Sie haben diesen Antrag gestern im Ausschuss sehenden Auges abgelehnt. Sie haben den Verbraucherinnen und Verbrauchern eine sachgerechte Information verweigert. Deshalb sollten Sie hier nicht von der Verweigerungshaltung der Union sprechen. Sie selber haben mit Ihrer Regierungsmehrheit verhindert, ({18}) dass eine sachgerechte Information drei Jahre früher, als es die EU vorgesehen hat, eingeführt wird. ({19}) Sie hätten gestern im Ausschuss zustimmen können. Sie haben es abgelehnt. ({20}) - Soll ich Ihnen den Antrag vorlesen? Ich habe ihn dabei, Herr Kollege Herzog. ({21}) - Seien Sie doch ruhig. Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, können Sie sich gerne an das Mikrofon stellen. Ich beantworte gerne Ihre Fragen. Dann kann man das im Protokoll nachlesen. Jetzt ist zu hören, dass die Grenzwerte gesenkt werden sollen. Liebe Frau Künast, das ist wieder ein typischer PR-Gag, den Sie dem deutschen Volk zumuten. Die Verwendung von Nitrofen und DDT ist verboten. Wir wollen keine solchen Rückstände in unseren Lebensmitteln. Das Futtermittelrecht muss dem Lebensmittelrecht angepasst werden. ({22}) Das ist in Ordnung. Aber schütten Sie das Kind nicht mit dem Bade aus ({23}) - hören Sie einfach einmal zu, Herr Berninger -: Wir haben erfahren, dass als Erster ein Babynahrungsmittelhersteller den Nachweis von Nitrofen erbracht hat. Dies ist ein Unternehmen, das sensibel handelt und sehr genau hinschaut. Wollen Sie eine Regelung schaffen, durch die Unternehmen in Zukunft nicht mehr genau hinschauen, weil sie Angst haben müssen, dass die Produkte, die sie von vornherein nicht auf den Markt bringen, an den Pranger gestellt werden? Wollen Sie damit sanktionieren, dass diejenigen, die organisiert nicht wissen, belohnt werden? Sachgerechte Entscheidungen, die auch das Ende im Blick haben, sind verantwortungsvolle Entscheidungen und deshalb keine Schnellschüsse. Kümmern Sie sich endlich einmal um das, was in Ihrem Haus wirklich notwendig ist. Daran müssen Sie arbeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Künast, ich zitiere Sie, Sie haben heute Morgen gesagt: „Wer versagt hat, muss ... zur Verantwortung gezogen werden.“ Dazu kann ich nur sagen: Sie sind nicht als erste Frau der größten Werbeagentur Deutschlands gewählt worden, sondern Sie sind für Ihren Behördenbereich verantwortlich, da liegt Ihre Verantwortung. Wenn Sie dieser nicht gerecht werden - Sie haben das erneut bewiesen -, werden Ihnen die Menschen am 22. September die Verantwortung entziehen, und das ist dann auch gut so. ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karsten Schönfeld.

Karsten Schönfeld (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003229, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir heute Morgen in den Redebeiträgen der Abgeordneten der Opposition gehört haben, war wirklich substanzlos, es war nur Polemik. ({0}) Ich bin froh, dass die heutige Debatte am Vormittag stattfindet, sodass auch die Öffentlichkeit sehen und hören kann, dass die Opposition keine Vorschläge gemacht hat. Sie macht schon seit anderthalb Jahren keine Vorschläge mehr. Sie stellen sich hier hin und kritisieren unsere Politik, ({1}) die Politik der Bundesregierung, und wir müssen uns anhören, dass wir zu wenig für den Verbraucherschutz tun. Wenn ich mir jedoch die Entwicklung der letzten anderthalb Jahre ansehe ({2}) [CDU/CSU]: Wir haben eure eigene Kritik zitiert!) - ich komme auch noch zu Zitaten, nicht unruhig werden -, dann wird deutlich, dass wir die Einzigen gewesen sind, die überhaupt etwas für den Verbraucherschutz - wir haben sogar sehr viel vorangebracht - getan haben. Sie hatten am letzten Freitag bei der Entscheidung über das Verbraucherinformationsgesetz im Bundesrat die Möglichkeit, diesem wichtigen Gesetzesvorhaben zuzustimmen. Sie haben das nicht getan, deshalb sage ich: Es gibt nichts als Blockade, nichts als Verweigerung. Der Vorwurf, das Gesetz gehe nicht weit genug, ist unverständlich; denn wenn man ein Ziel wirklich erreichen will, dann muss man auch den ersten Schritt tun und darf sich nicht wie Sie komplett verweigern. Sie haben das zulasten der Verbraucher in unserem Land getan. Die unionsregierten Länder, allen voran Bayern, kritisieren das Verbraucherschutzministerium und werfen ihm Versäumnisse vor. Herr Minister Sinner, Bayern ist nicht das Feindbild der Bundesregierung oder unserer Koalition; das ist mitnichten so. Bayern ist ein schönes Land, in dem nette Menschen leben. Es gibt dort wunderschöne Städte. Erst am Dienstag war ich anlässlich der Befragung des CSU-Vorsitzenden Stoiber durch den Parteispendenuntersuchungausschuss in München. ({3}) - Ich war nicht mit dem Motorrad da. Das mache ich beim nächsten Mal. Herr Minister Sinner, meine Damen und Herren, wenn in der letzten Zeit von Skandalen die Rede war, dann war Bayern nicht nur immer mit dabei, sondern Bayern stand in der ersten Reihe. Das war bei BSE so; denn von den 182 bis heute gemeldeten Fällen sind 79 aus dem Freistaat Bayern. Das war so beim Antibiotikamissbrauch. Anfang dieses Jahres wurde mit den BSE-Tests nachlässig umgegangen. All das geschah im Freistaat Bayern. Wenn wir uns mit diesen Themen beschäftigen, geht es nicht darum, ein Feinbild aufzubauen, sondern es geht um die Versäumnisse, die Ihre damalige Regierung zu verantworten hat. ({4}) Heute wurden schon einige Zitate angeführt. Ich möchte auf einen Artikel, der in der vergangenen Woche in der „Welt“ - sie steht nicht unbedingt im Verdacht, uns besonders nahe zu stehen - hinweisen. ({5}) Dort steht, dass der Präsident des Deutschen Bauernverbandes die Verbraucherministerin Renate Künast für das Debakel in der Landwirtschaft rund um den aktuellen Nitrofen-Skandal verantwortlich macht. - Das ist nichts Neues; das macht Herr Sonnleitner seit anderthalb Jahren. - In dem Artikel steht weiter, dass Herr Sonnleitner sagt, wer „alte Strukturen“ in der Agrar- und Ernährungswirtschaft für die jüngsten Lebensmittelkrisen verantwortlich mache, lenke „in billiger Weise von seiner eigenen Verantwortung ab“. ({6}) Die Schlussfolgerung der „Welt“ - jetzt wird es interessant - ist: Das ist starker Tobak. Immerhin haben die „alten Strukturen“ dafür gesorgt, dass wochen-, wenn nicht monatelang Gift in die Nahrung gemischt wurde. Sonnleitner sollte sich kooperativ verhalten und sich nicht einer Partei, sondern dem Gemeinwohl gegenüber verantwortlich fühlen. ({7}) Das schreibt „Die Welt“ und sie hat Recht. ({8}) Eines müsste uns allen klar sein: Über Verbraucherschutz sollten wir uns hier eigentlich nicht streiten. Jeder, der mit der Produktion von Lebensmitteln befasst ist - egal ob Landwirte, Lebensmittelindustrie, gleich ob Ökolandbau oder konventionelle Produktion -, müsste sich seiner Verantwortung gegenüber den Menschen bewusst sein. Am Nitrofen-Skandal ist aber deutlich geworden, dass es immer wieder schwarze Schafe gibt. Es gibt immer wieder Leute, die versuchen, zu betrügen und zu vertuschen. Darum brauchen wir einen vernünftigen Kontrollrahmen. Die Grundlagen dafür haben wir geschaffen. Auf diesem Weg werden wir weitergehen. Abschließend möchte ich einen weiteren Punkt ansprechen. Wir haben hier heute erfahren, dass ein Eintragspfad für das Gift gefunden wurde, nämlich die Lagerhalle in Malchin. Wer aber daraus schlussfolgert - teilweise konnten wir dies Berichten und Kommentaren der letzen Tage entnehmen -, man könne die Schuld einseitig den Landwirten in den neuen Bundesländern zuschieben, der liegt völlig falsch. Die Bäuerinnen und Bauern, egal ob in West oder Ost, in Nord oder Süd, sind die Opfer dieses Skandals. Die festgestellte Konzentration des Giftes lässt die Schlussfolgerung zu, dass es weitere Eintragswege gegeben hat. Diesbezüglich müssen weitere Untersuchungen angestellt werden. Der eigentliche Skandal ist, dass diejenigen, die seit Monaten davon gewusst haben, versucht haben, die Angelegenheit zu vertuschen. Es ist aber deutlich geworden, dass solche Vertuschungsversuche aufgedeckt werden; ({9}) dafür haben wir im Zusammenhang mit der Agrarwende gesorgt. Wir klären derartige Vorgänge auf, wie es auch in diesem Fall passiert ist. Vielen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Weisheit.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man merkt deutlich, dass Wahlkampf ist. Das war am vergangenen Donnerstag in der Sondersitzung des Agrarausschusses zu spüren und hat sich heute zumindest in den Beiträgen von der rechten Seite des Hauses nahtlos fortgesetzt. Es geht Ihnen nicht um Lebensmittelsicherheit und auch nicht um die Aufklärung eines Skandals. Ihnen geht es um den Kopf einer Ministerin - dazu ist Ihnen kein noch so blödsinniges Argument zu schade - sowie darum, den Ökolandbau schlecht zu machen. Um nichts anderes geht es Ihnen hier! ({0}) - Aber nicht doch, Herr Kollege Heinrich. Das ist Ihre Politik; Ihnen geht es nicht um Aufklärung. In dieser langen Debatte ist eigentlich schon alles gesagt worden, nur noch nicht von allen, zum Beispiel von mir noch nicht. Ich werde mich aber auf einen Kernpunkt beschränken. ({1}) Hier ist ein Futtermittelunternehmen - es ist mir völlig wurscht, wem es gehört - mit einem Putenfleischunternehmen verschwägert, das wiederum im Besitz eines Hühnerunternehmens ist. All diese Unternehmen wissen, dass ihre Produkte belastet sind. Insbesondere wissen sie, dass ihr Futtergetreide massiv belastet ist. Aber was tun sie? Sie sagen nichts und versuchen, den Schaden möglichst gering zu halten. Angesichts dessen kann man schon von alten Strukturen reden; denn nach dieser Methode wurde jahrzehntelang gearbeitet. In diese Menschen bekommt man nicht hinein, was gläserne Produktion bedeutet. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie nach dem Auftreten von BSE die Chefs der großen Organisationen geschworen haben, sie würden für eine gläserne Produktion sorgen. Mein Glaube darin wurde allmählich immer geringer. Daher muss man offensichtlich sehr viel mehr kontrollieren. Mein Appell am Schluss - ich muss meine Redezeit nicht ausnutzen; nach meiner Überzeugung wurde hier schon viel zu lange leeres Stroh gedroschen - richtet sich an die Länder: Beschäftigen Sie sich mit den Agrobusinessunternehmen - hier liegt der eigentliche Skandal -, die an den Bauern und den Verbrauchern viel Geld verdienen. Es interessiert sie überhaupt nicht, ob Bauern - Ökobauern oder konventionell wirtschaftende Bauern und Verbraucher geschädigt werden. Hauptsache, die Kasse stimmt! Um diese Agrobusinessunternehmen muss man sich verschärft kümmern. Wenn diese Unternehmen ständig kontrolliert werden, kommt man solchen Skandalen auch rechtzeitig auf die Spur. Vielleicht wird dann sogar die Zahl der Skandale geringer. Eine letzte Anmerkung, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren Geschäftsführer: Es wäre vielleicht sinnvoll, solche Debatten zeitlich einzuschränken, ({2}) [CDU/ CSU]: Die Ministerin hat doch 15 Minuten län- ger geredet, als sie sollte!) damit nicht drei Stunden lang immer wieder das Gleiche erzählt wird. Auch bei einer Redezeit von eineinhalb Stunden könnte alles gesagt werden. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache und rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b sowie Zusatzpunkt 3 auf: 4. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Seehofer, Karl-Josef Laumann, Wolfgang Lohmann ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Krise in der Sozialversicherung beseitigen endlich die notwendigen Reformen auf den Weg bringen - Drucksache 14/8268 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sozialbericht 2001 - Drucksache 14/8700 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für grundlegende Reformen der sozialen Sicherungssysteme - Drucksache 14/9245 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Debattenredner hat der Abgeordnete Gerald Weiß.

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der heutigen Diskussion über die gesetzlichen Sozialversicherungen macht es einen besonderen Sinn, die Taten der rot-grünen Koalition auf diesem Gebiet an dem zu messen, was die Sozialdemokraten vor der letzten Bundestagswahl versprochen haben, aber auch an dem - aktuelle Bezüge gibt es hinreichend -, was die Gewerkschaften forderten und für richtig hielten. In diesem Zusammenhang müssen wir feststellen: Auf nahezu allen Feldern, in allen Sozialversicherungszweigen, gibt es eine breite Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Verheißungen und rot-grünen Taten. Das Versagen von Rot-Grün ist auf dem Gebiet der sozialen Sicherung so eklatant wie auf wenigen anderen. Deshalb müssen wir diese Debatte führen. ({0}) Wir erinnern uns: Vor vier Jahren hat der Deutsche Gewerkschaftsbund mit 8 Millionen DM an Beitragsmitteln massiv in den Bundestagswahlkampf eingegriffen, Geld, das auch von Unionsanhängern in den Gewerkschaften, von Mitgliedern der CDU und der CSU im DGB stammte. Es ist noch eine höfliche Umschreibung, das als eine ziemlich dreiste Zweckentfremdung der von den Arbeitnehmern aufgebrachten Beiträge zu bezeichnen. ({1}) Das Ziel war, einen erneuten Wahlerfolg der Union zu verhindern. Jetzt muss man ohne jede Frustration gerade aus dem Blickwinkel des DGB - oder besser noch: der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - betrachten, ob es - gemessen an den Zielen der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer - eine gute Investition war, so viel Geld für die Unterstützung des rot-grünen Projektes und dafür aufzuwenden, Rot-grün an die Macht zu bringen. ({2}) Betrachtet man, für welche Inhalte der DGB gekämpft hat, muss man sagen: Diese 8 Millionen DM waren die größte Fehlinvestition, die der DGB je zu verantworten hatte, ({3}) abgesehen vielleicht von der „Neuen Heimat“. ({4}) - Das müssen Sie sich vor dem Hindergrund dessen, was Sie in den vergangenen vier Jahren geleistet bzw. nicht geleistet oder, besser noch: sich geleistet haben, schon entgegenhalten lassen. ({5}) Das Motto der DGB-Kampagne 1998 lautete: „Deine Stimme für mehr Gerechtigkeit“; ihre Ziele waren Arbeit und soziale Gerechtigkeit. ({6}) - Sie wären doch nicht so nervös, wenn Sie dies nicht befürchteten. ({7}) Wie es um das Ziel Arbeit in Deutschland steht, können wir allenthalben an harten, zum Teil sogar geschönten und dennoch desaströsen Zahlen ablesen, an einer Arbeitsmarktbilanz, die den Kern Ihres politischen Versagens während dieser vier Jahre rot-grüner Regierung in Deutschland darstellt. Wachsende Arbeitslosigkeit bedeutet für die Sozialversicherungszweige des Solidarsystems weniger Einnahmen und mehr Ausgaben, das bedeutet im Ergebnis höhere Sozialversicherungsbeiträge. Daraus resultieren wiederum höhere Lohnnebenkosten sowie weniger Nettokaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Am Ende dieser Kette steht das Ergebnis, dass die Arbeitslosigkeit weiter wächst und dass es Rot-Grün entgegen seinen Verheißungen nicht geschafft hat, Deutschland aus diesem Teufelskreis herauszuführen. Die rot-grüne Regierung hat das Land sogar tiefer hineingeführt. Das ist der Kern Ihres Versagens. Das müssen wir Ihnen auch in der heutigen Debatte entgegenhalten. ({8}) Ich will nur einige Schlaglichter auf die Sozialversicherung werfen. Unvergessen ist der Griff von Eichel in die Sozialkassen. Man hat die vom Bund für die Arbeitslosenhilfebezieher in die Pflegeversicherung und in die Krankenversicherung zu zahlenden Beiträge gesenkt, übrigens mit entsprechenden Wirkungen für die soziale Sicherung. ({9}) Sie wollten doch alles besser machen. Nichts von diesem Anspruch ist eingelöst. ({10}) Man hat die Beiträge der Arbeitslosenhilfebezieher in die Pflegeversicherung und in die Krankenversicherung gekürzt. Da der Beitragssatz für die Pflegeversicherung gesetzlich justiert ist, bedeutet das, dass wesentliche strukturelle Verbesserungen wie die bessere Absicherung der Demenzkranken nicht vorgenommen werden können und unterbleiben müssen. Die Pflegeversicherung muss zunehmend ihre Substanz angreifen und rutscht in ein Defizit hinein, ({11}) wohingegen die strukturellen Verschiebungen bei der Alterspyramide genau das Gegenteil erforderten, dass wir nämlich die Pflegeversicherung auf die demographischen Herausforderungen vorbereiten. Sie haben von Norbert Blüm eine Pflegekasse mit Reserven in Höhe von 8 bis 10 Milliarden DM übernommen. Wenn Sie sich weiterhin so verhalten wie bisher, wird davon bald nichts mehr übrig sein. ({12}) Die Versicherten und die Arbeitgeber müssen die Zeche zahlen. Angesichts des Maßstabs, den Sie und die Gewerkschaftsbewegung etabliert haben, frage ich Sie mit Recht: Ist dies ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit? Ganz gewiss nicht. Sie senken das Rentenniveau unter das Niveau der blümschen Rentenreform, aber auf eine sehr viel willkürlichere Weise. Herr Blüm hat eine exogene, sozusagen außerhalb jeder Willkür der Politik liegende Größe, nämlich die Lebenserwartung, in die Rentenformel eingestellt. Sie handeln mit Willkür auf ein bestimmtes Ziel, nämlich die Senkung des Rentenniveaus, hin und verstecken die Wahrheit hinter statistischen Tricks. Damals haben Sie gesagt, das Rentenniveau in Höhe von 65,5 Prozent im Jahre 2030, die wir durch die blümsche Reform erreicht hätten, sei unanständig. Was ist denn aber das Rentenniveau in Höhe von 64 Prozent, die wir in Wahrheit jetzt durch Ihre Rentenreform erreichen werden? ({13}) Dies soll alles hinter einem Nebel von Sprüchen verborgen bleiben. Rot-Grün hat auch in der Arbeitslosenversicherung nicht wirklich die Entwicklung hin zu einer aktivierenden, Gerald Weiß ({14}) die Arbeitsmarktpolitik effektiver und effizienter gestaltenden Politik forciert. ({15}) Wie steht es mit dem Rentenversicherungsbeitrag? Sie sagen selbst, er werde bis 2030 bei knapp 22 Prozent liegen. Die Prognos AG sagt: Nein, es werden mehr, es werden 23 Prozent sein. Die Ökosteuer, die jetzt schon mit 1,5 Prozent zu kalkulieren ist, dürfen wir getrost hinzuaddieren. Auch die 4 Prozent, die der Arbeitnehmer - sofern er es kann - für seine zusätzliche, kapitalgedeckte Vorsorge aufbringen soll, müssen wir hinzurechnen. Daraus ergeben sich 11 plus 4 plus 1,5 Prozent. Dies kann doch kein Mehr an Gerechtigkeit sein! Hinzu kommt, dass Sie ein Fördersystem etabliert haben, das die Schwachen schwach fördert, sodass sie die Riester-Rente nur schwach in Anspruch nehmen können ({16}) und dies in Verbindung mit dem Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung. Jetzt halte ich Ihnen entgegen, was der DGB-Infodienst am 21. Januar 2002 gesagt hat. Die Rentenreform muss als „Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung einer Sozialversicherung“ verstanden werden. Wenn man diesen Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung in Koppelung mit einem Fördersystem sieht, das die Schwachen schwach fördert, sodass sie die Riester-Rente nur schwach in Anspruch nehmen können, muss man sagen: ({17}) Das ist ein sozialer Kahlschlag und jedenfalls keine soziale Gerechtigkeit mehr! ({18}) Nun komme ich zur Riester-Rente: viel Bürokratie und schwache Rendite neben der schieflastigen Förderung. Lassen Sie doch bitte schlichte Zahlen sprechen. ({19}) Ich bilde ein schönes, ehrliches Zahlenbeispiel: Eine allein stehende Verkäuferin mit einem jährlichen Einkommen in Höhe von 15 000 Euro bekommt im Jahre 2008 - Endausbau der Förderung - eine Zulage in Höhe von 154 Euro von Riester, jedoch - so denke ich - dann nicht mehr von Riester. Wer hingegen 50 000 Euro verdient - zum Beispiel ihr Filialleiter -, wird zusätzlich in den Genuss eines Steuervorteils von 650 Euro kommen und eine Gesamtförderung von 800 Euro erreichen. 154 Euro erhalten die Kleinen, 800 Euro die Besserverdienenden. ({20}) Ist das die soziale Gerechtigkeit, die Sie avisiert haben und als Maßstab haben wollten? ({21}) Wenn man all das zusammen sieht, muss man sagen: Für eine parteipolitische Einmischung des DGB in den Wahlkampf gibt es in diesem Jahr eine noch geringere Legitimation als im Jahre 1998, weil alle Kernziele verfehlt wurden. Wahrheit ist: Die Unzufriedenheit, die Sie auch an der Basis verspüren, nährt sich doch dadurch, dass das, was aus Arbeit erwächst, Produkte und Güter, für den Verbraucher immer unbezahlbarer geworden ist. Für den Arbeitnehmer wird diese Arbeit immer weniger auskömmlich. Die Schere zwischen Abgabenlast und Verdienst geht weiter auseinander. ({22}) Deshalb haben Sie die wesentlichen Ziele bei der Sozialversicherung und bei der Steuerreform verfehlt. Das werden wir Ihnen, bis der Regierungswechsel im Herbst erreicht ist, vorhalten. Ich bedanke mich. ({23})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike Mascher.

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Wahlprogramm der CDU/CSU ({0}) heißt es: Die grundlegenden Kulturtechniken - Lesen, Schreiben, Rechnen, aber auch der Umgang mit neuen Medien und die Verarbeitung der heute verfügbaren Informationsmengen - müssen sicher beherrscht werden. ({1}) Wenn ich Ihre Anträge lese und höre, was Sie im Wahlkampf den Bürgerinnen und Bürgern erzählen - ich habe auch Herrn Weiß hier aufmerksam zugehört -, habe ich manchmal den Eindruck, dass Sie insbesondere bei diesen Kulturtechniken selbst einen großen Nachholbedarf haben. ({2}) Anders ist es für mich nämlich nicht zu erklären, dass Sie in sich überschlagenden Anträgen immer wieder neue Reformen einfordern, die wir zum Teil längst auf den Weg gebracht haben. Ich empfehle Ihnen, die alten und die neuen Medien zu nutzen. Dann könnten Sie sich besser informieren. Auch mit dem Rechnen haben Sie offenbar Ihre Probleme, ({3}) Gerald Weiß ({4}) da Sie jetzt von einer Krise der Sozialversicherung sprechen. Wenn es eine Krise gegeben hat, dann liegt sie vier oder sechs Jahre zurück. Das war die Zeit, als CDU, CSU und FDP regiert haben und ({5}) die Beitragssätze für die Sozialversicherungen enorm in die Höhe gestiegen sind, nämlich von 34 Prozent auf 42 Prozent. Herr Hirche, sie wären auf 43 Prozent gestiegen, wenn die SPD als verantwortungsvolle Opposition nicht zugestimmt hätte, die Einnahmen aus einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt für die Senkung bzw. Stabilisierung des Beitragssatzes zu nutzen. ({6}) So haben wir Oppositionspolitik verstanden. Sie haben gegen diesen dramatischen Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge nichts getan. ({7}) Wie sieht es heute aus? Der gesamte Sozialversicherungsbeitrag ist nicht so gesunken, wie wir uns das gewünscht haben. Immerhin haben wir aber den Anstieg gestoppt sowie ({8}) eine Trendwende und eine Absenkung um 1 Prozentpunkt erreicht. ({9}) Herr Weiß, ich weiß nicht, wie Sie auf eine Erhöhung der Lohnnebenkosten kommen. ({10}) Ich empfehle Ihnen, sich das noch einmal genauer anzusehen. Wir haben eine erfolgreiche Sozialpolitik betrieben, die Weichen gestellt und die Reformen auf den Weg gebracht. Sozialpolitik heißt für uns, denen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können, ihnen Unterstützung zu geben, Schwache nicht zu vernachlässigen und Menschen mit Problemen nicht aufzugeben, sondern zu integrieren. Dazu bedarf es eines starken Sozialstaates und einer Politik, die die gesellschaftlichen Veränderungen wahrnimmt und durch Reformen begleitet; denn Modernisierung, notwendige strukturelle Reformen und ein starker Sozialstaat sind keine Gegensätze, sondern bedingen sich wechselseitig. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Staatssekretärin Mascher, sind Sie mit mir der Meinung, dass gegenwärtig nicht die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge - die sicherlich sehr wichtig ist - entscheidend ist, sondern dass doch der entscheidende Faktor ist, den Menschen Arbeit zu vermitteln? Bei meines Wissens nach wie vor 4 Millionen Arbeitslosen handelt es sich bei allem anderen, zum Beispiel bei der Frage, ob die Sozialversicherungsbeiträge um 0,2 Prozent höher oder niedriger sind, nur um Petitessen. ({0}) Der entscheidende Faktor zur Stabilisierung und Sicherung unseres Sozialsystems ist die Schaffung von Arbeitsplätzen. Darin haben Sie völlig versagt. ({1})

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Herr Rossmanith, ein Punkt Beitragssatz bedeuten 15 Milliarden DM bzw. 7,5 Milliarden Euro. Das sind eben keine Petitessen und keine Peanuts, sondern dabei geht es um eine sehr beachtliche Summe. Was die Arbeitslosigkeit angeht, kann ich Ihnen nur sagen: Wir stehen besser da, als Sie am Ende Ihrer Regierungszeit dagestanden haben. ({0}) Wir stehen zwar was die Arbeitslosenzahlen angeht, nicht so gut da, wie wir es uns gewünscht haben; aber wir haben sehr viel mehr Menschen in Arbeit gebracht, als es Ihnen zum Schluss gelungen ist. ({1}) - Ich weiß nicht, was daran falsch sein sollte. Aus der offiziellen Statistik der Bundesanstalt für Arbeit können Sie die Zahlen ersehen. Bisher ist mir - auch von Ihnen nicht keine Behauptung bekannt, dass die Zahlen falsch seien. ({2}) Die Basis eines handlungsfähigen Sozialstaats ist die Konsolidierung des Bundeshaushalts. Wir haben den Marsch in den Schuldenstaat gestoppt. Sie haben uns eine Staatsverschuldung in Höhe von 1,5 Billionen DM hinterlassen. Das hat eine Zinslast in Höhe von 80 Milliarden DM jährlich bedeutet. Mit dem Haushalt 2002 hat die Bundesregierung zum dritten Mal in Folge einen Etat vorgelegt, dessen Neuverschuldung unter der des Vorjahres liegt. Gegenüber der Kohl-Regierung haben wir die Kreditaufnahme des Bundes um 22,5 Prozent verringert. Damit haben wir dafür geParl. Staatssekretärin Ulrike Mascher sorgt, dass dieser Staat wieder handlungsfähig wird. Aber das Wort Schuldentilgung kommt in Ihrem Wahlprogramm gar nicht vor. ({3}) Wir haben soziale Gerechtigkeit wieder zu einer Kategorie der Steuerpolitik gemacht. Von unserer Steuerpolitik und unserer Steuerreform profitieren vor allen Dingen Arbeitnehmer, Familien und der Mittelstand. Das monatliche Nettoeinkommen liegt heute fast 7 Prozent höher als am Ende der CDU/CSU-FDP-Regierung. Es hat noch nie eine so umfassende Steuerreform gegeben wie die, die wir zwischen 1998 und 2005 durchführen und mit der die Verbraucher und der Mittelstand um 56 Milliarden Euro entlastet werden. ({4}) Vor allem kleine und mittlere Einkommen werden von unserer Steuerpolitik prozentual am stärksten profitieren. Eine Familie mit zwei Kindern wird ab dem nächsten Jahr im Durchschnitt um mehr als 330 Euro entlastet. Mit einem Bruttoeinkommen von 20 000 Euro werden dann übrigens so gut wie keine Steuern mehr zu zahlen sein. ({5}) Dass Ihnen das nicht gefällt, dass es Sie schmerzt und Sie Ausrufe des Wehklagens loswerden wollen, kann ich zwar verstehen; aber meine Ausführungen entsprechen den Tatsachen. ({6}) Wir haben durch die Gesetze zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit und zur geringfügigen Beschäftigung dafür gesorgt, ({7}) dass die Flucht aus den Sozialversicherungssystemen gestoppt wird. Denn in der Tat geraten die Sozialversicherungsträger in eine Krise, wenn immer weniger Beitragszahler eine immer größere Solidarlast tragen müssen. Wir haben die Arbeitslosigkeit spürbar gesenkt, Herr Rossmanith. Gegenüber 1998 sind im Jahresdurchschnitt gegenwärtig 430 000 Personen weniger arbeitslos. Es gibt 1,2 Millionen Erwerbstätige mehr. ({8}) Das entspricht einer Verringerung der Arbeitslosigkeit um 10 Prozent. Das ist zwar weniger, als wir alle es uns erhofft haben; aber es ist dennoch ein deutlicher Erfolg. ({9}) Wir haben mit 38,8 Millionen Erwerbstätigen im Jahr 2001 den höchsten Beschäftigungsstand in der deutschen Geschichte erreicht. Wenn Sie jetzt behaupten, das hänge nur damit zusammen, dass wir die geringfügige Beschäftigung sozialversicherungspflichtig gemacht hätten, dann mache ich Sie darauf aufmerksam - lesen Sie das bitte nach -, dass das Statistische Bundesamt jetzt die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse rückwirkend bis zum Jahr 1995 in die Gesamtzahl der Beschäftigten einrechnet. Wenn wir also Ihre Zahlen von 1998 mit unseren Zahlen vergleichen, dann vergleichen wir nicht Äpfel mit Birnen, sondern Äpfel mit Äpfeln, weil seit 1995 auch die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse berücksichtigt wird. Lesen Sie das bitte nach! Mit dem Job-AQTIV-Gesetz haben wir einen Richtungswechsel hin zu einer präventiv ausgerichteten Arbeitsmarktpolitik vollzogen. Wir wollen nicht abwarten, bis sich Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt. Deswegen haben wir gesetzliche Voraussetzungen geschaffen, um gering qualifizierten sowie älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sowie durch eine passgenauere Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt bessere Beschäftigungschancen zu eröffnen. Wir wollen beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit vor allen Dingen ihre Entstehung verhindern und den Sockel an Langzeitarbeitslosen, den wir von Ihnen geerbt haben, schrittweise abbauen. ({10}) Ich finde, es ist ein besonderer Erfolg, dass die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen nachhaltig zurückgegangen ist. Das ist eine Gruppe, die wirklich Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt hat und für die Erwerbsarbeit eine besonders wichtige Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe ist. Wir haben uns deshalb 1999 ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, als wir uns vorgenommen haben, 50 000 Jobs für Schwerbehinderte zu schaffen. Wir sind auf einem guten Weg. Bis zum April 2002 ist die Zahl schwerbehinderter Arbeitsloser um rund 30 000 zurückgegangen. Während Ihrer Regierungszeit ist sie Jahr für Jahr gestiegen. ({11}) Wir haben in der Behindertenpolitik bahnbrechende Weichenstellungen vorgenommen. Ich weiß, Sie haben zugestimmt. Ich respektiere das.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Seifert?

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Ja. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das ist eine meiner Aufgaben. - Frau Staatssekretärin, Sie sprachen gerade von den Erfolgen beim Abbau der Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten. Auch ich finde das sehr wichtig und sehr gut. Sie sagten, Sie hätten bis April dieses Jahres rund 30 000 Schwerbehinderte in Arbeit gebracht. Sie haben die Zahl aufgerundet. Wenn ich mich recht erinnere, liegt sie etwas darunter. Laut Gesetz müssen Sie aber bis zum 1. Oktober dieses Jahres fast 50 000 Schwerbehinderte in Arbeit bringen. Die Wahrscheinlichkeit, das zu schaffen, ist offensichtlich sehr gering. Wird dann, wenn die Zahl wesentlich unter 50 000 liegt, die Pflichtquote automatisch auf 6 Prozent angehoben? Was passiert dann?

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Herr Seifert, wir werden uns im Oktober die Zahlen genau anschauen. ({0}) Ich denke, Sie wollen das, was wir bisher auf dem Weg zu diesem ehrgeizigen Ziel erreicht haben, auch gar nicht kleinreden. Wir werden erst im Oktober entscheiden, wie wir mit der Schwerbehindertenabgabe umgehen. Ich möchte heute nicht darüber spekulieren, weil ich davon ausgehe, dass wir unser Ziel erreichen werden. Wir haben mit dem Sozialgesetzbuch IX der Politik für schwerbehinderte Menschen eine neue Perspektive ermöglicht. Wir stellen den behinderten Menschen in den Mittelpunkt. Wir machen Teilhabe und Selbstbestimmung zu den zentralen Aufgaben. Wir haben 60 Leistungsverbesserungen in das Sozialgesetzbuch IX aufgenommen. Wir haben eine Menge erreicht, damit Menschen mit Behinderungen die notwendige Unterstützung und Solidarität erhalten, die sie brauchen, um die Nachteile, die sie aufgrund ihrer Behinderung haben, auszugleichen und zu überwinden. ({1}) Mit dem im Mai in Kraft getretenen Gleichstellungsgesetz tritt die Teilhabe behinderter Menschen in unserer Gesellschaft in das Zentrum der Politik. Barrierefreiheit ist das Stichwort. Sie muss in zentralen Bereichen des öffentlichen Lebens gewährleistet werden, damit Behinderte problemlos Zugang zu allen öffentlichen Gebäuden haben und selbstbestimmt leben können. Anspruch auf Barrierefreiheit haben nicht nur Rollstuhlfahrer und gehbehinderte Menschen, sondern zum Beispiel auch Sehbehinderte und diejenigen, deren Hörfähigkeit eingeschränkt ist. Auch ihnen wird eine barrierefreie Kommunikation durch die Benutzung der Gebärdensprache ermöglicht. Wenn wir uns ansehen, was wir im Bereich der Behindertenpolitik gemeinsam mit behinderten Menschen im Gesetzgebungsverfahren geschaffen haben, wird ganz deutlich, was unsere Sozialpolitik auszeichnet: Wir wollen wirksam Ausgrenzung verhindern, wir wollen Benachteiligungen abbauen. Im Bereich der Behindertenpolitik hatten wir seit 1993 das Benachteiligungsverbot in der Verfassung. Leider ist von 1993 bis 1998 nichts geschehen, um das im Alltag umzusetzen. Wir haben mit der Beschäftigung von schwerbehinderten Menschen, mit dem Sozialgesetzbuch IX, mit dem Gleichstellungsgesetz endlich das, was in unserer Verfassung steht, auch praktisch umgesetzt. Ich hoffe, dass das auf die Lebenssituation von Behinderten, aber auch auf unsere gesamte Gesellschaft ausstrahlt. ({2}) Unsere Rentenreform ist ein weiterer Erfolg in dieser Legislaturperiode. ({3}) - Auch wenn Sie das als Lachnummer bezeichnen, kann ich Ihnen nur sagen: Die Renten steigen Anfang des nächsten Monats um 2,16 Prozent in den alten Bundesländern und um 2,89 Prozent in den neuen Bundesländern. Wir haben 1998 bedauerlicherweise ein absolut geschwundenes Vertrauen in die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung geerbt. ({4}) Wir haben leider erleben müssen, dass bei jungen Leuten die Bereitschaft, sich in die gesetzliche Rentenversicherung zu begeben, immer weiter zurückgegangen ist. Wir haben, statt heimlich Kürzungen im Rentenbereich vorzunehmen, wie Sie es mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz 1996 getan haben, die Zahlen auf den Tisch gelegt. Wir haben gesagt: Die gesetzliche Rentenversicherung braucht eine Ergänzung durch eine zusätzliche Altersvorsorge. Wir haben die Tür geöffnet für eine ergänzende kapitalgedeckte Alterssicherung auch für die Gruppen in unserer Gesellschaft, die als Geringverdienende oder als Familien mit mehreren Kindern sich das bisher nicht leisten können. Wir werden für den Aufbau dieser zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge bis zum Jahr 2008 12,7 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Diese Förderung ist vor allem auf Bezieher geringer Einkommen und auf Familien ausgerichtet. Sie werden davon besonders profitieren. Ich meine, es ist wirklich ein Fortschritt in der Rentenpolitik, dass wir nicht nur „Weiter so!“ gesagt haben, sondern dass wir einerseits die Probleme des demographischen Wandels mit einer neuen Rentenformel aufgegriffen, andererseits aber die Menschen nicht allein gelassen haben, sondern ihnen den Aufbau einer zusätzlichen Altersvorsorge ermöglichen. Wenn Sie das, was Sie in Ihrem Wahlprogramm schreiben, nämlich die Kürzung des Staatsanteils von 49 auf 40 Prozent, einmal umrechnen, um zu prüfen, was es bedeuten würde, wenn das in den Haushalten der Sozialversicherungen umgesetzt würde, stellen Sie fest, dass wir dann zum Beispiel die Leistungen der Krankenversicherung, der Pflegeversicherung und der knappschaftlichen Rentenversicherung abschaffen müssten. Das würde etwa die 168 Milliarden Euro ausmachen, die Sie in vier Jahren bei der Kürzung der Staatsquote von 49 auf 40 Prozent einsparen wollen. ({5}) Wenn ich das auf die Rente umrechne, würde das heißen, wir müssten im Haushalt der Rentenversicherung 17,5 Prozent streichen. Wir müssten also entweder die Rentenausgaben, das heißt die Rentenzahlbeträge, kürzen oder wir müssten den Rentnern und Rentnerinnen sowie den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen sagen: In Zukunft muss bis 70 Jahre gearbeitet werden. - Ich sehe Herrn Louven an; er hat darüber in der Vergangenheit schon diskutiert. Ich glaube, dass das in unserer Gesellschaft angesichts unserer Beschäftigungssituation nicht möglich ist. ({6}) - Wenn ich das nicht richtig verstanden habe, können Sie ja hier und heute ganz klar und deutlich machen, dass Sie diese Kürzung der Staatsquote von 49 auf 40 Prozent nicht wollen, weil auch Sie jetzt sehen, dass die Folgen nicht zu verantworten sind. ({7}) Wir wollen diese Kürzungspolitik nicht, wir wollen diese Kahlschlagpolitik nicht, sondern wir wollen einen Sozialstaat, der den Menschen Sicherheit und Mut für die Zukunft gibt. Danke. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Irmgard Schwaetzer.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Parlamentarische Staatssekretärin hat eine bemerkenswert rückwärts gewandte Rede gehalten. ({0}) Sie haben die Details des Sozialberichts natürlich sehr schön dargestellt, Frau Mascher. Aber eigentlich hätten Sie doch schon zur Kenntnis nehmen können, dass die Rentenversicherung nicht saniert ist, dass der Arbeitsmarkt starr ist wie nie und dass deswegen die Arbeitslosigkeit nicht sinkt, wie 1998, sondern im Vergleich zum Vorjahr steigt. ({1}) Das ist die Negativbilanz dieser Bundesregierung und das wird ein entscheidender Punkt der Auseinandersetzung der nächsten Monate sein. ({2}) Ich sage Ihnen eines, Frau Mascher und Kolleginnen und Kollegen von der Regierung: Sie werden mit Ihren merkwürdigen Vergleichen zwischen dem Jahr 1998, dem Ende der Regierung Kohl/Kinkel, und dem Jahr 2002 nicht durchkommen. Sie verdrängen nach wie vor die Folgen der DDR-Misswirtschaft und das zeigt, dass Sie die deutsche Einheit offensichtlich wirklich nicht gewollt haben. ({3}) - Das muss immer wieder gesagt werden, weil Sie immer wieder mit den gleichen Argumenten kommen. Sie verdrängen die Folgen der DDR-Misswirtschaft. ({4}) Die Menschen werden Sie fragen: Was haben Sie in den letzten vier Jahren bewirkt? ({5}) Dann werden Sie mit Ihrer Bilanz von 4 Millionen Arbeitslosen in die nächsten Monate ziehen müssen. Es müssen endlich Reformen eingeleitet werden, und zwar wirkliche Reformen. Was notwendig ist, berührt in der Tat die grundsätzliche Frage, die die Liberalen immer wieder stellen, nämlich: Was ist die Aufgabe des Staates und was ist die Aufgabe der Bürger, das heißt, welche Verantwortung ist dem einzelnen Bürger zuzumuten? Was kann er schultern und was müssen die kollektiven Sicherungssysteme an Absicherung gegen die großen Risiken leisten, die der Einzelne nicht bewältigen kann? Darauf muss Antwort gegeben werden. Die sozialen Sicherungssysteme haben sich ziemlich verselbstständigt. Sie sind in der derzeitigen Form nicht zukunftsfähig. ({6}) Das ist übrigens auch schon daran ablesbar, dass es eine Entfremdung zwischen Bürger und Staat gibt, die sich in einem Parameter ausdrückt, nämlich der Zunahme der Schwarzarbeit. Die Schwarzarbeit hat in Ihrer Regierungszeit erheblich zugenommen. ({7}) Woran denn sonst sollte sich diese Abkehr des Bürgers von dem, was der Staat ihm an Wohltaten erweisen möchte, deutlicher manifestieren? Nach jüngsten Schätzungen von Professor Schneider und dem Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung in Tübingen wird das Volumen der Schattenwirtschaft von 2001 auf 2002 um rund 6,2 Prozent auf dann insgesamt 350 Milliarden Euro steigen. ({8}) - „Wahnsinn!“ - Das Wachstum der Schattenwirtschaft übersteigt das prognostizierte Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um mehr als das Sechsfache. ({9}) Wenn Sie daraus immer noch keine Konsequenzen ziehen wollen, meine Damen und Herren, dann zeigen Sie, dass Sie wirklich nicht wissen, wie man die Zukunft für Deutschland sinnvoll gestalten muss. Noch zum Stichwort Schattenwirtschaft. In den anderen Ländern der OECD, also bei unseren Wirtschaftspartnern, bei den entwickelten Wirtschaften, stagniert die Schattenwirtschaft oder ist rückläufig. ({10}) Bei uns beträgt der Anteil der Schwarzarbeit am Bruttoinlandsprodukt, also den im Inland erbrachten wirtschaftlichen Leistungen, 17 Prozent und das ist ein Skandal. ({11}) Für die FDP gibt es auf diese Herausforderung eine wesentliche Antwort: Wir brauchen eine Sozialpolitik, die Freiheit und Eigenverantwortung wieder an die erste Stelle stellt. ({12}) Dazu muss der Staat die Voraussetzungen schaffen. ({13}) - Dass Sie das nicht nachvollziehen können, wissen wir. ({14}) Es gibt bei den Sozialdemokraten glücklicherweise auch andere. Frau Mascher hat eben davon gesprochen, dass wir einen starken Sozialstaat brauchen. Ist ein Sozialstaat stark, wenn er so viel Schwarzarbeit zuläßt, ({15}) oder ist er nicht vielmehr schwach, wenn sich die Bürger durch Schwarzarbeit von ihm abwenden? Damit der Sozialstaat wieder stark werden kann, brauchen wir dieses neue Gewicht für Freiheit und Eigenverantwortung. ({16}) Dazu gehört als erstes eine durchgreifende Steuerreform, die die Steuertarife deutlich senkt. Zweitens gehört dazu eine Reform der sozialen Sicherungssysteme, die die Beitragslast reduziert und die durch den Aufbau geförderter privater Vorsorgemaßnahmen letztlich ein angemessenes Sicherungsniveau ({17}) für den Einzelnen bewirkt. Drittens gehört dazu eine Reform des Arbeitsmarktes und der Tarifordnung, die die institutionellen Barrieren endlich abbaut. ({18}) Das sind die drei Aufgabenpakete für die nächste Legislaturperiode, damit der Reformstau aufgelöst wird. Sie haben ja zu Beginn der Legislaturperiode das eine oder andere angepackt. ({19}) Sie haben aber Angst vor der eigenen Courage bekommen. Die Mutlosigkeit hat regiert und zum Schluss ist überhaupt nichts mehr passiert. ({20}) Vor dieser Starre stehen wir jetzt. Deswegen: Der Reformstau muss aufgelöst werden. ({21}) Wir wollen das tun. Dazu noch ein paar Prinzipien: Die Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme soll sich zum Beispiel an dem Grundsatz orientieren „Versicherungspflicht statt Pflichtversicherung“. Das heißt, wir wollen wieder mehr Entscheidungsfreiheit an die Bürger zurückgeben. Das bedeutet, dass die sozialen Sicherungssysteme schrittweise vom Beschäftigungsverhältnis zu lösen sind. Das ist übrigens auch angemessener angesichts eines Lebensverlaufs, der ja den Arbeitnehmer nicht mehr wie früher ausschließlich in einem Arbeitsverhältnis sieht, sondern in dem sich Phasen der abhängigen Beschäftigung mit denen der Selbstständigkeit abwechseln. Deswegen ist diese Weiterentwicklung richtig. Wir fordern Generationengerechtigkeit. Das bedeutet, dem Bundestag muss regelmäßig eine Generationenbilanz vorgelegt werden. Da sind auf der Habenseite Bildung, Infrastruktur, soziale Sicherheit und auf der Sollseite Belastungen wie Staatsverschuldung, Pensionslasten und Generationenverträge, ({22}) sodass jede Regierung und jedes Parlament ablesen kann, was jetzt notwendig ist. Meine Damen und Herren, Sie wissen - Sie können es in unserem Antrag nachlesen -, welche Reformen wir bei der Arbeitslosenversicherung machen wollen; Sie kennen unsere Vorstellungen zur Rentenversicherung; Sie kennen unsere Vorstellungen zum Tarifvertragsrecht. ({23}) Das alles ist notwendig, damit in Deutschland endlich wieder Bewegung in den Arbeitsmarkt kommt, damit sich die Bürger wieder zu ihrem Staat bekennen und damit wir einen starken Sozialstaat bekommen. Wir wollen das tun. Danke. ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und KolleDr. Irmgard Schwaetzer gen! Frau Dr. Schwaetzer, ich nehme an, dass das nach Ihrer langen Zugehörigkeit zum Parlament eine Ihrer letzten Reden gewesen ist. Aber vielleicht werden wir noch einmal in den Genuss kommen. ({0}) - Das ist prima; darauf freue ich mich. - Ich wollte nur sagen, ich kann es verstehen, wenn hier eine solch lange Tätigkeit ausläuft, dass Sie sich hier hinstellen und eher allgemeine Prinzipien der Sozialpolitik vortragen. ({1}) Ich möchte deswegen an dieser Stelle auch davon absehen, einmal zu gewichten, inwieweit es Ihnen gelungen ist, die Prinzipien, die Sie in 28 Jahren FDP-Regierungsbeteiligung sicherlich verfolgt haben, in die Realität umzusetzen. ({2}) Insofern war das interessant. Wir werden diese Debatten auch weiter führen. Aber das, was Sie hier vorgetragen haben, hilft natürlich in der konkreten Situation wenig weiter. ({3}) Meine Damen und Herren, wir haben hier - das finde ich interessant - nun von der CDU/CSU einen Antrag mit dem Titel „Krise in der Sozialversicherung beseitigen“ vorgelegt bekommen. Ich hätte mir gewünscht, dass sich die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU diesem Thema vor einigen Jahren einmal gewidmet hätten. ({4}) Denn das, was wir übernommen haben, war weit mehr als eine Krise der Sozialversicherung. Wir haben eine Schuldenlast von 1,5 Billionen DM übernommen. Bei diesem Betrag von 1,5 Billionen DM wird es den Menschen im Land schwarz vor Augen. Wir bauen dieses ab. Wir haben die höchste Staatsquote, die es in der deutschen Geschichte gab, übernommen. Wir sind heute, nach wenigen Jahren, endlich wieder bei einer Staatsquote, wie es sie in der Zeit vor 1990 gab. Wir haben eine Sozialabgabenlast von 42,3 Prozent übernommen, den höchsten Wert, den es je gab. Wir liegen heute bei 40,9 Prozent. In der Antwort auf Ihre grandiose Zwischenfrage wurde Ihnen ja schon klar gemacht, dass es sich hierbei in der Tat um eine Senkung und nicht um einen Anstieg handelt, wie er bei Ihnen in den letzten Jahren üblich war. Wir haben dem Anstieg der Sozialabgaben einen Riegel vorgeschoben. Wir haben auch die höchste Zahl von Arbeitslosen, die es je gab, übernommen. Frau Mascher hat schon vorgetragen, dass diese nicht nur von 4,3 auf 3,8 Millionen gesenkt wurde - das ist immer noch zu hoch -, sondern dass in der schwierigen Situation der letzten Jahre auch erreicht wurde, dass sich die Struktur der Beschäftigung in diesem Land verbesserte hat. Wir können stolz darauf sein, dass wir die Arbeitslosenquote - das haben wir ja eben gehört und das ging auch durch die Presse - zum Beispiel bei Behinderten von 4,4 Prozent auf 3,9 Prozent zurückgeführt haben. Ich glaube, es ist wichtig, diese Anstrengungen fortzusetzen. Es ist aber auch wichtig, dass wir in dieser Legislaturperiode ein Gesetz erlassen haben, mit dem die Arbeitslosigkeit gerade von Behinderten bekämpft wurde. ({5}) Wir haben auch die immer noch zu hohe Arbeitslosigkeit bei den Jugendlichen mithilfe des JUMP-Programms reduziert. Heute sind fast 28 000 Jugendliche weniger arbeitslos als zu der Zeit, als wir die Regierungsverantwortung übernommen haben. ({6}) Herr Meckelburg, ich kann bis heute nicht begreifen, dass Sie angesichts der Situation gerade der Jugendlichen in Ostdeutschland immer noch den Mut haben, sich hier hinzustellen und gegen das Jugendsofortprogramm Polemik vorzutragen. Wir werden auf der Basis des JUMPProgramms gerade in den neuen Bundesländern noch weitere Brücken für Jugendliche in den Arbeitsmarkt bauen, und zwar mit flexiblen Lösungen, die auf Teilzeit setzen und direkte Hilfe bieten. Das müssen wir machen. ({7}) Sie wollen hier über die Krise der Sozialversicherung reden. Damit es überhaupt zu einer Krise bei der Sozialversicherung kommen konnte, ist übrigens mehr als bloß ein paar schlechte Zahlen notwendig. Damit muss zum Beispiel auch ein Vertrauensverlust einhergehen und den haben Sie herbeigeführt. Wir müssen das Vertrauen wieder mühsam aufbauen. ({8}) Ich nenne Ihnen dafür zwei Beispiele, die Sie nicht gerne hören: Blüm hat unverblümt behauptet, dass mit seiner Rentenreform die Renten sicher seien. Jeder in diesem Land wusste, dass die demographische Entwicklung dazu führen wird, dass der Lebensstandard von Rentnerinnen und Rentner über die gesetzliche Rentenversicherung nicht abgesichert werden kann. Aber Sie haben sich hingestellt und unverblümt die Unwahrheit gesagt, indem Sie behaupteten, die Renten seien sicher. Das hat niemand geglaubt und das hat das Vertrauen in die Sozialversicherung, gerade in die Rentenversicherung, untergraben. ({9}) Wir haben uns sehr schnell auf den Weg gemacht, der Minister vorneweg, und haben zunächst einmal die Wahrheit gesagt, nämlich dass die gesetzliche Rentenversicherung nicht ausreicht. ({10}) Wir haben den Mut besessen und durch unsere Rentenreform einen Quantensprung, wie das Herr Seehofer zu Recht bezeichnet hat, gemacht und die private Vorsorge eingeführt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Norbert Blüm?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ganz klar, Herr Blüm, gerne.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Abgeordnete, können Sie mir ein Alterssicherungssystem nennen, das sicherer ist als unsere Rentenversicherung? Wollen Sie behaupten, die Privatversicherung wäre sicherer? Die Geschichte der Privatversicherung ist eine Geschichte nicht gehaltener Versprechungen. Das unterscheidet sie von der Rentenversicherung. ({0}) Der Herausforderung, dass Rentensicherheit nicht ein Geschenk des Himmels ist, sondern beständiger Reformen bedarf, haben wir uns gestellt. Ich behaupte, dass unsere demographische Formel willkürfrei war, während Ihre 4 Prozent aus der Luft gegriffen sind, eine Einladung zur weiteren Manipulation. Das ist der Unterschied in Sachen Sicherheit. ({1})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Blüm, ich habe behauptet - und das ist richtig -, dass die Rentenreform, die Sie damals aufgelegt haben und die den demographischen Faktor enthielt - mit dem wir Grünen kein Problem hatten, weil dieser Faktor die demographische Entwicklung abgebildet hat -, zu einer Niveauabsenkung geführt und damit gleichzeitig eine Versorgungslücke für die Menschen aufgerissen habe, ({0}) die Sie nicht geschlossen haben. ({1}) Es gibt also keine Sicherheit im Alter, sondern eine Versorgungslücke, ein blümsches Loch, wenn Sie so wollen. Um dieses blümsche Loch zu beseitigen, haben wir die Privatvorsorge eingeführt. Das war tatsächlich ein Quantensprung. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, erlauben Sie eine weitere Frage des Kollegen Norbert Blüm?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, können Sie mir sagen, wie das von Ihnen so bezeichnete blümsche Loch für die Verkäuferin geschlossen wird, die es sich trotz Förderung nicht leisten kann, 4 Prozent für die Privatvorsorge abzuzweigen? Das sind diejenigen, die es am schwersten haben. ({0}) Wenn Sie schon vom blümschen Loch sprechen, dann haben Sie dieses nun auf die Schwächeren reduziert. Wenn Sie mir dann auch noch erklären könnten, was das mit Solidarität zu tun hat, wäre ich Ihnen sehr dankbar.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Blüm, ich danke Ihnen wirklich für diese Frage. Dazu gibt es zweierlei zu sagen. Der erste Punkt. Ich sprach ja von Vertrauensverlust. Zu der Zeit, da Sie an der Regierung waren, haben 7 Prozent der Menschen die Idee gehabt, privat vorzusorgen. Heute wissen 80 bis 90 Prozent der Menschen, dass sie privat vorsorgen müssen, um ihren Lebensstandard im Alter abzusichern. Zweiter Punkt. Was Sie jetzt behaupten, nämlich dass die Bezieher kleiner Einkommen mit der Riester-Rente schlecht gestellt sind, ist schlichtweg eine Unwahrheit. Das wissen auch Sie. ({0}) Die so genannte kleine Verkäuferin zum Beispiel, die Sie erwähnt haben, erhält in ihrer Einkommensgruppe über 50 Prozent Zulagen durch die Förderung der RiesterRente. Sie kann bis 80 Prozent bekommen, beispielsweise wenn sie Alleinerziehende ist. Es ist keine 100-ProzentFörderung - das gebe ich gerne zu -, aber es ist eine 80-prozentige Bezuschussung der kleinen Einkommen. Darauf haben wir Wert gelegt. Das gilt genauso für Familien mit drei Kindern. Sie können eine Förderung bis zu 90 Prozent bekommen. Das ist soziale Ausgewogenheit und keine Schieflage. ({1}) Was aber in dieser Debatte, in der es um den Vertrauensverlust ging, den wir aufgefangen haben, viel trauriger war, war die Tatsache, dass Sie bei dieser Rentenreform nicht mitgemacht haben. ({2}) Sehr ärgerlich finde ich, dass Sie - auch jetzt wieder, wie wir das eben von Herrn Blüm gehört haben - Unwahrheiten verbreiten, zum Beispiel dass wir eine soziale Schieflage hätten. Darauf habe ich Ihnen gerade geantwortet. Sie behaupten aber beispielsweise auch, dass die Renten durch die Absenkung der Schwankungsreserve nicht sicher seien. Das ist schlichtweg die Unwahrheit. ({3}) Das trägt wieder zur Verunsicherung der alten Menschen bei. Ich finde, Sie sollten damit aufhören. ({4}) Ein weiterer Punkt. Sie stellen sich hier hin - Herr Weiß zum Beispiel - und behaupten, dass Ihre Reform die sozial Schwachen stütze, gerade im Hinblick auf die Renten. Sie kündigen für dieses Jahr als ersten Schritt einer von Ihnen geführten Regierung die Abschaffung der Grundsicherung bei der Rente an. ({5}) - Dazu können Sie gerne etwas sagen. - Das halte ich für einen sozialen Skandal. ({6}) Eines der größten Probleme in dieser Gesellschaft ist die verschämte Altersarmut. Alte Menschen, die das gar nicht wollen, werden gezwungen, zum Sozialamt zu gehen. ({7}) Sie verzichten darauf, wenn sie ihre Kinder angeben müssen, die dann die Zahlungen leisten müssen. Wir wollen die verschämte Altersarmut abbauen. Deswegen werden wir das, was Sie vorhaben, nämlich die sozial Schwachen weiter zu schwächen, nicht zulassen. ({8}) Ich sprach über Vertrauensverlust. Es hat ihn nicht nur bei der Rentenversicherung gegeben, sondern wir haben ihn auch bei der Arbeitslosenversicherung zu verzeichnen. Wir hatten eine Situation, in der Menschen Beiträge gezahlt, aber keine Leistungen dafür bekommen haben, zum Beispiel bei Einmalzahlungen, Weihnachtsgeld oder Urlaubsgeld. Es gab keine Gegenleistung für Beiträge. Wer will denn Mitglied solch einer Versicherung sein? Wir haben das richtig gestellt. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist der Vertrauensverlust in der Arbeitslosenversicherung. Die Leute mussten erst langzeitarbeitslos werden, bevor sie konkrete Hilfe aus der Arbeitslosenversicherung bekommen. Was ist das für eine Versicherung? ({9}) Wir haben das mit dem Job-AQTIV-Gesetz geändert. Diejenigen, die Gefahr laufen, langzeitarbeitslos zu werden, haben heute sofort Anspruch auf Hilfe. Mein Fazit an dieser Stelle ist: Sie von der Opposition haben sich um eine echte Rentenreform gedrückt und nicht die Wahrheit gesagt. Sie haben die Reformen am Arbeitsmarkt verschlafen, Sie haben vieles nicht einmal zur Kenntnis genommen und Sie haben im Sozialsystem die Gesundheitsreform blockiert. Sie schlagen beispielsweise Bürokratieabbau vor. Sicher haben wir Bürokratien. Ich habe gerade auf einer Veranstaltung von Herrn Blüm gehört, dass wir Kennzahlen für die Krümmung der Banane oder die Höhe der Kindertoiletten in den Kindergärten oder ähnliche Regelungen nicht brauchen. Das ist richtig so, das lehnen wir auch ab, ebenso die damit zusammenhängende Ämtervielfalt. Aber das ist doch eine deutsche Krankheit und nicht eine rot-grüne Krankheit. ({10}) Das Problem haben wir auch in den Kommunen und in den Ländern. Wir haben damit begonnen, das abzuarbeiten. Wir sind nicht mit Formularblättern an die Regierung gekommen, sondern wir haben anachronistische Gesetze, die Sie nicht angetastet haben, längst aufgehoben, wie beispielsweise das Rabattgesetz. Wir können gern weiter trefflich über zu viel Bürokratie streiten. Ich könnte noch viele Beispiele nennen. Ihr Abbau ist natürlich wichtig, aber das wird den Durchbruch am Arbeitsmarkt, den Sie uns mit Ihren Vorschlägen versprechen, nicht bringen. Was schlagen Sie denn vor? Bürokratieabbau ist das eine. Sie wollen außerdem eine Kehrtwende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und in der Steuerpolitik. Da müssen Sie sich schon entscheiden. Herr Späth sagt zum Beispiel, unsere Wirtschafts- und Steuerreform gehe in die richtige Richtung. Wollen Sie jetzt trotzdem eine Kehrtwende machen? Herr Späth will die Reformen nur schneller, aber das kann er nicht finanzieren. Er verrät auch nicht, wo der Goldesel steht. Sie schlagen eine veränderte Wirtschaftspolitik vor. Was wollen Sie denn als Erstes machen? Sie wollen zum Beispiel ein Gesetz wie das Energieeinspeisegesetz einkassieren. Ein Gesetz, das in einem innovativen Arbeitsmarktbereich neue Arbeitsplätze geschaffen hat und noch viele Potenziale freisetzen kann, wollen Sie einkassieren. Ich weiß nicht, wie man mit solch einer Wirtschaftspolitik zukünftig Arbeitsmarktpolitik betreiben kann. ({11}) Es gäbe an dieser Stelle noch viel zu sagen. Ich höre jetzt einfach auf. ({12}) Ihr steuerpolitisches Konzept ist eher ein steuerpolitisches Topfschlagen, ({13}) bei dem die Reichen noch stärkere Steuersenkungen bekommen sollen. Sie wissen nicht, wie das zu finanzieren ist. ({14}) Den Eingangssteuersatz belassen Sie bei 15 Prozent. Das haben wir schon ins Gesetzblatt geschrieben. ({15}) 40:40:40 von Stoiber wird einkassiert durch Späth und meinetwegen auch durch Merz, weil jeder weiß, dass man das nicht finanzieren kann. Was bei Ihnen bleibt, ist großes Rätselraten. Jedenfalls hat sich Ihr Wirtschaftskonzept langsam verstoibert. ({16}) Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christa Luft.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ein Teil der Überschrift des Antrags der CDU/CSU ist für uns zustimmungsfähig, nämlich dass Reformen der Sozialversicherung notwendig sind. Damit aber endet schon unsere Übereinstimmung; denn bei den Wegen zum genannten Ziel unterscheiden wir uns grundsätzlich, weil wir das Solidarprinzip nicht ohne Not opfern lassen möchten. ({0}) Dieses Solidarprinzip, Kollegin Schwaetzer, ist Voraussetzung dafür, dass alle Menschen in Freiheit und mit Eigenverantwortung leben können. Alles in allem würde bei Verwirklichung der Vorschläge der Union die Krise der Sozialversicherung nicht beseitigt, sondern die sozialen Sicherungssysteme würden ausgehöhlt und weiter abgebaut werden. ({1}) Sie zielen auf die Privatisierung sozialer Risiken und auf die Disziplinierung arbeitsloser Menschen. Das werden wir nicht mitmachen. Was hat die Union, die im Übrigen - das hat der Beitrag des Kollegen Weiß gezeigt - die Rolle des Unschuldsengels spielt, ({2}) eigentlich anzubieten, um Probleme und Defizite, die es auf dem Gebiet der Sozialversicherung zweifelsohne gibt, zu lösen bzw. zu überwinden? Erstens will sie Arbeitslosen- und Sozialhilfe vereinheitlichen. Vor ein paar Wochen sprach man noch von Zusammenlegen bzw. Zusammenführen. Ich finde, Sie sind es der interessierten Öffentlichkeit schuldig, endlich von dieser Wortakrobatik wegzukommen und Klartext dahin gehend zu reden, was die Zusammenführung bzw. Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für die Betroffenen, aber auch für die Kommunen und die Gesellschaft insgesamt bedeuten würde. ({3}) Sie würde natürlich - das haben Sie ja vor - eine Abstrafung der Arbeitslosen bedeuten. Sie wollen offensichtlich die Arbeitslosenhilfe abschaffen, sie auf Sozialhilfeniveau kürzen und so Druck auf die Arbeitslosenhilfebezieher ausüben. Was aber wären die Folgen? Das sollte man der Öffentlichkeit einmal genau mitteilen. Würde die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, wäre ein Arbeitsloser, der 44 Jahre alt oder auch jünger ist, nach maximal 12 Monaten des Bezugs von Arbeitslosengeld auf Sozialhilfe angewiesen, die keine klare Ableitung mehr von seinem bisherigen Arbeitsleben und von seinem bisher erhaltenen Lohn wäre. In der Regel würde die Sozialhilfe weit darunter liegen. Allein das wäre schlimm genug. Aber das Maß der Absenkung von Bezügen ist nur das eine. Es gibt viele weitere fatale Folgen. Der zum Sozialhilfeempfänger gewordene Arbeitslosenhilfebezieher müsste vorher nahezu sein gesamtes Vermögen aufbrauchen oder auf das Partnereinkommen zurückgreifen. Bei einem durchschnittlichen Verdienst des Partners kann das je nach Anzahl der Kinder im Haushalt eine Reduzierung des Haushaltseinkommens von bis zu 400 Euro pro Monat ausmachen. Dabei hätten vor allem Familien mit Kindern deutlich weniger als vorher. Denn bei ihnen wird im Rahmen der Sozialhilfe das Kindergeld als Familieneinkommen gerechnet. Für Arbeitslosenhilfeberechtigte übernimmt bislang der Staat die Zahlung der Rentenbeiträge, wenn auch nach der drastischen Kürzung, die Rot-Grün hier vorgenommen hat, in geringerer Höhe. Sozialhilfeempfänger haben keine Möglichkeit, in die gesetzliche Rente einzuzahlen. Noch mehr Altersarmut wäre also vorprogrammiert. Schließlich die Kommunen. Kommunen mit hoher Arbeitslosigkeit würden zusätzlich belastet, weil sie die Sozialhilfe zu zahlen hätten. Ein Ja zu einem solchen Projekt wird es von uns nicht geben. ({4}) Das wäre ein folgenschwerer Einschnitt in das bundesdeutsche Sozialsystem. Die jetzige Koalition will den Milliardenbetrag, der laut Presseberichten im Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Jahre 2003 gestrichen werden soll, offenbar durch eine - so nennt sie es - Verzahnung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gewinnen. Das hätte letztlich ähnliche Wirkungen wie die, die ich gerade beschrieben habe, wenngleich vielleicht etwas abgemildert. Aber auch das lehnen wir ab. ({5}) Wir bleiben dabei: Das A und O für die Stabilisierung der Sozialversicherungssysteme ist die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen - und dies nicht nur auf dem Papier und nicht nur statistisch. ({6}) Dann gäbe es genug Arbeit und dann müsste niemand mehr so lange arbeitslos sein, dass er die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld überschreitet. Das wäre besser als jede Reform der Arbeitslosenhilfe. ({7}) Zudem fordert die PDS statt Niedriglohn und Kombilohn einen gesetzlich fixierten, existenzsichernden Mindestlohn, der Armut trotz Vollzeitarbeit verhindert. Unser langfristiges Konzept, eine soziale Grundsicherung zu schaffen, die ein Leben jenseits der Armutsgrenze für jede und jeden ermöglicht, würde schließlich die Arbeitslosenhilfe überflüssig machen. ({8}) Eine zweite Forderung der Union ist die Aktivierung des Niedriglohnsektors. Sie bringt aber weder Beschäftigungseffekte, noch bietet sie den Betroffenen entwicklungsfähige berufliche Perspektiven an. Wieder einmal würden vorwiegend Frauen in der Dienstleistungsbranche betroffen sein. Die Niedriglohnstrategie bricht ganz offensichtlich mit dem bisherigen gesellschaftlichen Konsens, dass Vollzeitarbeit zum individuellen Lebensunterhalt oberhalb der Armutsgrenze ausreichen muss. Schon deshalb lehnen wir dieses Projekt entschieden ab. In Ostdeutschland muss man sich ohnehin bei der Forderung nach der Aktivierung des Niedriglohnsektors gelinde gesagt verschaukelt vorkommen. Dort gibt es nämlich seit zwölf Jahren den großflächigen Versuch, die Wirtschaft mit Niedriglöhnen anzukurbeln. Bis heute liegen die Bruttolöhne abhängig Beschäftigter in den neuen Ländern bei 70 Prozent des westdeutschen Durchschnitts. Damit - das ist das eigentliche Problem - wird ein heute 35-Jähriger noch in 30 Jahren, wenn er in Rente geht, an der Höhe seiner Altersbezüge, die ihm dann zustehen, spüren, in welchem Teil Deutschlands er gelebt hat. Das ist unzumutbar und wäre die Fortschreibung der Spaltung. ({9}) Wie soll übrigens jemand, der einen Niedriglohn bezieht, der gerade zum täglichen Leben reicht, auch noch privat für sein Alter vorsorgen? Ich fand die diesbezügliche Zwischenfrage des Kollegen Blüm sehr passend. Die Angleichung der Löhne und Gehälter spielt also für die Stabilisierung der Sozialversicherungssysteme eine eminent wichtige Rolle. Das dritte Stichwort der Union lautet: nachhaltige Rentenpolitik, die die demographische Entwicklung angemessen berücksichtigt. Dahinter versteckt sich offenbar die Forderung, das Renteneintrittsalter anzuheben. Da damit aber kein einziger zusätzlicher Job geschaffen würde, liefe das letztlich auf die Verlängerung der Zeit hinaus, die über 50- oder 55-Jährige nach dem Arbeitsplatzverlust mangels Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten vorzeitig im Ruhestand verbringen müssen. Das aber bedeutet, für jedes Jahr vor dem offiziellen Renteneintrittsalter 3,6 Prozent Abschläge von den zustehenden Altersbezügen hinnehmen zu müssen. Das wären bei sechs Jahren nahezu 22 Prozent oder fast ein Viertel der zustehenden Altersrente. ({10}) Damit stünde für weitere Millionen Menschen Altersarmut am Horizont. Wer will das verantworten? Ich fasse zusammen: Die PDS fordert eine substanzielle Erneuerung der solidarischen Grundlagen der Sozialversicherungssysteme. Hauptvoraussetzung dafür sind und bleiben der Abbau der Massenarbeitslosigkeit und die Schaffung zusätzlicher versicherungspflichtiger, existenzsichernder Erwerbsmöglichkeiten. ({11}) Wir fordern darüber hinaus, die Einnahmen der Rentenversicherung zu erhöhen, indem alle Erwerbseinkommen in die Versicherungspflicht einbezogen werden, also auch die der Beamten, der Selbstständigen, ({12}) der Minister und natürlich auch der Abgeordneten, wie das zum Beispiel in der Schweiz Praxis ist. ({13}) Ich finde es schon bezeichnend, wenn Herr Müntefering in Talkshows sagt, er sei für das schweizerische Modell, während Rot-Grün eine Rentenreform gemacht hat, die an dem Schweizer Modell vorbeigegangen ist. Worte und Taten müssen irgendwann einmal übereinstimmen. Auch Einnahmen aus Vermögen wären heranzuziehen. Erneuerte Solidarität heißt für uns auch, die Beitragsbemessungsgrenzen anzuheben. So würden Bezieher hoher Einkommen ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend einzahlen. Schließlich sollten die Arbeitgeberanteile an den Sozialbeiträgen künftig nach der Wertschöpfung statt nach der Lohnsumme berechnet werden. ({14}) Damit würden die arbeitsintensiven Unternehmen von Beiträgen entlastet und die kapitalintensiven Betriebe stärker belastet. Das hätte beschäftigungsfreundliche Wirkungen und würde die Beitragssätze stabilisieren helfen. Danke schön. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Brandner von der SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die von der CDU/CSU initiierte Debatte über ihren Antrag „Krise in der Sozialversicherung beseitigen - endlich die notwendigen Reformen auf den Weg bringen“ ist in der Tat ein schlechter Versuch, die Erfolge der rot-grünen Sozialpolitik klein- und schlechtzureden. Damit soll das Feld bereitet werden, um Sozialabbau, wie er bis 1998 betrieben wurde, wieder salonfähig zu machen. ({0}) Die SPD will den Sozialstaat modernisieren und stärken. Genau das - Herr Weiß hat im Übrigen darauf hingewiesen - wollen auch die Gewerkschaften. Sie haben 1998 zu Recht eine Kampagne in diesem Land entfacht, mit der sie für soziale Gerechtigkeit eingetreten sind, ({1}) weil Sie, meine Damen und Herren von der rechten Seite dieses Hauses, dieses Land in eine soziale Schieflage gebracht hatten. Die Arbeitnehmerorganisationen mussten also offensiv dafür Politik machen, um diese soziale Schieflage zu beseitigen. Dafür haben wir, insgesamt gesehen, Verständnis gehabt; denn uns geht es darum, soziale Marktwirtschaft zu organisieren. Uns geht es nicht um Marktwirtschaft pur. Marktwirtschaft pur wird von denen verlangt, von denen Sie in einem ganz erheblichen Maße Spenden kassieren. Dafür lassen Sie sich im politischen Tagesgeschäft dienstbar machen. ({2}) Wenn man die Tagespolitik und die Anträge, die Sie in den letzen Monaten eingebracht haben, verfolgt, dann kann man nur zu diesem Schluss kommen. ({3}) Der Markt kann nicht alles regeln. Deshalb ist der Sozialstaat ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil unserer gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Kultur. Er fördert den sozialen Frieden und stärkt damit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ganz erheblich. ({4}) - Herr Meckelburg, hören Sie ruhig zu! Ich bin für den von Ihnen eingebrachten Antrag sehr dankbar. ({5}) Die Kritik, die darin geäußert wird, ist so unzutreffend und dermaßen aus der Luft gegriffen, dass dadurch deutlich wird, wie erfolgreich die rot-grüne Koalition gearbeitet hat. ({6}) Für diese Gelegenheit bin ich Ihnen außerordentlich dankbar. ({7}) Wir wollen die erfolgreiche Arbeit fortsetzen. Wir möchten eine solidarische Gesellschaft. Der Staat muss auch für den Schwächeren eintreten. Bei dem vorliegenden Antrag der Union und bei vielen anderen Anträgen, die wir in den letzten Monaten wöchentlich von Ihnen geboten bekommen haben, schimmert immer wieder die totale Marktgesellschaft durch: Der Stärkere soll sich durchsetzen. Zumeist sind Arbeitgeberforderungen die Richtschnur des Handelns. Auch in den nächsten Wochen erwarten wir Anträge in der gleichen Richtung und mit der gleichen Zielsetzung. Ich darf mich schon jetzt dafür bedanken, dass Sie uns auf die Art und Weise Vorlagen geben, indem Sie deutlich machen, in welcher Richtung Sie zukünftig Sozialpolitik betreiben wollen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brandner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Meckelburg.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Brandner, da Sie gerade über kleine und große Leute gesprochen haben und Sie sich als Verfechter der Interessen der kleinen Leute darstellen, frage ich Sie: Können Sie mir bestätigen, dass das, was durch Ihre Regierungspolitik erreicht wurde - dass die Körperschaftsteuer in Bezug auf die großen Unternehmen keine Einnahmequelle mehr ist, sondern dass die Finanzämter diesbezüglich zu einer Auszahlungsstelle geworden sind -, nicht mit dem Thema soziale Gerechtigkeit vereinbar ist, wenn sie gleichzeitig bei den kleinen Leuten mit Ökosteuer und Beitragssteigerungen abzocken? ({0})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Meckelburg, ich kann Ihnen das überhaupt nicht bestätigen. Ich kann Ihnen aber bestätigen, dass die Steuerreform dazu geführt hat, ({0}) dass die kleinen und mittleren Einkommen in diesem Lande ganz deutlich entlastet worden sind, ({1}) dass die Mittelständler entlastet worden sind und dass die großen Unternehmen belastet worden sind. Unsere Steuerpolitik ist in der Summe sozial ausgewogen und wird den Interessen der breiten Bevölkerungsschichten gerecht. ({2}) Zurück zu Ihrem Antrag. Schon Ihre Analyse ist ein einziges Zerrbild. Dass die Opposition die Lage kritischer darstellt als die Regierung, ist aus meiner Sicht normal. Es ist sogar ihr gutes Recht. Doch Ihre Kritik ist in der Summe unzutreffend; sie hat mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun. Das Einzige, was Sie mit Ihren schlicht und ergreifend falschen Ausführungen erreichen, ist eine Täuschung der Öffentlichkeit. Es ist doch völlig klar, dass wir das nicht hinnehmen. Die Fakten sind eindeutig: Erstens. Es ist falsch, wenn behauptet wird - wir haben es von Herrn Weiß eben wieder gehört -, die Arbeitslosigkeit sei gestiegen. Das Gegenteil ist der Fall. ({3}) - Hören Sie zu, dann können Sie etwas lernen! - Im Vergleich mit den Daten aus der Kohl-Ära ist die Arbeitslosigkeit um über 400 000 gesunken. Das ist eine Größenordnung, die wir uns nicht kleinrechnen lassen. Die Menschen, die in Arbeit gekommen sind, sind froh darüber. Das haben sie unter anderem unserer Politik zu verdanken. ({4}) Zweitens wurden in den letzten vier Jahren mehr als 1 Million neue Arbeitsplätze geschaffen. Die geringfügig Beschäftigten sind darin eingerechnet, sodass wir einen sauberen Vergleich haben. Das wissen Sie, meine Damen und Herren von der Union, ganz genau. Deshalb wollen Sie die Öffentlichkeit für dumm verkaufen, wenn Sie ständig so tun, als kämen diese zusätzlichen Arbeitsplätze nur durch Statistiktricks zustande. ({5}) Im Übrigen sind das für uns keine Petitessen, wie Sie eben sagten, und keine Peanuts. Vielmehr ist dies das Ergebnis einer erfolgreichen Politik. ({6}) Drittens scheinen Sie sich nicht so gut mit der Angebotsseite des Arbeitsmarktes auszukennen. Das Ausscheiden älterer Arbeitnehmer wird nämlich durch eine steigende Frauenerwerbstätigkeit und durch Arbeitsaufnahmen aus der stillen Reserve überkompensiert. Das Arbeitskräfteangebot ist bis zum letzten Jahr gestiegen und nimmt auch in diesem Jahr nicht ab. Lassen Sie mich hier eindeutig festhalten, dass wir zum ersten Mal in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland am Ende eines Konjunkturzyklus nicht mehr, sondern weniger Arbeitslose als zuvor haben. Umgekehrt haben wir nicht weniger, sondern mehr Erwerbstätige als zuvor. Das ist ein Erfolg unserer Politik, den wir uns von Ihnen nicht kleinreden lassen. ({7}) - Sie haben eben nicht zugehört, Frau Schwaetzer. Wenn Sie nicht lernfähig sind, tut es mir Leid. ({8}) Sie wissen genau, dass die von mir vorgetragenen Fakten stimmen. Die Arbeitsmarktlage ist insgesamt gesehen für uns nicht befriedigend; darüber können wir offen sprechen. Aber von der Misswirtschaft unter Helmut Kohl sind wir doch ein gutes Stück entfernt. Obwohl diese Daten eine eindeutige Sprache sprechen, wollen Sie tatsächlich die abgewählte Politik von Helmut Kohl wieder aufnehmen. Entweder kennt man bei der Union die Fakten nicht oder man ignoriert sie einfach, wie Herr Weiß es eben gerade in eindrucksvoller Weise bestätigt hat. Vor dem Hintergrund unserer guten Arbeitsmarktbilanz zeigen Ihre Äußerungen lediglich, dass diese ganz schnell in der Schublade „Wahlkampf“ verschwinden müssen. Besonders merkwürdig verläuft aus meiner Sicht die Sozialstaatsdebatte. Die Widersprüchlichkeit der Union zeigt sich bei ihren Finanzierungsvorschlägen. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wissen und können sich darauf verlassen, dass es mit der SPD bei der solidarischen Finanzierung ({9}) der Sozialversicherungssysteme bleibt. ({10}) Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilen sich den Beitrag. Bei der CDU/CSU und erst recht bei der FDP läuft es hingegen vor allem auf mehr Selbstbeteiligung, weniger Krankenversicherungsleistungen und eine einseitige Entlastung der Arbeitgeber hinaus. ({11}) Herr Weiß hat in diesem Zusammenhang gerade von Lücken in der Sozialversicherung gesprochen. Hätten wir 1998/99 nicht die Korrekturgesetze verabschiedet, könnten wir heute schon an den Zahnlücken der Menschen in diesem Land die Folgen Ihrer unsozialen Politik erkennen. ({12}) Eine Staatsquote von 40 Prozent, die im Wahlprogramm in der Union allen Ernstes vorgeschlagen wird, bedeutet Mindereinnahmen von sage und schreibe 170 Milliarden Euro im Jahr. Das sind circa 18 Prozent der gesamten Staatsausgaben und wäre nur mit einem dramatischen Kahlschlag bei den Sozialleistungen zu schaffen. Die Wirkungen wären nicht nur beim Bund, sondern auch bei den Ländern und Kommunen deutlich zu spüren. Opfer dieser Politik - das ist völlig klar - wäre die große Mehrheit der Bevölkerung: die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und insbesondere die Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger. Das Absacken in eine solche soziale Ungerechtigkeit ist ebenso wenig in Ordnung wie eine Zweiklassenmedizin. ({13}) Deshalb können wir diesen Überlegungen nicht zustimmen. Leicht zu widerlegen ist Ihre Behauptung von drastisch steigenden Rentenbeiträgen. Sie verwechseln offenbar das Jahr 2002 mit dem Jahr 1998. Damals betrug der Beitrag zur Rentenversicherung bekanntlich 20,3 Prozent. Heute dagegen beträgt er 19,1 Prozent. Wie Sie aus diesen beiden Zahlen einen Anstieg interpretieren, ist Ihr Geheimnis. Vielleicht sollten Sie noch einmal die Schule aufsuchen, um dies nachvollziehen zu können. ({14}) Möglicherweise wird der Beitrag in Zukunft geringfügig steigen, aber keinesfalls in alte Höhen. Von dem Beitragsniveau Ihrer Regierungszeit haben wir uns jedoch erfolgreich verabschiedet. Zu einem Anstieg der Beiträge käme es allerdings, wenn man Ihre Idee ernst nähme, die 325-Euro-Jobs wieder versicherungsfrei zu stellen. Dann nämlich drohten der Sozialversicherung drastische Einnahmenverluste. Das führte sofort dazu, dass die Sozialversicherungsbeiträge um 0,3 Prozent angehoben werden müssten. Das scheinen Sie alles in Kauf nehmen zu wollen. Von einer gerechten und sozialen Politik kann bei einer solchen Maßnahme aus meiner Sicht aber keine Rede sein. ({15}) Mit Bezug auf den Sozialbericht will ich Ihnen die Grundkonzepte unserer zukunftsorientierten Sozialpolitik erläutern. Leitlinie sind und bleiben Gerechtigkeit, Sicherheit und Innovation. Wir haben Fehlentwicklungen korrigiert und gravierende Defizite beseitigt. Dabei hatte uns die alte Regierung - das wissen Sie - sowohl eine Rekordarbeitslosigkeit als auch eine Rekordstaatsverschuldung sowie eine gefährliche Schieflage des sozialen Systems hinterlassen. Sie hatte 16 Jahre lang von unten nach oben umverteilt und Arbeitnehmerrechte beschnitten. ({16}) Die Kohl-Regierung hatte den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft in bedrohlicher Weise aufs Spiel gesetzt und wurde zu Recht abgewählt. Die Sozialpolitik muss die strukturellen Veränderungen in der Arbeitswelt gestalten. Wir akzeptieren den Trend zu flexibleren Arbeitseinheiten und höheren Qualifikationsanforderungen. Dazu kommt der gesellschaftliche Wandel mit dem geänderten Altersaufbau der Bevölkerung, der steigenden Frauenerwerbstätigkeit, kleineren Familien und generell mehr individuellen Lebensstilen. Auch die internationalen Verflechtungen wirken immer stärker auf die Sozialpolitik ein. ({17}) Vor allen Dingen die Jugend braucht eine Perspektive. Gleich nach unserer Regierungsübernahme haben wir das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt und damit über 400 000 jungen Menschen eine neue Zukunftschance verschafft. Dieses Programm ist so erfolgreich, dass Sie es in Ihrem sozialpolitischen Rundumschlag überhaupt nicht erwähnen. ({18}) Die Bundesregierung stand im Übrigen auch bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik dafür ein, dass ausreichende Mittel zur Verfügung stehen. 22,5 Milliarden Euro sind ein solides Fundament, das mit bewirkt hat, dass in dieser schwierigen Zeit beispielsweise die Langzeitarbeitslosigkeit überdurchschnittlich zurückgegangen ist. Nun kommt es darauf an, auch für arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger ein Konzept zu entwickeln, um sie möglichst schnell in Arbeitsverhältnisse zu vermitteln. Durch die von uns für eine bessere Zusammenarbeit von Arbeitsund Sozialämtern initiierten MoZArT-Projekte haben wir bereits erhebliche Erfolge aufzuweisen. ({19}) Sie werden die Basis für eine grundlegende Reform sein, wobei sehr deutlich wird: Das Zusammenlegen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ist noch keine Reform. Vielmehr muss es unser Ziel sein, den Menschen zu helfen, tatsächlich aus der Abhängigkeit von der Sozialhilfe herauszukommen; dafür sind wir angetreten. ({20}) Kernstück unserer Sozialpolitik war die große Rentenstrukturreform. Sie stellt die Alterssicherung auf eine langfristig stabile Grundlage. ({21}) Sie verteilt die Lasten ausgewogen zwischen Älteren und Jüngeren. Die Renten steigen etwas langsamer als geplant; dafür steigt die Sicherheit enorm. Das zählt und bringt Vertrauen. Das wissen die Menschen in diesem Land. ({22}) Deshalb sage ich ganz deutlich: Keine Rente - auch keine Witwenrente - wird gekürzt, auch wenn Sie noch so viel Polemik in dieser Richtung betreiben. Die Verunsicherungskampagne der CDU/CSU wird auch an dieser Stelle nicht greifen. Stattdessen fördern wir die Erwerbstätigkeit von Frauen. Teilzeitarbeit in der Phase der Kindererziehung wird auch hinsichtlich der Rente besser bewertet. Das sind Chancen, die wir den Menschen in diesem Land eröffnen. ({23}) Das ist Fakt, genauso wie die Tatsache, dass ab Januar nächsten Jahres kein Rentner und keine Rentnerin mehr zum Sozialamt gehen muss, weil wir eine soziale Grundsicherung einführen. ({24}) Sie ist bedarfsorientiert; wir haben sie durchgesetzt. Ich empfinde es als einen deutlichen Schritt der sozialen Kälte, dass Sie in der nächsten Legislaturperiode, wenn Sie die Mehrheit bekommen würden, genau dieses soziale Reformprojekt wieder einkassieren wollen. Das ist nicht in Ordnung. Für einen solchen Schritt sollten Sie sich aus meiner Sicht wirklich schämen. ({25}) Ich komme zum Schluss: Wir führen die Wählerinnen und Wähler nicht an der Nase herum, sondern bieten ihnen ein ehrliches und zukunftsfähiges Programm. Ihre Leitlinien sind Ideenlosigkeit und soziale Ungerechtigkeit. Unsere Leitlinien sind Gerechtigkeit, Sicherheit und Innovation. ({26}) Dafür treten wir an, meine Damen und Herren. In diesem Sinne werden wir in diesem Land auch nach dem 22. September erfolgreiche Politik machen. ({27})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Johannes Singhammer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich ebenfalls an die Wahrheit halten. ({0}) Die Wahrheit ist: Nach vier Jahren Rot-Grün geht es den kleinen Leuten und insbesondere den Familien in unserem Land schlechter. ({1}) Gleichzeitig können sich die Großunternehmen dank Steuersenkungen über einen Geldsegen freuen. Durch die Steuerreform dieses Bundeskanzlers konnte die Familie Reemtsma ihre Firmenbeteiligungen für 6,7 Milliarden Euro verkaufen, ohne eine Mark Steuern zu zahlen. ({2}) Dagegen wird bei den Rentnern knallhart gespart. Reden wir doch einmal Klartext: Entgegen allen Versprechungen sind die Renten im Jahre 2001 noch nicht einmal um den Inflationsausgleich gestiegen. Das ist die Realität. Die Finanzämter zahlen heute mehr an Körperschaftsteuer an die Großunternehmen zurück, als sie einnehmen. Während die Quelle Körperschaftsteuer vor zwei Jahren noch gesprudelt hat und 20 Milliarden DM eingenommen worden sind, müssen die Finanzämter heute Geld auszahlen. Die Folge davon ist, dass die Kommunen Hallenbäder schließen müssen und die kleinen Leute, die auf ein solches Bad angewiesen sind, weil sie keinen privaten Swimmingpool besitzen, buchstäblich in das leere Bassin schauen, während es sich bestimmte Großverdiener dank Ihrer Steuerermäßigungen ohne mit der Wimper zu zucken leisten können, noch einen zweiten Swimmingpool dazuzubauen. ({3}) Deutschland ist in eine soziale Schieflage geraten. Die Menschen verlieren von Tag zu Tag mehr Vertrauen in diese Regierung. Eine Kette gebrochener Wahlversprechen pflastert den Weg dieser Regierung. Ich belasse es heute bei der Aufzählung von sieben Todsünden - ich könnte noch mehr aufzählen -, mit denen Sie die Menschen hinters Licht geführt haben: Als Erstes nenne ich die Arbeitslosenkatastrophe. Dieser Bundeskanzler hat im vergangenen Jahr versprochen: Wir wollen im nächsten Jahr unter die Marke von 3,5 Millionen Arbeitslosen kommen. Tatsache ist: Wir werden in diesem Jahr im Schnitt 4 Millionen Arbeitslose haben. Ihre als Wunderwaffe gepriesenen neuen Konzepte wie das Job-AQTIV-Gesetz entpuppen sich als Rohrkrepierer. Heute erreichen uns Meldungen, dass der Bundesminister für Arbeit den Herrn Gerster von der Bundesanstalt für Arbeit rügt, weil der Mittelabfluss nicht vorankommt, ({4}) weil 3,4 Prozent weniger als im vergangenen Jahr ausgezahlt worden sind. All Ihren Ankündigungen zum Trotz wird die Arbeitslosigkeit nicht besser bekämpft, sondern es wird schlechter und schlimmer; sie steigt. Das zweite Versprechen betraf eine deutliche Entlastung der Bürger und Familien. Im Mittelpunkt steht die Entlastung der aktiv Beschäftigten und ihrer Familien. Dies war Teil Ihrer Regierungserklärung. Tatsache ist: Unter dieser Bundesregierung erwartet die Familien, die Menschen in unserem Land bis zum Jahre 2005 eine Rekordsteuerbelastung: Ökosteuer, Versicherungsteuer und Tabaksteuer belasten gerade Familien mehr und werden durch die Erleichterungen, die Sie schon eingeführt haben - das billige ich Ihnen zu - bei weitem nicht kompensiert. Unterm Strich gibt es für die meisten in diesem Land netto weniger. ({5}) Versprochen wurde außerdem eine bezahlbare Gesundheit für alle: Die neue Bundesregierung wird dafür sorgen, dass Gesundheit für alle bezahlbar bleibt und jeder den gleichen Anspruch auf eine qualitativ hochstehende medizinische Versorgung hat. So haben Sie es in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt. Tatsache ist, dass das Gesundheitswesen vor dem Kollaps steht und die gesetzliche Krankenversicherung aus den Fugen gerät. Die Gesundheitsministerin muss ein Defizit, das ständig wächst, einräumen. Ähnlich verhält es sich mit der Pflegeversicherung. Versprochen wurde, dass die Rücklage der Pflegeversicherung vorrangig für die dauerhafte Stabilisierung des Beitragssatzes verwendet werden sollte. Tatsache ist, dass die Pflegeversicherung am Krückstock geht; das haben wir in unserem Antrag auch deutlich ausgeführt. Aus den Überschüssen im Jahre 1998 sind Defizite geworden. Diese Defizite kommen auch dadurch zustande, dass Sie die Beitragsgelder dazu verwenden, die Lücken im Haushalt des Finanzministeriums zu stopfen. Beitragsgelder werden also in die Kasse des Finanzministers umgeleitet. Ähnlich verhält es sich auch mit dem vierten Zweig der Sozialversicherung, nämlich der Arbeitslosenversicherung. Den Beitrag dazu wollten Sie um 0,5 Prozent auf 6 Prozent absenken. Auch das ist nicht verwirklicht worden. Im Gegenteil: Wie schon in den vergangenen Jahren benötigt die Bundesanstalt für Arbeit wieder einmal mehr Geld als eingeplant. Die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der rot-grünen Politik ist und war zu keinem Zeitpunkt gegeben. Ich nenne noch ein Beispiel: Der Bundeskanzler schwor in der letzten Woche heilige Eide darauf, dass der Kündigungsschutz unangetastet bleiben soll. ({6}) Vorgestern erklärte der Ministerpräsident Niedersachsens, Herr Gabriel, ({7}) in einem Interview, dass man selbstverständlich darüber nachdenken müsse, den Kündigungsschutz durch eine Staffelung zu lockern. Dem Wirrwarr dieser Äußerungen entspricht der Wirrwarr Ihrer Politik. Sie ist das Gegenteil von Verlässlichkeit. ({8}) Ihr Verhalten wird im Übrigen nicht nur von uns, sondern auch in Ihren eigenen Reihen als geplante politische Unberechenbarkeit bewertet. ({9}) Ich darf der Unverdächtigkeit halber den früheren SPDVorsitzenden, Oskar Lafontaine, zitieren, ({10}) der in einem Interview der „Bild“-Zeitung am 24. April Folgendes über

Not found (Kanzler:in)

Er hat den Kurswechsel der Partei zu verantworten. Milliardengeschenke an Unternehmen, Kürzungen der Renten und soziale Leistungen, die ständige Forderung nach Lohnzurückhaltung und die Beteiligung deutscher Soldaten an Auslandseinsätzen werden von der großen Mehrheit der Ostdeutschen abgelehnt. Er fügt weiter hinzu: Sogar Stoiber will die Beteiligungsverkäufe der Banken, Versicherungen und Großbetriebe wieder besteuern. Die SPD-Führung nicht. Da fasst man sich an den Kopf. ({0}) Wir, die Union, haben klare Vorstellungen, welche grundsätzlichen Weichenstellungen jetzt ohne Verzögerungen vorgenommen werden müssen. Zuallererst wollen wir den Arbeitsmarkt entriegeln und bürokratische Hemmnisse beseitigen. ({1}) - Das sage ich Ihnen gleich. - Wir wollen grundsätzlich zunächst einmal auch im Niedriglohnsektor mehr Beschäftigung schaffen. Die 630-DM- bzw. 325-Euro-Bürokratiemonster, die Minijobs, werden wir durch eine 400-EuroRegelung ersetzen, die sich durch eine ganz große Einfachheit auszeichnet und die Menschen wieder aus der Schwarzarbeit zurückholt. ({2}) - Wir werden sie mit einer Pauschalsteuer ausgleichen. Unsere Konzepte sind nachprüfbar und seriös. ({3}) Wir wollen eine aktive Arbeitsmarktpolitik umsetzen, die diesen Namen wirklich verdient. Dazu planen wir den Ausbau individueller Förderungen in den neuen JobCentern. Zusätzlich wollen wir zur Selbstständigkeit ermutigen und den Mittelstand stärken; denn der Mittelstand war in den letzten Jahren - das hat sich in dieser Zeit herausgestellt - der erfolgreichste Arbeitsplatzmotor. ({4}) Er hat in den vergangenen 20 Jahren 2,9 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. ({5}) Sie betreiben eine mittelstandsfeindliche Politik. Die Quittung haben Sie mit der Arbeitsmarktstatistik erhalten. Bezogen auf die Rentenreform sage ich Ihnen: Wir werden diese unzureichende Rentenreform, die auf tönernen Füßen steht und deren Halbwertszeit von Monat zu Monat geringer wird und bald auf null steht, noch einmal auf den Prüfstand stellen und die notwendigen Korrekturen durchführen. ({6}) Das wissen die Menschen auch. Aufgrund Ihrer Reform ist das Vertrauen in die Altersvorsorge in der Vergangenheit nicht gewachsen. Wir werden die drei Säulen der Alterssicherung - gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersversicherung, aber auch die private Vorsorge - in eine neue Balance bringen. Die kapitalgedeckten Elemente der betrieblichen und der privaten Vorsorge werden künftig einen höheren Stellenwert erhalten. ({7}) Die gesetzliche Rentenversicherung bleibt natürlich eine tragende Säule der Alterssicherung. ({8}) - Ja, natürlich ist das so. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der künftigen Opposition, der Bundeskanzler hat auf Ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende versucht, sich und Ihnen Mut zu machen und hat festgestellt, dass der Mut wächst. ({9}) Ich kann bei Ihrer Politik nirgends erkennen, dass in Deutschland der Mut wächst. ({10}) Im Gegenteil: Das, was in Deutschland wächst, ist die Wut auf Ihre Politik, die soziale Schieflage und die soziale Ungerechtigkeit. Ich versichere Ihnen: Das werden wir ändern. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Singhammer, wie seriös Ihre Vorschläge sind, sollten Sie einmal mit Herrn Späth besprechen. Er nimmt schließlich einen Vorschlag nach dem anderen, den Sie zur Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik gemacht haben, zurück. ({0}) Eigentlich müssten Sie Ihr Programm noch einmal von neuem beschließen, jedenfalls dann, wenn Herr Späth irgendeine Rolle in der Republik spielen sollte. ({1}) Er lobt die rot-grüne Steuerreform und bezeichnet das, was die CDU/CSU vorschlägt, als unseriös. ({2}) Nachdem Sie Lafontaine zitiert haben, würde ich Sie an dieser Stelle gern auf Lothar Späth und das, was er hinsichtlich der Seriosität des Programms der Union gesagt hat, verweisen, nämlich: unseriös, unseriös, unseriös! ({3}) Sie haben ausgeführt, dass es den Familien nach der rot-grünen Regierungszeit in den letzten vier Jahren schlechter ginge. ({4}) - Das ist nicht so. - Ich möchte Ihnen gerne nur in einigen Punkten nachweisen, dass dem nicht so ist, auch wenn ich bekanntlich der Auffassung bin, dass wir, was Kinder und Familien angeht, in diesem Land noch ganz am Anfang stehen. Aber wir haben jetzt den Vergleich zwischen den 16 Jahren Kohl-Regierung und den vier Jahren RotGrün zu ziehen. Erstens. Die Kindergelderhöhung. Es stimmt übrigens nicht, Frau Luft, dass die Kindergelderhöhungen auf die Sozialhilfe angerechnet worden sind. Gerade das ist unter dieser Regierung nicht erfolgt. Zweitens. Förderung bei der privaten Zusatzvorsorge für die Renten. In diesem Bereich sind es gerade die Familien, die zu Recht hohe Förderungen erhalten, weil sie es sich am wenigsten leisten können, zusätzlich private Vorsorge zu leisten. ({5}) Drittens. Selbst bei so etwas wie dem Mainzer Modell, bei dem es um die Förderung von Langzeitarbeitslosen geht, gibt es Kinderzuschüsse bis zu 75 Euro. Genau das ist die Politik, die diese Bundesregierung betrieben hat und von der Sie unter keinen Umständen behaupten können, dass es den Familien in diesem Land dadurch schlechter ginge als zu Ihrer Regierungszeit. Das Gegenteil ist der Fall. Wir werden als rot-grüne Regierung an dieser Stelle weitermachen und noch einen Zahn zulegen. ({6}) Das versprechen wir den Bürgerinnen und Bürgern. Darauf können sie sich verlassen. ({7}) Als zweiten Punkt haben Sie angesprochen, dass die Rentenversicherung in einem desolaten Zustand sei, Herr Singhammer. In diesem Zusammenhang ist bereits - auch von Herrn Brandner und Frau Dückert - umfassend auf die einzelnen Fragen, die Sie angeführt haben, eingegangen worden. Darüber will ich nicht weiter reden. Ich möchte Sie vielmehr daran erinnern, wie die Geschichte dieser Rentenreform eigentlich verlaufen ist. Wir waren uns nämlich in fast allen Punkten einig. Wir haben hier darüber debattiert und es gab unter anderem von dem Abgeordneten Schemken große Zustimmung. Aber die CDU/CSU hat am Ende aus rein taktischen Gründen entschieden, sich nicht daran zu beteiligen. ({8}) Dass Sie nun aber mit Äußerungen wie „desolat“ oder „Damit müssen wir noch einmal ganz von vorne anfangen“ operieren, ist nicht glaubwürdig und real. Es hat nichts mit den Fakten zu tun, sondern nur mit unlauterer Politik. ({9}) Das wissen die Leute draußen im Land und wir werden es ihnen auch noch deutlich machen. ({10}) Des Weiteren haben Sie behauptet, dem Mittelstand in Deutschland gehe es schlecht. Dazu möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Wir wissen genau, dass die meisten Arbeitsplätze im Mittelstand existieren bzw. entstehen. ({11}) Auch Sie wissen übrigens, dass die Arbeitslosenzahl gesunken ist. Es hilft Ihnen nichts, wenn Sie behaupten, dass sie gestiegen sei. Im Vergleich zu Ihrer Regierungszeit ist sie gesunken. Die Zahl der Erwerbstätigen in diesem Land ist so hoch wie nie zuvor. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Es wäre in Ordnung gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass das nicht ausreiche und dass weitere Reformen notwendig seien. Auch wir sind dieser Meinung. Wahrscheinlich würden wir uns dann sehr schnell über die Ziele, aber nicht über die Instrumente einigen können. Aber zu behaupten, der Mittelstand werde in diesem Land nicht entlastet, nachdem der Mittelstand durch unsere Steuerreform um 30 Milliarden Euro entlastet worden ist, ist ebenso unlauter wie die Bemerkung, die Sie vorhin gemacht haben. Auch das werden die Menschen in diesem Land Ihnen nicht glauben, weil sie wissen, dass Rot-Grün in allererster Linie den Mittelstand entlastet hat. Alles andere ist falsch. ({12}) Ein Thema ist auch, ob man beim Abbau der Arbeitslosigkeit auf das Anziehen der Konjunktur setzt - das scheint Ihr Ziel zu sein; das entnehme ich zumindest Ihrem Wahlprogramm - oder ob man die Probleme direkt angeht. Auch Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeit für die Zukunft dieses Landes ganz entscheidend ist. Ich bin stolz darauf, dass wir es geschafft haben, mit einem Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit deutliche Zeichen gerade in Ostdeutschland zu setzen. Mit diesem Programm legen wir dort einen Zahn zu. Wie sieht Ihre Antwort auf unsere Programme aus? Ihrem Wahlprogramm entnehme ich, dass Sie die Staatsquote senken wollen. Sie diskutieren noch darüber, in welchem Zeitraum die Staatsquote auf unter 40 Prozent - offenbar muss erst noch Lothar Späth nachrechnen - gesenkt werden soll. Das würde 170 Milliarden Euro weniger bedeuten. Ich frage Sie: Wo wollen Sie so viel einsparen, etwa bei der Arbeitsmarktpolitik, bei der Familienpolitik, beim Kindergeld, bei der Bildungspolitik oder bei den Zuschüssen zur Rentenversicherung? Das müssen Sie schon sagen. Sie können nicht wie Kai aus der Kiste kommen und so tun, als legten Sie viele bunte Geschenke unter den Weihnachtsbaum. Die Menschen werden, wenn sie Ihre Geschenke aufmachen, merken, dass in ihnen nichts drin ist. Sie können den Menschen nichts vorlügen. Die Menschen merken, wenn Sie so tun, als ob Sie die großen Geber wären, die aus irgendeiner Kiste Geld nehmen, das nicht vorhanden ist. Schließlich haben auch Sie sich zur Fortsetzung der Konsolidierung des Haushaltes bekannt. Wenn man sich anschaut, was Sie vorhaben, dann muss man feststellen, dass das offenbar nur eine Worthülse ist. Mit solchen Worthülsen gewinnt man in diesem Land keine Wahl mehr. Dafür sind die Bürgerinnen und Bürger einfach zu schlau. ({13}) Ich möchte zum Schluss noch kurz etwas zur Gesundheitspolitik bzw. Krankenversicherung sagen, weil Sie darauf in Ihrem Antrag auch eingehen. Ihr Antrag enthält eine ganze Latte von Vorwürfen an die Regierung. Sie haben in ihm aber auch deutlich gemacht, was die Union will. Das sind vor allen Dingen vier Punkte: Transparenz, Selbstbestimmung, Prävention und Qualität. Das hört sich ganz gut an. Möglicherweise unterschreiben wir das sogar. Mich wundert aber, dass das Wort „Wirtschaftlichkeit“ in Ihrem Antrag fehlt, und zwar auch deshalb, weil bei Ihnen Selbstbestimmung immer bedeutet, dass die Menschen - das betrifft zum Beispiel die Wahltarife - aus der eigenen Tasche etwas drauflegen sollen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat bei einer Umfrage, deren Ergebnisse letzte Woche veröffentlicht worden sind, die Menschen danach gefragt, ob sie bereit seien, mehr zu bezahlen. Dabei ist festgestellt worden: Die Menschen in diesem Land wollen keine höhere Selbstbeteiligung, also genau das nicht, was Sie ihnen aufdrücken wollen. Deswegen ist die Politik, die wir gemacht haben, richtig; denn wir haben immer klar gesagt: Wir werden dafür sorgen, dass erstens die Beitragserhöhungen so gering wie möglich ausfallen und dass es zweitens keine Zuzahlungen gibt, die sozial ungerecht sind. Darin werden wir von den Bürgerinnen und Bürgern bestätigt. Diese haben nämlich - so hat es der Sachverständige der Bundesregierung formuliert - keine Lust, zusätzlich Geld in ein unwirtschaftliches System zu stecken. Meine Damen und Herren, der Antrag, den Sie hier gestellt haben, ist zweierlei: Er ist unseriös und nicht sozial gerecht. Sie werden am 22. September die Quittung für Ihre Politik bekommen. Rot-Grün wird das Land weiter gestalten ({14}) in Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, insbesondere für die kommenden Generationen. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Detlef Parr von der FDP-Fraktion.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat auf dem SPD-Parteitag festgestellt: Der Mut wächst. Ich stelle im Hinblick auf die ausbleibende Gesundheitsreform fest, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der Unmut wächst. ({0}) Der Unmut wächst bei den Versicherten. Sie spüren am eigenen Leib immer deutlicher die Spirale „höhere Krankenkassenbeiträge und weniger Leistungen“ in Arztpraxen, in Apotheken, in Krankenhäusern. Sie müssen auf planbare Operationen teilweise monatelang warten. Der Unmut wächst bei den Ärztinnen und Ärzten. Sie spüren am eigenen Leib immer deutlicher die mittlerweile von Ihnen beschlossenen unerträglichen Budgets und staatlichen Überreglementierungen zulasten ihrer Patienten. ({1}) Der Unmut wächst bei den Krankenkassen, die mehr Wettbewerb und Gestaltungsmöglichkeiten wollen, durch den Risikostrukturausgleich aber behindert und bestraft werden. ({2}) Der Unmut wächst bei den Apothekern. Ihnen wird eine mit heißer Nadel gestrickte unausgegorene Aut-idemRegelung aufs Auge gedrückt, durch die vielen Patienten ihre gewohnten Medikamente vorenthalten werden. ({3}) Die Apotheker müssen befürchten, dass ihnen durch die Zulassung des Medikamentenversandhandels mit den Niederlanden und der Schweiz erhebliche Nachteile entstehen können. ({4}) Der Unmut wächst in den Krankenhäusern, weil übermüdete Ärzte zum Alltag gehören und es keine neuen Arbeitszeitregelungen gibt. Deshalb, meine Damen und Herren, ist die Forderung mehr als berechtigt, diese Krise zu beseitigen und endlich die notwendigen Reformen auf den Weg zu bringen. ({5}) Unstrittig ist: Nach der IT-Branche ist der Gesundheitsmarkt der Wachstumsmarkt Nummer eins der Zukunft und eine Jobmaschine erster Güte. Ich erinnere mich an den Kanzler, als er noch keiner war. „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ stand auf den Plakaten. Das Gegenteil ist entstanden. Wachstumsmärkte werden gebremst. Bereits heute gibt es hier über 4 Millionen Beschäftigte. Es werden über 250 Milliarden Euro umgesetzt, davon aber nur etwa die Hälfte im Rahmen des gesetzlichen Zwangssystems. Daraus erkennen wir: Die Bereitschaft zur Investition in die Gesundheit ist bei den Bürgerinnen und Bürgern vorhanden. Diese Bereitschaft müssen wir zur Entfaltung bringen. ({6}) Deshalb sind für die FDP zwei Forderungen von besonderer Bedeutung. Wir müssen - die Gesundheitsberufe wieder zu freien Berufen machen ({7}) und auf der anderen Seite mehr Patientensouveränität schaffen. Die Möglichkeiten individueller Vereinbarungen zwischen Arzt und Patient und zwischen Versicherten und Krankenkassen müssen erweitert werden. ({8}) - Sie müssen etwas qualifiziertere Zwischenrufe machen und vor allen Dingen die aktuelle Entwicklung berücksichtigen, Herr Kollege. Es gibt doch keinen Zweifel, meine Damen und Herren, dass die Chipkarte als vermeintlicher Garant für unbegrenzte Leistungen zu Missbrauch verführt. Das anonyme Sachleistungsprinzip hat auch und vor allem vor dem Hintergrund Europa längst ausgedient. Wir müssen bei den Versicherten Kostenbewusstsein schaffen. Sie halten krampfhaft an diesem alten System fest. Wir wollen die Kostenerstattung anstelle des Sachleistungsprinzips. ({9}) Wenn Sie nicht zuhören, Frau Schmidt-Zadel, können wir nie voneinander lernen. Das ist ein Trauerspiel. Deshalb kommen wir zu diesen Ergebnissen in der Gesundheitspolitik. ({10}) Die Transparenz durch Rechnungslegung macht aber nur dann Sinn, wenn ärztliche Leistungen auf der Grundlage eines Preissystems, wie es in allen anderen Wirtschaftszweigen üblich ist, abgerechnet werden können. Entscheidend für den Erfolg solcher Umstellungsmaßnahmen ist die Abschaffung jeder Art von Budgetierung. Für sie ist dann kein Raum mehr. Was die Finanzierungsgrundlagen der Zukunft angeht, müssen wir das Verhältnis von Solidarität und Subsidiarität neu ordnen, gerade um das Prinzip der Solidarität zu retten. Denn wir sollten uns nichts vormachen: Wir haben längst keine Solidargemeinschaft mehr. Sie ist deformiert, man muss sie neu ordnen. Ich kann mir für die Zukunft ein dreigeteiltes Finanzierungsmodell vorstellen: eine solidarische Finanzierung, eine Mischfinanzierung und eine rein private Finanzierung. Das ist ein Modell der Zukunft. Ein solches Modell hat in der gesetzlichen Krankenversicherung nur dann eine Chance, wenn wir den Leistungskatalog kritisch überprüfen und das solidarisch zu Finanzierende neu definieren. Das heutige System widerspricht dem Wunsch einer wachsenden Zahl von Menschen, ihre Belange möglichst umfassend in eigener Verantwortung selbstbestimmt zu regeln. Die Tarifgestaltung in der GKV muss deshalb flexibler werden. Neben die solidarisch zu finanzierende Grundversorgung müssen Zusatzangebote treten, die einen individuellen ergänzenden Versicherungsschutz ermöglichen. ({11}) Diese Angebotsvielfalt muss - so stellen wir uns das vor - in Kooperation mit privaten Krankenversicherungen erreicht werden. In dem Zusammenhang sind die neuen ordnungspolitischen Kapriolen der Frau Ministerin bezeichnend. - Es ist niemand vom Gesundheitsministerium mehr da. Das ist auch bezeichnend. ({12}) Da will die Gesundheitsministerin die Versicherungspflichtgrenze tatsächlich anheben und damit den Zugang zur privaten Krankenversicherung erschweren. Schon jetzt flüchten Tausende von Versicherten aus dem Zwangssystem in das private Krankenversicherungssystem hinein. Sie wollen die Schotten dichtmachen und damit genau den falschen Weg gehen. Die Menschen in Deutschland sind nicht so schutzbedürftig, dass 90 Prozent der GKV angehören müssen und nur 10 Prozent privat versichert sein dürfen. Noch ein paar Bemerkungen zur Pflegeversicherung. Im Antrag der Union finden wir zu Recht die Feststellung, dass „die Überschüsse, soweit sie die gesetzlichen Mindestreserven von 2,05 Milliarden Euro übersteigen, bis zum Jahr 2006 aufgezehrt sein“ werden. Danach, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den großen Fraktionen, erübrigen sich Anträge, die wünschenswerte Leistungsausweitungen zum Inhalt haben, ohne die Finanzierung langfristig zu sichern. Wir müssen erkennen, dass wir dann sehenden Auges in einen selbst geschaffenen Engpass und Kostendruck hineinlaufen, der nur durch Erhöhung der Pflichtbeiträge zu beheben ist. Diesen Weg gehen wir als FDP nicht mit. ({13}) Wir müssen uns jetzt vielmehr daranmachen, die Pflegeversicherung sowohl im Hinblick auf Zielgenauigkeit, Effizienz und Organisation als auch im Hinblick auf die Folgerungen aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Entlastung der Familien ohne Vorbehalte auf den Prüfstand zu stellen. Wir brauchen eine öffentliche Diskussion darüber, was und wie viel zukünftig über die Pflegeversicherung finanziert werden soll und kann und welcher Beitrag aus eigener Kraft, zum Beispiel über den Aufbau einer ergänzenden kapitalgedeckten Säule der privaten Eigenvorsorge, geleistet werden kann. Letzte Bemerkung. Der Kanzler hat gesagt: Der Mut wächst. Die FDP hat festgestellt: Der Unmut wächst. ({14}) Wenn Rot-Grün in der Gesundheitspolitik so weitermacht wie bisher, dann wird Lafontaines Buchtitel in der Tat öffentliche Meinung: Die Wut wächst. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Regina Schmidt-Zadel von der SPDFraktion.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Union suggeriert mit ihrem Antrag, über den wir heute diskutieren, es gebe eine Krise in der deutschen Sozialversicherung. ({0}) Schon die Überschrift ihres Antrags ist ({1}) nur heiße Luft. Es gibt weder eine Krise noch krisenhafte Entwicklungen in der Sozialversicherung. ({2}) Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! ({3}) Wir haben es weder mit einem Wende- noch mit einem Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung zu tun, wie Sie den Menschen zu suggerieren versuchen. ({4}) - Sie können nachher reden. Dann können Sie noch lauter schreien. ({5}) Es gibt auch keinen Fieberanfall als Wendepunkt einer Infektionskrankheit; das kann ich jedenfalls nicht erkennen. Plötzlich auftretende heftige Schmerzanfälle sind in unserem Sozialsystem ebenfalls nicht zu verspüren. Nachdem ich die Reden heute Morgen gehört habe, muss ich sagen: ({6}) Bei einigen Reden sind wirklich heftige Schmerzanfälle zu spüren gewesen. ({7}) Die Union behauptet in ihrem Antrag, unter Rot-Grün habe die Versorgung der Patienten und Pflegebedürftigen an Qualität verloren. An dieser Aussage - Herr Lohmann, hören Sie gut zu! ({8}) ist zweierlei bemerkenswert. Erstens ist sie falsch. Zweitens belegt sie, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, einmal gut aufgepasst haben. Sie haben jetzt endlich begriffen, dass die Qualität der Versorgung der entscheidende Parameter im Gesundheitswesen ist. Das Wort „Qualität“ in der medizinischen Versorgung haben Sie erst in den letzten Jahren durch uns kennen gelernt. ({9}) Es blieb Rot-Grün vorbehalten, die Qualität zum Leitmotiv in der gesetzlichen Krankenversicherung zu erheben. Wir führen heute also eine Phantomdiskussion über die deutsche Sozialversicherung. Nein, Sie betreiben Ihren Wahlkampf konsequent. Das war heute auch wieder zu hören. Ich sage dazu: Meinungen über Tatsachen sind weniger als die Tatsachen selbst. Sie reden unser Sozialsystem schlecht, um das Feld für Ihren rabiaten Umbau zu bestellen, meine Damen und Herren. Das ist der Hintergrund. ({10}) In der Gesundheitspolitik sind Sie darauf aus, das Solidarprinzip auszuhöhlen und langfristig durch ein Prinzip der individuellen Risikovorsorge abzulösen. Sie wollen das Risiko Krankheit Schritt für Schritt privatisieren, meine Damen und Herren. Das ist der Hintergrund Ihres Programms. ({11}) Dieser Systemwechsel ist ein Spiel mit dem Feuer. Seit mehr als 100 Jahren stehen die Gesunden für die Kranken, die Jungen für die Alten, die finanziell Starken für die finanziell Schwachen und die Singles für Familien ein. Das Solidarprinzip eröffnet den kranken Menschen ohne Rücksicht auf ihren Geldbeutel den Zugang zu den medizinisch notwendigen Leistungen. Das ist es, was wir erhalten wollen. ({12}) Sie legen zwar Lippenbekenntnisse zum Solidarprinzip ab. Jedoch schon Ihr offizielles Wahlprogramm durchlöchert und entwertet das Solidarprinzip ganz erheblich. Ihr Alternativmodell der Wahltarife soll es erlauben, den umfassenden Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine maßgeschneiderte Risikovorsorge abzulösen. Die Zechen für die neuen Freiheiten hätten dann die Kranken zu bezahlen und vor allen Dingen die chronisch Kranken. ({13}) Nur Junge und Gesunde können es sich nämlich leisten und riskieren, Wahloptionen auszuüben. Sie würden dafür mit Beitragsnachlässen belohnt - das sagen Sie ja -, aber dadurch käme weniger Geld in das System. Die Gesundheitskosten würden jedoch nicht sinken. Sie haben ja - wir haben das heute Morgen gehört ({14}) in Ihr Wahlprogramm geschrieben, dass auch rechnen lernen zu Ihrem Wahlprogramm gehört. Vielleicht rechnen Sie ja auch einmal in dieser Hinsicht und lernen, dass das nicht stimmt. Die Kranken müssten zwangsläufig eine größere Last schultern, und zwar besonders die chronisch kranken Menschen. Wahltarife sind zudem frauen- und familienfeindlich. Mit Ihrem Wahlprogramm leisten Sie den Einstieg in den Ausstieg aus dem Solidarprinzip. Das ist die Tatsache. ({15}) Sie schulden den Wählerinnen und Wählern im Übrigen noch wichtige Informationen zu Ihrem Wahltarifmodell. Wie wollen Sie denn mit den Versicherten umgehen, bei denen sich ein abgewähltes Risiko wider Erwarten doch konkretisiert? Wollen Sie unterversicherte Menschen mit dem Hinweis auf ihre eigenverantwortliche Entscheidung sich selbst überlassen oder sollen sie auf die Solidarität ihrer Familien bauen oder eventuell auf die Fürsorge karitativer Organisationen angewiesen sein? Oder soll dann doch der Steuerzahler über die Sozialhilfe einspringen und soll die Allgemeinheit dafür geradestehen, dass jemand mit Wahltarifen Rosinenpickerei betrieben hat, meine Damen und Herren? Das kann es ja wohl nicht sein. Das wird auch nicht kommen. Weiter: Wie lange soll denn ein Versicherter an einen Wahltarif gebunden sein? - Sein Leben lang oder nur für eine bestimmte Zeit? Welchen Beitrag muss er zusätzlich zahlen, wenn er den Wahltarif abwählt oder ihm sein Gesundheitszustand das nahelegt? Soll er denselben Beitrag zahlen - auch darauf gibt es keine Antwort - wie ein Versicherter, der nicht für einen Wahltarif optiert hat, oder soll er einen höheren Obolus entrichten, weil er sich befristet aus einem solidarisch finanzierten Leistungssegment verabschiedet und das Krankheitsrisiko in dieser Zeit nicht mitgetragen hat? Soll auch der Arbeitgeber vom niedrigen Beitrag der Wahlfreiheiten profitieren? ({16}) Werden dann Arbeitgeber - das sagen Sie ja und das ist ein ganz wesentlicher Punkt - die Einstellung davon abhängig machen, dass Bewerber für einen Wahltarif optiert haben, der Lohnnebenkosten spart? ({17}) Droht älteren, häufiger krank werdenden Arbeitnehmern auf diese Art und Weise die Verdrängung aus dem Arbeitsmarkt? Das wäre das Fazit Ihres Wahltarifes. ({18}) Schließlich: Wie vertragen sich die frauen- und familienfeindlichen Wahltarife mit der von Ihnen immer vorgeschobenen angeblichen Fokussierung der Unionspolitik auf die Familien? Auch das lässt sich ja damit nicht vereinbaren. Viele Fragen, meine Damen und Herren, auf die Sie bisher jede substanzielle Antwort schuldig geblieben sind. Dass Sie gesundheitspolitisch noch einiges im Schilde führen, steht für mich fest. Die von der Union viel beschworene Stärkung der Eigenverantwortung heißt in erster Linie Eigenzuzahlung. ({19}) - Eigenverantwortung heißt auch bei Ihnen, Herr Parr, zuzahlen. ({20}) Das ist so wenig vom Tisch wie die Abzockerei der Patienten. ({21}) - Sie können sich noch mehr aufregen, aber sie ist nicht vom Tisch. Sie lassen die Wähler über Ihre wahren Absichten wohlweislich im Unklaren. Das ist die Situation. Dass der Wolf vor dem Wahltag nur Kreide frisst - das gilt auch für Sie, Herr Wolf -, ({22}) belegen die aktuellen Forderungen Ihres Wirtschaftsrates. Lesen Sie doch bitte einmal nach, was Ihr Wirtschaftsrat geschrieben hat. ({23}) Das ist ja nicht irgendein Rat bei Ihnen, ({24}) sondern Sie alle sind gut beraten, seine Thesen sehr ernst zu nehmen. ({25}) Der Wirtschaftsrat will eine kapitalgedeckte individuelle Vorsorge einführen. Ich frage lieber nicht danach, wer die Kosten für die notwendigen Übergangslösungen bezahlen soll. Das beträfe doch die Versicherten und diejenigen, die Sie immer mit Ihren Programmen zu schützen vorgeben. Das Gegenteil ist der Fall. ({26}) Wir haben allen Grund zur Annahme, dass die Finanzierung dieses Systemwechsels genauso sorgfältig durchdacht und durchgerechnet ist wie die der steuer- und familienpolitischen Großtaten, die Sie den Wählerinnen und Wählern verheißen und die ebenfalls nicht finanzierbar sind. ({27}) Außerdem hat der Wirtschaftsrat dankenswerterweise auch in puncto Grund- und Wahlleistungen die Maske fallen lassen: ({28}) Patienten sollen für nicht näher genannte Zusatzleistungen extra zahlen. Aus taktischen Überlegungen habe sich die Union in ihrem Wahlprogramm aber nicht dafür ausgesprochen. Man sollte gut hinhören. ({29}) Ferner soll jeder Versicherte nach den Vorstellungen Ihres Wirtschaftsrates für Unfälle bei Risikosportarten selbst vorsorgen. Nicht nur in dieser Frage geht es in der Union drunter und drüber. Der ehemalige Gesundheitsminister Horst Seehofer hat sich gegen diesen Vorschlag ausgesprochen. Die bayerische Gesundheitsministerin hat sich für ihn stark gemacht. ({30}) Sie ist zurückgepfiffen worden. Nun setzt sich Ihr Wirtschaftsrat für diese Thesen ein. Was gilt nun eigentlich? Haben wir es vielleicht mit zwei Wahrheiten zu tun? Eine, die vor dem Wahltag verkündet wird, und eine, die nach ihm gilt? Der Eindruck entsteht. ({31}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, bitte versäumen Sie nicht, auch einem bekannten Fallschirmspringer in dieser Sache reinen Wein einzuschenken. Fallschirmspringen gehört ja selbst dann zu den extrem gefährlichen Sportarten, wenn die Reißleine rechtzeitig gezogen wird. ({32}) Dazu ist dieser bewusste Sportler, wie wir alle wissen, leider nicht immer in der Lage. ({33}) Die gesundheitspolitische Vielstimmigkeit in der Union unterstreicht einmal mehr die Wahrheit des Satzes, dass den Menschen die Sprache gegeben ist, um ihre Gedanken zu verbergen. Das scheint auch bei Ihnen der Fall zu sein. Die Wähler haben aber Anspruch darauf, von Ihnen die volle Wahrheit über Ihre Vorstellungen zu erfahren, und zwar noch vor der Wahl. In der Pflegeversicherung hat die rot-grüne Koalition ({34}) ihre Hausaufgaben in dieser Legislaturperiode gemacht. Wir haben die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, ({35}) dass die Qualität der Pflege spürbar und nachhaltig verbessert werden kann. Wir haben erste Schritte getan, um die Situation der Demenzkranken und die derjenigen, die sie pflegen, zu verbessern. ({36}) Niemand bestreitet, dass diese Maßnahmen nicht ausreichend sind. Aber wir haben etwas in unserer Regierungszeit getan, während Sie nichts getan haben. ({37}) - Sie haben Vorschläge gemacht, aber Sie haben sie nicht umgesetzt. ({38}) Wir haben, wie gesagt, etwas für Demenzkranke getan und darauf sind wir stolz. ({39}) Unsere zukünftige zentrale gesundheitspolitische Aussage lautet: Die SPD hält uneingeschränkt und vorbehaltlos am Solidarprinzip fest. Wir wollen, dass auch in Zukunft jeder Mann und jede Frau Zugang zu den medizinisch notwendigen Leistungen haben, ohne dass dabei die persönliche finanzielle Situation eine Rolle spielt. Das ist unser Credo für die Wahl, aber auch für unsere Politik. Sie vermitteln den Eindruck, dass wir heute hier zusammengekommen sind, um Ihre Selbstbeweihräucherung zu erleben. In Ihrem Antrag betreiben Sie wieder einmal Schönfärberei Ihrer Gesundheitspolitik. Zurzeit Ihrer Regierung müssen danach im Gesundheitswesen paradiesische Zustände geherrscht haben. Aber ich erinnere Sie erneut daran, weswegen Sie abgewählt worden sind: wegen der Gesundheitspolitik. ({40}) Sie werden auch nicht wiedergewählt, weil Sie in diesem Bereich keine vernünftigen Lösungen haben. ({41}) Wenn Ihr Verklärungssyndrom weiter um sich greift, werden Sie sich und allen demnächst noch weismachen wollen, Sie hätten uns geordnete Staatsfinanzen hinterlassen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kollegin Frau Dückert hat heute Morgen noch einmal auf die Beträge hingewiesen. Sie haben uns ein desolates Finanzsystem hinterlassen. Wir haben in den letzten vier Jahren versucht, das zu ändern, auch in der Krankenversicherung. ({42}) - Da gab es keine Überschüsse. Sie haben abgezockt und keine Überschüsse für die Patienten gehabt, sondern Zuzahlungen. Wir werden die Gesundheitsreform nicht nur in dem Sinne, in dem wir sie begonnen haben, fortführen, ({43}) wir werden auch die Solidarität erhalten und alles tun, um die Menschen davor zu bewahren, dass Ihre Vorstellungen nach dem 22. September Gestalt annehmen. ({44})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zöller von der CDU/CSUFraktion. ({0})

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau SchmidtZadel, so sicher meine Stimme aufgrund einer Erkältung in einer Krise ist, so sicher befindet sich das deutsche Gesundheitswesen in einer Krise, nur mit dem gravierenden Unterschied: Meine Krise ist bald überwunden, die rotgrüne Krise im Gesundheitswesen jedoch nicht. ({0}) Alle Verantwortlichen sollten wirklich mit Ernst an die Sache herangehen; daran kommt doch niemand vorbei, das wissen Sie. Wir haben die höchsten Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung seit ihrem Bestehen. Wir haben mit durchschnittlich 14 Prozent einen Beitragssatz, den es noch nie gab, aber trotz dieser erhöhten Beiträge ein neues Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung. Besonders besorgniserregend ist für mich: Parallel dazu findet eine Verschlechterung der medizinischen Versorgung der Patienten statt. Die Beitragsanhebungen haben also nicht zur Finanzierung einer besseren medizinischen Versorgung beigetragen. ({1}) Dafür ist Rot-Grün verantwortlich. Frau SchmidtZadel, da können Sie reden, wie Sie wollen, das halten wir Ihnen immer wieder vor: Sie haben 1998 ein System übergeben bekommen, in dem es Milliarden Überschüsse gegeben hat ({2}) und in dem über rund zehn Jahre die Beiträge stabil waren. Das können Sie nicht bestreiten. ({3}) Sie hätten, hätten Sie diesen Zustand und die Zeit genutzt, eine Reform auf den Weg bringen und etwas Sinnvolles tun können. Diese Chance haben Sie leider vertan. ({4}) Zudem hat sich die Gesundheitsministerin zu Beginn ihrer Amtszeit in, wie ich meine, völliger Verkennung der realen Lage dafür entschieden, eine Gesundheitsreform erst nach der Bundestagswahl vorzulegen. Was sollen die Bürger eigentlich von einer Regierung halten, die es in fast vier Jahren nicht geschafft hat, eine nachhaltig wirksame Reform vorzulegen? ({5}) Vielleicht können wir uns, auch wenn es jetzt kurz vor der Wahl ist, doch auf Folgendes einigen: Wenn man eine nachhaltig angelegte Reform, die diesen Namen verdienen soll, will, müssen folgende Punkte berücksichtigt werden: erstens Prävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe; ({6}) zweitens demographische Entwicklung; drittens medizinisch-technischer Fortschritt; viertens Unter-, Über- und Fehlversorgung besonders bei chronisch Kranken; fünftens Beitragssatzstabilität kontra Rationierung; sechstens ausufernde Verwaltungskosten bei Kassen und Leistungserbringern; siebtens Gesundheitswesen endlich als Wirtschaftsfaktor begreifen; achtens Vollkasko-Mentalität; neuntens mittel- und langfristige Finanzierung der Ausgabenseite und besonders der Einnahmenseite der gesetzlichen Krankenversicherung in Kombination mit einer Steuerreform. Was bietet Rot-Grün zu diesem Konzept? Rationieren, kontrollieren und reglementieren. Das ist die ganze Philosophie im Gesundheitswesen von Rot-Grün. ({7}) Mit einem Übermaß an Bürokratie wird jeder Leistungswille erstickt und die im Gesundheitswesen Tätigen werden von ihrer eigentlichen Aufgabe, der Zuwendung zu den Patienten, abgehalten. Mit der Budgetierung riskieren Sie ganz bewusst, dass Gesundheitsleistungen nach den Prinzipien einer Mangelverwaltung zugeteilt werden. Auch mit der Einschränkung der Therapiefreiheit der Ärzte durch Ihre nicht praktikable Aut-idem-Regelung gefährden Sie die Qualität der Arzneimitteltherapie. Die Patienten sollen nicht mehr das beste, sondern ausschließlich das billigste Medikament erhalten. ({8}) - Selbstverständlich, leider stimmt es. Mit dem geplanten Behandlungsprogramm für chronisch Kranke vollziehen Sie jetzt eine Abkehr von einer an der individuellen Situation der Patienten ausgerichteten Therapie. ({9}) Die Ärzte sollen sich nur noch an Standards und Checklisten orientieren. Am Ende stehen dann nicht mehr der Patient und dessen gesundheitliche Bedürfnisse im Mittelpunkt, sondern es gibt schematische Behandlungen unter ökonomischen Zwängen der Kassen. Durch die Verknüpfung mit dem Risikostrukturausgleich schaffen Sie zusätzlich Probleme. Sie wollen im Juli dieses Jahres vier von zehn wichtigen chronischen Erkrankungen in dieses Programm aufnehmen. Das heißt, für diese vier Erkrankungen versprechen Sie den chronisch Kranken mehr Leistungen. Aber Sie verschweigen, dass Sie gleichzeitig den an einer der sechs anderen chronischen Krankheiten Leidenden Leistungen vorenthalten müssen. ({10}) Das gehört doch auch zur Wahrheit. Zu Ihren Ankündigungen, mit Internet- und Versandhandel im Arzneimittelbereich Geld zu sparen, sage ich Ihnen: Das wird ein Schlag ins Wasser. Das Ergebnis wird sein: Sie werden, erstens, Arbeitsplätze ins Ausland verlagern und Sie gefährden, zweitens, eine flächendeckende Versorgung in Apotheken. Sie gefährden außerdem die Arzneimittelsicherheit. Nachdem wir heute früh über Risiken gesprochen haben, habe ich eine Frage: Wie wollen Sie eine Rückrufaktion beim Internethandel durchführen? ({11}) Auch das hat etwas mit Arzneimittelsicherheit zu tun. Es tut mir Leid: Wenn Sie schon einmal etwas anpacken, dann denken Sie es leider nicht bis zum Ende durch. Hier gilt: Das Gegenteil von „gut“ ist „gut gemeint“. Weil Sie immer nach Alternativen rufen: Wir können sie Ihnen sagen. Wir müssen endlich einmal gemeinsam einen völligen Neuanfang in der Gesundheitspolitik wagen. Auch dazu haben wir drei Kernelemente vorgeschlagen. Erstens. Wir wollen Qualität und Prävention im deutschen Gesundheitswesen. Deshalb brauchen wir ein bundesweites Aktionsprogramm Prävention und ein Anreizsystem in der gesetzlichen Krankenversicherung, das gesundheitsbewusstes Verhalten finanziell belohnt. Zweitens. Die Beteiligten im Gesundheitswesen müssen endlich von den Fesseln der Reglementierung und der Listenmedizin befreit werden. ({12}) Wir wollen den Ärzten, den Krankenkassen und den Versicherten die Freiheit geben, die bestmögliche Form der Versorgung für die Patienten zu finden. Dazu bedarf es der Möglichkeit, Verträge und Organisationsmodelle zu vereinbaren, die den Bedürfnissen vor Ort wesentlich mehr gerecht werden. Nicht Bürokratie und Budgets, sondern Freiheit und Wettbewerb sind die Antwort auf die Probleme unseres Gesundheitssystems. ({13}) Drittens. Wir wollen den Patienten mehr Selbstbestimmungsrechte geben. ({14}) Sie sollen in Zukunft selber über den Leistungsumfang ihrer Versicherung entscheiden können. Nicht die Funktionäre im Gesundheitswesen müssen gestärkt werden, sondern die Patienten und Versicherten. ({15}) Deshalb ist das zentrale gesundheitspolitische Anliegen der Union die Stärkung der Rolle der Patienten. Ein Vertragswettbewerb innerhalb klarer sozialpolitischer Spielregeln ist eher als gesetzliche Reglementierungen dazu geeignet, die Strukturdefzite des Gesundheitswesens zu beseitigen, die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern und - Frau Schmidt-Zadel, jetzt kommt es ({16}) die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen. Nur dieser Richtungswechsel bringt unser Gesundheitssystem wieder an die Spitze; denn dort gehört es eigentlich hin. Jeder sagt: Gesundheit ist mein höchstes Gut. - Wenn das so ist, dann müssen wir entsprechende Rahmenbedingungen schaffen. ({17}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, nicht die im Gesundheitswesen Beschäftigten, sondern die politischen Rahmenbedingungen müssen reformiert werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Mehrheit der Bevölkerung dies am 22. September 2002 so sehen wird. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Erika Lotz von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Den Rednerinnen und Rednern von CDU/CSU und FDP habe ich sorgfältig zugehört. Ich habe mich gefragt, von welchem Land sie sprechen. Von unserem doch sicherlich nicht. Herr Singhammer, Sie haben von den sieben Todsünden gesprochen. Nun gestehe ich, nicht sehr bibelfest zu sein. ({0}) Aber eines der Zehn Gebote kenne ich schon - ich kenne natürlich alle zehn; aber dieses eine kenne ich besonders gut -: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. - Herr Singhammer, in Ihrer Rede haben Sie pausenlos dagegen verstoßen. ({1}) Lassen Sie mich als Sozialpolitikerin ein Wort zum Steuersystem sagen. Ich komme wie Herr Weiß aus Hessen. ({2}) Ich weiß, dass es während Ihrer Regierungszeit beispielsweise im Finanzamt Bad Homburg - es liegt im MainTaunus-Kreis; dort wohnen nicht gerade arme Menschen - Phasen gab, in denen die Einnahmen aus der Erhebung der Kfz-Steuer höher waren als die aus der Erhebung der Einkommensteuer. Dieses Finanzamt musste überwiegend zu viel gezahlte Einkommensteuer zurückzahlen. Seit unserer Steuerreform hat dieses Finanzamt wieder Einnahmen aus der Erhebung der Einkommensteuer. Erzählen Sie also nicht, unsere Steuerreform sei falsch! ({3}) Herr Weiß, Sie haben sich sehr in der Schwarzmalerei geübt. Seitdem wir regieren - das muss ich Ihnen sagen -, steht die soziale Gerechtigkeit im Vordergrund. ({4}) Wir haben den Reformstau der 16-jährigen Kohl-Ära aufgelöst. Wir haben ein gutes Stück sozialer Gerechtigkeit geschaffen. Das bedeutet Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern gerade in den sozialen Systemen. Der neue DGB-Vorsitzende Michael Sommer hat dieser Tage gesagt: Vier Jahre Schröder haben den Arbeitnehmern mehr gebracht als 16 Jahre unter Kohl. - Recht hat er. ({5}) Jetzt sprechen CDU und CSU schon wieder von einer Krise in der Sozialversicherung. Den dazu vorliegenden Antrag hätten Sie in Ihrer Regierungszeit verfassen und einbringen sollen. Da hätten Sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Krise in der Sozialversicherung betraf zu Ihrer Zeit vor allem Mütter. Zur Verbesserung von deren Situation haben wir viel getan. Mit unserer Rentenstrukturreform haben wir die besondere Lage von Frauen im Alter einbezogen. 1991 wussten auch Sie, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dass die Alterssicherung der Frauen dringend verbessert werden müsste. Das Bundesverfassungsgericht hatte damals die Regierung Kohl dazu aufgefordert. Geändert haben Sie aber nichts. ({6}) Im Gegenteil: Die Blüm-Reform, die Sie jetzt gern wieder aus der Schublade holen würden, hat für Frauen nichts vorgesehen. Erst Rot-Grün hat das Problem angepackt. Durch die Rentenstrukturreform werden Mütter in Zukunft im Alter besser dastehen, ganz gleich, für welche Lebensform sie sich entscheiden. Natürlich leben die meisten jungen Frauen heute anders als ihre Mütter und Großmütter. Nach der Geburt des Kindes versuchen sie, schnell wieder erwerbstätig zu werden oder es zu bleiben. Das wird immer selbstverständlicher, damit erwerben Frauen zunehmend eigene Anwartschaften für die Rente, und das ist gut so. Trotzdem gibt es immer noch frauenspezifische Lücken in den Erwerbsbiografien. Diese haben Sie vollständig ignoriert. ({7}) Für Sie ist die einzige Form der Alterssicherung für Frauen immer noch die Hinterbliebenenrente, und das im 21. Jahrhundert. Solange die Kinder klein sind, können Frauen oft nur Teilzeit arbeiten, gering bezahlte Jobs annehmen. Deshalb sieht unsere Reform vor, dass die Rentenanwartschaften für die ersten zehn Lebensjahre der Kinder aufgestockt werden. Konkret heißt das: Die Beiträge zur Rentenversicherung von Müttern, die unterdurchschnittlich verdienen, werden bis zum Durchschnittsbeitrag um die Hälfte erhöht. Auch im Hinblick auf eigene Rentenanwartschaften ist es für Frauen gut, während der Kindererziehung erwerbstätig zu bleiben. Im Übrigen ist die Höherbewertung auch eine Möglichkeit, die Rentenanwartschaften allein erziehender Mütter zu verbessern. Abgesehen davon helfen wir den erwerbstätigen Müttern auch auf andere Weise; denn der Bund wird ab dem nächsten Jahr Ländern und Kommunen jedes Jahr 1 Milliarde Euro für die Kinderbetreuung zur Verfügung stellen, damit Frauen berufstätig sein können und sich die Betreuungssituation verbessert. ({8}) Wir konzentrieren uns aber nicht nur auf die berufstätigen Mütter. Es gibt auch Ausgleichsmaßnahmen für die Frauen, die überhaupt nicht erwerbstätig sein können, weil sie zwei oder mehr Kinder oder ein pflegebedürftiges Kind haben. Auch für sie wird es einen Aufstockungsbetrag geben. Zum ersten Mal spielt in Zukunft Kindererziehung auch bei der Hinterbliebenenrente eine Rolle. Ja, wir haben die Hinterbliebenenrente maßvoll von 60 Prozent auf 55 Prozent gesenkt. Gleichzeitig gilt aber, dass Frauen, die Kinder erzogen haben, trotzdem eine höhere Hinterbliebenenrente erhalten. Unsere Reform bestimmt für das erste Kind einen Zuschlag von 2 Entgeltpunkten und für jedes weitere Kind Zuschläge von 1 Entgeltpunkt. Am Ende bedeutet das: Die Hinterbliebenenrente ist höher.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lotz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, Herr Laumann, Sie hatten eigentlich Gelegenheit zu reden. Sie haben Ihre Redezeit abgetreten, dann wollen wir es auch dabei belassen. Die Witwe eines Durchschnittsrentners, die ein Kind erzogen hat, erhält nicht weniger Hinterbliebenenversorgung als die Witwe eines Durchschnittsrentners heute; wenn sie zwei Kinder hat, erhält sie sogar mehr. Wichtig ist auch: Alle Neuregelungen im Hinterbliebenenrecht gelten nicht für die heutigen Witwen, sie gelten für Ehepaare, die entweder nach In-Kraft-Treten der Reform heiraten, jetzt also noch nicht verheiratet sind, oder bei denen beide Partner nach dem 1. Januar 1962 geboren sind. Das ist eine Tatsache, die die CDU verschweigt. Viel schlimmer noch: Sie versucht, Witwen, Rentnerinnen und Rentner damit zu verunsichern. Das ist unredlich und unseriös. Hören Sie endlich damit auf! ({0}) Außerdem gibt es die Möglichkeit, Rentenanwartschaften, die in einer Ehe erworben wurden, partnerschaftlich zu teilen. Das müssen beide Ehepartner wollen. Auch das gilt für Ehen, die ab 2002 geschlossen werden, oder für bestehende Ehen, wenn beide Ehegatten jünger als 40 sind. Rentensplitting führt in aller Regel zu höheren eigenständigen Rentenleistungen für die Ehefrauen. Das entspricht einem veränderten Partnerschaftsverständnis von Mann und Frau. Das ist keine Zumutung, wie Sie es in Ihrem Wahlprogramm behaupten. Es ist vielmehr ein Einstieg und ein Angebot, in der Ehe gemeinsam Erworbenes auch bei der Rente zu teilen. Für viele junge Ehepaare entspricht das Splitting, also das Teilen von gemeinsam Erworbenem, viel mehr ihrer Lebenswirklichkeit als die traditionelle Hinterbliebenenversorgung. Unsere Reform sieht ab 2003 die Grundsicherung vor. Davon profitieren vor allem Frauen. Gerade ältere Frauen mit geringen Renten beantragen oft keine Sozialhilfe, obwohl sie Anspruch darauf hätten, weil sie vielfach befürchten, dass ihre Kinder für sie zahlen müssen. Diese Grundsicherung wollen Sie von der Union wieder abschaffen. Sie wollen also weiterhin sehenden Auges die verschämte Altersarmut - insbesondere die Altersarmut von Frauen, die in ihrem Leben viel gearbeitet haben - in diesem Land hinnehmen. Wir wissen jetzt aber immerhin, was CDU und CSU unter „Alterslohn für Lebensleistung“ verstehen. Die Kindererziehung gehört für Sie offenbar nicht zur Lebensleistung. ({1}) Ich möchte hier die Verbesserungen für Mütter, die sich durch die Rentenstrukturreform ergeben, darstellen. Die Änderungen waren längst überfällig. Die CDU/CSU hat es in den 16 Jahren Kohl-Regierung nicht geschafft, das zu tun, was nötig ist. Ihrem Wahlprogramm ist nicht zu entnehmen, dass Sie vorhaben, in Zukunft etwas für die Frauen zu tun. Im Interesse der Frauen haben wir vieles nachgeholt, was Sie versäumt haben oder sehenden Auges zugelassen haben. Das gilt selbstverständlich nicht nur für die Rentenversicherung. Lassen Sie mich auf unser Altersvermögensgesetz zu sprechen kommen. In einem Redebeitrag wurde das vorhin so dargestellt, als ob geringer Verdienende benachteiligt würden. Bei denjenigen - es handelt sich insbesondere um Frauen -, die ein geringeres Einkommen haben, wird - je nach Fall - die staatliche Förderung bis zu 90 Prozent der Gesamtsumme ausmachen. Wie Sie vor diesem Hintergrund davon reden können, dass geringer Verdienende benachteiligt würden, kann ich nicht verstehen. ({2}) Ich möchte ein Beispiel nennen: Für eine teilzeitbeschäftigte Verkäuferin mit einem Jahreseinkommen in Höhe von 15 000 Euro bedeuten die 4 Prozent, die sie sparen kann, 600 Euro. Mit einem Kind erhält sie eine Förderung von insgesamt 339 Euro. Sie wird also einen Betrag in Höhe von 261 Euro im Jahr als Eigenanteil bezahlen müssen. Die Förderung macht also über 50 Prozent des Beitrages aus. Vor diesem Hintergrund können Sie nicht sagen, dass Frauen und Geringverdiener benachteiligt werden. Sie versuchen, eine gute Regelung madig zu machen. Die Menschen werden das merken. Ich möchte auf weitere Aspekte zu sprechen kommen, die belegen, dass wir eine gute Politik gemacht haben; wir werden sie auch weiterhin machen. Wir haben die geringfügig beschäftigten Frauen in den Schutz der Sozialversicherung zurückgeholt. Damit haben wir eine Erosion des Normalarbeitsverhältnisses verhindert und für Solidarität im Bereich der Renten- und Krankenversicherung hinsichtlich der Beiträge gesorgt. Wir haben das Teilzeit- und Befristungsgesetz verabschiedet. Mütter und Väter haben jetzt einen Anspruch auf eine Teilzeitstelle und müssen sich nach Ablauf der Elternzeit nicht mehr entscheiden, ob sie Vollzeit arbeiten wollen oder gar nicht mehr erwerbstätig sein wollen. All das wollen Sie wieder rückgängig machen. Die Frauen und Männer in diesem Land haben schon lange erkannt, bei wem sie gut aufgehoben sind. Ich möchte die Aussage von Michael Sommer wiederholen: Vier Jahre Schröder haben den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen mehr gebracht als 16 Jahre Kohl. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Blüm von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einer grundsätzlichen Bemerkung, die allerdings im aktuellen Zusammenhang mit dem steht, was wir heute diskutieren. Die Quelle des Sozialstaats ist die Arbeit, da kann in Deutschland regieren, wer will. Weil der Sozialstaat vom Sozialprodukt, vom Erfolg der Arbeit abhängt, Herr Kollege Brandner, ({0}) Frau Kollegin Dückert und andere, ist es geradezu borniert, zu glauben, die Staatsquote könne nur durch Kürzungen im Sozialbereich reduziert werden. Das ist Ausdruck zumindest eines beschränkten, eigentlich aber eines bornierten Denkens. ({1}) So viel können Sie gar nicht sparen, wie Arbeitslosigkeit kostet. ({2}) - Wenn Sie es gestatten, rechne ich es Ihnen noch vor. Dann können Sie vielleicht meine Rechnung infrage stellen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Blüm, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dückert?

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Blüm, können Sie einmal darlegen, woher die 170 Milliarden Euro kommen sollen? Sie brauchen mir nicht vorzurechnen, wie sie zustande kommen. Mir geht es darum, wie Sie sie finanzieren wollen. Wir sind nämlich auf der Suche nach Ihrem Goldesel.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nehmen Sie doch bitte Platz!

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, sie soll stehen bleiben. ({0})

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber vielleicht haut sie meine Antwort um. Das wollte ich vermeiden. ({0}) Liebe Frau Kollegin Dückert, ich mache es an einem Beispiel deutlich: Wenn man 100 000 Arbeitslose in Beschäftigung bringt, entlastet dies die Bundesanstalt um 3 Milliarden. Daraus können Sie unschwer errechnen, dass eine Million zusätzlich Beschäftigter sie um 30 Milliarden entlastet. Darin ist noch nicht einbezogen, dass die Sozialausgaben sinken und die Einnahmen steigen, wenn mehr Menschen beschäftigt sind. So einfach ist das! ({1}) - Was richtig ist, ist richtig. Wissen Sie, warum die Sozialdemokraten - Sie sind offenbar davon angesteckt - das nicht kapieren? - Sie sind Techniker der Melkmaschine, während wir wissen, dass eine gut gefütterte Kuh mehr Milch gibt. Das ist der Unterschied. ({2}) Wenn Sie mir nicht glauben, mache ich es Ihnen an einem anderen Beispiel deutlich: Zwischen 1982 und 1989, also in der Regierungszeit von Helmut Kohl, sank der Staatsanteil von 50,1 Prozent auf 45,8 Prozent, obwohl die Sozialaufwendungen pro Kopf stiegen. Das heißt, dass die Renten gestiegen sind, obwohl der Staatsanteil gesunken ist. - Ist das zu kompliziert für Sie, Frau Dückert? Dann würde ich es Ihnen noch einmal erklären. Die Soziallastquote sagt über die Qualität des Sozialstaats überhaupt nichts aus. ({3}) Sagte die Soziallastquote etwas über die Qualität des Sozialstaates aus, wäre ein Anstieg der Arbeitslosigkeit ein Beitrag zum Ausbau des Sozialstaates, da mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit auch die Ausgaben ansteigen. Das wird hier doch aber niemand behaupten. ({4}) - Fällt es mir wirklich so schwer, mich verständlich zu machen? - Sie haben heute morgen nur gefragt, wie man den Staatsanteil durch Kürzungen entlasten könne. Ich sage, dass dies nicht der einzige Weg ist. Mehr Erfolg verspricht die Teilhabe der Menschen an Arbeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Blüm, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen? Zwischenfragen werden grundsätzlich nicht auf die Redezeit angerechnet. - Bitte schön, Herr Dreßen. ({0})

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Blüm, das mag ja stimmen. Dann frage ich mich aber, warum Sie in Ihrer Amtszeit die Arbeitslosigkeit so hoch getrieben haben. Sie haben mit 1 Million begonnen und mit 4,8 Millionen geendet. Warum haben Sie das von Ihnen angesprochene Prinzip, das ja richtig ist, nicht selbst angewandt und die Arbeitslosigkeit drastisch gesenkt? ({0})

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, ich weiche der Frage doch nicht aus. Seien Sie nicht so aufgeregt! Auch bei uns ist die Beschäftigung gestiegen, allerdings um 2 Millionen Arbeitsplätze. In der gleichen Zeit stieg die Frauenerwerbsquote, was ich nicht kritisiere, und der Zuwanderungssaldo war wesentlich ungünstiger als heute. Wenn Sie heute sagen, demographische Effekte würden durch Frauenerwerbstätigkeit ausgeglichen, dann müssen Sie zugeben, dass dies auch zu unserer Zeit schon so war. Heute scheiden aber 200 000 Ältere mehr aus dem Arbeitsmarkt aus, als Jüngere in den Arbeitsmarkt kommen, was früher nicht der Fall war. Insoweit wird der Arbeitsmarkt heute entlastet. Meine Damen und Herren, ich sage hier doch gar nicht, die 16 Jahre unserer Regierung wären nur eine Zeit glanzvoller Erfolge gewesen. Aber immerhin haben wir in diesen 16 Jahren die deutsche Einheit bewerkstelligt. ({0}) Sie war - einschließlich Arbeitsmarkt - das größte sozialpolitische Projekt der letzten 100 Jahre. Ich wollte aber zur Rente sprechen. Es ist keine neue Erfindung, dass die Alterssicherung drei Säulen hat, nämlich die gesetzliche, die betriebliche und die private Altersvorsorge. Vielleicht beruhigt es Sie, wenn ich hinzufüge: Ich finde es gut, dass Sie 13 Milliarden DM in die Hand genommen haben, um die private Vorsorge zu unterstützen. Ich bekenne, diesen Betrag haben wir nicht in die Hand genommen. Die Art und Weise jedoch, wie Sie es gemacht haben, muss einem Sozialpolitiker den Magen umdrehen. Sie haben zwei Systeme, die jeweils unterschiedliche Stärken und Schwächen haben, so miteinander kombiniert, dass Sie die Schwächen potenziert haben. Die Stärke der gesetzlichen Rentenversicherung ist Sicherheit, die Stärke der privaten ist Rendite. Durch eine Überbürokratisierung haben Sie die Renditeaussichten der privaten Rentenversicherung gesenkt und die gesetzliche Rentenversicherung unsicherer gemacht. ({1}) Das will ich anhand einiger Punkte erklären. Sie sprechen von 4 Prozent für die private Vorsorge. Wie der Begriff „freiwillig“ schon sagt, zahlt dies gar nicht jeder. Auf die Idee eines solchen freiwilligen Beitrages - Uraufführung im Sozialstaat Deutschland - ist noch niemand gekommen. Dieser Beitrag, der nicht von jedem gezahlt wird, geht in die Nettolohnquote ein, die damit sinkt, und zwar auch für diejenigen, die diese 4 Prozent nicht zahlen können. ({2}) - Es ist eine andere Frage, ob ihn manche nicht zahlen wollen. Erstens. Trotz Ihres Zuschusses - so weit wird, Frau Lotz, die IG Metall nicht von der Wirklichkeit entfernt sein - wird es Verkäuferinnen und Arbeitnehmerinnen in Teilzeit geben, die diese 4 Prozent nicht aufbringen können. Stimmt das oder stimmt das nicht? Ja oder nein? - Es stimmt also. Aber der Rentenanspruch derjenigen Verkäuferin, die dies nicht aufbringen kann, sinkt. Das stellt die Solidarität auf den Kopf. Diejenigen, die weniger verdienen, die Schwächeren, zahlen eine Rechnung für Leistungen, die sie gar nicht erhalten. Auf diese Idee konnten offenbar nur Sozialdemokraten kommen. Das ist wirklich eine Verkehrung des Solidaritätsgedankens. ({3}) Ich habe schon im Proseminar der IG Metall gelernt: Solidarität heißt, die Stärkeren treten für die Schwächeren ein. Jetzt sinkt der Rentenanspruch der Verkäuferin, weil ihr Verkaufschef eine Privatversicherung abschließt. ({4}) Auf einen solch bornierten Gedanken kann man wirklich nicht im Zusammenhang mit dem Stichwort Solidarität kommen. ({5}) - Jetzt lege ich das im Zusammenhang dar und reiße es nicht auseinander. Zweitens. Diese 4 Prozent sind ein rein virtueller Beitrag. Es kommt gar nicht darauf an, ob er bezahlt wird oder nicht. ({6}) Er ist also frei manipulierbar. Wenn Sie morgen mit einem Satz beschließen, dass der Beitrag auf 6 Prozent steigt, kommt es nicht darauf an, ob die 6 Prozent gezahlt werden; der allgemeine Rentenanspruch sinkt. Damit haben Sie der Manipulation Tür und Tor geöffnet. ({7}) Rentensicherheit hängt nicht nur von der Höhe der Rente ab, sondern auch davon, ob es einen Mechanismus gibt, der in sich stimmig und sachlich begründet ist. Im Unterschied zu Ihrer Zahl ist die demographische Komponente nicht aus der Luft gegriffen. Sie hätten die Beitragshöhe auch bei der Süddeutschen Klassenlotterie abrufen können. Woher haben Sie eigentlich diese 4 Prozent? Sie könnten genauso gut 2 Prozent festlegen. ({8}) - Ich bin doch noch nicht fertig; langsam! ({9}) - Das kann ich begründen. Diese aus dem demographischen Wandel resultierenden Lasten werden auf die Schultern von Jung und Alt verteilt. Davon lasse ich mich nicht abbringen. Wie begründen Sie Ihre 4 Prozent? - Diese Zahl ist gegriffen; deshalb ist das Rentenversicherungssystem offen für Manipulationen. ({10}) - Frau Lotz, ich wollte gar nicht so grob werden, aber wenn Sie dauernd dazwischenrufen, muss ich Ihre Rede zum Thema Frauen um einen wesentlichen Gesichtspunkt ergänzen. ({11}) In der Privatversicherung, die Sie heute als die wesentliche Ergänzung der gesetzlichen Alterssicherung dargestellt haben, erhalten die Frauen für den gleichen Beitrag weniger Leistung oder müssen für die gleiche Leistung mehr Beitrag zahlen. Dies als einen Fortschritt zu bezeichnen, halte ich für verfehlt. Eigentlich müsste die Frauenbewegung aufstehen, sie ist aber offenbar eingeschlafen. ({12}) - Frau Lotz, das können Sie nicht aus der Welt schaffen. So ist dies bei der Privatversicherung. Entgegen anders lautenden Meldungen erkenne ich den Wert einer ergänzenden Privatversicherung, aber die Privatversicherung kann die gesetzliche Krankenversicherung nicht ersetzen. ({13}) - Müsst ihr mir dauernd widersprechen? Ihr könnt mir auch einmal zustimmen. Die gesetzliche Krankenversicherung ist deshalb nicht ersetzbar, weil die Privatversicherung beispielsweise keine Erwerbsunfähigkeitsrente und keine Witwenrente zahlt. Deshalb ist es ungerecht, wie die Rentenversicherung in den letzten Jahren behandelt wurde. Das hat sie nicht verdient. Ich fürchte - um noch einmal grober zu werden -, dass ein Teil der Diskussion, mit der versucht wurde, die Rentenversicherung madig zu machen, auf dem Vertreten von Lobbyisteninteressen beruhte. Dies war eine Kundenwerbung für die Privatversicherungen. Sie sind denen auf den Leim gegangen. Die Rentenversicherung muss auch einmal verteidigt werden. Natürlich muss sie reformiert werden, natürlich kann man sie nicht einfach so lassen. Ich verteidige aber das Prinzip der Beitragsbezogenheit. ({14}) Es ist ein elementarer Unterschied, ob die Alterssicherung eine steuerliche Grundsicherung ist oder auf Beitragsleistungen basiert. Hier sind wir bei einer grundsätzlichen Diskussion. Mein Sozialstaat, den ich verteidige, konzentriert sich nicht nur auf die Armen und Schwachen, sondern auch auf Leistungsgerechtigkeit. Wer ein Leben lang gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, bekommt eine höhere Rente als derjenige, der dies nicht getan hat. ({15}) Es geht im Sozialstaat auch um die Fleißigen. ({16}) Im Rahmen des Leistungsprinzips kann man entweder bei Verweigerung bestrafen oder sonst belohnen. Ich bin aufgrund frühkindlicher Erfahrungen für Belohnung und gegen Bestrafung. ({17}) Der nächste Punkt betrifft die Kostenentlastung. Dies ist eine ganz einfache Rechnung: Bei unserer Reform war für das Jahr 2030 ein Beitragssatz in Höhe von 24 Prozent errechnet worden, also für Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils 12 Prozent. Die rot-grüne Reform führt nach den Berechnungen zu einem Beitragssatz von 22 Prozent - Hurra! -: Arbeitnehmer 11 Prozent, Arbeitgeber 11 Prozent - plus 4 Prozent bei den Arbeitnehmern. Kollege Brandner, was ist 11 plus 4? 15! Welches ist eine höhere Belastung, ein Beitragssatz von 12 Prozent oder von 15 Prozent? Die höhere Belastung für die Arbeitnehmer verdanken wir Ihrer Reform. ({18}) - Bisher war ich nur sachlich. Eines kann ich mir aber nicht verkneifen: Dreimal hat der Kollege Brandner heute im Zusammenhang mit der Rente von Ehrlichkeit gesprochen und von uns Ehrlichkeit eingefordert. Kollege Brandner, wenn ich das Wort Ehrlichkeit im Zusammenhang mit der Rente höre, was, denken Sie, fällt mir dazu ein? Dazu fällt mir der Wahlkampf 1998 ein. ({19}) Dazu fällt mir ein, dass Sie die Rückkehr zur Nettolohnrente versprochen haben. Stimmt das oder stimmt das nicht? Das ist die absolute Wahrheit. Was aber haben Sie nach der Wahl gemacht? ({20}) - Nicht einmal das. Sie sind nicht zur Nettolohnrente zurückgekehrt. ({21}) - Löcher? Sie bringen mich von einem Punkt zum anderen. Ich habe gehört, dass bei der Schwankungsreserve 9 Milliarden Euro fehlen. Bei Schwankungsreserven - das sagt schon das Wort - ist es normal, dass dieser Betrag einmal etwas höher und einmal etwas niedriger ist. Dies ist lediglich ein Alarmauslöser. Dieses Problem haben Sie jetzt einfach dadurch gelöst, dass Sie die Schwankungsreserve senken. Mit anderen Worten: Sie manipulieren das Thermometer und sagen, das Fieber sei weg. Das sind die Sozialdemokraten. Das ist die einfache Tour. ({22}) Das haben wir nicht gemacht. Meine Damen und Herren, liebe Freunde, ich bleibe dabei: Der Sozialstaat muss verteidigt werden. Er ist ein kultureller und wirtschaftlicher Stabilisator. Unser Sozialstaat basiert im Übrigen nicht nur auf materiellen Leistungen. Es geht nicht nur um Geld. Es geht auch um die wechselseitige Rücksichtnahme und das Einstehen füreinander. Ich halte ihn für eine der größten Errungenschaften. Ich behaupte: Marktwirtschaft ist ohne Sozialstaat überhaupt nicht möglich. ({23}) Erst nachdem die Absicherung der großen sozialen Risiken wie Unfall, Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit aus den Betrieben herausgenommen, also externalisiert wurde, war eine am Markt orientierte unternehmerische Ratio möglich. Solange der Betrieb alles war, war das nicht möglich. Ich glaube, ein Teil des Dilemmas der DDR-Wirtschaft - ich meine das gar nicht bösartig - war, dass der Betrieb mehr war, zum Teil auch Arbeitslosenversicherung war. Die Arbeitslosen haben halt in den Betrieben herumgestanden. Das ist zwar nicht meine, aber auch das ist eine Form der Arbeitslosenversicherung. Diese wirtschaftliche Ratio, der wir viel verdanken, ist ohne den Sozialstaat nicht möglich. Bei allem Streit sollten wir in diesem Grundsatz übereinstimmen und den Sozialstaat nicht nur als Last betrachten, sondern auch als eine große Möglichkeit dafür, eine eigenständige und mitverantwortliche Lebensführung zu gestalten. ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 14/8268, 14/8700 und 14/9245 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 p und 30 sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf: 31. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Beratung des Antrags der Bundesregierung Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan auf der Grundlage der Resolutionen 1386 ({0}), 1383 ({1}) und 1378 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksache 14/9246 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium zum Schutz von Beobachtern internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren Implementierung des politischen Rahmenabkommens vom 13. August 2001 auf der Grundlage des Ersuchens der mazedonischen Regierung vom 28. April 2002 und der Resolution 1371 ({4}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 26. September 2001 - Drucksache 14/9179 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({5}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes - Drucksache 14/9220 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({6}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Innenausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen zum Übereinkommen vom 7. November 1991 zum Schutz der Alpen ({7}) - Drucksache 14/8980 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8}) Sportausschuss Ausschuss für Tourismus e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 20. Dezember 2001 zwi- schen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französi- schen Republik zum Abkommen vom 21. Juli 1959 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Französischen Republik zur Ver- meidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Ge- biete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern - Drucksache 14/8982 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes - Drucksache 14/8997 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter - Drucksache 14/9006 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 15. Juni 1999 des Übereinkommens zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten und zu dem Zusatzprotokoll vom 8. November 2001 zu diesem Übereinkommen - Drucksache 14/9193 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes - Drucksachen 14/9194, 14/9237 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({11}) Ausschuss für Kultur und Medien j) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes - Drucksachen 14/9195, 14/9236 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Preisbindung bei Verlagserzeugnissen - Drucksachen 14/9196, 14/9239 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({13}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes - Drucksachen 14/9197, 14/9235 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen vom 15. Dezember 1997 zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge - Drucksache 14/9198 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({14}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Tourismus n) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem EuropaMittelmeer-Abkommen vom 25. Juni 2001 zur Gründung einerAssoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Arabischen Republik Ägypten andererseits - Drucksache 14/9199 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({15}) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union o) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Revisionsprotokoll vom 12. März 2002 zu dem Abkommen vom 11. August 1971 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 14/9201 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({16}) Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO p) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Kaffee-Übereinkommen von 2001 - Drucksache 14/9202 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({17}) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 30. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes - Drucksache 14/9219 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({18}) Rechtsausschuss Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({19}) a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({20}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({21}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Magnus-Hirschfeld-Stiftung - Drucksache 14/9218 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({22}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäߧ 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Bärbel Grygier, Uwe Hiksch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Konzept zur Entsorgung radioaktiver Abfälle - Drucksache 14/9149 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({23}) Ausschuss für Gesundheit c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in Deutschland stärken - Drucksache 14/9226 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({24}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Max Stadler, Dr. Edzard SchmidtJortzig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in Deutschland stärken - Drucksache 14/ 9261Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({25}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/9201 - Tagesordnungspunkt 31 o - soll abweichend von der Tagesordnung an den Haushaltsausschuss ausschließlich gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Zu den Tagesordnungspunkten 31 i bis 31 l liegen inzwischen auf den Drucksachen 14/9237, 14/9236, 14/9239 und 14/9235 die Gegenäußerungen der Bundesregierung zu den Stellungnahmen des Bundesrates vor, die wie die Gesetzentwürfe überwiesen werden sollen. Die Vorlage auf Drucksache 14/9218 - Zusatzpunkt 4 a - soll zusätzlich zur Mitberatung an den Innenausschuss überwiesen werden. Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/9270 mit dem Titel „Option für eine Fernbahnanbindung des Bahnhofs Berlin-Lichtenberg offen halten“ zu ergänzen - Zusatzpunkt 18. Die Vorlage soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 c sowie den Zusatzpunkt 5 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich komme zu Tagesordnungspunkt 32 a: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung humanitärer Auslandseinsätze ({26}) - Drucksache 14/628 ({27}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({28}) - Drucksache 14/9015 Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Dzewas Thomas Dörflinger Christian Simmert Ina Lenke Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt auf Drucksache 14/9015, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDPgegen die Stimmen der Fraktion der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich komme zu Tagesordnungspunkt 32 b: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der FDP und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - Drucksache 14/9032 ({29}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({30}) - Drucksache 14/9262 Berichterstattung: Abgeordnete Bernd Reuter Martin Hohmann Volker Beck ({31}) Dr. Max Stadler Ulla Jelpke Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/9262, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 32 c: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung futtermittelrechtlicher Vorschriften sowie zur Änderung sonstiger Gesetze - Drucksache 14/9034 ({32}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({33}) - Drucksache 14/9249 Berichterstattung: Abgeordnete Marita Sehn Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 14/9249, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Lesung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 5: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 391 zu Petitionen - Drucksache 14/9074 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 391 ist einstimmig angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Haltung der Bundesregierung zu drastischen Einnahmeverlusten der Länder aufgrund der Steuerreform Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Hessische Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten Jochen Riebel das Wort. Bitte schön, Herr Riebel. Jochen Riebel, Staatsminister ({35}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist allgemein bekannt, dass die Steuereinnahmen beim Bund und bei den Ländern in erheblichem Umfang wegbrechen. Dieses Wegbrechen resultiert primär aus dem außergewöhnlich dramatischen Einbruch der Körperschaftsteuereinnahmen. Lassen Sie mich hierzu im Folgenden einige wenige Zahlen, bezogen auf und ausgewählt für das Land Hessen, anführen. ({36}) Der Saldo des Aufkommens aus der Körperschaftsteuer für das Land Hessen betrug im Jahr 2001 797,6 Millionen Euro. Im Jahr 2002 besteht ein Negativsaldo von - Sie hören richtig - minus 1,322 Milliarden Euro. Diese Differenz bedeutet für Hessen einen Rückgang des Aufkommens in Höhe von rund 2,2 Milliarden Euro. Es ist sicherlich keine überzogene Dramatisierung, schon an dieser Stelle von einer dramatischen Entwicklung zu sprechen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Dazu gehört zunächst einmal die zweifelsfrei rückläufige Konjunktur in Deutschland. Von den durch die Bundesregierung geschätzten 2,75 Prozent Wachstum sind real 0,6 Prozent geblieben. Damit bilden wir das Schlusslicht in ganz Europa. ({37}) Hierbei handelt es sich um eine falsche Einschätzung durch die Bundesregierung, die damit auch die Verantwortung trägt. Als weitere Punkte sind die Folgen der im Jahr 2001 in Kraft getretenen Steuerreform anzuführen, durch die insbesondere die Großunternehmen bei der Körperschaftsteuer in einem bisher nie da gewesenen und auch von mir nicht für möglich gehaltenen Umfang entlastet worden sind. Man könnte auch sagen, die Steuerreform, die Bundesfinanzminister Eichel angegangen ist, stellt eine Steuerentlastungsreform für Großunternehmen dar. ({38}) Dem ist hinzuzufügen, dass in Zukunft die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes von 40 Prozent auf 25 Prozent erfolgen soll. Die Steuerfreiheit für Beteiligungsverkäufe ab 2002 hat im Übrigen zur Folge, dass steuerverkürzende, wertgeminderte Beteiligungen noch im vergangenen Jahr veräußert worden sind, wohingegen die Veräußerungen von wertgesteigerten Beteiligungen selbstverständlich erst in diesem Jahr realisiert werden. ({39}) An dieser Stelle muss ausdrücklich hinzugefügt werden, Frau Kollegin, dass das kein Vorwurf meinerseits gegenüber den Unternehmen ist. Davon, dass sich die Unternehmen nach Recht und Gesetz verhalten, können wir ausgehen. Dieses Recht und Gesetz haben Sie geschaffen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Sie tragen damit die Verantwortung dafür, dass es erhebliche Einbrüche in den Kassen des Bundes und der Länder gibt. ({40}) Ich darf hinzufügen, dass Sie die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer des Bundes und der Länder ruinieren. ({41}) Bundesfinanzminister Eichel hat bei der Steuerreform ein Desaster angerichtet, das bei den Ländern zu erheblichen Einnahmeausfällen führt. Es führt darüber hinaus zu einer sehr merkwürdigen Situation: Die Länder haben die Ausgaben zu verantworten, während der Bund die Einnahmen bestimmt. Er ist für ganz erhebliche Einnahmeausfälle verantwortlich. Das ist deswegen so, weil Sie die Lage falsch eingeschätzt haben, weil Sie eine Fehlentscheidung getroffen haben. Deswegen sind die Finanzen der Länder heute in einem ruinösen Zustand. Eines möchte ich noch sagen: Vorgestern hatte ich das Vergnügen - Sie können auch sagen: das Glück -, die Sendung „Boulevard Bio“ mit Bundeskanzler Schröder und Günter Grass zu sehen, die nichts anderes als eine Wahlkampfveranstaltung war. ({42}) Günter Grass hat Bundesfinanzminister Eichel ausdrücklich gelobt, aber nicht wegen seiner besonderen literarischen Fähigkeiten, wie man denken könnte. Er hat ihn vielmehr als besonderen Experten für finanzpolitische Entscheidungen gelobt - damit hat sich Grass auch als Experte für Finanzen geoutet - und hat eine spezielle Fähigkeit des Herrn Bundesministers herausgehoben, nämlich die Fähigkeit, hochkomplizierte und hochkomplexe Sachverhalte ganz einfach darzustellen. Ich füge hinzu: Er hätte fortfahren müssen. Er hat nämlich Recht, wenn er dies behauptet. Aber Bundesminister Eichel hat die Sachverhalte in seinem eigenen Kopf so sehr vereinfacht, dass die Steuerreform in das Gegenteil von dem verkehrt worden ist, was er selber angekündigt hat und was die Bundesregierung eigentlich wollte. ({43}) Hinzu kommt, dass es vor wenigen Wochen ein nicht unschönes Feature von Bundesminister Eichel gegeben hat, in dem dargestellt wurde, wo er was einkauft. Ich kaufe in demselben Laden wie er ein. ({44}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms - Richtig, in Hessen. - Dort muss ich fast wöchentlich die Frage der Frau an der Kasse beantworten, warum sie bis zum Mai dieses Jahres bereits mehr Lohnsteuer gezahlt hat als beispielsweise eine große Aktiengesellschaft in Düsseldorf oder in Köln an Körperschaftsteuer. Meine Antwort ist wirklich einfach - ich gebe sie hier nicht vereinfacht wieder -: Ich weiß es auch nicht. Aber fragen Sie Bundesminister Eichel. Er hat es so gewollt oder er hat es aus Gründen der Vereinfachung aus Versehen so gemacht oder - das wäre noch schlimmer - er hat nicht gewusst, was er macht. ({45}) Letzteres wäre durchaus im Einklang mit der Grundlinie der Regierung Schröder. Es wäre nur ein weiteres Beispiel dafür. Es ließen sich noch viele andere nennen. Ich möchte nur noch ein Beispiel aus einem anderen Politikfeld anführen. Bundeskanzler Schröder hat öffentlich sehr überzeugend erklärt: Wegschließen, und zwar für immer! Aber dann hat die Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen wie selbstverständlich dem Gesetz über die Anschlusssicherungsverwahrung nicht zugestimmt. Herr Präsident, meine Damen und Herren, das ist eine Politik, wie wir sie ausdrücklich nicht wollen und - das füge ich hinzu - wie wir sie aus Verantwortung für diesen Staat auch nicht wollen können. Herzlichen Dank. ({46})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, eine kleine Korrektur: Hinter Ihnen saß kein Präsident, sondern eine Präsidentin. Jochen Riebel, Staatsminister ({0}): Oh, ich bitte um Entschuldigung, Frau Präsidentin! ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Lydia Westrich für die SPD-Fraktion.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatsminister Riebel, Sie haben die Debatten in diesem Haus eben nicht mitgemacht. ({0}) - Er war scheinbar auch nicht bei den Debatten im Bundesrat dabei. - Sonst hätten Sie die Vorwürfe, die Sie erhoben haben, auch an die Adresse Ihrer Kollegen in der Opposition richten müssen. ({1}) Wir alle wissen, dass das Ergebnis der neuen Steuerschätzung für die Finanzminister der Länder kaum überraschend kam, auch nicht für Sie, meine Damen und Herren von der Opposition. Wenn Sie - Sie haben schließlich diese Aktuelle Stunde beantragt - doch überrascht waren, dann zeigt das nur, dass Ihr bisschen wirtschaftspolitischer Sachverstand nun vollends versickert ist. ({2}) Ich schätze Sie zwar sehr, aber irgendwo muss man Grenzen ziehen. Dass die Länderfinanzminister den jetzigen Zeitpunkt für ihre diversen Haushaltssperren genutzt haben, spricht für ihr psychologisches Feingefühl. Die nackten Zahlen ersparen ihnen eine Menge politischen Streit in den Landtagen. Daher ist die Haltung der Länderfinanzminister durchaus verständlich. Herr Rauen, Sie von der Opposition tun so, als wenn das das erste Mal wäre. (Dietrich Austermann (CDU/CSU: Nein, das geht schon dreieinhalb Jahre lang so! Ich erinnere mich noch gut, Herr Austermann, an die verschiedensten Debatten im Finanzausschuss und im Plenum, die nach korrigierten Steuerschätzungen unter Waigel geführt wurden, und daran, wie viele Haushaltssperren es während Ihrer Regierungszeit gegeben hat. ({3}) - Richtig. Trotzdem ist es heute anders. Die rot-grüne Bundesregierung hat von solider Finanzpolitik einfach mehr Ahnung. ({4}) Die rot-grüne Bundesregierung und die sie tragende Koalition haben Steuergesetze gemacht, die mittelständische Unternehmen, Familien mit Kindern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von 1998 bis zum Jahr 2005 um insgesamt 56,8 Milliarden Euro entlasten. Selbst mein CDU-Verbandsbürgermeister hat in seiner kommunalen Haushaltsrede zum geschrumpften Haushalt 2002 öffentlich betont, dass jede staatliche Ebene die gewollten Entlastungen für die Steuerbürger und die Familien mitfinanzieren muss. Der hat es wirklich verstanden. Diese Steuerentlastungen haben wir eingebettet in eine erfolgreiche und nachhaltige Konsolidierung der öffentlichen Finanzen. Die Koalitionsmehrheit hat bei ihrer Steuerpolitik nicht nur Rücksicht auf die Finanzen des Bundes genommen, sondern auch die Haushaltssituation aller Gebietskörperschaften im Blick gehabt. ({5}) Verantwortungsvolle Politik verlangt nämlich steuerliche Entlastungen nur auf Basis zurückgewonnener Handlungsspielräume, die Sie zugegebenermaßen nicht mehr hatten. ({6}) Staatsminister Jochen Riebel ({7}) Haushaltskonsolidierung und Senkung von Steuern und Abgaben sind und bleiben die beiden Leitplanken einer zukunftsweisenden Strategie für nachhaltiges Wachstum und Arbeitsplätze. ({8}) Eine solche verantwortungsvolle Politik haben Sie als Opposition nicht betrieben. ({9}) Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, wären weder die Finanzierungselemente des Steuerentlastungsgesetzes noch die des Steuersenkungsgesetzes beschlossen worden. ({10}) Dann wären darüber hinaus noch viele andere teure Forderungen Gesetz geworden, die die Haushalte der Länder und der Kommunen in weit größerem Maße belastet hätten, als das heute der Fall ist. ({11}) Sie wissen selbst, obwohl Sie, jetzt der Herr Riebel wieder, nicht müde werden zu behaupten, die Koalition bevorteile mit ihrer Steuerpolitik Kapitalgesellschaften zulasten von Personengesellschaften, ({12}) dass die großen Konzerne - und das haben Sie immer kritisiert - ihre Steuerentlastungen durch das zu Beginn der Legislaturperiode verabschiedete Steuerentlastungsgesetz selbst finanziert haben. Von Ihnen wird immer wieder anklagend hervorgehoben, wie die armen Konzerne doch belastet worden sind. ({13}) Die Union, Sie, Herr Rauen, aber auch Herr Michelbach und andere, hat damals diese Gegenfinanzierungsmaßnahmen nicht nur abgelehnt, sie hat sie lautstark als Angriff auf den Standort Deutschland kritisiert. ({14}) Und jetzt kritisieren Sie wieder umgekehrt, genau wie es Ihnen passt. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, wenn wir damals auf Sie gehört hätten, hätte es die Mehrbelastung der Großunternehmen in Höhe von rund 10 Milliarden DM nicht gegeben mit der Folge, dass die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden weit höher belastet gewesen wären, und Herr Riebel hätte heute mit ganz anderen Zahlen kommen müssen. Auch die Finanzierungsmaßnahmen des Steuersenkungsgesetzes wollten Sie nicht mittragen. Hier zeigt sich deutlich, dass Ihnen die Länderinteressen vollkommen egal sind und die heutige Aktuelle Stunde nur der Effekthascherei dient. Dass dies so ist, wird noch deutlicher, wenn man sich die Forderungen, die die Union, aber auch die FDP mit dem Hundertmarkscheck im Laufe der Legislaturperiode eingebracht haben, noch einmal vor Augen führt. Ihr Konzept mit dem Titel „Die bessere Alternative“ hätte nach angestellten Berechnungen Steuerausfälle von fast 40 Milliarden Euro verursacht, Steuerausfälle, die in erster Linie zugunsten von Spitzenverdienern, da Sie zuvörderst den Spitzensteuersatz weiter absenken wollten, ausgegangen wären, Steuerausfälle, die die Haushalte von Ländern und Kommunen überhaupt nicht verkraftet hätten. Das wäre Ausplünderung der öffentlichen Haushalte durch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, zugunsten einiger weniger Bürger gewesen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit. Dies ist eine Aktuelle Stunde.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Damals hieß es bei der Union, Deutschland brauche eine mutige Steuerreform, und das, was Eichel und die Koalitionsfraktionen gemacht hätten, sei bei weitem noch nicht genug. Das ist verantwortungslose Politik. Die deutschen Bundesländer - Herr Riebel, das können Sie mit nach Hause nehmen - können froh sein, dass diese „bessere Alternative“ der Union nicht Realität geworden ist und die Verantwortung für die Steuerpolitik bei der heutigen Bundesregierung, bei Hans Eichel und der rot-grünen Koalition liegt. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin Bläss! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Westrich, Ihre Aussage, Rot-Grün habe mehr Ahnung von der Finanzpolitik, ist durch die gesellschaftliche Wirklichkeit in diesem Land längst widerlegt. Das glaubt außer Ihnen niemand mehr. ({0}) Wer allein den Etat 1999 gegenüber dem Vorjahr um fast 7 Prozent aufgebläht hat - das ganze Geld musste aufgebracht werden -, der hat die Grundlagen einer vernünftigen und seriösen Finanzpolitik überhaupt nicht verstanden. ({1}) - Wer baut die Verschuldung ab, Frau Scheel? Etwas mehr Redlichkeit in der Debatte! Unter Rot-Grün, unter Ihnen als der Vorsitzenden des Finanzausschusses, unter Finanzminister Eichel ist ohne Berücksichtigung der UMTS-Erlöse die Verschuldung in dieser Legislaturperiode, also in vier Jahren Rot-Grün, um 190 Milliarden DM gestiegen. ({2}) Das ist die Wahrheit. ({3}) Der zentrale Fehler der rot-grünen Steuerreform bestand in der ideologischen Herangehensweise an diese Steuerreform. ({4}) Noch bei der Verabschiedung des Bundesbankpräsidenten Professor Dr. Tietmeyer im Palmengarten in Frankfurt hat Finanzminister Eichel sinngemäß erklärt: Unternehmen sind gut, Unternehmer sind schlecht. Unternehmen müssen entlastet werden, Unternehmer nicht. ({5}) Diese Politik hat dazu geführt, dass die Körperschaftsteuersätze zum 1. Januar 2001 auf 25 Prozent gesenkt wurden. Hierdurch wurden insbesondere die Aktiengesellschaften, die großen Kapitalgesellschaften, aber auch die GmbHs in unserem Land erheblich entlastet. Der Mittelstand, die Handwerker, die Selbstständigen und auch die weiteren Millionen Lohn- und Einkommensteuer zahlenden Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, also auch die Arbeitnehmer, werden erst ab dem Jahr 2005 spürbar entlastet. Vorher wurden sie durch Rot-Grün aber nochmals finanziell schlechter gestellt, indem zum Beispiel die Abschreibungsbedingungen für alle, auch für die kleinen Unternehmen, verschlechtert wurden - eine Sondersteuer für Investitionen, die ich hier schon mehrfach gebrandmarkt habe. Wer meint, dass Arbeitsplätze und vor allem neue Arbeitsplätze in unserem Land ausschließlich von der Großindustrie geschaffen werden, der verkennt die Wirklichkeit in diesem Land und der verdient es auch, am 22. September abgewählt zu werden. ({6}) Wir brauchen mehr Selbstständige, wir brauchen mehr Handwerker, wir brauchen mehr Mittelständler, die bereit sind, ihr Schicksal, ihre Existenz in die eigene Hand zu nehmen. ({7}) Jeder dieser Existenzgründer schafft im Schnitt fünf bis zehn Arbeitsplätze. Auf diesem Weg können Hunderttausende von Arbeitsplätzen entstehen, insbesondere dann, wenn diese Personen wieder an die Zukunft glauben und eine Perspektive für sich und für unser Land erkennen. Das brauchen wir! Die aktuelle Steuerschätzung zeigt, dass insbesondere die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer total eingebrochen sind. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Aufkommen der Körperschaftsteuer zu 50 Prozent den Ländern zusteht. Insofern sind die Länder von dem Einbruch bei der Körperschaftsteuer besonders betroffen. Allein das Land Nordrhein-Westfalen hat im letzten Jahr nicht nur keine Körperschaftsteuer eingenommen, sondern hatte sogar eine Steuergutschrift zu zahlen, das heißt, aus dem Steueraufkommen musste Geld genommen werden, um die nach dem neuen Steuerrecht berechtigten Ansprüche von Kapitalgesellschaften befriedigen zu können. Die Steuerpolitik von Rot-Grün und von Finanzminister Eichel führte dazu, dass das Körperschaftsteueraufkommen von fast 24 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf eine halbe Milliarde Euro Minus im Jahr 2001 eingebrochen ist. Hierbei handelt es sich nicht nur um einen kompletten Steuerausfall. Die Steuereinnahmen aus der Körperschaftsteuer sind um mehr als 100 Prozent gesunken. Wie konnte dann Finanzminister Eichel Ende letzten Jahres den Ländern vorwerfen, dass sie sich höher neu verschulden, weil sie - angeblich - mehr ausgegeben haben? War es nicht vielmehr so, dass die rot-grüne Koalition ein Steuerrecht verabschiedet hat und eine Steuerrechtsänderung bewirkt hat, zu denen schon die Sachverständigen in der Anhörung erklärt haben, welche Steuerausfälle das zur Folge haben würde? Insofern war das keine Unkenntnis; es war Vorsatz. Es war bekannt, dass diese Folgen eintreten würden. Trotzdem wurde das Steuerrecht genau so beschlossen, um eben Unternehmen und nicht die Unternehmer und nicht die Arbeitnehmer zu entlasten. ({8}) Wer ein solches Steuerrecht beschließt und außerdem Strukturen zementiert, Selbstständigkeit über das Gesetz zur Beschränkung der angeblichen Scheinselbstständigkeit verunglimpft, also Überregulierung betreibt, der darf sich nicht wundern, wenn sämtliche Dynamik aus unserer Volkswirtschaft heraus ist und wir beim Wachstum das Schlusslicht in Europa sind. Das ist die Diskussion. Wir müssen hier mehr Wachstum haben. Wir brauchen ein einfacheres und gerechteres Steuerrecht. Deshalb fordern wir es auch als FDP: niedrig, einfach und gerecht. ({9}) Wir fordern, dass auch das Steuerrecht wieder zu einem Recht gestaltet wird und die Verwüstung des Steuerrechts durch Rot-Grün ein Ende hat. ({10}) Wir fordern die Freistellung des Existenzminimums für jeden von 7 500 Euro und einen Stufentarif, wie ihn jedes andere europäische Land hat, von 15 Prozent, 25 Prozent, 35 Prozent. ({11}) Wir brauchen eine spürbare Entlastung der Steuerbürger in unserem Land.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Thiele, auch Sie muss ich an die Einhaltung der Redezeit erinnern.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin sofort fertig. Hierfür kämpfen wir als FDP. Hierfür setzen wir uns ein. Ich hoffe, auch diese Debatte wird mit dazu beitragen, dass die Tage von Rot-Grün in Verantwortung in diesem Hause gezählt sind. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte oder auch nicht verehrte Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Herr Thiele, es ist wirklich hart an der Grenze. Ich habe irgendwie den Eindruck, wir müssen einmal einen Lehrgang machen. ({1}) Das geht jetzt leider nicht in fünf Minuten, aber anscheinend haben Sie immer noch nicht verstanden, obwohl wir gestern in der Finanzausschusssitzung sehr intensiv darüber diskutiert haben, warum die Körperschaftsteuereinbrüche im Jahre 2001 so waren, wie sie ausgefallen sind und wie sich das auch im Zusammenhang mit der Steuerschätzung manifestiert hat. ({2}) Aber anscheinend ging diese Information an Ihnen vorbei; Sie hatten sich ja die ganze Zeit auch anderweitig beschäftigt. ({3}) Aber gut, das ist jetzt nicht mein Problem. Das ist eher Ihr Problem. Fest steht - ich sage das auch einmal, weil hier immer so eigenartige Dinge behauptet werden -, dass sowohl der Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als beispielsweise auch das Unternehmensberatungsbüro Ernst & Young, die weltweit aktiv sind, übereinstimmend bestätigt haben, dass in der Bundesrepublik Deutschland Personenunternehmen geringer besteuert sind als Kapitalgesellschaften. Das ist ein Faktum. Ich bitte Sie einfach, die Realität endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen und den Leuten nicht permanent zu suggerieren, als wäre es hier durch politische Entscheidungen in der Steuerpolitik zu irgendeiner Schieflage zulasten der kleinen und mittleren Unternehmen gekommen. Das ist schlicht und ergreifend eine Lüge; das ist eine Lüge, die auch über alle Fakten und alle Daten, die zur Verfügung stehen, belegbar ist. ({4}) Punkt zwei: Herr Minister Riebel, Sie haben die Gründe dafür angesprochen, dass wir eine konjunkturelle Entwicklung hatten, die im Jahr 2001 problematisch war. Völlig d’accord! Darin sind wir uns einig. Sie haben auch gesagt, dass es bestimmte Effekte gegeben hat; diese Effekte hingen unter anderem damit zusammen, dass bereits versteuertes Körperschaftsguthaben gehoben wurde. Das heißt, das alte System der Union hat auf das Verhalten der Unternehmen durchgeschlagen, sodass die Unternehmen aufgrund Ihres alten Steuersystems mit dem Schütt-aus-hol-zurück-Verfahren und aufgrund der Veränderungen in der Struktur jetzt natürlich auch überplanmäßig ausgeschüttet haben. Wir sehen das an der Kapitalertragsteuer, die drastisch angestiegen ist, während die Körperschaftsteuer gesunken ist. Man muss das immer in dieser Relation sehen. Wenn Sie dazu schon etwas sagen, dann bitte ich Sie, nicht nur die eine Hälfte der Wahrheit zu sagen, sondern auch die andere Hälfte dazuzunehmen. ({5}) Punkt drei: Sagen Sie einmal, wo sind wir hier überhaupt? ({6}) Ich frage mich immer wieder, wie das funktionieren soll, wenn sich die Union und die FDP - die FDP ja noch viel mehr - im Prinzip bei jeder Debatte, in der es um Wirtschaftspolitik, um Steuer- und Finanzpolitik geht, hinstellen und fordern, die Steuersätze müssen massiv gesenkt werden, die Staatsquote muss unter 40 Prozent, die Sozialversicherungsquote muss unter 40 Prozent. Dann haben Sie auch noch solche Programme zur Bundestagswahl geschrieben, die zum Beispiel beim Programm der Union aufgrund Ihrer steuerpolitischen und familienpolitischen Forderungen sowie aufgrund Ihrer Forderungen, die Sie beispielsweise im verteidigungspolitischen Sektor haben, in der Konsequenz eine Mehrbelastung - das muss man den Leuten auch einmal sagen - von 245 Milliarden Euro bedeuten. 245 Milliarden Euro Mehrbelastungen für unsere Haushalte! Bei der FDP ist es noch heftiger. Das überrascht ja nicht. ({7}) Man kommt auf 550 Milliarden Euro, wenn man sich ihr Programm vorknöpft. ({8}) Wenn die Politik, die Sie, wie Sie den Leuten versprechen, machen wollen, in den nächsten vier Jahren umgesetzt würde, wären, Herr Niebel, der Bund und die Länder völCarl-Ludwig Thiele lig bankrott. Der Bundes- und alle Länderhaushalte wären verfassungswidrig. Die Neuverschuldung würde hochgeschraubt. Die Politik von Union und FDP bedeutete - das sage ich auch an das Publikum auf den Tribünen gewandt - ganz klar eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um mindestens 5 Prozent. Das ist die Wahrheit, die verschwiegen wird. ({9}) Vielmehr wird den Leuten auf der Verpackung außen suggeriert, dass die Steuersätze gesenkt würden, in der Verpackung ist aber eine Mehrbelastung gerade für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, auch für Familien mit Kindern enthalten, was zu einem vollkommenen Auseinanderdriften des sozialen Netzes führen würde. ({10}) Sie zerstören damit unsere soziale ökologische Marktwirtschaft. ({11}) Das ist Fakt, wenn man sich die in Ihren Programmen enthaltenen Aussagen anschaut. Ihre Vorstellungen sind völlig diffus. ({12}) Herr Späth sagt, rot-grüne Steuerpolitik sei in Ordnung und der richtige Weg. ({13}) Die Union sagt, die Steuersätze müssten massiv reduziert werden. Die FDP will das noch drastischer durchführen; das hat sie ja hier gerade wieder bewiesen, ohne dass dabei ein Wort zur Finanzierung gesagt worden wäre. ({14}) - Sie sagen nie etwas dazu. Selbst wenn Sie fünf Stunden Redezeit hätten, sagten Sie kein Wort zur Finanzierung.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Scheel, Sie haben das Stichwort Redezeit gegeben.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. - Abschließend sage ich, dass Sie drastische Wählertäuschung betreiben. Das ist eindeutig festzustellen. Ich hoffe, dass Sie am 22. September die Quittung dafür bekommen. Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion der PDS.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wiederhole das Thema der Aktuellen Stunde. Es heißt: „Haltung der Bundesregierung zu drastischen Einnahmeverlusten der Länder aufgrund der Steuerreform“. Dazu haben wir bisher noch nichts gehört. ({0}) Es ist schon interessant, welche grotesken Blüten der Wahlkampf treibt. Gerade die CDU/CSU beantragt eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema! Ich frage mich wirklich, worin sich eigentlich die schwarz-gelbe Steuerpolitik von der rot-grünen unterscheidet. ({1}) Bezüglich der finanziellen Situation der Städte, Gemeinden und Länder muss man sagen: im Prinzip überhaupt nicht. ({2}) Sie haben während Ihrer Regierungszeit ohne jegliche Not freiwillig auf die Vermögensteuer verzichtet, Sie haben die Erbschaftsteuer ausgehöhlt und die Gewerbesteuerumlage ständig erhöht. Von all diesen Dingen waren die Länder betroffen. Als Sie dann in die Opposition kamen, hat sich Ihre Haltung auch nicht geändert. Parallel zum Steuerreformgesetz der rot-grünen Koalition haben ja auch Sie einen „Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung einer Steuerreform für Wachstum und Beschäftigung“ unter der Drucksachennummer 14/2903 vorgelegt. Eine Umsetzung dieses Gesetzes hätte im Jahre 2001 Steuerausfälle in Höhe von 26 Milliarden Euro und im Jahre 2003 noch einmal in der gleichen Höhe bedeutet. Wenn man diese Zahlen durch zwei teilt, stellt man fest, dass auch Kommunen und Länder riesige Steuerausfälle gehabt hätten. Von Ihrer Seite sollte man wirklich nicht mit Steinen schmeißen, da man ja selber im Glashaus sitzt. Das muss ich hier mal so sagen. ({3}) Im Regierungsprogramm sieht das ähnlich aus. Herr Stoiber hat ja erst vor zwei Tagen wieder versprochen, dass der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer auf unter 40 Prozent sinken soll. Auch das würde wieder zu Einnahmeverlusten bei den Ländern und den Kommunen führen. ({4}) Die CDU/CSU ist hier janusköpfig. Ich glaube, das Urteil werden die Wählerinnen und Wähler fällen. Die Wählerinnen und Wähler, die Bürgerinnen und Bürger unseres Staates haben aber auch erlebt, dass sich unter Rot-Grün an dieser Situation nichts geändert hat, sondern die soziale Schere im Gegenteil weiter auseinander gegangen ist. ({5}) Das ist ein katastrophaler Zustand, den viele gerade von Rot-Grün nicht erwartet hätten. ({6}) Wir erleben soeben einen historischen Steuerverfall: Im Jahre 2001, im vergangenen Jahr, sank die Körperschaftsteuer von plus 23 Milliarden Euro noch im Jahre 2000 auf minus eine halbe Milliarde Euro. Es ist doch, Frau Scheel, schon schlicht unverschämt, wenn Sie hier sagen, die Ursache dafür liege nur beim alten Steuerrecht. ({7}) Sie haben die Systemumstellung und die Fristsetzung vorgenommen. Es ist völlig klar, dass die Unternehmen ihre stillen Reserven heben und den größten Effekt mitnehmen, den sie haben können. ({8}) Zu sagen, das sei nur die Schuld der alten Regierung, ist wirklich billig. Sie sind daran schuld, dass wir hier Ausfälle von 102 Prozent haben. Nur ein Beispiel: Die Deutsche Bank hatte im Jahre 2000 einen Gewinn von 6,8 Milliarden Euro. Sie hat eine Steuerrückerstattung von 9,2 Milliarden Euro erhalten. Per saldo hat sie also vom Staat noch Geld herausbekommen. Ich glaube, das wünschen sich alle. Dass jeder Arbeitnehmer und jede Arbeitnehmerin monatlich treu und brav Steuern zahlt und dann bei der Jahressteuerrückerstattung ein Vielfaches herausbekommt, das wäre das Paradies. Aber das ist in Deutschland nur ein Paradies für die Großkonzerne. Für die Bürgerinnen und Bürger bleibt Deutschland bezüglich ihrer Steuerbelastung ein Jammertal. Sie haben Ihre angekündigten Gegenfinanzierungsmaßnahmen nicht durchgesetzt. Ich nenne hier nur ganz kurz die Änderung der Abschreibungstabellen. Sie haben zahlreiche neue Gestaltungsmöglichkeiten bei der Gewerbe- und bei der Körperschaftsteuer eröffnet, aber bestehende Gestaltungen nicht abgeschafft; ich nenne nur das Dividendenstripping. Diesen Zustand hätten Sie ändern können, aber das haben Sie nicht gemacht. Wir haben nun die Situation, dass die Kommunen und auch die Länder seit Jahren nicht mehr wissen, wie sie ihre Haushalte gestalten sollen. Hessen, Thüringen, Sachsen und das Saarland haben bereits Haushaltssperren verhängt. Das heißt in Sachsen, in dem Bundesland, aus dem ich komme, dass es für Lehreranwärterinnen und -anwärter eine Einstellungssperre gibt. Diejenigen, die das Praktikum schon gemacht haben und mit Stunden eingeplant worden sind, fallen einfach weg, und das vor dem Hintergrund von PISA. So viel zu den großen Tönen, die Bildungssituation müsse sich ändern: In der Realität versetzen Sie die Städte, Kommunen und Länder in eine Lage, in der sie das nicht durchführen können. Man kann viel zu Sachsen und zur dortigen Politik sagen, aber wir haben nun wirklich eine relativ geringe Verschuldung. Sparpolitik wird dort schon seit Jahren betrieben. Man kann angesichts der allgemeinen Finanzsituation in Sachsen schwerlich sagen, dort sei nicht ordentlich gewirtschaftet worden, wenn auch die Prioritäten in den letzten Jahren meiner Meinung nach verkehrt gesetzt worden sind. Sie haben also die Situation, dass die öffentlichen Haushalte dank Ihrer Steuerreform in den nächsten drei Jahren, wenn alles so bestehen bleibt, auf weitere 65 Milliarden Euro werden verzichten müssen. Für die Kommunen und Länder bedeutet das 42 Milliarden Euro zu wenig in den Kassen. Das heißt, es fehlt Geld für die öffentliche Daseinsvorsorge. Ich appelliere an alle Fraktionen in diesem Hause: Bekennen Sie sich endlich dazu, dass wir für das Gemeinwesen Geld brauchen! Das heißt, wir können nicht nur auf die Ausgaben schauen, sondern müssen endlich auch wieder die Einnahmenseite im Blick haben. ({9}) Deshalb: Reformieren Sie die Erbschaftsbesteuerung, führen Sie wieder die Vermögensbesteuerung ein, senken Sie die Gewerbesteuerumlage und tun Sie etwas dafür, dass tatsächlich Arbeitsplätze im Land geschaffen werden und Geld für die öffentliche Hand vorhanden ist! Ich danke Ihnen. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller. ({0})

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte die Gelegenheit nutzen, noch einmal deutlich zu machen, was die größte Steuerreform, die es je in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat und die von uns gemacht worden ist, ({0}) für die einzelnen Betroffenen bedeutet. Ein verheirateter Personenunternehmer, zum Beispiel ein Bäckermeister oder ein Metzgermeister, mit einem Gewinn von beispielsweise 25 000 Euro zahlt in diesem Jahr 28 Prozent weniger Steuern als unter CDU/CSU und FDP im Jahre 1998. ({1}) Er zahlt im nächsten Jahr sogar 39 Prozent weniger Steuern und 2005 47 Prozent weniger Steuern als 1998. ({2}) Ist sein Gewinn doppelt so hoch, also 50 000 Euro, dann zahlt er in diesem Jahr 17 Prozent, im nächsten Jahr 20 Prozent und ab 2005 25 Prozent weniger Steuern als unter Ihnen. ({3}) Eine GmbH mit 50 000 Euro Gewinn vor Steuern, die ihren Gewinn vollständig im Unternehmen belässt, zahlt ab diesem Jahr 18 Prozent weniger Steuern als unter Ihnen. Der verheiratete Arbeitnehmer in der Steuerklasse III mit einem Jahresbruttolohn von 25 000 Euro zahlt in diesem Jahr 39 Prozent weniger Lohnsteuer als unter Ihnen, im nächsten Jahr nur noch halb so viel Steuern wie unter Ihnen und in 2005 61 Prozent weniger. ({4}) Wenn er in dieser Zeit zusätzliche Einnahmen von 8 000 Euro pro Jahr haben sollte, wird er diese 8 000 Euro steuerfrei hinzuverdienen können. Das ist die Wirkung unserer Steuerreform. ({5}) Herr Riebel, ich habe in diesen Tagen mit dem Finanzverantwortlichen eines großen Unternehmens darüber gesprochen, wie er sich verhalten hat. ({6}) Er hat mir deutlich gemacht, dass sie EK 45 gehoben haben, um den geringeren Gewinn für die Aktionäre zu schmücken. ({7}) Dieses EK 45 hätte er natürlich jederzeit ausschütten können, auch wenn es die Steuerreform nicht gegeben hätte. Dann wäre der Betrag nach altem Recht mit 30 Prozent besteuert worden, jetzt wird er mit 25 Prozent besteuert, Herr Riebel. Sie müssen auch ehrlich sagen: Diesen Mindereinnahmen bei der Körperschaftsteuer steht spiegelbildlich eine Mehreinnahme in ähnlichem Umfang bei der nicht veranlagten Steuer vom Ertrag gegenüber, die die Aktionäre bezahlen müssen. ({8}) Man muss sich noch an Folgendes erinnern: Sie haben das Unternehmensteuerrecht lange Zeit sehr kompliziert gemacht und dabei Auslandsbeteiligungen begünstigt. Ich denke an einen süddeutschen Automobilhersteller, der sich im Ausland engagierte, dort eine Firma aufkaufte und diese Firma mit hohen Verlusten wieder verkaufte. Was machte er mit diesen Verlusten? - Dank Ihres Steuerrechts konnte er die Verluste hier steuerlich geltend machen und Steuern sparen. Nach unserem Recht kann er das ab diesem Jahr nicht mehr. Auch das gehört zur Wahrheit. ({9}) Nachdem CDU/CSU mit ihrer Kritik an der Steuerpolitik immer weiter zurückrudern müssen - ich denke an Herrn Späth; hören Sie ihm gut zu! -, ({10}) versuchen sie es jetzt mit der Behauptung von der angeblichen Ausplünderung der Länderhaushalte durch die Steuerreform. Es ist absurdes Theater, wenn man gerade von der Landesregierung von Hessen so etwas zu hören bekommt. Die meisten Länder wären ruiniert, wenn die finanzpolitischen Vorstellungen der CDU/CSU und der CDU-regierten Bundesländer im Bundesrat eine Mehrheit gefunden hätten. ({11}) Herr Riebel, gucken Sie einmal in Ihr eigenes Schuldbuch hinein. Wenn Sie sehen, was da alles steht, gehen Sie mit rotem Kopf nach Hause. Wir haben mit unseren Reformmaßnahmen den Standort Deutschland nachhaltig gestärkt ({12}) und die Länder mit ihren Kommunen wirtschaftlich und finanziell gefördert. ({13}) Deshalb haben unsere Reformgesetze auch jeweils die Zustimmung der Länder im Bundesrat gefunden. Die Herausforderung der Zukunft besteht in einer nachhaltigen Finanzpolitik, die die finanzpolitischen Handlungsspielräume nicht weiter einengt und nicht zulasten nachfolgender Generationen geht. Deshalb haben wir gleich zu Beginn dieser Wahlperiode die entscheidenden Maßnahmen getroffen, um den Marsch von CDU/CSU und FDP in den Schuldenstaat zu stoppen. Sie haben uns einen Haushalt übergeben, der, gemessen an dem Entscheid des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des Saarlandes und Bremen, ({14}) als eine Haushaltsnotlage des Bundes qualifiziert werden kann. Das Saarland und Bremen mussten 26 Prozent ihrer Steuereinnahmen nur für Zinszahlungen aufwenden und das hat das Verfassungsgericht als Haushaltsnotlage bezeichnet. Im Haushalt, den wir von Ihnen übernommen haben, wurden 25 Prozent aller Steuereinnahmen des Bundes nur für das Zahlen von Zinsen für Schulden, die Sie angehäuft haben, aufgewendet. Sie haben den Bundeshaushalt in eine Haushaltsnotlage hineingewirtschaftet, wir schaffen uns jetzt aus dieser Situation heraus. ({15}) Unsere im November 2000 vorgelegten finanzpolitischen Leitlinien sind der langfristig verlässliche Orientierungsrahmen dafür. Wir machen eine konsequente Haushaltskonsolidierung. Das heißt, im nächsten Jahr wird der Bundeshaushalt - das werden Sie sehen, wenn wir in drei Wochen den Regierungsentwurf vorlegen - im Vergleich zu diesem Jahr auf der Ausgabenseite um 0,5 Prozent schrumpfen. 2004 wird er im Vergleich zu 2003 auf der Ausgabenseite noch einmal um 0,5 Prozent schrumpfen. Wir führen also nicht nur eine nominale, sondern auch eine viel stärkere reale Ausgabenkürzung durch, um aus der Verschuldungsfalle herauszukommen. ({16}) Denn Steuerreformen bzw. Steuersenkungen, Herr Rauen, die kann man nicht auf die Weise finanzieren, wie Sie das getan haben: durch Pump. Steuersenkungen müssen vielmehr auf der Ausgabenseite mühsam verdient werden. Diesem Geschäft haben Sie sich immer entzogen. Deswegen haben wir uns in einer Haushaltsnotlage befunden. Ich möchte an all das erinnern, was wir für die Länder getan haben: Wir haben das Solidarpaktfortführungsgesetz beschlossen, Herr Riebel. ({17}) Wir haben eine Neuregelung des Länderfinanzausgleichs vereinbart. Den Schuldendienst des Fonds „Deutsche Einheit“ haben wir neu geregelt. Die Haushalte der Länder werden in diesem Jahr um 462 Millionen Euro, im nächsten Jahr um 510 Millionen Euro und ab übernächstem Jahr um 1 400 Millionen Euro jährlich entlastet. Mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm investieren wir - auch in Hessen - in die Verkehrsinfrastruktur und in Forschung, Bildung und Energie jedes Jahr 2,1 Milliarden Euro. ({18}) Ich könnte noch viele Maßnahmen anführen. Wegen meiner dahinrennenden Redezeit will ich lediglich festhalten: Als Bedrohung müssen Länder und Gemeinden die täglich neuen Steuerforderungen von CDU/CSU und FDP und - was war das noch von Herrn Brüderle? - die Forderungen nach Blitzprogrammen - davon habe ich schon lange nichts mehr gehört - empfinden. Die würden nämlich den Ruin der Länder- und Gemeindehaushalte zur Folge haben. Sie wollen offenbar wieder Steuersenkungen auf Pump durchführen. Sie wollen erneut in den Schuldenstaat marschieren und gegen die auf EU-Ebene vereinbarten Stabilitätsregeln verstoßen. ({19}) Zu diesem Vorhaben können wir nur mit aller Festigkeit Nein sagen. Unser Weg ist der richtige und wir werden ihn konsequent fortsetzen. ({20})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Peter Rauen für die Fraktion der CDU/CSU.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzminister der Länder und die Kämmerer der Städte und Gemeinden gehen am Stock und können ihre Haushalte nicht mehr finanzieren. Bundesfinanzminister Eichel und Bundeskanzler Schröder, die dies zu verantworten haben, lassen hier den wichtigen Bereich der Finanzpolitik von Frau Scheel und Herrn Staatssekretär Diller erklären. Es wird Zeit, dass sich dies in Deutschland wieder ändert. ({0}) Die hausgemachte und von der Regierung zu verantwortende Wirtschaftsschwäche in Deutschland hat bei Bund, Ländern und Gemeinden sowie bei den Sozialversicherungskassen zu verheerenden Steuer- und Abgabenausfällen geführt. ({1}) Entgegen der Annahmen der rot-grünen Regierung vom November 2000 fehlt in Deutschland ein Wirtschaftswachstum von 4 Prozent. Das sind 80 Milliarden Euro. Bei einer Steuer- und Abgabenquote von 43 Prozent fehlen dieses Jahr in öffentlichen Kassen 34 Milliarden Euro. Die letzte Steuerschätzung ist Ergebnis dieser miserablen Entwicklung, mit der wir im zweiten Jahr hintereinander Schlusslicht aller europäischen Staaten im Hinblick auf das Wirtschaftswachstum sind. Bis 2005 wird sich der Steuerausfall auf 65 Milliarden Euro belaufen. Besonders betroffen sind die Gemeinden und die Länder. Die Haushaltssperren, die inzwischen neun Länder erlassen mussten, werden zu einem weiteren dramatischen Rückgang der öffentlichen Investitionen führen. Nachdem der Bund für 2002 mit 10,1 Prozent die historisch niedrigste Investitionsquote aller Zeiten vorgewiesen hat, müssen jetzt auch die Länder und Gemeinden ihre Investitionen kürzen. Das wird vor allem den Niedergang der Bauwirtschaft, die erst gestern verheerende Zahlen für das erste Quartal 2002 bekannt gegeben hat, noch weiter beschleunigen. Die Einnahmen aus der Körperschaftsteuer sind völlig unkalkulierbar geworden. Im letzten Jahr ist sie um 24 Milliarden Euro gesunken, zum Schluss haben die Finanzämter 400 Millionen mehr an die Konzerne ausbezahlt, als sie eingenommen haben. Auch im ersten Quartal dieses Jahres wurden nach Angaben des Finanzministeriums - das sind nicht unsere Angaben - schon 585 Millionen Euro mehr ausgezahlt, als eingenommen wurden. Diese Entwicklung hat allein die Bundesregierung zu verantworten. Sie hat nicht nur die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt in den Keller gefahren, sie hat die fiskalischen Konsequenzen des Systemwechsels bei der Körperschaftsteuer völlig unterschätzt und sträflich vernachlässigt. ({2}) Auf dem SPD-Parteitag am letzten Wochenende hat sich Kanzler Schröder mehr mit den Wahlprogrammen von Union und FDP beschäftigt, als zu sagen, wie es nach seiner Vorstellung in Deutschland weitergehen soll. Wir werden jedenfalls nach der Bundestagswahl in VerantParl. Staatssekretär Karl Diller wortung alles tun, damit in Deutschland die Kräfte für mehr Wirtschaftswachstum wieder freigesetzt werden. ({3}) Wir werden die Verkrustungen auf dem Arbeitsmarkt aufbrechen und mittelfristig dafür sorgen, dass den Menschen wieder mehr von ihrem Lohn oder ihrem Gewinn in der eigenen Tasche bleibt. ({4}) Die Staatsquote muss gesenkt werden. Nur das, was der Staat von dem, was wir alle im Bruttoinlandsprodukt erarbeiten, nicht selbst verbraucht, kann er den Menschen als Lohn ihrer Arbeit in ihrer Tasche belassen. Die Staatsquote auf 40 Prozent zu senken , das ist unser langfristiges Ziel. Das werden wir auch erreichen. ({5}) Das hat mit sozialpolitischem Kahlschlag, wie ihn die SPD und die Grünen den Menschen zu vermitteln versuchen, überhaupt nichts zu tun. Das hat die Regierung Kohl von 1982 bis 1989 bewiesen. Damals sank die Staatsquote von 50,1 Prozent auf 45,8 Prozent und die Nettokreditaufnahme von 35 Milliarden DM auf 14 Milliarden DM. Unter Stoltenberg wurde die größte Steuerreform der Nachkriegsgeschichte finanziert. ({6}) Damals ging es um 50 Milliarden DM - das Bruttoinlandsprodukt war kleiner als die Hälfte des heutigen -, deshalb war es real mehr als bei der jetzigen Steuerreform. Zum Schluss gab es Wachstumsraten von 3 Prozent. Von 1983 bis 1991 - bitte hören Sie genau zu! - wurden 3 Millionen zusätzliche versicherungspflichtige Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen. Das Sozialbudget ist in dieser Zeit pro Kopf von 7 800 auf 10 000 DM gestiegen. Deshalb muss der Unfug beendet werden, dass die Senkung der Staatsquote etwas mit einem sozialpolitischen Kahlschlag zu tun hätte. ({7}) Ich sage das hier sehr ernst: Diese Zusammenhänge waren dem Bundeskanzler und seinem Wirtschaftsminister zu Beginn dieser Legislaturperiode durchaus noch geläufig. So forderte Wirtschaftsminister Müller in seinem Wirtschaftsbericht 1999 eine Rückführung der Staatsquote auf 40 Prozent und erklärte, dass dies nichts mit einer Abkehr vom Sozialstaat zu tun habe.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Rauen, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme sofort zum Ende. - Bundeskanzler Gerhard Schröder machte sich diese Forderung in einem Interview mit der Wiener Tageszeitung „Der Standard“ vom 23. Juli 1999 ausdrücklich zu Eigen. Auf die Frage, ob dies einen Paradigmenwechsel für ein Sozialdemokraten bedeute, antwortete Schröder wörtlich: Ich würde das schlichter formulieren. Das ist das Eingehen auf Realitäten. Wer auf dem Parteitag am letzten Wochenende der deutschen Öffentlichkeit einen solchen Mist erzählt, wer seine Genossen zu motivieren versucht, indem er unsere Absichten als politischen Kahlschlag diffamiert, wer seine eigene Überzeugung so frisst, hat es nicht verdient, ab dem 22. September weiterhin Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein. Schönen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zumindest hat die heutige Debatte gezeigt, dass ein getragener Vortrag und eine Krawatte noch nicht dafür stehen, dass von solider Finanzpolitik im Bundestag geredet wird. Das ist deutlich geworden. ({0}) - Schon gut, Herr Thiele, Sie sind mir als Erster ins Auge gefallen. Jetzt wollen wir anders debattieren: Die Konjunktur brach in Deutschland 1993 - ein bisschen später als in anderen europäischen Ländern - ein. Zu diesem Zeitpunkt beschloss der damalige Bundesfinanzminister Waigel, dass vor allem der Bund die Lasten der deutschen Einheit tragen würde und nicht die Länder. Das heißt, damals wurden die Länder bei der nationalen Aufgabe „deutsche Einheit“ außen vor gelassen. Das war Ihre politische Entscheidung, zu der Sie heute stehen müssen. 1996 - Schwarz-Gelb regierte noch immer - wurde der Familienlastenausgleich auf die Länder abgeschoben. 1997 hat man andersherum reagiert, als man merkte, dass man ansonsten die Maastricht-Kriterien nicht erfüllen würde. Erst als Sie merkten, dass es mit der Verschuldung nicht mehr so weitergehen konnte, haben Sie begriffen, dass Sie die Länder mit ins Boot nehmen müssen, um die Staatsfinanzen im Griff zu behalten. Es gibt die Auffassung, dass eine rechte Regierung dazu neigt, eine höhere und wachsende Staatsverschuldung als strategisches Instrument einzusetzen, um den nachfolgenden Mitte-Links-Regierungen das Leben schwer zu machen. Das ist Ihnen nicht mehr gelungen, weil Ihnen 1997 Maastricht dazwischenkam. Ich kann nur sagen: Gott sei Dank. ({1}) Es gibt Kriterien, wie ein Staat mit seiner Verschuldung umzugehen hat. Sie werden nicht allein an der Steuerschraube drehen können, wie Sie suggerieren. Das Drehen an der Steuerschraube allein bringt es nicht; Sie müssen Ihre Ausgaben kritisch überdenken und zur Ausgabensenkung kommen. Das gehört zum Geschäft. Diesbezüglich werden die Länder ins Boot gebeten. Es wird sich noch herausstellen, ob es ihnen passt oder nicht. Ich habe läuten gehört, dass die Länder dieses Vorgehen sehr wohl verstehen. Sie sind ja auch am nationalen Stabilitätspakt beteiligt, indem sie im Finanzplanungsrat vertreten sind. Ich denke, dass auch über die Ausgabenseite gesprochen werden muss. Das haben Sie aber überhaupt nicht getan. Sie haben immer nur auf Ihre Steuervorschläge abgehoben. Jeder Redebeitrag von Ihnen endete mit dem Hinweis auf den 22. September. Wie ein Mantra wurde dieser Satz vorgebetet. Lassen Sie uns weiter denken als bis zum 22. September 2002. Wir haben über den nationalen Stabilitätspakt gesprochen. Außer der PDS will niemand Steuererhöhungen. Ich gehe einmal davon aus, dass in diesem Hause über diesen Punkt zum größten Teil Konsens besteht. ({2}) Schauen wir uns einmal an, wie die Situation ist! Die einzige Truppe, die noch von Deficit Spending träumt, ist die PDS. Damit hinkt sie der Entwicklung zehn Jahre hinterher. Hicks hat schon 1990 gesagt, dass dieses Instrumentarium wissenschaftlich und politisch tot ist. ({3}) Ich komme jetzt zu den Steuerkonzepten. Die einen wollen die Ökosteuer behalten und die anderen wollen sie abschaffen. ({4}) Wenn Sie sie abschaffen, dann werden Sie eine noch miesere Bilanz aufweisen, als es bei dem Vorschlag der CDU/CSU, der sich auf die nächsten vier Jahre bezieht, der Fall sein wird. Sie von der FDP haben sich vorhin damit gebrüstet, in der letzen Legislaturperiode sei - Sie haben die UMTS-Erlöse nicht eingerechnet, was ich nicht ganz fair finde - soundso viel an neuer Verschuldung entstanden. Selbst ohne die Einbeziehung der UMTS-Erlöse zur Schuldentilgung wäre die Neuverschuldung nur halb so hoch wie die in der Legislaturperiode von 1994 bis 1998. ({5}) Diesen Punkt muss man auch einmal sehen. Angesichts der Tatsache, dass sogar die CDU/CSU begriffen hat, dass die Ökosteuer beibehalten werden muss, weil man sonst gar nichts mehr auf die Reihe bekommt - das ist ja ein interessanter Vorgang -, kann man dieses Mantra, immer nur an der Steuerschraube drehen zu wollen, nicht mehr aufsagen. Das muss Ihnen doch klar sein. Wir haben uns einmal die Mühe gemacht, die Parteiprogramme zu vergleichen. Wir haben untersucht, wie in den nächsten vier Jahren die Neuverschuldung aussehen würde, wenn die entsprechenden Wahlprogramme umgesetzt werden würden. Die FDP ist mit ihrem „hervorragenden“ Vorschlag Spitzenreiter, die Steuererleichterung durch eine höhere Verschuldung zu finanzieren. Denn es gibt keine anderen Steuereinnahmen zur Gegenfinanzierung. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es im Jahre 2003 75 Milliarden Euro Neuverschuldung und im Jahre 2004 120 Milliarden Euro geben würde. Die Ökosteuer ist dabei immer herausgerechnet. ({6}) 2005 sind es 160 Milliarden Euro Neuverschuldung. ({7}) Ich weiß nicht, wohin dieser Weg noch führen würde. Ich kann aber sagen, dass wir zu diesem Zeitpunkt längst aus der EU herausgeflogen wären. Allein von blauen Briefen würde da längst keiner mehr reden. Auch die CDU/CSU hat offensichtlich nicht vor, dass unser Land weiter in der EU bleibt; denn bei der Neuverschuldungsstrategie, die Ihr Programm suggeriert - vielleicht meinen Sie Ihr Programm nicht so ernst; das kann ja auch sein; aber nehmen wir es bis zum 22. September einmal ernst -, ist klar, dass wir ebenfalls aus der EU herausfliegen würden, weil wir das Maastricht-Kritierium und den europäischen Stabilitätspakt nicht erfüllen könnten. Versprechen kann man viel. Die Frage ist aber, wie in den nächsten vier Jahren die Zukunft gestaltet wird. In dieser Beziehung haben Sie ganz schlechte Karten. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Hans Michelbach für die Fraktion der CDU/CSU.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Geht unser Staat Pleite? Gibt es noch genug Geld für Schulen, Straßen, ÖPNV und Sozialarbeit? Müssen unsere Kommunen ihre Schwimmbäder und Büchereien schließen? Diese Fragen beschäftigen unsere Bürger. Sie erwarten klare Antworten. Die rot-grüne Bundesregierung ergeht sich aber - wie auch heute - in Gesundbeterei. Es lässt sich aber nicht mehr verschleiern: Es gibt katastrophale Steuerausfälle. Tatsache ist: Die Steuer-, Finanz- und Haushaltspolitik befindet sich zweifellos im Ausnahmezustand, sozusagen im rot-grünen Krankenstand. ({0}) Die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Kommunen sind massiv eingebrochen. Gegenüber den Steuerschätzungen des Jahres 2001 müssen die Schätzwerte sowohl für das laufende Jahr als auch für den Finanzplanungszeitraum bis 2006 drastisch nach unten korrigiert werden. Die Steuerausfälle machen für die Jahre 2002 bis 2005 65,3 Milliarden Euro aus. Das ist ein finanzpolitischer Offenbarungseid der rot-grünen Regierung. ({1}) Ich frage Sie, meine Damen und Herren, warum Herr Eichel dafür heute nicht die Verantwortung übernommen hat. Er müsste hier doch für Ordnung und Klarheit sorgen. Schon kommen neue Hiobsbotschaften; denn die ersten fünf Monate dieses Jahres lassen weitere Einbrüche bei der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer erkennen. Obwohl 8,5 Milliarden Euro Körperschaftsteuer für 2002 im Finanzplan eingeplant sind, haben die Finanzämter in den ersten vier Monaten noch nichts eingenommen. Damit haben Sie eine neue Luftblase, eine weitere optimistische Steuerschätzung geschaffen. In Wirklichkeit geht es weiter bergab. Weitere Steuerausfälle sind vorprogrammiert. Was ist die Ursache? - Deutschland hat zu wenig Wirtschaftswachstum. Die Bundesregierung hat durch eine drastische Senkung der Investitionsquote die Auftriebskräfte zerstört. Die Bundesregierung hat durch ihre Bürokratie- und Reglementierungswut die Kultur der Selbstständigkeit überfordert. Das Schlimmste: Die Bundesregierung hat eine völlig verfehlte Steuerpolitik betrieben. Sie haben das deutsche Steuerrecht geradezu verwüstet, meine Damen und Herren. ({2}) 33 Steuergesetze in knapp vier Jahren stellen den absoluten Irrweg im Hinblick auf das Steuerrecht dar. Bundesfinanzminister Hans Eichel hinterlässt einen steuerpolitischen Scherbenhaufen. Die rot-grüne Steuerpolitik ist ungerecht und die Steuerreform hat eine deutliche soziale Schieflage: Die Entlastung bei der Einkommensteuer war zu zögerlich und zu zaghaft. Der Mittelstand, insbesondere die Personenunternehmen, wird schlechter als Kapitalgesellschaften behandelt. ({3}) Die Reform der Körperschaftsteuer bei den Kapitalgesellschaften hat sich als katastrophaler Fehlschlag erwiesen. Das alles konnte nur zu einer schnellen Abwärtsspirale führen. Obwohl die Bedeutung des Mittelstands für mehr Wachstum und Beschäftigung längst bekannt ist, hat Rot-Grün eine Steuerreform auf den Weg gebracht, die Personengesellschaften gegenüber Kapitalgesellschaften schlechter stellt. Das ist die Handschrift des Genossen der Bosse, von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Dazu haben Sie die Hand gereicht, meine Damen und Herren. ({4}) Die Großen werden bevorzugt, die Kleinen sollen bluten - das ist die Politik von SPD und Grünen. ({5}) Die großen Konzerne haben im Jahr 2000 noch 23 Milliarden Euro Körperschaftsteuer gezahlt. Im Jahr 2000 wurden ihnen 400 Millionen Euro vom Staat ausgezahlt. Die Steuerschätzung ist optimistisch geschönt. Der blaue Brief aus Brüssel, den die Bundesregierung in letzter Minute verhindert hat, wäre angebracht gewesen. Das zeigen die jetzt in neun Bundesländern verhängten Haushaltssperren mehr als deutlich. Inzwischen hoffen schon SPD-Landesfinanzminister, dass im Bund wieder eine gerechtere Wirtschafts- und Finanzpolitik gemacht wird. Verdenken kann man es ihnen wirklich nicht. Entlastet wurden vor allem diejenigen, die Arbeitsplätze abbauen, nicht diejenigen, die neue Arbeitsplätze schaffen und geschaffen haben. Deswegen werden wir zum Jahr 2004 eine neue Steuerreform für mehr Wachstum und Beschäftigung auf den Weg bringen, die Steuervereinfachungen und Steuerentlastungen vorsehen wird. Niemand soll dann mit mehr als 40 Prozent Steuern belastet werden. Unsere leistungsbereiten Arbeitnehmer, der Mittelstand und die Existenzgründer müssen wieder ins Zentrum einer modernen Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik gerückt werden. Mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen ist die zentrale Herausforderung an jede künftige Politik. ({6}) Wohlstand und Sicherheit müssen erwirtschaftet werden. Wer mehr Wachstum und Beschäftigung will, der muss den Mittelstand und die Arbeitnehmer bei Steuern und Sozialversicherungsabgaben entlasten, darf aber nicht das tun, was Sie gemacht haben, meine Damen und Herren. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Nina Hauer für die Fraktion der SPD.

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von der CDU/CSU, Sie wollen uns sagen, dass unsere Steuerreform die Länder unzumutbar belaste. ({0}) Mir ist, ehrlich gesagt, nicht klar, was Sie mit dieser Aktuellen Stunde bezwecken. Sollen wir die hohen Entlastungen, die wir für die Beschäftigten, für die Familien und für die Unternehmen in diesem Land erreicht haben, zurücknehmen? Sollen wir dahin zurück, wo wir sie 1998 abgeholt haben, ({1}) zurück zu den hohen Steuersätzen Ihrer Regierungszeit? ({2}) Ich glaube, das kann nicht Ihr Ernst sein. Sie wissen, dass die hohe Steuerbelastung in Deutschland der Wirtschaftskraft geschadet und die Beschäftigung gedrückt hat. ({3}) Wir haben dafür gesorgt, dass diese Belastungen reduziert werden. ({4}) Sie wollen die Entlastungen bei der Einkommensteuer, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Personenunternehmen zahlen, oder die Entlastungen, die dadurch entstehen, dass ein Personenunternehmen die von ihm gezahlte Gewerbesteuer auf seine Einkommensteuerschuld anrechnen kann, zurücknehmen. Das sind Maßnahmen, die den Mittelstand voll treffen würden. Oder Sie sagen: Wir wollen die Entlastungen bei den Kapitalgesellschaften zurücknehmen. Meine Damen und Herren, ist Ihnen bekannt, dass nicht nur die großen Kapitalgesellschaften Körperschaftsteuer zahlen? Vielmehr würden auch über eine Million kleine GmbHs in Deutschland zu der Belastung während Ihrer Regierungszeit zurückkehren. ({5}) Das würde das Wirtschaftswachstum in Deutschland bremsen. ({6}) Ich kann mich noch an die Debatte über die Steuerreform im Jahr 2000 erinnern. Übrigens hat die FDP dieser Steuerreform im Bundesrat zugestimmt, ebenso wie Sie es in den Ländern getan haben, in denen Sie in einer großen Koalition mitregieren. Deswegen kann ich die Aussage nicht nachvollziehen, dass die Länder nicht eingebunden worden wären. ({7}) Herr Riebel ist jetzt leider nicht mehr da. Ich kann mich erinnern: Als wir im Jahr 2000 die Steuerreform beraten haben, konnte der Ministerpräsident von Bayern hinsichtlich der Senkung des Spitzensteuersatzes den Hals gar nicht voll genug bekommen. Das war offensichtlich eine Position, die nicht mit allen Ländern abgesprochen wurde, in denen Sie regieren; ({8}) denn mittelstandsfreundlich kann das nicht gemeint gewesen sein. Sie müssen mir erst einmal den Handwerksmeister in meinem Wahlkreis zeigen, der den Spitzensteuersatz auch nur von Weitem sieht. Das ist ein Programm zur Senkung der Besteuerung hoher Einkommen. ({9}) Sie können einmal diejenigen Länder fragen, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, wie Ihre jetzt unterbreiteten Vorschläge, den Spitzensteuersatz auf unter 40 Prozent zu senken, bezahlt werden sollen. ({10}) Der einzige finanzpolitische Beitrag des Kandidaten der Union bezieht sich auf den Spitzensteuersatz, nicht aber auf die mittelständischen Unternehmen. Wie wollen Sie das bezahlen? Der designierte Wirtschaftsminister Ihres Kompetenzteams lobt unsere Steuerpolitik. Aber gegenwärtig gilt: zwei Christdemokraten, drei Gremien, zehn verschiedene Meinungen. Ihr Wirtschaftsrat fällt dem eigenen Kandidaten mal wieder in den Rücken ({11}) und spricht von einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent. Haben Sie sich einmal überlegt, wie die Bundesländer das bezahlen sollen? Oder soll das über einen Selbstfinanzierungseffekt funktionieren, wie ihn Herr Merz und Herr Faltlhauser im Mai 2000 bei der Debatte über die Steuerreform anführten, als sie sagten, die Reform trage sich über einen Selbstfinanzierungseffekt zwischen 30 und 70 Prozent irgendwie selber? ({12}) Es ist doch keine solide Finanzpolitik, auf einen Selbstfinanzierungseffekt zwischen 30 und 70 Prozent zu hoffen. ({13}) Ferner sprechen Sie hohe Ausfälle bei der Körperschaftsteuer an. Sie wissen ganz genau, dass diese Ausfälle dadurch entstanden sind, dass die Unternehmen jetzt ausschütten, was sie im EK 40 haben, weil der Tarif gesenkt wurde. Das ist eine endliche Größe. Wenn das ausgeschüttet ist, dann ist der Fall erledigt. ({14}) Weil im Jahr 2001 so viel passiert ist, ist das Ende absehbar. Die Steuerschätzer haben diese Woche im Finanzausschuss deutlich gemacht, dass die Ausschüttung der Körperschaftsteuer jetzt langsam zum Ende kommt und dass wir 2003 wieder mit höheren Einnahmen zu rechnen haben. Deswegen kann ich die Aufregung nicht verstehen. Der neue Präsident des BDI, Herr Rogowski, sagt, die schnellen Ausschüttungen könnten auch darauf zurückzuführen sein, dass die Unternehmen Angst davor hätten, dass Sie die Möglichkeiten der steuerfreien Veräußerung von Beteiligungen wieder zurückdrehten. Dazu kann ich nur sagen: Ich wünsche Ihnen dabei viel Vergnügen. ({15}) Herr Rogowski hat Recht: Dies wird dazu beitragen, dass diese ihre Verluste abschreiben. Ich möchte dann sehen, wie die Länderfinanzen danach aussehen. ({16}) Im nächsten Jahr normalisieren sich die Einnahmen bei der Körperschaftsteuer wieder. In einem Punkt haben Sie Recht - das wissen wir auch; das haben wir im Rahmen unserer Regierungspraxis auch gezeigt -, nämlich darin, dass wir natürlich auch Verantwortung für die Finanzen der anderen Ebenen in unserem Staat haben. Wir haben diese auch beim bundesstaatlichen Finanzausgleich übernommen. Wir haben diesen im letzten Jahr gemeinsam mit den Ländern neu geregelt. Dies scheinen Sie schon vergessen zu haben; dabei ist es noch nicht einmal ein halbes Jahr her, dass diese Regelungen in Kraft getreten sind. Wir haben auch dafür gesorgt, dass wir in Deutschland wieder darüber reden können, wie die Finanzierung unserer Kommunen in Zukunft aussehen soll. Bei allen Beiträgen über den Spitzensteuersatz, die jetzt von verschiedenen Kreisen, Kandidaten und Gremien gekommen sind, habe ich von Ihnen noch keinen vernünftigen Beitrag zur zukünftigen Finanzierung der Gemeinden gehört. ({17}) In der letzten Woche hat eine Regierungskommission angefangen zu arbeiten. ({18}) Wir sind daran interessiert, dass uns die Experten einen Vorschlag unterbreiten. Ich meine, dass wir damit einen Beitrag leisten, dass die unterschiedlichen Ebenen unseres Staates finanziert werden können. So schaffen wir Entlastungen für die Beschäftigten, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Lande, die Lohnsteuer zahlen, für die Personenunternehmen, die ihre Gewerbesteuer anrechnen können und deren Steuersatz noch gesenkt wird, und für mehr als 1 Million kleine GmbHs bei der Körperschaftsteuer. Dies ist der richtige Weg, um aus dem Steuerstaat herauszukommen, den Sie uns hinterlassen haben. Vielen Dank. ({19})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion erteile ich dem Kollegen Dietrich Austermann das Wort.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Hauer hat gesagt, dass man seiner Verantwortung gegenüber den übrigen Ebenen des Staates gerecht geworden sei. Ich möchte Ihnen die Situation anhand meiner aktuellen Erfahrungen beschreiben. Ich mache wie viele von Ihnen derzeit Wahlkampf und komme von Gemeinde zu Gemeinde. Dabei schaue ich mir die Haushalte der Städte und Gemeinden in SchleswigHolstein an. Ich stelle fest: Überall das gleiche Lied. Es gibt einen Einbruch bei den Gewerbesteuereinnahmen, die Gewerbesteuerumlage ist erhöht worden - so viel zum Thema Solidarität mit den anderen Ebenen -, die Einkommensteuer ist nach dieser größten Reform aller Zeiten, dieser Jahrhundertreform, gegenüber dem Jahr 1998 interessanterweise gestiegen, aber nicht gesenkt worden. ({0}) Die Arbeitnehmer und die Betriebsinhaber können also gar nichts von einer Steuerentlastung merken. ({1}) Wir können diese Entwicklung also unter der Überschrift - dies gilt in Schleswig-Holstein für Lübeck, Flensburg, für Kiel und für meinen Wahlkreis Itzehoe „50 Prozent weniger Gewerbesteuereinnahmen“ zusammenfassen. Was bedeutet dies im Ergebnis? Was bedeutet es, wenn man eine Politik macht, die zur Rezession führt, die das Wachstum kaputtmacht, die dazu beiträgt, dass die Beschäftigtenzahl sinkt und die Arbeitslosenzahl steigt? Das bedeutet, dass eine Situation geschaffen wird, die die Lage in den Gemeinden noch verschärft. Die Vereine sind empört darüber, dass es keine Zuschüsse mehr gibt und dass sie künftig für die Nutzung der Sporthallen Gebühren zahlen müssen. Die Kindergärten sagen, dass die Gruppen größer werden müssen. Die Eltern müssen höhere Gebühren zahlen. Der Bürger merkt auf dieser Ebene an allen Ecken und Enden, dass auf Bundesebene eine saumäßige Finanz-, Steuer-, Haushaltsund Wirtschaftspolitik gemacht wird. ({2}) Dies ist eine kurze, knappe und klare Beschreibung: Eine Politik gegen Wachstum und Beschäftigung rächt sich beim kleinen Mann. Das ist ganz einfach. ({3}) Dies lässt sich auch auf die anderen Städte und Gemeinden übertragen. Ich nehme einmal Frankfurt am Main. Frau Kollegin, Sie sind in Frankfurt am Main geboren. Ich hoffe, ich verrate damit kein Geheimnis. Mir hat jemand gesagt, Sie seien Juso-Vorsitzende von Hessen-Süd gewesen. Deshalb frage ich mich: Wie können Sie es als ehemalige Juso-Vorsitzende von Hessen-Süd eigentlich mittragen, dass im Jahre 2001 in Frankfurt keine einzige Bank einen Pfennig Steuern gezahlt hat? ({4}) Wie können Sie dies verantworten? ({5}) Ich übertrage dies einmal auf andere Regionen. Der DGB schreibt in seinem neuen Programm zur Steuerpolitik der rot-grünen Bundesregierung: Weil sich seit Anfang 2002 der Anspruch auf Rückerstattung der vor 1999 gezahlten Körperschaftsteuer um 5 Prozent verringert hat, schütteten die Unternehmen 2001 massenhaft Gewinne aus, die sie vor Jahren in die Rücklage gestellt hatten. Der DGB sagt, dass der Gesetzgeber hier einen Ausschüttungsturbo eingebaut hat. Schauen Sie sich - der Kollege Michelbach hat darauf hingewiesen - die Steuererwartungen für dieses Jahr an. Die Steuerschätzung vom Mai 2002 ist heute, noch nicht einmal einen Monat später, bereits wieder Makulatur. Bei der Körperschaftsteuer verhält es sich in diesem Jahr ganz genauso. Wieso kann ein Mittelständler Beteiligungen nicht steuerfrei veräußern, während eine große Körperschaft dies tun kann? Das soll gerecht sein? Ich glaube, Sie müssen die Themen Solidarität und Gerechtigkeit bei sich neu definieren. ({6}) Ich nenne ein Beispiel: Schauen Sie sich das Steuerkonzept an. Ist es eigentlich sozial gerecht, dass die Gemeinden immer weniger Steuern einnehmen und der Bund immer mehr Steuern erhält? Ist es sozial gerecht, dass die Mittelständler mehr Steuern zahlen und die großen Körperschaften gar keine? ({7}) Ist es eigentlich gerecht, dass man Abfindungen für Arbeitnehmer höher besteuert, den Sparerfreibetrag halbiert und den Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende senkt, während man es bei denen, die Dividenden kassieren, genau umgekehrt macht? - Nein. Sie haben eine Politik betrieben, die die Grundlagen für das Wachstum beseitigt hat. Auch die Grundlage für eine steigende Beschäftigung ist nicht mehr vorhanden. Die Beschäftigung sinkt und die Arbeitslosigkeit steigt. Dazu kommt es, wenn man eine falsche Steuerpolitik betreibt. Sie haben den Kollegen Rauen gefragt, wie das finanziert werden soll. Sie stellen Fantasierechnungen auf, nach denen es um 170 Milliarden Euro geht. Es ist ganz einfach: Weniger Steuern erheben. ({8}) - Ich habe kritisiert, dass Sie die Steuerverpflichtung für eine ganz bestimmte Gruppe in der Gesellschaft gesenkt haben und dass damit die Last für die übrige Gruppe, nämlich für die Masse der Arbeitnehmer und für die kleinen und mittelständischen Betriebe, immer größer wird. Sie betreiben eine totale Lastenverschiebung. ({9}) Wenn Sie es gerecht machen würden, wäre durch eine erhebliche Steuerentlastung so viel Spielraum vorhanden, dass die Wirtschaft wieder Kraft zum Wachstum hätte. Wachstum würde zu zusätzlichen Arbeitsplätzen und damit zu zusätzlichen Steuern für den Staat führen. Das war das Rezept von Gerhard Stoltenberg. Genau das Gegenteil haben Sie gemacht. Deswegen ist das, was Sie tun, schädlich und es muss beendet werden. ({10}) Ich kann der Kollegin Hermenau nur in einem Punkt folgen. Sie hat gesagt, dass die meisten am Ende immer das gleiche Zitat gebracht haben. Also gut, ich werde es jetzt auch bringen: Noch 108 Tage bis zur Bundestagswahl und wenige Tage mehr bis zu einer besseren Regierung, zu einer besseren Steuerpolitik, zu mehr Beschäftigung und zu mehr Wachstum. So einfach ist das. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Horst Schild.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Austermann, das waren doch wieder Nebelkerzen. Es war ein unerträgliches Gebräu von Halbwahrheiten und Falschheiten, die innerhalb von fünf Minuten kaum richtig zu stellen sind. ({0}) Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Sie sagen, dass Ihnen die Länderfinanzen am Herzen liegen. Sie können den Ländern allerdings nicht damit helfen, dass Sie die Gewerbesteuerumlage senken. ({1}) Wer hat denn im Bundesrat einen entsprechenden Antrag gestellt? Es war das Land Bayern. Für diesen gab es im Bundesrat keine Mehrheit. Wer hat im Bayerischen Landtag einen Antrag auf Senkung der Gewerbesteuerumlage zumindest für das Land Bayern - es liegt der bayerischen Staatsregierung ja so sehr am Herzen - eingebracht? Es war die SPD-Fraktion dort. Allerdings gab es eine deutliche Abstimmungsniederlage. So reiht sich Halbwahrheit an Halbwahrheit. Die CDU-regierten Länder haben der Steuerreform nicht deshalb nicht zugestimmt, weil sie sich Sorgen über die Länder- und Gemeindefinanzen gemacht haben, sondern weil sie ihnen nicht weit genug ging. ({2}) Sie wollten eine höhere Entlastung. Was will denn die CDU/CSU? Wollen Sie die Steuerentlastungen in der jetzigen konjunkturellen Situation zurückdrehen? Sie spielen sich hier zum Wahrer der Finanzinteressen der Länder und Gemeinden auf. Die Wahrheit sieht doch ganz anders aus. Im Sommer 2000 wollten Sie eine weiter gehende Steuersenkung. Der Kollege Thiele hat das Thema vorhin bereits angesprochen. Man kann das auch durchaus begrüßen. Das hat auch der Kollege Brüderle vor einigen Wochen im Bundestag getan. Er hat zudem auf die Verdienste der FDP bei dieser Steuerreform verwiesen. Er hat § 34 des Einkommensteuergesetzes, der den halben Steuersatz bei Betriebsveräußerungen im Falle des Übergangs in den Altersruhestand vorsieht, gefeiert. Er hat darauf abgehoben, dass der Spitzensteuersatz auf Drängen der FDP und des Landes Rheinland-Pfalz noch weiter nach unten gedrückt wird. Das kann man zwar alles wollen; aber es trägt nicht dazu bei, die Finanzen der öffentlichen Hand zu verbessern. Die CDU/CSU stellt bei jeder Gelegenheit weiter gehende Forderungen nach steuerlichen Entlastungen. Das war auch im Vermittlungsverfahren zum Unternehmensteuerfortentwicklungsgesetz Ende des vergangenen Jahres der Fall. Zu diesem Zeitpunkt war die konjunkturelle Eintrübung bereits absehbar. Trotzdem wollten Sie draufsatteln, und zwar ohne Rücksicht auf die Haushalte der Länder und Gemeinden. Sie fordern immer wieder weitere Senkungen des Spitzensteuersatzes. Wir haben mit unserer Steuerpolitik die Steuergerechtigkeit wieder hergestellt. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Das Finanzamt Bad Homburg musste bekanntlich im Jahr 1997 mehr Einkommensteuer auszahlen, als es eingenommen hat - minus 6 Millionen DM. Nach unserer Steuerreform hat sich im Jahr 2001 für dieses Finanzamt in der Einkommensteuer ein kräftiges Plus in Höhe von 250 Millionen DM ergeben. ({3}) Lassen Sie mich abschließend ausführen: Im Einklang mit FDP-Forderungen möchte der CDU-Wirtschaftsrat den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent und ab 2005 auf 35 Prozent senken, Herr Rauen und Herr Michelbach. Die Gewerbesteuer soll 2004 völlig abgeschafft werden. Sage und schreibe 41 Milliarden Euro soll das Entlastungsvolumen betragen. Die Finanzminister der Länder und die Kämmerer der Kommunen sollten sich diese unseriösen Forderungen einmal genau anschauen. Dann wissen sie, welche Regierung in der nächsten Wahlperiode die bessere Politik für Länder und Gemeinden betreibt. Der CDU-Wirtschaftsrat gibt offen zu, dass der EUStabilitätspakt nicht eingehalten werden soll. Diese Aussage ist bemerkenswert. Im Wahlprogramm der CDU/ CSU heißt es wörtlich: Deutschland soll in Europa wieder Vorreiter einer stabilitätsorientierten Haushaltspolitik sein. Die Regierungspolitik in Deutschland darf keinen Anlass mehr für „blaue Briefe“ bieten. Der CDU-Wirtschaftsrat bekennt nun, dass dieses Ziel mit einer CDU/CSU-geführten Bundesregierung nicht zu erreichen ist. Meine Damen und Herren, die Steuersenkungsforderungen der CDU/CSU sind nicht mit den Bedürfnissen der öffentlichen Haushalte in Einklang zu bringen. Danke. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile nun der Kollegin Susanne Jaffke das Wort. Sie spricht für die Fraktion der CDU/CSU.

Susanne Jaffke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im sechsmonatigen Rhythmus spielt sich seit geraumer Zeit ein Drama ab, welches alle Haushaltspolitiker, egal ob von Bund, Ländern oder Kommunen, nur noch mit Schaudern erfüllen kann. Ich meine die jeweiligen Steuerschätzungen im November und Mai, besonders seit dem Jahr 2000. So verhält es sich auch mit dem Ergebnis der Steuerschätzung vom Mai des Jahres 2002. Am 16. Mai wurde nämlich durch den Arbeitskreis Steuerschätzung Folgendes verkündet: Im Vergleich zur Schätzung vom November 2001 werden die erwarteten Einnahmen der Länder um 4,2 Milliarden Euro für 2002, um 2,9 Milliarden Euro für 2003, um 2,3 Milliarden Euro für 2004 und um 2,7 Milliarden Euro für 2005 unter den erwarteten Einnahmen liegen. Für alle staatlichen Ebenen prognostiziert der Arbeitskreis Steuerschätzung einen Gesamtausfall für den Zeitraum bis 2005 von 65 Milliarden Euro. Wenn man sich dann vor Augen führt, dass die so genannte große Steuerreform des Jahres 2000 als das Aufschwung- und Konjunkturförderereignis in der Öffentlichkeit zelebriert wurde, kann ich heute an dieser Stelle nur feststellen: Alles heiße Luft! ({0}) Die rot-grüne Bundesregierung hat in den letzten vier Jahren gezeigt, dass sie nicht in der Lage ist, die Probleme unseres Landes zu lösen. Die Steuerreform mit Belastung der Länder und vor allen Dingen der Kommunen - die Gewerbesteuerumlageerhöhung sei hier nur als Stichwort genannt; mein Kollege Austermann hat schon alles plastisch verdeutlicht - hat die kommunalen Haushalte in den Ruin getrieben. Die neuen Bundesländer trifft das besonders hart. ({1}) Überregulierungen durch Gesetze und Vorschriften im Bereich des Arbeitsmarktes haben unser Land beim Wirtschaftswachstum auf den letzten Platz in Europa rutschen lassen. Der Aufschwung für die neuen Bundesländer ist hier Stagnation bzw. Abschwung. Bürokratiedekrete als Korsettstangen für jeden Selbstständigen führen zusätzlich zu Unternehmenspleiten nie gekannten Ausmaßes. ({2}) Eine verkorkste Rentenreform belastet darüber hinaus die Haushalte und die Beitragszahler. Eine nicht in Angriff genommene Gesundheitsreform hat de facto schon zur Zweiklassenmedizin geführt. Diese Steuerreform belastet vor allen Dingen Rentner, Alleinerziehende, Sozialhilfeempfänger, Auszubildende und Studenten sowie Kleinverdiener und kinderreiche Familien besonders in den neuen Bundesländern und in allen Flächenstaaten. Sie belastet - ich bin Mitglied eines Kreistages und weiß, wovon ich rede - Länder und kommunale Haushalte im Bereich der ergänzenden Sozialhilfe. Dadurch werden dringend benötigte Investitionen bei Ländern und Kommunen verhindert. Mit einer solchen Steuerreform ist die infrastrukturelle Lücke in den neuen Bundesländern nicht zu schließen und der Nachholbedarf nicht zu befriedigen. Diese Steuerreform begünstigt Großverdiener und Großkonzerne. Sie ist eigentlich einer Partei unwürdig, die das Soziale auf ihrem Schild haben will. ({3}) Es gibt zwei Aussagen, die den gleichen Wahrheitsgehalt haben: Erstens. Die Erde ist eine Scheibe. Zweitens. Diese Bundesregierung betreibt eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik. ({4}) Lassen Sie uns am 22. September diesem Spuk ein Ende bereiten. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun erteile ich als letztem Redner in dieser Aktuellen Stunde das Wort dem „Neun-Sterne-Abgeordneten“ Hans Urbaniak für die SPD-Fraktion. ({0}) Das heißt aber nicht, dass Sie für jeden Stern eine Minute Redezeit bekommen.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Austermann, es wird eine ordentliche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik gemacht. Es wird eine gute Politik für die Arbeitnehmer und die Familien gemacht. Das können Sie an den Leistungen, die wir im Laufe dieser Legislaturperiode verabschiedet haben, genau nachvollziehen. Wie sah es bei Ihnen mit Kindergelderhöhungen aus? Das Bundesverfassungsgericht hat Sie ermahnt und Sie haben sich nicht bewegt. ({0}) - Selbstverständlich war das so. Wie war es bei den Sozialversicherungsbeiträgen? - So hoch, wie sie bei Ihnen waren, waren sie bei uns nie. Während unserer Regierungszeit ist beispielsweise der Beitragssatz in der Rentenversicherung auf 19,1 Prozent gesunken. Sie hätten die Sozialversicherungen in den Kollaps geführt. Kollege Austermann, ich verweise auf das alles, weil Sie behauptet haben, wir hätten keine ordentliche Politik gemacht. Wir haben des Weiteren genau 1,2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. ({1}) Ich betone das, damit Sie sich das merken können. Das ist ganz wichtig. ({2}) Die Arbeitslosenzahl sinkt. Darüber sollten wir uns alle freuen. ({3}) Wenn der Kollege Austermann von der Unsolidität unserer Finanzpolitik spricht, ({4}) dann erinnere ich, Kollege Roth, nur an den Haushalt, den Sie 1998 vorgelegt haben. ({5}) Damals waren 30 Milliarden DM nicht gedeckt. Ihr Verhältnis zu den Ländern war sehr getrübt. Die Bundesergänzungszuweisungen für das Saarland und für Bremen waren überhaupt nicht vorgesehen, sodass Sie einen Haushalt der Unaufrichtigkeit vorgelegt haben. ({6}) An der Konsolidierung kommt niemand vorbei. Wir wollen diese Konsolidierung voranbringen; denn wir haben einen Schuldenstand von 1,5 Billionen DM übernehmen müssen. Kollege Austermann, schreiben Sie das doch in Ihre Brieftasche. 1,5 Billionen DM Schulden, das war das Ergebnis Ihrer Politik. Sie haben einen Schuldenberg hinterlassen. ({7}) - Selbstverständlich ist die Verschuldung leicht angestiegen; denn der Anstieg wird erst dann aufhören, wenn der Haushalt ausgeglichen sein wird. Das ist das Ziel der Bundesregierung und das wird sie auch schaffen. ({8}) - Sie werden das selbstverständlich erleben, das ist überhaupt keine Frage. Mir geht es darum, Ihnen zu sagen, dass wir im Rahmen der Haushaltspolitik all die Maßnahmen getroffen haben, die notwendig sind, um das Gemeinwesen funktionsfähig zu halten. Ich denke an den Solidarpakt II. Er stellt ja wohl eine Jahrhundertleistung dar. ({9}) Selbst Herr Biedenkopf sagt, das sei ein Ergebnis wie 17:0 in einem Fußballspiel. Alle Länder, sowohl die alten als auch die neuen Bundesländer, haben zugestimmt. Wann haben Sie das jemals erreicht? Das ist doch eine große demokratische Solidarität in Finanzfragen, die zum Ziel hat, dass es kontinuierlich und seriös weitergeht. Mir geht es nur darum, Ihnen Folgendes noch ganz kurz vorzuhalten: Das, was Sie an zusätzlichen Ausgaben in dieser Legislaturperiode vorgeschlagen haben, hätte rund 271 Milliarden DM neue Schulden verursacht; eine Summe, die überhaupt nicht gedeckt ist. Darum haben Sie, lieber Kollege Austermann - das Wort „lieber“ kommt mir schwer über die Lippen; aber ich sage es einmal; denn wir haben uns im Haushaltsausschuss sachlich und freundlich auseinander zu setzen -, eine unseriöse Politik betrieben. Sie haben heute das Füllhorn der Verschuldung ausgeschüttet. Sie bleiben in der Tradition: Bei den Arbeitnehmern wollen Sie die Mehrarbeitszuschläge besteuern, die Sonn- und Feiertagszuschläge ebenfalls. Die Arbeitnehmer sollen die Zeche zahlen. So hat es Ihr Wirtschaftskreis beschlossen. Das machen wir nicht mit und das werden die Kumpel sehr schnell merken. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Die aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis d sowie die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: 5 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Chancen auf Arbeit für alle - Offensive in der Arbeitsmarktpolitik - Drucksache 14/9225 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationaler Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland 2002 - Drucksache 14/8715 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Irmgard Schwaetzer, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine grundlegend neue Organisation der Arbeitsmarktpolitik - Drucksache 14/8287 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Matthias Wissmann, Brigitte Baumeister, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Politik für mehr Beschäftigung statt organisationspolitischem Aktionismus - Drucksachen 14/8363, 14/9256 Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Schemken ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heidi Knake-Werner, Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Arbeitszeitgesetz ({4}) beschäftigungssichernd reformieren - Überstunden abbauen - Drucksache 14/6113 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Brigitte Baumeister, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Arbeitsrecht flexibilisieren - Beschäftigung schaffen - Drucksachen 14/8267, 14/9221 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brandner Nach einer intrafraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Danach gibt es einige strittige Abstimmungen. Zu der Vereinbarung höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Adolf Ostertag für die Fraktion der SPD das Wort.

Adolf Ostertag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die rot-grüne Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode große Erfolge erzielt und eine Vielzahl wichtiger Projekte auf den Weg gebracht. Wir haben heute darüber schon einige Stunden lang debattiert. Wir haben auch festgestellt, dass wir von der schwarzgelben Bundesregierung 1998 einen Trümmerhaufen übernommen haben: Rekordschulden im Bundeshaushalt, eine Sozialversicherung am Rande des Zusammenbruchs und eine Massenarbeitslosigkeit von beinahe 5 Millionen Menschen. In relativ kurzer Zeit haben wir erreicht, dass es diesem Land und seinen Menschen wieder besser geht. ({0}) Wir haben damals versprochen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Heute können wir schon mit ein wenig Stolz sagen: Versprochen und Wort gehalten. ({1}) Seit 1998 haben wir dafür gesorgt, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland dauerhaft um 500 000 gesunken ist. In der gleichen Zeit stieg die Zahl der Erwerbstätigen um 1,2 Millionen. Mit dem Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit haben 400 000 junge Menschen in diesem Land wieder eine echte Chance auf einen Berufseinstieg. Damit haben diese jungen Menschen eine neue Lebensperspektive bekommen. Das haben wir 1998 versprochen und wir haben auch hier Wort gehalten. Wir haben außerdem das von Kanzler Kohl beerdigte Bündnis für Arbeit neu belebt. In der nächsten Wahlperiode werden wir es fortsetzen; darüber sind sich alle Beteiligten - die Gewerkschaften, die Arbeitgeber und natürlich die Bundesregierung - einig. Die Ziele bleiben klar: Wir wollen die Sicherung der bestehenden Arbeitsplätze und die Schaffung von mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätzen erreichen. Die Ergebnisse bei den Themen „Altersteilzeit“ und „Fachkräftemangel in der IT-Branche“ sowie die Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen zeigen, dass das Bündnis erfolgreich war, auch wenn manchmal etwas anderes zu hören war. Die Zwischenbilanz lautet ganz einfach: Auch hier haben wir Wort gehalten. Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist in Deutschland das Job-AQTIV-Gesetz in Kraft. Mit dieser gesetzlichen Grundlage haben Bundesregierung und Koalitionsfraktionen die Arbeitsförderung grundlegend reformiert. Die vier tragenden Säulen sind: Intensivierung der Arbeitsvermittlung, berufliche Qualifizierungsoffensive, Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Verankerung des Prinzips „fördern und fordern“. Ziel ist es, durch passgenaue Angebote Arbeitslosigkeit, speziell natürlich Langzeitarbeitslosigkeit, frühzeitig zu verhindern. Die Zeiten, in denen das Arbeitsamt weitgehend Verwaltung und Zahlstelle war, sind damit endgültig vorbei. Im Gegensatz zu Union und FDP betrachten wir diejenigen, die nach Arbeit suchen, nicht als statistische Einzelgrößen, als Verwaltungsvorgänge oder als Menschen, die an ihrem Schicksal ohnehin selbst schuld sind. Wir sehen den Arbeitslosen in seiner ganzen Individualität mit seinen Fähigkeiten und seinen Bedürfnissen. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz haben wir dem Arbeitsvermittler vor Ort ein Instrument in die Hand gegeben, das dieser Individualität Rechnung trägt. Wir haben 1998 den Menschen auch versprochen, endlich wieder mehr soziale Gerechtigkeit und faire Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt - auch das gehört zur Arbeitsmarktpolitik - herzustellen. Union und FDP haben den vollen Kündigungsschutz abgeschafft. Wir haben ihn wieder eingeführt. ({2}) - Da besteht ein Unterschied zu Ihnen. Wir haben in unserem Wahlprogramm beschlossen, dass es beim Kündigungsschutz bleibt, den wir wieder eingeführt haben. ({3}) Wenn bei Ihnen ein Ministerpräsident was sagt, dann ändern Sie sogar Ihr Wahlprogramm. Wir werden das nicht tun. ({4}) Union und FDP haben die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall abgeschafft. Wir haben sie wieder in vollem Umfang eingeführt. Union und FDP haben das Schlechtwettergeld abgeschafft. Wir haben es wieder eingeführt. ({5}) Gegen den heftigsten Widerstand von Ihnen und von den Arbeitgebern haben wir das Betriebsverfassungsgesetz reformiert. Damit hat die schleichende Verdrängung der Arbeitnehmerinteressen aus den Betrieben ein Ende gefunden. Mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und der gesetzlichen Regelung befristeter Beschäftigungsverhältnisse haben Arbeitnehmer wie Arbeitgeber jetzt erweiterte Spielräume für individuelle Arbeitszeitgestaltung. ({6}) Schließlich haben wir am 26. April in diesem Haus das Tariftreuegesetz für die Vergabe öffentlicher Aufträge verabschiedet. Damit soll erreicht werden, dass erstens die mittelständischen Unternehmer nicht weiter durch Lohndumping und ruinösen Wettbewerb in den Konkurs getrieben werden, zweitens den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den betroffenen Branchen nicht die Lebensgrundlage entzogen wird und drittens das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wieder gestärkt wird. ({7}) Dieses Gesetz haben Stoiber und seine Länderkumpanen am vergangenen Freitag im Bundesrat vorerst verhindert, obwohl ein solches Gesetz in Bayern seit Jahren besteht. Wir werden ja sehen, welche wahltaktischen Spielchen die Union im Vermittlungsausschuss noch verabredet. Vermutlich hat die Laienschauspielertruppe um Koch und Müller schon geübt, wie sie das machen wird. Wir haben den Menschen 1998 mehr soziale Gerechtigkeit versprochen und wir haben Wort gehalten. Diese lange Liste könnte noch ergänzt werden. Bezogen auf eine sozial- und arbeitsmarktpolitische Bilanz kann ich sagen: Wir haben sogar mehr erreicht, als wir den Menschen 1998 versprochen haben. ({8}) - Doch, das glaube ich; davon bin ich überzeugt. ({9}) Ich könnte die Liste wirklich noch verlängern. Ich glaube, wenn Sie heute Morgen bei der Debatte zum Sozialversicherungssystem ein paar Stunden hier gewesen wären, könnten Sie das nachvollziehen. ({10}) Aber welche Konzepte haben nun CDU und CSU zu bieten? Wenn man Ihr Wahlprogramm liest, dann sieht man, dass darin alles nach dem Motto geht: Jeder kümmert sich am besten um sich selbst, dann ist für jeden gesorgt. Sie nehmen in Kauf, dass alte, kranke, behinderte Menschen, die aus eigener Kraft mit den schnellen Veränderungen in unserer Gesellschaft nicht Schritt halten können, auf der Strecke bleiben. Mit anderen Worten: CDU und CSU wollen letztlich nichts anderes als den schleichenden Rückzug des Sozialen aus der Gesellschaft. Neu ist das nicht. ({11}) Die Menschen in diesem Land wissen ganz genau, wer vor 1998 für die Abkehr vom Sozialstaat verantwortlich war. Ruinöse Staatsverschuldung, Plünderung der sozialen Kassen und ständig steigende Massenarbeitslosigkeit unter der Regierung Kohl sind nicht vergessen. Stoiber will genau hier weitermachen, wo Kohl aufgehört hat: Deregulierung und Entsolidarisierung. ({12}) Zum Beispiel fragt die „Frankfurter Rundschau“ heute in ihrem Kommentar - ich zitiere -: Zu welchem Preis sollen der Einkommensteuerspitzensatz, die Staatsquote und die Sozialabgaben unter die Schwelle von 40 Prozent gesenkt werden? ({13}) Zum Preis der finalen Verwüstung öffentlicher Haushalte? Zum Preis der Zerschlagung des Sozialstaats? Zum Preis von Leistungskürzungen in den Sozialversicherungen? Will die Union nun Millionen Bezieher von Niedrigeinkommen staatlich alimentieren? ({14}) Die Antworten auf diese Fragen bleiben Sie in Ihrem Programm schuldig. Das wissen Sie. Ich sage Ihnen: Die Menschen werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Sie werden Ihnen nicht erneut auf den Leim kriechen. ({15}) Eine Rückkehr zum armen Staat, den sich nur Reiche und Superreiche leisten können - wie es Kohl und Waigel eingeleitet haben und Stoiber & Co. vollenden wollen -, wird es mit uns nicht geben. ({16}) Was haben Sie außer neuer Schuldenmacherei noch zu bieten? Ganz oben auf Ihrer Liste steht erneut der massive Abbau der Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Der Kündigungsschutz soll „rasiert“ werden, das Betriebsverfassungsgesetz soll zurückgefahren werden, Teilzeitregelungen sollen zurückgenommen werden, die Tarifautonomie steht wieder auf der Tagesordnung - sie soll ausgehebelt werden - und letztlich folgt die rigorose Verlagerung der Tarifvereinbarungen auf die betriebliche Ebene, die Sie vorhaben und die nichts anderes heißt, als die Beschäftigten und die Betriebsräte erpressbar zu machen. Dann haben Sie ein wunderbares Drei-Säulen-Modell vorgelegt. Sie wollen den Bereich der geringfügig Beschäftigten ausweiten. Auch darüber ist heute schon diskutiert worden. Die Folgen nehmen Sie in Kauf, nämlich den systematischen, schleichenden Kollaps der gesetzlichen Rentenversicherung und natürlich auch die Verschleuderung von Milliarden Euro an Steuergeldern durch einseitige Subventionen. Nennenswerte Beschäftigungseffekte können Sie so nicht erzielen. Das haben Ihnen bereits namhafte Ökonomen bescheinigt. Sie spekulieren auf 800 000 Arbeitsplätze. Die Institute sprechen gerade einmal von 30 000 Arbeitsplätzen. Das ist doch schon bezeichnend. In Ihrer Wundertüte steckt auch Herr Späth, der eben einmal ganz locker die Abschaffung der AB-Maßnahmen für Ältere fordert und sagt, man sollte diese Menschen doch lieber anderweitig einsetzen. Aber was heißt das denn? Das sagt er natürlich nicht. Das heißt nichts anderes, als dass Herr Späth diese Frauen und Männer, die zum Teil 30 Jahre und länger gearbeitet haben, in die Wüste schicken will. Meine Damen und Herren von der Union, ich kann Ihnen versichern: Die Menschen in diesem Land werden Ihnen keine Gelegenheit geben, diese rückwärts gewandte Konzeption nach dem 22. September in die Tat umzusetzen. Die Koalitionsfraktionen von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen setzen stattdessen weiterhin - wie es in unserem Antrag steht - auf Chancen auf Arbeit für alle und eine neue Offensive in der Arbeitsmarktpolitik. ({17}) Im Gegensatz zu Ihnen grenzen wir niemanden aus, sondern wir wollen allen ein Angebot auf Teilhabe in dieser Gesellschaft und am Erwerbsleben machen. Dazu haben wir in dieser Legislaturperiode viel erreicht, aber die Arbeit wird weitergehen. Ich glaube, auf diesen Erfolgen müssen wir aufbauen. Gerade bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit müssen und werden wir in den nächsten vier Jahren neue Anstrengungen unternehmen. Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, die Schaffung von Beschäftigung ist und bleibt erklärtermaßen das Ziel Nummer eins. Wir werden auch in den nächsten vier Jahren mit aller Kraft dafür arbeiten. Frühzeitige Qualifizierung, passgenaue Vermittlung und individuelle Hilfestellungen sollen jedem einzelnen Arbeitsuchenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen. Ich glaube, die Neuorganisation der Bundesanstalt, die für mehr Effizienz in der Arbeitsvermittlung sorgt, wird dazu auch einen Beitrag leisten. Die Opposition hatte 16 Jahre lang ihre Chance. ({18}) Sie hat kläglich versagt und wurde zu Recht abgewählt. Trotzdem legen Sie von der CDU/CSU ein Wahlprogramm mit den alten verstaubten Rezepten und Versprechen vor, die in keiner Weise zu finanzieren sind und unser Land wieder in die Schuldenfalle treiben. Das hat die Aktuelle Stunde eben noch einmal nachhaltig unterstrichen. Oder Sie schlagen Maßnahmen vor, die wir längst schon auf den Weg gebracht haben. Der „Münchner Merkur“, sozialdemokratischer Nähe unverdächtig, bezeichnet das so genannte Wahlprogramm der Union als Aufbruch der Schnecken. Das „Handelsblatt“, auch kein sozialdemokratisches Blatt, bescheinigt diesem Programm die Dynamik eines Faultiers und empfahl dringend, bei dessen Lektüre für frische Luft im Raum zu sorgen. ({19}) Den Kommentaren dieser Blätter ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Deshalb brauchen wir weiterhin eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die auf Erneuerung setzt und gleichzeitig den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert. Dafür steht diese Bundesregierung, dafür stehen die Koalitionsfraktionen. Ich bin davon überzeugt: Nach der Wahl werden wir unsere Arbeit fortsetzen und diesen Weg weitergehen. Vielen Dank. ({20})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Wolfgang Meckelburg.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was Sie, Herr Ostertag, in Ihrer vermutlich letzten Rede vor diesem Bundestag vorgetragen haben, erinnerte doch eher an den Versuch, Dinge so darzustellen, dass eine Welt entsteht, wie Sie sie gerne sehen würden, die aber in Wirklichkeit nicht besteht. ({0}) Dem von Ihnen angeführten Zitat, unser Programm entspreche dem Aufbruch von Schnecken, könnte ich jede Menge Zitate entgegenstellen, die etwas anderes sagen. ({1}) - Ja, er hat zitiert. Dem könnte man eine Menge entgegensetzen. Im Gegensatz zu einem Bundeskanzler, der sich selber zur ruhigen Hand bekennt - ich habe einmal in anderem Zusammenhang hier gesagt, dass die ruhige Hand, die die Räder anhält, ein früherer Spruch der Gewerkschaften ist; man hat häufig das Gefühl, dass sie heute im Kanzleramt sitzt und nichts mehr bringt -, ist ein Aufbruch der Schnecken schon ein Riesenschritt. Sie sind gerade noch in der Lage, mit der ruhigen Hand die rote Laterne in Bezug auf alle wesentlichen Daten im europäischen Vergleich hochzuhalten und den blauen Brief in Empfang zu nehmen. Mehr ist Ihre Politik nicht mehr wert. ({2}) Dann haben Sie, Herr Ostertag, von sozialer Gerechtigkeit gesprochen. Darauf entgegne ich Ihnen in aller Deutlichkeit: Es gibt eine lange Liste von Maßnahmen, die Sie umgesetzt haben. Wenn wir diese umgesetzt hätten, wäre uns das von den Gewerkschaften massiv vorgeworfen worden. Aber Sie haben das alles umgesetzt. Dabei ist nicht mehr soziale Gerechtigkeit, sondern mehr soziale Ungerechtigkeit herausgekommen. ({3}) - Ja, vertreten Sie das ruhig offensiv vor der Wahl bei der Bevölkerung. Ich nenne nur ein paar Beispiele. Erklären Sie den Leuten, wieso die großen Betriebe keine Körperschaftsteuer mehr zahlen; das brachte im Jahr 2000 noch Einnahmen in Höhe von 20 Milliarden. ({4}) Heute ist die Körperschaftsteuer, also das, was die Großbetriebe eigentlich an den Staat zahlen müssten, auf staatlicher Seite zu einem Ausgabeposten mutiert. Sie müssen einmal klar machen, was es mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat, wenn die kleinen Leute mehr Beiträge in die Sozialversicherung zahlen müssen und durch die Ökosteuer abgezockt werden und bei der Arbeitslosigkeit keine Bewegung zu erkennen ist. ({5}) Das ist im höchsten Maße sozial ungerecht. Das sagen wir auch ganz deutlich. ({6}) Ich nehme einmal ein anderes Beispiel - man könnte wirklich eine ganze Liste von Maßnahmen aufstellen, die Sie in der jetzigen Legislaturperiode umgesetzt haben -: Die Beiträge, die der Staat für die Arbeitslosen in die Renten- und Pflegekasse zahlt, haben Sie massiv gekürzt. Sie haben damit Altersarmut vorprogrammiert. Das ist Bestandteil Ihrer sozial ungerechten Politik gewesen. Reden Sie hier nicht von sozialer Gerechtigkeit. Der Zug ist für die SPD in dieser Wahlperiode wirklich abgefahren. ({7}) Ich wollte eigentlich etwas ganz anderes sagen, aber Folgendes muss klargestellt werden, Herr Ostertag, wenn Sie hier sagen, die Staatsquote solle auf unter 40 Prozent zurückgeführt werden. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass die Rückführung der Staatsquote auf unter 40 Prozent ein langfristiges Ziel ist. Aber die Richtung stimmt. Warum soll das, wenn wir das fordern, falsch sein, wenn es noch richtig war, als es Bundeswirtschaftsminister Müller zu Beginn dieser Legislaturperiode gesagt hat? Im Wirtschaftsbericht 1999 hat er wörtlich eine Rückführung der Staatsquote auf unter 40 Prozent gefordert. ({8}) Sie haben diese Richtung aber nicht eingeschlagen. Wir haben es in den 80er-Jahren geschafft, von einer Staatsquote von über 51 Prozent auf ungefähr 45 Prozent herunterzukommen. Das war ein langer Weg. Trotzdem haben wir positiv Sozialpolitik machen können, ({9}) weil wir Wachstum hatten. Genau diesen Weg wollen wir wieder gehen. ({10}) Lassen Sie mich ein paar Dinge zu Ihrem Antrag sagen. ({11}) Ich habe ihn gelesen; es gibt ihn ja seit gestern Abend. Die Überschrift haben Sie noch zweimal geändert; das lasse ich jetzt einmal weg. Ich muss wirklich sagen: Dieser Antrag ist schon ziemlich dreist. Wo immer Sie hinschauen, gibt es massive Kritik an Ihrer Politik. ({12}) Es gibt Alternativen ohne Ende. Es ist auch in der Bevölkerung weit verbreitet, dass Sie es in den vier Jahren nicht gepackt haben, denn sonst hätten Sie andere Umfragezahlen. Dennoch schaffen Sie es, hier einen Antrag vorzulegen - ich habe dem Kollegen Brandner gestern schon gesagt, dass das eine Art Argumentationspapier für Kollegen aus anderen Ausschüssen ist, die hören wollen, was in dem Bereich überhaupt gemacht worden ist -, ({13}) in dem Sie dreist schreiben: Der Bundestag wolle beschließen: I. Der Deutsche Bundestag stellt fest Positive Bilanz ({14}) So geht es los. Wenn Sie hier mit Mehrheit beschließen wollen, dass Ihre Bilanz positiv ist, dann tun Sie bitte auch das noch. Draußen glaubt Ihnen das aber längst kein Mensch mehr. ({15}) Jetzt komme ich zum zweiten Teil. Da haben Sie zwölf Aufforderungen an die Bundesregierung aufgelistet. Wenn man die liest, muss man sich fragen: Was haben Sie eigentlich die letzten vier Jahre gemacht? Die zwölf Punkte, die in Ihrem Antrag stehen, sind zwölf Aufforderungen zu prüfen und zu suchen: Die Bundesregierung möge prüfen, an einer Stelle möge sie sogar suchen usw. Für eine Partei, die den Anspruch hat, soziale Gerechtigkeit verwirklicht und auf dem Arbeitsmarkt etwas erreicht zu haben, sind Prüf- und Suchaufträge der letzte Anker. Deswegen hätten Sie diesen Antrag heute besser nicht eingebracht. ({16}) Ich hätte gerne zu ein paar Dingen noch etwas gesagt; aber wir haben ja noch zwei weitere Redner. Zwei, drei Punkte möchte ich jedoch noch nachfragen, weil ja im Verlauf der Debatte der Bundesarbeitsminister redet. Ich fände es schon interessant, Herr Bundesarbeitsminister, wenn Sie uns gleich einmal mitteilen, warum Sie in Bezug auf das Job-AQTIV-Gesetz einen Vermerk an den neuen Vorstandsvorsitzenden der Bundesanstalt für Arbeit, Herrn Gerster, geschrieben haben, ({17}) warum Sie mit der Umsetzung unzufrieden sind und was Sie an weiteren Dingen erwarten, die Ihnen das Leben im Wahlkampf einfacher machen könnten. Wenn man sich einmal die Abgänge aufgrund des JobAQTIV-Gesetzes in die Nichterwerbstätigkeit anschaut, sieht man, dass es ein Riesending ist, wie Sie die Zahl der Arbeitslosen statistisch herunterbringen. ({18}) Dennoch können wir feststellen - wir werden das morgen sehen -, dass Sie das Ziel von 3,5 Millionen Arbeitslosen nicht erreichen werden. Man hätte locker auf diese Zahl kommen können; denn jährlich sind 200 000 ältere Menschen mehr aus dem Arbeitsmarkt ausgestiegen, als junge eingestiegen sind. Sie werden im Schnitt des Jahres bei knapp unter 4 Millionen bleiben. Sie werden bei den Zahlen, die wir morgen hören werden, auch merken: Die Arbeitslosenzahl ist zwar wieder einmal saisonal bedingt zurückgegangen - um gut 150 000 -, aber sie wird dennoch wieder gut über 150 000 über der des Vorjahres liegen. Das ist der eigentliche Punkt. Sie gehen mit dem Anspruch, auf dem Arbeitsmarkt etwas verwirklicht zu haben, ins Wahljahr und müssen sich Monat für Monat nachweisen lassen, dass die Zahl der Arbeitslosen über der des Vorjahres liegt ({19}) und dass die saisonal bereinigte Zahl der Arbeitslosen seit Dezember 2000 fast jeden Monat steigt. Das ist keine positive Bilanz. Deswegen dürfen Sie einen solchen Antrag eigentlich nicht beschließen. Sie können es tun, aber draußen wird Ihnen das kein Mensch glauben. ({20}) Ich habe mich leider auf ein paar Dinge beschränken müssen. ({21}) Ich hätte gern noch mehr zu dem Antrag gesagt, aber es mussten wenigstens ein paar Dinge, die heute schon mehrfach falsch von Ihnen zitiert worden sind, zurechtgerückt werden. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. Ihnen, Herr Ostertag, wenn es denn Ihre letzte Rede war ({22}) - wenn nicht, dann sage ich es noch einmal; trotzdem sage ich es jetzt schon -, für die Zusammenarbeit herzlichen Dank und alles Gute. ({23})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten vorhin schon einmal Gelegenheit, zu den Sozialversicherungssystemen zu reden. Da habe ich etwas Erstaunliches festgestellt. Wir haben in dem abschließenden Beitrag von Herrn Blüm noch einmal ein gutes Beispiel dafür bekommen, wie auch hier mit Taschenspielertricks versucht wird, sich hinsichtlich dessen, was die CDU/CSU uns als Programm vorlegt, gesundzurechnen. Herr Blüm hat auf meine Frage, wie denn 170 Milliarden Euro Steuerausfälle bei der von Ihnen vorgeschlagenen 40 : 40 : 40-Politik zu finanzieren seien, vorgerechnet, dass 100 000 Arbeitslose weniger 1,5 Milliarden Euro Einsparungen in der Arbeitslosenversicherung bringen. Das ist natürlich richtig. Nur, wenn man sich vor Augen führt, wie diese Summe von 170 Milliarden Euro im Verhältnis zu 1,5 Milliarden steht, fragt man sich, was da gerechnet wird. Wenn man sich vorstellt, was uns Herr Blüm als damals verantwortlicher Minister zurückgelassen hat, nämlich 4,3 Millionen Arbeitslose, fragt man sich doch, warum er diese so genannte Sparkasse über die Senkung der Arbeitslosigkeit damals nicht genutzt hat. ({0}) Wenn ich mir das alles vor Augen führe, komme ich zu dem Ergebnis: Das war keine seriöse Rechnung von Norbert Blüm, sondern eher eine Rechnung, die man zum Beispiel eher Benjamin Blümchen zutrauen könnte. ({1}) Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass es falsch ist, wenn Herr Blüm oder Herr Stoiber oder auch Herr Späth hier versuchen, zu suggerieren, es gebe bei der Arbeitsmarktpolitik so etwas wie eine Wunderwaffe. Der Arbeitsmarkt ist kein Hut, aus dem man ein Kaninchen zaubern kann. Wir brauchen auf dem Arbeitsmarkt ein Bündel von Maßnahmen in der Finanzpolitik, in der Haushaltspolitik, in der Arbeitsmarktpolitik und natürlich - da sind sich hier alle immer einig - auch in der Mittelstandspolitik, weil der Mittelstand der Motor für mehr Beschäftigung ist. ({2}) Wir brauchen ein Bündel von Maßnahmen, aber es ist ein großer Irrtum, wenn Sie meinen, das würde bedeuten, dass jedes Mittel recht ist. Der große Irrtum besteht zum Beispiel darin, Menschen aus dem Arbeitsmarkt auszugrenzen, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Beispielsweise ist Ihr Vorschlag mit dem stoiberschen Familiengeld - der bedeutet: Frauen zurück an den Herd ({3}) nichts anderes als der Versuch, Frauen aus dem Arbeitsmarkt auszugrenzen. Wir brauchen an dieser Stelle die Integration, die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Daraus wird eine vernünftige Arbeitsmarktpolitik. Die Nachbarländer haben es uns vorgemacht. In den Ländern, in denen die Frauenerwerbstätigkeit hoch ist, ist die Arbeitslosigkeit niedrig und insgesamt die Erwerbsquote höher. ({4}) Der gleiche Irrtum, dem Sie mit Ihre Vorschlägen zur Arbeitsmarktpolitik aufsitzen, bezieht sich auf die Gruppe der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Herr Späth sagt allen Ernstes, für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sei eine Qualifizierung nicht mehr notwendig, ja geradezu herabsetzend. Er schlägt vor, dass ältere Arbeitslose - dazu zählen diejenigen über 50; man muss sich auch einmal überlegen, was man damit eigentlich sagt - in sozialen Diensten der Kommunen, beispielsweise in der Altenpflege, tätig werden sollen. Das stellen Sie sich bitte einmal vor. Es kann doch nicht ernst gemeint sein, dass beispielsweise ein 52-jähriger Ingenieur aus den neuen Ländern plötzlich überhaupt keine Chance mehr bekommt, seine Qualifikation an die wirtschaftliche Entwicklung anzupassen, sondern in der Altenpflege tätig werden soll! Das kann doch keine Arbeitsmarktpolitik sein. An dieser Stelle will ich Ihnen eines sagen: Der ganze Ansatz, der von Ihnen vorgeschlagen wird, geht, wie in den 90er-Jahren, in die falsche Richtung. In den 90er-Jahren haben Sie unter Anwendung unterschiedliche Instrumente mit der Politik der Frühverrentung angefangen. Das war ein Irrweg. Dänemark hat diesen Weg längst beendet und ist aus der Frühverrentung ausgestiegen. Auch hier gilt: Integriert man mehr ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt, führt dies dazu, dass die Erwerbsbeteiligung insgesamt zunimmt und die Arbeitslosigkeit sinkt. Frühverrentung ist also Gift. ({5}) - Herr Meckelburg, die Altersteilzeit ist ein gutes Angebot an ältere Arbeitnehmer, länger in ihrem Beruf bleiben zu können, sich aber den Anstrengungen, die sich ihnen im Alter häufig stellen, nicht mehr so sehr aussetzen zu müssen. Wenn sie richtig angewandt wird, ist sie eine Entlastung. Deswegen war dies ein gutes Stichwort. Ich bin fest davon überzeugt, dass Altersteilzeit in Zukunft nicht mehr verblockt werden sollte. Zumindest sollten wir die Förderung der Altersteilzeit über öffentliche Mittel, wenn sie verblockt wird, nicht fortsetzen. ({6}) - Ja, das ist ein Vorschlag. Ich denke, wir müssen ganz anders mit den verschiedenen Elementen von Teilzeitarbeit umgehen. ({7}) Beispielsweise könnten wir dann in einem zweiten Schritt, wenn wir die Blockbildung aufgelöst und die Frühverrentungspraxis gestoppt haben, an Teilzeitangeboten auch für Jüngere denken. Der nächste Irrtum, dem Sie mit Ihrer Arbeitsmarktpolitik aufsitzen, ist, Sie meinen, dass mit einer Politik des Heuerns und Feuerns - schneller einstellen und schneller entlassen können - irgendetwas gewinnen zu können. Sie diskutieren zum Beispiel über entsprechende Änderungen des Kündigungsschutzes. ({8}) Meine Damen und Herren, weil wir am Arbeitsmarkt mehr Flexibilität brauchen, benötigen wir die Kombination von mehr Flexibilität und Sicherheit. Wenn wir über den Kündigungsschutz sprechen, dann können wir über unterschiedliche Modelle diskutieren. Ich zum Beispiel finde den Ansatz Dänemarks interessant. Dort geht man mit 90 Prozent des Arbeitslosengeldes auch anders mit dem Kündigungsschutz um. Dabei sind zwei Punkte wichtig: Erstens. Wenn man über Arbeitnehmerrechte spricht und sie verändert, geht es immer um soziale Sicherheit. Zweitens. Beim Kündigungsschutz sollten wir uns kein X für ein U vormachen. Der Kündigungsschutz an sich - so oder so verändert - bringt keinen zusätzlichen Arbeitsplatz. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Was er beeinflusst, ist das Einstellungsverhalten im Aufschwung und im Abschwung. Das ist richtig. Aber er bringt keinen zusätzlichen Arbeitsplatz. Deswegen ist es eine Milchmädchenrechnung, wenn Sie diesen Aspekt als eine Lösung zur Steigerung der Beschäftigung anbieten. Die Arbeitsmarktpolitik, die Sie vorschlagen, ist nicht seriös. ({9}) Der nächste Punkt, den ich anspreche, behandelt die Fragen der Flexibilität und Sicherheit. Sie wollen für diejenigen, die arbeitsfähig sind, die Sozialhilfe senken. Ich frage Sie: Welchen zusätzlichen Arbeitsplatz soll das bringen? Es ist klar, dass dadurch kein zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen würde. Aber eine solche Maßnahme würde zu mehr Unsicherheit und mehr Armut führen. Richtig ist, dass wir über eine Verzahnung bzw. auch Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe diskutieren und sie auf den Weg bringen müssen. Richtig ist auch, dass wir für die Menschen, die arbeitslos geworden sind, Hilfe aus einer Hand - sofort und mit Eingliederungsplänen für alle - sowie eine viel bessere Betreuung vom ersten Tag der Arbeitslosigkeit an brauchen. Das können wir über eine Zusammenlegung erreichen. Dafür - das muss ich übrigens auch an die Adresse von CDU und CSU sagen -, brauchen wir die Sanktionen nicht zu verschärfen. Diese sind hart genug. Vielmehr müssen wir die Hilfsangebote für jeden Arbeitslosen verbessern. Dafür brauchen wir auch keine kochschen Vorschläge. Durch die vielen MoZArT-Modelle haben wir ein ganzes Köchelverzeichnis zur Verfügung. Herrn Koch brauchen wir dafür nicht. An diesem Punkt möchte ich noch eines anmerken - gerade hier wird klar, wie unterschiedlich wir sozialund arbeitsmarktpolitisch denken -: Die Zusammenlegung der Sozialhilfe mit der Arbeitslosenhilfe ist für keinen Haushalt ein Sparschwein. Es kann nicht angehen, solche Vorschläge zu unterbreiten wie es Herr Stoiber gemacht hat: Die Finanzierung des Familiengeldes über die Sozial- und Arbeitslosenhilfe sicherzustellen ist ein vollständig unsozialer Ansatz. ({10}) - Ich höre zu und lese Ihre Programme. Ich weiß, dass sich bei Ihnen viele über die eigenen Programme nicht im Klaren sind bzw. sich nicht darum scheren. Herr Späth zum Beispiel gibt zu, dass er die Programme nicht liest. Deswegen kann er auch frei aufspielen und braucht den Blödsinn, den Sie in Ihrem Programm verzapfen - beispielsweise mit dem 40:40:40-Modell -, nicht zu unterstützen. Er sagt sehr deutlich, dass unser Ansatz der Steuerreform in die richtige Richtung geht. Das wollte ich nur sozusagen in Klammern angemerkt an Sie gerichtet sagen. Wir können zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit an verschiedenen Punkten ansetzen: erstens durch eine innovative Wirtschaftspolitik. Wir müssen mit der Förderung von innovativen Techniken, zum Beispiel im Bereich der Energieeinspartechniken, weitermachen. Hier haben wir gerade im Mittelstand, den Sie so gut zu vertreten meinen, neue Arbeitsplätze geschaffen. Es ist fatal, dass Sie nichts anderes machen wollen, als genau diese zukunftsweisende Wirtschaftsförderung für den Arbeitsmarkt einzustampfen. Wir können zweitens am Arbeitsmarkt vorankommen, wenn wir die Dauer der Arbeitslosigkeit wirklich reduzieren. Dafür haben wir das Job-AQTIV-Gesetz. Die Entwicklung zeigt im Moment, dass die Bundesanstalt für Arbeit, die sich in einem Reformprozess befindet, noch sehr viel tun muss, um das, was wir an Instrumenten und Geld zur Verfügung stellen, richtig umzusetzen. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident, da Sie mich durch das Blinken auf meine abgelaufene Redezeit aufmerksam machen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Schön, dass Sie es merken.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein letzter Punkt: Wir müssen natürlich etwas für die Menschen tun, die Schwierigkeiten haben, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen. Das ist gerade im Bereich der gering Qualifizierten ein Problem, das sich aber nicht durch flächendeckende Subventionierung des Niedriglohnsektors, die Sie vorschlagen, lösen lässt. Ich nenne als Stichwort das Negativsteuermodell, das die FDP vorschlägt. Das ist überhaupt nicht zu finanzieren und führt zu Lohndumping. Wir schlagen stattdessen eine systematische Reduzierung der Lohnnebenkosten in diesem Bereich, ein Konzept zur Überwindung der Teilzeitmauer und ein Einstiegsgeld für Langzeitarbeitslose vor. Es gibt hier noch viele innovative Konzepte, zum Beispiel zur Unterstützung von haushaltsbezogenen Dienstleistungen über Dienstleistungsagenturen. Da wollen wir weitermachen, wir werden die Reformen fortsetzen. Ihre Vorschläge werden außer in Ihren Köpfen keinen zusätzlichen arbeitsmarktpolitischen Effekt auslösen können. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Dirk Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist das wichtigste innenpolitische Thema in Deutschland. Dies ist auch deshalb so wichtig, weil viele Menschen unmittelbar davon betroffen sind, und das auch unter Ihrer Regierung. Bei knapp 4 Millionen Arbeitslosen dürfen Sie nicht vergessen, dass diese Zahl keine feste Größe, keine statische Masse ist, sondern dass sie ständig andere Menschen umfasst: Einige kommen hinzu, andere fallen raus. Um diese 4 Millionen Menschen herum gibt es ein soziales Umfeld, das unter der existenziellen Bedrohung mit zu leiden hat. Deswegen finde ich es schon bemerkenswert, dass Sie hier nach fast vier Jahren Ihrer Regierungszeit mit Ihrer Mehrheit beschließen lassen wollen, dass Sie im Bereich der Arbeitsmarktpolitik erfolgreich gewesen sind. ({0}) Wenn ich das lese, fällt mir ein schönes altes deutsches Sprichwort ein, das leicht abgewandelt heißen müsste: Lügen haben kurze Beine, kürzer sind nur Riester seine. ({1}) Das kann ich auch belegen: Wenn Sie durch die Gegend rennen und den Menschen erzählen, es gäbe 1 Million mehr Arbeitsplätze als früher, verschweigen Sie, dass ein Großteil derer durch Ihre Neuregelung der 630-Mark-Gesetzgebung entstanden ist. Sie verschweigen dabei, dass das Statistische Bundesamt feststellt, dass im ersten Quartal 2002 die Anzahl der Erwerbstätigen auf 38,2 Millionen gesunken ist. Sie verschweigen, dass die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden sinkt und dass das Arbeitsvolumen in der Gesellschaft insgesamt sinkt. ({2}) Sie stellen es als großen Erfolg im Bereich der Arbeitsmarktpolitik dar, dass es fast 500 000 Arbeitslose weniger als unter der alten Regierung gibt. Dabei verschweigen Sie aber, dass Jahr für Jahr rund 200 000 Menschen mehr aus Altersgründen aus dem Arbeitsleben ausscheiden als neue hinzukommen. Faktisch ist die Arbeitslosigkeit heute höher, als sie es unter der alten Bundesregierung war. ({3}) Sie tun so, als hätten Sie Ihre Hausaufgaben gemacht. Um Arbeitsplätze zu schaffen, brauchen wir etwas, was Sie während Ihrer gesamten Regierungszeit noch nicht einmal im Ansatz geschaffen haben: Wir brauchen einen Arbeitsmarkt, auf dem der Begriff Markt stärker zur Geltung kommt. ({4}) Wir brauchen eine Deregulierung und weit weniger bürokratische Hemmnisse, um Arbeitsplätze überhaupt erst schaffen zu können. ({5}) Ihre Gesetzgebung hat exakt das Gegenteil bewirkt. Allein die Senkung des Schwellenwertes beim Kündigungsschutz von zehn auf fünf Arbeitnehmer hat dazu geführt, dass 250 000 Arbeitsplätze in den Betrieben, die eigentlich einen sechsten, siebten, achten oder neunten Arbeitnehmer einstellen wollten, nicht besetzt worden sind. ({6}) Das wäre ein Beschäftigungsprogramm gewesen, für das Sie keinen einzigen Cent an Steuergeldern hätten aufbringen müssen. Hinsichtlich des Teilzeitpflichtgesetzes hätten Sie das Gleiche tun können. Aus der deutschen Wirtschaft erhalten wir die Rückmeldung, dass insbesondere diejenigen, denen Sie eigentlich helfen wollten, unter der neuen Regelung zu leiden haben: Insbesondere junge Frauen werden nicht eingestellt, weil die „Gefahr“ zu groß ist, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt den Wunsch äußern, Teilzeit arbeiten zu wollen. Sie können doch nicht versuchen, einen gesamtgesellschaftlichen Sinneswandel bei der Erhöhung der Teilzeitquote durch gesetzliche Reglementierungen durchzusetzen. Erlauben Sie mir, auf unseren Antrag zur neuen Struktur der Arbeitsmarktpolitik zu sprechen zu kommen, der gerade dadurch aktuell ist, weil Sie durch Ihre Schnellschüsse bei der Neustrukturierung der Bundesanstalt wieder einmal am Ziel vorbeigeschossen haben. Der Kanzler schickt seinen Arbeitsminister vor, der sagt: Wir schaffen Wettbewerb und führen dazu Vermittlungsgutscheine ein. Innerhalb einer Woche rudert die SPD-Bundestagsfraktion zurück. Die Vermittlungsgutscheine waren sehr „erfolgreich“: Von 25 000 ausgegebenen Gutscheinen wurden sage und schreibe - Stand 7. Mai - 41 tatsächlich eingelöst. Das zeigt den Fehler des Grundansatzes Ihres Konzeptes. Bei diesen Vermittlungsgutscheinen, die Sie aus ideologischen Gründen falsch konzipiert eingeführt haben, gibt es nämlich drei Kardinalfehler: Erster Kardinalfehler. Die Höhe der Bezuschussung - Sie sehen Zahlungen in Höhe von 1 500, 2 000 oder 2 500 Euro vor - orientiert sich allein an der Dauer der Arbeitslosigkeit. Ihr Entwurf hat ursprünglich eine marktgerechte Entlohnung in Höhe von zwei- bis zweieinhalb Bruttomonatslöhnen bei einer Vermittlung im qualifizierten Bereich vorgesehen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat diesen Vorschlag jedoch wieder einkassiert, weil Sie in diese Richtung überhaupt nicht denken wollten. Zweiter Kardinalfehler. Fragen des Alters, der Qualifikation und der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit werden in keiner Weise berücksichtigt bei der Höhe dessen, was ein privater Arbeitsvermittler verdienen könnte, vorausgesetzt es hätte sich eine private Vermittlungsstruktur in Deutschland gebildet. In der Konsequenz bedeutet das, dass bei den zu niedrig angesetzten Vemittlungsgeldern und der falschen Beurteilung der Kritierien, die für die Entlohnung ausschlaggebend sind, die privaten Vermittler keinen wirtschaftlichen Anreiz haben, in diesem Segment flächendeckend bundesweit zu arbeiten. Neue Vermittler überlegen es sich sehr gut, ob sie in diesen Markt eintreten wollen. Der dritte Kardinalfehler bei der Ausgestaltung der Vermittlungsgutscheine besteht darin, dass Sie keinen echten Wettbewerb geschaffen haben. ({7}) Einen Wettbewerb hätten Sie geschaffen, wenn Sie den Arbeitssuchenden eine Nachfragemacht gegeben hätten, damit sie zu dem Arbeitsvermittler ihres Vertrauens hätten gehen können. Das kann der private Arbeitsvermittler sein; das kann aber auch der staatliche Arbeitsvermittler sein. Sie schaffen nur dann Wettbewerb, wenn Sie zumindest die erfolgsabhängigen Einkommenskomponenten durch die Einlösung der Vermittlungsgutscheine refinanzieren. Mit der Hartz-Kommission haben Sie ein Projekt gestartet, das zeitnah vor der Bundestagswahl holzschnittartig einige Zielmarken definieren wird. Weil die Zusammensetzung der Kommission der des Bündnisses für Arbeit fatal ähnelt, muss man sich allerdings Sorgen machen. Die Ergebnisse dieses Bündnisses waren wirklich nicht sonderlich hilfreich. Sie müssen sich darauf einstellen, dass Sie, um hinsichtlich der staatlichen Arbeitsvermittlung echte Effizienzsteigerungen zu erreichen, weitere Schritte gehen müssen: Die Arbeitsämter vor Ort müssen die Kompetenz haben. Das bedeutet, dass die Landesarbeitsämter abgeschafft werden müssen. Die Arbeitsmarktpolitik muss von der Versicherungsleistung abgetrennt werden. Die drittelparitätische Selbstverwaltung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerfunktionären sowie von denjenigen, die ihre öffentlichen Hände in Unschuld waschen, muss hinsichtlich ihrer Zukunftsfähigkeit überdacht werden. Sie müssen die Arbeitsverwaltung marktgerecht und konkurrenzfähig machen. Das bedeutet, dass ein staatlicher Arbeitsvermittler nicht mehr mindestens 50 Prozent seiner Arbeitszeit mit irgendwelchen Verwaltungstätigkeiten verbringt, sondern stattdessen in die Betriebe geht und sich anschaut, wie ein Arbeitsplatz aussieht, den er besetzen soll, und in welchem sozialen Umfeld er angesiedelt ist. Ein Fliesenleger im Betrieb A und ein Fliesenleger im Betrieb B brauchen nicht zwingend dieselben Voraussetzungen mitzubringen. ({8}) Die formale Qualifikation ist von Betrieb zu Betrieb so unterschiedlich einzuschätzen, dass man gar nicht sagen kann, ob ein Arbeitnehmer wirklich geeignet ist, in einer bestimmten Firma anzufangen, wenn man sich den Arbeitsplatz nicht angeguckt hat. Dafür müssen Sie die Voraussetzungen schaffen. Deswegen sage ich Ihnen zum Abschluss: Die FDP ist die Partei der sozialen Verantwortung, weil wir mit unseren arbeitsmarktpolitischen Anträgen dafür sorgen wollen, dass die Menschen in die Lage versetzt werden, überhaupt in den Arbeitsmarkt zurückzukehren, und Ihre Kartellpolitik der Arbeitsplatzbesitzenden gegenüber den Arbeitsplatzsuchenden endlich ein Ende hat. Vielen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Klaus Grehn.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge von FDP und CDU/ CSU sind meines Erachtens weitgehend überholt. Sie enthalten erstens bereits Geregeltes, zweitens Dinge, die bereits eingeleitet sind, und drittens manches, was durch nachträglich eingereichte Anträge, die wir hier irgendwann noch behandeln werden, erneuert, präzisiert und erweitert, wahrlich aber nicht verbessert werden soll. Masse ist nicht Klasse. Würde das verwirklicht, was in diesen Anträgen vorgeschlagen wird, würde sich die Lage der Ausgegrenzten, Armen, Arbeitslosen, Arbeitslosenhilfeund Sozialhilfeempfänger weiter verschlechtern. Der Antrag der SPD ist - das sage ich in aller Deutlichkeit - ein merkwürdiger Antrag. In ihm wird der Bundestag auf den Seiten 1 bis 8 aufgefordert, eine positive Bilanz zu bestätigen. Auf den Seiten 9 bis 11 wird die Bundesregierung aufgefordert, alles so wie bisher weiterzumachen. Es tut mir Leid, liebe Kolleginnen und Kollegen, mir fehlt hier nur noch das rosa Papier. ({0}) - Doch, teilweise liest es sich wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Es ist nur nicht so amüsant, weil es um die realen Probleme der Betroffenen geht. ({1}) Wir hoffen aber mit Ihnen, dass das, was Sie in die Wege geleitet haben, irgendwann einmal Wirksamkeit entfalten wird. Fragt man die Arbeitslosen, dann stellen sie fest, dass nichts besser geworden sei: Es gibt nicht mehr Jobs, die Pleitewelle rollt unbegrenzt durch das Land, weitere Arbeitsplätze gehen verloren. Das sind die wahren Probleme, mit denen wir uns hier zu beschäftigen haben. Leider haben die vielen Debatten daran ebenso wenig wie die vorgelegten Anträge geändert. Ich will mich dazu nicht zu sehr im Detail auslassen. Aber ich bitte Sie, darüber nachzudenken, ob man den Wahlkampf auf dem Rücken der Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten austragen soll. Tun Sie dies bitte nicht; die Menschen sind ohnehin schon genügend bestraft. Jemanden, der am Boden liegt, tritt man nicht noch. ({2}) Ich komme nun zu unserem Antrag und bitte Bundesminister Riester herzlich, mit einem Wort auf ihn einzugehen. Unser Antrag nimmt wenigstens ein Problem gezielt und realistisch ins Visier, indem wir deutlich machen, dass es für eine Veränderung des Arbeitszeitgesetzes höchste Zeit ist. Wir wissen, dass das Arbeitszeitgesetz mit der Arbeitszeitrichtlinie der Euopäischen Union schon lange nicht mehr übereinstimmt und wir von den Standards in Ländern mit vergleichbarer Produktivität weit entfernt sind. Mit einer beschäftigungswirksamen Reform des Arbeitszeitgesetzes kann man Überstunden abbauen und damit eine Chance für zusätzliche Arbeitsplätze eröffnen. Immer noch ist die gesetzliche Höchstarbeitszeit in Deutschland mit 48 Wochenstunden weit von der tariflichen Realität von durchschnittlich 37,8 Stunden entfernt. Durch die großzügige Bemessung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit steigt die Anzahl der Überstunden. Im Bündnis für Arbeit ist es nicht gelungen, dieses Problem auf die Tagesordnung zu setzen. Sie wissen auch, dass es nicht mehr so leicht sein wird, die Differenz von acht Stunden auszunutzen, wenn unser Antrag angenommen wird, die Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden zu begrenzen. Mit dem Gesetzentwurf wird zugleich die begrenzte Ausweitung der Höchstarbeitszeit auf 50 statt bisher 60 Stunden vorgeschlagen. Damit sind den Betrieben ausreichende Flexibilisierungsmöglichkeiten gegeben. Strukturelle Mehrarbeitszeit wäre damit allerdings ausgeschlossen. Mit der von der PDS vorgeschlagenen Novellierung des Arbeitszeitgesetzes wird der Tendenz in deutschen Unternehmen entgegengewirkt, mit gesetzlich erlaubten langen Arbeitszeiten und Überstunden die Gesundheit der Beschäftigten zu untergraben sowie familiäres Leben und Kindererziehung negativ zu beeinflussen. Die Novellierung wird uns gleichzeitig Einsparungen auf weiteren Gebieten ermöglichen. Lassen Sie uns wenigstens dies auf den Weg bringen, damit wir vor Ende der Legislaturperiode noch ein weiteres positives Ergebnis vorweisen können. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion gebe ich dem Kollegen Matthäus Strebl das Wort.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über das Thema Arbeitsmarktpolitik. Die CDU/CSUBundestagsfraktion hat dazu den Antrag „Politik für mehr Beschäftigung statt organisationspolitischem Aktionismus“ eingebracht. Das ist ein programmatischer Titel, aber nach Schröders ruhiger Hand tut Programmatik Not. Im Wahlkampf 1998 lautete ein Slogan der SPD: Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser. ({0}) Gleichzeitig wollte sich Schröder an der Zahl der Arbeitslosen während seiner Amtszeit messen lassen. Er sagte: Sonst sind wir es nicht wert, gewählt zu werden. ({1}) Ich muss sagen, wo er Recht hat, hat er Recht. ({2}) Die Bilanz ist erschütternd: Die Politik der Bundesregierung hat Deutschland zwar überall Spitzenplätze eingebracht, allerdings nur im Kampf um den letzten Platz in der EU. Wir belegen den letzten Platz beim Wirtschaftsund Beschäftigungswachstum sowie bei Investitionen und beim Schuldenabbau, sind dafür aber Meister bei der Neuverschuldung. ({3}) Ich erinnere nur an den blauen Brief, den der Finanzminister Deutschlands noch in letzter Sekunde verhindern konnte. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erwerbslosenzahl lag zum Zeitpunkt des Regierungswechsels 1998 bei 3,89 Millionen - mit sinkender Tendenz. Aufgrund der demographischen Entwicklung scheiden jährlich, wie Kollege Niebel schon ausführte, 200 000 Menschen aus dem Arbeitsleben aus. Gleichzeitig ist eine stärkere Inanspruchnahme von vorruhestandsähnlichen Regelungen zu verzeichnen. 71 000 Menschen mehr als sonst sind im Jahr 2001 diesen Weg gegangen. Trotzdem haben wir im Frühjahr 2002 mehr als 4 Millionen Arbeitslose. Wir sind Lichtjahre von einer durchschlagenden Besserung entfernt. ({5}) Wenn die Zahl der Arbeitslosen derzeit unter 4 Millionen sinkt, so ist das nicht auf die angeblich gute Politik von Rot-Grün zurückzuführen, sondern auf die Vorruhestandsregelungen. Wir wissen alle - auch Sie von der rotgrünen Koalition -, dass jetzt vor allen Dingen geburtenschwache Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt drängen. Die Rezepte von Rot-Grün zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit kommen äußerst spät und fallen eher dürftig aus. ({6}) Das von Ihnen hochgelobte Job-AQTIV-Gesetz ist bislang erfolglos. Die durch die fehlerhaften Vermittlungsstatistiken ins Rollen geratene Reform der Bundesanstalt für Arbeit bleibt ebenfalls in ihren Ansätzen stecken. Eine Kommission einzusetzen, die Maßnahmen erarbeiten soll, deren Umsetzung auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben wird, genügt nicht. Die Aufgaben des Kolosses Bundesanstalt für Arbeit müssen wieder auf das Wesentliche zusammengefasst werden. Vor allen Dingen müssen die verkrusteten Strukturen der Arbeitsverwaltung aufgebrochen werden, ({7}) und zwar erstens durch die Einführung von Entscheidungs- und Kontrollebenen, die problemorientiert arbeiten, zweitens durch eine Arbeitsmarktpolitik, die in der Lage ist, regionale Besonderheiten zu berücksichtigen, ({8}) was eine Stärkung politischer Befugnisse auch der Länder voraussetzt, drittens durch eine genauere Abstimmung zwischen Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Wirtschafts-, Struktur-, Finanz- und Bildungspolitik auf Bundes- und Landesebene und viertens durch eine moderne Selbstverwaltung, die ihren Aufgaben und Zuständigkeiten verantwortlich und effektiv nachkommt. ({9}) Demgegenüber ist das Konzept der Union ein Konjunkturprogramm, das deutlich, effektiv und sozial gerecht gegen die Versäumnisse von Rot-Grün angeht. Für uns ist der „mitfühlende Sozialstaat“, in dem die vorhandenen Mittel auf diejenigen konzentriert werden, die sich nicht selbst helfen können, maßgebend. Dagegen müssen aber diejenigen, die das selbst können, bestärkt werden, Eigenverantwortung und Eigeninitiative zu entwickeln. Ein Mittel dafür ist die Steigerung der Attraktivität von Niedriglohnjobs, aber auch die Verzahnung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Dies hat auch eine Verzahnung von Arbeits- und Sozialämtern zur Folge. Einer der wichtigsten Punkte aber ist, den Arbeitsuchenden als eigenständiges Individuum anzusehen und entsprechend seiner Eignung zu vermitteln und zu fördern. Es bringt nichts, ihn heute in AB-Maßnahmen zu stecken, nur weil dort noch Plätze frei sind und der Arbeitslose damit die Statistik nicht mehr belastet. In der Vergangenheit wurde oftmals viel Geld dafür ausgegeben, der Arbeitslose aber war immer noch nicht zu vermitteln. Bildung ist eines der wichtigsten Standbeine für einen Suchenden auf dem Arbeitsmarkt. Die Aus- und Weiterbildung sollte aber zielgerichtet an den Fähigkeiten der Arbeitslosen sowie vor allen Dingen an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes orientiert sein. ({10}) Vermittlungsagenturen müssen in Job-Centern vor Ort den Suchenden einen guten Service anbieten. Dies macht eine Umschichtung des Personals erforderlich und gegebenenfalls muss eine Personalaufstockung folgen. Das in der Öffentlichkeit gepriesene Mainzer Modell, das in der heutigen Debatte schon angesprochen wurde, hat sich als totaler Flop herausgestellt. Bisher wurden von den rund 45 000 ausgegebenen Vermittlungsgutscheinen etwa 290 in Anspruch genommen. ({11}) Wir wollen, dass der Arbeitsuchende von Anfang an das Wahlrecht zwischen öffentlichen und privaten Vermittlern hat. Die Höhe des Gutscheins soll sich nach den zu erwartenden Vermittlungsschwierigkeiten und nicht nach der Dauer der Arbeitslosigkeit richten. Darüber hinaus ist das Arbeitsrecht wieder zu flexibilisieren: Sämtliche Restriktionen in der Zeitarbeitsbranche sind aufzuheben, die Möglichkeit zur Befristung von Arbeitsverhältnissen muss erweitert werden und - das ist sehr wichtig - betriebliche Bündnisse für Arbeit müssen gestärkt werden, weil vor Ort besser entschieden werden kann. ({12}) Dafür soll das Günstigkeitsprinzip des Tarifvertragsrechts dahin gehend geändert werden, dass neben Lohn und Arbeitszeit auch die Beschäftigungsaussichten berücksichtigt werden. Ich weiß, dass der Bundeskanzler nicht gern hört, was ich jetzt sage, aber auch in punkto Arbeitsplatzbeschaffung hat Bayern die Nase vorn. Mit dem „Beschäftigungspakt Bayern“, der 1996 ins Leben gerufen worden ist, hat Bayern 100 000 neue Arbeitsplätze geschaffen ({13}) und 300 000 gefährdete gesichert. Hier muss man auch sagen, dass es der DGB, die Arbeitgeber und die Wirtschaftsverbände gemeinsam geschafft haben, den gesamten Arbeitsmarkt in Bayern zu modernisieren. Überstunden werden abgebaut, Mobilitätshilfen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ein Fortbildungsprogramm für Behinderte und eine Existenzgründungsoffensive wurden geschaffen. ({14}) Der Erfolg spricht für sich: Bayern hat mit 5,3 Prozent die zweitniedrigste Arbeitslosenrate hinter Baden-Württemberg. Hätten wir die Zahlen von Bayern und Baden-Württemberg bundesweit, gäbe es in Deutschland ungefähr 1,8 Millionen Arbeitslose weniger. Das ist unser gemeinsamer Erfolg. Leider ist dieses Bündnis in Bayern auf Druck des Bundeskanzlers momentan außer Kraft gesetzt. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Strebl, kommen Sie bitte zum Schluss.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist recht, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schröders Bündnis für Arbeit auf Bundesebene ist hingegen gescheitert. Es reicht nicht aus, sich nur als Moderator bei den Gesprächen im Bündnis für Arbeit aufzuspielen. Nein, hier muss man auch Kreativität zeigen. Man muss sich durch konstruktive Gespräche um praktikable Lösungen mit einbringen. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, der derzeitigen Misere bei der Beschäftigung und in der Wirtschaft abzuhelfen. Die einzig gute und dementsprechend zugleich beste Möglichkeit ist, die Gelegenheit bei der Bundestagswahl zu nutzen. ({0}) Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben fundierte Konzepte entwickelt und in unseren Anträgen vorgeschlagen. Verehrter Herr Kollege Schmidt, sollten sie in der Debatte, die heute stattfindet, nicht berücksichtigt werden, vergehen zwar wertvolle Tage und Wochen zum Nachteil der Arbeitsuchenden, aber ich stelle heute fest, -

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Strebl, ich habe das Gefühl, Sie nehmen einen neuen Anlauf. ({0})

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ein Schlusssatz, Herr Präsident: Nach dem 22. September ergibt sich bestimmt die Gelegenheit, die vorgeschlagenen Punkte durchzusetzen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich darf die Fraktionen beruhigen. Mit Blick auf die vorangegangenen Redner ist der Ausgleich bei der Redezeit jetzt hergestellt. Nunmehr gebe ich dem Bundesarbeitsminister Walter Riester das Wort. Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Debatte zur aktiven Beschäftigungspolitik und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit könnte eine große Debatte sein. Das würde ich mir eigentlich wünschen. ({1}) Beschäftigungspolitik ist wesentlich mehr als nur Arbeitsmarktpolitik. Beschäftigungspolitik ist Wirtschafts-, Qualifizierungs-, Technologie-, Steuer- und Haushaltspolitik. In all dem spiegelt sich das, was sich an Beschäftigung entwickelt, wider. In den letzten drei Jahren - insbesondere im Jahre 2000, in dem es mit 3 Prozent Wachstum das stärkste Wachstum seit der Wiedervereinigung gab - ist die Beschäftigungspolitik noch sehr viel wichtiger geworden. ({2}) Insgesamt gab es einen Zuwachs von 1,2 Millionen Jobs. ({3}) Ich komme sehr gern auf die Opposition zu sprechen und weise auf die Ausgangsvoraussetzungen hin. Wie sahen 1998 die Rahmenbedingungen für das Wachstum aus? ({4}) Die Steuerbelastung, die Lohnnebenkosten und die Arbeitslosenzahlen waren in Deutschland so hoch wie nie zuvor. ({5}) Wir haben Schulden in Höhe von 1,5 Billionen DM übernommen. ({6}) Deswegen, meine Damen und Herren von der Opposition - ich meine beide Fraktionen -, sind Sie abgewählt worden. ({7}) Es gehört schon sehr viel Chuzpe dazu, sich hierher zu stellen und zu propagieren, dass Sie jetzt alles anders machen würden als in den letzten 16 Jahren. Sie bauen darauf, dass die Wähler vergessen, wenn Sie meinen, sie damit überzeugen zu können. ({8}) Allerdings sollten wir auch nicht von der Omnipotenz der Politik reden und so tun, als könne Politik allein dafür sorgen, dass Arbeitsplätze entstehen. ({9}) Nein, dazu sind mehrere Akteure notwendig. Wir sollten zwar die Chancen und Möglichkeiten sowie die Bilanz, aber auch die Grenzen der Arbeitsmarktpolitik aufzeigen. Damit komme ich zur Arbeitsmarktpolitik, dem eigentlichen Gestaltungselement, über das wir sprechen sollten und zum Teil hier auch gesprochen haben. Das erfreuliche Wachstum im Jahr 2000 hat weit mehr als 1 Million neue Arbeitsverhältnisse geschaffen. Das nützt aber bestimmten Beschäftigungsgruppen zunächst einmal gar nichts, ({10}) nämlich den jungen Menschen, die nicht einmal einen Hauptschulabschluss haben, sich aber auch mit Hauptschulabschluss sehr schwer tun würden, einen Job zu bekommen, und die schon zwei, drei Anläufe gemacht haben. Deswegen haben wir das JUMP-Programm mit einem hohen Mitteleinsatz aufgelegt, ohne zu wissen, ob wir das Ziel, 100 000 jungen Menschen einen Zugang zu Ausbildung, Weiterbildung oder Arbeit zu verschaffen, tatsächlich erreichen. Darauf, dass wir 440 000 jungen Menschen - das ist die aktuelle Zahl - gerade in den schwierigen Situationen in den neuen Bundesländern, in denen wir 50 Prozent dieser Mittel eingesetzt haben, zusätzliche Chancen eröffnet haben und sich inzwischen 75 Prozent dieser Menschen in Ausbildung, Arbeit oder Weiterbildung befinden, könnten wir eigentlich alle stolz sein. ({11}) Ich komme auf die nächste Gruppe zu sprechen, die mir sehr am Herzen liegt. Ich hätte mir gewünscht, dass damals das gesamte Parlament der Initiative zugestimmt hätte, schwerbehinderten Menschen Zugang zu Arbeit zu verschaffen. Das ist mit Wachstum allein nicht zu schaffen. ({12}) Sie haben Anspruch darauf, dass ihnen die Politik besondere Chancen vermittelt. Wir, die Wirtschaft, die Gewerkschaften, die Behindertenverbände und die Politik, haben gemeinsam versprochen, dafür zu kämpfen, dass die Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter in zwei Jahren bis zum Oktober dieses Jahres um 25 Prozent bzw. um 50 000 gesenkt wird. ({13}) - Herr Fuchtel, es kann durchaus sein, dass das Ziel nicht ganz erreicht wird. Aber dass wir die Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten schon um 17 Prozent gesenkt haben, ist durch unsere Aktivitäten möglich geworden, gegen die Sie damals gestimmt haben. Mit Nichtstun haben wir das nicht geschafft. Nichtstun leistet gar nichts. ({14}) Ich komme auf die dritte Gruppe, die der Langzeitarbeitslosen, zu sprechen. Ich freue mich darüber, dass es insgesamt 278 000 Langzeitarbeitslose weniger gibt als 1998. ({15}) Das sind diejenigen, die wenig Chancen haben, die eben keine flexiblen Angebote am Arbeitsmarkt bekommen, sondern die Unterstützung durch die Arbeitsmarktpolitik benötigen. ({16}) Nun komme ich zu einem vierten Bereich, über den wir seinerzeit im Parlament kontrovers diskutiert haben. Vielleicht wird sich der eine oder andere etwas korrigieren. Als ich das Gesetz zur Förderung der Teilzeitarbeit eingebracht habe, habe ich darauf hingewiesen, dass der jetzige Kandidat der CDU/CSU eine Woche vorher im „Spiegel“ erklärt hatte, er wolle den Teilzeitanspruch für alle Industriearbeiter und Industriearbeiterinnen einführen. Als wir diesen Anspruch dann eingeführt haben, hat die Opposition dagegen gestimmt. Es wurde geschrien, dadurch würden Teilzeitarbeitsplätze abgebaut und dabei handele es sich um ein Beschäftigungsprogramm für Juristen. ({17}) Vor zwei Wochen haben wir Bilanz gezogen. In einem Jahr ist die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze um 320 000 gestiegen. ({18}) Für viele Menschen ist das die einzige Möglichkeit, ein Arbeitsverhältnis aufrechtzuerhalten, weil sie Familienarbeit mit Erwerbsarbeit verbinden oder andere Gründe haben, nur Teilzeitarbeit verrichten zu können oder zu wollen. ({19}) Dass das möglich ist, dafür haben wir gesorgt und darüber bin ich sehr froh. ({20}) - Das wollen Sie abschaffen. Die 630-Mark-Arbeitsverhältnisse sind auch ein schönes Thema. In vielen Arbeitsämtern bin ich darauf hingewiesen worden, was die alte Regelung bewirkt hat: Es war nicht nur so, dass die 4 Millionen bis 5 Millionen Menschen damals keinerlei Anspruch auf soziale Leistungen hatten. Vielmehr haben - man kann es offen aussprechen - viele Menschen, die Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe bezogen haben, zwei oder drei solcher Jobs angenommen. Bundesminister Walter Riester Das war nicht kontrollierbar. Diese Menschen waren nicht mehr vermittelbar. Das alles wollten Sie nicht korrigieren. Die Erosion unserer Sozialversicherungssysteme haben Sie wissentlich in Kauf genommen. Wir haben uns mancher Kritik ausgesetzt. Aber manchmal muss man für richtige und notwendige Dinge kämpfen, auch wenn es Kritik auf breiter Front gibt. ({21}) Doch dabei bleiben wir nicht stehen. Richtig ist: Wir wollen und müssen die Arbeitsweise der Bundesanstalt für Arbeit verbessern. Wir wollen flexible und effiziente Dienstleistungszentren am Arbeitsmarkt. ({22}) Die Probleme, die wir jetzt bewältigen müssen, sind ja nicht in zwei, drei Jahren entstanden. Sie sind vielmehr das Produkt von 20 Jahren, in denen Sie sich um die Lösung der Probleme nicht gekümmert haben. ({23}) Wir stehen zu unserer Politik. Wir gehen die Probleme an. Wir werden die Hilfe in einem Gesamtsystem zusammenführen. Das wird die 2,4 Millionen Menschen, die Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe beziehen, schneller in Arbeit bringen. ({24}) - Was haben Sie, der mir vorhin zugerufen hat, wir hätten vier Jahre Zeit gehabt, etwas zu tun, in den 16 Jahren getan, als Sie regiert haben? - Nichts haben Sie getan! ({25}) Sie haben nichts weiter anzubieten als den entlarvenden Vorschlag, den der Vorsitzende der Unionsfraktion vor kurzem - dankenswerterweise - eingebracht hat. Er hat gesagt, 20 Milliarden Euro für die Familienförderung werde er durch das Zusammenführen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe finanzieren. Ich kann dazu nur sagen: Der Mann kann nicht rechnen; ({26}) denn die Kosten für die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe belaufen sich zusammen auf 18,7 Milliarden Euro. Es würde also selbst dann nicht reichen, wenn er den Menschen jeden Pfennig wegnähme. Dieser Vorschlag zeigt aber, wohin die Reise gehen soll. Ich sage: Mit uns nicht! ({27}) Herr Grehn, Sie haben mich aufgefordert, auf einen Vorschlag der PDS einzugehen. Das möchte ich gerne machen. Sie haben eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes vorgeschlagen, um den Abbau von Überstunden voranzubringen. Ich glaube nicht - das meine ich ganz ernst -, dass wir es damit schaffen werden. Wir haben nach einem langen Anlauf in der Tarifpolitik durchgesetzt - ich habe damals verhandelt -, dass es beispielsweise jedem Betrieb in der Metall- und Elektroindustrie freisteht, Überstunden durch Zeitausgleich abzugelten. Diese Regelung gilt seit sechs Jahren. Wenn ich sehe, wie wenig das an der Praxis in den Betrieben verändert hat, dann habe ich nicht die Illusion, dass sich durch eine gesetzliche Änderung in diesem Bereich wirklich Nennenswertes erreichen lässt. Wenn ich mir die Entwicklung der Arbeitszeit bei den 1,2 Millionen Arbeitsplätzen, die wir zusätzlich geschaffen haben, genau ansehe, dann stelle ich auch fest, dass die durchschnittliche Arbeitszeit pro Beschäftigten sinkt. Das ist eine Veränderung im Vergleich zu früher. Hier haben sich Einstellungen verändert. Auch der Anteil an Teilzeitarbeit hat sich verändert. Ich bin nicht mehr der Auffassung, dass wir durch eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes das Problem, das bei einem Teil der Beschäftigten massiv auftritt, wirklich lösen können. Das glaube ich nicht mehr. ({28}) Herr Strebl hat gesagt, man solle doch bitte schön nicht so viel ABM machen. Das löse doch das Problem nicht. Können Sie sich noch erinnern, was vor vier Jahren war? - Da Sie sich offensichtlich nicht erinnern können, werde ich es Ihnen sagen: Im Jahr 1998 ist die Zahl der Menschen, die in ABM und SAM waren, wahlkampfbedingt auf 525 000 gestiegen. Diese Menschen sind damit aus der Statistik herausgenommen worden. Im Moment liegt diese Zahl bei 180 000. Sie haben also damals über 300 000 Menschen aus der Statistik herausgenommen. Wenn wir dies auch machen würden, dann wären wir sehr nahe an dem, was sich der Kanzler gewünscht hat, nämlich die Arbeitslosenzahl auf 3,5 Millionen zu senken. Doch eine solche Täuschungspolitik machen wir nicht. ({29}) Wir wollen nicht die Statistiken fälschen, sondern den Menschen helfen. Wie sich gezeigt hat, haben sich die Wähler von Ihnen nicht täuschen lassen. Sie haben Sie auch wegen Ihrer statistischen Tricks abgewählt. ({30}) Ich denke, dass wir im Rahmen dessen, was Politik leisten kann, alles getan haben, um Impulse für zusätzliche Beschäftigung zu schaffen. Ein guter Beleg dafür ist, dass wir 1,2 Millionen zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse geschaffen haben. Ich meine, dass wir alles getan haben, um denen zu helfen, denen Wachstum allein keine Chancen bringt: jungen Menschen mit schlechter Qualifikation und schlechten Berufsaussichten, schwerbehinderten Menschen, Langzeitarbeitslosen, Menschen, die Teilzeitarbeit brauchen. Wir werden diesen Weg konsequent weitergehen. Denn Beschäftigung zu schaffen, Rahmenbedingungen zu verbessern, die Arbeitsmarktpolitik für die einzusetzen, die Unterstützung brauchen, wird das HauptBundesminister Walter Riester anliegen einer sozialdemokratisch geführten Regierung bleiben. So werden wir weiter argumentieren. Ganz am Schluss eine Bemerkung zu Ihrem Spruch, Herr Niebel. Es mag ja sein, dass meine Beine kürzer als Ihre sind. Nur, für die Argumentation hat das keine Bedeutung; denn im Gegensatz zu Ihnen argumentiere ich mit dem Kopf und nicht mit dem, was sich unmittelbar an die Beine anschließt. Danke schön. ({31})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zum Abschluss der Debatte spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Ernst Hinsken. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Riester, ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie hier das Bild von einer heilen Welt zeichnen. ({0}) Es ist doch unbestritten, dass seit Dezember 2000 die Zahl der Arbeitslosen permanent steigt und diese Zahl sich in der Zwischenzeit auf über 200 000 beläuft. Ich möchte Sie bei dieser Gelegenheit daran erinnern, was alles vor vier Jahren versprochen wurde. Da sagte Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sei sein primäres wirtschaftspolitisches Ziel und das werde die rot-grüne Bundesregierung mittragen. ({1}) Dieses Versprechen wurde nicht erfüllt, Herr Kollege Strebl, Sie sagen es. Im Gegenteil, die Zahl der offiziell Arbeitslosen liegt bei über 4 Millionen und damit auf dem Niveau zur Zeit der Regierungsübernahme im Herbst 1998. Die tatsächliche offene und verdeckte Arbeitslosigkeit übersteigt aber die 4-Millionen-Grenze weit, sie liegt bei circa 5,6 Millionen Menschen. Dahinter verbergen sich über fünf Millionen Einzelschicksale. Aufgabe einer Regierung sollte, ja müsste sein, das, was man verspricht, auch zu halten. Dass Herr Schröder gesagt hat, dass er, wenn er die anvisierte Zahl von 3,5 Millionen nicht erreicht, es nicht verdiene, wiedergewählt zu werden, ist den Bürgern nochmals ins Gedächtnis zu rufen. Sie sollen danach handeln. ({2}) Nationale und internationale Experten wie der IWF, die OECD, der Sachverständigenrat, die Wirtschaftsforschungsinstitute weisen als Hauptursache für diese Zielverfehlung die kontraproduktiven Eingriffe seitens des Staates in den Arbeitsmarkt aus. Die Bürger spüren das. Sie spüren, dass es Zeit wird für einen Wechsel. Sie sind nicht mehr bereit, diese Politik hinzunehmen, für die Sie verantwortlich zeichnen. ({3}) Ich bin ehrlich genug, festzustellen, dass die Arbeitsmarktregulierungen der größte Hemmschuh für eine Vollbeschäftigung in der Wirtschaft sind. Es müssen aber dagegen Maßnahmen ergriffen werden, damit die Wirtschaft wieder in Schwung kommt. Zu denken geben müssen uns besonders die Arbeitsmarktzahlen für den Mai. Kollege Meckelburg hat hierüber bereits einiges gesagt. Wir können es nicht wegdiskutieren, sondern müssen leider zur Kenntnis nehmen, dass sich Deutschland durch Versagen der eigenen Regierung in dieser Beziehung auf dem letzten Platz in Europa befindet. Nach wie vor sind wir Träger der roten Laterne und werden diese wegen verfehlter Politik der Bundesregierung nicht los. ({4}) Es muss doch jeden aufschrecken und jedem zu denken geben, dass wir allein in diesem Jahr mehr als 40 000 Insolvenzen zu erwarten haben. ({5}) Das heißt, verehrte Kollegin, dass jeden Tag in der Bundesrepublik Deutschland mehr als 100 Firmen über die Klinge springen, in die Insolvenz gehen. Das kann doch nicht so weitergehen. Die Bürger sind gut beraten, eine andere Weichenstellung vorzunehmen, damit das aufhört und es in der Bundesrepublik Deutschland wieder eine Zukunft gibt - für Arbeitslose, für Arbeitnehmer, aber auch für Inhaber mittelständischer Betriebe, die dringend einen Wechsel erwarten. Ich muss bei der Gelegenheit auch sagen, dass die Konjunkturumfrage des Zentralverbands des Deutschen Handwerks leider ausweist, dass alle entscheidenden Indikatoren - Aufträge, Investitionen, Umsätze, Beschäftigungszahlen nach unten zeigen. Die Geschäftslage wird so schlecht eingeschätzt wie seit 1992 nicht mehr. Die Folge: Im Handwerk zum Beispiel werden in diesem Jahr noch einmal 60 000 bis 100 000 Arbeitsplätze wegfallen, nachdem bereits im Jahre 2001 rund 200 000 Jobs verloren gingen. Herr Minister, das muss Ihnen zu denken geben. Weiter ist festzustellen, dass wir leider nicht mehr die vielen Existenzgründer haben, die wir dringend brauchen. In den letzten zehn Monaten waren es gerade sieben von 1 000 Menschen, die ein Unternehmen gegründet haben. Dabei muss uns klar sein, dass jedes neu gegründete Unternehmen drei bis vier Arbeitsplätze schafft. Unternehmen werden aber nur gegründet, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. In Dänemark zum Beispiel waren von 1 000 Menschen acht Gründer, in Italien zehn, in Indien elf, in den USA zwölf und in Mexiko sage und schreibe 19. Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland gibt es immer weniger Selbstständige. Von einem Gründerland Deutschland kann man unter Rot-Grün längst nicht mehr reden. Bundesminister Walter Riester Ein Land, das seine Gründer vernachlässigt, verliert an Wirtschaftswachstum. Die Länder mit der höchsten Gründerquote haben auch das höchste Wirtschaftswachstum. So liegt in der EU Irland zum Beispiel seit drei Jahren ganz weit vorn. ({6}) - Passen Sie mal auf! Sie haben es dringend nötig, Nachhilfeunterricht zu bekommen, weil Sie nicht auf der Höhe der Zeit sind. Sie sollten einmal aufpassen, um einiges mitzunehmen, damit Sie in Zukunft nicht mehr so dumme Zwischenrufe machen, wie das jetzt ständig der Fall ist. ({7}) - Herr Schmidt, ich habe nicht von Ihnen, sondern von Ihrer Kollegin gesprochen. ({8}) 9,4 Prozent Wirtschaftswachstum hat Irland. Das ist fünfmal mehr als bei uns in der Bundesrepublik Deutschland. Wir liegen nur bei einem Wert von 1,8 Prozent. Wir müssen alles tun, um vor allem den Weg in die Selbstständigkeit zu ebnen, und wieder viele Leute animieren, dazu bereit zu sein, das auf sich zu nehmen und Betriebe, gleich, in welcher Branche, zu schaffen. Dazu ist es erforderlich, dass wir die Bürokratie abbauen. Dazu ist es erforderlich, dass das 630-DM-Gesetz wieder geändert wird, ({9}) dass das Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit geändert wird, dass der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit geändert wird, dass das Betriebsverfassungsgesetz wieder geändert wird usw. Ich darf Ihnen sagen: In den ersten 100 Tagen nach dem 22. September werden wir das alles auf den Weg bringen, damit die Wirtschaft in Deutschland wieder laufen kann. ({10}) Deutschland, das frühere Musterkind der EU, ist zum Sorgenkind geworden. In keinem anderen EU-Land - das sollte Ihnen auch zu denken geben - ist die Arbeitslosigkeit höher als in den neuen Bundesländern. Sie liegt dort bei 18,1 Prozent. Spanien liegt mit mehr als 6 Prozentpunkten weniger an zweiter Stelle. In Ostdeutschland gab es 1998 5,95 Millionen Erwerbstätige. Heute sind es nur noch 5,7 Milllionen. Herr Schwanitz, die Chefsache Ost war ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm und hat uns nicht weitergebracht. Ich sage dazu abschließend: Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland eine vernünftige Arbeitsmarktordnung. Die Arbeitsmarktordnung muss zum Generalüberholen in die Werkstatt gebracht werden. Was wir brauchen, ist: erstens mehr Deregulierung statt Bürokratisierung; zweitens, flexiblere Arbeitszeiten statt eines umfassenden Rechtsanspruchs auf Teilzeitarbeit; drittens, mehr akzeptable befristete Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitgeber und Arbeitnehmer; ({11}) viertens, Abbau von Einstellungshemmnissen statt des neuen Betriebsverfassungsgesetzes; fünftens, Anreize zur Arbeitsaufnahme im Niedriglohnsektor; sechstens, endlich Entlastung statt immer neuer Belastung; siebtens, eine positive Einstellung zu Leistung und Eigenverantwortung ({12}) und achtens, eine Regierung, die Deutschland wieder nach vorn bringt, ({13}) und nicht das, was Sie in den letzten Jahren an den Tag gelegt haben. Deutschland hat es verdient, wieder eine Regierung zu bekommen, die uns in Europa an die Spitze bringt und die die SPD und die Grünen, die in den letzten vier Jahren versagt haben, ins Abseits stellt. ({14})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/8715 und 14/8287 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Der Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/9225 - Ta- gesordnungspunkt 5 a -, dessen Titel nunmehr lautet: „Chancen auf Arbeit für alle - Offensive in der Arbeits- marktpolitik“, soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 5 d: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksa- che 14/9256 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Politik für mehr Beschäftigung statt orga- nisationspolitischem Aktionismus“. Der Ausschuss emp- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8363 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Zusatzpunkt 7: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/6113 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit ist das Haus einverstanden. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Zusatzpunkt 8: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 14/9221 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Arbeitsrecht flexibilisieren - Beschäftigung schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa- che 14/8267 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 d sowie die Zusatzpunkte 9 und 10 auf: 6. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({0}) - Drucksache 14/8941 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Verteidigungsausschuss d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der FDP Atomteststoppvertrag ratifizieren - Drucksachen 14/2041, 14/4376 Berichterstattung: Abgeordnete Uta Zapf Christian Schmidt ({3}) Rita Grießhaber Ulrich Irmer Wolfgang Gehrcke ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Petra Ernstberger, Uta Zapf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Angelika Beer, Rita Grießhaber, Dr. Helmut Lippelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Maßnahmen gegen eine Bedrohung durch biologische Waffen - Drucksache 14/9240 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Rainer Arnold, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Angelika Beer, Rita Grießhaber, Dr. Helmut Lippelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine kooperative Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik - Drucksache 14/9241 Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Uta Zapf für die Fraktion der SPD das Wort.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich am Anfang ein Zitat aus dem Jahresabrüstungsbericht 2001 anführen. Ich zitiere: Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung spielen eine zentrale Rolle im Rahmen einer erfolgreichen kooperativen Sicherheitspolitik. Sie sind ein unverzichtbares Gestaltungselement einer auf Zusammenarbeit und auf gemeinsamen verbindlichen Regeln sich gründenden Sicherheitsordnung und ein unverzichtbares Mittel zur vorausschauenden Verhütung von Krisen und Konflikten wie zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Im Rahmen der Terrorismusbekämpfung kommt der Rüstungskontrolle zudem eine wichtige Aufgabe vor allem im Hinblick auf die Verhinderung des Zugriffs nicht staatlicher Akteure auf Massenvernichtungswaffen zu. Diese Aussage, mit der der Jahresabrüstungsbericht beginnt, ist eine ganz wichtige Aussage, weil sie präzise den Stellenwert markiert, den Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung angesichts neuer Konflikte und neuer Bedrohungen in unserer Welt haben und haben müssen. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung nachdrücklich in ihrem Bemühen, das vorhandene Instrumentarium der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung zu stärken, fortzuentwickeln und den sich verändernden sicherheitspolitischen Herausforderungen anzupassen. Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag vorgelegt. Ich empfehle ihn Ihnen zur Lektüre, obwohl er ziemlich lang ist, weil er sehr genau im Einzelnen beschreibt, welche Positionen wir unter dem Gesichtspunkt dieses Zitates beleuchtet haben. ({0}) - Darüber wird direkt abgestimmt, Herr Kollege. - Mit diesem Antrag unterstützen wir ausdrücklich die Politik der Bundesregierung. Im Übrigen muss ich sagen, dass wir in unserem Ausschuss insgesamt kooperative Rüstungskontrolleure sind. Sowohl die Kooperation mit der Bundesregierung als auch die interfraktionelle Kooperation kann man immer als gut oder ausgezeichnet bezeichnen. Wir bedanken uns auch ausdrücklich bei der Bundesregierung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist einiges Positive in dem Bericht zu finden; ich nenne es nur in Stichworten. Das Erste ist, dass endlich, nach zehn Jahren, der Vertrag über den Offenen Himmel in Kraft getreten ist. Das Zweite ist, dass die Fortschreibung des KSE-Vertrags jetzt offensichtlich vor der Ratifizierung steht. Auch dies ist ein positiver Aspekt im rüstungskontrollpolitischen Bereich. Die wichtigste Aussage in diesem Bericht - ich finde, das ist viel zu wenig bekannt; deshalb werde ich hier etwas ausführlicher darauf eingehen - ist aber, dass die europäischen Außenminister eine rüstungskontrollpolitische Initiative beschlossen haben. Diese rüstungskontrollpolitische Initiative ist meines Erachtens wegweisend, um der internationalen terroristischen Bedrohung im Bereich der Massenvernichtungswaffen effektiv zu begegnen. Diese Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Initiative definiert vier wichtige Handlungsfelder: multilaterale Instrumente - dazu habe ich schon etwas gesagt -, Exportkontrollen - auch dies ist ein zunehmend wichtiges Instrument -, internationale Kooperation und politischer Dialog. Ich denke, dies ist ein wichtiger Ansatz. Diese multilateralen Instrumente waren in der Vergangenheit in der Tat sehr erfolgreich. Ich denke dabei zum Beispiel an den Nichtverbreitungsvertrag und an das Chemiewaffenübereinkommen, aber auch an das Übereinkommen von Ottawa zu den Landminen. Das Chemiewaffenübereinkommen hat ein Verifikationsprotokoll, das die Kontrolle der Einhaltung des Verbots dieser Konvention ermöglicht und Transparenz durch die Deklarationspflicht und Vertrauen durch Inspektionen schafft. Leider ist dies bisher für das Übereinkommen bezüglich biologischer Waffen nicht gelungen. Wir hoffen sehr, dass bei der Verlängerung der 5. Überprüfungskonferenz im November 2002 Fortschritte in dieser Richtung zu erzielen sind. Das Ziel wäre jedenfalls, ein verpflichtendes Protokoll zu erreichen. ({1}) Die Entwicklung und Verbreitung von Trägertechnologien, die auch Massenvernichtungswaffen über längere Strecken transportieren können, ist in der Diskussion über die Proliferation in den letzten Jahren eines der Hauptthemen gewesen. Die Bedrohung durch so genannte Schurkenstaaten, die über Massenvernichtungswaffen verfügen, hat zu einer langjährigen, auch kontroversen Debatte über Raketenabwehrsysteme geführt. Iraks offenbar gewordene Raketenprogramme, die Tests in Nordkorea und die Raketenentwicklung im Iran haben uns aufgeschreckt. Deshalb begrüßen wir es ausdrücklich, dass sich jetzt auch im Bereich der Raketentechnologie und ihrer Kontrolle Fortschritte andeuten. Die Fortentwicklung des Missile Technology Control Regime, das bisher nur ein Exportkontrollregime ist, zu einem verbindlichen völkerrechtlichen Vertrag wäre äußerst wünschenswert. Ein erster Schritt in diese Richtung wird ein internationaler Verhaltenskodex sein. Das wird von uns ausdrücklich unterstützt. Der sicherheitspolitische Dialog ist ein weiterer wichtiger Schritt. Ich erinnere daran, dass dieser Dialog im Bereich des Iran seit Jahren von der EU, aber auch von der Bundesrepublik geführt wird. Ich denke, es ist ein Erfolg versprechender, kooperativer Weg. Dasselbe gilt zum Beispiel für Nordkorea und das Programm, mit dem Nordkorea dessen Produktion von waffengrädigem Material abgekauft werden soll, und die Verhandlungen über Raketentests, die dazu geführt haben, dass dort ein Moratorium zustande kam. Dies ist ein wirklich positiver Weg. Wir sollten ihn weiter beschreiten. Herausragendes abrüstungspolitisches Ereignis, das in diesem Jahresbericht noch nicht enthalten ist, ist der amerikanisch-russische Vertrag von Ende Mai zur Abrüstung der jeweiligen Kernwaffenbestände um zwei Drittel auf jeweils 1 700 bis 2 200 Gefechtsköpfe. Wir begrüßen diesen Vertrag ausdrücklich, denn jeder Abrüstungsschritt und besonders ein so massiver Abrüstungsschritt ist uns willkommen. Aber es gibt in dieser Diskussion auch einen Wermutstropfen. Wir sind zufrieden, dass es ein völkerrechtlicher Vertrag ist, aber es ist ein Vertrag, der nur bis 2012 gilt und der mit einer Frist von drei Monaten aufgekündigt werden kann. Die Vorkehrungen sehen auch nicht vor, dass die Gefechtsköpfe vernichtet werden. Das heißt, die Irreversibilität dieses Vertrages ist nicht gegeben. ({2}) Dies erfüllt mich - das sage ich in aller Offenheit - mit tiefer Sorge; denn dadurch wird die Flexibilität ermöglicht, die in der amerikanischen „Nuclear Posture Review“ eingefordert wird und die zu einem erneuten schnellen Aufwuchs führen kann. Darüber hinaus bedeutet es die Option, neue Kernwaffen herzustellen. In diesem Zusammenhang ist ein wichtiger Punkt, dass wir auch weiterhin dafür eintreten, dass der Atomteststoppvertrag ratifiziert wird und in Kraft tritt. ({3}) Dies ist leider im Moment nicht absehbar, weil deutliche Aussagen der Bush-Administration da wenig Hoffnung machen. Angesichts der aktuellen Lage in Indien und Pakistan, angesichts der Tatsache, dass diese beiden Staaten keinem Nichtverbreitungsregime angehören, dürfte es starke Auswirkungen haben, dass zurzeit keine Chance auf ein InKraft-Treten des Atomteststoppvertrages besteht. Denn es bestand eine gewisse Hoffnung, dass sich diese beiden Staaten dem Vertrag anschließen würden. Ich denke, diese Chance wird nun geringer. Wir werden weiterhin dafür eintreten, dass die nukleare Abrüstung, wie es auch auf der Überprüfungskonferenz einstimmig erklärt worden ist, zur endgültigen Abschaffung von nuklearen Waffen führt, weil nur dies allein uns von dem schwierigen Thema der Proliferation befreien kann. Die frei flottierenden Bestände an abgerüstetem Waffenplutonium machen uns schon genügend Kopfzerbrechen, ebenso wie die Beseitigung chemischer Waffen, die bisher allerdings sehr erfolgreich war. In den Bereichen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nonproliferation haben wir noch viel zu tun. Angesichts der Situation der Bedrohung durch Terrorismus, in der wir uns zurzeit befinden, müssen wir diese Aufgabe sehr ernst nehmen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Eckart von Klaeden.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich habe gerade mit dem Kollegen Karl Lamers darüber gesprochen, wie bemerkenswert es doch ist ({0}) - das nicht, Frau Kollegin, aber für dieses Kompliment bedanke ich mich -, dass wir hier in Fragen der Abrüstungspolitik im Wesentlichen übereinstimmen. Das ist nun wirklich nicht immer so gewesen. ({1}) - Das bemerke ich ja gerade, Frau Vorsitzende. - Deswegen, Frau Kollegin Zapf, ist es mir in Wahlkampfzeiten dann doch eine besondere Freude, Ihnen in einem wesentlichen Punkt widersprechen zu können: Über den Jahresabrüstungsbericht wird heute nicht abgestimmt, sondern er wird in die Ausschüsse überwiesen. ({2}) Meine Damen und Herren, am 11. Mai 1998 erklärte der damalige Bundesaußenminister Kinkel: Ich fordere die neue indische Regierung dazu auf, zur Politik der nuklearen Zurückhaltung ihrer Vorgänger zurückzukehren und die Unterzeichnung des Atomteststoppvertrages so bald als möglich nachzuholen. Seit dieser Erklärung sind mehr als vier Jahre vergangen. Die Tageszeitungen der vergangenen Tage befassen sich auf ihren Titelseiten mit einem Thema: einem drohenden atomaren Krieg zwischen Indien und Pakistan. Die Vereinigten Staaten und Großbritannien haben ihre Staatsangehörigen aufgefordert, die Region zu verlassen, und auch die Vereinten Nationen haben ihre Mitarbeiter abberufen. Die Lage ist so ernst wie lange nicht mehr. Den Atomteststoppvertrag haben Indien und Pakistan übrigens immer noch nicht ratifiziert. Sie sind leider nicht die Einzigen. Im Januar 2002 fehlten die Ratifizierungsurkunden von 13 der 44 im Vertrag genannten Staaten mit der Folge, dass der Vertrag bislang nicht in Kraft getreten ist. Die Sorge, dass auch Staaten wie der Irak, Nordkorea oder der Iran in absehbarer Zeit über Atomwaffen verfügen könnten, wächst. Gerade der Nahe und Mittlere Osten ist eine problematische Region. Der Iran treibt sein ziviles Nuklearprogramm voran und wird verdächtigt, auch Atomwaffen bauen zu wollen, obwohl er den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben hat. Der Irak schließlich hatte nach Erkenntnissen westlicher Geheimdienste eine Kernwaffe zu Beginn des zweiten Golfkrieges schon fast fertig. Über Kapazitäten Israels bezüglich Nuklearwaffen gibt es keine klaren Erkenntnisse. Die Proliferation, also die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, wird als eine der Hauptursachen für weltweite Instabilität und Gefahr betrachtet. So sind Rüstungsexperten davon überzeugt, dass zum Beispiel Nordkorea, obwohl es sich 1999 auf Druck der USA zu einem Testmoratorium verpflichtet hat, andere Staaten weiter mit Raketen und Raketentechnologie beliefert. Gleiches gilt für biologische Waffen. Die Biowaffenkonvention aus dem Jahre 1972, die von den Vereinigten Staaten und 142 weiteren Staaten ratifiziert worden ist, verbietet die Entwicklung, Herstellung und Verbreitung biologischer Waffen. Die Gefahr aber, dass frustrierte Wissenschaftler, vor allem aus den früheren Ostblockstaaten, dazu verleitet werden könnten, ihr Wissen an den Meistbietenden zu verkaufen, ist nach wie vor vorhanden, ja wächst sogar. ({3}) Dabei ist der Einsatz biologischer Waffen besonders perfide. Im Unterschied zu Sprengstoffanschlägen, die selber schon grausam genug sind, würden Angriffe mit todbringenden Bakterien oder Viren anfangs gar nicht bemerkt. Die Menschen könnten die Wolke mit den Erregern weder sehen noch riechen oder schmecken. Erst nach Tagen oder Wochen, je nach eingesetzter Mikrobe, brächen die ersten Infektionen aus. Die Befallenen würden in Praxen und Kliniken mit Symptomen einer merkwürdigen Seuche erscheinen, die nur die wenigsten Ärzte jemals gesehen haben. Die britische Regierung hat vor einiger Zeit geheime Tests aus den 60er-Jahren veröffentlicht. Bei einem Angriff mit biologischen Waffen, so stellte man damals bereits fest, könnte das U-Bahn-Netz Londons binnen weniger Stunden weiträumig verseucht werden. Diese Gefahr, so die Schlussfolgerung, bestehe auch heute. Die Folgen wären enorm, da die Zahl der Opfer die Zahl aller bisherigen großen Unfälle weit übertreffen würde. Auch wenn britische Politiker die Angriffe in den 60erJahren, also während des Kalten Krieges, vonseiten der Sowjetunion befürchtet hatten: Die Gefahr des Angriffs mit biologischen und chemischen Waffen besteht weiter, ja, sie ist seit dem Golfkrieg und spätestens seit den Anschlägen vom 11. September so real wie selten zuvor. Dennoch wird leider weiter an der Entwicklung biologischer Waffen gearbeitet. Hierbei geht es nicht nur um Staaten. Besonders teuflisch ist vielmehr, dass vor allem Terroristen, die sich schwer kontrollieren lassen, an Massenvernichtungswaffen interessiert sind. Was sich aber kontrollieren lässt, ist das Vorfeld, nämlich die Entwicklung und Weitergabe von Technologie und Trägersystemen solcher Waffen. So ist es gut und wichtig, dass wir uns heute mit abrüstungspolitischen Themen befassen und gemeinsam versuchen wollen, einige wichtige Abkommen der Ratifizierung bzw. der Stärkung entgegenzubringen. ({4}) Zunächst möchte ich auf einige abrüstungspolitische Erfolge hinweisen, die der Jahresabrüstungsbericht aufzeigt. Zu diesen Erfolgen zählt sicherlich die von den EU-Außenministern verabschiedete rüstungspolitische Initiative, die das Ziel hat, vor allem nicht staatlichen Akteuren den Zugang zu Massenvernichtungswaffen zu verwehren. Wünschenswert wäre aber eine verstärkte Zusammenarbeit in der EU über die tägliche Arbeit der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik hinaus. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind es wert, in der Europäischen Union zu einem wichtigeren Thema zu werden. Auch das Anpassungsübereinkommen zum KSE-Vertrag, das im Jahr 2000 nicht in Kraft treten konnte, nun aber aufgrund der von Russland erklärten Truppenbegrenzungsverpflichtung aller Wahrscheinlichkeit nach in Kraft treten kann, ist ein guter Fortschritt. Diese beiden Beispiele zeigen, dass Fortschritte bei der Abrüstung und Rüstungskontrolle zwar mühsam sind, aber durchaus erreicht werden können. Ein Erfolg, der absehbar, im Bericht aber noch nicht erwähnt worden ist, ist das Abkommen über die Reduzierung der strategischen Angriffspotenziale, das Präsident Bush und Präsident Putin vor kurzem in Moskau unterzeichnet haben; Kollegin Zapf hat es schon angesprochen. Nun soll man sich aber mit den bisherigen Erfolgen nicht zufrieden geben. Zwar haben wir mit den existierenden Abrüstungs- und Rüstungskontrollregimen bereits gute Fortschritte erzielt. Doch angesichts der derzeitigen schwierigen weltpolitischen Lage - die gegenwärtigen regionalen Krisenherde zeigen es - sind weitere Maßnahmen dringend erforderlich. Deshalb bedauern wir die Aufkündigung des ABMVertrages durch die Vereinigten Staaten. Deren Bestreben, auch unilateral für die Gewährleistung ihrer militärischen Sicherheit zu sorgen, ist seit dem 11. September letzten Jahres aber besonders nachvollziehbar. Zudem bedeutet dies nicht - das hat Präsident Bush bei seinem Besuch in Deutschland ausdrücklich erklärt -, dass diese Maßnahmen zulasten kollektiver Sicherheitssysteme gehen sollen. So wird meine Fraktion, auch angesichts der einleitend geschilderten Bedrohungssituation, dem Antrag zur Schaffung geeigneter Kontrollinstrumente, mit denen die Einhaltung der Verbotsbestimmungen des Biowaffenübereinkommens gefordert wird, zustimmen und auch nicht gegen die Initiative zur Ratifizierung des Atomteststoppvertrages stimmen. ({5}) Besondere Bedeutung messe ich - das möchte im zum Schluss noch einmal sagen - dem Verbot biologischer Waffen und - ich erwähnte es bereits - der Einschränkung der Proliferation bei. Auch sollte auf die Kontrolle gentechnischer Entwicklungen in diesem Zusammenhang ein stärkeres Gewicht gelegt werden. Ich will aber auch nicht versäumen zu sagen, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle in ein sinnvolles und zielgerichtetes außen- und sicherheitspolitisches Konzept eingebunden werden müssen und dass selbstverständlich auch entwicklungspolitische Maßnahmen und Konzepte im weitesten Sinne mit einbezogen werden müssen. In diesem Punkt muss die Bundesregierung leider kritisiert werden. ({6}) Denn insbesondere im Bereich der Entwicklungshilfe müssen wir, trotz der Intervention der zuständigen Ministerin, eine weitere Streichung der Mittel feststellen. Nach meinem derzeitigen Kenntnisstand werden diese Mittel auch im Jahr 2003, jedenfalls nach den Plänen der derzeitigen Regierung, nicht aufgestockt. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Politik am 22. September dieses Jahres beendet wird und in ein umfassendes außen- und sicherheitspolitisches Konzept eingebunden werden kann. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Halten Sie Frau Kollegin Beer nicht von ihrer Rede ab! Sie hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich grundsätzlich auf die Problematik der Abrüstung und Rüstungskontrolle und der Nichtproliferation eingehe, möchte ich Ihnen, Herr von Klaeden, etwas sagen. Als ich mich anfangs der Debatte wunderte, dass Sie reden, war das in der Tat nicht negativ gemeint. ({0}) Es ist nämlich so, dass dieser Unterausschuss eine Qualität besitzt, die vielen anderen fehlt. Es findet keine parteiorientierte, sondern eine problemorientierte Auseinandersetzung statt. Es ist eigentlich bedauerlich, dass dieser so wichtige Bereich, der auch ein Instrument zur Konfliktregulierung und -verhütung ist, im Plenum so wenig Aufmerksamkeit erfährt, während wir - wie morgen -, wenn wir gezwungen sind, andere schwere Entscheidungen zu treffen, alle unser Votum namentlich abgeben. Ich denke, dass der negative Verlauf zahlreicher für die Rüstungskontrollpolitik relevanter Ereignisse der letzten Jahre gezeigt hat, dass ein gemeinsames Verständnis von Sicherheit und Frieden wichtiger ist denn je. Es ist wichtiger denn je - die aktuellen Probleme haben Sie, Herr von Klaeden, aber auch Frau Zapf genannt -; denn es gibt nirgendwo Zeichen für Entwarnung, sondern nur für Anspannungen. Die Drohung der gegenseitigen Vernichtung mit Massenvernichtungswaffen scheint wieder auf die Tagesordnung zu rutschen. Gerade im Bereich der Kooperation sehe ich einen ganz zentralen Punkt; denn die diffusen Risiken und Bedrohungen von heute haben sich weiter globalisiert. Die Akteure folgen zu oft oder schon wieder ihrem eigenen national orientierten Sicherheitsbegriff. Dies erschwert unsere gemeinsame Definition von friedens- und sicherheitspolitischen Interessen, auf die wir dringend angewiesen sind. Dieser Prozess ist nicht neu. Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass die Debatte über die Relativierung nationaler Sicherheit spätestens mit der Diskussion über die Folgen von Nuklearwaffen begonnen hat und nicht zuletzt für die Entwicklung des Konzepts von Rüstungskontrollpolitik, dessen Funktion zunächst die Kontrolle von Rüstungsprozessen, weniger der Abrüstung an sich war, ausschlaggebend war. Es waren damals die Vereinigten Staaten, die das Konzept der Sicherheitspolitik mit entwickelt haben, weil sie erkannt hatten, dass Sicherheit unter diesen Bedingungen nur kooperativ zu erreichen ist. Diesen Weg haben die Vereinigten Staaten derzeit verlassen. Das ist kein Grund für uns, davon abzulassen. Wir müssen dafür werben, dass sie in die gemeinsame Definition von Sicherheit zurückkehren. Zur Zeit der Blockkonfrontation waren die sicherheitspolitischen Konstellationen überschaubar. Heute haben wir damit verglichen verschiedene rüstungskontrollpolitische Bereiche von globaler Bedeutung, auch wenn sie jeweils unterschiedlicher Logik folgen. Ich gehe die Palette einmal durch und beginne mit den Massenvernichtungswaffen. Die Rüstungskontrollregime befinden sich zurzeit in kritischer Lage. Wir wissen noch nicht, welche Folgen die Kündigung des ABM-Vertrags langfristig haben wird, wenngleich die Vereinbarung über die Reduzierung der Nuklearpotenziale zwischen Russland und Amerika erfolgreich ist. ({1}) Wir sehen auch und sind skeptisch, was erwünschte Erfolge der Aufstellung eines Raketenabwehrsystems sein sollen. Eines können wir heute schon bilanzieren: All diese Maßnahmen - sie waren nicht international, sondern bilateral oder unilateral - waren keine, die die Anschläge vom 11. September verhindert hätten. Ich glaube, es ist wichtig, dies noch einmal hervorzuheben. Genf ist bereits erwähnt worden. Der Abrüstungsprozess stockt seit Jahren und kommt keinen Schritt weiter. Das B-Waffen-Übereinkommen ist sehr wichtig. Wir standen im Dezember vor der nächsten qualitativen Stufe, wir wollten einen Verifikationsmechanismus vereinbaren. Was hilft die internationale Einigung über die Ächtung und das Verbot, wenn die Instrumente der Überprüfung nicht dazugegeben werden? Dass ausgerechnet diese wichtige Verifikation durch die Vereinigten Staaten blockiert worden ist, konterkariert die politischen Erfordernisse in der Zeit nach dem 11. September. ({2}) Wir sind uns darüber einig, dass sich die Gefahr der Proliferation vergrößert hat, dass immer mehr Staaten versuchen, Massenvernichtungswaffen in die eigenen Hände zu bekommen. Wir wissen, dass einige Staaten nicht bereit sind, davon auf dem Verhandlungswege abzulassen. Hier brauchen wir die Unterstützung der Amerikaner. Dabei muss man sich von dem Glauben verabschieden - das ist im Hinblick auf den Irak wesentlich -, man könnte die Gefahr von Massenvernichtungswaffen durch militärische Luftschläge beseitigen. Nein, das ist mitnichten der richtige Weg. Ich spreche mich strikt dagegen aus. Was wir vielmehr brauchen, ist eine Stärkung der Mechanismen der Vereinten Nationen. Wir brauchen ferner den politischen Druck auf dieses Regime, das Massenvernichtungswaffen bereits gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat. Wir müssen Druck ausüben, dass die Inspekteure der Vereinten Nationen ohne jede Auflage in das Land zurückkehren dürfen. Das ist der Weg zur Deeskalation. Alles andere würde eine Zunahme der Spannung bedeuten und würde zur weiteren Eskalation im gesamten Nahen und Mittleren Osten führen. Das kann nicht unser Ziel sein. ({3}) Es gibt aber auch Erfolge. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang den Bereich der konventionellen Rüstungskontrolle ansprechen. Der Vertrag über Open Skies ist in Kraft getreten. Das ist ein außerordentlich großer Erfolg. Es ist wirklich ein Wermutstropfen, dass die Bundesrepublik Deutschland mangels eigenem Flugzeug nicht in der Lage ist, sich aktiv daran zu beteiligen. Ich sehe es als Aufgabe für die Zukunft an - im Parlament besteht darüber Konsens -, die entsprechenden Kapazitäten zu erhöhen, um dort eine aktive Rolle in der Zukunft spielen zu können. ({4}) Die Weiterentwicklung der Rüstungskontrolle beispielsweise im Bereich der Kleinwaffen und der Landminen ist notwendig, um Menschenleben zu retten. Auch in diesem Bereich wollen wir treibende Kraft sein. Diese Weiterentwicklung ist ein Bestandteil von humanitär orientierter Rüstungskontrolle, die im Alltag meines Erachtens zu wenig Berücksichtigung findet. Ich möchte noch die Rüstungsexportkontrolle ansprechen; denn auch dieser kommt im Zusammenhang mit dem illegalen Handel mit Massenvernichtungswaffen und biologischen Kampfstoffen eine ganz wichtige Rolle zu. Wir müssen hier multilaterale Instrumente entwickeln und treibende Kraft sein. Ich teile die entsprechenden Ideen und Vorschläge vollkommen. Wo es eine internationale Einigung noch nicht gibt, müssen wir eine gemeinsame europäische Position und eine europäische präventive Außen- und Sicherheitspolitik formulieren, um auf dieser Ebene weitere Unterstützung zu suchen. ({5}) Wenn ein solcher Prozess erst einmal in Gang gekommen ist, dann wird er irgendwann auch unseren amerikanischen Partner erreichen; denn dies ist der vernünftige und der verantwortbare Weg. Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen und an dieser Stelle der Bundesregierung danken. Ich glaube, es war ein guter Start, die Experten vor Ort, also die Nichtregierungsorganisationen, und deren Expertisen in diesen wichtigen Bereich der Abrüstung und Rüstungskontrolle einzubeziehen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Beer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Braun?

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, Herr Kollege Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Beer, Sie würden es mir leichter machen - ich könnte mich nämlich in meinem Redebeitrag nachher kürzer fassen -, wenn Sie mir eine Antwort auf die folgende Frage geben könnten. Sie haben einen Antrag zum Thema Antifahrzeugminen vorgelegt. Die CDU/CSU-Fraktion und meine Fraktion haben ebenfalls einen entsprechenden Antrag eingebracht. Die beiden Anträge unterscheiden sich ausschließlich dadurch, dass wir beantragt haben - das geht über das hinaus, was Sie vorschlagen -, dass die Bundesrepublik Deutschland beispielgebend sein soll und derartige Minen vernichten soll, die sich noch im Bestand der Bundeswehr befinden, und dass die Bundesrepublik Deutschland einseitig auf Erprobung, Herstellung und Lizenzvergabe sowie Lagerung und Export von Landminen verzichten soll. Unsere Anträge unterscheiden sich nur in diesen beiden Punkten. Was ist Begründung der Grünen dafür, dass Sie dies offensichtlich nicht akzeptieren wollen, sodass ein gemeinsamer Antrag nicht zustande kommen kann? ({0})

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Braun, wir sind dabei - die letzte Fassung hat mich eine halbe Stunde vor meiner Rede erreicht -, einen Kompromiss zu finden. Ich bin in dieser Frage vollkommen offen. Die beiden Punkte, die Sie angesprochen haben und die im Wesentlichen von Herrn Kinkel formuliert worden sind, finden aus politischer und humanitärer Überzeugung meine volle Unterstützung. ({0}) - Darf ich bitte ausreden? - Meine volle politische Unterstützung finden auch die jetzt beginnenden Aktionstage im Rahmen der internationalen Kampagne gegen die Landminen, die genau diese Forderungen an die Bundesregierung stellt. Ich meine, zu Recht. Nun ist es bekannt - das kennen Sie noch aus Ihrer Regierungszeit -, dass es in der Bundesregierung ein Ressort gibt, das die Minenproblematik gänzlich anders bewertet, nämlich das Bundesministerium der Verteidigung. Weil wir gelernt haben, in der Koalition zu kommunizieren, sind wir gerade dabei, einen Antrag zu formulieren, der die Unterstützung aller finden kann. Ich hoffe, das gelingt im Interesse derjenigen - das sind vor allem Zivilisten -, die nach wie vor von diesen Landminen und Antipanzerminen bedroht werden. Deswegen hat meine Fraktion so unendlich lange Geduld mit dem Minister der Verteidigung. Wir hoffen, ihm doch noch deutlich machen zu können, dass er sich endlich ein Herz fassen sollte, auf diesem Gebiet humanitärer Rüstungskontrolle Ihrem Antrag entsprechend einen Schritt nach vorne zu wagen, und zwar nicht erst dann, wenn die anderen ihn gemacht haben, sondern als Erster. Ich hoffe, dass wir gemeinsam erfolgreich sein werden. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Beer, gestatten Sie noch eine Zusatzfrage?

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte meine Rede jetzt zu Ende bringen, damit es nachher nicht heißt, wir dürften die Landminenproblematik hier nicht mehr erörtern, weil wir diese Debatte schon geführt hätten. Das wäre der Sache nicht zuträglich. Ich hoffe vielmehr, dass wir noch während dieser Legislaturperiode eine Debatte über einen interfraktionellen Antrag führen können. ({0}) - Entschuldigung, ich möchte jetzt zum Schluss meiner Rede kommen. Gerade die Nichtregierungsorganisationen haben das gesellschaftlich-politische Umfeld mobilisiert, was überhaupt erst dazu geführt hat, dass das Abkommen von Ottawa zur Ächtung aller Antipersonenminen ratifiziert werden konnte. Dass wir in diesem Dialog unsere Politik weiterentwickeln, kritische Stimmen hören und dementsprechend versuchen, unsere Gedanken im Rahmen des gemeinsamen Dialogs umzusetzen, ist ein Erfolg. Ich wünsche mir, dass dies in der nächsten Legislaturperiode unter einer rot-grünen Regierung mit noch mehr Engagement fortgeführt wird. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in all diesen Bereichen gibt es den von mir dargestellten Stau. Wir sollten den Stellenwert dieses Politikbereiches erhöhen. Dabei müssen wir vor allen Dingen Phantasie walten lassen und dort, wo alte, ausgediente Instrumente heute nicht mehr greifen, Weiterentwicklungen vorantreiben. Wer glaubt, dass dieser Politikbereich aufgrund der schwierigen internationalen Zuspitzung keine Zukunft mehr hat, der vergibt ein ganz wichtiges Instrument zu neuen friedensfördernden Initiativen, die Rüstung beseitigen sollen und damit unserem gemeinsamen politischen Ansatz entsprechen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Hildebrecht Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Abrüstungspolitik ist ein wichtiger Teil der weltweiten Friedenspolitik. Abrüstung löst nicht bestehende militärische Konflikte, trägt aber dazu bei, dass sich solche Konflikte gar nicht erst ergeben können. Diese Charakterisierung mag erklären, warum Abrüstungspolitik wenig spektakulär ist und deshalb das Interesse der Öffentlichkeit auch nicht sehr groß ist. Wir Politiker, die sich dem Frieden in der Welt verpflichtet wissen, nehmen Abrüstungspolitik ernst und werben für die oft kleinen Schritte, die die Welt dem Frieden näher bringen sollen. ({0}) Wenn die Menschen wüssten, welches Vernichtungspotenzial in den Arsenalen der Staaten liegt, die über Atomwaffen sowie über biologische und chemische MasHildebrecht Braun ({1}) senvernichtungswaffen verfügen, wie viele Minen in der Welt verlegt wurden und wie viele noch produziert werden, wie viele Kleinwaffen in der Welt eine tägliche tödliche Gefahr für Tausende von Menschen darstellen, dann wäre das Interesse an Fragen der Abrüstung sicherlich größer. Wir verfügen über entsprechende Informationen; daher rührt auch unser Engagement. Der vorliegende Abrüstungsbericht für das Jahr 2001 bemüht sich geradezu rührend, von Erfolgen zu sprechen. Er schreibt der NATO sogar eine herausragende Rolle bei der Bewältigung des Terrorismus zu, was aus meiner Sicht reine Schönfärberei ist. Aber es gibt in der Tat ein paar Erfolge der Abrüstungspolitik. So wird auf die Ratifizierung des Vertrags über den offenen Himmel, auf eine angeblich positive Bilanz des Antipersonenminenabkommens und auf ein Kleinwaffenaktionsprogramm der Vereinten Nationen verwiesen. Leider sind die nötigen Hinweise auf negative Entwicklungen viel gewichtiger: das Scheitern des Verifikationsprotokolls des Chemieabkommens, den Stillstand der Abrüstungskonferenz in Genf, den wir schon seit Jahren beklagen, die Kündigung des Grundlagenvertrags der Abrüstung, nämlich des ABM-Vertrags von 1972, durch die USA anstelle einer einvernehmlichen Anpassung. Man kommt also nicht umhin, die Bilanz des Abrüstungsjahres 2001 negativ zu beurteilen. Das darf uns nicht entmutigen, auch wenn der wichtigste Partner, die USA, gerade unter der Bush-Regierung immer wieder sein Desinteresse an der Abrüstung ausdrückt. Die USA haben nach wie vor den Atomwaffenteststoppvertrag nicht ratifiziert. ({2}) Ihre Haltung in dieser Frage ermutigt möglicherweise sogar die Schwellenländer und solche wie Pakistan und Indien, die seit kurzer Zeit über Atomwaffen verfügen, in ihren Aufrüstungsbemühungen fortzufahren. Auf der einen Seiten haben die USA - übrigens neben Russland und China - das Antipersonenminenprotokoll von Ottawa nicht mit unterzeichnet und damit dazu beigetragen, dass das Elend der Antipersonenminen nicht beendet werden kann. Die USA haben den ABM-Vertrag - den ersten wirklich großen Abrüstungsvertrag - gekündigt. Sie haben vor 14 Tagen einen neuen Vertrag mit Russland geschlossen, der die Bezeichnung „Vertrag über die Abrüstung von Kernwaffen“ nicht verdient. Dieser Vertrag ist zwar Balsam auf die Seele der Russen, aber kein wirklicher Fortschritt. Er kann jederzeit wie ein Mietvertrag über eine Mansardenwohnung mit vierteljährlicher Frist gekündigt werden. ({3}) Die zu reduzierenden Sprengköpfe müssen nicht dauerhaft unschädlich gemacht werden. Sie können irgendwo zur jederzeitigen Wiederverwendung eingelagert werden. Trägerraketen werden gleich gar nicht von diesem Vertrag erfasst. Nach Abschluss der Laufzeit Ende 2012 sind alle Partner wieder frei, fröhlich neu aufzurüsten. Wir sehen zum ersten Mal seit 1961, dass sich zwei Atommächte, nämlich Pakistan und Indien, an der Demarkationslinie von Kaschmir bis zu den Zähnen gerüstet, nicht nur mit Millionen Soldaten, mit der Drohung gegenüberstehen, die neuen Kernwaffen nötigenfalls auch einzusetzen. Beide Staaten haben bereits erfolgreich Mittelstreckenraketen erprobt. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch hervorheben, dass sich die USA im Wesentlichen allein nach dem Nunn-Lugar Act, also dem Gesetz der beiden Herren Nunn und Lugar, um die Finanzierung von Projekten kümmern, die den Wissenschaftlern und Militärs, die wissen, wie man Atombomben baut und sie in Trägersystemen unterbringt, eine zivile berufliche Perspektive bieten sollen. Welche Zeitbombe in diesem menschlichen Potenzial von Tausenden Wissenschaftlern steckt, kann sich jeder ausmalen. Es handelt sich im Wesentlichen um Herren, die nicht nur im Irak und im Iran, sondern in etlichen anderen Staaten herzlich willkommen wären. Deutschland hat sich seit Beginn der Amtszeit des grünen Außenministers als Bremser der endgültigen Beseitigung von russischen Atomwaffen erwiesen - eine schlimme Folge verfehlter Umweltpolitik. Anstatt im Rahmen der G 8 die Bemühungen der anderen Staaten zu unterstützen, den Russen bei der seit Jahren gewollten Umwandlung von Waffenplutonium aus den überzähligen Atomsprengköpfen in Material für die friedliche Atomkraft zu helfen, wurde blockiert. Wir hätten schon längst eine vernünftige Vereinbarung über die tatsächliche und endgültige Entsorgung dieser Atomsprengköpfe, ({4}) die eine nicht zu überschätzende Gefahr für den Weltfrieden darstellen, weil sie natürlich in die Hand von Staaten wie dem Irak oder dem Iran oder - ebenso schlimm - in die Hand von nicht staatlichen Terrororganisationen fallen könnten. Deutschland hätte mit der Siemens-Brennelementefabrik in Hanau helfen können; Deutschland hat aber nicht helfen wollen oder helfen dürfen, weil die Grünen Probleme mit ihren Wählern befürchteten. Ausgerechnet die Grünen haben damit Abrüstung in einem ganz zentralen Bereich verhindert. ({5}) Die Haltung der Grünen wird auch dann nicht glaubwürdig, wenn sie sich zu den Anträgen im Hinblick auf die Landminen so wie heute verhalten; das Thema werden wir offensichtlich noch in einer separaten Sitzung behandeln müssen. Ich bitte darum, zu prüfen, ob wir das Thema Abrüstung in der nächsten Legislaturperiode, in der es genauso wichtig sein wird wie jetzt, nicht etwas aus der Parteipolitik herauslösen ({6}) Hildebrecht Braun ({7}) und als selbstständigen Bereich werten können, dem sich alle in gleichem Maße verpflichtet fühlen. Vielen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile der Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion das Wort.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung! Ich möchte die große Harmonie, die bei uns im Ausschuss herrscht, zumindest in dieser Debatte ein wenig durchbrechen. Denn ich bin der Meinung: Wir können Abrüstung und Rüstungskontrolle nicht losgelöst von der Aufrüstung thematisieren, die in Ihrer aller Reihen massiv betrieben wird. ({0}) Der Jahresabrüstungsbericht des vergangenen Jahres zeigt, dass es wenig Fortschritte, aber eine Menge Rückschläge gegeben hat. Ich denke, diese Tendenz wird sich fortsetzen. In der UN-Abrüstungskommission herrscht Stagnation und auch in der OSZE wird nicht über weitere Abrüstungsschritte diskutiert. ({1}) NATO und EU haben in den vergangenen drei Jahren keine konkreten Abrüstungsprojekte vorgelegt. ({2}) Es gibt zwar bei den führenden Industrienationen noch quantitative Rüstungsreduzierungen, diese werden aber durch eine qualitative Aufrüstung kompensiert. Über diese Rüstungsmodernisierungen lesen wir in diesem Bericht nichts. Wir lesen auch nichts darüber, dass die Rüstungsausgaben im Weltmaßstab seit 1999, also nach Jahren ökonomisch bedingter Rüstungsminderung, wieder angestiegen sind. Wir sind mittlerweile - mit steigender Tendenz und ohne die Schwarzgelder der NATO - wieder bei mehr als 800 Milliarden Dollar angelangt, an der Spitze die USA mit gigantischen Steigerungen. Darüber ist in dem vorliegenden Bericht leider nichts nachzulesen. ({3}) Angesichts dessen sollte man ernsthaft überlegen, ob man nicht künftig eine Umbenennung vornimmt. Realistischer wäre es, künftig einen Jahresaufrüstungsbericht oder wenigstens einen Jahresrüstungskontrollbericht vorzulegen, da Abrüstung kaum noch eine Rolle spielt, sondern es nur noch um Rüstungskontrolle und maximal um Nichtverbreitung geht. Rüstungskontrolle bedeutet, dass man unkalkulierbare Risiken der Rüstung ausschalten oder managen will. Im Bereich der Kleinwaffen wird zum Beispiel der Export kontrolliert. Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass Produktion und Export limitiert werden. Dies hat mit Abrüstung nichts zu tun. ({4}) Auch die Geschichte des nuklearen Wettrüstens hat gezeigt, dass Rüstungskontrolle sehr wohl mit Aufrüstung einhergehen kann. Der neue Vertrag, den Herr Bush und Herr Putin zur Nuklearstrategie unterzeichnet haben - dies wurde schon angesprochen -, wird zwar offiziell als Abrüstungsschritt bezeichnet, doch weil damit auch der START-II-Vertrag beerdigt wurde, ermöglicht er de facto, dass künftig ganz legitim Mehrfachsprengköpfe gebaut werden können. Die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen ist ein zwingend notwendiger Schritt. Gerade nach dem 11. September 2001 geht es darum, zu vermeiden, dass diese in die falschen Hände geraten. Doch gibt es richtige Hände für Atombomben, chemische Kampfstoffe und Biowaffen? Wir sagen ganz klar: Nein! ({5}) Deswegen gibt es keinerlei Grund, den exklusiven Besitz der großen Industriemächte an diesen Waffen zu verteidigen. Diese Waffen müssen konsequent geächtet werden, egal, ob sie sich in russischer, amerikanischer, britischer, französischer, indischer, israelischer, pakistanischer oder irakischer Hand befinden. Die Forschung an nuklearen Mehrfachsprengköpfen, der Bau von Mini-Nukes, Besorgnis erregende Entwicklungen vor allem bei den biologischen Waffen, die Sabotage der USA beim Biowaffen-Übereinkommen sowie neue, intensivierte Forschungsprogramme geben Anlass zu größter Sorge. Die Ansätze in den heute von den Regierungsfraktionen auch zum Biowaffen-Übereinkommen vorgelegten Anträgen gehen unseres Erachtens in die richtige Richtung. Sie gehen jedoch längst noch nicht weit genug. Deswegen werden wir uns bei der Abstimmung über die entsprechenden Anträge enthalten. Wir sind der Meinung, dass die Kritik gerade gegenüber den Bündnispartnern noch viel deutlicher formuliert werden muss. Es gilt insbesondere auch Koalitionen mit abrüstungswilligen Staaten voranzutreiben. Deswegen haben wir einen Antrag bezüglich der Biowaffen vorgelegt. Wir fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf: Lassen Sie uns gemeinsam die Abrüstung voranbringen, indem wir gemeinsam der Aufrüstung, die in allen anderen Fraktionen unterstützt wird, eine klare Absage erteilen! ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Herr Staatsminister Dr. Christoph Zöpel.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung konnte ihre Auffassung zur Abrüstung, zur Rüstungskontrolle und zu den Hildebrecht Braun ({0}) Gefahren der Rüstung schriftlich darlegen. Ich wollte Gelegenheit haben, Ihnen zuzuhören, bevor ich spreche. ({1}) Zuhören ist die zeitloseste und beste Form der Informationsaufnahme, die es gibt. Da hilft kein technischer Fortschritt. ({2}) Lassen Sie mich Folgendes sagen: Ich finde, das, was ich hören konnte, war ein Beleg für eine große Gemeinsamkeit auf der Basis zivilisatorischer Erkenntnisse darüber, wie Frieden in dieser Welt gesichert werden kann. ({3}) Ich will kurz auf einige wenige kritische Bemerkungen - das ist normal - eingehen: Erste Bemerkung. Es geht um einen Hinweis in Ihrem Beitrag, Herr von Klaeden, und in einem Zuruf von Ihnen, Herr Rossmanith. Sie sagten, man müsse sowohl für die Entwicklungshilfe als auch für die Verteidigung mehr Geld ausgeben. Wer möchte dem von vornherein widersprechen? Lassen Sie mich aber bitte eine Anmerkung machen: Als ich ungefähr 1997 nachschaute, wieso die Länder - von Schleswig-Holstein bis Bayern - im Gegensatz zum Bund ihre Investitionshaushalte kürzen mussten, fiel mir auf, dass dies der Fall war, weil die notwendige Anpassung im Bund allein durch den Verteidigungshaushalt geleistet wurde. Ich fand das toll. Sie sollten mit diesem Faktum leben. Die Reduzierung von 1 Million Soldaten verschiedenster Truppen auf deutschem Boden und die wirklich deutliche Reduzierung des Verteidigungshaushaltes - für beides trug überwiegend Verteidigungsminister Rühe die Verantwortung - fand und finde ich toll. Stehen Sie in den Debatten über Rüstungserhöhungen dazu! ({4}) Ich will Sie noch einmal loben. ({5}) Unsere Generation konnte und kann mit dem Phänomen der staatlichen Kreditaufnahme nicht umgehen. Die Stabilitätskriterien der EU sind zwingend notwendig. Finanzminister Waigel hat einen großen Beitrag dazu geleistet. Es fällt jetzt aber auf, dass dies schlecht koordiniert mit den Ländern geschah. Jegliche Forderung nach einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben angesichts des Tangierens der Obergrenze der staatlichen Verschuldung und ohne Deckungsvorschlag nehmen jedem von uns immer weniger Bürger ab. Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der Debatte, den Sozialetat zu kürzen und gleichzeitig den Verteidigungs- oder Entwicklungsetat zu erhöhen. ({6}) In meiner zweiten Bemerkung geht es um Soldaten und Minen. Lassen Sie mich eines feststellen: Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass wir uns hier verständigen müssen. Ich darf für das Verteidigungsministerium sagen: In den Formulierungen sollte das notwendige Interesse der persönlichen Sicherheit deutscher Soldaten gewahrt bleiben. ({7}) Das erkennt man aufgrund der Formulierungen nicht sofort. Es ist aber notwendig und entspricht dem, was wir bei jedem Bundeswehreinsatz hier sagen. Damit ist der Fall gelöst. ({8}) Bei meinem dritten Punkt habe ich eine herzliche Bitte. Dass es einen Zusammenhang zwischen dem Missbrauch und dem wirtschaftlichen Gebrauch von Nukleartechnologien gibt, kann man überhaupt nicht von der Hand weisen. Zwei Strategien gehören dabei zusammen, nämlich zum einen den militärischen Missbrauch von Nukleartechnologien zu verringern und auszuschalten sowie zum anderen gleichzeitig aus der wirtschaftlichen Nutzung auszusteigen. Um beides hat sich diese Bundesregierung bemüht. ({9}) Das eine gegen das andere auszuspielen hieße, die Logik des Problems zu verkennen. - Das waren die kritischen Punkte. Bemerkenswert fand ich, wie Sie, Herr Kollege Braun, und Sie, Frau Kollegin Lippmann, Ihre Sorgen über die Politik der Vereinigten Staaten geäußert haben. Ihnen ist vielleicht gar nicht aufgefallen, wie dicht Sie beieinander lagen. ({10}) - Das finde ich schön. Wunderbar! ({11}) Lassen Sie mich zu dem kommen, worüber wir im Grunde sprechen müssen, nämlich dazu, dass wir bei der Abrüstungspolitik Gemeinsamkeit brauchen. Die Abrüstungspolitik ist ein weiterer Beitrag der europäischen Zivilisation zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen. Daran sollten wir festhalten. Es gibt in Wahrheit keine Alternative zur Verrechtlichung internationaler Beziehungen und zu Verträgen über Abrüstung. ({12}) Ich werde jetzt vorsichtshalber über politikwissenschaftliche Analysen sprechen. Nach allen politikwissenschaftlichen Analysen wäre nur eine große Macht in der Lage, ohne Verträge zu agieren. Diese Analyse wird derzeit im indisch-pakistanischen Konflikt durch eine andere Realität falsifiziert. Die Vereinigten Staaten haben kein Machtpotenzial, Indien daran zu hindern, zu tun, was es vielleicht tragischerweise tun wird. Dabei hilft nur die Logik der Überzeugung bzw. die Kraft der Argumente aus der Tradition europäischer Kriegserfahrung und des Friedenswillens. Es gibt kein Machtmittel, mit dem Indien an seinem Vorhaben gehindert werden könnte. ({13}) Ich hoffe, dass eingesehen wird, dass es bei der Abrüstung, der Rüstungskontrolle und der Kriegsvermeidung im Hinblick auf welche Waffen auch immer - seien es atomare, chemische oder biologische - keine Alternative zu Verträgen gibt. ({14}) Lassen Sie mich eine zweite Bemerkung machen, über die wir intensiver werden sprechen müssen. Sicherheitsprobleme unterliegen einem Paradigmenwechsel.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Die Logik der Abschreckung sei am Ende; nun gebe es die Logik des Terrors. Was aber bedeutet das? Die Abschreckung war die Sicherheitspolitik zwischen Mächtigen. Mächtige können sich gegenseitig abschrecken, weil sie etwas zu verlieren haben. Das hat funktioniert. Terror hingegen ist die Auseinandersetzung zwischen Macht und Ohnmacht. Abschreckung funktioniert aber nicht gegenüber Ohnmacht, weil der Ohnmächtige nichts zu verlieren hat. Das ist der vielleicht tragische Paradigmenwechsel. Wir erleben die Privatisierung von Gewalt. Dagegen und gegen den für die Betroffenen schwer erträglichen Einsatz von Terror hilft eben nicht Macht, auch nicht die Macht der Abschreckung. Damit erfolgt teilweise ein Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten. Wir haben schon mit dem Westfälischen Frieden geglaubt, die Staatenwelt hätte die Gewaltanwendung endgültig verstaatlicht. Sie hat sie dann zwar in schrecklicher Weise missbraucht, aber sie hat die private Gewaltanwendung eingeschränkt. In dieser Hinsicht ist ein Rückfall erfolgt. Die Abschreckung bekommt die von mir geschilderte Dimension. Wie können wir in einer weltweiten Vereinbarung die Gewaltanwendung wieder zu einem staatlichen Monopol machen? Wie können wir eine Weltsozialpolitik betreiben, um zu erreichen, dass es niemand nötig hat, aus der Situation der Ohnmacht heraus Gewalt anzuwenden? Wenn wir das geschafft haben, brauchen wir eigentlich keine militärische Sicherheitspolitik mehr. Dann hilft wieder die staatliche Politik gegen private Gewalt, nämlich durch Polizeiaktion unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit. Dafür stehen wir an dieser Stelle. Herzlichen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Kollegen Kurt Rossmanith für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Äußerungen, Herr Staatsminister Zöpel, weil Sie damit in dieser Debatte, die uns - mit Ausnahme der PDS - erfreulicherweise zu einem relativ breiten Konsens gebracht hat, wieder einiges zurechtgerückt haben. Ich bin Ihnen aber auch dafür dankbar, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass uns allein der Glaube an das Gute - ich vereinfache das etwas - nicht die friedvolle Welt bringen wird, die wir uns alle wünschen, wobei es zu unseren Aufgaben als Politiker gehört, darauf hinzuarbeiten. Sie haben auf den Verteidigungshaushalt hingewiesen. Auch dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Was aber, wie ich meine, in diese Debatte nicht hineinpasst - diese Kritik an Ihren Ausführungen muss ich anbringen -, ist, dass Sie die soziale Leistungsfähigkeit und die Ausgaben für die Entwicklungshilfe und die Sicherheitspolitik gegenüberstellen. Ich meine, das eine ist so wichtig wie das andere. Man kann das eine nicht durch das andere ersetzen. Sie haben auch auf die Friedensdividende hingewiesen, die wir in der Tat in den 90er-Jahren erreichen konnten. Der Rückgang der Verteidigungslasten - das hat sich nicht nur im Verteidigungshaushalt widergespiegelt - geht schließlich zu einem wesentlichen Teil auf die Wiedervereinigung und die Wiedergewinnung von Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Demokratie bei unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn zurück. Wir haben damals - das unterschlage ich nicht - ein bisschen zu viel des Guten getan, als es um Kürzungen im Verteidigungshaushalt ging. Dessen waren wir uns auch bewusst. Sie waren notwendig; denn die Überwindung der Folgen des Sozialismus hat sehr viel Geld verschlungen. Sie haben aber darauf hingewiesen, dass noch stärker als bisher im Verteidigungshaushalt gekürzt werden soll. Diese Logik kann ich nicht nachvollziehen. Frau Kollegin Beer hat doch im Zusammenhang mit dem Vertrag über den offenen Himmel - Open Skies - beklagt, dass wir über keine Gerätschaften verfügen, um uns aktiv zu beteiligen. ({0}) - Das wissen wir alle. Dann muss man eben Ersatz schaffen. Dann darf man nicht weiter kürzen und sich jeder Investition in diesem Bereich massiv widersetzen. Sie sollten hier nicht so reden, als ob Sie für das Heil der Welt zuständig wären. Sie haben in Ihren Ausführungen das Heil der Welt geradezu heruntergebetet. Nein, Sie müssen auch die Realitäten sehen, die Staatsminister Zöpel in seiner Rede, der ich in weiten Teilen zustimme, dankenswerterweise angesprochen hat. Natürlich ist es richtig, dass sich der Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung schwerpunktmäßig mit den sicherheits- und rüstungspolitischen Rahmenbedingungen in Europa befasst. Manchmal hat man aber den Eindruck, dass eine Partei in diesem Hohen Hause das eine oder andere schlicht und einfach nicht wahrhaben will. Der 11. September war ja nur Ausfluss dessen, was sich an Terrorismus - auch das haben Sie, Herr Staatsminister Zöpel, richtig dargestellt - in den vergangenen Jahren gebildet hat, eines Terrorismus, der sich mit Brutalität und Menschenverachtung über jede rechtsstaatliche Ordnung und jeden Vertrag hinwegsetzt. Dies will die PDS offenStaatsminister Dr. Christoph Zöpel sichtlich nicht wahrhaben. In ihrem Antiamerikanismus lässt sie sich von niemandem überbieten. Die PDS weist ständig darauf hin, dass die Vereinigten Staaten finanzielle Rahmenbedingungen für die Bekämpfung des Terrorismus schaffen. Das ist doch nur logisch. Ich hätte mir gewünscht, auch wir hätten das getan. ({1}) Es ist erforderlich, dass wir dabei helfen, eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu installieren, und dass wir das Verhältnis zwischen der NATO und Russland entsprechend fortentwickeln. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb man den Vertrag kritisiert, den die Präsidenten Bush und Putin bei ihrem Treffen am 24./ 25. Mai 2002 geschlossen haben. Der Inhalt dieses Vertrages wurde hier durch die Bank falsch dargestellt. ({2}) Der Vertrag sieht tatsächlich einen Abbau von zwei Dritteln des nuklearen Potenzials vor. Davon soll ein Drittel, also die Hälfte ({3}) - Herr Kollege Braun, Sie sollten den Vertrag genau lesen, bevor Sie etwas von sich geben, was nicht den Tatsachen entspricht -, vernichtet und ein Drittel eingelagert werden. Das ist die Realität. ({4}) - Selbstverständlich stimmt das. Daran können auch Sie mit Ihrem Zuruf nichts ändern. Frau Kollegin Zapf, Sie haben doch schon vorhin etwas Falsches gesagt. Ich sage Ihnen: So und nicht anders ist es. Wir bedauern es genauso, dass das Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen noch nicht verifiziert worden ist. Meine Fraktion hofft jetzt auf den November. ({5}) - Mein Kenntnisstand ist, dass im November dieses Jahres die entsprechende Konferenz stattfindet. Wenn Sie, Frau Kollegin Beer sagen, es sei im Dezember, soll mir das genauso recht sein. Entscheidend ist für mich, dass wir dabei Ergebnisse erzielen und diesen Prozess nicht weiter hinausziehen, wie man es bisher all die Jahre hinweg getan hat. Immerhin ist das ein Übereinkommen, das schon 30 Jahre alt ist. Es sollte endlich eine Verifizierung herbeigeführt werden. Lassen Sie mich abschließend sagen, dass die Konfliktprävention, die Krisenbewältigung und die Terrorismusbekämpfung es nötig machen, dass die Staaten - das haben Sie, Herr Staatsminister, angesprochen - nicht nur Verträge schließen, sondern auch mit einer Zunge sprechen, dass zumindest Europa einmal zu sich selbst findet. Dazu gehört, dass wir bei der Rüstungsexportpolitik auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Dazu gehört für mich auch, dass endlich die Bestrebungen, eine europäische Eingreiftruppe aufzustellen, zu einem Ergebnis führen. Wir werden uns den Terroristen und den Feinden der Abrüstung nur dann glaubwürdig entgegenstellen können, wenn wir selbst eine glaubwürdige Politik der Abrüstung, aber gleichzeitig auch der Stärke und des Wollens entgegensetzen. Herzlichen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8941 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 6 d: Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/4376 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP mit dem Titel „Atomteststoppvertrag ratifizieren“. Der Ausschuss empfiehlt, dem Antrag auf Drucksache 14/2041 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Bei Enthaltung der CDU/CSU ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zusatzpunkt 9: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/9240 mit dem Titel „Maßnahmen gegen eine Bedrohung durch biologische Waffen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? Bei Enthaltung der PDS ist dieser Antrag angenommen. Zusatzpunkt 10: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/9241 mit dem Titel „Für eine kooperative Rüstungskontroll-, Abrüstungs- und Nichtverbreitungspolitik“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP und bei Enthaltung der PDS ist der Antrag angenommen. Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Ina Albowitz, Hildebrecht Braun ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neuordnung des Liegenschaftsmanagements der Bundeswehr - Drucksachen 14/6613, 14/8988 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die FDP sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb, kurz GEBB genannt, hat ihre Tätigkeit vor nunmehr zwei Jahren aufgenommen - mit großen Vorschusslorbeeren seitens der Bundesregierung und natürlich der sie tragenden Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Privatisierung sollte in die Bundeswehr Einzug halten, übrigens eine alte und auch neue Forderung der FDP, die früher von Rot-Grün bekämpft wurde. Die FDP setzt unverändert auf Privatisierung, allerdings nur dort, wo sie sinnvoll ist, wo sie Vorteile für die Bundeswehr bringt und wo sie zur Effizienzsteigerung der Streitkräfte beiträgt; denn alles andere wäre Unsinn. Die GEBB ist lediglich die sozialdemokratische Vorstellung von Privatisierung und die entspricht jedenfalls nicht unserer Vorstellung von Privatisierung. Am 4. Juli 2001 stellte meine Fraktion deshalb eine Große Anfrage an die Bundesregierung, deren Beantwortung der Bundesregierung ganz offensichtlich mehr Kopfschmerzen bereitete, als ihr lieb war. Weswegen Sie Kopfschmerzen bei der Beantwortung hatten, Herr Staatssekretär, ist eindeutig daran zu erkennen, dass der Bundesverteidigungsminister mit Schreiben vom 27. Juli 2001 die Antwort für Dezember 2001 ankündigte. Statt die versprochene Antwort zu erhalten, wurden wir mit der Kündigung der Chefin der GEBB konfrontiert. Wir mussten den Rückzug von Frau Fugmann-Heesing zur Kenntnis nehmen. ({0}) - Lieber Herr Kollege Zumkley, Ihre SPD-Genossin, nämlich Frau Fugmann-Heesing, hatte Vorstellungen, die wohl nicht ganz im Einklang mit bestehenden Gesetzen waren. Vor allem ist an die Konfrontation zu erinnern, die sie mit dem Bundesrechnungshof hatte, weil sie sich nicht kontrollieren lassen wollte. Insofern hat sie irgendwann alles hingeworfen, was sicherlich verständlich ist. Was man allerdings nicht verstehen kann, Kollege Zumkley, ist die fürstliche Entlohnung. Vielleicht könnten Ihre Redner oder der Staatssekretär darauf noch eingehen. Dafür, dass sie alles hingeworfen hat, ist sie fürstlich entlohnt worden. Allerdings verschweigt uns Rot-Grün noch immer, wie hoch denn die Abfindung gewesen ist. Den Steuerzahler würde das schon sehr interessieren. Was die Große Anfrage anging, die meine Fraktion gestellt hatte, so wuchs die Spannung in meiner Fraktion. Immer wieder haben wir in den zuständigen Ausschüssen, im Verteidigungsausschuss und im Haushaltsausschuss, nach der GEBB gefragt. Wiederum erhielten wir keine Antwort auf die Frage, wann denn die Antwort endlich vorgelegt werden würde. Daran merkt man wieder, wie schwer der Bundesregierung die Beantwortung gefallen ist. Der Bundestagspräsident musste dann den Bundesverteidigungsminister sogar auffordern, die Antwort auf die Große Anfrage nun endlich unverzüglich an das Parlament zu liefern. Wenn Sie so wollen, ist das eine Rüge des Bundestagspräsidenten gewesen. Darauf hat der Verteidigungsminister gesagt, das werde unverzüglich geschehen. Aber wen überrascht es? „Unverzüglich“ hat noch einmal zehn Wochen gedauert. Mehr als zehn Monate also hat das Verteidigungsministerium gebraucht, um die doch verhältnismäßig einfachen Fragen zur GEBB zu beantworten. ({1}) - Kollege Zumkley, Sie sind ja ein sehr sympathischer Mensch, aber Sie können all das, was Sie dazwischenrufen, dann, wenn Sie reden, hier zu Gehör bringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich die Antwort auf die Große Anfrage lese, stelle ich fest, dass alles nach dem Motto „Tarnen und Täuschen“ geht. Nichts anderes kann ich dieser Antwort auf die große Anfrage entnehmen. ({2}) Interessant ist übrigens, dass die GEBB anscheinend seit November 2001 völlig vom Erdboden verschwunden ist. Man hört nichts mehr von ihr. Man spricht kaum noch über die GEBB. Vom Erfolgskurs ist überhaupt nichts mehr zu merken. Das liegt sicherlich zum Teil daran, dass durch den Minister nicht belegt werden kann, dass die Vorstellungen und die konkrete Planung auch Ergebnisse hatten, aber auch daran, dass es sehr hohe Erwartungen an die GEBB gegeben hat, die in keiner Weise erfüllt werden konnten. Man gewinnt den Eindruck: Bei der GEBB handelt es sich um eine Art Gesellschaft, in der man sich höchstens hin und wieder einmal zum Arbeitsfrühstück trifft, aber sonst nichts geschieht. Im Kern ist es ja richtig, bei der Bundeswehr zu privatisieren und Einnahmen für die Bundeswehr zu erzielen. Dagegen ist nichts zu sagen. Der Bundesverteidigungsminister hat bei den ersten Reden Einnahmen in Höhe von mehr als 500 Millionen Euro versprochen. Herr Staatssekretär, Sie können das alles in den Protokollen nachlesen. Ich erinnere an Haushaltsdebatten, die wir geführt haben. Nichts davon ist eingetroffen. Sie können gleich höchstens kleinlaut einräumen, dass weniger als 100 Millionen Euro erwartet werden. Dann sollten Sie uns allerdings auch sagen, was die GEBB bisher gekostet hat; denn sie hat aus dem Bundeshaushalt in erheblichem Umfang Geld bekommen. Am Ende sind also keine Einnahmen da, ist nichts übrig geblieben. Dieses Geld, das versprochen wurde, ist dringend erwarten worden - nicht nur für die Bundeswehrreform, nicht nur bei Beschaffungsmaßnahmen, sondern auch für ein Attraktivitätsprogramm für die Soldaten. Man hätte ja durchaus ein kluges Immobilienverkaufsmanagement mit der GEBB machen können. Nur, die Rahmenbedingungen - das sage ich jetzt auch einmal - stimmen einfach nicht. Da muss man sich mit Baurecht beschäftigen, da muss man sich mit den Gegebenheiten der jeweiligen Kommunen beschäftigen, und fast jeder kann doch aus seiner Region Beispiele dafür bringen, woran es liegt, dass es nicht funktioniert. Das hat sicherlich verschiedene Gründe. In diesem Bereich ist nichts gemacht worden, damit die GEBB überhaupt erfolgreich arbeiten könnte. Stattdessen, Herr Staatssekretär, müssen Sie sich fragen lassen, warum alles, was um die GEBB rankt - welche Geldbeträge eingegangen sind, was die GEBB selber kostet, was das Personal bei der GEBB kostet, in welcher Höhe Abfindungen gezahlt worden sind -, Geheimniskrämerei ist. ({3}) Aber, Herr Staatssekretär, ich habe gesehen, Sie werden ja gleich sprechen; Sie werden das alles dem Deutschen Bundestag und auch der Öffentlichkeit sicherlich offenbaren. Interessant war ja, zu erfahren - schon im Oktober hat mein Kollege Günther Nolting den Verteidigungsminister danach gefragt - aus welchen Geschäftsaktivitäten etwa die GEBB Geld erwartet, was sie erwirtschaften wird. ({4}) In der Beantwortung der Anfrage erging sich die Parlamentarische Staatssekretärin nur in allgemeinen Floskeln ich zitiere wörtlich: In allen Bereichen gehen die Arbeiten voran und haben unter anderem dazu geführt, dass sich wirtschaftliches Handeln durchsetzen kann. Was ist das für eine Antwort! Jeder Kommentar erübrigt sich. Wie bereits erwähnt, pflegt die politische Leitung des Verteidigungsministeriums zunehmend parlamentarische Anfragen in dieser lapidaren Art und Weise zu beantworten, wenn ich das noch einfließen lassen darf. ({5}) Deswegen fordern wir als FDP weiterhin: Entwickeln Sie die GEBB wirklich mit klarer Privatisierungsstrategie. Dem Gebäude GEBB fehlt es jetzt nicht nur an der entsprechenden Gründung, es fehlt ihm auch - wenn man sie als Haus nehmen würde - an einer tragfähigen Statik - so sage ich es einmal - und an einer annehmbaren Innenarchitektur. So ist es nicht verwunderlich, dass sich der angebliche Nutznießer Bundeswehr mit diesem Gebilde GEBB mehr als schwer tut. Ich sage Ihnen deshalb: Eine neue Bundesregierung wird mit Blick auf das Wohl unserer Streitkräfte möglicherweise lediglich noch eine Aufgabe haben, nämlich für dieses Haus die Abrissbirne zur Verfügung zu stellen. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Walter Kolbow.

Walter Kolbow (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001175

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das neue Liegenschaftsmanagement der Bundeswehr ist ein wesentlicher Bestandteil der Streitkräftereform, die in der Tat die Aufmerksamkeit auch des Hohen Hauses verdient, aber die es auch verdient, in einen sachlichen Zusammenhang, lieber Herr Kollege Koppelin, gestellt zu werden. Ich darf im Zusammenhang mit einer von Ihnen kritisch angesprochenen länger dauernden Zeit für die Beantwortung der Frage - da widerspreche ich Ihnen überhaupt nicht - darauf hinweisen, dass auch bei diesem schwierigen Prozess der Bundeswehrreform Sorgfalt vor Eile geht und dass dafür - ohne schuldhaftes Verzögern - auch einmal die Frist des Parlaments in Anspruch genommen werden musste. Die zukunftsweisende Neuausrichtung der Bundeswehr hat den Anspruch, in einen Gesamtzusammenhang gestellt zu werden; denn diese Neuausrichtung ist eine lang versäumte, unverzichtbare Voraussetzung für die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands, das in der Welt der Globalisierung und des internationalen Wettbewerbs nur mit einem leistungsfähigen Staatswesen bestehen kann. Dazu gehören eben auch moderne und leistungsfähige Streitkräfte wie eine moderne Verwaltung überhaupt. Diesem Ziel tragen wir auf drei wichtigen Reformfeldern in der Bundeswehr Rechnung. Wir investieren erstens in die Menschen, ihre Fähigkeiten und Zukunftsaussichten. Beispielhaft hierfür stehen das Attraktivitätsprogramm und die Qualifizierungs- und Ausbildungsoffensive für die Soldaten. Wir verbessern zweitens kontinuierlich das Material, die Ausrüstung und die Fähigkeiten der Streitkräfte, und zwar durch die Modernisierung von Material und Ausrüstung, die Einführung zeitgemäßer Beschaffungsverfahren und die Erhöhung der Investitionsquote, die immerhin seit 1999 um fast 30 Prozent gesteigert werden konnte. Drittens stärken wir die Wirtschaftlichkeit und Effizienz von Beschaffung und Betrieb entscheidend und schaffen ein modernes Management durch Kooperation mit der Wirtschaft, durch die Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb, durch moderne Informationstechnologie, durch ein modernes Controlling und ein zukunftsorientiertes Rechnungswesen, also nicht nur durch ein einziges Instrument, die Gesellschaft, der Sie sich vorhin hauptsächlich zugewandt haben, sondern durch einen Fächer von Maßnahmen, die diese Effizienz leisten werden. Meine Damen und Herren, innerhalb der Bundeswehr sind für eine nachhaltige Verbesserung von Betrieb und Beschaffung neue Finanzierungsformen und eine höhere Wirtschaftlichkeit unverzichtbar. Nur durch entsprechende Maßnahmenpakete - da unterscheiden wir uns in den Diskussionen ja nicht -, die diesem Ziel Rechnung tragen, werden die notwendigen zusätzlich benötigten Mittel für die Modernisierung der Ausrüstung frei. Die Bundesregierung hat den Weg zu mehr Wirtschaftlichkeit, höherer Effizienz und modernem Management für die Bundeswehr mit Erfolg geebnet. Bereits im Dezember 1999 haben der Bundeskanzler und der Verteidigungsminister den Rahmenvertrag „Innovation, Investition und Wirtschaftlichkeit in der Bundeswehr“ mit der Wirtschaft und der Industrie geschlossen. Damit wurde eine wichtige und bisher einzigartige strategische Partnerschaft gegründet, der inzwischen nahezu 700 Unternehmen beigetreten sind. Um die Finanzmittel für die überfällige Modernisierung der Ausrüstung zu verstärken, sind zwischen dem Bundesministerium der Finanzen und dem Bundesministerium der Verteidigung mehrere Ressortvereinbarungen geschlossen worden, die dauerhaft zusätzliche Investitionsspielräume auch für den Einzelplan 14 eröffnen. ({0}) Gemäß diesen Vereinbarungen verbleiben Effizienzgewinne aufgrund hoher Wirtschaftlichkeit, aus der Zusammenarbeit mit der Wirtschaft, aus abgesenkten Betriebskosten und aus den Verkaufserlösen im Haushalt des Bundesministeriums der Verteidigung. Wir haben uns zunächst auf vier Geschäftsfelder konzentriert, in denen wir auf Erfahrungen der Industrie und auch anderer europäischer Streitkräfte zurückgreifen konnten. Mittlerweile haben wir die Rahmenbedingungen für die Reformvorhaben für das neue Flottenmanagement, für das neue Bekleidungsmanagement, für die Informationstechnik und eben auch für das neue Liegenschaftsmanagement geschaffen. Dass es vorangeht, zeigt auch, dass die Gesellschaft für das neue Flottenmanagement heute gegründet worden ist; am nächsten Montag werden die ersten Neufahrzeuge am Standort Gatow übergeben. Auch das neue Bekleidungsmanagement kommt in Gang; die Ausschreibung ist beendet, das Ergebnis wird Ende Juni im Haushaltsausschuss behandelt. Die Gesellschaft wird voraussichtlich noch vor der Sommerpause gegründet. Substanzielle Einsparungen sind weiter zu erwarten. Auch in der Informationstechnik und im neuen Liegenschaftsmanagement werden wir, wenn wir den eingeschlagenen Weg wie geplant fortsetzen können, ein Höchstmaß an Wirtschaftlichkeit und Effizienz erreichen. Das neue Liegenschaftsmanagement soll gegenüber den bisherigen Finanzierungsformen innovative Wege beschreiten. Dazu wollen wir Eigentümer-, Betreiber- und Nutzerfunktionen trennen und damit klare Verantwortungsstrukturen schaffen. Wir führen Kosten- und Leistungsverantwortung zusammen und geben den Nutzern Anreize zu höheren Wirtschaftlichkeitsmaßnahmen. Durch Einführung dieser neuen Organisation wird des Weiteren ein unvertretbar hoher Stand der Bindung von Investitionsmitteln vermieden. Darüber hinaus beinhaltet das Liegenschaftswesen auch nach Auffassung externer Berater und nach Erfahrungen der Wirtschaft ein erhebliches Einsparpotenzial. Dieses Potenzial können wir über das neue Liegenschaftsmanagement entwickeln und für die Bundeswehr aktivieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem neuen Liegenschaftsmanagement eröffnet sich so die Chance, über verschiedene Hebel wesentliche Beiträge zur Schaffung der erforderlichen finanziellen Freiräume zu leisten, zusätzliche Einnahmen aus den Veräußerungen von Liegenschaften zu erzielen, eine höhere Flächen- und Personaleffizienz bei der Bewirtschaftung der Liegenschaften zu gewährleisten, Liegenschaften schließlich durch Anmietung insgesamt kostengünstiger und damit wirtschaftlicher zu nutzen, zusätzliche Beschäftigungsperspektiven für die in der Liegenschaftsverwaltung tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu eröffnen, externes Know-how und Kapital sowie Alternativen zum Marktzugang über die Partner aus der Wirtschaft zu erschließen, die Aktivitäten der Streitkräfte auf ihre Kernaktivitäten zu fokussieren und damit letztlich einen bedeutsamen Beitrag zu der von der Bundesregierung beschlossenen Modernisierung der öffentlichen Verwaltung im Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung zu leisten. Wir meinen, dass das neue Liegenschaftsmanagement sicherstellt, dass der Bundeswehr die Liegenschaften zur Verfügung gestellt werden, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben braucht. Die Entscheidungen über die Verwendung und den Betrieb der Liegenschaften werden nach wie vor beim Bundesminister der Verteidigung liegen. Durch die Vertragskonstruktion wird gewährleistet, dass die Steuerungs- und Kontrollfunktion im neuen Liegenschaftsmanagement bei der Bundeswehrverwaltung verbleibt, Art. 87 b des Grundgesetzes also gewahrt ist. Bei der Gestaltung des neuen Liegenschaftsmanagements haben die Ansprüche der circa 20 000 Beschäftigten von Beginn an eine zentrale Rolle gespielt. Der Tarifvertrag vom 18. Juli 2001 stellt die Beschäftigung sicher, bietet vielfältige Chancen für Weiterqualifikation und definiert sozialverträgliche Regelungen für die Ausgestaltung des Liegenschaftsmanagements. Gerade weil es sich beim neuen Liegenschaftsmanagement um ein sehr komplexes Thema handelt, haben die Bundeswehr und deren Verantwortliche eine umfangreiche Informationskampagne auf allen Ebenen in Gang gesetzt, die für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Klarheit und Sicherheit schafft und Beteiligungsmöglichkeiten aufzeigt. Wir erwarten durch das neue Liegenschaftsmanagement schließlich eine signifikante Entlastung des Haushaltes. Im Vergleich mit der Ist-Fortschreibung gehen die Berechnungen zum neuen Liegenschaftsmanagement von einer deutlichen Reduzierung des Mittelbedarfs um mehr als 2 Milliarden Euro, kumuliert für die nächsten zehn Jahre, aus. Selbst gegenüber einer internen Optimierung der Bundeswehrverwaltung, bei der sämtliche der Verwaltung zur Verfügung stehenden Effizienzhebel berücksichtigt sind, wird durch das Konzept des neuen Liegenschaftsmanagements eine günstige Ausgabensituation prognostiziert. ({1}) - Da ich gerade in Gänze Ihre Große Anfrage beantworte, sehen Sie mir nach, Herr Kollege Braun, dass ich eine weitere FDP-Frage zu diesem ganzen Komplex ausnahmsweise nicht beantworten, sondern im Zusammenhang vortragen möchte. Darüber hinaus soll das neue Liegenschaftsmanagement die Möglichkeit eröffnen, private Investoren in erheblichem Umfang zur Finanzierung der Investitionen zu gewinnen, wie es die Beschlüsse der Bundesregierung zur Modernisierung des Staates vorsehen. Obwohl bereits wesentliche konzeptionelle Schritte unternommen worden sind, wird die Realisierung des neuen Liegenschaftsmanagements noch einiger weiterer Abstimmung bedürfen. Das Konzept liegt derzeit, wie es sich gehört, dem Bundesminister der Finanzen und dem Bundesrechnungshof zur Prüfung vor. Erst nach deren Billigung - auch das ist üblich - ist die Befassung des Haushaltsausschusses möglich. Gerade im Hinblick auf den noch laufenden Abstimmungsprozess bitte ich Sie, Kolleginnen und Kollegen dieses Hohen Hauses, um Ihre parlamentarische Unterstützung für dieses bedeutsame, wichtige und unverzichtbare Reformprojekt. Schließlich ist dieses Vorhaben ein integraler Bestandteil der Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf. Diese Reform ist mehr als nur eine wichtige Voraussetzung für die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands. Sie ist auch ein Kernelement unseres Regierungsprogramms zum Aufbau eines modernen Staates und einer modernen Verwaltung sowie der Streitkräfte in herausfordernden Zeiten. Deshalb ist die Reform nicht allein eine Investition in die Zukunft der militärischen und zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr, sondern auch in die Zukunft unseres ganzen Landes. Die Richtung der Reform mit den integrierten Managementbestandteilen ist auf einem guten Weg; die Richtung stimmt. Ich bitte auch von dieser Stelle aus alle Soldatinnen und Soldaten, sich mit Engagement, aber auch mit konstruktiver Kritik in diesen Prozess einzuschalten und ihn mit voranzubringen. Ich danke. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Paul Breuer für die CDU/CSU.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zugegeben, die Materie ist sehr komplex und für manche auch sehr öde. Ich weiß auch nicht, wer hier wen bedauern soll: diejenigen, die zuhören, diejenigen, die reden, oder diejenigen, die reden, die, die zuhören müssen. Ich freue mich jedenfalls, dass Sie hier sind, ({0}) und will einen Beitrag dazu leisten, die trockene Materie so lebhaft wie möglich zu gestalten. Das neue Liegenschaftsmanagement der Bundeswehr ist im Übrigen keine Nebensächlichkeit. Es ist insofern sehr wichtig, als es ein wesentlicher Bestandteil des neuen Wirtschaftlichkeitskonzepts für die Bundeswehr sein soll. Das Wirtschaftlichkeitskonzept soll ja letztlich dafür sorgen, dass der dramatisch unterfinanzierte Verteidigungshaushalt besser in Modernisierung investieren kann. Ich behaupte: Dieses neue Liegenschaftsmanagement ist tote Hose, es ist ein absoluter Flop. Dadurch werden nicht etwa die Investitionen verstärkt, sondern es besteht sogar die Gefahr, dass sie ausgehöhlt werden. ({1}) Meine Damen und Herren, Minister Scharping behauptet in seiner Bilanz „Bundeswehr 2002 - Sachstand und Perspektiven“, dass die von ihm so genannte größte Reform der Bundeswehr aller Zeiten erfolgreich sei und sich die Ergebnisse und Perspektiven auf dem Weg in die Zukunft der Bundeswehr sehen lassen könnten. Es ist unsere Aufgabe, zu untersuchen und zu überprüfen, ob Scharpings Ausführungen und die Realität in der Bundeswehr übereinstimmen. Das Liegenschaftsmanagement ist ein Beispiel, an dem man das exerzieren kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch von der Regierungskoalition, lassen Sie uns einmal gemeinsam schauen, welche Ergebnisse uns Herr Scharping nach über zwei Jahren Arbeit an seinem Konzept für das neue Liegenschaftsmanagement der Bundeswehr vorgelegt hat. In der Antwort auf die Große Anfrage der FDP versucht Scharping in der Vorbemerkung den Eindruck zu erwecken - der Parlamentarische Staatssekretär Kolbow hat den Eindruck eben noch einmal untermauert -, als stünde dieses Konzept für das neue Liegenschaftsmanagement der Bundeswehr innerhalb der Bundesregierung kurz vor der endgültigen Abstimmung, es sei nur noch der Wirtschaftlichkeitsnachweis zu erbringen. Ich zitiere aus der Antwort auf die Große Anfrage. Auf Seite 3 heißt es: Die operative Geschäftstätigkeit im Neuen Liegenschaftsmanagement soll - in Abhängigkeit von der parlamentarischen Billigung des Konzepts - beginnend in der Jahresmitte 2002 aufgenommen werden. Demnach stünde sie unmittelbar bevor. Mir liegt ein Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vor. Das habe ich in der Straßenbahn hier in Berlin gefunden. ({2}) Das Schreiben liegt Ihnen hoffentlich auch vor, Herr Kollege Kolbow. ({3}) - Der fährt nicht mit der Straßenbahn. ({4}) Es ist ein Schreiben vom 16. Mai 2002. Der Finanzminister gehört im Übrigen derselben Partei an wie Sie, Herr Kollege Kolbow. ({5}) Wenn ich dieses Schreiben vom 16. Mai 2002 lese, stelle ich fest, dass der Bundesminister der Finanzen erkennen lässt, dass er nach wie vor erhebliche Fragen zu Ihrem Konzept hat. Das steht nun nicht in Übereinstimmung damit, ({6}) dass es praktisch übermorgen in Kraft treten kann. Das Schreiben kann morgen jeder von mir bekommen. ({7}) - Das ist eine Zusage. Sie können das Schreiben in meinem Büro bekommen. Ich bin bereit, es jedem zu geben. In seinem Schreiben lässt das Bundesministerium der Finanzen erkennen, dass zum Beispiel die Frage der Grunderwerbsteuer bzw. der Grunderwerbsteuerbefreiung - es soll ja eine Gesellschaft die Liegenschaften übernehmen, im Übrigen sollen auch Mieten fließen - nach wie vor nicht geklärt ist. Es stellt dem Bundesverteidigungsminister die Aufgabe, diese Frage umgehend zu klären. Ich kann nur eines sagen, Herr Kolbow: Wenn das Konzept zur Mitte dieses Jahres in Kraft gesetzt werden soll, wie es in der Antwort auf die Große Anfrage steht, müssen Sie sich sehr beeilen. Avanti dilettanti! Denn hier geht es um ein milliardenschweres Risiko. Sie gehen leichtfertig in eine Sache hinein, die ich nur als ganz heiße Luftnummer bezeichnen kann. ({8}) Im Übrigen muss Herr Scharping in der Antwort auf Frage 31 der FDP-Fraktion einräumen, dass die Höhe der Mieten - das ist keine unwesentliche Fragestellung; denn hier geht es um erhebliche Summen - bis heute nicht feststeht. Meine Damen und Herren, wie kann man denn im Verhältnis zwischen Mieter und Vermieter von Wirtschaftlichkeit sprechen, wenn man gar nicht weiß, wie dieses Verhältnis im Hinblick auf die Miethöhen überhaupt ist? In den Beratungen zum Haushalt 2001 hat Verteidigungsminister Scharping uns von der Opposition vorgeworfen - viele werden sich erinnern -, wir würden im Hinblick auf unsere Einschätzung der Privatisierungspläne einen milliardenschweren Fehler machen. Nachdem ich gesehen habe, wie der Finanzminister Ihre Wirtschaftlichkeitsüberlegungen, die er gar nicht erkennen kann, bewertet, sage ich jetzt eines: Sie sind ein milliardenschweres Risiko eingegangen und stehen in der Gefahr, selbst einen milliardenschweren Fehler zu begehen. In seinen Antworten auf die Fragen zur Zukunft des Personals versucht das Bundesverteidigungsministerium - lesen Sie Nr. 26 folgende - zu erklären, dass die Einsatzmodalitäten und die Kosten für die Übernahme der Bundeswehr so gut wie geklärt seien. Der Bundesfinanzminister hat aber erhebliche Nachfragen dahingehend, wie das Konzept auf der Orts- und Mittelinstanz und im Ministerium selbst aussieht. Das heißt, Sie behaupten etwas, was Sie bis jetzt noch nicht einmal Ihrer eigenen Bundesregierung, dem mitentscheidenden Finanzressort, erklären konnten. Wenn das Konzept aber noch nicht einmal dem Finanzminister zu 100 Prozent erklärt werden kann, dann ist es eine dreiste Frechheit, dem Parlament solch unzulängliche Antworten, wie das hier geschieht, zu geben. Das ist eine Missachtung des Parlaments. ({9}) - Ja, Wahrheit ist Wahrheit. Also, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bei aller persönlichen Sympathie und Wertschätzung sage ich Ihnen: Lesen Sie die Fragen des Bundesfinanzministers an den Verteidigungsminister. Sie werden sehen: Breuer hat Recht - zumindest heute. ({10}) Im Übrigen ist das Konzept Scharpings einer besonderen Gruppe auch nicht klar. Diese Gruppe sind die betroffenen Mitarbeiter der Bundeswehr. Dabei handelt es sich um 18 000 Arbeiter und Angestellte. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD - das müsste Ihr sozialdemokratisches Herz richtig anrühren; denn sie sind keine Großverdiener, sondern kleine Leute -, diese 18 000 Arbeiter und Angestellten sind zu 100 Prozent verunsichert. Ihr Finanzminister ist verunsichert und glaubt nicht daran, dass das Konzept überhaupt zum Tragen kommt, und diese Leute bangen um ihre Existenz. ({11}) - Herr Kollege Arnold, ich will Ihnen Folgendes sagen: Ich weiß, dass Sie die Bundeswehr besuchen und dort auch ernsthafte Gespräche führen. Aber wenn Sie sagen, das sei schäbig, dann sind Sie nicht bereit, die Realität anzuerkennen. Sie können in der Bundeswehr fragen, wen Sie wollen. Sie werden feststellen müssen: Diese Leute sind wirklich zu 100 Prozent verunsichert. Das wissen Sie auch. ({12}) Nun komme ich auf die Zivilbeschäftigten bei der Bundeswehr zu sprechen. Die Zivilbeschäftigten müssen im Übrigen folgende Erfahrung machen: Egal, was sie tun - es ist immer falsch. Hierfür gibt es das Beispiel der Standortverwaltung Düren, deren Mitarbeiter ein eigenes Optimierungskonzept vorgelegt haben. Es stellte sich heraus, dass die Realisierung dieses Konzepts günstiger und wirtschaftlicher als eine Privatisierung wäre. Trotzdem haben sie den Eindruck, dass dieses positive Ergebnis von der Bundesregierung regelrecht ignoriert wird. Es spielt keine Rolle. An die Mitarbeiter wird das Signal gegeben, dass sie sich zwar anstrengen können, wie sie wollen, dass dem aber eine Ideologie gegenübersteht: die Konfrontation und Ideologie im Verteidigungsministerium. Dies führt zu absoluter Demotivation. ({13}) Meine Damen und Herren, der BMF hat in seinem Schreiben vom 16. Mai auch erhebliche Fragen zur zukünftigen Gesellschaftskonstruktion und zu erwarteten Veräußerungserlösen gestellt. Ich zitiere: Die geschätzten Veräußerungserlöse von rund 2 Mrd. Euro - ich wiederhole: 2 Milliarden Euro, keine Kleckersumme beruhen auf einem Grundstücksflächenverkauf von rund 151 Millionen Quadratmetern. Jetzt fragt der Bundesfinanzminister den Verteidigungsminister, der uns hier weismachen will, es sei alles geregelt: ({14}) Welche Umstände berechtigen nach den bisherigen Verwertungsergebnissen zur Annahme, den ehrgeizigen Zeitplan für die Veräußerungen einhalten zu können? Was rechtfertigt die Annahme ({15}), dass bereits 2003 und 2004 Erlöse von über 650 Millionen Euro aus den Entwicklungsliegenschaften zu erwarten sind? Welche Vorkehrungen sind getroffen, um finanzielle Lücken durch Verzögerungen bei den Veräußerungen oder geringere Veräußerungserlöse zu schließen? Das waren die Fragen des Finanzministers an den Verteidigungsminister, und dieser tritt hier in Person des Parlamentarischen Staatssekretärs Kolbow auf und will den Eindruck erwecken, es sei alles geregelt. Nichts ist geregelt, Herr Kollege Kolbow, und das Parlament wird hier verhöhnt. ({16}) Nach dem katastrophalen Ergebnis der bisherigen Tätigkeit der GEBB - sie ist vom Kollegen Koppelin eben schon gewürdigt worden ({17}) hat diese für das Jahr 2001 auch bei großzügiger Auslegung 111 Millionen Euro - gegenüber einer um 80 Prozent höheren Erwartung - bei der Verwertung von Liegenschaften erzielt. Das anvisierte Ziel ist völlig verfehlt worden. Die Frage des Finanzministers, was eigentlich den Optimismus rechtfertigt, ist auf der Basis dessen, was in der Vergangenheit geschehen ist, völlig berechtigt. Entscheidender Mangel des Konzepts des Bundesverteidigungsministers ist, dass bis heute der Wirtschaftlichkeitsnachweis für das neue Liegenschaftsmanagement nicht erbracht werden kann. Daran, dass dies vor der Sommerpause, Herr Kollege Kolbow, damit vor dem Ende der Legislaturperiode und vor dem Ende der Amtszeit des Bundesverteidigungsministers überhaupt noch gelingt, haben nicht nur der Finanzminister und der Bundesrechnungshof, sondern auch wir ganz erhebliche Zweifel. Auch in der militärischen Führung ist man im Hinblick auf diese Privatisierungspläne und ihre Ergebnisse verunsichert. Der Generalinspekteur brachte es auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr auf den Punkt, als er sagte - ich zitiere -: Das ist ja gerade unser Problem, dass wir eben nicht genau wissen, was wirklich wo abfließt und was wirklich wohin kommt. Sie versuchen hier, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Ich kann Ihnen nur sagen: Einen solchen Trümmerhaufen hat es, solange wie das Bundesverteidigungsministerium existiert, noch nie gegeben, Herr Kollege Kolbow. ({18}) - Frau Kollegin Wohlleben, Sie sagten, wir hätten ihn hinterlassen, aber dieses Konzept hat es vorher nicht gegeben. Das ist ein Konzept, das mit großem Brimborium angekündigt worden ist und die Wirtschaftlichkeitsreform schlechthin bringen sollte. ({19}) Ich stelle Ihnen das Schreiben des Finanzministers an den Verteidigungsminister gern zur Verfügung. Das Konzept ist eine absolute Katastrophe und Bauchlandung. ({20}) Aber nicht nur bei der Privatisierung des Liegenschaftsmanagements stellt sich heraus, wie unseriös Ihre Planungen sind. Bei der gestrigen Sitzung des Verteidigungsausschusses hatten die Kollegen nicht nur bei dieser Frage, die gestern nicht angesprochen wurde, sondern auch bei weiteren Fragen den Eindruck, dass vieles nicht durchdacht ist. Wir haben uns gestern mit der so genannten Heeresinstandsetzungslogistik beschäftigt. Da wollen Sie funktionierende Strukturen zerschlagen, ohne bisher den Nachweis der Wirtschaftlichkeit erbracht zu haben. ({21}) Das Ganze ginge zulasten der Einsatzfähigkeit der Truppe; denn circa 12 000 Soldaten des Heeres - das ist das Ergebnis der gestrigen Sitzung, Herr Kollege Nachtwei -, die in der Reformplanung als Kämpfer vorgesehen sind, müssten in der Logistik arbeiten, wenn der Wirtschaftlichkeitsnachweis für das neue Konzept nicht erbracht werden kann. Dass gerade das Heer zusätzliche Kampftruppen benötigt, ist angesichts der Einsatzerfordernisse, die derzeit bestehen, völlig unbestritten. Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt sagen, dass der Nachweis der Wirtschaftlichkeit nicht erbracht worden ist. Herr Scharping hat gestern gesagt, dass es eine Alternativplanung gebe, gemäß der diese 12 000 Soldaten eben nicht als Kämpfer vorgesehen sind. Bei der Heeresinstandsetzungslogistik geraten Sie in Abhängigkeit von einem Monopolanbieter in Form eines Konsortiums. Es gibt keinen Wettbewerb mehr. Was da passiert, ist für mich eine ordnungspolitische Gruselvorstellung. Wettbewerb ist die Grundlage für Wirtschaftlichkeit, gerade was die Abwicklung der Logistik der Bundeswehr angeht. ({22}) Frau Kollegin Wohlleben, der Mittelstand und die kleinen Unternehmen haben in Ihren Konzepten überhaupt keine Bedeutung. Es geht bei allen Projekten immer nur um zentralistische Lösungen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke für den Hinweis, Frau Präsidentin.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Sie sollen ihn auch beachten. ({0})

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. ({0}) - Für Sie, Frau Kollegin Wohlleben, ist die Wahrheit eine Zumutung. Aber Sie müssen sie schon ertragen. Weil ich den Eindruck habe, dass Sie eine Verdrängungskünstlerin ersten Ranges sind, ({1}) stelle ich Ihnen gerne alle Unterlagen zur Verfügung. Wenn Sie lesen, was der Finanzminister geschrieben hat, dann werden Sie - davon bin ich überzeugt - einen ausgeprägteren Realitätssinn entwickeln. Sie werden feststellen, dass das, was die Bundesregierung Ihnen vorgaukelt, von der Realität weit entfernt ist. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Winfried Nachtwei für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit drei Tatsachen: Erste Tatsache. Die Politik, also dieses Parlament, hat der Bundeswehr sehr umfassende, sehr verantwortungsvolle und sehr riskante Aufgaben übertragen. Damit die Bundeswehr diese Aufgaben in verantwortlicher Weise erfüllen kann, ist eine entsprechende Modernisierung, eine Konzentration auf Kernfähigkeiten und eine höhere Investitionsquote unabdingbar. Zweites Faktum. Der Haushaltsrahmen liegt in den nächsten Jahren im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung fest bei 24,4 Milliarden Euro, die Zusatzmittel aus dem Antiterrorprogramm eingerechnet. Die Maastricht-Kriterien sind unumstößlich. Die jüngste Steuerschätzung erbrachte die ernüchternde Prognose, dass bis 2005 Mindereinnahmen in Höhe von ungefähr 65 Milliarden Euro zu erwarten sind. Die Konsequenz für alle Fraktionen in diesem Hause ist, dass es substanzielle Erhöhungen im Bereich des Wehretats - wie auch bei anderen Etats - nicht geben kann. Das ist ganz eindeutig. ({0}) Der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU, Austermann, forderte ja in populistischer Weise sogar über 1 Milliarde mehr. Sie wissen doch selbst, dass diese Summe angesichts der gesamtstaatlichen Verantwortung der Politik nicht drin ist. Dritte Tatsache. Externe Studien, Stellungnahmen von Beratern, aber auch Erfahrungen aus der Wirtschaft belegen sehr deutlich, dass die Bundeswehr in ihrem gesamten Betrieb noch erhebliche Einsparpotenziale hat und dass interne Optimierungen diese Einsparpotenziale bisher nur zum Teil mobilisieren konnten. Allerdings muss man sehen, dass die internen Optimierungen auch Grenzen haben. Deshalb ist es völlig richtig - dies muss man vor allem angesichts der Rede des Kollegen Breuer betonen -, ({1}) dass die Bundesregierung mit diesem umfassenden Modernisierungsprozess begonnen hat, um Effektivität und Effizienz der Betriebsabläufe zu verbessern und darüber Erlöspotenziale zu mobilisieren. Hierbei ist die Neuausrichtung der Liegenschaftsverwaltung eine zentrale Säule. Immerhin geht es um 2 500 Liegenschaften mit 42 Millionen Quadratmetern Gebäudenutzfläche. Diese grundlegende Neuordnung hat zum Ziel, die betriebsnotwendigen Liegenschaften effizienter zu nutzen und nicht betriebsnotwendige Liegenschaften besser zu verwerten. Die Bundeswehr konzentriert sich in der Liegenschaftsverwaltung auf ihre Kernkompetenzen und Kernaufgaben. Ansonsten werden Dienstleistungen auf privat organisierte Dritte ausgelagert. Mit der Trennung von Eigentümer-, Betreiber- und Nutzerfunktion werden klare Verantwortungsstrukturen und damit Anreize zu höherer Wirtschaftlichkeit geschaffen. Dieser Umstrukturierungsprozess erfolgt nicht Hals über Kopf, sondern in sorgfältig durchdachten Schritten. Zunächst wird im Wehrbereich Nord als Startregion eine Bundeswehrliegenschaftsgesellschaft gegründet. Sobald die Ergebnisse aus der Arbeit dieser Dienstleistungsgesellschaft vorliegen werden, werden sie sorgfältig ausgewertet. Daraufhin wird das Konzept modifiziert und flächendeckend eingeführt werden. Das ist eine überaus seriöse Vorgehensweise. Der Prozess der Modernisierung und Effektivierung der inneren Abläufe der Bundeswehr hat auch erhebliche psychologische Aspekte. Für überkommene Strukturen des Gesamtsystems Bundeswehr stellt das, was jetzt begonnen wird, einen geradezu revolutionären Vorgang dar, der selbstverständlich nicht nur Beharrungs- und Abwehrkräfte weckt, sondern auch Verunsicherung hervorruft. Deshalb ist eine sorgfältige Darstellung und Vermittlung dieses Prozesses von ganz besonderer Bedeutung. Einer solchen sorgfältigen Vermittlung dient es sicherlich nicht, wenn überhöhte Erwartungen geweckt werden; denn ihnen folgen immer auch umso tiefere Enttäuschungen. Ein weiterer psychologischer Aspekt ist, dass bei der notwendigen kritischen Begleitung dieses komplizierten Prozesses Vorsicht geboten ist. Deutlich wurden mir die unterschiedlichen Vorgehensweisen, als ich erlebte, wie ein anderer Vertreter der CDU/CSU-Fraktion im Verteidigungsausschuss mit diesem Prozess umging. Er machte überzeugend klar, dass man den Gesamtprozess unterstützt, und übte erst dann an Einzelpunkten Kritik. Beim Kollegen Breuer ist dies selbstverständlich umgekehrt. Diese Art der Kritik schlägt ins Gegenteil um, denn sie schürt nicht nur Verunsicherung, sondern sie instrumentalisiert die vorhandene Verunsicherung regelrecht. ({2}) Was wird das neue Liegenschaftsmanagement bringen? ({3}) Gegenwärtig kann man darauf in der Tat keine konkrete Antwort geben, da das entscheidend vom Fortgang der Bundeswehrreform in den nächsten Monaten abhängt; ich denke hier auch an die Zeit nach dem 22. September. Heute habe ich zwei Hinweise erhalten, dass dieser Modernisierungsprozess noch an Tiefe und Konsequenz zunehmen könnte. Die Molinari-Stiftung des Bundeswehrverbandes veranstaltete heute eine interessante Tagung, ({4}) auf der der Schweizer Professor Haltiner auf den europaweiten Trend einer regelrechten Strukturrevolution bei den Streitkräften hinwies, die Professionalisierung, Verschlankung usw. einschließt. Dort wurde festgestellt, dass die Bundeswehr im europäischen Vergleich offensichtlich erst im Mittelfeld liegt. Heute war in der „Süddeutschen Zeitung“ das Interview mit dem ehemaligen Heeresinspekteur Willmann zu lesen. Er hat deutlich gemacht, dass seiner Auffassung nach eine weitere Reduzierung, Effektivierung und Modernisierung der Bundeswehr unbedingt notwendig sei. Ich glaube, man würde es sich zu leicht machen, die Äußerung des pensionierten Generals als die Erleuchtung eines Pensionärs abzutun. Dahinter steht erheblich mehr.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich komme zum Ende. - Das sind für mich Indikatoren, dass sich die Aufgaben auch des neuen Liegenschaftsmanagements noch erheblich verschieben können. Unabhängig davon ist der von der Bundesregierung begonnene Modernisierungsprozess notwendig und - das muss man ausdrücklich anmerken - auch mutig; er verdient deshalb breite Unterstützung. Danke schön. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die PDS-Fraktion erteile ich dem Kollegen Dr. Uwe-Jens Rössel das Wort. ({0})

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Darüber sprechen wir später. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minister Scharping braucht Geld, viel Geld. Er hat schon aus dem Hause Eichel großzügige Unterstützung erhalten, um sich über das im Verteidigungsetat veranschlagte Geld zusätzliches für Investitionen zu beschaffen. Damit wiederum soll unter anderem die Interventionsstrategie der Bundeswehr finanziert werden. Die PDS-Fraktion lehnt diese Interventionsstrategie entschieden ab. ({0}) Im Einvernehmen der Minister Scharping und Eichel wurde im August 2000 die privatrechtlich organisierte Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb - kurz GEBB - gegründet. Dazu ist bereits wiederholt gesprochen worden. Einnahmen dieser Gesellschaft durch Erlöse aus Vermietung, aus Verpachtung, aus dem Verkauf von Liegenschaften oder aus der Veräußerung von beweglichem Vermögen bis zu 600 Millionen Euro können jährlich in den Verteidigungsetat eingestellt werden. Solche immensen Vorteile räumt Hans Eichel keinem anderen Kabinettskollegen ein. Die Ergebnisse aber, die die GEBB heute aufweisen kann, sind absolut verheerend. ({1}) Sie jedoch, Herr Staatssekretär Kolbow, malen ein rosarotes Bild und geben eine realitätsferne Darstellung. Anstatt der geplanten 500 Millionen Euro wurden im Vorjahr nämlich nicht einmal 10 Millionen Euro eingefahren. Wo bleibt hier die Wirtschaftlichkeit? Sogar die Anschubfinanzierung des Bundes für die GEBB aus Steuermitteln fällt noch weitaus höher als die besagten 10 Millionen Euro aus. Es ist an der Zeit, die Arbeit dieser Steuermittelvernichtungsmaschinerie GEBB schnellstens zu beenden. ({2}) Minister Scharping aber will die GEBB - dem Sachverstand im eigenen Haus zum Trotz - ausdrücklich weiter ausbauen. Er beabsichtigt jetzt, die angesprochene Neuordnung des Liegenschaftsmanagements durch Gründung eigenständiger, privatwirtschaftlich organisierter Teilgesellschaften fortzuführen. Diese Neuordnung des Liegenschaftsmanagements ist aber sehr fragwürdig, offensichtlich auch für den Bundesfinanzminister. Die PDS - das kann ich an dieser Stelle bereits versprechen - wird dieses Projekt bei der Beratung des Konzeptes in den nächsten Wochen im Haushaltsausschuss ablehnen. ({3}) Ganz im Sinne der GEBB-Konstruktion besteht die alleinige Orientierung nämlich darin, Finanzmittel zu erwirtschaften. Woher sie kommen sollen, bleibt allerdings offen. Entsprechend dem Konzept will die Bundesregierung zugleich die Möglichkeiten der Konversion von Flächen der Bundeswehr insbesondere für eine Ansiedlung von Arbeitsplätzen ausdrücklich einschränken. Die öffentliche Verwaltung läuft überdies aufgrund der Privatisierungseuphorie à la Scharping Gefahr, irreparablen Schaden zu nehmen. Darauf weist auch der Verband der Beamten der Bundeswehr in seinem Schreiben an die Mitglieder des Haushaltsausschusses nachdrücklich hin. Der Verband - dazu ist vom Staatssekretär überhaupt nichts gesagt worden - stellt dem Privatisierungswahn von Rudolf Scharping ein alternatives Konzept für die Verbesserung des Liegenschaftswesens der Bundeswehr entgegen. Dies entspricht der Wahrheit, Herr Staatssekretär, und nicht Ihre Darstellungen aus dem Lande Rosarot. Der Verband fordert Minister Scharping auf, den bislang von ihm verhinderten Weg der Optimierung und Rationalisierung des Liegenschaftswesens anstelle der Neugründung aufwendiger privatwirtschaftlicher Gesellschaften mit immensen Belastungen für den Bundeshaushalt zu beschreiten. Die PDS-Fraktion sieht dies ebenso. Sie verlangt darüber hinaus, die durch eine Erhöhung der Effektivität des Liegenschaftsmanagements erzielbaren Erlöse statt für die qualitative Ausrüstung zielgerichtet für die Rüstungskonversion einzusetzen. Dies wäre ein gangbarer Weg. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die SPD-Fraktion erteile ich dem Kollegen Rainer Arnold das Wort.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen, werte Kollegen! Wir haben dieses Land in den letzten vier Jahren auf einen neuen Kurs ({0}) - ja, ja - in Richtung Erneuerung und Modernisierung gebracht. Für diesen Kurs steht auch die Reform der Bundeswehr. Schon heute können wir sagen: Die Bundeswehrreform ist ein Modernisierungsprojekt auf richtigem Kurs. ({1}) Sie zitieren doch so gerne den Generalinspekteur, dann hören Sie ihm auch dann zu, wenn er sagt, dieser Prozess sei unumkehrbar. ({2}) Ein solches Vorhaben wie die Bundeswehrreform erfordert gelegentlich Mut, manchmal auch steinige Wege zu gehen. ({3}) Es gibt natürlich viele Leute in der Politik, manchmal aber auch in einem Ministerium, die gern wollen, dass diese Steine rollen. ({4}) Das wissen wir. Sie, Herr Breuer, sollten sich sehr gut überlegen, ({5}) wessen Partner Sie sind. ({6}) Sind Sie wirklich der Meinung, dass diejenigen, die die Steine in den Weg rollen, es gut mit der Bundeswehr und ihrem gesamten Auftrag meinen? Ich denke, diese haben andere Interessen. Es ist schon interessant, wie solide Ihre Sprecher im Ausschuss über die Kooperation mit der Wirtschaft diskutieren, während Sie dieses Projekt hier im Bundestag mit Schaum vor dem Mund abhandeln ({7}) und alle Vorurteile, die man überhaupt nur aus der Schublade ziehen kann, hier auf den Tisch legen. Dies geht bis hin zu der Frage der Heereslogistik. Dabei wissen Sie ganz genau, dass dieses kleine mittelständische Unternehmen natürlich kein solch komplexes System wie den Leo 2 und vieles andere mehr warten kann. Sie wissen dies alles. Bei diesem Projekt Liegenschaftsmanagement geht es eben nicht um ein modernistisches Outsourcing, sondern um das Zusammenführen der Fähigkeiten der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltung. Herr Koppelin, hierbei unterscheiden wir uns vielleicht ein kleines bisschen von den Privatisierungsmodellen der FDP, die eigentlich immer auf dem Prinzip beruhen: Lasst uns die Verluste sozialisieren, die Gewinne aber in der privaten Tasche belassen. Dies wollen wir nicht, ({8}) weil wir zusammenführen und zum Schluss etwas von den Vorteilen in unserer Tasche haben wollen. Das Liegenschaftsmanagement, um das es heute geht, ist hierfür ein gutes Beispiel. Wir brauchen diese Reform, um bei der Bundeswehr die investiven Spielräume in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft zu erreichen. Ich finde es spannend, dass gerade die Partei, die im Augenblick landauf und landab zieht und den Menschen erzählt, man müsse die Staatsquote deutlich senken, ({9}) dann, wenn es hier konkret wird, sagt: Nein, so wollen wir dies nicht haben. Dies ist nicht korrekt, sondern vordergründig und durchschaubar. ({10}) Um es noch klarer zu sagen: Wenn hier der Sprecher der CDU einen Brief, der ihm anonym aus einem Ministerium zugespielt wird, aus der Tasche zieht und mit ihm politisch operiert, wird wirklich deutlich, was ich damit gemeint habe. Daran wird auch deutlich, dass dieser Prozess, dieser Weg, den Minister Scharping eingeschlagen hat, unsäglich mühsam ist. ({11}) Er ist mühsam, weil er schwer ist. Er ist so schwer, dass Sie in Ihrer Regierungszeit darauf verzichtet haben, solche Wege einzuschlagen. ({12}) Sie sind den bequemen Weg gegangen und haben die Bundeswehr damit im Grunde genommen heruntergewirtschaftet. ({13}) Dieser Weg ist deshalb so schwer, weil es natürlich darum geht, den rechtlichen Rahmen zu finden, in dem wir uns bewegen können. Für meine Person sage ich dazu: Ich wünsche mir gelegentlich schon, dass der eine oder andere MinisterialDr. Uwe-Jens Rössel bürokrat eine gewisse Dehnung des rechtlichen Rahmens bezüglich der Modernisierung des Staates möglich machte. Diese brauchen wir, wenn wir eine moderne Gesellschaft bauen wollen - nicht nur bei der Bundeswehr. Das ist ein Musterbeispiel dafür, wie dieser Prozess in unserer Gesellschaft im Augenblick verläuft. ({14}) Ich habe mich natürlich gefragt, warum diese Große Anfrage das Liegenschaftsmanagement betrifft. Herr Koppelin, mir ist schnell klar geworden, warum. Sie fragen immer nach den Dingen, die sich noch im Prozess befinden. ({15}) - Natürlich. - An diesen arbeitet die GEBB logischerweise noch; das muss sie auch. Sie haben gar nicht verstanden, was die Aufgabe der GEBB ist. ({16}) Sie sprechen von dem großen Haus. Das ist überhaupt nicht wahr. Die GEBB soll etwas ganz anderes bilden. Sie ist das Dach, unter dem sich die Gesellschaften, die das operative Geschäft durchführen, ansiedeln. ({17}) Wenn Sie aufmerksam sind, werden Sie merken, dass Ihre Reden von vorgestern heute Lügen gestraft worden sind. Sie haben es beim Flottenmanagement und beim Bekleidungswesen gemerkt. In den nächsten Monaten werden Sie es beim Liegenschaftsmanagement und bei der ganz wichtigen und schwierigen Herkulesaufgabe, dem IT-Technik-Projekt, merken. Weil Sie nicht warten wollen, bis Erfolge da sind, kritisieren Sie herum, solange Menschen noch engagiert daran arbeiten. Gelegentlich wird aufgrund einer unterschiedlichen Interessenlage bei den Ministerien auch einmal gestritten. So ist es nun einmal in der Politik.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, klar.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Kollege.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Da Sie mir den Vorwurf machen, dass ich Sie, obwohl viele Dinge noch nicht abgeschlossen sind, kritisiert hätte, spreche ich nun eine Sache an, die abgeschlossen ist. Können Sie mir sagen, warum Frau Fugmann-Heesing hingeworfen hat und welche Abfindung sie erhalten hat? Dies ist ja bereits abgeschlossen. ({0})

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben die Antwort auf diese Frage schon wiederholt aus dem Haus erhalten. ({0}) Was ist eigentlich so sensationell und schlimm daran, dass man bei einer Firma, die sich im Aufbau befindet, nach einem Jahr merkt, dass Menschen und Konzepte möglicherweise nicht so zusammenpassen, wie man das brauchte und wollte? ({1}) - Lassen Sie einmal, Herr Koppelin. - Sie haben wirklich nicht begriffen, was Kooperation mit der Wirtschaft heißt. ({2}) Im Gegensatz zum Staat, bei dem ein Ministerialdirektor mit einem großen Beharrungsvermögen auf seinem Sessel bleiben kann, ist es der Vorteil in der Wirtschaft, dass man reagieren und austauschen kann, wenn die Dinge nicht so funktionieren, wie man es sich vorstellt. Das geschieht im Alltag doch jeden Tag. Was soll das Geschrei an diesem Punkt? ({3}) Lassen Sie mich noch ganz kurz zur Ausgangslage des Liegenschaftsmanagements kommen. 12 Prozent des Etats werden derzeit für die Verwaltung der Liegenschaften ausgegeben. Aufgrund der Reduzierung der Standorte der Bundeswehr kann sich doch jeder vorstellen, dass dieses Liegenschaftsmanagement angepasst werden muss. Ansonsten würde uns noch mehr Geld für den investiven Bereich fehlen. Jeder von uns, der Standorte besucht, hat schon gesehen, wie unwirtschaftlich dort gelegentlich gedacht wird. ({4}) Es sind dort zum Teil nämlich Flächen vorhanden und es werden Gebäude unterhalten, die man nicht mehr benötigt. Die Soldaten, die sich darüber Gedanken machen, sind für die Kosten im Grunde genommen gar nicht zuständig. Sie leben nach dem Motto: Die Kosten sind ohnehin da, also braucht sich niemand so richtig darum zu kümmern. Genauso ist es. Wer dies nicht ändert, schadet der Bundeswehr. ({5}) Herr Breuer, der Bundesrechnungshof, den Sie so gerne zitieren, sagte exakt das Gleiche in seinem Bericht vom Jahr 2001: Es fehlt im Liegenschaftsbereich an Transparenz und Konzeption. Ich sage dies nur nebenbei. Ich nenne zwei Beispiele, die zeigen, wie notwendig der Wandel ist: In der Wirtschaft kostet das Managen jedes Quadratmeters einer Liegenschaft 5 Euro. Bei der Bundeswehr kostet das Bewirtschaften eines Quadratmeters 11 Euro. Wollen wir das Geld wirklich für so etwas statt für einsatzfähige Soldaten ausgeben? ({6}) Die Bundeswehr hat 600 Stromlieferverträge abgeschlossen. Ich will gar nicht wissen, wie viele Menschen sich damit befassen, diese zu administrieren. Das kostet viel Geld. Das Schlimmste ist aber, dass wir im Durchschnitt 8 Cent für jede Kilowattstunde zahlen. In der Wirtschaft bezahlt man 5,5 Cent. An den Beispielen erkennt man, was alles machbar wäre, wenn es hier eine koordinierte Liegenschaftsplanung gäbe. ({7}) Dieses Liegenschaftsmanagement bietet die Chance, in den nächsten zehn Jahren zwischen 2,5 Milliarden und 4 Milliarden einzusparen. Das ist notwendig, um die Liegenschaften zu modernisieren und zu sanieren. Wir besuchen beide in der Tat Standorte, Herr Breuer, und Sie haben Recht: Das Personal - das finde ich besonders schlimm - ist verunsichert ({8}) wie in jedem Unternehmen, das einem schwierigen Modernisierungsprozess unterworfen ist. Das war bei Daimler nicht anders. Aber statt den Menschen mit den Fakten und der Wahrheit Halt und Sicherheit zu geben, reisen Sie mit Ihren Kollegen herum und schüren unnötig Ängste. Das ist schäbig. ({9}) Es bleibt dabei: Das neue Liegenschaftsmanagement stellt die exakte sozialverträgliche Antwort auf die Verkleinerung der Bundeswehr dar. Es wird keine betriebsbedingten Kündigungen geben und es muss auch niemand gehen, sondern Dienstherr bleibt die Bundeswehr. Das heißt, die Sicherung der Arbeitsplätze bedeutet vor allem für bewegliche Mitarbeiter - von denen haben wir zum Glück sehr viele, die gute Arbeit leisten und darunter leiden, dass der bürokratische Rahmen so eng ist - eine Chance, sich zu entwickeln und neue berufliche Perspektiven zu erschließen. Das Liegenschaftsmanagement bietet aber nicht nur dem Personal eine Chance, sondern vor allen Dingen auch den Soldaten als Nutzer durch eine deutliche Verbesserung der Qualität an den Standorten. Sie werden in Zukunft diese Leistungen bestellen und sich aussuchen können, welche Leistungen sie wirklich brauchen. Sie sind dann auch für die Kosten ein Stück weit stärker verantwortlich. Gut ausgebildete Offiziere wünschen sich doch eine solche Mitwirkung. Wir schicken sie auf die Hochschule und sie kommen teilweise als Betriebswirte zurück. Wir müssen sie gewähren lassen; dann kommt auch etwas Vernünftiges dabei heraus. ({10}) Das Liegenschaftsmanagement bedeutet auch für den Bundeswehretat eine gute Chance. Wir haben die bevorstehende Entlastung bereits im 35. Finanzplan mit berücksichtigt. Lassen Sie mich zum Schluss festhalten: Wer diese Vorteile blockiert oder immer wieder Sand ins Getriebe streut, kocht entweder vordergründig politische Wahlkampfsüppchen ({11}) oder hat sich möglicherweise persönlich als Beschäftigter allzu bequem in der alten Struktur eingerichtet. Das gibt es gelegentlich; das muss auch offen angesprochen werden. ({12}) Wer es aber - andersherum betrachtet - mit der Bundeswehr und ihrem Auftrag gut meint und die Soldaten bei ihrer Auftragserfüllung unterstützen will, muss den eingeschlagenen Weg der Modernisierung gerade bei dem Liegenschaftsmanagement nachhaltig und mit aller Kraft unterstützen. Herzlichen Dank. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Solidarpaktfortführungsgesetzes - Drucksache 14/8979 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Sonderaus- schusses Maßstäbegesetz/Finanzausgleichsgesetz - Drucksache 14/9154 - Berichterstattung: Abgeordnete Horst Schild Heinz Seiffert Gisela Frick Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich eröffne die Aussprache. Da alle Reden zu Protokoll gegeben worden sind, schließe ich die Aussprache.1) Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf. Der Sonderausschuss Maßstäbegesetz/Finanzaus- gleichsgesetz empfiehlt auf Drucksache 14/9154, den Ge- setzentwurf anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor, über den ich zunächst abstim- men lasse. Wer dem Änderungsantrag der PDS auf Druck- sache 14/9276 zustimmt, den bitte ich um das Handzei- chen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist der Änderungsantrag abgelehnt. 1) Anlage 4 Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der FDP und der PDS ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der CDU/CSU ist der Gesetzentwurf angenommen. Ich rufe die Zusatzpunkte 11 bis 15 auf: ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ({1}), Dr. Sabine Bergmann-Pohl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Historische Mitte Berlin - Drucksache 14/9023 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Eckhardt Barthel ({3}), Hans-Werner Bertl, Monika Griefahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohling, Kerstin Müller ({4}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Empfehlungen der Internationalen Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“ - Drucksache 14/9222 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({5}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Hans-Joachim Otto ({6}), Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wiederherstellung der historischen Mitte Berlins - Drucksache 14/9243 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({7}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau, Dr. Christa Luft, Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Die Mitte der Spreeinsel als offenes Bürgerforum gestalten - Empfehlungen der Expertenkommission öffentlich diskutieren - Drucksache 14/9244 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({8}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss ZP 15 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich Fink, Dr. Gregor Gysi, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Gewölbe unter dem ehemaligen Nationaldenkmal auf dem Berliner Schlossplatz für die Öffentlichkeit zugänglich machen - Drucksachen 14/3120, 14/6914 Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Barthel ({10}) Dr. Antje Vollmer Hans-Joachim Otto ({11}) Dr. Heinrich Fink Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind Sie einverstanden. Die Redezeit wird auch in Anspruch genommen. Deshalb eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kollegen Eckhardt Barthel für die SPD-Fraktion das Wort.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte, die wir heute führen, läuft in der Öffentlichkeit unter der Überschrift Schlossdebatte. Seit über zehn Jahren wird zumindest in Berlin leidenschaftlich über die Gretchenfrage diskutiert: Wie hältst du es mit dem Schloss? ({0}) Es geht aber nicht nur um das ehemalige Berliner Schloss, sondern um mehr, nämlich um das gesamte dazugehörende Areal, um die historische Mitte der Hauptstadt schlechthin. ({1}) Ich bin mir sicher, dass wir uns der Bedeutung dieses Ortes bewusst sind. Denn man kann sagen: Die Mitte der Hauptstadt ist auch die Mitte der Republik. Von diesem Ort soll und muss auch eine identitätsstiftende Wirkung ausgehen. Auch er soll eine Beziehung der Bundesbürger zu ihrer Hauptstadt schaffen. Deshalb muss er auch ein Ort für Bürgerinnen und Bürger bzw. - das ist vielleicht noch deutlicher - ein Ort mit Bürgerinnen und Bürgern sein. ({2}) Berlin beklagt einen Mangel an Visionen. Auch dies muss ein Kriterium bei der Nutzung und Gestaltung dieses Ortes sein. Inwieweit symbolisiert dieser Ort Zukunft? Die Diskussion über die Frage „Schloss ja oder nein?“ ist verständlicherweise noch nicht beendet. Aber dank der Empfehlungen der internationalen Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“ kann sie jetzt auf der Grundlage eines in sich weitgehend geschlossenen Konzeptes stattfinden. Ich möchte an dieser Stelle auch im Namen meiner Fraktion der Kommission und ihrem Vizepräsidentin Anke Fuchs Vorsitzenden, Herrn Swoboda, für die geleistete Arbeit danken. ({3}) Zumindest meine Fraktion hatte sich vorgenommen, zuerst die Nutzung und dann die Gestaltung festzulegen. Die Kommission hat sich gerade bei der Erarbeitung eines Nutzungskonzeptes sehr positiv in die Diskussion eingeschaltet. ({4}) Folgende Nutzung ist vorgesehen: Erstens. Das Museum außereuropäischer Kulturen soll in der Mitte der Republik untergebracht werden. Der Symbolwert ist dabei nicht zu unterschätzen. Der Vorschlag beinhaltet nichts Nationales, nichts, was als eurozentristisch interpretiert werden könnte. Er macht vielmehr die Öffnung zu anderen Kulturregionen deutlich. Das ist gerade in Zeiten, in denen wir über den Dialog der Kulturen sprechen, eine ganz positive Entscheidung. In der historischen Mitte sollen zweitens die beiden Berliner Bibliotheken zusammengeführt sowie drittens die wissenschaftshistorischen Sammlungen der Humboldt-Universität angesiedelt werden. Last, but not least soll dort viertens die Agora - übersetzt: das Zentrum des öffentlichen Lebens, also ein Versammlungsort im weitesten Sinne des Wortes - entstehen. Um die Vorschläge der Kommission zur Nutzung dieses Ortes kurz zusammenzufassen: Es handelt sich um Nutzungsempfehlungen für die Bürger mit demonstrativer Außenwirkung. In diesem Punkt, glaube ich, gibt es eine große Übereinstimmung in diesem Hause. Ich kenne bisher niemanden, der dieses Nutzungskonzept infrage gestellt hat. Übereinstimmung gibt es meines Erachtens auch bei dem Vorschlag, dass sich das zu errichtende Gebäude auf die Stereometrie des Schlosses beziehen soll. Geprüft werden müssen aber meines Erachtens - in diesem Punkt unterscheiden sich unsere Anträge - die Finanzierungsvorstellungen. Die Kommission empfiehlt eine privat-öffentliche Finanzierung. Das ist sicherlich richtig. Das vorgeschlagene Modell scheint uns aber im Hinblick auf die private Seite zu optimistisch zu sein. Deshalb ist es notwendig, alles noch einmal gründlich zu prüfen, damit nicht am Ende der Steuerzahler - das kommt nicht selten vor - einen Großteil des Finanzbedarfs decken muss. Alles muss vorher genau durchgerechnet werden. Die Ehrlichkeit verlangt auch, auf Folgendes hinzuweisen: Wer glaubt, das von der Kommission vorgeschlagene Nutzungskonzept ohne öffentliche Mittel realisieren zu können, der sollte damit eigentlich erst gar nicht beginnen. Dann sollte man sich gleich für einen Central Park oder Ähnliches entscheiden. Meine Damen und Herren, strittig ist allerdings die Architektur. Die Kommission empfiehlt drei Barockfassaden und den Schlüterhof, ich nenne es etwas zugespitzt „ein bisschen Schloss“. Dieses Modell enthalten auch die Anträge sowohl der CDU/CSU als auch der FDP. Wir schließen dies mit unserem Antrag nicht aus, nur möchten wir gern, dass bei dem notwendigen Wettbewerb auch moderne Architektur nicht ausgeschlossen wird. Ich stelle mir die Frage: Warum sollen unsere heutigen Architekten nicht auch mit Schlüter konkurrieren dürfen? Es sollte aber klar sein, dass sich diese Architekturoder Gestaltungsfrage nicht am Parteibuch orientieren kann. Ich glaube nicht, dass es für diese oder jene ästhetische Position entscheidend sein sollte oder vom Inhalt her überhaupt sein kann, ob jemand dieser oder jener Partei angehört. Deshalb sollte hier eine offene Entscheidung stattfinden. Wie ich die Entwicklung sehe, arbeiten wir auch darauf hin. Lassen Sie mich zum Schluss zur Frage Schlossfassade oder Moderne ein Zitat von Michael Cullen bringen, der in der „FAZ“ geschrieben hat: Hier wird der Bundestag eine Eingebung benötigen oder die Weisheit Salomos, will er die richtige Entscheidung treffen. Mir würde es schon genügen, wenn wir diese emotionale Frage entschieden, aber nüchtern, ohne Hast, jedoch zeitnah beantworten würden. Ich bedanke mich. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die CDU/CSU erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Norbert Lammert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alles, was sich zum Schloss, seiner Bedeutung und der von ihm geprägten historischen Mitte Berlins sagen lässt, ist inzwischen aus den verschiedensten Interessen- und Blickwinkeln mehrfach vorgetragen worden. Es hat im Laufe der letzten zehn Jahre, die der Kollege Barthel angesprochen hat, vielfach Wettbewerbe gegeben mit einmal mehr und einmal weniger konkreten Vorgaben. Es ist zu diesem Thema fast alles gesagt - und bei genauem Hinsehen inzwischen auch fast von allen. Wem die Diskussion als solche nicht bereits genügt - und ganz offenkundig gibt es Feinschmecker, die die Endlosdebatte noch spannender finden als die mögliche Realisierung des Projekts -, ({0}) der muss noch mehr als an der mühelos ins Endlose verlängerbaren Fortsetzung an einer Entscheidung interessiert sein, mit der aus den vorgetragenen und vorliegenden Überlegungen endlich Konsequenzen gezogen werden. ({1}) Dafür liefert der vorliegende Kommissionsbericht nun wirklich alle notwendigen Unterlagen, jedenfalls was die Grundsatzentscheidungen angeht, die jetzt getroffen werden können und auch getroffen werden müssen. Dass die neben vielen einvernehmlichen Empfehlungen wenigen mit Mehrheit zustande gekommenen EmpEckhardt Barthel ({2}) fehlungen nicht jedem in gleicher Weise gefallen können, liegt in der Natur der Sache. Es würde sich im Übrigen auch bei längerer Diskussion bestenfalls wiederholen. Diejenigen, die jetzt ausdrücklich oder heimlich mit einer Verlängerung dieser Debatte spielen, erwarten nicht ernsthaft neue Gesichtspunkte, sondern sie erwarten vielleicht eine Umkehrung knapper Mehrheitsentscheidungen bei Empfehlungen in der gleichen Sache. Gerade deshalb muss in dieser Debatte festgehalten werden: Von der Bundesregierung und vom Berliner Senat, die diese Kommission mit dem Ziel eingesetzt haben, eine Entscheidungsgrundlage zu erarbeiten, muss jetzt erwartet werden, dass sie die erarbeiteten Empfehlungen auch ernst nehmen und umsetzen. ({3}) Es kann doch nicht bezweifelt werden, dass diejenigen, die an bestimmten Empfehlungen wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse Zweifel anmelden, keine Probleme damit hätten, wenn mit gleich knappen Mehrheiten die umgekehrten Empfehlungen zustande gekommen wären. Ich bestreite keinen Augenblick, dass der CDU/CSUFraktion die Empfehlungen der Kommission ausgesprochen gut gefallen, weil sie - in einer uns selbst überraschend starken Weise - den Vorschlägen entsprechen, die wir vor fast genau zwei Jahren, nämlich mit Datum vom 27. Juni 2000, in den Deutschen Bundestag eingebracht haben - vor Einsetzung dieser Kommission. Damals haben wir auf die überragende Bedeutung dieses Areals und seiner städtebaulichen Gestaltung hingewiesen ({4}) - das ist zugegebenermaßen ein ohne große intellektuelle Akrobatik nachvollziehbarer Gesichtspunkt -, haben auch auf die Notwendigkeit einer diesen Platz und seiner Bedeutung angemessenen, ({5}) im Wesentlichen öffentlichen Nutzung als notwendiger Voraussetzung für die kostenlose Überlassung der dem Bund gehörenden Grundstücke für eine Bebauung hingewiesen. Was den bis heute nicht ausgeräumten, in der Sache auch gut begründbaren Streitpunkt der Architektur betrifft, so haben wir damals beantragt - ich zitiere -: Der Deutsche Bundestag tritt für den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses in der Kubatur des ursprünglichen Gebäudes unter weitgehender Wiederherstellung historischer Fassaden ein. Dies empfiehlt nun auch die Kommission, an deren Zusammensetzung die Opposition, die diesen Antrag gestellt hat, nachweislich nicht beteiligt war. Es schadet vielleicht nicht, noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass bei der kunstvollen Zusammensetzung dieser Kommission, die ganz gewiss sicherstellen sollte, dass dabei nicht eine gesicherte Mehrheit für eine Schlossrekonstruktion herauskommt, nahezu alle relevanten Gruppen berücksichtigt wurden - nur nicht Vertreter der Opposition. Das, verehrter Herr Staatsminister und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ist ein, wie ich finde, zusätzlicher Gesichtspunkt dafür, das besonders ernst zu nehmen, was als Empfehlung der eigens zu diesem Zweck eingesetzten Kommission nun als Ergebnis der Beratungen auf dem Tisch liegt. ({6}) Herr Staatsminister Nida-Rümelin wurde vor einigen Tagen in einer Zeitung mit der Aussage zitiert, fast alle, die sonst moderne Architektur bevorzugten, würden an diesem spezifischen Ort nachdenklich. Dies, Herr Kollege Nida-Rümelin, ist mein Eindruck auch. Für mich persönlich jedenfalls kann ich präzise diesen Willensbildungsprozess beobachten und gebe das hier auch gerne zu Protokoll. Meine erste Vermutung über die angemessene städtebauliche Lösung an diesem Platz war eine Architektur, die das Signum des 21. Jahrhunderts trägt. Mich überrascht nicht, dass andere ähnliche Eindrücke gewonnen haben, nämlich dass eine intensive Beschäftigung nicht nur mit der Historie dieses Platzes, sondern auch mit dem städtebaulichen Umfeld, das von diesem Schloss nicht nur in zeitlicher Hinsicht, sondern auch in konzeptioneller Hinsicht geprägt ist, ({7}) zu dem Schluss führt, dass prinzipiell andere Alternativen unangemessene Lösungen sind. Man darf nicht verdrängen, dass die große Vision Schinkels von einer klassizistischen Mitte Berlins von diesem Schlossgebäude in jeder Beziehung seinen Ausgangspunkt genommen hat und dass als das, was sich darum als Ensemble entwickelt hat, ohne dieses Schloss und seine Architektur nur schwer vorstellbar ist. Da es in der Debatte in den letzten Wochen und Monaten auch manche maßlosen Übertreibungen gegeben hat, will ich jedenfalls für meine Fraktion festhalten: Bei der Wiederherstellung des Berliner Stadtschlosses geht es natürlich nicht um die Wiederherstellung von Preußens Glanz und Gloria. Es ist dummes Zeug, zu glauben, es solle ausgerechnet ein Schloss als geistiges Zentrum der neuen deutschen Berliner Republik rekonstruiert werden. Es geht vielmehr darum, dieser Stadt wieder ein Gesicht zu geben, das ihrer historischen Entwicklung und der Prägung dieses Stadtbildes in angemessener Weise entspricht, wie das jede vergleichbare Metropole mit einem vergleichbaren Selbstbewusstsein selbstverständlich längst realisiert hätte. ({8}) Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass wir die heute vorliegenden Anträge aus den verschiedenen Fraktionen zu einer Beschlussempfehlung bündeln, die uns dann, wenn uns die gute Absicht gelingt - die dafür ja besteht, Kollege Barthel -, hoffentlich in die Lage versetzt, die Einschätzungen festzuhalten, die wir gemeinsam haben. Ich teile ausdrücklich die vorgetragene Einschätzung des Kollegen Barthel, dass etwa zur Frage der Einbindung der Lösung in die gesamtstädtebauliche Umfeldsituation und auch zur Nutzung des Gebäudes beziehungsweise der in diesem Zusammenhang in Rede stehenden Gebäude ein hohes Maß an Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Kommission besteht und dass es sich fast von selbst versteht, dass gewissermaßen die technische Umsetzung der Nutzungsvorstellungen auf Raumvolumina nun mit der gebotenen Sorgfalt geprüft werden muss. Ganz selbstverständlich gilt das auch für die Finanzierungskonsequenzen, die sich daraus ergeben. Ich habe den Eindruck, dass es eine weitgehende Übereinstimmung auch darin gibt, dass dieses große Projekt weder allein aus öffentlichen Mitteln realisiert werden kann noch allerdings umgekehrt allein privatwirtschaftlich verwirklicht werden könnte. Ob und in welcher Weise dies miteinander kombinierbar ist, darum sollten wir uns gemeinsam mit den Vertretern der Bundesregierung und des Berliner Senats in den nächsten Wochen und Monaten bemühen. Entschieden werden muss die von mir erläuterte Frage der architektonischen Gestalt. Hierzu muss ich nicht das wiederholen, was ich zur Begründung unseres Vorschlages einer weitgehenden Wiederherstellung der historischen Fassaden auf der Basis der Empfehlungen der Kommission gerade vorgetragen haben. Meine Damen und Herren, es gibt ganz gewiss noch wichtigere Themen für die Zukunft der Stadt und für die Zukunft des Landes, dessen Hauptstadt Berlin ist. Aber das Thema ist wichtig genug und es ist entscheidungsreif. Der hohe intellektuelle Reiz der jahrelangen Debatte zur zukünftigen Gestaltung der historischen Mitte Berlins ist nur noch durch deren überzeugende Realisierung zu überbieten. Dazu wollen wir Gelegenheit geben. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, es ist phantastisch, dass Sie die Redezeit mit Sekundenpräzision eingehalten haben. Das ist natürlich dankenswert. Ich erteile das Wort der Kollegin Franziska EichstädtBohlig für die Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte ja die Ehre, in dieser Expertenkommission „Historische Mitte Berlin“ mitzuarbeiten und ich finde es schon richtig, dass es ganz gut gewesen wäre, es hätte darin eine Vertreterin oder ein Vertreter der Opposition mitgewirkt. ({0}) Richtig ist, dass es eine große Einigkeit bei der Bewertung der Ergebnisse der Kommission zum Nutzungskonzept gibt und, wie ich glaube, auch zu den städtebaulichen Empfehlungen. Ich möchte schon sagen, dass ich gerade auch die Empfehlungen zur Finanzierung durchaus bedenkenswert finde, wenn sich in einem Prüfverfahren herausstellt, dass es tatsächlich möglich ist, unter Führung der öffentlichen Hände, also von Berlin und vom Bund, eine öffentlich-private Gemeinschaftsfinanzierung in einem Fonds zustande zu bringen. Das wäre schon einmal ein sehr interessantes Experiment. Bisher haben wir immer die umgekehrte Finanzierungsform, die darin besteht, dass sich die öffentliche Hand selbst als Trägerin in die Hände der privaten Investoren begeben muss. Das war ja auch das alte Investorenauswahlverfahren. Von daher möchte ich schon Mut machen - unabhängig davon, ob das so finanzierbar ist, wie es jetzt in der Konzeption dargestellt worden ist -, sich diesem Thema durchaus ernsthaft zu stellen. Lassen Sie mich ein paar Aspekte dazu sagen, wo ich den Zielkonflikt in dem Ergebnis der Expertenkommission sehe. Es sind zwei Probleme, die man sehen muss. Ich fände es schon gut, sie sehr ernst zu nehmen und sie jetzt nicht in einer Polemik pro Schlossfassade oder dagegen zu sehen, weil es in jedem Fall um ein Gebäude gehen wird, das aus einem Spannungsfeld von historischer Erinnerung - wie auch immer sie gestaltet wird - und neuer Gestaltung entwickelt werden muss. Das eine Problem ist, dass es der Kommission aus meiner Sicht nicht gelungen ist, zwischen dem Nutzungskonzept und dem Gestaltungskonzept eine konstruktive Beziehung zu entwickeln. Das andere Problem ist, dass die Verbindung von äußerer Fassadenrekonstruktion und moderner Innengestaltung eben kein interessantes Spannungsfeld ergibt. Eigentlich müsste es ein Spannungsfeld zwischen zeitgenössischer Architektur und - wenn es denn um Rekonstruktion geht - historischer Erinnerung sein. Das Problem ist einerseits, dass mit dem vorliegenden Nutzungskonzept gleichzeitig ein sehr hohes Nutzungsmaß in dem Areal verwirklicht werden soll. Dieses hohe Nutzungsmaß, so wie es die Mehrheit beschlossen hat, führt beispielsweise dazu, dass hinter den Fassaden Geschosshöhen realisiert werden müssen, die nicht mit der äußeren Gestalt übereinstimmen, dass also praktisch Höfe überbaut und überdacht werden müssen. Ich meine, gerade die, die sich für die Rekonstruktion des Schlosses engagieren, müssten sagen, dass sie das Maß an Nutzung, das realisiert werden soll, so nicht mittragen können. Das ist ein zentraler Punkt. Es ist eine maximale Grundstücksausnutzung gewählt worden, die im Inneren eigentlich nur durch eine moderne Gestaltung realisiert werden kann, die dann nicht zur Fassadenkonstruktion passt. Was ich für richtig halte - das hat eben auch Eckhardt Barthel unterstützt -, ist, dass man sich aus städtebaulichen Gründen eindeutig an der Kubatur und auch an der Höhenentwicklung des historischen Hohenzollernschlosses orientiert und dass - so, wie es auch die Kommission beschlossen hat - den Architekten in einem Wettbewerb Freiheit gegeben wird, wenn es darum geht, wie sie Teile des Palasts der Republik erhalten wollen und wie sie den Bereich im Osten des Palasts, also in Richtung des Roten Rathauses und des Marx-Engels-Platzes, gestalten wollen. Gegebenenfalls ist auch eine Integration des Volkskammersaals machbar; das muss dann noch genauer geprüft werden. Was ich aber für problematisch und falsch halte, ist, auf der einen Seite für eine historische Rekonstruktion der Schlüterfassaden und des Schlüterhofs zu votieren und gleichzeitig für die innere Gestaltung Nutzungsvorgaben zu machen, die in der Geschossgliederung und in den Hofüberbauungen eigentlich gar keinen Raum mehr für das Spannungsfeld zwischen Neu und Alt geben. Deswegen sage ich: Wenn man dieses Nutzungskonzept und dieses Nutzungsmaß realisieren will, dann müsste man konsequenterweise in einem Architektenwettbewerb offen lassen, in welcher Weise die historische Erinnerung an das Hohenzollernschloss gestaltet werden soll: ob mit modernem Gestus, mit anderen Formen der Erinnerung oder letztlich mit einer Fassadenrekonstruktion. ({1}) Dafür setzen wir uns mit dem Antrag der Koalition ein; denn ich glaube, das gibt den Architekten ein Stück mehr Freiheit und mehr Möglichkeiten bei der Gestaltung des Spannungsfeldes zwischen Nutzungskonzept und historischer Erinnerung. Insofern habe ich mich nie gegen den Nachbau von Teilen des Schlosses ausgesprochen, bin aber der Meinung, dass gerade solch ein Nachbau ein ganz besonderes baukulturelles Feingefühl und ein dazu passendes Nutzungskonzept erfordert. Deswegen sage ich noch einmal, was ich eingangs gesagt habe: Die Beziehung zwischen dem Nutzungskonzept und dem Gestaltungsanspruch, wie die Mehrheit ihn durchgesetzt hat, ist einfach nicht stimmig realisiert. Von daher bin ich schon der Meinung, dass ein Stück weiterer Arbeit nötig ist und dass man jetzt nicht einfach „Ente oder Trente“ sagen kann. Lassen Sie mich ein ganz kurzes Fazit ziehen. So gut, wie das Ergebnis der Kommission in der Gesamtbewertung ist, man muss schon sagen, dass im Endeffekt die altbekannten Differenzen zwischen Schlossbefürwortern und Modernisierern eben nicht gelöst worden sind, obwohl meiner Meinung nach gerade darin die Aufgabe bestanden hätte. Insofern bleiben im Ergebnis die Kontrahenten weiterhin in ihren Gräben. Das finde ich sehr schade; denn ich glaube, die Hauptaufgabe bei der Gestaltung besteht darin, dieses Spannungsfeld positiv und konstruktiv zu definieren, weil es, wie gesagt, eine Kombination aus Neu und Alt werden muss. Ich zumindest werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass das in der weiteren Planungsphase und in der Realisierungsphase auch gelingt. Ich hoffe auf einige Mitstreiter. Danke schön. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Rexrodt für die FDP-Fraktion.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit elf Jahren wird nun über die Gestaltung des Schlossplatzes und der historischen Mitte Berlins diskutiert. Ich habe viel Verständnis für eine ausführliche, eingehende Diskussion; denn das ist ein besonderer Platz, der in besonderer Weise die Geschichte unseres Landes, ganz bestimmt aber dieser Stadt repräsentiert. Solche Dinge kann man nicht von heute auf morgen entscheiden. Aber elf Jahre sind eine lange Zeit. Man hat eine Expertenkommission eingesetzt. Das macht man bei solchen Vorhaben immer; das ist auch akzeptabel. Ich finde, Frau Eichstädt-Bohlig - obwohl ich nicht Mitglied der Expertenkommission war, aber dort gern in irgendeiner Weise mitgewirkt hätte; die Opposition war jedoch nicht gefragt -, dass diese Kommission gut gearbeitet hat. Man konnte sogar beobachten, dass Mitglieder der Kommission, die vorher eher in einer bestimmten Richtung festgelegt waren, ihre Meinung unter dem Druck der Argumente gewandelt haben und zu einem anderen Ergebnis gekommen sind. Nun ist die Expertenkommission fertig mit ihrer Arbeit und hat einen Vorschlag vorgelegt, alles in allem einen sehr passablen, akzeptablen Vorschlag. Jetzt kommt es darauf an, dass die Entscheidungsgremien - das ist der Bundestag im Benehmen mit dem Senat von Berlin, gegebenenfalls mit dem Abgeordnetenhaus - dafür sorgen, dass das vorgelegte Konzept nach elf Jahren Diskussion realisiert werden kann. Jetzt eine neue Kommission einzusetzen ({0}) - es läuft darauf hinaus, dass es eine neue Ausschreibung gibt und dass für ein weiteres Jahr eine neue Diskussion stattfindet - wäre unserer Meinung nach nicht richtig. Wir möchten, dass der Bundestag eine abschließende Entscheidung trifft und dass diese auch umgesetzt wird. Wir als FDP plädieren dafür, dass die historische Fassade wie vorgeschlagen realisiert wird. ({1}) Die Frage ist, ob eine historische Fassade mit dem Baukörper - Frau Eichstädt-Bohlig hat das angesprochen - in Einklang zu bringen ist und ob eine historische Fassade nicht nur dem Geschmack einer Generation entspricht, sondern auch die Erwartungen erfüllt, die nachfolgende Generationen an ein solches Bauwerk haben. Ich persönlich habe durchaus ein Faible für moderne Architektur. Ich finde, in Berlin ist vieles an überzeugender moderner Architektur realisiert worden. Ich traue aber keinem zeitgenössischen Architekten zu, dass er dort ein Gebäude äußerlich so gestalten kann, dass es dem Geschmack und dem ästhetischen Empfinden der nächsten 100, 200, vielleicht sogar 250 Jahre standhalten kann. ({2}) - Der kommt nicht. Deshalb müssen wir die historische Fassade realisieren. Das ist genau der Punkt. Ich glaube, dass so auch die Mehrzahl und eine wachsende Zahl von Berlinerinnen und Berlinern sowie anderen Menschen in unserem Lande denkt. Ich glaube im Übrigen, dass die historische Fassade eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass wir in diesem Lande einen Gutteil der Kosten, die im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau entstehen, über Spenden finanzieren können. Es werden eine private Finanzierung und eine öffentliche Finanzierung angesagt sein und es werden Spenden notwendig werden. Ich wünsche mir ganz persönlich, dass dieses Gebäude Räume enthalten wird, in denen die Stadt und unser Land große, internationale Konferenzen stattfinden lassen können, wie es beispielsweise in der Hofburg der Fall ist. Das kann nur mit der historischen Fassade geschehen. Ich wünsche mir, dass die endgültige Abstimmung hier im Bundestag in Kürze stattfinden kann. Ebenso wünsche ich mir, dass die Fraktionen diese Abstimmung freigeben, ({3}) damit die Abgeordneten so entscheiden können, wie es ihrer persönlichen Überzeugung entspricht. Ich bin sicher, es wird eine Abstimmung sein, die zugunsten der historischen Fassade am Schlossplatz ausgeht. Schönen Dank. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Lammert, mit Ihrer punktgenauen Einhaltung der Redezeit sind Sie bisher einsame Spitze. Anlass, das zu wiederholen, ist, dass noch mehrere Redner kommen. Jetzt erteile ich der Kollegin Petra Pau für die PDSFraktion das Wort.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Barthel war so freundlich, den Inhalt des Berichtes der Expertenkommission hier im Großen und Ganzen vorzustellen, und die Kollegin Eichstädt-Bohlig ist nicht nur auf den Bericht eingegangen, sondern auch auf die noch vorhandenen Widersprüche, die weitere Debatte und Nacharbeit erfordern. Das alles erspare ich mir schon also, auch deshalb, weil ich insgesamt nur drei Minuten Redezeit habe. Danke, liebe Kollegin und lieber Kollege. Erstens. Wir begrüßen ausdrücklich die Empfehlung der Expertenkommission zu einer öffentlichen Nutzung dieses wichtigen Platzes der Bundesrepublik. Erinnern wir uns: In den letzten Jahren, in denen auch der Streit geführt wurde, waren drei Plätze in dieser Stadt neu zu bestimmen: einerseits das inzwischen entstandene Parlaments- und Regierungsviertel, wo wir unseren Platz gefunden haben und natürlich auch die Bundesregierung und viele andere, andererseits der Potsdamer Platz, wo auch öffentliche Nutzung stattfindet, sich aber gleichzeitig Wirtschaft und Geld repräsentieren. Nun haben wir noch einen Platz und ich finde, das soll der Platz der Bürgerinnen und Bürger sein, nicht nur der Berlinerinnen und Berliner, sondern der Bürger der Bundesrepublik. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich, hier eine Agora, also einen Marktplatz der Republik, zu schaffen. ({0}) Wenn ich mir das Nutzungskonzept ansehe, kann ich mir vorstellen, dass auch dieses gemeinsam mit den vorgesehenen und eventuell noch dazu kommenden Nutzern fortentwickelt werden kann und dabei auch die Überprüfung der Widersprüche, die die Kollegin Eichstädt-Bohlig vorgestellt hat, stattfindet. Dann nämlich wird sehr schnell herauskommen, ob die vorgesehenen Nutzer mit manchen dieser innenarchitektonischen Probleme, die hier dargestellt wurden, etwas anfangen können oder ob diese Nutzung dort überhaupt möglich ist. Ein zweiter Punkt. Wir stimmen heute über einen Antrag ab und nicht über die Frage „Bist du für oder gegen ein Schloss?“, die hier immer über dem Raum schwebte und wie es in mancher Zeitung angekündigt wurde. Wir stimmen über einen Antrag ab, den die PDS-Fraktion am 6. April 2000, also vor zwei Jahren, gestellt hat. In diesem Antrag geht es um die Zwischennutzung der Gewölbe unter dem Nationaldenkmal. Ich füge einen weiteren Vorschlag hinzu, der in unserem Antrag steht. Ich denke, wir müssen zügig auch über eine Zwischennutzung des Platzes und Rohbaus des Palastes der Republik sprechen, ({1}) nicht aus nostalgischen Gründen, sondern um diesen wichtigen Platz wieder in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und dafür zu sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger ihn wieder wahrnehmen. Der Zustand der subventionierten Verwahrlosung dieses Platzes einschließlich des darauf stehenden Gebäudes muss beendet werden. Wie sollen die Bürger sich sonst mit diesem Platz und dem darauf entstehenden Neuen identifizieren? Damit komme ich zum dritten und letzten Punkt. Herr Kollege Rexrodt, Sie haben mich ein wenig enttäuscht. Als solchen Pessimisten kenne ich Sie gar nicht, dass Sie zukünftigen Generationen nun gar nichts mehr zutrauen und deshalb auf Vergangenes zurückgreifen. Lassen Sie uns nicht wieder in den alten Streit um die Frage „Schloss oder Palast?“ zurückfallen, sondern lassen Sie uns die vorhandenen Zeugen der Baugeschichte aufnehmen und sehen, welche unterschiedlichen architektonischen Lösungen hier auch die Widersprüchlichkeit der Geschichte dieses Platzes darstellen können. ({2}) - Nein, genau das will ich nicht. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Staatsminister Professor Dr. Julian Nida-Rümelin.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die meisten Architektinnen und Architekten - unter Denkmalschützern ist das wahrscheinlich noch deutlicher - lehnen den Nachbau einmal ausgelöschter Gebäudeexistenzen ab. Renzo Piano hatte einmal vor dem Wiederaufbau des Stadtschlosses in Berlin mit den Worten gewarnt: Die Vergangenheit zu kopieren wäre für mich Selbstmord. ({0}) Auch die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in Deutschland lehnte Anfang der 90er-Jahre den WiederDr. Günter Rexrodt aufbau des Stadtschlosses ab, da die überlieferte materielle Gestalt als Geschichtszeugnis genauso unwiederholbar sei wie die Geschichte selbst. Einzelne Experten aus Architektur, Stadtplanung und Denkmalschutz haben in der nun über ein Jahrzehnt währenden intensiven Debatte mit beachtenswerten Gründen Gegenpositionen bezogen. Dies blieb aber immer eine deutliche Minderheit. Außerhalb der Fachwelt allerdings scheint es zumindest innerhalb Berlins eine vielleicht nur relative, aber doch stabile Mehrheit für den Wiederaufbau des Stadtschlosses zu geben. Die von Fachleuten vorgebrachten Argumente, der Wiederaufbau eines vollständig zerstörten Schlosses sei historisch retrospektiv, politisch restaurativ, eine Geschichtsattrappe oder gar Las Vegas, ließen die Befürworter in der Bürgerschaft Berlins weitgehend unbeeindruckt. ({1}) Wenn es nun lediglich darum gegangen wäre, die Stellungnahmen von Expertinnen und Experten einzuholen, ({2}) dann hätte man die internationale Kommission nicht einsetzen müssen. ({3}) Eine Vielzahl von schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen lag schließlich schon Anfang Januar des vergangenen Jahres vor. Die Tendenz im Bereich der Architektur, der Stadtplanung und des Denkmalschutzes war ziemlich eindeutig. Sinn dieser Expertenkommission war ein anderer. Weder sollten vorgefasste Meinungen aufseiten der Politik nachträglich durch eine Kommission bestätigt noch lediglich die vorhandenen Urteile aus der Fachwelt dupliziert werden. ({4}) Der Sinn der Expertenkommission war vielmehr, aus der Sackgasse herauszuführen, in die die Diskussion geraten war. Das ist ihr gelungen. Sie hat die Frage der kulturellen Nutzung an den Anfang und nicht - wie dies zuvor geschehen war - an das Ende gestellt. Sie hat einstimmig ein Nutzungskonzept beschlossen, das in Abstimmung zwischen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, darunter insbesondere den außereuropäischen Sammlungen, der Humboldt-Universität, den Wissenschaftssammlungen, und der Bibliothek, zuletzt unter meiner Federführung und in enger Abstimmung mit der Kultursenatorin Berlins entwickelt worden war. Diesen Konsens halte ich für eine der großen Leistungen dieser Kommission. Sie hat nämlich eine kulturelle und öffentliche Nutzungsvorstellung entwickelt, die an diesem Ort eine faszinierende Begegnung europäischer und außereuropäischer Kulturen, die Verbindung von Wissenschafts- und Kulturgeschichte und die tägliche Faszination des Lebens - Entschuldigung: des Lesens miteinander kombiniert. ({5}) - Natürlich, als Begegnungsstätte hoffentlich auch die des Lebens. Das ist akkurat. Mit der Entscheidung für diese kulturelle Nutzung war allerdings auch die Entscheidung gegen eine 1:1-Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses gefallen. Ein vollständiger Wiederaufbau des Stadtschlosses, der für die älteren historischen Schichten ohnehin schon technisch kaum machbar gewesen wäre, ist mit dieser Nutzungsidee unvereinbar. Die Kommission hat sich mit überwältigender Mehrheit und nach intensiver Diskussion für die Orientierung des Neubaus an der Stereometrie des Hohenzollernschlosses entschieden. Dies war nach meinem Eindruck nicht nur eine Abfrage von vorab gebildeten Meinungen, sondern das Ergebnis von Abwägungen. Ich glaube, dass auch diejenigen, die sich einen modernen Bau vorgestellt haben, angesichts der städtebaulichen Gesamtsituation in der Mitte Berlins - Herr Lammert hatte darauf hingewiesen - doch dafür plädierten, die topographische Rolle des alten Schlosses - sei es auch in Gestalt eines modernen Baus - wiederherzustellen. Damit hat sie Alternativmodellen wie dem von Axel Schultes, so durchdacht diese auch sind, eine Absage erteilt. Durch die intensiven Beratungen wurden unterschiedliche Sichtweisen gegeneinander gestellt und abgewogen. Gute Argumente hatten eine Chance zu überzeugen. Dies gilt auch für den Umgang mit dem Palast der Republik. Auch die Befürworter einer kulturellen Kontinuität der DDR-Geschichte an diesem Ort - damit übertreibe ich jetzt etwas - haben sich den städtebaulichen Argumenten nicht verschlossen. So bitter dies für viele sein mag, die an dieses Gebäude persönliche Erinnerungen knüpfen, muss man doch feststellen: Es kann keinen Bestand haben, obwohl es ein gemeinsames Anliegen der Kommission war, die „Volkshaus“-Tradition auf der Agora des Nutzungskonzeptes in veränderter Form fortzuführen. Gewollt oder nicht hat diese Kommission zur Entideologisierung beigetragen. Die Überhöhung des Konfliktes zu einem Kampf um die kulturelle Identität dieser Republik gehört nach meinem Eindruck der Vergangenheit an. Die dritte deutsche Republik - nicht die vierte - wird sich weder in der Kontinuität der Hohenzollerndynastie restaurativ noch in der Tradition von „Honeckers Lampenladen“ nostalgisch, aber auch nicht angestrengt modernistisch definieren. Die dritte deutsche Republik sucht nicht erst nach ihrer Definition an diesem Ort. Ihre kulturelle Substanz wird an diesem Ort weder geschaffen noch zerstört werden. Der Streit hatte sich zuletzt - gewissermaßen verdünnt auf die Frage konzentriert: Sollen in drei Himmelsrichtungen die Barockfassaden des Schlosses rekonstruiert werden oder nicht? Hierzu gibt es nicht zwei, sondern drei Positionen. Es gibt die Befürworter, die Gegner und diejenigen, die sagen: Wenn dies die beste Lösung ist, dann wird sie sich gegenüber anderen, in der Stereometrie des Schlosses gestalteten Lösungen behaupten. Sie wollen also diesen Teilkonflikt, der übrig geblieben ist, in eine Diskussion über die beste architektonische Lösung in dem von der Kommission vorgegebenen Rahmen verlagern. Es ist lange beraten worden. Die nächsten Schritte sollten zügig erfolgen. Sie können nur in enger Abstimmung zwischen Bund und Land, und zwar nicht nur wegen der vorgesehenen drei Hauptnutzer, gegangen werden. Es geht nicht um die Antwort auf eine Identitätsfrage, sondern um eine überzeugende Lösung eines städtebaulichen Problems in der Mitte Berlins. Dabei muss es uns um eine sinnvolle kulturelle Akzentuierung an diesem Ort und eine überzeugende ästhetische Gestaltung gehen. Es darf keine Illusionen bezüglich der Finanzierung geben. Zu oft wurden in den vergangenen Jahrzehnten Kulturbauten auf dem sicheren Fundament von Selbstsuggestion und Kalkulationsschwäche errichtet. Ich sage ganz offen: Mein Vertrauen in Fachleute ist in dieser Hinsicht auch aufgrund meiner Münchener Erfahrungen gründlich erschüttert. Ich will mir ein realistisches Bild machen. Das betrifft auch die Folgekosten für die vorgesehenen kulturellen Nutzungen und die Träger dieser Nutzungen. Zügig soll es vorangehen, aber nicht kopflos. Was ich dazu beitragen kann, will ich tun. Danke schön. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/9023, 14/9222, 14/9243 und 14/9244 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Die Überweisung ist so beschlosssen. Wir hoffen, dass Sie zügig zu einem Ergebnis kommen. Zusatzpunkt 15: Wir kommen zur Beschlussempfeh- lung des Ausschusses für Kultur und Medien auf der Drucksache 14/6914 zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Gewölbe unter dem ehemaligen National- denkmal auf dem Berliner Schlossplatz für die Öffent- lichkeit zugänglich machen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3120 abzulehnen. Wer ist für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Gegen die Stimmen von der PDS und einem Herrn von der FDP ist die Beschlussempfehlung ange- nommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Dr. Ditmar Staffelt, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({1}), Hans-Josef Fell, Andrea Fischer ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Nationales Luftfahrtforschungsprogramm fort- setzen - Drucksachen 14/8027, 14/8909 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Margrit Wetzel b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Max Straubinger, Wolfgang Börnsen ({4}), Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Luftfahrtforschung voranbringen - Drucksachen 14/7439, 14/8910 Berichterstattung: Abgeordneter Werner Schulz ({5}) Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind alle zu Pro- tokoll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8909 zu dem Antrag der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Nationales Luftfahrtforschungsprogramm fortsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8027 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/ CSU bei Enthaltung der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/8910 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Luftfahrtforschung voranbringen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7439 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hartmut Schauerte, Wolfgang Börnsen ({7}), Hansjürgen Doss, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU Für ein modernes Wettbewerbs- und Kartell- recht in Europa - Drucksachen 14/6634, 14/9213 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Uwe Jens Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind Sie einverstanden. Ich eröffne die Aussprache und teile mit, dass einige Reden zu Protokoll gegeben worden sind.2) Einige Redner möchten aber auch sprechen. Als Erster redet der Parla- mentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt. 1) Anlage 5 2) Anlage 6

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zu dem Antrag der CDU/CSU „Für ein modernes Wettbewerbs- und Kartellrecht in Europa“ eine grundsätzliche Bemerkung. Das Wettbewerbsprinzip ist nach Auffassung der Bundesregierung ein tragender Pfeiler, wenn nicht sogar der tragende Pfeiler unserer Wirtschaftsordnung. Denn ein funktionsfähiger Wettbewerb ist der beste Garant für die Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen und preisgünstigen Produkten und Dienstleistungen. ({0}) Ich möchte an dieser Stelle ganz ausdrücklich hinzufügen: Wir haben die Bevölkerung mithilfe des Wettbewerbs vor Preisdiktaten zu schützen. Darüber hinaus gilt: Letztlich ist Wettbewerb auch ein Bestandteil der Verwirklichung von Gerechtigkeit in unserem Lande. ({1}) Denn für einige soziale Schichten sind bestimmte Produkte und Dienstleistungen nur dann erhältlich, wenn sie zu vernünftigen, durch Wettbewerb geprägten Preisen angeboten werden. Die Bundesregierung ist deshalb dem Wettbewerbsprinzip verpflichtet. Öffnung und Offenhaltung von Märkten gehören zu den zentralen Aufgaben ihrer Wettbewerbspolitik. Dabei hat in einem zusammenwachsenden Europa die Bundesregierung natürlich immer schon die europäische Dimension im Blick gehabt. Konkrete Beispiele hierfür sind die Aufhebung von Rabattgesetzen und Zugabeverordnung. Damit kann der Verbraucher nun auch in Deutschland uneingeschränkt in den Genuss eines europäischen Preiswettbewerbes gelangen. Es ist einfach eine Tatsache, dass die alte Regierung nicht die Kraft gehabt hat, die Abschaffung des Rabattgesetzes durchzusetzen, obwohl sie Gelegenheit dazu gehabt hätte. ({2}) Auch bei der anstehenden Revision des Rechts des unlauteren Wettbewerbs wird es darum gehen, endlich alte Zöpfe abzuschneiden in Übereinstimmung mit der europäischen Rechtsentwicklung. Ganz konkret denke ich dabei vor allem an die geltende Überreglementierung des Sonderverkaufsrechts. Der mündige Verbraucher, der vergleichen und bewerten kann, muss und will nicht vor Preissenkungsaktionen geschützt werden. Angesichts dessen, was sich zu Beginn des Jahres auf diesem Gebiet in unserem Land ereignet hat, sind wir sicher alle der Auffassung, dass hier dringender Änderungsbedarf besteht. ({3}) Wir haben daher vieles angepackt, was jahrelang einfach liegen geblieben ist. Lassen Sie mich zum Antrag selbst ein paar Punkte herausgreifen, die nach unserer Auffassung schwierig sind. In dem vorliegenden Antrag finden sich durchaus Gemeinsamkeiten. Dazu gehört zum Beispiel der Punkt, dass in Zukunft die Mitgliedstaaten der Europäischen Union an der Fortentwicklung des europäischen Wettbewerbsrechts angemessen beteiligt werden müssen. Auch die Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Wettbewerbsbehörden und der Kommission muss ohne jeden Zweifel präzisiert werden. Die rechtsstaatlichen Standards bei Verfahren der Kommission gegen einzelne Unternehmen müssen gewährleistet sein. Seien Sie sicher - das sage ich vor allem an die Adresse des Kollegen Schauerte -, dass die Bundesregierung genau diese Position in allen laufenden Verhandlungen auf Ebene der Europäischen Union ständig mit Nachdruck vertritt. ({4}) Wir alle wissen auch: Die Reform des Kartellrechts ist ein politisch sehr schwieriges Thema - gerade auch für unser Land. An erster Stelle denke ich dabei an die geplante Abschaffung des geltenden Anmelde- und Genehmigungssystems für Kartelle und die Einführung des Systems der so genannten Legalausnahme. Dieser Systemwandel wird von der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten unterstützt. Es war kein Geringerer als Ludwig Erhard, der das Anmelde- und Genehmigungssystem für Kartelle in Europa und in Deutschland durchgesetzt hat. Da wundere ich mich schon, dass sich nun die CDU/CSU zum Advokaten der Abschaffung dieses Systems in Europa gemacht hat. Für die Bundesregierung steht jedenfalls eines fest: Deutschland trägt die Einführung des Systems der Legalausnahme nur und erst dann mit, wenn am Ende der Verhandlungen klar ist, dass damit kein Verlust an Wettbewerbsschutz für unser Land verbunden ist. ({5}) Dies sollten auch Sie sich zum Ziel setzen; denn wir haben ein gut funktionierendes System, das den Systemen in manch anderen europäischen Staaten überlegen ist und bei uns für sehr viel mehr Wettbewerbskontrolle gesorgt hat. Für die Bundesregierung gehört dazu auch, Kartelle so weit wie möglich für Wettbewerbsbehörden und Wettbewerber transparent zu machen - Stichwort Kartellregister. Auch über die Haltung der Union zu einem weiteren politischen Hauptthema kann ich mich nur wundern. Das ist die Frage des Verhältnisses von europäischem Wettbewerbsrecht zu nationalem Wettbewerbsrecht. Die Union unterstützt hier die ursprünglichen Pläne der Europäischen Kommission, das nationale Kartellrecht neben dem europäischen Kartellrecht nahezu vollständig auszuschalten. Lediglich für den Bereich der Missbrauchsaufsicht soll es vorläufig bei einer parallelen Anwendbarkeit des europäischen und nationalen Wettbewerbsrechts bleiben. Hier stellt sich im Ergebnis die Frage, ob das deutsche Kartellrecht, das ich als das Grundgesetz der Marktwirtschaft bezeichnen möchte, in Zukunft faktisch einfach abgeschafft werden soll. Der deutsche Gesetzgeber dürfte dann gar nicht mehr entscheiden, ob er das deutsche Recht dem europäischen Recht anpasst oder nicht; er wäre einfach nicht mehr zuständig. Auch der Bundesrat hat diese Diskussion geführt und ist zu dem Ergebnis gekommen, diesen Ansatz abzulehnen. Mir ist unverständlich, Herr Schauerte, wie eine Partei, die sich das Subsidiaritätsprinzip auf die Fahnen geschrieben hat, eine solche Forderung ohne weiteres gutheißen kann. ({6}) Aus sehr grundsätzlichen Erwägungen wird sich die Bundesregierung weiterhin und im europäischen Kontext für das deutsche Wettbewerbsrecht und den Schutz des Wettbewerbs in Deutschland einsetzen. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung hierin vom gesamten Parlament in ausreichender Weise unterstützt werden würde und wir in dieser für den Ordnungsrahmen unserer Wirtschaft hoch wichtigen Frage mit einer Stimme sprechen könnten. Deshalb befürwortet die Bundesregierung die Ablehnung dieses Antrags durch den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Hartmut Schauerte für die CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren vor der kleinsten denkbaren Besetzung in diesem Hause über ein entscheidend wichtiges Thema. ({0}) Marktwirtschaft ist ohne einen vernünftigen Wettbewerb mit klaren Regeln und klaren Sanktionen gar nicht denkbar. Eigentlich sollte das Wirtschaftsministerium in der Bundesrepublik Deutschland richtigerweise Ministerium für Wirtschaft und Wettbewerb heißen; denn Wettbewerb ist die zweite tragende Säule einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft. Ich bin immer dankbar, Herr Kollege Staffelt, wenn man an Ludwig Erhard erinnert wird; er war einer der ganz Großen, auf den wir nach wie vor stolz sind. Jedes Mal, wenn Sie sich auf ihn berufen, erhöht es unseren Stolz. Aber ich bin ganz sicher, dass Ludwig Erhard angesichts der europäischen Dimension unserem Antrag nicht nur zugestimmt, sondern ihn noch etwas besser selbst geschrieben hätte. ({1}) Insoweit müssen wir uns nicht streiten. Wir diskutieren das deutsche und das europäische Wettbewerbsrecht vor dem Hintergrund der Erweiterung der Europäischen Union und des Globalisierungsprozesses. Daher bin ich davon überzeugt, dass wir mit einer kleinkarierten und ängstlichen Politik des Festhaltens an dem, was wir haben, die Herausforderungen nicht bestehen können. Wir haben gerade den Schlussbericht der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“ bekommen, in dem wir weitgehend in der Frage übereinstimmen, wie das internationale und globale Wettbewerbsrecht aussehen muss. Wir werden nicht weiterkommen, wenn Europa zunächst mit 16 und bald mit 25 unterschiedlichen Wettbewerbssystemen in diesem Konzert mitspielen will. Wir sind aufgefordert, kraftvoll und mutig, nicht aber ängstlich ein eindeutiges europäisches Wettbewerbsrecht mit einem Level Playing Field für alle Partner in Europa aufzubauen, um mit einem solchen modernen, zukunftsfähigen Wettbewerbsrecht in den Globalisierungsprozess einsteigen zu können, denn wir brauchen weltweit immer dringender feste, verlässliche Wettbewerbsregeln. ({2}) Deswegen ist das, was Sie hier machen, rückwärts gewandt, zu ängstlich und nicht modern genug. Gerade Ludwig Erhard wäre ein ganz moderner Wettbewerbswächter gewesen. ({3}) Wir sagen eindeutig Ja zum Systemwechsel. Wir halten ihn für geboten und für richtig. Wir wollen allerdings - darin unterscheiden wir uns von der EU-Kommission ein Wahlrecht für die Unternehmen einführen. Warum um alles in der Welt kann bei einem gewachsenen Wissen um Wettbewerb nicht wie in allen anderen Bereichen vorgegangen werden, in denen Wirtschaftsteilnehmer agieren? Wenn sie dann gegen das Kartellrecht bzw. gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen, wird dieser Verstoß geahndet. Wenn sie Probleme haben, weil sie nicht wissen, ob das, was sie vorhaben, unter Wettbewerbsgesichtspunkten noch erlaubt ist oder nicht, dann wollen wir ihnen ein Wahlrecht einräumen, sich ihr geplantes Vorgehen von der Wettbewerbsbehörde bestätigen zu lassen. Warum um alles in der Welt muss man alles, was man tut, erst anmelden? Wir wissen, dass über 80 Prozent der Fälle nie bearbeitet und entschieden worden sind, die Aktenberge aber bis ins Unendliche wachsen. Warum haben wir nicht den Mut - Sie wissen, dass die Legalausnahme kommt -, einen Systemwechsel vorzunehmen? ({4}) - Da stimmen wir wieder völlig mit Ihnen überein. Wir haben das aber kommen sehen und gefordert, sich darauf einzurichten. Wir wollen bei der Legalausnahme natürlich keinen Verlust im Hinblick auf die Strenge der Wettbewerbsregeln und die Ahndung von Wettbewerbsverstößen. Wir wollen ein sehr strenges, kohärentes Wettbewerbsrecht. Wir glauben, den richtigen Ansatz zu haben, der uns zu mehr europäischer Einheitlichkeit führt. Wir wollen die strengen Wettbewerbsmaßstäbe beibehalten und dulden keine Abstriche an ihnen, aber wir wollen sie den Anforderungen entsprechend weiterentwickeln und europa- und weltfähig machen. Wir wollen klare gerichtliche Zuständigkeiten haben. Im Moment weiß niemand mehr sicher, vor welches Gericht seine Causa gehört. In den verschiedenen europäischen Staaten gibt es unterschiedliche Rechtswege. In dem einen Fall entscheiden die Kartellämter wie Gerichte; in dem anderen Fall sind es Gerichte, wobei nicht sicher ist, ob die Zivilgerichte oder die Handelsgerichte zuständig sind. Es ist ein Sammelsurium; wie Kraut und Rüben geht es durcheinander. Wir haben bei der notwendigen Vereinheitlichung viel zu viel Zeit verloren. Insoweit waren die letzten vier Jahre keine Zeit für eine Renaissance des Wettbewerbsrechts, sondern eher eine Zeit für den Abbau von Wettbewerb. Ich komme nachher noch auf ein paar Punkte zurück, die die Bundesregierung betreffen. Wir wollen im Herbst mit einem neuen Wählerauftrag die Renaissance eines modernen Wettbewerbsrechts gestalten. Herr Staffelt, Sie werden sich wundern, was uns alles gelingen wird. ({5}) Das wird dem deutschen und dem europäischen Standort gut tun. Wir wollen zum Beispiel Regelungen in das moderne Wettbewerbsrecht einführen, nach denen auch privater Schadenersatz durchgesetzt werden kann, wenn gegen Wettbewerbsregeln verstoßen wurde. Das ist ein unglaublich heilsames Verfahren. Im Moment ahndet das Kartellamt einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht nur mit Bußgeld. Aber was passiert eigentlich mit den Wettbewerbs- und Marktteilnehmern, deren Existenz durch rechtswidriges Verhalten gefährdet oder zerstört worden ist? Sie sollen einmal sehen, welche disziplinierende Wirkung bei allen Marktteilnehmern eintritt, sich korrekt zu verhalten, wenn sich herumspricht, dass die Betroffenen ihren aus Wettbewerbsverstößen resultierenden Schaden zivilrechtlich geltend machen können, wenn sie ihn nachweisen können. Die Strafe, die das Kartellamt verhängt, kann man sauber berechnen und im Prinzip einkalkulieren. Aber das, was passiert, wenn der Zivilrechtsanspruch einer nicht bekannten Zahl von Betroffenen geltend gemacht wird, ist unkalkulierbar. Sie werden sich wundern, wie sorgfältig die Rechtsabteilungen der betreffenden Unternehmen plötzlich das Kartellrecht beachten und dafür sorgen werden, die Wettbewerbsregeln nicht zu verletzen, um Schadenersatzpflichten zu entgehen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den wir schleunigst aufgreifen müssen. Zur Subsidiarität. An der Schaffung des gemeinsamen Kartellrechts sind wir natürlich voll beteiligt. Wir werden ein gemeinsames Kartellrecht schaffen. Warum aber sollen wir dies nicht auch gemeinsam anwenden können? Natürlich werden deutsche Gerichte darüber zu entscheiden haben, wenn in Deutschland gegen dieses gemeinsam verankerte Wettbewerbsrecht verstoßen worden ist. Das ist überhaupt kein Problem. Natürlich werden auch deutsche Kartellämter Verfahren betreiben können, wenn denn der deutsche Markt betroffen ist. Aber überall dort, wo nicht mehr nur der deutsche Markt betroffen ist - dies nimmt doch täglich zu -, muss dies europäisch und vor allem europaeinheitlich behandelt und geahndet werden. Ich sehe hier kein Problem und kann nicht verstehen, warum Sie einem intelligenten Antrag, wie wir ihn formuliert haben, nicht zustimmen wollen. Zum unabhängigen europäischen Kartellamt. Herr Staffelt, darüber müssen wir in Zukunft reden. Wir brauchen ein unabhängiges europäisches Kartellamt, wie wir es auch in Deutschland haben. Dies ist ganz wichtig. Ich wäre froh, wenn die Bundesregierung dazu einmal ihre Meinung äußern würde. Kann sie sich vorstellen, dass es ein unabhängiges europäisches Kartellamt gibt, das dann auch unabhängige Entscheidungen trifft? ({6}) Ich bin umso bereiter, kartellrechtliche Entscheidungen auf ein europäisches Kartellamt zu übertragen, je sicherer ich sein kann, dass dort unabhängig entschieden wird, und zwar in Anlehnung an die positiven Erfahrungen, die wir mit dem unabhängigen deutschen Kartellamt gewonnen haben. Lasst uns also daran gehen! In den letzten vier Jahren gab es keinen einzigen Hinweis, dass man daran arbeiten möchte. Nun zur Ministererlaubnis, einem hochaktuellen Thema. ({7}) Wir wissen, wie weit die Festlegungen bei diesem Punkt überall gediehen sind. Unter wettbewerblichen und ordnungspolitischen Gesichtspunkten kann einem schlecht werden, wenn man dies sieht, und kann man dies eigentlich nicht akzeptieren. Der Gemeinwohlnutzen ist keineswegs so ausreichend dokumentiert, dass man sagen kann: Dafür dürfen wir die Wettbewerbsbenachteiligungen und -verschlechterungen in Kauf nehmen. Wir können uns aber vorstellen, dass man bei der Ministererlaubnis zu Veränderungen kommt. Wir werden auch in Zukunft die Ministererlaubnis für vernünftig halten. Aber wäre es nicht vernünftig, Herr Staffelt, ein Verfahren zu finden, bei dem das Parlament, also im Zweifel der Wirtschaftsausschuss, die Gemeinwohlvorteile am Ende selber feststellen kann und muss, dass es also kein rein exekutives Verfahren bleibt? Das, was wir bei dieser Ministererlaubnis erlebt haben, ist schon abenteuerlich. Der Bundeskanzler und der Wirtschaftsminister haben den Antragstellern bereits, ehe der Antrag gestellt wurde, zugesagt: Das machen wir. ({8}) Deswegen hatten sie überhaupt keine Veranlassung mehr, noch kompromissbereit zu sein. Reden Sie einmal mit den Kartellamtsvertretern, die diese Verhandlungen geführt haben. So hochnäsig wie diese ist noch kein Antragsteller dahergekommen. Man hatte die Zusage der Regierung ja bereits in der Tasche. Warum sollte man sich dann noch die Mühe machen, Kompromisse zu finden, die geeignet wären, die Wettbewerbsverletzungen vernünftig zu reduzieren? Dies sind also sehr schwierige Verhältnisse. Ich erspare es mir jetzt, eine Liste aus den Bereichen Post, Energie, Bahn und Telekommunikation vorzulegen, wo der Wettbewerb in den letzten Jahren schlechte Zeiten hatte. Ich kann den Betroffenen nur versprechen: Mit uns werden die Zeiten wieder besser. ({9}) Wir werden ein aktives Wettbewerbsregiment einführen. Herr Tauss, auch Sie werden dann Ihre helle Freude haben, allerdings aus der Sicht der Opposition. ({10}) Ich bedanke mich fürs Zuhören und wünsche der Versammlung noch einen ordentlichen Verlauf. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Ditmar Staffelt das Wort.

Dr. Ditmar Staffelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003239, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Abgeordneter Schauerte, sind Sie bereit - ich hoffe, Sie sind dazu bereit -, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Prozedere zur Ministererlaubnis nach Recht und Gesetz vor sich geht und dass es keinerlei Zusagen seitens eines Mitgliedes der Bundesregierung gegenüber den Antragstellern gegeben hat und gibt? ({0}) Ich möchte dies hier für die Bundesregierung klarstellen, damit keine Gerüchte in die Welt gesetzt werden, die durch nichts, aber auch gar nichts, gerechtfertigt sind. Ich möchte Sie auch bitten, derlei Unterstellungen, wo immer Sie auftreten, zu unterlassen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schauerte, zur Erwiderung.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Staffelt, genau dazu bin ich nicht bereit; denn das, was wir bisher aus diesem Bereich gehört haben, rechtfertigt die von mir abgegebene Behauptung. Es hat Zusagen gegeben, aufgrund deren sich die Antragsteller sicher sein konnten, am Ende die Erlaubnis zu erhalten. Sie brauchten von Anfang an die Mühen der Kompromisse und der Kompromisssuche nicht auf sich zu nehmen. Das ist von den Behörden, die mit ihnen zu tun gehabt haben, im Übrigen auch bestätigt worden. ({0}) Herr Kollege Staffelt, das Verfahren war von Anfang an nicht sauber. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Uwe Jens für die SPD-Fraktion.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte meine Rede am liebsten mit Herrn Schauerte zusammen zu Protokoll gegeben. Das ging aber nicht, da ich mir nur Stichworte notiert habe. Diese kann man nicht zu Protokoll geben, da sie niemand lesen kann. ({0}) Es wäre mit der Geschäftsordnung nicht unbedingt vereinbar, dass man seine Notizen ausformuliert. ({1}) - Das finde ich auch. Zu dieser Ministerangelegenheit kann ich nur wenig sagen. Das Verfahren ist im Ministerium anhängig. Ich bin aber schon der Ansicht, dass die dort anstehende Entscheidung natürlich nach Recht und Gesetz getroffen werden sollte. Es ist im Übrigen nicht das Thema unseres heutigen Abends. ({2}) Unser Thema ist der Antrag der CDU/CSU, in dem es um die Neuordnung des Wettbewerbsrechts geht. Herr Schauerte, zu Ihrem Antrag kann ich nur sagen, dass aus meiner Sicht die Gefahr besteht, dass das stringente Wettbewerbsrecht, das wir wirklich haben und das auch immer Vorbild für das europäische Wettbewerbsrecht war - die Europäer haben unsere Fusionskontrolle, unsere Missbrauchskontrolle und unsere Bestimmungen über das Kartellverfahren übernommen -, aufgeweicht wird, weil man sich dem lascheren europäischen Recht angleichen will. Der Antrag, den Sie, Herr Schauerte, vorgelegt haben, zielt in diese Richtung. Im Übrigen entspricht er in etwa den Wünschen des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. ({3}) Dass die natürlich gerne ein etwas lascheres Wettbewerbsrecht hätten, liegt auf der Hand. Ich bin schon lange davon abgegangen, zu behaupten, dass alles, was von der Opposition kommt, schlecht ist. Das kann man so nicht sagen. ({4}) Umgekehrt muss auch nicht alles, was von der Regierung kommt, unbedingt immer gut sein. Das lässt sich gar nicht leugnen. ({5}) Ich finde, wir als Politiker sollten einige Grundsätze im Kopf behalten, wenn wir unsere Demokratie nicht kaputtmachen wollen. Die Grundsätze im Bereich des Wettbewerbsrechts sind aus meiner Sicht von Walter Eucken aufHartmut Schauerte gestellt worden. Er hat definiert, dass man Wettbewerb dringend benötigt, um die Machtballung in der Wirtschaft zu verringern und um die Macht ein wenig zu kontrollieren. Damit hat der alte Eucken immer noch Recht; Erhard hat das übernommen. Hayek hat gesagt, dass wir unbedingt Wettbewerb brauchten, um das so genannte Entdeckungsverfahren in der Wirtschaft in Gang zu setzen, um - anders ausgedrückt - Innovationen voranzubringen. Damit hat auch Hayek Recht. Je mehr Wettbewerb und je mehr Rivalität es in der Wirtschaft gibt, desto eher findet etwas Neues statt und desto mehr bahnbrechende Neuerungen in der Wirtschaft gibt es. Insofern würde ich allen ins Stammbuch schreiben, Wettbewerb als Voraussetzung für Innovationen anzusehen. Ich füge gerne hinzu - mein Kollege Staffelt ist ja noch anwesend -, dass es auch auf dem Gas- und dem Elektrizitätsmarkt Wettbewerb geben muss. Das ist unter anderem für Neuerungen in der deutschen Wirtschaft wichtig. ({6}) - Um Himmels Willen, ich werde kein Staatssekretär mehr. Das habe ich sowieso schon aufgegeben. ({7}) Wir müssen Grundsätze einhalten. Zurzeit werden viele Grundsätze über Bord geworfen. Jetzt ist nur noch Herr Brüderle da. Aber wenn Herr Möllemann nach Mehrheiten schielt, um gegen Minderheiten Front zu machen, dann ist das sehr gefährlich. ({8}) Wir verlassen unsere anerkannten Prinzipien. Einige nennen das Tabubruch. Ich meine, man muss hinterfragen, ob die Tabus immer noch richtig sind. Viele brauchen wir dringend und müssen sie erhalten. Das gilt auch für das Wettbewerbsprinzip. Das müssen wir aus den von mir genannten Gründen dringend erhalten und mit Zähnen und Klauen verteidigen. Was den Antrag angeht, den ihr vorgelegt habt, stimme ich euch in dem Punkt zu, Hartmut, in dem es darum geht, dass die EU-Kommission bzw. Herr Monti dafür eintreten, dass in Kartellverfahren in Zukunft bei vorhandenem Verdacht gleich Hausdurchsuchungen durchgeführt werden können. Ein guter Manager bewahrt aber seine Kartellunterlagen nicht zu Hause auf. Das ist geradezu lächerlich. Deshalb sollte dieses Vorhaben schnell wieder gestrichen werden; denn die Freiheit ist ebenso wie die Unantastbarkeit des Hauses ein sehr wichtiges Gut. ({9}) Ich muss aber auch darauf hinweisen - der Kollege Staffelt hat es bereits angesprochen -, dass horizontale Kartelle bei uns generell verboten sind. Das war Erhards Prinzip. Es gab ein paar Ausnahmen, die im Kartellrecht ausdrücklich aufgeführt worden sind. Wer eine Ausnahme wollte, musste sich an das Kartellamt wenden. Ihr aber wollt nun generell davon ausgehen, dass zunächst einmal immer Ausnahmen möglich sind und jemand erst dann, wenn er dagegen verstößt, unter Umständen belangt werden kann. Das wird auf Hochdeutsch Legalausnahme genannt. Im Grunde führt das dazu, dass das alte erhardsche Prinzip angetastet wird und dass es zu einer verstärkten Kartellbildung in der Wirtschaft kommen wird, wie es sie in der Weimarer Republik gegeben hat. Das ist nicht akzeptabel. Herr Tauss - er redet gerade - hat vorhin bereits festgestellt, dass sich Ludwig Erhard im Grabe umdrehen würde, wenn er das erfahren würde. Wir haben im Übrigen im Wirtschaftsausschuss drei Monate, bevor ihr den Antrag eingebracht habt, einstimmig beschlossen, dass diese Regelung für uns nicht infrage kommen kann. ({10}) Ich füge gerne noch hinzu - die Präsidentin ermahnt mich aber schon -, dass ich auch von Herrn Monti in der letzten Zeit einiges gehört habe, was nicht vernünftig und akzeptabel ist. ({11}) Mit der Begründung, er habe so viel zu tun, will er die so genannte Legalausnahme einführen. Andererseits aber will er mehr Fusionen bzw. Unternehmenszusammenschlüsse kontrollieren. Das widerspricht sich per se. Er will Unternehmenszusammenschlüsse insbesondere im Hinblick auf Effizienzgesichtspunkte kontrollieren, wie es das in Amerika gibt. Diese liegen bei jedem Fusionsvorhaben vor. Die Kapitalrentabilität steigt immer, aber gleichzeitig werden auch viele Arbeitnehmer auf die Straße gesetzt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Jens, Sie haben so charmant auf das Blinken hingewiesen. Ich muss Sie jetzt noch einmal ganz charmant darauf hinweisen, dass die Redezeit weit überschritten ist.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann komme ich zum Schluss. Herr Monti hat einige Ideen, die wir nicht akzeptieren können. Aber wir dürfen auch nicht immer alle Stichworte akzeptieren, die uns die Lobby - in diesem Fall der BDI vorgibt. ({0}) Wir müssen unsere Grundsätze, die wir alle einmal entwickelt haben, im Blick behalten. Wenn wir das nicht tun, dann ist unsere Demokratie insgesamt in Gefahr. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksa- che 14/9213 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Für ein modernes Wettbewerbs- und Kartellrecht in Europa“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6634 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stim- men der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und b auf: a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Monitoring „Kernfusion“ - Drucksache 14/8959 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Zukunftsorientierte Energieforschung Fusionsforschung - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martin Mayer ({3}), Dr. Gerhard Friedrich ({4}), Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Kernfusionsforschung für eine zukünftige Energieversorgung - Drucksachen 14/3813, 14/4498, 14/8660 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Flach Ulrich Kasparick Dr. Martin Mayer ({5}) Hans-Josef Fell Angela Marquardt Die Kolleginnen und Kollegen Ulrich Kasparick, Dr. Martin Mayer, Hans-Josef Fell und Angela Marquardt sowie der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/8959 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/8660. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/3813 mit dem Titel „Zukunftsorientierte Energieforschung - Fusionsforschung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4498 mit dem Titel „Kernfusionsforschung für eine zukünftige Energieversorgung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({7}), Dr. Hansjürgen Doss, Matthias Wissmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({8}), Gunnar Uldall, Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Unternehmer im Netzwerk - für eine Kultur der Selbstständigkeit - Drucksachen 14/5838, 14/6866, 14/8171, 14/9214 - Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Kutzmutz Auch hier haben sich alle Redner entschlossen - Ihr Einverständnis setze ich voraus -, ihre Reden zu Protokoll zu gegeben. Es sind die Kolleginnen Jelena Hoffmann, Michaele Hustedt und Gudrun Kopp sowie die Kollegen Rolf Kutzmutz, Wolfgang Börnsen und der Parlamentari- sche Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt.2) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 14/9214 zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zu der Großen Anfrage der CDU/CSU mit dem Titel „Unternehmer im Netzwerk für eine Kultur der Selbstständigkeit“. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/8171 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({9}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- rung Gesamtwaldbericht - zu dem Entschließungsantrag der Abgeord- neten Heidemarie Wright, Brigitte Adler, Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 7 2) Anlage 8 Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Steffi Lemke, Ulrike Höfken, Kerstin Müller ({10}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN zu der Un- terrichtung durch die Bundesregierung Gesamtwaldbericht - zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Gesamtwaldbericht - Drucksachen 14/6750, 14/8036, 14/8037, 14/8831 - Berichterstattung: Abgeordneter Peter Bleser Die Kolleginnen Heidi Wright, Steffi Lemke und Eva Bulling-Schröter sowie die Kollegen Reinhard Freiherr von Schorlemer und Ulrich Heinrich wollen ihre Reden zu Protokoll geben.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache 14/8831. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des Gesamtwaldberichts den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/8036 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, in Kenntnis des Gesamtwaldberichts den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/8037 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten Brunhilde Irber, Annette Faße, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Sylvia Voß, Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN Den Tourismus im ländlichen Raum nachhaltig stärken - Drucksachen 14/7300, 14/9192 - Berichterstattung: Abgeordnete Brunhilde Irber Auch hier haben alle Rednerinnen und Redner ihre Re- den zu Protokoll gegeben. Es sind die Kolleginnen Birgit Roth, Annette Faße, Sylvia Voß und Rosel Neuhäuser so- wie die Kollegen Ernst Hinsken, Thomas Dörflinger und Ernst Burgbacher.2) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Druck- sache 14/9192 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Den Tou- rismus im ländlichen Raum nachhaltig stärken“. Der Aus- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/7300 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 393 zu Petitionen ({13}) - Drucksache 14/9156 - b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 394 zu Petitionen ({15}) - Drucksache 14/9157 - Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS fünf Minuten erhalten soll. Die Kolleginnen Erika Lotz und Dr. Irmgard Schwaetzer sowie die Kollegen Matthäus Strebl und Helmut Wilhelm haben ihre Reden bereits zu Protokoll gegeben.3) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Heidi Lüth für die Fraktion der PDS.

Heidemarie Lüth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002727, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eisenbahnerinnen und Eisenbahner waren stets auch Nachtarbeiterinnen und Nachtarbeiter und sie sind es heute noch. So wird ihnen hoffentlich nur Lob für die Abgeordneten in den Sinn kommen, wenn wir die Debatte über die Änderungsanträge zu den vorliegenden Petitionen in den heutigen Nachtstunden führen, zu denen ich auch einige Petenten persönlich begrüßen darf. ({0}) Änderungsanträge zu Petitionen sind selten. Die ge- ringe Anzahl weist auch darauf hin, dass die Opposition sehr verantwortungsvoll mit diesem Instrument umgeht. Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 9 2) Anlage 10 3) Anlage 11 Die Petitionen, zu denen meine Fraktion Änderungsanträge eingebracht hat, sind 1998 an den Petitionsausschuss des Bundestages übersandt worden. Es handelt sich hierbei um 4 700 Eingaben, denen sich 48 600 Menschen durch Unterschrift angeschlossen haben, sowie um 33 000 Massenpetitionen. Welch eine Kraft, welch ein Wille steckt eigentlich hinter einem solchen demokratischen Anliegen, aber auch welche Hoffnung und welches Vertrauen auf sorgfältige Prüfung und Hilfe! Es ist vor allem die Hoffnung, dass die Forderungen durch den Gesetzgeber und nicht erst durch den Druck und den Zwang einer Bundesgerichtsentscheidung erfüllt werden. Mit den Petitionen wird nicht nur die Überführung der Rentenansprüche der ehemaligen Beschäftigten der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post der DDR in die gesetzliche Rente kritisiert, sondern darüber hinaus auch die Wiedergewährung des Versorgungsanteils aus den Systemen der Altersversorgungen der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post gefordert. Der Forderung der Betroffenen, eine gesetzliche Klarstellung für die Jahre 1971 bis 1973 für diejenigen zu erwirken, die nicht in die FZR eingetreten sind, wurde per Gesetz entsprochen. Darauf zielt auch die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses, wogegen jetzt diese Änderungsanträge formuliert wurden. Das ist für mich umso verwunderlicher, da doch auch die Kollegin Nolte und der Kollege Grund von der CDU/CSU-Fraktion in den Jahren ihrer Oppositionszeit mit großer Energie parlamentarisch und außerparlamentarisch für die Interessen der Betroffenen stritten. Verschweigen möchte ich auch nicht, dass die Petenten ihre Petitionen just nach dem Wahlsieg von Rot-Grün eingebracht haben, sicher in der Hoffnung, jetzt werde das Wahlversprechen umgesetzt. Und dann das! Doch nun zu den offenen Forderungen und damit auch zu den Änderungsanträgen der PDS-Fraktion. Die Rentenüberleitung hat sich in den vergangenen Jahren als eine Geschichte der Gerichtsurteile und deren knappester Auslegung und Umsetzung in gesetzlichen Regelungen gezeigt. In ihr spiegelt sich der Wechsel zwischen den Regierungskoalitionen besonders krass wider. Im Kern geht es immer um die Frage: Welche Bedeutung haben die Regelungen des Einigungsvertrages und welchen Stellenwert haben die gesetzlichen Ansprüche und Anwartschaften in der Rentenversicherung nach dem Beitritt? Fallen diese Ansprüche wie die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger der alten Bundesländer unter den Eigentumsschutz nach Art. 14 des Grundgesetzes? Um es für alle Nichtexperten etwas zu verdeutlichen, darf ich die berühmte Frage des Verfassungsrichters Grimm bei der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht 1999 einmal sinngemäß zitieren: Wenn ein Bürger am 2. Oktober 1990 Eigentümer eines Trabbis gewesen ist, war dieser Trabbi nach dem 3. Oktober 1990 dann weiterhin sein Eigentum? ({1}) So wurde ein Regierungsvertreter gefragt. Zum Zweiten wurde gefragt: Und wie würden Sie die Frage in Bezug auf rechtmäßig erworbene Renten- und Versorgungsansprüche beantworten? Die Antwort lautete, selbstverständlich sei auch nach dem 3. Oktober 1990 der Trabbi Eigentum des Bürgers geblieben, aber die Renten- und Versorgungsansprüche seien untergegangen. Was nicht übernommen wurde, ist eben untergegangen. Das Bundesverfassungsgericht hat meines Erachtens in dieser Frage anders entschieden; denn es sagt ganz deutlich in der Entscheidung: Auch in der DDR erworbene und im Einigungsvertrag nach dessen Maßgaben als Rechtsposition der gesamten Rechtsordnung anerkannte Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen genießen den Schutz des Art. 14. Zwar entfaltet Art. 14 Grundgesetz seine Schutzwirkung nur im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Die in der DDR erworbenen Rentenansprüche und -anwartschaften gelangten jedoch mit dem Beitritt und der Anerkennung durch den Einigungsvertrag wie andere vermögenswerte Positionen in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes. Eine weitere Grundlage, mit der die Forderung der Eisenbahner und der Postler unterstützt werden kann, bietet der Einigungsvertrag in Anlage II, Sachgebiet H. Mehr als 90 000 Eisenbahner und Postler haben sich mit großer Hoffnung an den Petitionsausschuss gewandt. Ich weiß natürlich auch, dass die Umsetzung der rentenrechtlichen Ansprüche, die auf Verwaltungsakten der DDR beruhen, nicht zum Nulltarif zu haben sind. Ich weiß, was es kostet. Aus der Bearbeitung vieler Petitionen weiß ich aber auch, dass die Betroffenen ins Grundgesetz schauen und darauf vertrauen wollen, dass ihre Ansprüche in diesen Fragen unter den Schutz des Grundgesetzes fallen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es macht für die Betroffenen, für ihr Verständnis von Demokratie, für ihr Rechtsverständnis schon einen riesigen Unterschied, ob ihre Ansprüche durch uns, durch das Parlament, anerkannt und in Gesetze gegossen werden oder ob es, wie in vielen Fällen, erst der Entscheidung oberster Gerichte bedarf.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Lüth, ich muss Sie dringend an Ihre Redezeit erinnern.

Heidemarie Lüth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002727, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluss. Der Finanzminister stöhnt ohnehin. Da die Bundesregierung vor kurzem einen sehr guten Schritt gewagt hat, nämlich die Anwartschaften für Blinden- und Sonderpflegegeld in der DDR in einer gesetzlichen Regelung zu überführen, denke ich, dass man das auch mit den weiteren Anwartschaften tun könnte. Deshalb bitte ich darum, diese Petition als Material zu überweisen. Danke. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Ich rufe zunächst die Sammelübersicht 393 auf Drucksache 14/9156 auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor, über den wir zuerst abstimmen werden. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/9158? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDSFraktion abgelehnt. Wer stimmt nun für die Sammelübersicht 393? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 393 ist damit gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe jetzt die Sammelübersicht 394 auf Drucksache 14/9157 auf. Hierzu liegt ebenfalls ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/9159? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Keine. Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Wer stimmt jetzt für die Sammelübersicht 394? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 394 ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe als Letztes den Zusatzpunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel, Dr. Rainer Wend, Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({0}), Andrea Fischer ({1}), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Weltweite Märkte für Meerestechnik erschließen - Drucksache 14/9223 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Was Wunder, die Kolleginnen und Kollegen Dr. Margrit Wetzel, Wolfgang Börnsen, Hans-Josef Fell, Ulrike Flach und Wolfgang Bierstedt haben ihre Reden ebenfalls zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/9223 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 7. Juni 2002, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.